Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz: Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Bankrecht und Organisation bei Krisenvermeidung, Krisenbewältigung und Abwicklung [6 ed.] 9783504387532

Die Neuauflage dieses Standardwerks steht ganz im Zeichen des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenz

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German Pages 1361 [1362] Year 2022

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Allgemeines Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung
2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)
3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen
4. Teil Unternehmensabwicklung
5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren
6. Teil Abweisung mangels Masse
7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren
8. Teil Das Insolvenzplanverfahren
9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung
10. Teil Haftungsrisiken bei Verfahrensverschleppung und Insolvenzverursachung
11. Teil Grenzüberschreitende GmbH-Insolvenzen
Stichwortverzeichnis
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Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz: Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Bankrecht und Organisation bei Krisenvermeidung, Krisenbewältigung und Abwicklung [6 ed.]
 9783504387532

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Karsten Schmidt . Uhlenbruck Die GmbH in Krise, Restrukturierung und Insolvenz

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Die GmbH in Krise, Restrukturierung und Insolvenz Gesellschaftsrecht, Insolvenzrecht, Restrukturierungsrecht, Steuerrecht, Arbeitsrecht, Bankrecht und Organisation bei Krisenvermeidung, Krisenbewältigung und Abwicklung herausgegeben von

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karsten Schmidt und

Prof. Dr. Wilhelm Uhlenbruck bearbeitet von

Dr. Klaus Bast Richter am Amtsgericht, Köln, Dozent an der FHR NRW, Bad Münstereifel

Prof. Dr. Moritz Brinkmann, LL.M. (McGill) Professor an der Universität Bonn

Prof. Dr. Georg Crezelius † em. Professor, Universität Erlangen München

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karsten Schmidt em. Professor, Universität Bonn Professor an der Bucerius Law School, Hamburg

Prof. Dr. Ralf Sinz Rechtsanwalt und Dipl-Kfm., Fachanwalt für Insolvenz- und Sanierungsrecht, Köln Honorarprofessor an der RFH Köln

Dr. Jürgen D. Spliedt Rechtsanwalt, Berlin

Dr. Karen Kuder Rechtsanwältin, Frankfurt a.M.

Dr. Patrick Mückl Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf

Dr. Alexandra Schluck-Amend Rechtsanwältin und Dipl.-Betrw., Fachanwältin für Insolvenzrecht, Stuttgart

Martin Unverdorben Rechtsanwalt, Berlin

Prof. Dr. Heinz Vallender Richter am Amtsgericht i.R., Köln Honorarprofessor an der Universität zu Köln

Dr. Benjamin Westermann Rechtsanwalt, Hamburg

6. neubearbeitete und erweiterte Auflage 2023

Zitierempfehlung: Verfasser in Karsten Schmidt/Uhlenbruck (Hrsg.), Die GmbH in Krise, Restrukturierung und Insolvenz, 6. Aufl. 2023, Rz. …

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-32211-3 © 2023 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungsbeständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: Schäper, Bonn Druck und Verarbeitung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany 174 |

Vorwort Das vorliegende, nunmehr in sechster Auflage erscheinende Werk ist Spiegelbild, zugleich aber auch Motor des in dauernder, mehr und mehr stürmischer Entwicklung begriffenen Rechts der Restrukturierung und Insolvenz von Unternehmen. Die erste, 1997 erschienene Auflage hatte noch auf der Maßgeblichkeit der bis 1998 geltenden Insolvenzgesetze basiert (Konkursordnung, Vergleichsordnung und Gesamtvollstreckungsordnung). Sie hatte die noch nicht in Kraft gesetzte Insolvenzordnung nur vorausschauend und vergleichend einbezogen. Die zweite Auflage von 1999 und die dritte Auflage von 2003 waren bereits ganz auf die Insolvenzordnung ausgerichtet und hatten das Ziel, die variantenreichen Optionen und Strategien des neuen Insolvenzrechts unter Berücksichtigung ihrer Ausstrahlungswirkungen auf die allgemeine Praxis des Krisenmanagements, der Unternehmenssanierung und der Abwicklung insolventer Unternehmen systematisch und anwendungsorientiert darzustellen. Die im Jahr 2009 erschienene vierte Auflage stand unter dem beherrschenden Eindruck des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG). Die fünfte Auflage von 2016 verarbeitete die damals noch größte Reform seit dem Inkrafttreten der InsO: das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG). Sie warf bereits Schlaglichter auf das bevorstehende Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen sowie auf das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen von 2017 sowie auf die bevorstehende Anwendung der novellierten EuInsVO von 2014. Prägend für die nun vorgelegte Neuauflage ist vor allem das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) vom Dezember 2020 mit dem epochemachenden Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz (StaRUG) und zahlreichen Änderungen im Unternehmens- und Insolvenzrecht. Die schon in Vorauflagen besprochenen Pflichten der Unternehmensleitung zu Krisenfrüherkennung und Krisenmanagement haben eine gesetzliche Regelung erfahren. Die bisher rechtsformspezifisch geregelten und heftig umstrittenen Zahlungsverbote bei Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit sind durch den neuen § 15b InsO in engem Zusammenhang mit dem Insolvenzverschleppungsverbot (§ 15a InsO) umfassend geregelt, und die Insolvenzantragsgründe sind modernisiert. Als zeitbezogene Neuigkeiten kommen krisenspezifische Aussetzungsregeln bei der Insolvenzverschleppungshaftung zum Tragen. Die schon aus diesen Gründen wiederum umfassende Neubearbeitung des Werks geht über die Modernisierungen bisheriger Auflagen weit hinaus. Verarbeitet ist neben dem Paradigmenwechsel im Reorganisationsrecht eine anwachsende Rechtsprechung und Literatur nicht nur zum deutschen und europäischen Insolvenzrecht, sondern vor allem auch zum Gesellschafts-, Arbeits- und Kreditsicherungsrecht. Selbstverständlich wurde die Steuergesetzgebung bis hin zur anhaltenden Debatte um eine Erbschaftsteuerreform ebenso einbezogen wie die reiche finanzgerichtliche Praxis. Die für das Werk charakteristische Verzahnung seiner Bauelemente machte im Rahmen der Neukonzeption Umstellungen und Ergänzungen des Textes erforderlich, die dem Gebrauch in der Praxis zugute kommen werden. Geblieben ist das Ziel dieses Werks: Es soll bei der schwierigen Aufgabe helfen, Strategien und Gestaltungsspielräume der Finanzierung, Krisenvermeidung und Krisenbewältigung im Einklang mit dem immer komplizierter werdenden Recht zu nutzen und Fehlentscheidungen sowie Haftungsrisiken zu vermeiden. Es will Beratern, Geschäftsführern, Gesellschaftern und Gläubigern Informationen vermitteln, die unerlässlich sind, um Unternehmensfinanzierung, Kreditsicherung und Insolvenzvorsorge mit dem neuen Recht in Einklang zu bringen, nötigenfalls aber auch im „Wettbewerb um die beste Verfahrensart“ die optimale Form der Haftungsverwirklichung zu erkennen und durchzusetzen. Für all dies bedarf es einer umfassenV

Vorwort

den Nutzung auch bank-, arbeits- und steuerrechtlicher Expertise, die durch den ausgesuchten Autorenkreis auf das Beste gewährleistet ist. Die Heranziehung des Werks in höchstrichterlichen Entscheidungen hat die Herausgeber und Autoren in ihrem Bewusstsein bestärkt, hiermit der Praxis zu dienen. Der terminologisch modernisierte, auch an das StaRUG angepasste Buchtitel („Restrukturierung“ statt „Sanierung“) unterstreicht die allumfassende Aktualität, in der wir das bewährte Werk in die Hände der Praxis legen. Der Text befindet sich auf dem Stand von September 2022. Kurz vor Drucklegung im Oktober konnten noch Hinweise auf das am 20.10.2022 verabschiedete Sanierungs- und insolvenzrechtliche Krisenfolgenabmilderungsgesetz (SanInsKG) nachgetragen werden.

Allen am Gelingen des Werkes Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Der Autorenkreis, der wiederholt zur Ausrichtung der Kölner GmbH-Tage zusammengefunden und den so begonnenen Austausch mit Fachleuten intensiv gepflegt hat, ist auch diesmal nicht unverändert geblieben. In Trauer vermisst wird Herr Professor Dr. Georg Crezelius (1948–2021), dessen Aufgabe als steuerrechtlicher Fachautor Herr Dr. Benjamin Westermann (Hamburg) übernommen hat. Die bisher von Herrn Dr. Wilhelm Moll bearbeiteten Teile hat dankenswerterweise Herr Dr. Patrick Mückl (Düsseldorf) übernommen. Für die Entlastung von Herrn Prof. Dr. Vallender konnte Herr RiAG Dr. Klaus Bast (Köln) hinzugewonnen werden, und als bewährter Mitverfasser des Werks übernahm Herr Rechtsanwalt Dr. Jürgen Spliedt (Berlin) die bisher von Wilhelm Uhlenbruck als Begründer des Werks verantworteten Teile. Zu der außergewöhnlichen Kraftanstrengung bei der Fertigstellung dieser Neuauflage haben im Autorenkreis Frau Dr. Alexandra Schluck-Amend und Herr Prof. Dr. Moritz Brinkmann auch jenseits der von ihnen übernommenen Autorenaufgaben in dankenswerter Weise beigetragen. Den ausgeschiedenen Verfassern gebührt großer Dank. Ihre Beiträge leben in dem sich unablässig erneuernden Werk fort. Ein besonderer Dank der Herausgeber gilt dem Verlag, ohne dessen professionelle Betreuung ein Traditionswerk wie dieses sich nicht etablieren und behaupten könnte. Herr Tim Breuer hat das Stichwortverzeichnis erstellt. Auch ihm danken wir für seinen verantwortungsvollen Beitrag zur Neubearbeitung. Anregungen aus dem Leserkreis, für die wir stets dankbar sind, erbitten wir an den Verlag ([email protected]). Hamburg und Köln, im Oktober 2022

VI

Karsten Schmidt und Wilhelm Uhlenbruck

Inhaltsübersicht Seite Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis . Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . .

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V XI XLIX LV

1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung §1

Begriff und Ursachen der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

§2

Krisenvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

§3

Krisenfrüherkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68

§4

Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien) §5

Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) . . . .

159

§6

Interne Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

172

§7

Externe Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

§8

Steuerrechtliche Folgen der Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen §9

Freie (außergerichtliche) Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

§ 10

Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

390

§ 11

Wegweiser nach dem Scheitern einer außergerichtlichen Sanierung . . . . . . .

474

4. Teil Unternehmensabwicklung § 12

Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

§ 13

Unternehmensabwicklung durch Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

538 VII

Inhaltsübersicht

Seite

5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren § 14

Insolvenzgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

543

§ 15

Der Insolvenzantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

584

§ 16

Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers . . . . . . . . .

610

§ 17

Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

631

§ 18

Vorfinanzierung von Insolvenzgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

663

§ 19

Der vorläufige Gläubigerausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

671

§ 20

Vorläufige Insolvenzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

686

§ 21

Betriebsbezogene Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719

6. Teil Abweisung mangels Masse § 22

Insolvenzrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

735

§ 23

Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . .

741

7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren § 24

Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

749

§ 25

Die Rechtsstellung des Geschäftsführers im eröffneten Insolvenzverfahren . .

807

§ 26

Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

842

§ 27

Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

905

§ 28

Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

947

§ 29

Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . .

958

§ 30

Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen . . . . . . . . . .

966

8. Teil Das Insolvenzplanverfahren § 31

Der Insolvenzplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

987

§ 32

Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1000

§ 33

Rechtswirkungen des bestätigten Plans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1036

§ 34

Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1059

VIII

Inhaltsübersicht

Seite

9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung § 35

Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1061

§ 36

Kredite bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren . . . . . . . . . . . . . .

1121

§ 37

Restschuldbefreiung für Geschäftsführer, Gesellschafter und andere Mithaftende der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1134

10. Teil Haftungsrisiken bei Verfahrensverschleppung und Insolvenzverursachung § 38

Haftung wegen Verfahrensverschleppung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1171

§ 39

Haftungsrisiken für Kreditinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1201

§ 40

Insolvenzverursachungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1207

11. Teil Grenzüberschreitende GmbH-Insolvenzen § 41

Gesetzliche Grundlagen zur Koordinierung von internationalen Insolvenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1215

§ 42

Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH in Deutschland mit Auslandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1225

§ 43

Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . .

1248

Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1263

IX

X

Inhaltsverzeichnis Seite Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . Allgemeines Literaturverzeichnis . Abkürzungsverzeichnis. . . . . . . .

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V VII XLIX LV

1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung § 1 Begriff und Ursachen der Krise I.

Begriffsbildung (Sinz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Betriebswirtschaftlicher Begriff der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtlicher Begriff der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II.

Krisenursachen (Sinz) . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unternehmensexterne und -interne 3. Krisensymptome . . . . . . . . . . . . . 4. Typische Krisenszenarien . . . . . . .

............ ............ Krisenursachen ............ ............

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1 1 4

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7 7 8 9 10

I.

Kapitalausstattungsgebot und Kapitalsicherung (Karsten Schmidt/Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zum Verständnis des Kapitalschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kein allgemeines Unterkapitalisierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Finanzierungsverantwortung von Gesellschaftern und Geschäftsführern 4. Der formelle Kapitalschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 11 11 14 15

II.

Das Ausschüttungsverbot des § 30 GmbHG (Karsten Schmidt/Schluck-Amend) 1. Der Verbotstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückzahlungspflicht des Empfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftung von Nicht- und von Mitgesellschaftern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abtretung, (Ver-)Pfändung, Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Geschäftsführerhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16 16 19 23 26 26 29

III.

Liquiditätsschutz (Karsten Schmidt/Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kreditgewährung oder Kreditbesicherung zu Lasten des Gesellschaftsvermögens: § 30 GmbHG als Liquiditätsschutz der Gesellschaft? . . . . 2. Überwundene Haftungsrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kredite an Gesellschafter nach geltendem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kredite an Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Konzerninterne Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Cash Pool-Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

...

30

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30 31 33 34 35 37

§ 2 Krisenvorsorge

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XI

Inhaltsverzeichnis

Seite 7. Verbot solvenzbedrohender Auszahlungen und Kreditbesicherungen? . . . . 8. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 40

IV.

Liquiditätsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtliche Vorgaben (Sinz) . . . . . . . . . . 2. Betriebswirtschaftliche Umsetzung (Sinz) 3. Rechtspflichten (Schluck-Amend) . . . . .

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41 41 43 52

V.

Krisenabwehr durch laufende Kontrolle (Schluck-Amend) 1. Bilanzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebliche Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unternehmensplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Analyse der Unternehmensumwelt . . . . . . . . . . . . . .

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53 53 54 55 56

VI.

Krisenvermeidende Organisation (Schluck-Amend) . . . . . . 1. Krisenaverse Organisationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . 2. Organisation der Unternehmenskontrolle . . . . . . . . . . a) Statutarische Berichtspflichten der Geschäftsführung b) Externe Unternehmenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . c) Interne Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Errichtung eines Aufsichtsorgans . . . . . . . . . . . . . . . .

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57 58 59 59 59 60 61

VII. Krisenmanagement (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schwachstellenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Krisenmanagement im operativen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Veränderungen in der Geschäftsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verbesserung der Informationsstruktur zur Ermöglichung der Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kontrollmaßnahmen und Signale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Krisenmanagement im rechtlichen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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63 63 64 64 64

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65 66 66

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§ 3 Krisenfrüherkennung I.

Selbstprüfung und Früherkennung durch die Geschäftsführer (Sinz) 1. Selbstprüfungspflicht der Gesellschaftsorgane . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichtenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Früherkennungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Früherkennung durch die Gesellschaftsgläubiger (Sinz) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragsgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sozialversicherungsträger/Finanzbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Früherkennung durch Kreditinstitute (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . 1. Klassische Krisenanzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung und Möglichkeiten der Krisenfrüherkennung für Kreditinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontoführung und Kreditgewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kreditwürdigkeitsprüfung und Bilanzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kundenbesuche/Sicherheitenprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Geschäftsbeziehungen des Kreditnehmers zu Dritten . . . . . . . . . . . . f) Begrenzte Erkenntnismöglichkeiten auf Grund der Krisenanzeichen .

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XII

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Inhaltsverzeichnis

Seite 2. Financial Covenants als Krisenindikatoren . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt typischer Financial Covenants . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eigenkapitalausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Liquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgen der Nicht-Einhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bewertung von Financial Covenants als Krisenindikatoren

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IV.

Insolvenzprognoseverfahren (Sinz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Warnpflichten und Haftung von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern, Rechtsanwälten? (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kausalität, Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Mitverschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Grundlagen (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die maßgeblichen Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zahlungsverkehr in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Zahlungseingänge (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Berechtigung und Verpflichtung zur Gutschrift des Zahlungseingangs 2. Unanfechtbare Verrechnung von Zahlungseingängen . . . . . . . . . . . . . a) Sicherungsabtretung der Zahlungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bargeschäft bei Zahlungsein- und -ausgängen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Cash-Pool . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anfechtbare Verrechnung von Zahlungseingängen . . . . . . . . . . . . . . . a) Zahlungseingänge in den letzten drei Monaten vor Insolvenzantrag b) Zahlungseingänge bis zu vier Jahren vor Insolvenzantrag . . . . . . . 4. Eingänge in der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Zahlungsausgänge (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundstrukturen am Beispiel der Überweisung . . . . . . . . 2. Ausführung vor Zahlungsunfähigkeit und Insolvenzantrag 3. Ausführung in der Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten im Lastschriftverkehr . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Kreditbesicherung in der Krise (Kuder/Unverdorben) . . . . 1. Besicherung neu gewährter Kredite . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anspruch auf Nachbesicherung bestehender Kredite . . 3. Bestellung von Drittsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Upstream-Sicherheiten und Limitation Language . . aa) Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften bb) Limitation Language . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise

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XIII

Inhaltsverzeichnis

Seite

V.

4. Anfechtbarkeit nachträglicher Besicherung aus dem Vermögen der GmbH a) Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anfechtung der Sicherheitenbestellung für Gesellschafterdarlehen nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schenkungsanfechtung nach § 134 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anfechtung der Sicherheitenbestellung für nahestehende Personen nach § 133 Abs. 4 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Allgemeine Insolvenzanfechtung nach §§ 130, 131 InsO . . . . . . . . . . . aa) Kongruente und inkongruente Besicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anfechtbarkeit inkongruenter Besicherung nach § 131 InsO . . . . . cc) Anfechtbarkeit kongruenter Besicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sittenwidrigkeit der Besicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Knebelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gläubigergefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kreditkündigung (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ordentliches Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Außerordentliches Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kreditkündigung bei Restrukturierungssachen nach dem StaRUG . . . . . 4. Einschränkung des Kündigungsrechts mit Rücksicht auf die Schuldnerinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Einschränkung des Kündigungsrechts wegen ausreichender Sicherheiten 6. Einschränkung des Kündigungsrechts bei Sanierungskrediten . . . . . . . . 7. Rechtsfolgen unzulässiger Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Ermittlung des Sanierungsbedarfs und Ableitung der Sanierungsmaßnahmen (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Pflicht der Geschäftsleitung zur Ermittlung des Sanierungsbedarfs (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Die verschiedenen Sanierungsverfahren (Wegweiser) (Schluck-Amend) 1. Freie Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das neue Restrukturierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sanierung durch insolvenzrechtliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gegenüberstellung Insolvenzplanverfahren und Restrukturierungsplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien) § 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser)

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IV.

Umsetzungskompetenzen der Sanierungskonzepte, insbesondere Chief Restructuring Officer und Treuhandkonstruktionen (Schluck-Amend) . . . . . . 1. Der Chief Restructuring Officer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Doppelnützige Treuhand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Überblick über mögliche Sanierungsansätze (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . 1. Personalwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XIV

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Inhaltsverzeichnis

Seite 2. Finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Operative und leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . 4. Strukturelle Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 6 Interne Sanierung I.

Eigenkapitalmaßnahmen (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kapitalerhöhung und Kapitalschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ordentliche Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinfachte Kapitalherabsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . 2. Risiken der Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Typische Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Veränderte Risiken bei Hin- und Herzahlen sowie bei verdeckter Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Anteilserwerb und Forderungsumwandlung in Beteiligung (Debt Equity Swap) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sofortmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Atypische Risikokapitalerhöhung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Private Equity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mezzanine-Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Kreditfinanzierung und Nutzungsüberlassung durch Gesellschafter (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Recht der Gesellschafterfinanzierung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die gemeinsame Legitimationsgrundlage der Regeln über Finanzierungsmaßnahmen der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der gegenständliche Anwendungsbereich der Regeln über Finanzierungsmaßnahmen der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Darlehensgewährung seitens eines Gesellschafters . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfasste Gesellschaften und Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Darlehen von Dritten, Abtretungen und Treuhandabreden . . . . . . b) Ausnahmen vom Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kleinbeteiligte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung der Gesellschafterstellung i.R. eines Sanierungsversuchs cc) Finanzplankredite und Darlehenszusagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Darlehen von Unternehmensbeteiligungsgesellschaften . . . . . . . . . c) Gesellschafterdarlehen entsprechende Rechtshandlungen . . . . . . . . . . . aa) Darlehensäquivalente Rechtshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ansprüche des Gesellschafters aus Lieferungen und Leistungen . . . cc) Ansprüche des Gesellschafters auf Nutzungsentgelt . . . . . . . . . . . . dd) Gesellschaftersicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Regelungen für Gesellschafterdarlehen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . a) Die Bilanzierung von Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesellschafterdarlehen als nachrangige Insolvenzforderungen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194 194 195 195 196 196 196 197 199 199 200 201 202 202 202 202 203 204 204 204 205 XV

Inhaltsverzeichnis

Seite c) Die Anfechtung von Befriedigungen nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 AnfG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Tatbestand des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO . . . . . . . . . . . . . . bb) Gläubigerbenachteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unanwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Anfechtung von Sicherungen für Gesellschafterdarlehen nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 AnfG) . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Tatbestand des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO . . . . . . . . . . . . . . bb) Unanwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolge der Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Behandlung unanfechtbarer Sicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kontokorrentkredite, revolvierende Kredite, Cash Pooling . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verbundene Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Cash Pooling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gesellschafterbesicherte Drittdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anfechtung der Tilgung des Drittdarlehens, § 135 Abs. 2 i.V.m. § 143 Abs. 3 InsO (§ 6a i.V.m. § 11 Abs. 3 AnfG) . . . . . . . . . . . . . b) Die Situation des Darlehensgebers in der Insolvenz der Gesellschaft (§ 44a InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Analoge Anwendung des § 143 Abs. 3 InsO auf Doppelsicherheiten aa) Wahlrecht des Gläubigers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorgehen des Gläubigers aus Gesellschaftssicherheit . . . . . . . . . cc) Konsequenzen in der Doppelinsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gebrauchsüberlassungen durch Gesellschafter (§ 135 Abs. 3 InsO) . . . . a) Voraussetzungen der Aussonderungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nutzung für die Masse oder Rückgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Ausgleichsanspruch des Gesellschafters bei Nutzung durch den Verwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorrang von Absonderungsrechten Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . IV.

XVI

Eingriffe in Organisation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auswechselung und Abfindung von Geschäftsführern in der Unternehmenskrise (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abberufung, Kündigung und Auswechselung . . . . . . . . . . . . . . . b) Kündigung und Abberufung mit oder ohne wichtigen Grund . . . c) Wichtige Gründe für eine Abberufung in der Unternehmenskrise d) Die Abberufung von Geschäftsführern mit Sonderrechten . . . . . . e) Formalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Prozessfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Amtsniederlegung in der Unternehmenskrise . . . . . . . . . . . . . . . h) Suspendierung (Freistellung) von Geschäftsführern . . . . . . . . . . . i) Die Rechtsstellung des Sanierungs-Geschäftsführers . . . . . . . . . . j) Abfindungsvereinbarungen und Anfechtungsrisiko . . . . . . . . . . . 2. Übertragende Sanierung (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Chancen und Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitwirkung der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

3. Management Buy-out (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung als Sanierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Finanzierungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Problem der Hinauskündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufnahme neuer Gesellschafter (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kapitalmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stille Beteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Genussrechtsausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Restrukturierung, insbesondere Umwandlung/Verschmelzung/Sanierungsfusion (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliche und betriebswirtschaftliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstechnische Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sanierung von Konzernunternehmen (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . a) Sanierung von Tochtergesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sanierung der Muttergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsrechtliche Aspekte der Sanierung: Personalabbau . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangspunkt und Regelungskomplexe (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebsbedingte Kündigung (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dringende betriebliche Erfordernisse (§ 1 Abs. 2 KSchG) . . . . . . . . . . aa) Unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kontrollmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beispiele für den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten . . . . . . dd) Maßgeblicher Zeitpunkt (Prognoseprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Darlegungs- und Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ultima-Ratio-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Freier, gleichwertiger Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Freier, geringerwertiger Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wann ist ein Arbeitsplatz „frei“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strukturveränderungen zur Optimierung der Sozialauswahl . . . . . . bb) Nutzung gesetzlicher Optimierungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . cc) Bezugspunkt Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Einzubeziehende Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Soziale Schutzbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Betriebliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Gesamtwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Auswahlrichtlinien (§ 1 Abs. 4 KSchG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Zwischenfazit: Vorsorge ist besser als Nachsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Rechtsfolge einer fehlerhaften Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Besonderheiten der sozialen Auswahl bei der Änderungskündigung . . . 3. Eingriffe in die Vergütung und Ruhegehaltsansprüche von Geschäftsführern (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herabsetzung der Geschäftsführervergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kürzung oder Widerruf von Ruhegehaltsansprüchen . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Seite c) Wegfall der „wirtschaftlichen Notlage“ als Sicherungsfall . . . . . . . . . . . d) Außergerichtlicher Vergleich als Sicherungsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Rolle des PSVaG im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 7 Externe Sanierung I.

Sanierungsbeiträge der Gesellschaftsgläubiger (Karsten Schmidt) . . . . 1. Gläubigerhilfen als externe Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . 2. Forderungsstundung (Moratorium) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forderungsverzicht und Besserungsschein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rangrücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Konsequenzen für Vertragsgestaltung und Liquiditätsmanagement

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II.

Debt Equity Swap im Besonderen (Karsten Schmidt) 1. Der Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Vollwertigkeitsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertungen und strategische Optionen . . . . . . . 5. Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG . . . . . .

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III.

Die Rolle der Kreditinstitute (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stillhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fallgestaltungen des Stillhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verzicht auf die Ausübung eines Kündigungsrechts . . . . . . . . . . . bb) Nicht ernsthaftes Einfordern einer fälligen Forderung . . . . . . . . . . cc) Prolongation von Krediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stillhaltevereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewährung zusätzlicher Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konzept des Sanierungsbeitrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzverschleppung durch das Kreditinstitut? . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abgrenzung zwischen Sanierungskredit und Insolvenzverschleppung bb) Anforderungen an eine Sanierungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Überbrückungskredit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Insolvenzverschleppung durch Bankkredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kündigung des Sanierungskredits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Poolen von Sicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konzept des Sanierungsbeitrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt des Sicherheitenpoolvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bestandskraft des Sicherheitenpoolvertrags bei Insolvenz des Kreditnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306 306 306 306 307 307 308 308 309 310 310 311 312 312 314 315 315 316 316 317

Finanzierungshilfen der öffentlichen Hand (Beihilfen) (Brinkmann) . . . . . . . 1. Der Begriff der Beihilfen nach Art. 107 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unionsrechtliche Anforderungen an die Gewährung von Beihilfen . . . . . . 3. Überblick über die Fragen an der Schnittstelle zwischen Restrukturierungsbzw. Insolvenzrecht einerseits und Beihilferecht andererseits . . . . . . . . . . 4. Rechtmäßig gewährte Beihilfen als Teil der Insolvenzmasse . . . . . . . . . . . 5. Die Rolle des Staates als Gläubiger in und im Vorfeld von Sanierungsverhandlungen, im Restrukturierungs- und im Insolvenzplanverfahren . . .

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IV.

XVIII

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Inhaltsverzeichnis

Seite 6. Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Zuwendungen in Krise und Insolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Beihilfen . . . . . . . . . b) Rückforderung unionsrechtswidriger Subventionen durch nationale Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Rückgewähranspruch in Krise und Insolvenz des Zuwendungsempfängers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs durch Antragstellung und Forderungsanmeldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Rückforderungsanspruch als Insolvenzforderung . . . . . . . . . cc) Unternehmensfortführung und Sanierung in Restrukturierungsund Insolvenzverfahren vor dem Hintergrund des Gebots der Beseitigung der Wettbewerbsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . .

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§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung I.

Systematische Grundlagen der Unternehmenssteuer (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Trennungsprinzip – Besteuerung der Kapitalgesellschaft . . . . . . . 3. Besteuerung der Anteilseigner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Exkurs: Gewerbesteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gewinnermittlung bei Anteilsveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anteile im Betriebsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anteile im Privatvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: sperrfristbehaftete Anteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Grundzüge der Verlustnutzung bei der GmbH . . . . . . . . . . . . . 7. Überblick über Maßnahmen infolge der Covid 19-Pandemie und

....... ....... ....... ....... ....... ....... ....... ....... ....... ....... Ausblick

333 333 333 334 334 335 335 336 337 338 339

II.

Steuerfreie Sanierungserträge (§ 3a EStG) (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . 1. Rechtsentwicklung (§ 3 Nr. 66 EStG a.F. und Sanierungserlass) . . . . . . . . 2. Überblick und Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eingangsvoraussetzung: Sanierungsertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Betriebsvermögensmehrung oder Betriebseinnahme aus Schuldenerlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zum Zwecke der Sanierung und Nachweis der Sanierungsabsicht . b) Unternehmensbezogene Sanierung (§ 3a Abs. 1–4 EStG) . . . . . . . . . . . aa) Legaldefinition (§ 3a Abs. 2 EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sanierungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sanierungsfähigkeit und Sanierungseignung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unternehmerbezogene Sanierung (§ 3a Abs. 5 EStG) . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Steuerfreiheit und Abzugsverbot (§ 3c Abs. 4 EStG) . . . . . . . . . . . . . . b) Verbrauch von Verlusten, Vorträgen und Steuerminderungspotenzialen (§ 3a Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausübung steuerlicher Wahlrechte (§ 3a Abs. 1 Sätze 2 und 3 EStG) . . 5. Verfahrensrecht und Folgen für die Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340 340 341 342 342

346 348 348

Zinsschranke (§ 4h EStG und § 8a KStG) (Crezelius/B. Westermann) . . . . . .

349

III.

342 343 344 344 345 345 345 346 346

XIX

Inhaltsverzeichnis

Seite IV.

Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . 1. Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verwendung von Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tausch von Aktiva und Passiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Qualifizierte Beteiligung im Privatvermögen (§ 17 Abs. 2a EStG n.F.) cc) Beteiligungen im Betriebsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Maßnahmen nach dem ESUG, insbes. Genussrechte . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitalherabsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sog. Mantelkauf (§ 8c KStG) (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung und verfassungsrechtliche Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regel: Untergang nicht genutzter Verluste bei schädlichem Beteiligungserwerb (§ 8c Abs. 1 KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erwerber und nahestehende Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tatbestandliche Übertragung der Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unmittelbare und mittelbare Übertragungen . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausnahmen (§ 8c Abs. 1 Sätze 4 ff. KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ausnahmetatbestand: Sanierungsprivileg (§ 8c Abs. 1a KStG) . . . . . . . . . a) Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fortführungsgebundener Verlustvortrag (§ 8d KStG) . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gewerbesteuer (§ 10a Sätze 10 und 11 GewStG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Umwandlungen (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. UmwStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verschmelzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verschmelzung GmbH auf GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verschmelzung GmbH auf Personengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ebene der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ebene der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Gesellschafterdarlehen, insbesondere Rangrücktritt und Forderungsverzicht (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rangrücktritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forderungsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ebene der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ebene der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall Besserungsabreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forderungsverzicht bei GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verzicht auf Pensionsanwartschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XX

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Inhaltsverzeichnis

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3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen § 9 Freie (außergerichtliche) Sanierung I.

Allgemeines (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freie Sanierung als Alternative zum Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . 2. Vor- und Nachteile einer freien Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Die freie Sanierung durch Abschluss eines Sanierungsvergleichs (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Akkordstörerproblematik (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) I.

Einführung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Drohende Zahlungsunfähigkeit als Eintrittsschwelle (Brinkmann) . . . . . . . . . 1. Die (neue) verfahrensrechtliche Bedeutung des Tatbestands der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 29 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Solvenzsicherungspflicht der Geschäftsführer bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 1 Abs. 1 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Abgrenzung der drohenden Zahlungsunfähigkeit von der Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Tatbestand des § 18 InsO und seine Feststellung . . . . . . . . . . . . . . . a) Die zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Künftige Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Prognosezeitraum und Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Darlegung und Feststellung von drohender Zahlungsunfähigkeit im Rahmen von Anträgen nach §§ 50, 60 StaRUG . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Antrag nach § 50 StaRUG auf Erlass einer Stabilisierungsanordnung bb) Antrag nach § 60 StaRUG auf gerichtliche Planbestätigung . . . . . .

391

III.

IV.

Mitwirkung der Gesellschaftsorgane bei Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pflichten bei Gefahren für die langfristige Solvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einberufung der Gesellschafterversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beschluss der Gesellschafterversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anzeige der Restrukturierungssache trotz ablehnenden Gesellschafterbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Restrukturierungsplan als Instrument zur kollektiv-privatautonomen Bewältigung der schuldnerischen Krise (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . 1. Anforderungen an den Restrukturierungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gliederung des Plans (§ 5 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Darstellender Teil (§ 6 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gestaltender Teil (§ 7 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Auswahl der Planbetroffenen (§ 8 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seite e) f) g) h) i) j)

V.

XXII

Einteilung der Planbetroffenen in Gruppen (§ 9 StaRUG) . . . . . . . . . . Gleichbehandlung von Planbetroffenen (§ 10 StaRUG) . . . . . . . . . . . . Haftung der Schuldnerin (§ 11 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Finanzierung (§ 12 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Änderung sachenrechtlicher Verhältnisse (§ 13 StaRUG) . . . . . . . . . . . Erklärung zur Bestandsfähigkeit, Vermögensübersicht, Ergebnis- und Finanzplan (§ 14 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltung von Rechtsverhältnissen auf Grundlage eines Restrukturierungsplans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gestaltbare Rechtsverhältnisse (§ 2 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedingte und fällige Restrukturierungsforderungen (§ 3 StaRUG) . . . . c) Ausgenommene Rechtsverhältnisse (§ 4 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Planabstimmung (bei einer außergerichtlichen Verhandlung) (§§ 17–23 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stimmrecht (§ 24 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bei verzinslichen Restrukturierungsforderungen nach dem Betrag . . bb) Bei Absonderungsrechten nach deren Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bei Anteils- und Mitgliedschaftsrechten nach dem Anteil am Kapital oder Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erforderliche Mehrheiten (§ 25 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung (§ 26 StaRUG) . . . . . . . 4. Abstimmung in einem gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zugangsberechtigung (Restrukturierungsfähigkeit, § 30 StaRUG) (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materiell-rechtliche Zugangsvoraussetzung (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einleitung des Verfahrens (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gerichtszuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Örtliche und funktionelle Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einheitliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Gruppen-Gerichtsstand bei Konzernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anzeige des Restrukturierungsvorhabens bei dem zuständigen Restrukturierungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Anzeige beizufügende Unterlagen (§ 31 Abs. 2 StaRUG) . . . . bb) Rechtswirkungen der Anzeige des Restrukturierungsvorhabens . . . cc) Beendigung der Rechtswirkungen der Anzeige . . . . . . . . . . . . . . . 4. Pflichten des Schuldners im Restrukturierungsverfahren (Vallender) . . . . . a) Pflichten des Schuldners gemäß § 32 StaRUG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflichten und Haftung der Organe gemäß § 43 StaRUG . . . . . . . . . . . 5. Die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gerichtliche Vorprüfung (§§ 47, 48 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Planabstimmung (§ 45 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stabilisierungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Dauer der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolgen der Stabilisierungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI.

dd) Stabilisierungsanordnung und Gläubigerantrag . . . . . . . . . . . . . . . ee) Haftung der Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Aufhebung und Beendigung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Restrukturierungsplanverfahren (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gerichtliche Planabstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Antrag des Schuldners beim Restrukturierungsgericht auf Bestimmung eines Erörterungs- und Abstimmungstermins (§ 45 Abs. 1 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Streitige Stimmrechte: Festlegung durch das Gericht (§ 45 Abs. 4 Satz 2 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gerichtliche Planbestätigung (§§ 60 ff. StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Umfang der gerichtlichen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahrensrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wirkungen des Plans (§ 67 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vollstreckung aus dem gerichtlich bestätigten Plan (§ 71 StaRUG) ee) Planüberwachung durch Restrukturierungsbeauftragten (§ 72 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Der Restrukturierungsbeauftragte (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestellungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anforderungsprofil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Auswahl des Restrukturierungsbeauftragten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Aufgaben des Restrukturierungsbeauftragten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Haftung des Restrukturierungsbeauftragten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Entlassung aus dem Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gerichtskosten und Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten . . . . 8. Sanierungsmoderation (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Antrag des Schuldners auf Bestellung eines Sanierungsmoderators (§ 94 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestellung (§ 95 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufgabe der Sanierungsmoderation (§ 96 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . d) Bestätigung eines Sanierungsvergleichs (§ 97 StaRUG) . . . . . . . . . . . . e) Vergütung (§ 98 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Abberufung (§ 99 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Übergang in den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (§ 100 StaRUG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Restrukturierungsforum (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Anfechtungs- und Haftungsrecht 1. Anfechtungsrecht . . . . . . . . . 2. Haftungsrecht . . . . . . . . . . . 3. Planfolgen und Planvollzug . 4. Fristenberechnung . . . . . . . .

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VIII. Der Gläubigerbeirat (§ 93 StaRUG) (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen für die Einsetzung eines Gläubigerbeirats . . . . 2. Bestellungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammensetzung des Beirats und Stellung der Beiratsmitglieder 4. Aufgabenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seite IX.

Steuerrechtliche Besonderheiten bei Sanierungen nach dem StaRUG (B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick: Einfügung in die Systematik der Unternehmensbesteuerung 2. Verfahrensrechtliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Steuerrechtliche Haftung der Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kooperation mit der Finanzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bilanzrechtliche Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sonderfall Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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X.

Arbeitsrechtliche Besonderheiten bei Sanierungen nach dem StaRUG (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitnehmerforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Plangestaltung entzogene Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Keine Anknüpfung an die Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maßgeblichkeit einer inhaltlichen Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . c) Keine zeitliche Anknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gestaltung des Bestands von Arbeitsverhältnissen? . . . . . . . . . . e) Keine Gestaltung von Mitbestimmungsrechten . . . . . . . . . . . . . 4. Geschützte Arbeitnehmervertretungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geschützte Arbeitnehmervertretungen des BetrVG . . . . . . . . . . b) Nicht geschützte Arbeitnehmervertretungen des BetrVG . . . . . . c) Risikofaktor Arbeitnehmervertretungen außerhalb des BetrVG . 5. Geschützte Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Originäre Beteiligungsrechte im StaRUG . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Gläubigerbeirat bb) Keine weiteren originären Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . b) Beteiligungsrechte außerhalb des StaRUG . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beabsichtigte Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens . . . bb) Entwurf eines Restrukturierungsplans . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Planaufstellung und -vorlage bzw. Planangebot . . . . . . . . . dd) Planerfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Optionen (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anhaltende Selbstprüfungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sanierung im Insolvenzverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Zerschlagungsstrategien (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zerschlagung durch Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zerschlagung durch Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 11 Wegweiser nach dem Scheitern einer außergerichtlichen Sanierung

XXIV

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4. Teil Unternehmensabwicklung § 12 Liquidation I.

Tatbestände und gesellschaftsrechtliche Folgen der Auflösung (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auflösungstatbestände und Typen der Liquidation . . . . . . . a) Die gesellschaftsrechtlichen Tatbestände . . . . . . . . . . . . b) Der insolvenzrechtliche Tatbestand der Masselosigkeit . 2. Gesellschaftsrechtliche Folgen der Auflösung . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalbindung in der Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesellschaftsorgane in der Liquidation . . . . . . . . . . . . . d) Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Betriebs- und Teilbetriebsveräußerung . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auflösungstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Arbeitsrecht der Liquidation (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung: Stilllegung oder Veräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebsveräußerung und Betriebs(teil)übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anforderungen an einen Betriebs(teil)übergang . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Prüfschema“ zum Betriebs(teil)übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bestehende organisatorische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorbereitende Umstrukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Übergang „durch Rechtsgeschäft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beibehaltung der Organisation oder des Funktionszusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Strategien zur Vermeidung des Eingreifens von § 613a BGB . . . . . . g) Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eintritt in bestehende Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Sonderfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eintritt in individualrechtliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eintritt in kollektivrechtliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Unterrichtung über den Betriebs(teil)übergang . . . . . . . . . . . . . ee) Widerspruch gegen den Betriebs(teil)übergang . . . . . . . . . . . . . aaa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Widerspruch gegen vorhergehenden Betriebsübergang als Sanierungsinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ccc) Rechtsfolgen der Ausübung des Widerspruchsrechts . . . . h) Fortsetzungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Betriebsstilllegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Verlegungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seite 3. Betriebsstilllegung: Betriebsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses und des Betriebsrats b) Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sozialplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis zwischen Interessenausgleich und Sozialplan . . . . . . e) Durchführung des Massenentlassungsverfahrens . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konsultationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Zuständiger Betriebsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Inhalt der Unterrichtung des Betriebsrats . . . . . . . . ccc) Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrats . . . . . . ddd) Form der Unterrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anzeigeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Rechtfertigung von Kündigungen nach dem KSchG . . . . . . . .

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508 508 508 512 516 516 517 517 517 518 520 520 521 522 523 523 524 524

Steuerrecht in der Liquidation (Crezelius/B. Westermann) 1. Liquidationsbesteuerung der GmbH . . . . . . . . . . . . . . 2. Steuerrechtliche Konsequenzen für den Anteilseigner . . a) Ertragsteuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wegfall der Begünstigungen . . . . . . . . . . . . . . 3. Liquidationsbesteuerung der GmbH & Co. KG . . . . . . a) Steuersystematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . b) Betriebsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erbschaft- und Schenkungsteuer . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Liquidations- und Sanierungszweck (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzliche Zwecke des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhältnis zum gesellschaftsrechtlichen Liquidationsverfahren . . . . . . . . .

538 538 538

II.

Insolvenzstrategien (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gläubigerantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schuldnerantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

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§ 13 Unternehmensabwicklung durch Insolvenzverfahren

5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren § 14 Insolvenzgründe I.

XXVI

Die rechtliche und wirtschaftliche Relevanz der Insolvenztatbestände (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzeslage: verfahrensrechtliche Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Seite 2. Der „Trigger Effect“ der Eröffnungstatbestände: die unternehmensrechtliche Sicht der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Zentrum: Liquidität und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.

III.

IV.

544 545

Zahlungsunfähigkeit (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Bedeutung der Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Auf Zahlung von Geld gerichtete Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fälligkeit der Forderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Berücksichtigung streitiger Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Berücksichtigung nachrangiger Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die zu berücksichtigenden Aktiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels mehrerer Liquiditätsbilanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zahlungseinstellung als Indiz für die Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . aa) Die Bedeutung der Zahlungseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Tatbestand der Zahlungseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Abgrenzung zur Zahlungsunwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Handlungsoptionen der Geschäftsführung bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Drohende Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzantragsgrund a) Unattraktivität der Einleitung eines Insolvenzverfahrens aus Sicht der Gesellschafter und Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Chancen und Risiken eines Eigenantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Überschuldung (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtspolitische Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der „Überschuldungsbegriff“ und § 19 Abs. 2 InsO: Kontinuität oder Rechtsänderung in der Methode der Überschuldungsprüfung? . . . . . . 3. Geltender Rechtszustand und rechtspolitische Beurteilung . . . . . . . . . 4. Praxisfolgen für die Selbstprüfung der Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . 5. Feststellung der Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unterschiedliche Prüfungsanlässe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einstufige, zweistufige oder dreistufige Prüfung? . . . . . . . . . . . cc) IDW-Standard IDW S 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Zum Überschuldungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ccc) Zur Fortbestehensprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Überschuldungsstatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Aktivseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Passivseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausgleich der Passivseite durch kompensierende Abreden . . . . dd) Die Fortbestehensprognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XXVII

Inhaltsverzeichnis

Seite § 15 Der Insolvenzantrag I.

Zuständigkeit und Form (Bast) 1. Sachliche Zuständigkeit . . . 2. Funktionelle Zuständigkeit . 3. Örtliche Zuständigkeit . . . . 4. Form . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Antragsberechtigte (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gläubigerantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Insolvenzantrag als Gläubigerkalkül . . . . . . . . . . . . . . . b) Die ordnungsgemäße Antragstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Insolvenzantrag gegen eine GmbH & Co. KG . . . . . . . d) Forderung gegen die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Glaubhaftmachung von Forderung und Insolvenzgrund . . . f) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse für den Antrag . . . . g) Haftung wegen fahrlässigen Insolvenzantrags . . . . . . . . . . . h) Das Zulassungsverfahren als quasi-streitiges Parteiverfahren 4. Antragsrücknahme und Erledigungserklärung . . . . . . . . . . . . .

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III.

Die geschäftsführerlose GmbH (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Insolvenzantragsrecht und Antragspflicht bei der führungslosen GmbH . . 2. Vereinfachte Zustellung an führungslose Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . .

603 604 604

IV.

Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (Bast) . . . . . . . . . . . . . . .

606

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers I.

Verfahrensrechte des Geschäftsführers (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschwerderechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulassung des Insolvenzantrags durch das Insolvenzgericht b) Ermittlungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfahrensabschließende Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . e) Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II.

Pflichten des Geschäftsführers vor Zulassung des Insolvenzantrags (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pflichten gegenüber der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gläubigerantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigenantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Insolvenzantrag durch einen anderen Geschäftsführer „im Alleingang“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einvernehmlicher Eigenantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitwirkungslasten gegenüber dem Insolvenzgericht . . . . . . . . .

III.

XXVIII

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Pflichten des Geschäftsführers nach Zulassung des Insolvenzantrags (Bast) . . 1. Einköpfige und mehrköpfige Geschäftsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zur Beachtung gerichtlicher Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Seite 3. Auskunftspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gegenüber dem Insolvenzgericht . . . . . . . . . . b) Gegenüber dem vorläufigen Insolvenzverwalter 4. Mitwirkungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bereitschafts- und Unterlassungspflichten . . . . . . IV.

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Verfahrensrechte und Pflichten des faktischen Geschäftsführers (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

627

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren I.

II.

III.

Zahlungsverkehr (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zahlungseingänge nach Insolvenzantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausführung von Zahlungsaufträgen nach Zahlungsunfähigkeit und Insolvenzantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausführung ohne Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausführung in Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausführung aus Guthaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausführung aus einer offenen Kreditlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Debitorisches Konto ohne zugesagte Kreditlinie . . . . . . . . . . . . . 3. Ausführung von Zahlungsaufträgen nach der Anordnung vorläufiger Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zahlungsauftrag der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zahlungsauftrag des vorläufigen Verwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kontoführung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter . . . . . . . . . a) Insolvenz-Sonderkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Offenes Treuhandkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten im Lastschriftverkehr (Kuder/Unverdorben) . . . . . 1. Überblick über die Lastschriftverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Lastschriftverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Lastschriftmandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltendmachung des Erstattungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einlösung und Einzug von Lastschriften nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einlösung nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen b) Einzug nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen . . 4. Anfechtung von Lastschriftbuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kreditgeschäft (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots . . . . . . . . . . . . a) Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestellung eines vorläufigen Verwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beweggründe für die Gewährung von Massedarlehen . . . . bb) Massebarkredit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Massedarlehen durch Überlassung von Sicherheitenerlösen

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Inhaltsverzeichnis

Seite dd) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Entstehen von Masseverbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vorläufiger Insolvenzverwalter mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Starker vorläufiger Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Wirtschaftlicher Nutzen der Privilegierung als Massekredit . . (5) Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . . . . (6) Besicherung neuer Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Verwertung von Kreditsicherheiten (Kuder/Unverdorben) 1. Verwertung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter a) Befugnis zur Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kostenbeiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolgen unzulässiger Verwertung . . . . . . . . . 2. Verwertung durch den gesicherten Gläubiger . . . . . .

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I.

Grundstrukturen der Insolvenzgeldvorfinanzierung (Kuder/Unverdorben) . . .

663

II.

Der Anspruch auf Insolvenzgeld (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . .

664

III.

Zum Rang der auf die Bundesagentur für Arbeit übergehenden Lohn- und Gehaltsansprüche (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

666

IV.

Die Rahmenbedingungen für die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erwerb des Anspruchs auf Insolvenzgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfung durch die Agentur für Arbeit zur Vermeidung von Rechtsmissbräuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Risiken der Insolvenzgeldvorfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 18 Vorfinanzierung von Insolvenzgeld

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I.

Einleitung (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Die Mehrfachstruktur der Gläubigerausschüsse (Bast) . . . . . . . . . . . 1. Der Pflichtausschuss nach § 22a Abs. 1 InsO . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der fakultative Ausschuss (§ 21 Abs. 1 Nr. 1a, § 22a Abs. 2 InsO) a) Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses auf Antrag . aa) Antragsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zulässigkeit des Antrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gerichtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses nach pflichtgemäßem Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einsetzungssperre (§ 22a Abs. 3 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eingestellter Geschäftsbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unverhältnismäßigkeit der Einsetzung im Hinblick auf die zu erwartende Insolvenzmasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nachteilige Veränderung der Vermögenslage (§ 22a Abs. 3 Alt. 3 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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675 675 676

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677

......

677

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss

XXX

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Inhaltsverzeichnis

Seite III.

Rechtsmittel (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

679

IV.

Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

680

V.

Mitgliedschaft (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

VI.

Amtsdauer (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

682

VII. Aufgaben und Befugnisse des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

683

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung I.

Zweck, Erscheinungsformen (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

686

II.

Anordnung (Spliedt) . . . . . . . 1. Beschluss von Amts wegen 2. Voraussetzungen . . . . . . . 3. Rechtsmittel . . . . . . . . . . .

III.

Anordnungsvarianten (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung . . . . . . . . a) Rechtsfolgen eines Zustimmungsvorbehalts . . . . . . b) Mitwirkungspflichten der Geschäftsführung . . . . . c) Aufgaben des „schwachen“ Verwalters . . . . . . . . . d) Beendigung der vorläufigen Verwaltung . . . . . . . . e) Befugnisse der Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Starke“ vorläufige Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Befugnisse des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befugnisse des Verwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einschränkung der Insolvenzanfechtung . . . . . . . . 3. Mischformen der vorläufigen Verwaltung . . . . . . . . . a) Einzugsermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschränkung von Drittrechten gemäß § 21 Abs. 2 c) Begründung von Masseverbindlichkeiten . . . . . . .

IV.

Arbeitsrechtliche Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters/ vorläufigen Sachwalters (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . 2. „Starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Halb-starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . 4. Betriebsstilllegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorläufige Eigenverwaltung – Schutzschirmverfahren . . . . . . 6. Vorfinanzierung von Insolvenzgeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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688 688 688 689

......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... ......... Nr. 5 InsO .........

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689 689 689 694 694 697 697 699 699 700 702 702 703 704 709

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Betriebsfortführung/-stilllegung im Eröffnungsverfahren (Schluck-Amend) . . . 1. Die Betriebsfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Pflicht zur Betriebsfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schaffung von Anlaufliquidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Deckung der Personalkosten durch Vorfinanzierung von Insolvenzgeld 2. Die Betriebsstilllegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

719 719 719 720 721 722

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§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen I.

XXXI

Inhaltsverzeichnis

Seite II.

Betriebsveräußerung im Eröffnungsverfahren (Schluck-Amend) . . . . . . . . . 1. Betriebsveräußerung durch den sog. „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betriebsveräußerung bei Anordnung einer sog. „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Haftungsrechtliche Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftung des Erwerbers bei Firmenfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur steuerlichen Haftung des Käufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Haftung des Erwerbers gemäß § 613a BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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728 729 730 732 733 733

6. Teil Abweisung mangels Masse § 22 Insolvenzrechtliche Regelungen I.

II.

Gerichtliche Entscheidung nach § 26 InsO (Brinkmann) . . . . . . . . . . . 1. Die kostendeckende Masse als Eröffnungsvoraussetzung . . . . . . . . . 2. Die Prüfung der Kostendeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussichtliche Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussichtliche Kosten des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Prüfungsmaßstab des Gerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Abwendung der Nichteröffnung durch Einzahlung eines Kostenvorschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiwillige Vorschusszahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorschusspflicht nach § 26 Abs. 4 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erstattungs- und Rückgriffsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Abweisungsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfahrensrechtliche Folgen (Brinkmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 23 Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen I.

Masselose Liquidation: Gesellschaftsrecht versus Insolvenzrecht? (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liquidation nach Insolvenzrechtsgrundsätzen? . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfolgen bei der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insolvenzverschleppungshaftung bei Masselosigkeit . . . . . . .

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741 741 743 744 745

II.

Abhilfemöglichkeiten? (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ersatz des Massekostenvorschusses nach § 26 Abs. 3, 4 InsO bei Insolvenzverschleppung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltendes Recht und Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XXXII

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Inhaltsverzeichnis

Seite

7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren § 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung I.

Das Verhältnis von Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht (Karsten Schmidt) 1. Schulenstreit oder Sachproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

749 749 750

II.

Die Gesellschaft als Rechtsträgerin und als Organisation (Karsten Schmidt) . . 1. Auflösung und Organisation der Gesellschaft im Regelinsolvenzverfahren . . 2. Veränderte Zuständigkeitsordnung bei Eigenverwaltung und im Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

751 751

III.

Die Insolvenzmasse (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Massefreies Gesellschaftsvermögen? . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Freigabe von Massegegenständen . . . . . . . . . . . . . a) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Streit um die Zulässigkeit der „echten“ Freigabe

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754 754 757 758 758 759

IV.

Das Altlastenproblem (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abgrenzung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gefahrverursachung nach der Verfahrenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . b) Gefahrverursachung vor der Verfahrenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundlinien: „massefreundliche“ und „massefeindliche“ Auffassungen a) „Massefreundliche“ Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Massefeindliche“ Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stand der Rechtsprechung zur Ordnungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begründung der Ordnungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Befreiung durch Freigabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ersatzvornahme und Ersatzvornahmekosten in der Insolvenz . . . . . . . 4. Verhaltensempfehlung und rechtspolitische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . .

760 761 761 761 762 762 763 765 765 766 767 768

V.

Betriebsfortführung und Betriebseinstellung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . 1. Die Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gründe für eine Unternehmensfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Maßnahmen der Betriebsfortführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflichten des Insolvenzverwalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfahrensrechtliche Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflichten aus übergegangener Unternehmerstellung . . . . . . . . . . . . . 3. Betriebseinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stilllegung vor dem Berichtstermin (§ 158 InsO) . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Voraussetzungen und die Pflicht zur Stilllegung . . . . . . . . . . . . cc) Der Gläubigerausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Schuldner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XXXIII

Inhaltsverzeichnis

Seite c) Stilllegung nach dem Berichtstermin (§ 157 Satz 1 InsO) . . . . . . . . . . d) Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

778 779

Bilanzpraxis in der Insolvenz der GmbH (Sinz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Interne Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Externe Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

779 779 783

VII. Übertragende Sanierung im eröffneten Verfahren (Karsten Schmidt) . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

787 787 788

VI.

VIII. Haftungsrealisierung durch den Insolvenzverwalter (Karsten 1. Gesellschafterhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geschäftsführer- und Verwalterhaftung . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleichsverbote für den Insolvenzverwalter? . . . . . . . . 4. Geltendmachung im Verfahren der Eigenverwaltung und

Schmidt) ....... ....... ....... Freigabe

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795 795 795 795 798 799 800 800 801 801 802 802 802 802 804 805 805

I.

Grundlagen (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Organschaftliche Stellung und Dienstvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsstellung der Gesellschafter in einer führungslosen GmbH 3. Die verfahrensrechtliche Stellung des faktischen Geschäftsführers . .

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807 807 809 810

II.

Entgeltzahlungen an den Geschäftsführer (Spliedt) . . 1. Geschäftsführervertrag und Geschäftsführerbezüge a) Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vergütungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Insolvenzrechtliche Einordnung . . . . . . . . bb) Vergütungshöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verfrühungsschaden . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX.

Haftungsrisiken des Verwalters (Schluck-Amend) . . . . . 1. Haftungsrisiken des endgültigen Insolvenzverwalters a) Insolvenzspezifische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundkonzept § 60 Abs. 1 InsO . . . . . . . . . bb) Sonderregelung § 61 InsO . . . . . . . . . . . . . . cc) Haftung für Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Haftung nach allgemeinen Grundsätzen . . . . . . . aa) Vertragliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Deliktische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonstige Haftungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftungsrisiken des vorläufigen Insolvenzverwalters a) Insolvenzspezifische Haftung . . . . . . . . . . . . . . . aa) Haftung nach § 60 InsO . . . . . . . . . . . . . . . bb) Haftung nach § 61 InsO . . . . . . . . . . . . . . . cc) Haftungsrisiko der Stilllegung . . . . . . . . . . . b) Haftung aus sonstigen Gründen . . . . . . . . . . . . . 3. Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers im eröffneten Insolvenzverfahren

XXXIV

.. in .. .. .. .. .. ..

... der ... ... ... ... ... ...

........ Insolvenz ........ ........ ........ ........ ........ ........

Inhaltsverzeichnis

Seite d) Insolvenzanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Angemessene Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unangemessene Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insolvenzsicherung der laufenden Geschäftsführerbezüge . . . . 3. Betriebliche Altersversorgung der Geschäftsführer . . . . . . . . . a) Versorgungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzrechtliche Einordnung der Versorgungsansprüche c) Insolvenzsicherung durch das BetrAVG . . . . . . . . . . . . . . d) Insolvenzsicherung außerhalb des BetrAVG . . . . . . . . . . . e) Gläubigerschutz bei Versorgungsleistungen . . . . . . . . . . . . aa) Insolvenzrechtliche Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besonderheiten beim Gesellschafter-Geschäftsführer . . III.

IV.

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838 838 839 839 840

Die gesellschaftsrechtliche Stellung der Geschäftsführer (Brinkmann) . . . . . . 1. Kompetenzen in Bezug auf massefreies Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschaftsinterne Kompetenzen der Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . .

840 840 841

Die verfahrensrechtliche Stellung der Geschäftsführer (Brinkmann) . . . . . 1. Verfahrenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auskunftspflicht der Geschäftsführer (§ 97 Abs. 1 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Auskunftsverpflichtete und -berechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gegenstand und Erfüllung der Auskunftspflicht . . . . . . . . . . . . cc) Verwendungsverbot bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten . dd) Strafbarkeit einer Falschauskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Unterstützungspflicht (§ 97 Abs. 2 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Insbesondere die Mitwirkung an der Aufstellung des Verzeichnisses der Massegegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Durchsetzung der Verfahrenspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrechte des Geschäftsführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelinsolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigenverwaltung und Planverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren I.

Arbeitsverhältnisse (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergütungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

842 842 842

II.

Kündigungen (Mückl) . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . 2. § 113 InsO . . . . . . . . . 3. Schadensersatz . . . . . . . 4. Kündigungsschutzklage 5. Befristungen . . . . . . . .

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III.

Betriebsvereinbarungen (Mückl) . . . . . 1. Normzweck des § 120 InsO . . . . . . 2. Beratungs- und Verhandlungspflicht 3. Kündigungsmöglichkeit . . . . . . . . .

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853 853 853 854

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XXXV

Inhaltsverzeichnis

Seite

IV.

V.

4. Nachwirkung der Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Andere Beendigungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Anfechtung von Betriebsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

855 856 857

Besonderheiten bei Betriebsänderungen: Personalabbau (Mückl) . . . . . . . . . 1. Vermittlungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gerichtliche Zustimmung zur Durchführung der Betriebsänderung ohne Interessenausgleichsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessenausgleich mit Namensliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zeitlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zustandekommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Änderung der Sachlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Massenentlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Betriebsratsanhörung/Beteiligung bei Versetzungen . . . . . . . . . . . . . . i) Zustimmung des Integrationsamts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz statt Interessenausgleich . . . . a) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antragsvoraussetzungen und Entscheidungsgegenstand . . . . . . . . . . . d) Rechtswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Änderung der Sachlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Verhältnis zu anderen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Betriebsratsanhörung und andere Beteiligungsrechte . . . . . . . . . . . . . h) Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Personalabbau mithilfe von „Turboprämien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Sozialplanregelungen gemäß §§ 123, 124 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sozialplan ab Verfahrenseröffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sozialplan in der „Rückgriffszeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sozialplan außerhalb der „Rückgriffszeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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859 860

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860 863 863 865 867 868 870 875 877 877 878 879 879 880 881 882 883 883 884 884 885 885 887 887 887 888 888 892 893

Betriebsveräußerung (Mückl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbarkeit des § 613a BGB in der Insolvenz 2. Modifizierung der Haftungsfolgen . . . . . . . . . . . . 3. Kündigungssperre nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB a) Kündigung wegen Betriebsübergangs . . . . . . . b) Betriebsstilllegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erwerberkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Veräußererkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten nach der Insolvenzordnung . . . . . 5. Aufhebungs- und Änderungsvereinbarungen . . . .

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894 894 894 896 896 896 897 899 899 900

XXXVI

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Seite § 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren I.

Zahlungsverkehr (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zahlungseingänge im eröffneten Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausführung von Zahlungsaufträgen im eröffneten Verfahren . . . . . . . . a) Neue Zahlungsaufträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bei Eröffnung bereits vorliegende Zahlungsaufträge . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten im Lastschriftverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einlösung von Lastschriften nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens b) Einzug von Lastschriften nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens . . 4. Die Kontoführung durch den Insolvenzverwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Insolvenz-Sonderkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Offenes Treuhandkonto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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905 905 906 906 907 908 908 908 909 909 909

II.

Neukredite (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Finanzierung mit Neukrediten im regulären Insolvenzverfahren a) Finanzierung durch Ausnutzung bestehender Kreditlinien? . b) Aufnahme neuer Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besicherung des Neukredits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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909 910 910 912 914

III.

Verwertung von Kreditsicherheiten (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . 1. Aussonderung und Absonderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aussonderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Absonderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgesonderte Befriedigung aus Immobilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einschränkungen des Verwertungsrechts des Gläubigers . . . . . . . . . aa) Einstellung der Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nachteilsausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kostenbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freihändige Verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abgesonderte Befriedigung aus Sicherungsübereignung und Sicherungsabtretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verwertungsrecht bei beweglichen Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verwertungsrecht bei Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kostenbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abgesonderte Befriedigung aus Pfandrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Pfandrecht an beweglichen Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pfandrecht an Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) AGB-Pfandrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Kostenbeitrag der gesicherten Gläubiger im Überblick . . . . . . . . . .

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915 915 916 916 917 917 917 918 919 920

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922 922 925 927 929 930 931 931 932

Inanspruchnahme der vertraglichen Mithaftung von Geschäftsführern und Gesellschaftern (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typische Sicherungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bürgschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schuldbeitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Garantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Harte Patronatserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Grenzen der Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inanspruchnahme des Gesellschafters in der Insolvenz (§ 93 InsO) . b) Schranken des Sicherungszwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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932 933 933 933 934 935 936 936 937

IV.

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XXXVII

Inhaltsverzeichnis

Seite c) Formvorschriften für Verbraucherdarlehen . . . . . . . . . . . . . . d) Abschluss außerhalb der Geschäftsräume oder im Fernabsatz aa) Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge . bb) Sicherheitenbestellung im Fernabsatz . . . . . . . . . . . . . . . e) Grenzen für die Mithaftung Vermögensloser . . . . . . . . . . . .

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§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren I.

Ertragsteuerrecht (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liquidationsbesteuerung der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besteuerung des Anteilseigners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ebene der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ebene der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anteile im Betriebsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anteile im Privatvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonderfall: Bürgschaften und andere Sicherheiten 5. Insolvenz bei Betriebsaufspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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947 947 948 949 950 950 951 951 953 954 954

II.

Umsatzsteuer (Crezelius/B. Westermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

956

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren I.

II.

Zwei Schuldnerinnen, zwei Insolvenzverfahren, zwei Massen (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gestaltungsvielfalt der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sukzessivinsolvenz und Simultaninsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Insolvenzverfahren und Haftungsabwicklung in Fällen der Simultaninsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insolvenzmassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Persönliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Insolvenzverfahren nur über das KG-Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Sonderrecht der Einheits-GmbH & Co. KG . . . . . . . . . . . . . . . Koordinationsprobleme bei Eigenverwaltung und (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insolvenzplanverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .

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958 958 959

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960 962 963 963 963

im Insolvenzplanverfahren ..................... ..................... .....................

964 964 964

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§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen I.

Die Beendigung des Insolvenzverfahrens (Brinkmann) . . . . . . . . . . 1. Die Aufhebung des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aufhebung des Regelinsolvenzverfahrens (§ 200 InsO) . . b) Die Aufhebung des Planinsolvenzverfahrens (§ 258 InsO) . . . 2. Einstellung wegen Massearmut oder Masseunzulänglichkeit (§§ 207, 208 ff. InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Einstellung wegen Massearmut (§ 207 InsO) . . . . . . . . . aa) Die Feststellung der Massearmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Abwicklung des Insolvenzverfahrens bei Massearmut

XXXVIII

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Seite cc) dd) b) Die aa) bb)

Der Einstellungsbeschluss nach § 207 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsfolgen der Einstellung mangels Masse . . . . . . . . . . . . . . . . Einstellung wegen Masseunzulänglichkeit (§§ 208, 211 Abs. 1 InsO) Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Verwalter . . . . . . . Die Abwicklung des Insolvenzverfahrens nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einstellungsbeschluss nach Befriedigung der Massegläubiger (§ 211 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Einstellung wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes (§ 212 InsO) . . . . 4. Die Einstellung aufgrund einstimmigen Beschlusses der Insolvenzgläubiger (§ 213 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

968 968 968 969

II.

Fortsetzung oder Abwicklung der Gesellschaft (Karsten Schmidt) . 1. Fortsetzung der Gesellschaft durch Gesellschafterbeschluss . . . . 2. Vollabwicklung der GmbH im Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . 3. Fortsetzung oder Vollbeendigung der insolventen GmbH & Co.

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972 972 973 974

III.

Die GmbH und GmbH & Co. KG nach Aufhebung oder Einstellung des Insolvenzverfahrens (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollabwicklung des Schuldnervermögens als insolvenzrechtliche Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aufhebung des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Fortsetzung der GmbH nach Aufhebung des Verfahrens . . . . . 4. Löschung der Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit . . . . . . . . . . . . 5. Nachtragsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nachtragsliquidation nach § 66 Abs. 5 GmbHG . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die GmbH nach Einstellung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die GmbH & Co. KG nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens . . . .

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976

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976 977 977 978 981 983 983 985

I.

Überblick (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Planmotive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Plangegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

987 987 988

II.

Einzelheiten zum Planinhalt (Spliedt) 1. Darstellender Teil, Plananlagen . . . 2. Plangestaltungen . . . . . . . . . . . . . 3. Gruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . 4. Einbeziehung der Gesellschafter . . a) Gestaltungsmöglichkeiten . . . . . b) Debt-Equity-Swap . . . . . . . . . . c) Minderheitenschutz . . . . . . . . . d) Obstruktionsverbot . . . . . . . . .

989 989 990 992 995 995 995 996 998

... ... ... KG

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8. Teil Das Insolvenzplanverfahren § 31 Der Insolvenzplan

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XXXIX

Inhaltsverzeichnis

Seite § 32 Verfahrensablauf I.

Verfahrensablauf im Überblick (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1000

II.

Planinitiativrecht (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1001

III.

Die Vorprüfung des Insolvenzplans (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1004

IV.

Planentscheidung (Spliedt) . . . . . 1. Abstimmungsverfahren . . . . . 2. Obstruktionsverbot . . . . . . . . a) Bedeutung . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen . . . . . . . . c) Darlegungs- und Beweislast

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1011 1011 1011 1011 1012 1014

V.

Arbeitnehmerbeteiligung im Insolvenzplanverfahren (Mückl) 1. Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Darstellender Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestaltender Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI.

Gerichtliche Planbestätigung (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Rechtsmittel (Spliedt) . . . . . . . 1. Beschwerdevoraussetzungen 2. „Freigabeverfahren“ . . . . . . a) Zurückweisungsbeschluss b) Schadensersatz . . . . . . . 3. Rechtsbeschwerde . . . . . . .

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VIII. Vollstreckungsschutz und Verjährung (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vollstreckungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1033 1033 1034

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans I.

Eintritt der rechtsgestaltenden Wirkungen (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . .

1036

II.

Auswirkungen des Plans auf die Haftung von Gesellschaftern, Mitschuldnern und Bürgen (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung von Mitschuldnern und Bürgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1041 1041 1042

III.

Kreditgeschäfte im Insolvenzplanverfahren (Kuder/Unverdorben) 1. Privilegierung von Neukrediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Insolvenzantragsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eröffnetes Insolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Planbestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rahmenkredite im Insolvenzplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Auswirkungen auf das Kreditgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . .

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XL

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Seite 2. Besicherung des Neukredits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kündigung von Krediten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Wiederauflebensklausel (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Planüberwachung (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anordnung der Überwachung im Insolvenzplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überwachung von Übernahmegesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufgaben und Befugnisse des Insolvenzverwalters im Rahmen der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Aufgaben des Gläubigerausschusses und Aufsichtsfunktion des Insolvenzgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Dauer und Aufhebung der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kosten der Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 34 Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG I.

GmbH-Insolvenz und KG-Insolvenz (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . .

1059

II.

Die Kommanditgesellschaft als Zentrum des Insolvenzplanverfahrens (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1059

III.

Fortsetzung oder Vollbeendigung der insolventen GmbH & Co. KG (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liquidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung § 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren I.

Verhältnis Insolvenzverfahren, Eigenverwaltungsverfahren, Schutzschirmverfahren (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1061

II.

Eigenverwaltung ohne Schutzschirm (Spliedt) . . . . . . 1. Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eröffnungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Befugnisse des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . bb) Masseschuldermächtigung . . . . . . . . . . . . . b) Vorläufiger Sachwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorläufiger Gläubigerausschuss . . . . . . . . . . . . d) Sachverständiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Öffentliche Bekanntmachung . . . . . . . . . . . . . . f) Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung . . . 3. Eröffnungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Voraussetzung der Anordnung . . . . . . . . . . . . . aa) Verstoß gegen insolvenzrechtliche Pflichten

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XLI

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Seite bb) Integrität der Geschäftsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gläubigereinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Prognosewahrscheinlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsmittel, Nachträgliche Anordnung . . . . . . . . . . . . . . 4. Sachwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kontrollaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mitwirkungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zustimmung zur Wirksamkeit bestimmter Rechtsgeschäfte e) Durchsetzung von Anfechtungs- und Haftungsansprüchen f) Insolvenzplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gläubigerausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Aufhebung der Eigenverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Schutzschirmverfahren (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antragsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigenverwaltungs- und Schutzschirmanträge . . . b) Insolvenzgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sanierungsaussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bescheinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Aussteller der Bescheinigung . . . . . . . . . . . . . . f) Haftung des Ausstellers der Bescheinigung . . . . 2. „Mitgebrachter“ Sachwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurückweisung des Schutzschirmantrags . . . . . . . . 4. Schutzschirmanordnungen, vorläufige Maßnahmen 5. Aufhebung des Schutzschirmverfahrens . . . . . . . . . 6. Eröffnungsentscheidung nach Fristablauf . . . . . . . .

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IV.

Verfahrens- und Beratungskosten (Spliedt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Gesellschafter und Geschäftsführer in der Eigenverwaltung (Spliedt) . . . . 1. Einfluss der Gesellschafter auf die Geschäftsführung . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geschäftsführerbestellung und -abberufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zeitlicher Anwendungsbereich des § 276a Abs. 1 InsO . . . . . . . . . d) Verbliebener Einflussbereich der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . e) Auskunfts- und Einsichtsrechte der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschafterdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesellschaftsrechtliche Pflichten der Geschäftsführung . . . . . . . . . . . . 4. Insolvenzverfahrensrechtliche Pflichten der Geschäftsführung . . . . . . . 5. Insolvenzspezifische Haftung der Geschäftsführer nach § 276a Abs. 2 Satz 1 InsO i.V.m. §§ 60, 61 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendung der §§ 60, 61 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Insolvenzspezifische Haftung i.V.m. § 823 BGB . . . . . . . . . . . . . . 6. Haftung gemäß § 64 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F. . . . . . . . . . . 7. Haftung für Steuern und Sozialabgaben, Pflichtenkollision . . . . . . . . . 8. Haftung gemäß § 311 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Haftungsbeschränkung, Ressortaufteilung, D & O-Versicherung . . . . .

XLII

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Seite § 36 Kredite bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren I.

Überblick (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Vorläufiges Eigenverwaltungsverfahren gemäß § 270c InsO (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Massebarkredit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Massedarlehen durch Überlassung von Sicherheitenerlösen

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III.

Vorläufiges Corona-Eigenverwaltungsverfahren (Kuder/Unverdorben) . . . . . . 1. Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Verfahren zur Vorbereitung einer Sanierung (Schutzschirmverfahren) gemäß § 270d InsO (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Corona-Schutzschirmverfahren (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestehende Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neue Kredite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI.

Eröffnetes Verfahren (Kuder/Unverdorben) 1. Kreditaufnahme durch den Schuldner . . a) Befugnis zur Kreditaufnahme . . . . . . b) Bestellung von Kreditsicherheiten . . .

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VII. Verwertung von Kreditsicherheiten (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Kredite im eigenverwalteten Insolvenzplanverfahren (Kuder/Unverdorben) . .

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§ 37 Restschuldbefreiung für Geschäftsführer, Gesellschafter und andere Mithaftende der GmbH I.

Gründe für eine Restschuldbefreiung (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1134

II.

Grundzüge der Restschuldbefreiung (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1135

III.

Vorgeschaltetes Insolvenzverfahren (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahrensart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Massearmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Verfassungsmäßigkeit der Restschuldbefreiung (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1139

V.

Redlichkeit des Schuldners (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1139

VI.

Verfahrensablauf (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigenantrag des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbraucherinsolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . b) Regelinsolvenzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erneuter Restschuldbefreiungsantrag . . . . . . . . . . 2. Gläubigerantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Laufzeit der Abtretungserklärung bzw. Abtretungsfrist 4. Versagung der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . a) Versagungsantrag gemäß § 290 InsO . . . . . . . . . .

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XLIII

Inhaltsverzeichnis

Seite b) Versagungsgründe des § 290 Abs. 1 InsO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Glaubhaftmachung des Versagungsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Nachträgliches Bekanntwerden von Versagungsgründen . . . . . . . . . . . VII. Wohlverhaltensperiode (Bast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einsetzung eines Treuhänders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lohnabtretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vollstreckungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erfassung von Neuvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Obliegenheiten des Schuldners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Versagung der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Erteilung der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung in Altverfahren (§ 300 InsO a.F.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorzeitige Erteilung Restschuldbefreiung gemäß § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorzeitige Erteilung Restschuldbefreiung gemäß § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorzeitige Erteilung Restschuldbefreiung gemäß § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO a.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Rechtslage nach § 300 InsO n.F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Neuerwerb im laufenden Insolvenzverfahren (§ 300a InsO) . . . . . d) Die Wirkung der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Widerruf der Restschuldbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Eintragung in das Schuldnerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10. Teil Haftungsrisiken bei Verfahrensverschleppung und Insolvenzverursachung § 38 Haftung wegen Verfahrensverschleppung I.

II.

XLIV

Geschäftsführerhaftung wegen Verletzung des § 15a InsO (Karsten Schmidt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der sog. „Insolvenzantragspflicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftungstatbestände und Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Umfang des Schadensersatzes: Quotenschaden, Gesamtschaden und Individualschaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Stand seit BGHZ 126, 181 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Quotenschaden und Gesamtschadensliquidation nach § 92 InsO . . . . . . 6. Aufruf zu einer Änderung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Verjährungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haftung für verbotene Zahlungen nach § 15b InsO (Schluck-Amend) 1. Gesetzesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zahlungsbegriff und Haftungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Umgang mit kreditorischen und debitorischen Girokonten . . . . . 4. Verbotene Verpflichtungsgeschäfte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seite 5. 6. 7. 8. 9. III.

Haftbarkeit eines fakultativen Aufsichtsrats? . . . . . . Rechtsfolge – Übergang in eine Gesamtbetrachtung? Zahlungsausschluss durch Kompensationswirkung . . Verschulden und Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . Zahlungsgebot trotz Zahlungsverbot? . . . . . . . . . . .

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Gesellschafterhaftung wegen Verfahrensverschleppung (Schluck-Amend) . . . . 1. Antragspflicht in der führungslosen GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deliktische Gesellschafterhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 39 Haftungsrisiken für Kreditinstitute I.

Neue Kredite (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1201

II.

Kündigung bestehender Kredite (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . .

1202

III.

Stillhalten (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1202

IV.

Eingriffe in die Geschäftsführung (Kuder/Unverdorben) . . . . . . . . . . . . . . . .

1204

V.

Information von Geschäftspartnern des Kunden (Kuder/Unverdorben) . . . . .

1205

§ 40 Insolvenzverursachungshaftung I.

Gesellschafterhaftung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Existenzvernichtungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung für unzureichende Finanzausstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Geschäftsführerhaftung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . 1. Insolvenzrechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konsolidierung durch SanInsFoG . . . . . . . . . . . . . . . b) Tatbestandliche Erfordernisse des § 15b Abs. 5 InsO 2. Gesellschaftsrechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III.

Beraterhaftung (Schluck-Amend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11. Teil Grenzüberschreitende GmbH-Insolvenzen § 41 Gesetzliche Grundlagen zur Koordinierung von internationalen Insolvenzen I.

Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO) (Vallender) . . . . . . . . . . . . . .

1216

II.

Die reformierte EuInsVO vom 20.5.2015 (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1217

III.

Art. 102 §§ 1 bis 11 EGInsO (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1221

IV.

Art. 102c §§ 1 bis 26 EGInsO (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1222

V.

Autonomes deutsches Internationales Insolvenzrecht (Vallender) . . . . . . . . .

1222

VI.

Staatsverträge (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1224

XLV

Inhaltsverzeichnis

Seite § 42 Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH in Deutschland mit Auslandsbezug I.

II.

Insolvenzverfahren mit Bezug zu mindestens einem weiteren Mitgliedstaat der Europäischen Union (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Internationale Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hauptverfahren (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO) . . . . . . . . . . a) Widerlegliche Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sperrfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Partikularinsolvenzverfahren (Art. 3 Abs. 2–4 EuInsVO) . . . . . . . . . . . . . a) Sekundärinsolvenzverfahren (Art. 3 Abs. 3 EuInsVO) . . . . . . . . . . . . . aa) Eröffnungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Niederlassung i.S. des Art. 2 Nr. 10 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . cc) Anwendbares Recht (Art. 35, 7 EuInsVO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anordnung von Sicherungsmaßnahmen im Insolvenzeröffnungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Konkurrierende Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Art. 52 EuInsVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Kooperations- und Unterrichtungspflichten der Insolvenzverwalter und Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Isoliertes Partikularverfahren (Art. 3 Abs. 4 EuInsVO) . . . . . . . . . . . . 4. Öffentliche Bekanntmachungen (Art. 28 ff. EuInsVO) . . . . . . . . . . . . . . . 5. Forderungsanmeldung (Art. 45, 53 ff. EuInsVO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Automatische Anerkennung der Eröffnungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . a) Ordre-public-Vorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Prüfungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wirkungen der Anerkennung eines Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . Insolvenzverfahren mit ausschließlichem Drittstaatenbezug (Vallender) . . . . 1. Internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärinsolvenzverfahren über das Inlandsvermögen . . . . . . . . . . . . . 3. Lex fori concursus und Sonderanknüpfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anerkennung der deutschen Eröffnungsentscheidung im Ausland . . . . . 5. Anerkennung der ausländischen Eröffnungsentscheidung in Deutschland (§ 343 InsO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kooperations- und Informationspflichten von Insolvenzverwaltern und Gerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

„Konzerninsolvenzgerichtsstand“ im Ausland? (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . 1. Gefahren für die Tochtergesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strategien zur Vermeidung „störender“ Sekundärinsolvenzverfahren . . . . .

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II.

Migration einer GmbH ins Ausland (Vallender) 1. Verlegung des Verwaltungssitzes . . . . . . . . . 2. Umwandlung der GmbH . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzüberschreitende Herausverschmelzung

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§ 43 Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union

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Inhaltsverzeichnis

Seite III.

Brexit und seine Folgen (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.

Sanierungsoptionen für deutsche GmbHs außerhalb des Anwendungsbereichs der InsO und des StaRUG (Vallender) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Scheme of Arrangement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Antragsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abstimmungsverfahren und gerichtliche Überprüfung des angenommenen scheme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Corporate Insolvency & Governance Act 2020 („CIGA“) . . . . . . . . . . . 3. Anerkennung von Scheme of Arrangement und CIGA . . . . . . . . . . . . 4. Niederländisches Gesetz zur präventiven Restrukturierung . . . . . . . . . . a) Attraktive Sanierungsalternative für eine GmbH? . . . . . . . . . . . . . . aa) Restrukturierungsplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahrenszugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Konzernzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vertragsbeendigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XLVII

XLVIII

Allgemeines Literaturverzeichnis Adler/Düring/Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, 6. Aufl. 1994 ff. Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2020 Altmeppen, Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG), 10. Aufl. 2021 Andres/Leithaus, Insolvenzordnung, 4. Aufl. 2018 Baetge (Hrsg.), Beiträge zum neuen Insolvenzrecht, 1998 Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 2. Aufl. 1999 Bankrecht und Bankpraxis s. Hellner/Steuer Baur/Stürner/Bruns, Zwangsvollstreckungsrecht, 14. Aufl. 2022 Beck/Depré (Hrsg.), Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017 Becker/Berndt/Klein, Risikofrüherkennung im Kreditgeschäft, 2012 Beck’scher Bilanz-Kommentar, Handels- und Steuerbilanz – §§ 238–339, 342–342e HGB, 13. Aufl. 2022 Beck’sches Handbuch der GmbH – hrsg. von Prinz/Winkeljohann, 6. Aufl. 2021 Beck’sches Handbuch der Personengesellschaften – hrsg. von Prinz/Kahle, 5. Aufl. 2020 Beck’scher Online-Kommentar EStG − hrsg. von Kirchhof/Kulosa/Ratschow Beck’scher Online-Kommentar Insolvenzrecht − hrsg. von Fridgen/Geiwitz/Göpfert Beck’scher Online-Kommentar KStG − hrsg. von Micker/Pohl Beck’scher Online-Kommentar UmwStG − hrsg. von Dürrschmidt/Mückl/Weggenmann Beck'sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon − hrsg. von Alber/Arendt/Faber Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 6. Aufl. 2008 Bieg/Borchard/Frind (Hrsg.), Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021 Blersch/Goetsch/Haas (Hrsg.), Berliner Kommentar Insolvenzrecht (Loseblatt) Bley/Mohrbutter, Vergleichsordnung, 4. Aufl. 1979/81 Böckenförde, Unternehmenssanierung, 2. Aufl. 1996 Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 10. Aufl. 2020 Bork, Zahlungsverkehr in der Insolvenz, 2002 Bork/Schäfer (Hrsg.), GmbHG, 4. Aufl. 2019 Bott/Walter (Hrsg.), Körperschaftsteuergesetz (Loseblatt) Brandis/Heuermann (Hrsg.), Ertragsteuerrecht (Loseblatt) Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, 1993 Braun (Hrsg.), StaRUG: Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz, Kommentar, 2021 Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung (InsO), Kommentar, 9. Aufl. 2022 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, 1997 Buth/Hermanns (Hrsg.), Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022 Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, 1998 Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021 Desch, Das neue Restrukturierungsrecht – Praxisfragen des StaRUG, 2021 Deubert/Förschle/Störk (Hrsg.), Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021 Dötsch/Pung/Möhlenbrock, Die Körperschaftsteuer (Loseblatt) Drukarczyk, Theorie und Politik der Finanzierung, 2. Aufl. 1993 Drukarczyk, Unternehmen und Insolvenz, 1987 (Sonderdruck 2012) XLIX

Allgemeines Literaturverzeichnis

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Allgemeines Literaturverzeichnis

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Langenbucher/Bliesener/Spindler (Hrsg.), Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020 Leipold (Hrsg.), Insolvenzrecht im Umbruch, KTS-Schriften zum Insolvenzrecht, Bd. 1, 1991 LI

Allgemeines Literaturverzeichnis

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Allgemeines Literaturverzeichnis

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LIII

Allgemeines Literaturverzeichnis

Weyand/Diversy, Insolvenzdelikte, 10. Aufl. 2015 Wilms/Jochum, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (Loseblatt) Wimmer (Hrsg.), s. Frankfurter Kommentar zur InsO Windbichler, Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017 Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 5. Aufl. 2015 Wolf/Schlagheck, Überschuldung, 2007 Zöller, Zivilprozessordnung, Kommentar, 34. Aufl. 2022

LIV

Abkürzungsverzeichnis

a.A. ABl. EG/EU Abs. ADS a.E. AEDIPr AEUV AFG AFRG AG AGB AGG AktG allg.M. Alt. a.M. Alt. Am. Bankr. L. J. Anh. Anm. AnwBl. AO AP ArbG ArbGG ArbRB AR-Blattei Art. Aufl. BA

anderer Ansicht Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften/Union Absatz Adler/Düring/Schmaltz am Ende Anuario español de Derecho internacional privado Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Arbeitsförderungsgesetz Arbeitsförderungs-Reformgesetz Aktiengesellschaft; Amtsgericht Allgemeine Geschäftsbedingungen Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Aktiengesetz allgemeine Meinung Alternative anderer Meinung Alternative American Bankruptcy Law Journal Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Arbeitsrechtliche Praxis Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Arbeits-Rechtsberater Arbeitsrecht-Blattei Artikel Auflage Bundesanstalt für Arbeit

BAG BAGE BayObLG BB BC Bd. BdB BdF BDSG Begr. BeihilfeVerfO/BeihilfenverfahrensVO

Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebs-Berater Bilanzbuchhalter und Controller Band Bundesverband deutscher Banken Bundesminister(ium) der Finanzen Bundesdatenschutzgesetz Begründung Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Betriebliche Altersversorgung

BetrAG

LV

Abkürzungsverzeichnis

BetrAVG

BFuP BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BilRUG BKR BMF BMJ BpO BR-Drucks. BRRG BSG BSGE BStBl. BT-Drucks. Buchst. BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE BZRG

Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (= Betriebsrentengesetz) Betriebsverfassungsgesetz Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesministerium der Finanzen Bundesminister der Justiz Betriebsprüfungsordnung Bundesrats-Drucksache Beamtenrechtsrahmengesetz Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundessteuerblatt Bundestags-Drucksache Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeszentralregistergesetz

COMI COVInsAG COVuR CR CRO CRP CVA

Center of main interest COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz COVID-19 und Recht Computer und Recht Chief Restructuring Officer CompRechtsPraktiker Company voluntary arrangement

D&O DB DBW DGVZ Dir. comm. int. Diss. DJT DrittelbG DStR DStZ

Directors and Officers Der Betrieb Die Betriebswirtschaft Deutsche Gerichtsvollzieherzeitung Diritto del commercio internazionale Dissertation Deutscher Juristentag Drittelbeteiligungsgesetz Deutsches Steuerrecht Deutsche Steuer-Zeitung

BetrVG BFH BFHE BFH/NV

LVI

Abkürzungsverzeichnis

DSWR DVFA DZWIR

Datenverarbeitung – Steuer – Wirtschaft – Recht Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Anlageberatung Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ab 1999 Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht)

EG/EU

Europäische Gemeinschaften/Europäische Union; Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung Einleitung Eigenkapital Eigenkapitalersatz-Gesetz (Österreich) Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz Erbschaftsteuer-Richtlinien 2019 Erwägungsgrund Einkommensteuergesetz Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen Europäischer Gerichtshof Sammlung der Entscheidungen des EuGH Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Europäische Insolvenzverordnung Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Entscheidungen zum Arbeitsrecht

EGInsO Einl. EK EKEG ErbStG ErbStR ErwGr. EStG ESUG EuGH EuGHE EuGVVO EuInsVO EuZW EWiR EzA FamFG FamRZ FAR IDW FB FG FGG FGO FMStBG FMStG Fn. FR FS G. GA GBO GesO GesRGenRCOVMVV

Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Fachausschuss Recht des Instituts der Wirtschaftsprüfer Finanz-Betrieb Finanzgericht Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit Finanzgerichtsordnung Finanzmarktstabilisierungsbeschleunigungsgesetz Finanzmarktstabilisierungsgesetz Fußnote Finanz-Rundschau Festschrift Gesetz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Grundbuchordnung Gesamtvollstreckungsordnung Verordnung zur Verlängerung von Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie LVII

Abkürzungsverzeichnis

GesRuaCOVBekG

GUV GVG GWR

Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie Der Gesellschafter (österr. Zeitschrift) Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung Gewerbesteuergesetz Gewerbesteuer-Richtlinien Gemeinschaftskommentar Gerichtskostengesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betr. die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau GmbH-Steuerberater Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Gedächtnisschrift Gesetz über die Unterbrechung von Gesamtvollstreckungsverfahren Gewinn- und Verlustrechnung Gerichtsverfassungsgesetz Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht

H HGB h.L. h.M. HRI Hrsg.

Hinweis Handelsgesetzbuch herrschende Lehre herrschende Meinung Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz Herausgeber

IAS IASB IASC IDW IDW-HFA IFRS InsG-DA InsO InsVV InsVZ InVo InvZulG IPRax

International Accounting Standards International Accounting Standards Board International Accounting Standards Committee Institut der Wirtschaftsprüfer Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfer International Financial Reporting Standards Durchführungsanweisungen zum Insolvenzgeld Insolvenzordnung Insolvenzrechtliche Vergütungsverordnung Zeitschrift für Insolvenzverwaltung und Sanierungsberatung Insolvenz & Vollstreckung Investitionszulagengesetz Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts

JA JbFSt./JFStR JR JuS JW JZ

Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

GesRZ GewStDV GewStG GewStR GK GKG GmbH GmbHG GmbHR GmbH-StB GRUR GS GUG

LVIII

Abkürzungsverzeichnis

KapAEG KG KInsErlG KO KomE Komm. KöMoG KÖSDI KonTraG KSchG KSI KStG KStH KStR KSzW KTS

KWG LAG LAGE LArbG LBO LG LM LMuR LöschG L. Rev. LS MaRisk MBI MBO MDR MERL MitbestG MittBayNot MiZi MMR MoMiG MoPeG MuSchG

Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz Kommanditgesellschaft Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen Konkursordnung Kommissionsentscheidung Kommentar Gesetz zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts Kölner Steuerdialog Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich Kündigungsschutzgesetz Krisen-, Sanierungs- und Insolvenzberatung Körperschaftsteuergesetz Körperschaftsteuer-Hinweise Körperschaftsteuer-Richtlinien Kölner Schrift zum Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Insolvenzrecht (vormals Konkurs, Treuhand, Sanierung, davor Zeitschrift für Konkurs-, Treuhand- und Schiedsgerichtswesen) Gesetz über das Kreditwesen

Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Landesarbeitsgericht Leveraged Buy-out Landgericht Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, hrsg. von Lindenmaier, Möhring u.a. Lebensmittel & Recht Löschungsgesetz Law Review Leitsatz Mindestanforderungen an das Risikomanagement Management Buy-In Management Buy-out Monatsschrift für Deutsches Recht Massenentlassungs-Richtlinie (Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen) Mitbestimmungsgesetz Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins Allgemeine Verfügung über Mitteilungen in Zivilsachen Multimedia und Recht Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz) Mutterschutzgesetz LIX

Abkürzungsverzeichnis

n.F. NInsG NJOZ NJW NJW-RR Nr. NStZ NVwZ NWB NZA NZA-RR NZG NZI NZWist

neue Fassung Niederländisches Insolvenzgesetz Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift NJW-Rechtsprechungs-Report Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Wirtschafts-Briefe Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA-Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Neue Zeitschrift für Insolvenz und Sanierung Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht

öKo OFD OGH OLG OLGZ OVG OWiG

Österreichische Konkursordnung Oberfinanzdirektion (Österreichischer) Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Zivilsachen Oberverwaltungsgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten

PSVaG

Pensionssicherungsverein auf Gegenseitigkeit

RL RBerG RdA RdF RDG RegE RFS RG RGBl. RGZ RIW rkr. RMS Rpfleger RpflG

Richtlinie Rechtsberatungsgesetz Recht der Arbeit Recht der Finanzinstrumente Rechtsdienstleistungsgesetz Regierungsentwurf Risikofrüherkennungssystem Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft rechtskräftig Risikomanagementsystem Der Rechtspfleger Rechtspflegergesetz

s. S. SanB SanInsFoG

siehe Seite Der SanierungsBerater Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz) Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen

SanInsKG

LX

Abkürzungsverzeichnis

SchiedsVZ SEStEG SFAS SGB SGG Slg. SoA SolvV SprAuG StaRUG StBerG Stbg. StGB StPO

Zeitschrift für Schiedsverfahren Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Statements of Financial Accounting Standards Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Sammlung Scheme of Arrangement Solvabilitätsverordnung Sprecherausschussgesetz Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz Steuerberatungsgesetz Die Steuerberatung Strafgesetzbuch Strafprozessordnung

TransPUG TVG

Transparenz- und Publizitätsgesetz Tarifvertragsgesetz

Ubg UBGG UG UmwG UmwStG UR URG UStAVermG

UStDV UStG u.U.

Die Unternehmensbesteuerung Gesetz über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften Unternehmergesellschaft Umwandlungsgesetz Umwandlungssteuergesetz Umsatzsteuer-Rundschau Unternehmensreorganisationsgesetz (Österreich) Gesetz zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung Umsatzsteuergesetz unter Umständen

VbrInsFV VerbrKrG VersR VG VglO VGR v.H. Vorbem. VuR VVG VW VwGO VwVfG

Verbraucherinsolvenzformular-Verordnung Verbraucherkreditgesetz Versicherungsrecht Verwaltungsgericht Vergleichsordnung Gesellschaftsrechtliche Vereinigung von Hundert Vorbemerkung Verbraucher und Recht Versicherungsvertragsgesetz Versicherungswirtschaft Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

WHOA

Wet Homologatie Onderhands Akkoord LXI

Abkürzungsverzeichnis

WiB WiSt wistra WM WPg WPK-Mitt. WPrax WStBG

WuB ZAG ZAP ZBB ZD ZfA ZfB ZfbF ZfP ZGR ZHR ZIK ZInsO ZIP ZPO ZRI ZRP ZSEG ZVG ZVI ZWH

LXII

Wirtschaftsrechtliche Beratung Wirtschaftsstrafgesetz Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wertpapier-Mitteilungen Die Wirtschaftsprüfung Wirtschaftprüferkammer-Mitteilungen Wirtschaftsrecht und Praxis Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbs von Anteilen an sowie Risikopositionen von Unternehmen des Finanzsektors durch den Fonds „Finanzmarktstabilisierungsfonds – FMS“ und der Realwirtschaft durch den Fonds „Wirtschaftsstabilisierungsfonds – WSF“ (Wirtschaftsstabilisierungsbeschleunigungsgesetz) Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz Zeitschrift für die Anwaltspraxis Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Betriebswirtschaft Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung Zeitschrift für Planung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Insolvenzrecht und Kreditschutz (Österreich) Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Restrukturierung und Insolvenz Zeitschrift für Rechtspolitik Zeugen- und Sachverständigen-Entschädigungsgesetz Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung Zeitschrift für Verbraucher- und Privat-Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsstrafrecht und Haftung im Unternehmen

1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

§1 Begriff und Ursachen der Krise I. Begriffsbildung 1. Betriebswirtschaftlicher Begriff der Krise Das Wort „Krise“ leitet sich aus dem altgriechischen „krisis“ ab1, womit die schwierige Entwicklungsphase einer Krankheit oder Zuspitzung einer Handlungssituation im antiken Drama beschrieben wurde. Die entsprechende Verwendung des Krisenbegriffes in der Wirtschaftswissenschaft hat das Merkmal der Lebensbedrohung aus der Sprache der Medizin und das der entscheidenden Wendung aus der Dramatik übernommen2.

1.1

In der Betriebswirtschaftslehre wird als Krise allgemein derjenige Zustand eines Schuldners bzw. eines schuldnerischen Unternehmens angesehen, der seine (wirtschaftliche) Lebensfähigkeit in Frage stellt3. Unternehmen durchlaufen dabei regelmäßig verschiedene Stadien, wobei diese parallel, singulär oder überlappend auftreten können4. Der IDW S 6 unterscheidet sechs verschiedene Krisenstadien5:

1.2

1 Witte, Die Unternehmenskrise – Anfang vom Ende oder Neubeginn?, in Bratschitsch/Schnellinger, Unternehmenskrisen – Ursachen, Frühwarnung, Bewältigung, 1981, S. 9 ff. 2 Pohl, Krisen in Organisationen, Diss. Mannheim 1977, S. 117. 3 Baetge/Hater/Schmidt in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 2. Kap. Rz. 18; Witte in Bratschitsch/Schnellinger, Unternehmenskrisen – Ursachen, Frühwarnung, Bewältigung, 1981, S. 9. 4 Modenhauer in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 6.1 (S. 131 ff.); Buth/Hermanns in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 8 Rz. 23; Zabel in Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 10 ff.; Druckarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 2 Rz. 1 ff. 5 IDW S 6 vom 16.5.2018, Rz. 32; die graphische Darstellung folgt: http://www.bdo.de/dateien/ user_upload/content_img/Krisenstadien_IDW_S6_gross.pdf.

Sinz | 1

Konflikte zwischen einzelnen Gruppen und/oder ihren Mitgliedern

Strategiekrise Zerstörung langfristiger Erfolgsfaktoren

Produktund Absatzkrise Starker Nachfragetückgang bei Hauptumsatzträger(n)

Erfolgskrise Liquiditätskrise Aufzehren des Eigenkapitals durch Verluste

Optionen

Handlungsspielraum

Stakeholderkrise

Anzeichen

§ 1 Rz. 1.2 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Liquiditätsschwierigkeiten und drohende Zahlungsunfähigkeit

Insolvenz

Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung

Zeitliche Abfolge und Handlungsdruck

1.3

Fünf Merkmale kennzeichnen eine Unternehmenskrise1: – sie ist bestandsgefährdend, sofern keine angemessenen Gegenmaßnahmen eingeleitet werden; – sie tritt in der Regel unbeabsichtigt und unerwartet auf; – die Ursachen sind meistens nicht eindeutig (ambivalent); – ihre Bewältigung ist oft nur innerhalb einer begrenzten Zeitspanne möglich; – die Eingriffsmöglichkeiten der Unternehmensleitung nehmen im Krisenverlauf ab. Nicht jede Unternehmenskrise führt zwingend zu seinem Untergang, sondern enthält auch Chancen zur positiven Wende2, so dass sie als „multivalente Entscheidungssituation unter Existenzgefährdung des Unternehmens bei begrenzter Entscheidungszeit“ verstanden wird3. Allerdings reichen Maßnahmen, die allein auf die Behebung der Liquiditäts- oder Überschuldungskrise ausgerichtet sind, für eine Sanierung nicht aus, solange nicht auch die Ursachen der vorgelagerten und parallelen Krisenstadien (z.B. die Stakeholder- und Strategiekrise mit Schwächen im Personalmanagement) identifiziert und behoben werden. Nicht behobene Krisenursachen wirken nämlich weiter und führen dazu, dass die Erfolgs- und Liquiditätskrise nur vorübergehend überwunden wird, ohne dass eine nachhaltige Sanierung erreicht ist4.

1 Baetge/Hater/Schmidt in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 2. Kap. Rz. 17. 2 Seefelder, Unternehmenssanierung – Zerschlagung vermeiden, Ursachen analysieren, Konzepte finden, Chancen erkennen, Stuttgart 2003, S. 54 ff.; Faulhaber/Landwehr/Grabow, TurnaroundManagement in der Praxis, 4. Aufl. 2009, S. 24. 3 Krystek, Unternehmenskrisen: Schicksal oder Kunstfehler des Managements, 1983, S. 2. 4 IDW S 6 (2018), FN Nr. 12/2012, Rz. 12, 30, 62.

2 | Sinz

§ 1 Begriff und Ursachen der Krise | Rz. 1.9 § 1

Eine Stakeholderkrise (also auf der Ebene der Mitglieder der Unternehmensleitung und ihrer Überwachungsorgane, Gesellschafter, Arbeitnehmer und ihrer Vertretungen, Banken und anderer Gläubiger) beruht meist auf Konflikten zwischen diesen Gruppen und/oder ihren Mitgliedern mit der Folge von zunehmenden Reibungsverlusten, schwindender Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter und Schwächen in der Qualität der Arbeit. Die damit verbundene Behinderung des Controllings und der internen Revision wirkt sich oft in einer Blockade notwendiger Entscheidungen aus. Aber auch Konflikte der corporate governance können dazu beitragen. Diese Form der Krise ist in der Regel der Ausgangspunkt von Unternehmenskrisen, indem ein verändertes Führungsverhalten zunehmend durch Nachlässigkeit geprägt wird. Im Anfangsstadium wird dies meist weder von Unternehmensangehörigen noch von Außenstehenden bemerkt1.

1.4

Häufig führt die Stakeholderkrise zur Strategiekrise, weil die Kundenwünsche und Wettbewerbsentwicklungen nicht mehr richtig wahrgenommen werden. Die unzureichende oder fehlende Reaktion auf die Marktentwicklung (z.B. durch Produktinnovationen oder rechtzeitige Investitionen) korrespondiert mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und letztlich auch an Marktanteilen. Häufig erzielen Unternehmen in diesem Stadium noch Gewinne, weil die Auswirkungen der bereits bestehenden Krisenursachen sich erst mit zeitlicher Verzögerung zeigen2.

1.5

Hält der Nachfragerückgang nach den Hauptumsatzträgern an, sei es weil Sortiments- oder Qualitätsprobleme bestehen, sei es weil das Marketing- und Vertriebskonzept nicht mehr aktuell ist, verfestigt sich die Situation zu einer Produkt- und Absatzkrise. Mit den steigenden Vorratsbeständen ist zwangsläufig eine höhere Kapitalbindung und Verschlechterung des Betriebsergebnisses verbunden. Diese Entwicklung wird regelmäßig von einem Preisverfall und Stückkostensteigerungen begleitet, die die Krise noch verstärken.

1.6

Der Renditeverfall zieht schließlich eine Erfolgskrise nach sich, wenn keine Sanierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Den Gewinnrückgängen folgen schnell Verluste und eine vollständige Aufzehrung des Eigenkapitals. Hinzu kommt, dass eine Verschlechterung der Deckungsbeiträge und der Bilanzkennzahlen (Rentabilität, Eigenkapitalquote) auch die Kreditwürdigkeit des Unternehmens erheblich herabsetzt. Selbst wenn die Liquidität vorübergehend noch anderweitig (z.B. durch Gesellschafterdarlehen) dargestellt werden kann, lässt sich eine nachhaltige Sanierung nur noch durch leistungswirtschaftliche Maßnahmen erreichen.

1.7

Fehlt die notwendige Kapitalausstattung, führt die Liquiditätskrise schnell zur Existenzgefährdung, insb. wenn eine unausgewogene Finanzierungsstruktur (mangelnde Fristenkongruenz3) besteht. Dies zeigt sich zunächst am Verzicht auf Skontoziehung und mit zunehmender Unterdeckung daran, dass Zahlungen erst nach mehrfachen Mahnungen oder gar der Androhung gerichtlicher Schritte geleistet werden.

1.8

Lässt sich die Liquiditätskrise nicht beseitigen und tritt Zahlungsunfähigkeit i.S. von § 17 InsO ein4, besteht materielle Insolvenz, die (nur) unter den Voraussetzungen des § 15a InsO

1.9

1 Crone/Werner in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 2.4.1 (S. 20 ff.). 2 Crone/Werner in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 2.4.2 (S. 22 f.). 3 Die „goldene Finanzierungsregel“, wonach Fristen zwischen Kapitalbeschaffung und -rückzahlung einerseits und Kapitalverwendung andererseits sich entsprechen sollen, geht auf Töndury-Gsell, Finanzierungen, Zürich 1948, S. 37 zurück. Dazu auch: Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Grundzüge der Unternehmensfinanzierung, 11. Aufl. 2013, S. 324. 4 Zusammenstellung der Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Zahlungseinstellung: IDW S 11 (2021), Rz. 20.

Sinz | 3

§ 1 Rz. 1.9 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

zur Insolvenzantragspflicht führt. Mit Urteil vom 19.12.2017 hat der BGH1 klargestellt, dass bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit im Liquiditätsstatus auch die Passiva II (das sind die innerhalb von drei Wochen nach dem Stichtag fällig werdenden und eingeforderten Verbindlichkeiten) mit einzubeziehen sind. Regelmäßig ist mit der Erfolgskrise auch eine negative Fortführungsprognose verbunden, die im Rahmen der Überschuldungsprüfung eine Bewertung des Vermögens zu Liquidationswerten erforderlich macht (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO), was bei juristischen Personen (sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit) selbst bei noch vorhandener Liquidität und trotz Verlängerung der Antragsfrist auf sechs Wochen (§ 15a Abs. 1 Satz 2 InsO; s. dazu § 4a SanInsKG: Verlängerung auf acht Wochen bis 31.12.2023) meist deren Insolvenzreife bedeutet.

2. Rechtlicher Begriff der Krise 1.10

In der durch das MoMiG außer Kraft gesetzten Regelung über eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen (§ 32a Abs. 1 Satz 1 GmbHG a.F.) war die „Krise der Gesellschaft“ gesetzlich definiert als ein „Zeitpunkt, in dem die Gesellschafter ihr (der Gesellschaft) als ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten“. Die Konkretisierung des Begriffs bereitete trotzdem erhebliche Schwierigkeiten2. Es gibt jedenfalls keinen übergeordneten Rechtsbegriff der Krise, der in allen Rechtsbereichen gilt. Seit Inkrafttreten des MoMiG am 1.11.20083 kommt es bei Eintritt der Gesellschaftsinsolvenz nicht mehr darauf an, ob ein Darlehen oder eine ihr gleichstehende Gesellschafterleistung in der Krise eigenkapitalersetzend war; für die Anwendbarkeit der § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 InsO genügt es, dass es sich um Leistungen eines Gesellschafters handelt4. Andere Gesetze als das GmbHG knüpfen Rechtsfolgen der Krise an eigene Tatbestände mit jeweils besonderen Krisenmerkmalen an5. Auch verwenden diese anderen Gesetze nicht den Begriff der „Krise“, sondern den der „Risiken“ (§ 289 Abs. 1, § 315 Abs. 1, § 317 Abs. 2 HGB) oder stellen auf die „den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen“ (§ 91 Abs. 2 AktG) ab.

1.11

Diesen Ansatz hat auch § 1 Abs. 1 StaRUG übernommen und die Geschäftsleiter nicht nur juristischer Personen, sondern rechtsformübergreifend6 verpflichtet, fortlaufend über „Entwicklungen, welche den Fortbestand der juristischen Person gefährden können“, zu wachen und im Falle ihres Eintritts sofort geeignete Gegenmaßnahmen zu treffen (Rz. 3.7 ff.). Damit soll ein Rechtsrahmen geschaffen werden, der es Unternehmen ermöglicht, sich bei drohender, aber noch nicht eingetretener Zahlungsunfähigkeit, außerhalb eines Insolvenzverfahrens zu sanieren. Das BMJ hat eine Liste der derzeit verfügbaren Frühwarnsysteme i.S. des § 101 StaRUG veröffentlicht7. 1 BGH v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, NZI 2018, 204 = ZIP 2018, 283; dazu auch: Plagens/Hartmann, DStR 2018, 2161. 2 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, 20. Aufl. 2020, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 121 ff. 3 Gemäß Art. 103d EGInsO gilt das neue Recht für alle ab dem 1.11.2008 eröffneten Insolvenzverfahren. 4 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 Rz. 14 = GmbHR 2013, 464 m. Anm. Bormann. 5 Reuter, BB 2003, 1797. 6 Ehret in Braun, 1. Aufl. 2021, § 1 StaRUG Rz. 1; Paulus, NZI 2020, 659. 7 Abrufbar unter: https://www.bmj.de/DE/Themen/FinanzenUndAnlegerschutz/Fruehwarnsysteme/ Fruehwarnsysteme.html?nn=18222514. Die vom BMJ ferner veröffentlichte Checkliste für Restrukturierungspläne gemäß § 16 StaRUG (Stand: 14.7.2022) ist abrufbar unter: https://www.bmj.de/ DE/Themen/FinanzenUndAnlegerschutz/Fruehwarnsysteme/checkliste.pdf?__blob=publicationFile &v=3; s. dazu auch die Stellungnahme des VID: https://www.vid.de/wp-content/uploads/2022/03/ VID-Stellungnahme_Checkliste-fuer-Restrukturierungsplaene.pdf.

4 | Sinz

§ 1 Begriff und Ursachen der Krise | Rz. 1.15 § 1

Der Krisenbegriff des § 1 StaRUG ist damit weiter als der insolvenzrechtliche Krisenbegriff1. Denn insolvenzrechtlich liegt eine Krise frühestens bei drohender Zahlungsunfähigkeit vor, wobei nach dem durch das SanInsFoG neu gefassten § 18 Abs. 2 Satz 2 InsO „in aller Regel“ ein Prognosezeitraum von 24 Monaten zugrunde zu legen ist. Das Kriterium der Bestandsgefährdung knüpft dagegen nicht an Zahlungsflüsse an, sondern schließt alle potentiell bestandsgefährdenden Entwicklungen ein und ist auch nicht auf einen bestimmten Prognosezeitraum beschränkt2. Im Schrifttum zu § 91 AktG besteht weitgehend Einigkeit, dass alle nachteiligen Veränderungen bestandsgefährdend sein können, die wesentlichen Einfluss auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens haben, etwa auch solche infolge von veränderten Marktbedingungen3.

1.12

Nach Meinung von Haas4 sollten die Begriffe „erhebliche Gefährdung“ oder „bestandsgefährdendes Risiko“ als Krisenwarnsignale auch in das GmbH-Recht Eingang finden; knüpfe die Einberufungspflicht des Geschäftsführers (§ 49 GmbHG) an solche Indikatoren statt an den Verlust der Hälfte des Stammkapitals an, so könne dadurch ein „punktgenauer“ Beitrag zur Insolvenzprophylaxe geleistet werden. Es mag allerdings bezweifelt werden, ob ein solcher unbestimmter Rechtsbegriff für die Praxis die gleiche Rechtssicherheit bietet wie § 49 Abs. 3 GmbHG, zumal die Fälle einer Bestandsgefährdung ohnehin zu einer Einberufungspflicht nach § 49 Abs. 2 GmbHG führen.

1.13

Die Begriffe „Krise“ und „Risiko“ unterscheiden sich dadurch, dass die Krise – wenn auch abwendbar – im Gegensatz zum Risiko immer existenzbedrohend ist. Beim Risiko hängt es vom Ausmaß und von der Intensität der Verlustgefahr ab, ob sich die Gefahr der Existenzbedrohung tatsächlich verwirklicht. Unter Risiko wird daher allgemein die Möglichkeit ungünstiger künftiger Entwicklungen verstanden5 als Folge einer Abweichung des tatsächlichen Ergebnisses von dem ursprünglich erwarteten Ergebnis (Zielabweichung).

1.14

In der Rechtsprechung des BGH wird eine Unternehmenskrise als Vorstadium der Insolvenz verstanden, nämlich wenn sich das Unternehmen im Zusammenhang mit der Vergabe von Darlehen als kredit- bzw. überlassungsunwürdig erweist6. Dabei bedarf es stets tatrichterlicher Würdigung, „wann die Überschuldung der GmbH tatsächlich eingetreten ist oder die Gesellschaft doch jedenfalls den zur Fortsetzung ihres Geschäftsbetriebes erforderlichen Kredit nicht mehr zu marktüblichen Bedingungen aus eigener Kraft erhalten konnte“7. Ist bereits rechtliche Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit eingetreten, kommt es auf eine – ihr vorgelagerte – Kreditunwürdigkeit nicht mehr an8. Insolvenzreife und Kredit- bzw. Überlassungs-

1.15

1 A.A.: Skauradszun/Amort, DB 2021, 1317, 1319; Kuntz, ZIP 2021, 597, 610; Jungmann, ZRI 2021, 209, 212. 2 Brandes/Rabenau, ZIP 2021, 2374, 2375. 3 Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2019, § 91 AktG Rz. 20 f. m.w.N.; Brandes/Rabenau, ZIP 2021, 2374, 2376. 4 Haas, DStR 2006, 993, 997. 5 IDW PS 340 (3). 6 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, ZIP 2013, 1579 Rz. 28 = GmbHR 2013, 980. Ebenso BFH v. 30.4.2013 – IX B 156/12, zit. nach juris, Rz. 8. Als „gesetzliche Krise“ bezeichnet der BGH dagegen den Zeitraum der Insolvenzanfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO (BGH v. 25.10.2012 – IX ZR 117/ 11, ZIP 2012, 2355 Rz. 10). 7 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 270/93, ZIP 1994, 1934 sub III.2b) = GmbHR 1995, 38 zu § 32a GmbHG a.F. 8 BGH v. 3.4.2006 – II ZR 332/05, ZIP 2006, 996 Rz. 7 = GmbHR 2006, 703; BGH v. 23.2.2004 – II ZR 207/01, ZIP 2004, 1049 = GmbHR 2004, 898 m. Anm. Bormann.

Sinz | 5

§ 1 Rz. 1.15 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

unwürdigkeit sind eigenständige und voneinander unabhängige Tatbestände des (damaligen) Eigenkapitalersatzrechts.

1.16

Kreditunwürdigkeit liegt vor, wenn eine Gesellschaft von dritter Seite keinen Kredit zu marktüblichen Bedingungen erhält und ohne Kapitalzufuhr liquidiert werden müsste1. Eine Kreditunwürdigkeit scheidet solange aus, wie die Gesellschaft noch über Vermögensgegenstände verfügt, welche ein vernünftig handelnder Kreditgeber als Sicherheit akzeptieren würde2. Die Unterbilanz ist kein zusätzliches notwendiges Tatbestandsmerkmal für die Qualifizierung einer Unternehmenssituation als Krise. Auch eine Bürgschaft reicht für sich allein nicht als Indiz für eine Kreditunwürdigkeit der Gesellschaft. Nach zutreffender Auffassung des OLG Düsseldorf3 ist eine GmbH nur dann kreditunwürdig, wenn die Gesellschaft bereits alle Kreditsicherungsmittel eingesetzt hat und ein Kreditgeber die Vergabe weiterer Mittel von persönlichen Bürgschaften der Gesellschafter abhängig macht. Die Kreditunwürdigkeit setzt die Feststellung eines konkreten Kreditbedarfs voraus4.

1.17

Die Frage, ob eine Gesellschaft kreditunwürdig ist, kann nach Auffassung von Goette5 nicht im Sinne von „schwarz“ oder „weiß“ beantwortet werden. Die Besonderheiten des Einzelfalls sind entscheidend. Gleichwohl bleibt eine „unleugbare Rechtsunsicherheit insbesondere für das Kriterium der Kreditunwürdigkeit“6. Eine bilanzielle Überschuldung stellt allerdings ein Indiz für die Kreditunwürdigkeit der Gesellschaft dar. Ferner deuten insolvenzbezogene Krisenmerkmale wie Vollstreckungen auf eine Kreditunwürdigkeit der Gesellschaft hin7. Entscheidend ist das Liquiditätspotential der Gesellschaft, gemessen an ihrem Liquiditätsbedürfnis. Eine an sich gegebene Kreditunwürdigkeit kann zwar durch Liquiditätszusagen und Verlustübernahmeverpflichtungen behoben werden, aber nur dann, wenn diese verlässlich (d.h. ohne einzuklagen verfügbar) und vollwertig sind8.

1.18

Österreich hat den Begriff der Krise in Bezug auf das Eigenkapitalersatzrecht im Eigenkapitalersatz-Gesetz (EKEG)9 gesetzlich geregelt. Eine Gesellschaft befindet sich gemäß § 2 EKEG in der Krise, wenn eine der drei Definitionen zutrifft: – Zahlungsunfähigkeit (§ 66 InsO): Zahlungsunfähigkeit liegt dann vor, wenn der Schuldner mangels liquider Mittel nicht imstande ist, binnen angemessener Frist und bei redlicher wirtschaftlicher Gebarung alle seine fälligen Verbindlichkeiten zu begleichen. – Überschuldung (§ 67 InsO): Der Tatbestand der Überschuldung tritt ein, wenn keine positive Fortbestehensprognose erstellt werden kann und die Summe aller Verbindlichkeiten größer ist als die Summe aller Vermögenswerte zu Liquidationswerden (= rechnerische Überschuldung).

1 BGH v. 24.9.2013 – II ZR 39/12, ZIP 2013, 2400 Rz. 31 = GmbHR 2013, 1318; OLG München v. 18.12.2013 – 7 U 2900/09, ZIP 2014, 69 sub II. 1.; Haas, NZI 2001, 1, 6. 2 BGH v. 29.9.1987 – II ZR 28/87, ZIP 1987, 1541 = GmbHR 1988, 58. 3 OLG Düsseldorf v. 31.8.2000 – 12 U 27/00, GmbHR 2001, 474. 4 BGH v. 11.1.2011 – II ZR 157/09, NZI 2011, 198 Rz. 21 = GmbHR 2011, 301 = ZIP 2011, 328. 5 Goette, ZInsO 2001, 529. 6 Karsten Schmidt, GmbHR 2005, 707, 800. 7 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, NZI 2013, 742 Rz. 30 = GmbHR 2013, 980 = ZIP 2013, 1579 m. Anm. Bitter. 8 Zur alten Rechtslage: Karsten Schmidt in Scholz, 11. Aufl. 2012, §§ 32a, 32b a.F. GmbHG Rz. 41. 9 Am 1.1.2004 in Kraft getreten (BGBl. I Nr. 92/2003), geändert am 20.5.2010 (BGBl. I Nr. 29/2010) und 27.7.2010 (BGBl. I Nr. 58/2010).

6 | Sinz

§ 1 Begriff und Ursachen der Krise | Rz. 1.33 § 1

– Reorganisationsbedarf: Die Voraussetzungen für die Vermutung eines Reorganisationsbedarfs sind erfüllt, wenn die Eigenmittelquote i.S. von § 23 URG (Unternehmens-Reorganisationsgesetz) weniger als 8 % und die fiktive Schuldentilgungsdauer (§ 24 URG) mehr als 15 Jahre betragen, es sei denn, ein Gutachten eines Wirtschaftstreuhänders ergibt, dass dennoch kein Reorganisationsbedarf besteht (§ 26 URG). Zu den vom EKEG betroffenen bzw. erfassten Gesellschaften zählen nach § 4 EKEG Kapitalgesellschaften (GmbH und AG), Genossenschaften mit beschränkter Haftung sowie Personengesellschaften, bei denen kein unbeschränkter haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist (zum Beispiel eine GmbH & Co. KG). Einstweilen frei.

1.19

1.20–1.30

II. Krisenursachen 1. Allgemeines Unternehmenskrisen treten nicht plötzlich „über Nacht“ ein, sondern sind zumeist das Resultat einer schleichenden Entwicklung und mehrerer Ursachen, die zusammenwirken und sich verstärken können. Ihre Erkennbarkeit und der Grad ihrer Beeinflussbarkeit richten sich in einem gewissen Umfang danach, ob unternehmensinterne oder -externe Umstände die Krise ausgelöst haben. In beiden Fällen muss allerdings von dem Management verlangt werden, dass die ersten Krisenanzeichen mit Hilfe geeigneter Instrumente frühzeitig erkannt werden1 und planvoll gegengesteuert wird (Rz. 3.7 ff.).

1.31

Von herausragender Bedeutung für eine krisenhafte Entwicklung von Unternehmen aller Wirtschaftszweige und aller Größenordnungen sind vor allem:

1.32

1. Mangelnde Kenntnis struktureller Änderungen auf den relevanten Absatz- und/oder Beschaffungsmärkten. 2. Mangelnde Transparenz der leistungs- und finanzwirtschaftlichen Situation des eigenen Unternehmens. 3. Unzureichendes Rechnungs- und Informationswesen. 4. Verkrustung der Gesellschafter- und Führungsstruktur. Besonders krisengefährdet sind in der Rechtsform der GmbH geführte Klein- und Mittelbetriebe mit weniger als 50 Mitarbeitern in den ersten vier Jahren nach der Gründung2. Die Ursachen dieser Krisenanfälligkeit sind mangelhafte Planung („probieren geht über studieren“) und unzureichende Kapitalausstattung. Der Begriff „Krisenbewältigung“ findet sich nicht im Vokabular dieser Unternehmen. Es gibt i.d.R. weder ein Krisenfrüherkennungssystem noch ein Sanierungskonzept noch die Möglichkeiten, Sanierungsmaßnahmen zu finanzieren.

1 Zu Frühwarnsystemen: Paulus, NZI 2020, 659; Harmann, ZInsO 2019, 1701; Krystek, Frühwarnsysteme, in Hutzschenreuter/Griess-Nega, Krisenmanagement: Grundlagen, Strategien, Instrumente, Wiesbaden 2006, S. 221–244; Schöpfner, Frühwarnsysteme im strategischen Management – Theorien und Umsetzung, Saarbrücken 2006. 2 http://www.rolandberger.de/media/pdf/Roland_Berger_Insolvenzstudie_20110323.pdf.

Sinz | 7

1.33

§ 1 Rz. 1.34 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2. Unternehmensexterne und -interne Krisenursachen 1.34

Unterteilt nach unternehmensexternen (exogenen) und -internen (endogenen) Krisenursachen können folgende Ereignisse die Unternehmensentwicklung negativ beeinflussen1:

1.35

Unternehmensexterne Krisenursachen – „Höhere Gewalt“ (Naturkatastrophen, Lockdown), – Änderung rechtlicher Rahmenbedingungen, z.B. im Arbeitsrecht (Kündigungsschutz, Mindestlohn), im Steuerrecht (Unternehmenssteuern) oder Wegfall von Subventionen (Bsp.: Solarindustrie), – bei exportorientierten Unternehmen: – negative Entwicklungen anderer Volkswirtschaften, Wechselkursänderungen, – Konjunktureinflüsse (z.B. Saisonschwankungen), – Marktveränderungen (z.B. verändertes Kaufverhalten, Marktsättigung), steigende Wettbewerbsintensität, Technologiewandel (z.B. von Röhren- zu Flachbildfernsehern, von Filmzu Digitalkameras), Globalisierung, – Rohstoffverteuerung (z.B. für Fluggesellschaften, Stahlindustrie), – Versorgungsengpässe durch Zulieferer (z.B. Chipmangel) – Wegfall eines Großkunden oder Hauptlieferanten (insb. bei Monopolen und Oligopolen), – erheblicher Forderungsausfall.

1.36

Unternehmensinterne Krisenursachen – Management, Organisation: Fehlen klarer Strukturen, Entscheidungsschwäche, mangelnde Delegation, Ausfall von Führungskräften, fehlende Kontrolle, falsche Beurteilung des Marktes und der strategischen Position, Standortnachteile, – Personal: Motivationsdefizite, unzureichende Qualifikation, falsche Personalplanung, zu hohe Personalfluktuation, zu hohe Personalkosten, Veruntreuungen, – Produktion: schlechte Kapazitätsauslastung, Qualitätsprobleme, operative Defizite im Leistungserstellungsprozess, – Absatz: falsche Produkt- oder Preispolitik, Mängel im Vertrieb, schlechter Service, sinkendes Markenimage, – Investitionen: zu frühe oder zu späte Investitionen, Fehleinschätzungen des Investitionsbedarfs und seiner Amortisation, 1 Zu weiteren Beispielen: Zabel in Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 40.

8 | Sinz

§ 1 Begriff und Ursachen der Krise | Rz. 1.38 § 1

– Forschung und Entwicklung: fehlendes oder falsches F&E-Konzept, – Finanzen und Controlling: Fehleinschätzung des Liquiditätsbedarfs, unzureichende Kosten- und Leistungsrechnung (insb. mangelhafte Kalkulation und fehlende Deckungsbeitragsrechnung), zu großzügige Zahlungsziele, fehlendes Frühwarnsystem. Studien1 haben als wesentliche interne Krisenauslöser identifiziert: mangelhaftes Controlling (79 %), Finanzierungslücken (76 %), unzureichendes Debitorenmanagement (64 %), autoritärer Führungsstil (57 %). Als externe Ursachen wurden verantwortlich gemacht: schlechte Zahlungsmoral der Kunden (82 %), Arbeits- und Sozialrecht (81 %), Erschwernisse durch Arbeitsgerichte (73 %), Basel II (60 %). Allerdings bestehen unter den Beteiligten signifikante Wahrnehmungsunterschiede. Während Unternehmer meist die externen Faktoren als hauptursächlich ansehen, stehen für Banken und andere Geschäftspartner primär die Defizite im Unternehmen selbst im Vordergrund2. Unternehmenskrisen sind zumeist multikausal, d.h. sie werden in der Regel nicht durch eine einzige, sondern durch mehrere Ursachen hervorgerufen, die im Krisenprozess zusammenwirken und sich gegenseitig verstärken3.

1.37

3. Krisensymptome Krisensymptome (wie z.B. Unterbilanzen oder negative Umsatzentwicklungen) sind lediglich Anzeichen für bereits eingetretene Krisensituationen, jedoch nicht ursächlich für deren Eintritt4. Anhand der Krisensymptome lassen sich aber Rückschlüsse auf das jeweilige Krisenstadium, in dem sich das Unternehmen befindet, ziehen5. Um Krisenentwicklungen möglichst frühzeitig zu erkennen, muss seitens der Unternehmensleitung Bereitschaft bestehen, sich mit entsprechenden Signalen (z.B. von Mitarbeitern vorgebrachte Hinweise und Kritikpunkte) auseinander zu setzen. Denn diese verfügen aufgrund ihrer Nähe zum operativen Geschäft über ein gutes Gespür für Krisenanzeichen6.

1 Gemeinsame Studie der ZIS (Zentrum für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim) und der Euler Hermes Kreditversicherungs-AG, „Ursachen von Insolvenzen – Gründe für Unternehmensinsolvenzen aus der Sicht von Insolvenzverwaltern“, in Wirtschaft Konkret Nr. 414/2006, S. 7, 20, 23, 32 f. (im Internet abrufbar unter: http://www.zis.uni-mannheim.de/studien/dokumente/ ursache_von_insolvenzen/414_wiko.pdf); vgl. auch Gemeinsame Studie der ZIS (Zentrum für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim) und der Euler Hermes Kreditversicherungs-AG, „Rettung aus der Insolvenz“, in Wirtschaft Konkret Nr. 418/2007, S. 7; Bitter/Röder, ZInsO 2009, 1283 ff.; http://www.rolandberger.de/media/pdf/Roland_Berger_Insolvenzstudie_20110323.pdf, S. 11; zu „Unternehmensinsolvenzen in Europa“ s. auch die Studie der Creditreform vom 20.5.2021: https://www.creditreform.de/fileadmin/user_upload/central_files/News/News_Wirtschaftsforschung/ 2021/Insolvenzen_in_Europa/2021-05-20_AY_OE_Analyse_EU-2020.pdf. 2 Crone in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 3.1 (S. 29). 3 Baetge/Hater/Schmidt in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, Rz. 57 ff. 4 Crone/Werner in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 2.3.3 (S. 18). 5 Blöse/Kihm, Unternehmenskrisen – Ursachen – Sanierungskonzepte – Krisenvorsorge – Steuern, Berlin 2006, S. 35. Zu typischen Symptomen: Zabel in Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 21, 28 ff., 31, 33 ff. 6 Crone/Werner in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 2.3.3 (S. 18).

Sinz | 9

1.38

§ 1 Rz. 1.39 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

4. Typische Krisenszenarien 1.39

Im Zuge der Globalisierung gewinnen die externen Einflüsse und Krisenursachen immer größere Bedeutung. Werden strukturelle Änderungen der Beschaffungs- und Absatzmärkte nicht rechtzeitig erkannt, drohen kurzfristig schwere und kaum noch aufholbare Markteinbrüche. Die Sony Corporation, einer der größten Anbieter auf dem Markt für Unterhaltungselektronik, hatte in den Jahren ab 2004 wirtschaftliche Probleme, weil sie den weltweiten Zuwachs an LCD-Fernsehern zu Lasten von Röhren- und Plasmafernsehern unterschätzt hatte. In ähnlicher Weise hatte der Kamerahersteller Leika den weltweiten Wechsel von der analogen zur Digitalfotografie „verschlafen“. Nachdem die Gesellschaft „monatelang am Rande der Insolvenz stand“1, brachte erst ein „Strategieschwenk“ Erfolg in Form steigender Umsätze und sinkender Verluste, während die in gleicher Weise betroffene AgfaPhoto GmbH infolge mangelnder Reaktion auf den Technologiewandel nach Insolvenz im Jahre 2005 vom Markt verschwand.

1.40–1.50

Einstweilen frei.

1 Financial Times Deutschland v. 24.5.2006, S. 5.

10 | Sinz

§2 Krisenvorsorge I. Kapitalausstattungsgebot und Kapitalsicherung 1. Zum Verständnis des Kapitalschutzsystems Das Gläubigerschutzsystem des GmbH-Gesetzes ruht auf drei Säulen:

2.1

– dem Kapitalschutzsystem1, ergänzt durch den Überschuldungstatbestand (zu diesem vgl. Rz. 14.101 ff.), – den gesellschaftsrechtlichen Governanceregeln, ergänzt durch die Verbote der Insolvenzverschleppung durch Geschäftsführer (Rz. 38.1 ff.) und der Existenzvernichtung durch Gesellschafter (Rz. 40.1 ff.)2 und – dem Informationssystem, insbesondere im Recht der Rechnungslegung3. Das Kapitalschutzsystem ist im vorliegenden Werk nicht systematisch darzustellen. Es interessiert hier nur insoweit, als es

2.2

– der Krisenvermeidung dient (Rz. 2.101 ff., 2.142 ff., 2.171 ff.) oder – bei der Krisenüberwindung Beachtung verdient (vgl. über Kapitalaufbringungsregeln bei der Kapitalerhöhung durch Gesellschafterbeschlüsse [Rz. 6.1 ff.]) oder – durch Insolvenzverwalterklagen sanktioniert wird.

2. Kein allgemeines Unterkapitalisierungsverbot a) Das GmbH-Gesetz setzt zum Zweck der Krisenvermeidung auf Eigenkapital und Kapitalschutz4. Allerdings kennt das geltende Recht kein gesetzliches Gebot, die Gesellschaft mit einem für ihr Unternehmen ausreichenden Eigenkapital auszustatten5. Insbesondere enthält die Regelung über das gesetzliche Mindeststammkapital (§ 5 Abs. 1 GmbHG) kein solches Gebot, sondern nur eine „Seriositätsschwelle“ und „Eintrittskarte“ zur Rechtsform der GmbH6. Die 1 Dazu etwa Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 1 ff.; Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2011, S. 11 ff.; Kleindiek, ZGR 2006, 335 ff.; Pellens/ Kemper/A. Schmidt, ZGR 2008, 381 ff. 2 Dazu sinngemäß Karsten Schmidt in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 188 ff. 3 Vgl. Pellens/Kemper/A. Schmidt, ZGR 2008, 381, 387 f. 4 Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 1 ff.; Kleindiek, ZGR 2006, 335 ff. 5 BGH v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 268; BGH v. 4.5.1977 – VIII ZR 298/75, BGHZ 68, 312, 319; BGH v. 24.3.1980 – II ZR 213/77, BGHZ 76, 326, 334 = GmbHR 1980, 179 = ZIP 1980, 361; BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 203 = GmbHR 2008, 805 = ZIP 2008, 1232; Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 5 GmbHG Rz. 35; Veil in Scholz, 13. Aufl., § 5 GmbHG Rz. 15 m.w.N. 6 Ulmer in Habersack/Casper/Löbbe, Einl. A GmbHG Rz. A 45; Protz/Krome in Beck'sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 2 Rz. 86; Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2011, S. 11; Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 549.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 11

2.3

§ 2 Rz. 2.3 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

früher teilweise vertretene Ansicht, die für das jeweilige Unternehmen ausreichende Kapitalausstattung müsse seitens des Registergerichts überprüft werden, hat sich nicht durchgesetzt1. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es im Zeitpunkt der Errichtung der Gesellschaft keine betriebswirtschaftlichen Parameter gibt, die in verlässlicher und verallgemeinerungsfähiger Weise darüber Aufschluss geben, ob die Kapitalausstattung ausreichend ist2. Mit § 5 GmbHG verbindet sich nicht die Erwartung, das satzungsmäßige Stammkapital reiche für die Unternehmensfinanzierung aus. Demgemäß lässt sich dem Gesetz auch keine Haftungssanktion für den Fall entnehmen, dass sich das satzungsmäßige Eigenkapital der Gesellschaft nachträglich als zu gering erweist. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass eine Unternehmensführung ohne hinreichende Kapitalausstattung ohne Weiteres rechtens ist3.

2.4

b) Unterkapitalisierung, d.h. eine für Zwecke und Tätigkeit der Gesellschaft unzureichende Eigenkapitalausstattung der GmbH, ist eine Gefahr für den nachhaltigen Bestand der Gesellschaft und gilt – zumindest im Fall einer materiellen Unterkapitalisierung – als ein Verstoß gegen die allgemeinen Gebote der Unternehmensfinanzierung4. Deren rechtliche Relevanz ist indes unsicher. Im Rahmen der Unterkapitalisierung wird zwischen der sog. materiellen und der formellen Unterkapitalisierung unterschieden. Unter formeller Unterkapitalisierung versteht man, wenn die Gesellschaft zwar mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet wurde, diese jedoch nicht ausschließlich in Form von Eigenkapitel, sondern auch in Form von Fremdkapital (insbesondere Gesellschafterdarlehen) gewährt wurden5. Die formelle Unterkapitalisierung stellt dabei keinen Verstoß gegen die Gebote der Unternehmensfinanzierung dar, da die Gesellschafter in der Wahl ihrer Finanzierungsmittel gesetzlich nicht gebunden sind. Es liegt vielmehr innerhalb ihrer Entscheidungsfreiheit, ob sie im Rahmen einer Finanzierung eine Einlage leisten oder der Gesellschaft ein Darlehen gewähren6. Durch die Zulässigkeit einer formellen Unterkapitalisierung entsteht auch keine Schutzlücke für die Gläubiger. Denn im Fall einer Insolvenz wird das Gesellschafterdarlehen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 5 InsO lediglich als nachrangige Forderung berücksichtigt. Diese Regelung wird ferner dadurch flankiert, dass gemäß § 135 InsO die Möglichkeit besteht, dass Rückzahlungen im Rahmen eines Gesellschafterdarlehens vom Insolvenzverwalter angefochten werden.

2.5

Von materieller Unterkapitalisierung wird hingegen gesprochen, „wenn das Eigenkapital nicht ausreicht, um den nach Art und Umfang der Geschäftstätigkeit bestehenden, nicht durch Kredite Dritter zu deckenden mittel- oder langfristigen Finanzbedarf zu befriedigen“7. Das GmbH-Gesetz kennt grundsätzlich keine allgemeine Durchgriffshaftung in Fällen der Unterkapitalisierung und auch keine allgemeine Nachschusspflicht der Gesellschafter in der Krise8. Dreh- und Angelpunkt der ablehnenden Haltung gegenüber einer Durchgriffshaftung 1 2 3 4 5 6 7

Wiedemann, Die Haftung des Gesellschafters in der GmbH, 1968, S. 17 f. Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 5 GmbHG Rz. 35. Vgl. auch Baums, Recht der Unternehmensfinanzierung, 1. Aufl.; 1.Teil, 1.Kapitel, § 3 Rz. 35. Dazu Lutter, GmbHR 2000, 301, 302. Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 5 GmbHG Rz. 37. BGH v. 24.3.1980 – II ZR 213/77, DB 1980, 1159 = GmbHR 1980, 179 = ZIP 1980, 361. Hachenburg/Ulmer, 8. Aufl., Anh. § 30 GmbHG Rz. 17; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 240; Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 5 GmbHG Rz. 38; anders Eckhold, Materielle Unterkapitalisierung, 2002, S. 29–59: Unterkapitalisierung als Kreditunfähigkeit; nach h.M. kann Kreditunfähigkeit als Krise der Gesellschaft (§ 32a Abs. 1 GmbHG a.F.) Resultat der Unterkapitalisierung sein, doch ist nicht beides dasselbe. 8 Vgl. m.w.N. Servatius in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 5 GmbHG Rz. 6; Vonnemann, GmbHR 1992, 77 ff.; Altmeppen, ZIP 1999, 881 ff.; gegen jede Durchgriffshaftung Ehricke, AcP 199 (1999), 257; a.M. Bitter, WM 2001, 2133 ff.

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§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.6 § 2

ist dabei § 13 Abs. 2 GmbHG, welcher als Haftungsobjekt allein das Gesellschaftsvermögen vorsieht1. Eine Durchgriffshaftung aufgrund materieller Unterkapitalisierung kann grundsätzlich auch nicht auf die vom BGH zum sog. existenzvernichtenden Eingriff aufgestellten Voraussetzungen gestützt werden. Zwar hat dieser in einer mittlerweile aufgegebenen Rechtsprechung zunächst angenommen, dass es Fälle geben kann, in welchen die Gesellschafter im Wege einer Durchgriffshaftung unmittelbar gegenüber den Gläubigern haften2. Jedoch ist diese Rechtsprechung. zwischenzeitlich zugunsten einer reinen Innenhaftung gemäß § 826 BGB aufgegeben worden3 und ist auch ansonsten nicht auf den Fall einer materiellen Unterkapitalisierung zugeschnitten. Denn eine Innenhaftung gemäß § 826 BGB kommt nach der Rechtsprechung des BGH nur dann in Betracht, wenn ein missbräuchlicher, zur Insolvenz der Gesellschaft führender oder diese vertiefende „kompensationsloser“ Eingriff in das Gesellschaftsvermögen vorliegt4. Der materiellen Unterkapitalisierung fehlt es aber grundsätzlich an diesem Eingriffscharakter, weshalb in ihr nicht der Vorwurf eines kompensationslosen Eingriffs liegt, welcher gerade charakteristisch für den existenzvernichten Eingriff ist5. Ob aufgrund der Rechtsprechung des BGH jegliche Haftung im Falle einer materiellen Unterkapitalisierung ausgeschlossen ist, wird in der Literatur uneinheitlich beantwortet6. Stimmen, die eine mögliche Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung ausschließen, berufen sich dabei insbesondere auf den Wortlaut des § 13 Abs. 2 GmbHG7. Ferner wird denjenigen, die eine Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung bejahen vorgeworfen, dass es an klaren betriebswirtschaftlichen Maßstäben fehlt, wann ein Gesellschafter davon ausgehen darf, dass ein im Verhältnis zum Gesellschaftszweck angemessenes Stammkapital vorhanden ist. Es sei mithin nur schwer bestimmbar, wann tatsächlich ein Fall einer schuldhaften Unterkapitalisierung vorliegt und wann sich nur das allgemeines Wirtschaftsrisiko verwirklicht hat. Dieser Einwand ist zwar dem Grunde nach gerechtfertigt und hat insbesondere zur Folge, dass es bisher – trotz der seit längerem hierzu geführten Diskussion – zu keiner Erhöhung der Mindeststammkapitalziffer in § 5 Abs. 1 GmbHG gekommen ist. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass damit eine Haftung wegen materieller Unterkapitalisierung generell ausgeschlossen ist. Auch der BGH hat das Problem der nur schwer bestimmbaren Tatbestandsvoraussetzung einer möglichen Unterkapitalisierungshaftung erkannt, hat jedoch dennoch ausdrücklich offengelassen, ob eine Haftung gemäß § 826 BGB möglich ist8. Ob eine Haftung der Gesellschafter für eine materielle Unterkapitalisierung endgültig ausgeschlossen ist, darf daher bezweifelt 1 Vgl. zur Durchgriffsfestigkeit der GmbH allgemein BGH v. 13.4.1994 – II ZR 16/93, BGHZ 125, 366 = GmbHR 1994, 390; BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 = GmbHR 2007, 927; Lieder in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 13 GmbHG Rz. 377 ff.; Boujong in FS Odersky, 1996, S. 742 ff.; Gehrlein in Gehrlein/Witt/Volmer, GmbH-Recht in der Praxis, 4. Aufl. 2019, Kapitel 7 Rz. 52 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 1994, 837. 2 BGH v. 17.9.2001 – II ZR 178/99 = GmbHR 2001, 1036 = ZIP 2001, 1874. 3 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 = GmbHR 2007, 927 = ZIP 2007, 1552 (m. Anm. Henning Schröder). 4 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 = GmbHR 2007, 927 = ZIP 2007, 1552; BGH v. 24.6.2002 – II ZR 300/00, GmbHR 2002, 902 = ZIP 2002, 1578. 5 Vgl. BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, GmbHR 2008, 805 = ZIP 2008, 1232. 6 Dafür: Veil in Scholz, § 5 GmbHG Rz. 16; Bitter in Scholz, § 13 GmbHG Rz. 147; Lutter/Hommelhoff, ZGR 1979, 31, 57 gegen eine erweiterte Haftung: Fastrich in Noack/Servatius/Haas, § 13 GmbHG Rz. 47; differenzierend Altmeppen, § 13 GmbHG Rz. 145, der eine Haftung nur unter den strengen Voraussetzungen des § 826 BGB bejaht. 7 Fastrich in Noack/Servatius/Haas, § 13 GmbHG Rz. 47. 8 BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204, 216 Rz. 25 = GmbHR 2008, 805 = ZIP 2008, 1232.

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2.6

§ 2 Rz. 2.6 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

werden1. Eine derartige Haftung sollte vor dem Hintergrund des § 13 Abs. 2 GmbHG aber Fälle beschränkt sein, in denen das Stammkapital in einem krassen und offensichtlichen Missverhältnis zu dem verfolgten Gesellschaftszweck steht. Die Gesellschafter sind daher trotz allem angehalten stätig zu überprüfen, ob die Stammkapitalziffer in einem angemessenen Verhältnis zum Gesellschaftszweck steht.

3. Zur Finanzierungsverantwortung von Gesellschaftern und Geschäftsführern 2.7

a) An die Stelle eines generellen Unterkapitalisierungsverbots tritt ein Prinzip der individuellen Finanzierungsverantwortung2. Deshalb ist bei erkennbarer Unterkapitalisierung schon vor dem Einsetzen der sog. Insolvenzantragspflichten (Rz. 38.1 ff.) an die Verantwortung der Geschäftsführung und der Gesellschafter zu denken (dazu Rz. 3.1 ff., 40.1 ff., 40.9 ff.). Während die Haftung der Gesellschafter auf schuldhaft existenzgefährdende Maßnahmen begrenzt und vom BGH sogar auf die Fälle des § 826 BGB beschränkt worden ist (Rz. 40.2), obliegt den Geschäftsführern eine umfassende Verantwortung in Gestalt ständiger Solvenzprüfungspflichten. Diese bereits seit langem anerkannte Prüfungspflichten des Geschäftsführers ist nunmehr durch das StaRUG auch ausdrücklich in § 1 Abs 1 StaRUG normiert worden3. Diese setzen als Governance-Regeln im Rahmen der Geschäftsführerverantwortlichkeit nach § 43 GmbHG schon vor den sog. Insolvenzantragspflichten (§ 15a InsO), also vor Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ein (Rz. 2.141, Rz. 3.1 ff.)4. Erkennt die Geschäftsführung Entwicklungen, welche den Fortbestand der Gesellschaft bedrohen können, müssen sie geeignete Gegenmaßnahmen ergreifen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Dazu gehört auch eine transparente Finanzplanung, und dazu können auch Solvenztests gehören. Zur ordnungsmäßigen Geschäftsführung gehört ferner die Einrichtung eines dem Zuschnitt des Unternehmens angemessenen Risikomanagements5. Wer als Geschäftsführer gegen diese Regeln verstößt, verletzt nicht nur Vertragspflichten, sondern auch seine korporativen Pflichten nach § 43 GmbHG. In praktischer Hinsicht wird das haftungsauslösende Verhalten meist darin liegen, dass die Geschäftsführung keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen und somit gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG verstoßen hat. Der Umstand das fehlenden Gegenmaßnahmen meistens auch eine fehlende/nicht ausreichende Solzvenzprüfung und somit ein Verstoß gegen § 1 Abs. 1 StaRUG vorausgeht, ist in praktischer Hinsicht eher von geringer Bedeutung. Denn es wird nur schwer nachweisbar sein, dass die fehlende Solvenzprüfung kausal für den eingetretenen Schaden war. Es ist nämlich nicht von vorneherein gesagt, dass die Bestandsgefährdung auch bei ordnungsgemäßer Solvenzprüfung eingetreten wäre6. Die Satzung einer auf Fremdgeschäftsführung angelegten GmbH kann diese Pflicht noch verschärfen. Sie kann insbesondere in Anlehnung an § 91 Abs. 2 AktG ein Überwachungssystem installieren und den Geschäftsführern Berichtspflichten (z.B. in Gestalt von Quartalsberichten) auch hinsichtlich der Finanzplanung auferlegen7. Die Methoden der laufenden Kontrolle sind bei Rz. 3.1 ff. 1 So auch bereits K. Schmidt in der 5. Aufl., Rz. 134. 2 Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 24; dazu auch Lutter, GmbHR 2000, 301, 305. 3 Vor der ausdrücklichen Normierung in § 1 Abs. 1 StaRUG, wurde die vom Gesetz stillschweigend unterstellte ständige Selbstprüfungspflicht der Geschäftsführung z.B. aus § 49 Abs. 3 GmbHG hergeleitet. Danach ist die Gesellschafterversammlung einzuberufen, wenn die Hälfte des Stammkapitals verloren gegangen ist. 4 Vgl. dazu Buck-Heeb in FS Westermann, 2008, S. 845 ff. 5 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 37 GmbHG Rz. 29. 6 Mock in BeckOK/StaRUG, § 1 StaRUG Rz. 23. 7 Evtl. auch durch bloßen Weisungsbeschluss der Gesellschafter; vgl. Karsten Schmidt in Scholz, § 46 GmbHG Rz. 114.

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§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.9 § 2

dargestellt. Geschäftsführer, die durch Vernachlässigung der Selbstprüfungspflicht eine Liquiditätskrise oder eine Kreditunwürdigkeit verkennen und den Gesellschaftern nicht rechtzeitig Gelegenheit zur Abwendung einer solchen Krisensituation geben oder geeignete Gegenmaßnahmen einleiten, können sich nach § 43 GmbHG gegenüber der GmbH schadensersatzpflichtig machen. Daneben kommt auch eine Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG in Betracht. Der Charakter als Schutzgesetz i.S. des § 823 Abs. 2 BGB dürfte sich dabei aus der gleichgelagerten Schutzwirkung wie bei § 15a InsO ergeben, bei welchem der Schutzcharakter allgemein anerkannt ist1. b) Das mehr und mehr unausgewogene Verhältnis zwischen der strengen Geschäftsführerhaftung und der durch die Urteile „Trihotel“2 und „Gamma“3 sowie durch die GmbH-Reform 2008 (MoMiG) immer stärker eingeschränkte Gesellschafterverantwortlichkeit lässt auch daran denken, ob unter Umständen Gesellschafter, die Einfluss auf haftungsbegründende Maßnahmen des Geschäftsführers ausgeübt haben, als faktische Geschäftsführer nach den Grundsätzen des § 43 GmbHG4 oder als Teilnehmer an einer unerlaubten Handlung5 haften, also z.B. für die Übernahme von Verbindlichkeiten, die die Gesellschaft auf Grund ihrer Unterkapitalisierung nicht begleichen kann. Um die Wertung des § 13 Abs. 2 GmbHG nicht zu umgehen, sind an eine derartige Haftung jedoch strenge Voraussetzungen zu stellen6. Insbesondere muss beachtet werden, dass eine Haftung als faktischer Geschäftsführer grundsätzlich voraussetzt, dass derjenige, der als faktischer Geschäftsführer qualifiziert werden soll, auch nach außen, wie ein Geschäftsführer auftreten muss. Allein die interne Einwirkung auf den organschaftlichen Geschäftsführer ist hingegen nicht ausreichend7. Es reicht daher nicht aus, dass der Gesellschafter nur im Wege seiner allgemeinen Weisungsbefugnis auf den satzungsmäßig bestellten Geschäftsführer Einfluss nimmt. Erforderlich ist vielmehr, dass die Einwirkung in einem solchen Umfang erfolgt, dass sich das Handeln nicht als eine an sich zulässige Ausübung der Weisungsbefugnis darstellt, sondern vielmehr um eine Usurpation der an sich allein dem Geschäftsführer übertragenen Tätigkeiten8. In der gegenwärtigen Rechtsprechung scheint eine solche Unterkapitalisierungshaftung allerdings nicht angelegt (vgl. Rz. 2.4).

2.8

4. Der formelle Kapitalschutz Von den bisher angestellten Überlegungen sind die formellen Regeln über die Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung zu unterscheiden. Die Bedeutung dieser Regeln kommt nicht selten erst im Insolvenzverfahren ans Licht, wenn nämlich der Insolvenzverwalter unerfüllte Einlageansprüche (§ 19 GmbHG) bzw. Rückforderungsansprüche wegen verbotener Ausschüttungen (§ 31 GmbHG) einklagt. Diese strengen Regeln müssen aber schon bei der Kri1 So auch Mock in BeckOK/StaRUG, § 1 StaRUG Rz. 25. 2 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 264 = GmbHR 2007, 927 = ZIP 2007, 1552. 3 BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 = GmbHR 2008, 805 m. Anm. Ulrich = ZIP 2008, 1232. 4 Dies befürwortend: Wilhelm, Rechtsform und Haftung bei der juristischen Person, 1981, S. 344 ff.; Stein, Das faktische Organ, 1984, S. 118, 179; Geitzhaus, GmbHR 1989, 397, 403 f. 5 Ansätze hierzu im „Gamma“-Urteil vgl. BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, GmbHR 2008, 805 = ZIP 2008, 1232. 6 Vgl. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43 GmbHG Rz. 22 ff. 7 Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43 GmbHG Rz. 20; Fleischer in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 240. 8 Vgl. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43 GmbHG Rz. 21; Fleischer, GmbHR 2011, 337, 345; Fleischer in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 240 f.; ähnlich Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 43 GmbHG Rz. 5.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 15

2.9

§ 2 Rz. 2.9 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

senvorsorge bzw. im Zuge der Sanierung beachtet werden. Die Liberalisierung der §§ 19, 30 GmbHG durch das MoMiG hat hieran im Grundsatz nichts geändert. Aus der Perspektive des vorliegenden Buchs, das die GmbH oder GmbH & Co. KG als bereits gegründet und als operativ tätig ansieht, stellen sich diese Normen wie folgt dar: a) Die Kapitalerhaltung (§§ 30, 31 GmbHG) ist ein unbedingtes Muss bei der Krisenvermeidung und Krisenbereinigung (Rz. 2.22 ff.). b) Die Kapitalaufbringungsregeln (§§ 7 ff., § 19 GmbHG) stellen sich im Bereich der Krise und Sanierung im Wesentlichen als Rechtsfragen der Kapitalerhöhung dar (vgl. Rz. 6.1 ff.).

2.10–2.20

Einstweilen frei.

II. Das Ausschüttungsverbot des § 30 GmbHG 1. Der Verbotstatbestand 2.21

a) Das strenge Ausschüttungsverbot des § 30 GmbHG stellt nach der Rechtsprechung ein „Kernstück“ des Rechts der GmbH als einer Kapitalgesellschaft dar1. Als solches muss es auch von der Geschäftsführung begriffen und respektiert werden. Das MoMiG hat hieran nichts Grundsätzliches geändert. Im Zuge der Reformarbeiten war erwogen worden, die Ausschüttungssperre des § 30 GmbHG durch prognostische Solvenztests zu ersetzen2. Der Gesetzgeber hat es aber mit Recht bei dem einfacher zu handhabenden bilanziellen Unterbilanztest des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG belassen3. Das bedeutet nicht, dass etwa Solvenztests rechtlich ohne Bedeutung wären. Sie sind von praktischer Relevanz im allgemeinen Recht der Finanzierungsverantwortung (dazu schon Rz. 2.7), insbesondere bei der Überschuldungsprüfung (Rz. 14.122 ff.) sowie bei dem Zahlungsverbot des § 15 Abs. 1, 5 InsO (Rz. 40.9 ff.).

2.22

Das Ausschüttungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG basiert nach wie vor – seit der MoMiGReform von 2008 sogar noch eindeutiger als zuvor – auf einer streng bilanziellen Prüfung. „Auszahlungen“ des „zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögens“ sind untersagt, doch ist diese Formulierung in mehrfacher Richtung missverständlich. Da § 30 Abs. 1 GmbHG das bilanzielle Gesellschaftsvermögen schützen soll, geht es nicht in jedem Fall um „Zahlungen“ (schon gar nicht um „Rückgewähr der Einlagen“, wie das Ausschüttungsverbot missverständlich in § 57 AktG beschrieben ist). Vielmehr kann jede „causa societatis“ geleistete, also auf der Gesellschaftereigenschaft beruhende bilanziell relevante Zuwendung gegen § 30 Abs. 1 GmbHG verstoßen, wenn sie die Deckung des Stammkapitals berührt. Die Vermögensverringerung gibt den Ausschlag4. Es kommt also nicht auf den Abfluss von Liquidität aus dem Gesellschaftsvermögen an, sondern es kann sich z.B. auch um die Zuwendung von 1 BGH v. 30.6.1958 – II ZR 213/56, BGHZ 28, 77, 78 = GmbHR 1958, 149; vgl. auch Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1111; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 1. 2 Eingehend m.w.N. Eidenmüller, ZGR 2007, 168, 190 ff.; Engert, ZHR 170 (2006), 296 ff.; Haas in Verhandlungen des 66. DJT, Band I, 2006, S.W. 123 ff.; E 130 f.; Jungmann, ZGR 2006, 638 ff.; Kuhner, ZGR 2005, 753, 777 ff.; Weller, DStR 2007, 116 ff.; distanziert Arnold, Der Konzern 2007, 118, 120 ff.; Hennrichs, Der Konzern 2008, 42 ff. m. umfangr. Nachw. 3 Vgl. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 41; näher Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1074. 4 BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, BGHZ 214, 258-269 = DStR 2017, 1218 = ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann; vgl. Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 49; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 18.

16 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.23 § 2

Sachwerten1 oder um den Erlass von Verbindlichkeiten2 handeln (über die Bestellung von Sicherheiten vgl. Rz. 2.83)3. Darauf, dass die Vermögensminderung in der Bilanz aktuell ausgewiesen wird, kommt es selbstverständlich nicht an4. Namentlich gilt das für verdeckte Ausschüttungen. Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen einschließlich geldwerter Vorteile (Nutzungen, Zinslosigkeit bei Darlehen etc.), die einem Drittvergleich nicht standhalten, also einem Nichtgesellschafter nicht zukämen, können gegen § 30 Abs. 1 GmbHG verstoßen, auch wenn es sich nicht um Zahlungen handelt5. Zuwendungen an den Gesellschaftern nahestehende Dritte (z.B. konzernzugehörige Gesellschaften), die ein gesellschaftsfremder Dritter so nicht erhalten hätte, stehen dem gleich (zur Rückgewährpflicht in diesem Fall vgl. Rz. 2.31)6. b) Die Vorschrift verbietet nicht jede eines Ausschüttungsbeschlusses entbehrende oder gar verdeckte und damit im Innenverhältnis rechtswidrige Ausschüttung7. Gesetzlich verboten sind nur Ausschüttungen aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen. Der Vermögensschutz ist daher nicht so weitgehend wie dies bei der AG der Fall ist. Beschränkt sich die Vermögensbindung bei der GmbH gemäß § 30 GmbHG allein auf das Stammkapital, sieht § 57 AktG hingegen vor, dass vor Auflösung der Gesellschaft nur der Bilanzgewinn an die Aktionäre ausgeschüttet werden darf8. Der Vermögensschutz ist nicht zwingendgegenständlich, sondern vermögensmäßig, also „bilanziell“ zu verstehen9: Das Aktivvermögen einer GmbH ist nicht in gebundene und ungebundene Vermögensgegenstände geteilt, sondern jeder Vermögensgegenstand unterliegt der Bindung nach § 30 Abs. 1 GmbHG, sobald eine Unterbilanz besteht oder durch die Zuwendung an den Gesellschafter herbeigeführt oder vergrößert würde. Verboten ist m.a.W. die Herbeiführung oder Vergrößerung einer Unterbilanz durch Zuwendungen an Gesellschafter10. Jede bestehende oder durch die Zuwendung bewirkte Unterbilanz macht die Zuwendung unzulässig. Dies zu prüfen, ist Geschäftsführeraufgabe. Eine Unterbilanz liegt vor, wenn das Reinvermögen der Gesellschaft (Aktiva minus Verbindlichkeiten) das Stammkapital nicht deckt11. Ob eine Unterbilanz besteht, richtet sich nach den für einen ordnungsgemäß aufgestellten Jahresabschluss geltenden Regeln, bezogen auf den Ausschüttungsstichtag. Auskunft gibt nicht die Bilanz als solche, son1 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 8; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 18. 2 Vgl. (Verrechnung von Forderungen unterschiedlichen Werts) BGH v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333 = NJW 1993, 122 = GmbHR 1993, 427; zum Fall der Übernahme von Verbindlichkeiten der ebenfalls vom Begriff der „Zahlung“ i.S. des § 30 GmbHG erfasst ist, vgl. BGH v. 6.11.2018 – II ZR 199/17, DStR 2019, 340 = ZIP 2019, 114. 3 Vgl. schon RG v. 22.4.1932 – II 349/31, RGZ 136, 260, 264: Herausgabe von Vermögenswerten jeder Art; h.M.; vgl. Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 18. 4 Vgl. zusammenfassend Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 18 mit umfassenden Nachweisen. 5 Vgl. Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 50; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 18 ff.; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 35. 6 Vgl. BGH v. 15.10 2007 – II ZR 243/06, DStR 2007, 2270 = ZIP 2007, 2364; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 30 GmbHG Rz. 162 ff., 175 ff.; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 38 ff. 7 Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 7; in dieser Richtung aber Winter, ZHR 148 (1984), 579 ff. sowie BGH v. 29.5.1987 – 3 StR 242/86, BGHSt 34, 379 = GmbHR 1987, 464 = ZIP 1988, 306. 8 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 4. 9 Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 9. 10 BGH v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, GmbHR 1990, 249, 250 = ZIP 1990, 451; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1131; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 52 ff.; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 10; eingehend Joost, ZHR 148 (1984), 27; Wilhelm, ZHR 159 (1995), 454 ff. 11 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1132; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 10.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 17

2.23

§ 2 Rz. 2.23 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

dern ein auf ihrer Grundlage zu erstellendes Rechenwerk (sog. Unterbilanzstatus)1. In zweifelhaften Fällen muss also ein sich nach den Regeln der Jahresbilanz richtender Unterbilanzstatus auf den Ausschüttungstag erstellt werden2. Stille Rücklagen werden nicht aktiviert3. Hierdurch unterscheidet sich der Unterbilanztest von einer Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Unterbilanzstatus auf der Passivseite zwar durch einen Erlass von Verbindlichkeiten bereinigt werden kann, nicht jedoch durch einen Rangrücktritt (vgl. zu diesem Rz. 7.14)4. Die bilanzielle Betrachtungsweise gilt nicht nur für die Voraussetzungen des Verbots (deckt das Vermögen das Stammkapital?), sondern auch für die Behandlung des beabsichtigten Vermögenstransfers (handelt es sich um eine „Auszahlung“ i.S. von § 30 Abs. 1 GmbHG?)5. Ein Vorgang, der das Vermögen der Gesellschaft nicht schmälert, kann keine „Auszahlung“ sein6. Ein bloßer Aktiventausch (Kasse gegen vollwertige Forderung) ist keine Auszahlung i.S. von § 30 GmbHG. Durch § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG ist das seit dem MoMiG für Kredite an Gesellschafter klargestellt7. Nicht verboten ist die bloße Weiterreichung von Liquidität ohne Vermögenseinbuße8. Das gilt nicht nur für Darlehen an solvente Gesellschafter (Rz. 2.61), sondern z.B. auch, wenn die Gesellschaft Sanierungsmittel an eine 100%ige Tochtergesellschaft weiterleitet9, vorausgesetzt, hieraus erwächst der Gesellschaft ein den Mittelabfluss kompensierender vollwertiger Anspruch10. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zur Entscheidungspraxis bezüglich der Zahlungsverbote bei materieller Insolvenz (vgl. zu § 15b InsO Rz. 38.51 ff.).

2.24

c) Das Ausschüttungsverbot gilt selbstverständlich auch und erst recht, wenn die Gesellschaft materiell insolvent (also überschuldet oder zahlungsunfähig) ist11. Nur durch ein überholtes (gegenständliches) Bild des Auszahlungsverbots erklärbar und mit Recht aufgegeben ist 1 BGH v. 11.12.1989 – II ZR 78/89, BGHZ 109, 334, 337 f. = NJW 1990, 1109 = GmbHR 1990, 209 = ZIP 1990, 307; BGH v. 11.5.1987 – II ZR 226/86, GmbHR 1987, 390; OLG Celle v. 3.12.2003 – 9 U 119/03, GmbHR 2004, 309 = ZIP 1987, 1113. 2 BGH v. 22.9.2003 – II ZR 229/02, NZG 2003, 1116 = GmbHR 2003, 1420 m. Anm. Blöse = ZIP 2003, 2068; näher Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 18; die Zwischenbilanz ist allerdings nicht notwendige Voraussetzung einer zulässigen Auszahlung; solange objektiv kein Anhalt für eine Unterbilanz besteht, kann der Geschäftsführer Auszahlungen vornehmen, ohne einen Unterbilanzstatus aufzustellen. 3 BGH v. 11.12.1989 – II ZR 78/89, BGHZ 109, 334, 337 f. = NJW 1990, 1109 = GmbHR 1990, 209 = ZIP 1990, 307; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 18; Pentz in Rowedder/ Pentz, § 30 GmbHG Rz. 10, vgl. Begr. RegE MoMiG BT-Drucks. 16/6140, S. 41: Auskehr stiller Reserven ist Auszahlung. 4 Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 69; differenzierend Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 116 ff. 5 Umstritten ist hingegen, ob eine Auszahlung i.S. des § 30 Abs. 1 GmbHG auch voraussetzt, dass neben der Entreicherung der Gesellschaft auch eine Bereicherung beim Gesellschafter eingetreten ist. Dafür: Ekkenga in Münchener Kommentar GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 200. Dagegen: Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 60. 6 In diesem Sinne auch Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 26, 47. 7 Durch das MoMiG überholt ist das abweichende Grundlagenurteil BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos = ZIP 2004, 263. 8 Schmolke in BeckOK GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 58, 119. 9 Dazu (wohl zu allgemein) OLG München v. 6.7.2005 – 7 U 2230/05, ZIP 2006, 564, 567 = GmbHR 2005, 1486 m. Anm. Schröder (offenbar nachträglich rechtskräftig geworden). 10 Vgl. Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 53; Servatius in Noack/Servatius/ Haas, § 30 GmbHG Rz. 36 ff. m.w.N. 11 BGH v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, GmbHR 1990, 249 = ZIP 1990, 451; Habersack in Habersack/ Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 43.

18 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.26 § 2

die ältere Rechtsprechung, nach der die §§ 30, 31 GmbHG im Fall bereits eingetretener Überschuldung lediglich analoge Anwendung finden sollten1. Die Fehlvorstellung ging dahin, dass die bereits überschuldete GmbH gar kein Stammkapital mehr „hat“ und dass es deshalb auch kein der Erhaltung dieses Stammkapitals dienendes Vermögen mehr gibt. Das war eine gegenständliche und damit unrichtige Vorstellung vom Kapitalschutz und eine Verwechslung des (auf der Passivseite zu bilanzierenden) Stammkapitals mit dem Reinvermögen der Gesellschaft. Bei bilanzieller Betrachtung ist klar: Die §§ 30, 31 GmbHG sind unmittelbar auf jede Zuwendung anzuwenden, die eine Unterbilanz herbeiführt oder verschärft2. Doch beginnt die Relevanz des § 30 GmbHG nicht erst mit dem Tatbestand der Unterbilanz. Schon im Vorhinein sind die Geschäftsführer verpflichtet, jede Ausschüttung auf ihre Vereinbarkeit mit § 30 GmbHG zu prüfen. Diese schon vor dem Eintritt einer materiellen Insolvenz ihnen obliegende Prüfung ist Bestandteil der bei Rz. 2.141, Rz. 3.1 ff. behandelten Selbstprüfungspflicht des Managements. Nur erwähnt sei im vorliegenden Zusammenhang, dass die Geschäftsführer insbesondere verdeckte Ausschüttungen nicht nur unter dem Gesichtspunkt des § 30 GmbHG, sondern auch unter den Gesichtspunkten des allgemeinen Schädigungsverbots und der Gleichbehandlung der Gesellschafter im Auge behalten müssen (von der steuerrechtlichen Relevanz einmal abgesehen). Zur Geschäftsführerhaftung vgl. Rz. 2.37 ff. d) Ein allgemeines Konzernprivileg für Zahlungen aus dem Vermögen einer abhängigen Gesellschaft an ein herrschendes Unternehmen gibt es im Vertragskonzern (Rz. 2.74 f.)3: Das Ausschüttungsverbot gilt nicht, wenn ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter besteht (§ 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Ein ausreichender Gläubigerschutz wird im Falle eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag über die analoge Anwendung des § 302 AktG sichergestellt. Danach schuldet das herrschende Unternehmen einen Verlustausgleich, wenn es durch die Auszahlung zu einer Vermögensminderung bei der Tochter- GmbH kommt4. Zweifelhaft ist das Verhältnis zu der auch im GmbH-Vertragskonzern geltenden Regelung des § 301 AktG über den Höchstbetrag der Gewinnabführung. Diese Spezialregelung bleibt richtigerweise unberührt5.

2.25

2. Rückzahlungspflicht des Empfängers a) Das Ausschüttungsverbot richtet sich an die durch den Geschäftsführer vertretene Gesellschaft und als Verbot der Entnahme auch an die Gesellschafter. § 30 GmbHG ist kein Verbotsgesetz i.S. von § 134 BGB6 und auch kein Schutzgesetz i.S. von § 823 Abs. 2 BGB7. Diese nur auf den ersten Blick verwundernde Feststellung bedeutet: Die gegen § 30 GmbHG verstoßenden Geschäfte sind nicht nichtig (Rückabsicherung also nach § 31 GmbHG und nicht nach

1 So noch BGH v. 29.3.1973 – II ZR 25/70, BGHZ 60, 324, 331 = GmbHR 1973, 163. 2 BGH v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, GmbHR 1990, 249 = ZIP 1990, 451; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1135 f.; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 43. 3 Eingehend Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 72 ff. 4 Vgl. Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 212. 5 S. dazu Emmerich in Scholz, Anh. § 13 GmbHG Rz. 288 ff. 6 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, BGHZ 136, 125 = JZ 1997, 965 m. Anm. Altmeppen = GmbHR 1997, 790; OLG Düsseldorf v. 31.5.2012 – 16 U 53/11, GmbHR 2012, 793 = ZIP 2012, 2059; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1139; Karsten Schmidt in Kalss/Torggler, Einlagenrückgewähr, 2014, S. 1 ff.; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 22. 7 BGH v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, GmbHR 1990, 251 = ZIP 1990, 578; Karsten Schmidt in Kalss/ Torggler, Einlagenrückgewähr, 2014, S. 1 ff.; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 22.

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2.26

§ 2 Rz. 2.26 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

§ 812 BGB)1, und das gilt für das Kausalgeschäft ebenso wie für das die verbotene Rückgewähr verwirklichende Verfügungsgeschäft2, und der Verstoß gibt nicht jeder dadurch geschädigten Person einen individuellen Schadensersatzanspruch. Eine Schadensersatzhaftung des Empfängers kommt nur unter dem Gesichtspunkt eines Durchgriffs nach § 826 BGB (Rz. 40.2) oder einer Insolvenzverursachungshaftung in Betracht, nicht schon nach § 823 Abs. 2 BGB wegen der bloßen Verletzung des § 30 GmbHG. Allerdings können die Gläubiger den gemäß § 31 GmbHG gegen die Gesellschaft bestehenden Anspruch pfänden und sich überweisen lassen3.

2.27

b) Die Haftung des Empfängers verbotener Ausschüttungen (§ 31 Abs. 1 GmbHG) setzt nur einen Verstoß gegen § 30 GmbHG und nicht zusätzlich eine Bösgläubigkeit oder sonst ein Verschulden des Empfängers voraus4. Allerdings bedarf es insoweit eines subjektiven Elements, dass die Vermögensverschiebung willentlich herbeigeführt sein muss, um als Zahlung i.S. des Abs. 1 qualifiziert zu werden. Denn auch wenn weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass der Begriff der Zahlung extensiv ausgelegt werden muss, setzt dieser doch immer eine willentliche Entscheidung auf Seiten der Gesellschaft voraus. Nicht erfasst von § 30 Abs. 1 GmbHG ist daher z.B. der Fall, dass ein Gesellschafter die Gesellschaft ohne Kenntnis der Geschäftsführung bestiehlt5. Das sich aus § 31 Abs. 2 GmbHG ergebende Privileg für gutgläubige Empfänger verbotener Ausschüttungen ist in der Praxis unbedeutend und hilft insbesondere nicht in Krise und Insolvenz, denn auch hier wird gehaftet, soweit dies für die Gläubigerbefriedigung erforderlich ist.

2.28

c) Inhalt und Umfang der Haftung sind umstritten. Der nur auf Zahlungen eingerichtete Gesetzeswortlaut klärt die Frage nicht. Eine am Normzweck des § 30 GmbHG orientierte vermögensorientierte Sichtweise6 geht davon aus, dass die Höhe der Haftung am Ausschüttungsstichtag ein für alle Mal feststeht7: Der Empfänger schuldet Wiederherstellung der Vermögensdeckung. Das bedeutet, dass der Anspruch grundsätzlich auf Geld gerichtet ist8. Zu zahlen ist genau der Betrag, um den die Vermögensdeckung unter Verstoß gegen § 30 GmbHG reduziert worden ist. Handelte es sich um die Übertragung eines bestimmten Wirtschaftsguts, so gehen zwischenzeitliche Werterhöhungen oder Wertminderungen zu Gunsten oder zu Lasten des Empfängers9. Der Empfänger kann sich von der Rückzahlungspflicht auch dadurch ganz oder teilweise entlasten, dass er den erlangten Vermögensgegenstand in das Gesellschaftsvermögen zurücküberträgt, dann aber unter Anrechnung des aktuellen Verkehrswerts auf den geschuldeten Betrag (im Fall der Entwertung führt dies zur Zuzahlung)10. 1 BGH v. 23.6.1997 – II ZR 220/95, BGHZ 136, 125 = JZ 1997, 965 m. Anm. Altmeppen = GmbHR 1997, 790 = ZIP 1997, 1450; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1139. 2 BGH v. 12.3.2013 – II ZR 179/12, BGHZ 196, 312 = AG 2013, 431 = NJW 2013, 1742 = JuS 2013, 738 = ZIP 2013, 819 (Karsten Schmidt); Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 152, der jedoch im Ergebnis von einem Erfüllungsverbot des dem Grunde nach bestehendem Anspruch des Gesellschafters ausgeht. 3 Vgl. Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 128. 4 BGH v. 29.5.2000 – II ZR 118/98, BGHZ 144, 336 = GmbHR 2000, 771 = ZIP 2000, 1251; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 147. 5 Vgl. Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 147; Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 63; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 24; a.A Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 64. 6 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1138; grundlegend Joost, ZHR 148 (1984), 27, 53 f. 7 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt, JZ 2008, 736 f. 8 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1138; Karsten Schmidt, JZ 2008, 736 f. 9 Karsten Schmidt, JZ 2008, 737. 10 Vgl. ebd.; im Anschluss an Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1138.

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§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.30 § 2

Die herrschende Meinung folgt demgegenüber einer einzelgegenständlichen Betrachtung1: Soweit der Verstoß in der Übertragung eines Vermögensgegenstands besteht, hat der Empfänger diesen Gegenstand zurückzuübertragen2. Etwaige Wertsteigerungen kommen der Gesellschaft zugute und müssen in Geld ausgeglichen werden3. Etwaige Wertverluste muss der Gesellschafter als Empfänger ausgleichen4. Anderes gilt nach der herrschenden Auffassung, wenn der Verlust auch die Gesellschaft getroffen hätte5. Dieser von der h.M vorgenommenen Einschränkung wird vor allem vorgeworfen, dass sie die Tatsache außer Acht lasse, dass jedwede Art der Wertänderung – egal ob Wertminderung/-erhöhung – allein im Vermögen des Gesellschafters stattfand und somit niemals das Gesellschaftsvermögen i.S. des § 30 GmbHG beeinflusst hat6. Mag diese Feststellung in der Sache zwar zutreffend sein, so vermag sie im Ergebnis dennoch nicht zu überzeugen. Sie berücksichtigt nicht im ausreichenden Maße, dass der Vermögensveränderung, die allein im Vermögen des Gesellschafters stattfand, ein Verstoß gegen § 30 Abs. 1 GmbHG vorausging. Es handelt sich folglich von Anfang an um eine schwebend unwirksame Zuordnung in das Vermögen des Gesellschafters, da dieser gerade nicht darauf vertrauen durfte, dass etwaige Werterhöhungen in seinem Vermögen verbleiben. Für diese Sichtweise spricht auch § 31 Abs. 2 GmbHG, der eine der Höhe nach beschränkte Rückforderung gerade nur für den Fall der Gutgläubigkeit vorsieht. Ferner sprechen auch Sinn und Zweck des § 30 GmbHG für die h.M. Es soll durch § 31 GmbHG eben gerade sichergestellt werden, dass die Gesellschaft so gestellt wird, wie sie stehen würde, wenn kein Verstoß gegen § 30 Abs. 1 GmbHG erfolgt wäre. Die h.M nimmt folglich konsequenterweise – anders als die Gegenansicht – an, dass etwaige Wertverluste, welche die Gesellschaft ebenfalls getroffen hätte, nicht ausgeglichen werden müssen. Denn auch sonst greift § 30 GmbHG nicht für den Fall ein, dass das Stammkapital aufgrund von Verlusten aufgezehrt wird7. Nicht anderes kann daher i.R. des § 31 GmbHG gelten, wenn die Verluste in Gestalt einer Wertminderung erfolgen. Auch dann geht dies zu Lasten der Gesellschaft (sofern die Minderung auch bei ihr eingetreten wäre), da § 30 GmbHG für diesen Fall gerade nicht gilt.

2.29

d) Hiervon zu unterscheiden ist die Frage einer nachträglichen Kompensation durch vermögensmehrende Gewinne der Gesellschaft. Nach einer inzwischen aufgegebenen älteren

2.30

1 Kritische Darstellung bei Karsten Schmidt, JZ 2008, 735; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 17 m.w.N. 2 Zusammenfassend BGH v. 17.3.2008 – II ZR 24/07, BGHZ 176, 62 = BB 2008, 1192 m. Anm. König = JZ 2008, 734 m. Anm. Karsten Schmidt = GmbHR 2008, 656 m. Anm. Podewils; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 31 GmbHG Rz. 6; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 16; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 31 GmbHG Rz. 23 f.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 14 f.; grundlegend Hommelhoff in FS Kellermann, 1991, S. 165, 167 f.; Ulmer in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 363, 376 ff.; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 17. 3 Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 31 GmbHG Rz. 15; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 31 GmbHG Rz. 23. 4 BGH v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333 = GmbHR 1993, 427; BGH v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333 = GmbHR 1993, 427 = ZIP 1993, 917; BGH v. 17.3.2008 – II ZR 24/07, BGHZ 176, 62 = BB 2008, 1192 m. Anm. König = JZ 2008, 734 m. Anm. Karsten Schmidt = GmbHR 2008, 656 m. Anm. Podewils; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 16a; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 161; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 31 GmbHG Rz. 25. 5 Zusammenfassend BGH v. 17.3.2008 – II ZR 24/07, BGHZ 176, 62 = BB 2008, 1192 m. Anm. König = JZ 2008, 734 m. Anm. Karsten Schmidt = GmbHR 2008, 656 m. Anm. Podewils; OLG Celle v. 17.5.2006 – 9 U 172/05, GmbHR 2006, 940 = ZIP 2008, 922; Habersack in Habersack/ Casper/Löbbe, § 31 GmbHG Rz. 24. 6 Karsten Schmidt, JZ 2008, 737. 7 Vgl. Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 7.

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§ 2 Rz. 2.30 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Auffassung des BGH sollte diese Haftung vorbehaltlich der Verjährung (Rz. 2.36) so lange – aber auch nur so lange – andauern, bis die Unterbilanz auf andere Weise nachträglich ausgeglichen ist1. Der Empfänger einer verbotenen Zahlung konnte danach geltend machen, dass zwischenzeitlich Sanierung eingetreten und das Stammkapital wieder gedeckt sei. Auch für den Geschäftsführer hatte diese Einschätzung beträchtliche Konsequenzen. Sofern gegenwärtig keine Unterbilanz bestand, brauchte kein Geschäftsführer nach in der Vergangenheit verbotenen Zahlungen zu fahnden, weil diese gewissermaßen geheilt und Ansprüche daraus nicht ableitbar waren. Von dieser Beschränkung ist der BGH in zwei Entscheidungen vom 29.5.2000, darunter das bekannte Urteil „Balsam/Procedo“ abgerückt.2 Nunmehr ist herrschende Auffassung, dass ein einmal wegen Verstoßes gegen § 30 Abs. 1 GmbHG entstandener Erstattungsanspruch der Gesellschaft nicht von Gesetzes wegen entfällt, wenn das Gesellschaftsvermögen zwischenzeitlich auf sonstige Weise in Höhe des Stammkapitals wieder hergestellt ist3. Noch weniger darf sich der Empfänger gegenüber der Inanspruchnahme nach § 31 GmbHG auf die nachträgliche Ansammlung stiller Rücklagen berufen. Der BGH begründet dies mit der funktionalen Nähe des Rückzahlungsanspruchs gemäß § 31 GmbHG zu dem Einlageanspruch der Gesellschaft. Auch der Einlagenspruch erlischt nicht dadurch, dass der Gesellschaft auf andere Weise Kapital zufließt. Nichts anderes kann folglich für den Anspruch aus § 31 GmbHG gelten4. Hiermit geht nach der Rechtsprechung ein strenges Aufrechnungsverbot einher: Der Gesellschafter kann gegen eine Rückzahlungsforderung der Gesellschaft aus § 31 Abs. 1 GmbHG analog § 19 Abs. 2 Satz 2 GmbHG nicht aufrechnen5. Zulässig scheint allerdings eine Verrechnung mit Forderungen des Gesellschafters, die vollwertig sind und ohne Verstoß gegen § 30 GmbHG aus dem Gesellschaftsvermögen erfüllt werden können6. Die sinngemäße Anwendung des strengen Kapitalaufbringungsrechts auf die Verwirklichung des Rückzahlungsanspruchs ist nicht ohne Gefahren für die Beteiligten. Die herrschende Auffassung lässt den Empfänger gnadenlos haften, bis die Rückzahlungspflicht durch Zahlung erfüllt oder verjährt ist. Allen Beteiligten sei deshalb dringend geraten, etwa bemerkte Verstöße gegen § 30 Abs. 1 GmbHG durch Zahlung zu bereinigen (zur Verjährung vgl. Rz. 2.36).

1 BGH v. 11.5.1987 – II ZR 226/86, GmbHR 1987, 390, 391 = ZIP 1987, 1113; abl. m.w.N. Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 31 GmbHG Rz. 12; Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 11 f.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 17. 2 BGH v. 29.5.2000 – II ZR 118/98, DStR 2000, 1234, 1236 = GmbHR 2000, 771 = ZIP 2000, 1251; bestätigt durch BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, DStR 2012, 1144, 1148 = GmbHR 2012, 740 m. Anm. Röck = ZIP 2012, 1071. 3 BGH v. 29.5.2000 – II ZR 118/98, BGHZ 144, 336 = GmbHR 2000, 771; BGH v. 29.5.2000 – II ZR 347/97, ZIP 2000, 1256; bestätigend BGH v. 18.6.2007 – II ZR 86/06, BGHZ 173, 1, 8 f. = GmbHR 2007, 1102; ebenso Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 17; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 31 GmbHG Rz. 12; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 17; Kort, ZGR 2001, 615 ff.; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 25; zögernd Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1139; Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 13; krit. Servatius, GmbHR 2000, 1028 ff.; Wagner/Sperneac-Wolfer, NZG 2001, 9 ff. 4 BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, DStR 2012, 1144, 1148 = GmbHR 2012, 740 m. Anm. Röck = ZIP 2012, 1071. 5 BGH v. 27.11.2000 – II ZR 83/00, BGHZ 146, 105 = GmbHR 2001, 142; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 44; dagegen Lange, NJW 2002, 2293; zu dieser Begründung abl. auch Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 13; Altmeppen, NZG 2000, 887 = ZIP 2001, 157. 6 Noch weitergehend wohl Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 17.

22 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.32 § 2

3. Haftung von Nicht- und von Mitgesellschaftern a) Rückzahlungspflichtig ist der Empfänger (§ 31 GmbHG), regelmäßig also der Gesellschafter, an den oder für dessen Rechnung die verbotene Leistung erbracht worden ist. Leistungen an nahestehende Nichtgesellschafter – z.B. bei Treuhandverhältnissen, Konzernverbindungen oder naher Verwandtschaft – können indes gleichfalls gegen § 30 GmbHG verstoßen und sodann Ansprüche auch gegen diese Empfänger auslösen1. Der Gesellschafter als Normadressat wird hierdurch nicht haftungsfrei, sondern haftet zusammen mit dem Dritten als Gesamtschuldner2. Bei einem aus Gesellschaftsmitteln finanzierten Buy-Out (zu solchen Fällen vgl. Rz. 6.231 ff.) kann dies zur Haftung sowohl der Anteilsveräußerer als auch der Erwerber führen3. Gegen sonstige Dritte – z.B. gegen die Hausbank der Gesellschaft – richten sich die §§ 30, 31 GmbHG nicht4. Selbstverständlich kommt aber § 30 GmbHG zum Zuge, wenn die Gesellschaft für Rechnung eines Gesellschafters an dessen Gläubiger, an eine Bank oder an einen sonstigen Dritten zahlt. Doch dann haftet nicht der Dritte, sondern der Gesellschafter5.

2.31

b) aa) Eine Haftung von Mitgesellschaftern ergibt sich aus § 31 Abs. 3 GmbHG: Ist Zahlung vom Empfänger nicht zu erlangen, so haften für den zu erstattenden Betrag, soweit für die Gläubigerbefriedigung erforderlich, die übrigen Gesellschafter nach dem Verhältnis ihrer Geschäftsanteile (Satz 1), bei Ausfall von Mitgesellschaftern auch für deren Haftungsbeiträge (Satz 2). Im Ergebnis kann also, wenn kein zahlungsfähiger Mitgesellschafter vorhanden ist, die Ausfallhaftung komplett auf einen einzigen Mitgesellschafter zukommen, der keine Zahlung erhalten hat. Im Hinblick darauf, dass die §§ 30, 31 GmbHG auch in einer Überschuldungssituation zum Zuge kommen können (Rz. 2.24), kann sich hieraus ein schwer kalkulierbares Risiko ergeben, nicht allerdings eine Endloshaftung. Die Mitgesellschafter sind nämlich durch eine summenmäßige Haftungsbegrenzung geschützt6: Das ist zwar mehrfach bestritten7, aber vom BGH prinzipiell anerkannt worden8. Unentschieden ist immer noch die Methode und damit der Umfang dieser summenmäßigen Beschränkung: Die herrschende Meinung begrenzt die Ausfallhaftung aller Mitgesellschafter gemeinsam auf die Höhe des

2.32

1 BGH v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 266 f. = NJW 1960, 285; BGH v. 26.11.1979 – II ZR 104/77, BGHZ 75, 334, 335 f. = NJW 1980, 592 = GmbHR 1980, 28 = ZIP 1980, 115; BGH v. 28.9.1981 – II ZR 223/80, BGHZ 81, 365 = NJW 1982, 386 = GmbHR 1982, 181 = ZIP 1981, 1332; BGH v. 10.5.1993 – II ZR 74/92, BGHZ 122, 333, 339 f. = NJW 1993, 1922 = GmbHR 1993, 427 = ZIP 1993, 917; BGH v. 13.11.1995 – II ZR 113/94, NJW 1996, 589 = GmbHR 1996, 111 = ZIP 1996, 68; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 31 GmbHG Rz. 19 ff.; a.M. Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 30 GmbHG Rz. 159, 164, 170 ff., § 31 GmbHG Rz. 29; eine Haftung nach § 31 GmbHG für den Fall der Verwandtschaft ablehnend: Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 52; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 41. 2 Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 36. 3 Dazu BGH v. 18.6.2007 – II ZR 86/06, BGHZ 173, 1 = GmbHR 2007, 1102 = ZIP 2007, 1705. 4 BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, NJW 1998, 2592, 2594 = ZIP 1998, 793 = GmbHR 1998, 935 mit Angaben zum Streitstand. 5 Vgl. Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 31. 6 So bereits 2. Aufl., Rz. 67 m.w.N. 7 Wilhelm in FS Flume II, 1978, S. 361; Immenga, ZGR 1975, 491; Fabritius, ZHR 144 (1980), 635; Wissmann, EWiR 1992, 788; Reemann, ZIP 1990, 1309 ff.; Kleffner, Erhaltung des Stammkapitals und Haftung nach §§ 30, 31 GmbHG, 1993, S. 177; Jungmann, DStR 2004, 688; Jungmann, WuB II C § 31 GmbHG 1.04; vgl. auch OLG Oldenburg v. 10.5.2001 – 1 U 52/99, GmbHR 2001, 865 = EWiR 2001, 761, das den Gesamtbetrag allerdings im Verhältnis der Beteiligung des Mitgesellschafters am Stammkapital der Gesellschaft kürzen will. 8 BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61, 64 ff. = ZIP 2002, 848, 850 = GmbHR 2002, 549 m. Anm. Bender.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 23

§ 2 Rz. 2.32 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Stammkapitals1, wobei z.T. die eigene Einlage des in Anspruch genommenen Mitgesellschafters in Abzug gebracht wird2. Diese herrschende Ansicht kann bei wiederholten Ausschüttungen an mehrere Gesellschafter zur Haftung auf das Mehrfache des Stammkapitals führen. Die hier in den Vorauflagen vertretene, vom BGH abgelehnte3 Gegenauffassung begrenzt die Haftung auf die Stammeinlage des jeweils ausgefallenen Rückzahlungsschuldners, vor allem also des nach § 31 Abs. 1 GmbHG rückzahlungspflichtigen Empfängers4. Dieses Haftungskonzept wird spiegelbildlich aus § 24 GmbHG abgeleitet. Der Empfänger haftet, ähnlich wie ein Einlageschuldner, in voller Höhe. Für ihn haften die anderen bis zur Höhe der vom Empfänger versprochenen Stammeinlage, und jeder Mitgesellschafter haftet auch für jeden ausfallenden Mitgesellschafter bis zur Höhe von dessen Stammeinlage, woraus sich – ganz i.S. der Intention der herrschenden Meinung – für jeden Gesellschafter im schlimmsten Fall (Ausfall aller Mitgesellschafter) ein Gesamtrisiko in Höhe des Stammkapitals ergibt. Diese Ansicht ist jedoch im Einklang mit der herrschenden Meinung abzulehnen. Anders als Teile der h.M. annehmen, ist dies zwar nicht darauf zurückzuführen, dass eine Geltung des § 24 GmbHG nur im Bereich der Kapitalaufbringung, nicht aber im Bereich des Kapitalerhaltungsrecht in Betracht kommt5. Denn insoweit wird verkannt, dass auch der BGH die funktionale Nähe des Rückzahlungsanspruchs aus § 31 GmbHG zum Einlageanspruch bejaht hat (vgl. hierzu Rz. 2.28)6. Eine Ableitung der Haftungsbegrenzung aus § 24 GmbHG ist daher zumindest in dogmatischer Hinsicht nicht ausgeschlossen, mag jedoch im Ergebnis dennoch nicht zu überzeugen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass zwischen dem Einlageanspruch der Gesellschaft und dem Rückzahlungsanspruch ein funktionaler Zusammenhang besteht, liegt der große Unterschied jedoch vor allem darin, dass der Einlageanspruch von vorneherein bei jedem Gesellschafter klar bestimmt ist und im Falle der Ausfallhaftung von den übrigen Gesellschaftern vollumfänglich abgedeckt wird. Die Höhe des Rückzahlungsanspruchs richtet sich hingegen nach der im jeweiligen Einzelfall erfolgten Auszahlung. Aus Gläubigerschutzgründen ist daher nicht nachvollziehbar, warum die anderen Gesellschafter nur bis zur Höhe der vom Empfänger versprochenen Stammeinlage haften sollen. Vielmehr ist erforderlich, dass aufgrund des Gläubigerschutzes, welcher Sinn und Zweck des § 31 Abs. 3 GmbHG ist, bis zur Höhe des Stammkapitals gehaftet wird7. Die übrigen Gesellschafter haften folglich spiegelbildlich zu dem von ihnen übernommenem Risiko (vgl. § 24 GmbHG) bis zur Höhe der Stammkapitalziffer8. Für 1 BGH v. 22.9.2003 – II ZR 229/02, GmbHR 2003, 1420, 1424 = NJW 2003, 3629, 3632 = ZIP 2003, 2068; BGH v. 11.7.2005 – II ZR 285/03, GmbHR 2005, 1351 = NJW-RR 2005, 1485 = ZIP 2005, 1638; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 24; Habersack in Habersack/Casper/ Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 117, § 31 GmbHG Rz. 55; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 38; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 61; dort weitere Nachweise. 2 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 31 GmbHG Rz. 22; auch hiergegen Pentz in Rowedder/ Pentz, § 31 GmbHG Rz. 38 a.E. 3 BGH v. 22.9.2003 – II ZR 229/02, GmbHR 2003, 1420, 1424; unentschieden noch BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61, 66 = ZIP 2002, 848, 850 = GmbHR 2002, 549 m. Anm. Bender. 4 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1143; zur Begründung dieses Standpunkts vgl. Karsten Schmidt in FS Raiser, 2005, S. 311 ff.; Karsten Schmidt, BB 1985, 156 f.; Karsten Schmidt, BB 1995, 530 f.; in der 9. Aufl. noch zust. Scholz/H.P. Westermann, § 31 GmbHG Rz. 30; vgl. dagegen 13. Aufl., § 31 GmbHG Rz. 61 (Verse); ausführliche Auseinandersetzung bei Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 31 GmbHG Rz. 66. 5 So wohl aber Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 31 GmbHG Rz. 67. 6 BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, DStR 2012, 1144, 1148 = GmbHR 2012, 740 m. Anm. Röck = ZIP 2012, 1071. 7 So auch Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 31 GmbHG Rz. 71. 8 Vgl. Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 21; Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 31 GmbHG Rz. 71 f.; Abzulehnen ist hingegen die weitergehendende Ansicht, die eine Beschränkung

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§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.34 § 2

die h.M. spricht ferner, dass die Höhe der Ausfallhaftung der anderen Gesellschafter davon abhängen würde, ob es sich bei dem Zahlungsempfänger um einen Mehrheitsgesellschafter oder einen Minderheitsgesellschafter handelt. Eine solche Differenzierung ist jedoch aus Sicht der Gläubiger nicht nachvollziehbar, da es für sie ohne Belang ist, ob das Gesellschaftskapital um 100.000 Euro aufgrund einer Zahlung an einen Minderheits- oder an einen Mehrheitsgesellschafter gesunken ist. Bei der Haftung nach § 31 Abs. 3 GmbHG handelt es sich um keine gesamtschuldnerische Haftung, sondern jeder Gesellschafter haftet entsprechend dem Verhältnis seiner Geschäftsanteile, da er auch nur insoweit ein Risiko übernommen hat1. Der Unterschied zwischen den streitenden Ansichten sei an einem Beispiel dargestellt: Es sei angenommen, die Gesellschafter A, B, C, D und E wären am Stammkapital von 50.000 Euro mit je 10.000 Euro beteiligt, und es hätte der E eine verbotene Ausschüttung von 100.000 Euro erhalten. E muss dann diese Summe zurückzahlen (§ 31 Abs. 1 GmbHG). Fällt er ganz oder teilweise aus, so müssten A-D einspringen (§ 31 Abs. 3 GmbHG), aber nicht mit je 25.000 Euro (unbeschränkte Haftung). Nach h.M. haften sie mit je 12.500 Euro (Begrenzung auf das Stammkapital), nach der Gegenansicht mit je 2.500 Euro (Begrenzung auf die Einlage des Empfängers), dies allerdings auch mit Ausfallhaftung füreinander. Ganz wie im Fall des § 24 GmbHG kann sich eine solche Ausfallhaftung maximal bis zur Höhe des Stammkapitals (abzüglich der eigenen Einlage) addieren, wenn nämlich alle Mitgesellschafter verbotene Einlagen empfangen haben und als Schuldner ausfallen. Angenommen, es hätte jeder Gesellschafter entgegen § 30 GmbHG 10.000 Euro erhalten, und nur A wäre solvent, so haftete A in Höhe von 10.000 Euro auf Rückzahlung der selbst empfangenen Summe, und zusätzlich nach § 31 Abs. 3 GmbHG in Höhe von viermal 10.000 Euro.

2.33

bb) Neben die summenmäßig auf die Höhe des Stammkapitals begrenzte Ausfallhaftung gemäß § 31 Abs. 3 GmbHG kommt jedoch zusätzlich auch eine Verhaltenshaftung für die Mitwirkung der Schädigungen des Gesellschaftsvermögens durch verbotene Auszahlungen in Betracht2. Dabei handelt es sich um eine Verschuldenshaftung, die summenmäßig nicht begrenzt ist3. Der BGH hatte diese Verschuldenshaftung ursprünglich ebenfalls angenommen4, diese Rechtsprechung jedoch im Jahre 1999 wieder aufgegeben und klargestellt, dass die übrigen Gesellschafter grundsätzlich keinen Schadensersatz zu leisten haben, wenn sie an der verbotenen Auszahlung mitwirken5. Durch die grundsätzliche Anerkennung der sog. Existenzvernichtungshaftung im „Bremer-Vulkan“-Urteil, schaffte der BGH dem Grunde nach jedoch wieder eine Verhaltenshaftung für die übrigen Gesellschafter6. Dies freilich mit Begrenzung

2.34

1 2 3 4 5

6

der Haftung auf die Höhe des Stammkapital ablehnt und stattdessen eine unbeschränkte Haftung befürwortet. Eine derart weitgehende Haftung aus § 31 Abs. 3 GmbHG ist jedoch nicht mit dem Leitbild der GmbH gemäß § 13 Abs. 2 GmbHG vereinbar, da diese keine Nachschuss- oder Verlustdeckungspflicht kennt. Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 31 GmbHG Rz. 73. Dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1144 ff. Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 28 f.; Altmeppen, ZIP 2002, 961, 967. BGH v. 10.12.1984 – II ZR 308/83, BGHZ 93, 146 = GmbHR 1985, 191 = ZIP 1985, 279; vgl. auch BGH v. 27.3.1995 – II ZR 30/94, GmbHR 1995, 442 = ZIP 1995, 736 (betr. GmbH & Co. KG). BGH v. 21.6.1999 – II ZR 47/98, BGHZ 142, 92 = GmbHR 1999, 921; dazu Pentz in Rowedder/ Pentz, § 31 GmbHG Rz. 48; zustimmend Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 31 GmbHG Rz. 71; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 31 GmbHG Rz. 24; scharf ablehnend Wilhelm, DB 1999, 2349; Altmeppen, ZIP 1999, 1354 f.; Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 28 f., differenzierend Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 68. BGH v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, GmbHR 2001, 1036 = ZIP 2001, 1874; bestätigt durch BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, GmbHR 2002, 520 = ZIP 2002, 848.

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§ 2 Rz. 2.34 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

auf existenzgefährdende Eingriffe1 und unter den einschränkenden Voraussetzungen welche der BGH im „Trihotel“-Urteil sowie dem „Gamma“-Urteil aufgestellt hat (dazu Rz. 40.2)2. Eine gläubigerschädigende Plünderung der eigenen Gesellschaft kann eine derartige Haftung auslösen. Aber die bloße Mitwirkung an einem Verstoß gegen § 30 GmbHG hat diese Folge nicht.

4. Abtretung, (Ver-)Pfändung, Verjährung 2.35

a) Die Forderung aus § 31 GmbHG ist Bestandteil des Gesellschaftsvermögens und damit abtretbar, pfändbar und verpfändbar. Diese Verfügungen sind in ihrer Wirksamkeit nicht davon abhängig, dass sie durch eine gleichwertige Gegenleistung ausgeglichen werden. Beispielsweise ist auch eine Pfändung des sich aus § 31 GmbHG ergebenden Anspruchs – selbstverständlich unter dem Vorbehalt einer Anfechtung im Fall nachträglicher Insolvenz (§§ 129 ff. InsO) – nicht von der Vollwertigkeit des Gläubigeranspruchs abhängig3.

2.36

b) Nach § 31 Abs. 5 GmbHG verjährt der gegen den Empfänger gerichtete Rückzahlungsanspruch aus § 31 Abs. 1 GmbHG in zehn Jahren vom Zeitpunkt der verbotenen Leistung an, der Anspruch aus § 31 Abs. 3 GmbHG bezüglich der Haftung von Mitgesellschaftern in fünf Jahren. Die Verjährung beginnt mit dem Ablauf des Tages, an welchem die Zahlung, deren Erstattung beansprucht wird, geleistet ist. Wird vor der Verjährung das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet, so tritt die Verjährung nicht vor Ablauf von sechs Monaten nach der Verfahrenseröffnung ein (vgl. § 31 Abs. 5 Satz 2 i.V.m § 19 Abs. 6 Satz 2 GmbHG).

5. Geschäftsführerhaftung 2.37

a) Eine Geschäftsführerhaftung wegen Verstoßes gegen § 30 GmbHG kann sich aus § 43 GmbHG ergeben (vgl. ausdrücklich § 43 Abs. 3 GmbHG)4. Es haften auch Geschäftsführer, die nicht selbst gegen § 30 GmbHG verstoßen, wohl aber den Verstoß bemerkt und ihn nicht verhindert haben5. Bei der Ermittlung des entstanden Schadens bleibt der ebenfalls bestehenden Rückzahlungsanspruch gemäß § 31 Abs. 1 GmbHG außer Betracht6. Allerdings entfällt 1 BGH v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, BGHZ 149, 10 = NJW 2001, 3622 = GmbHR 2001, 1036 = ZIP 2001, 1874; seither std. Rspr. 2 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 264 = GmbHR 2007, 927 = ZIP 2007, 1552. 3 Vgl. nur Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 31 GmbHG Rz. 6; Pentz in Rowedder/Pentz, § 31 GmbHG Rz. 4; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 8, 29; Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 8; str. Einen eigenen, unmittelbar gegen die Gesellschafter gerichteten Anspruch der Gläubiger aus § 31 GmbHG lehnt der BGH und die h.M. hingegen ab, vgl. BGH v. 4.5.1977 – VIII ZR 298/75, BGHZ 68, 312, 319 = GmbHR 1977, 198; Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 31 GmbHG Rz. 7; a.A.: Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 9; Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 8. 4 BGH v. 20.3.1986 – II ZR 114/85, WM 1986, 789 = GmbHR 1986, 302 = ZIP 1987, 1050; BGH v. 13.3.2006 – II ZR 165/04, GmbHR 2006, 537; OLG Hamburg v. 31.8.2005 – 11 U 55/04, NZG 2005, 1008 = ZIP 2006, 805 = GmbHR 2005, 1497 = ZIP 2005, 1968. 5 BGH v. 20.3.1986 – II ZR 114/85, WM 1986, 789 = GmbHR 1986, 302 = ZIP 1987, 1050; BGH v. 25.6.2001 – II ZR 38/99, BGHZ 148, 167 = GmbHR 2001, 771 = ZIP 2001, 1458. 6 BGH v. 29.9.2008 – II ZR 234/07, GmbHR 2008, 1319 = ZIP 2008, 2217; Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 380; Altmeppen, § 43 GmbHG Rz. 120. Umstritten ist, ob zwischen dem nach § 43 Abs. 3 GmbHG Geschäftsführer und dem nach § 31 Abs. 1 GmbHG haftenden Gesellschafter eine Gesamtschuld besteht, dafür: Altmeppen, § 43 GmbHG Rz. 120; dagegen: Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 395.

26 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.40 § 2

der Schaden, wenn der Rückzahlungsanspruch durch den Gesellschafter erfüllt wird1. Die bloße Erzielung von Gewinnen beseitigt den Schaden ebenso wenig, wie sie den haftenden Gesellschafter befreit (vgl. dazu Rz. 2.30). Zur Inanspruchnahme der Gesellschafter sind die Geschäftsführer verpflichtet2. Wird dies versäumt, so kann auch dies die Haftung eines an der Auszahlung nicht beteiligten Geschäftsführers begründen. Das Verbot und seine Sanktion trifft auch sog. faktische Geschäftsführer (zu ihnen vgl. Rz. 16.91 f.). Bloße Mitarbeiter der GmbH – auch Prokuristen3 – sind nicht Adressaten des in § 30 GmbHG enthaltenen Verbots, können aber für erkennbare, von ihnen veranlasste oder durchgeführte Verstöße gegen § 30 GmbHG unter dem Gesichtspunkt der Vertragsverletzung zum Schadensersatz verpflichtet sein4. Den Geschäftsführer entlastet das Handeln durch diese Angestellten nicht. Er haftet für schuldhaftes Gewährenlassen und wird hiervon auch durch eine etwaige Verantwortlichkeit der Mitarbeiter nicht befreit5.

2.38

b) Ein Gesellschafterbeschluss, der eine nach § 30 GmbHG unzulässige Auszahlung anordnet, entlastet die Geschäftsführer nicht6. Die Geschäftsführerhaftung kommt auch in einem solchen Fall zum Zuge, soweit dies zur Befriedigung von Gesellschaftsgläubigern erforderlich ist (§ 43 Abs. 3 Satz 3 GmbHG). Richtigerweise kann ein solcher Beschluss, wenn er einen Verstoß gegen das Verbot anordnet, nichtig sein7. Doch ist dieser Fall eines intendierten Verstoßes gegen § 30 GmbHG selten. In einfachen Fällen der Beschlussfassung über eine Ausschüttung oder Zuwendung ist schlicht der Vollzug des Beschlusses verboten, sobald dieser Vollzug auf Kosten der Kapitaldeckung erfolgen würde (vgl. auch Rz. 2.23)8. Dazu braucht der Beschluss nicht angefochten zu werden9. § 30 GmbHG setzt bei der Zahlung und nicht bei der Beschlussfassung an. Das Verbot gilt auch, wenn der die Ausschüttung anordnende Beschluss selbst in einem Zeitpunkt gefasst wurde, in dem die Auszahlung problemlos gewesen wäre10.

2.39

c) Die strafrechtliche Relevanz des Kapitalerhaltungsgebots ist umstritten. Einschlägiger Straftatbestand ist die Untreue nach § 266 StGB11. Zwischen der GmbH und dem Geschäfts-

2.40

1 OLG Hamburg v. 31.8.2005 – 11 U 55/04, NZG 2005, 1008, 1011 = GmbHR 2005, 1497 = ZIP 2005, 1968. 2 Altmeppen, § 31 GmbHG Rz. 8. 3 Dazu Müller, ZGR 2003, 441, 455. 4 BGH v. 25.6.2001 – II ZR 38/99, GmbHR 2001, 771 = ZIP 2001, 1458; Habersack in Habersack/ Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 23; a.M. Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 30 GmbHG Rz. 149, der auch Auszahlungen von Prokuristen als von § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG erfasst sehen will. 5 Vgl. Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 390. 6 Bayer/Scholz, GmbHR 2016, 841, 852; Klöhn in Bork/Schäfer, 4. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 70. 7 BFH v. 1.4.2003 – I R 51/02, BStBl. II 2003, 779 = GmbHR 2003, 1015; Karsten Schmidt/Bochmann in Scholz, § 45 GmbHG Rz. 74. 8 Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 140; ähnlich wohl Kort, ZGR 2001, 634. 9 Der Beschluss kann nach einer Entscheidung des OLG Celle sogar dann anfechtbar sein, wenn die Unterbilanz noch gar nicht vorhanden ist, sondern bevorsteht; vgl. OLG Celle v. 6.8.1997 – 9 U 224/96, GmbHR 1998, 140. 10 Vgl. BFH v. 7.11.2001 – I R 11/01, GmbHR 2001, 337, 338 f.; Karsten Schmidt/Bochmann in Scholz, § 45 GmbHG Rz. 74. 11 Eingehend Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 5 ff.; Klinger in Rowedder/Pentz, vor § 82 GmbHG Rz. 8; Schäfer, GmbHR 1993, 787 ff.; Wodicka, Die Untreue zum Nachteil der GmbH bei Zustimmung aller Gesellschafter, 1993.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 27

§ 2 Rz. 2.40 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

führer besteht ein Treueverhältnis, die diesen dem Treubruchtatbestand unterwirft1. Der BGH ist in früheren Jahren mit der Anwendung des § 266 StGB im Kapitalschutzbereich außerordentlich schnell bei der Hand gewesen2. Eine Gegenansicht will § 266 StGB jedenfalls bei der Zustimmung aller Gesellschafter ausschließen, weil diese über das Vermögen der GmbH disponieren können und die Gläubiger daran keine eigenen Vermögensrechte haben3. Aber diese Dispositionsbefugnis endet an der Grenze des gesetzlichen Ausschüttungsverbots, so dass sich der Geschäftsführer jedenfalls dann nach § 266 StGB strafbar macht, wenn er vorsätzlich gegen § 30 GmbHG verstößt, sei es mit oder ohne Zustimmung der Gesellschafter4. Ob der strafrechtliche Kapitalschutz noch weiter reicht, ist umstritten. Als herrschend kann wohl die Auffassung angesehen werden, dass der Geschäftsführer dann den Straftatbestand der Untreue verwirklicht, wenn er durch die willkürliche Verschiebung von Vermögen die Gesellschaft existenzgefährdend schädigt, sei es auch mit Zustimmung der Gesellschafter und ohne Beeinträchtigung des Stammkapitals5. Die von der Strafrechtsdoktrin meist beschworene Bestimmtheit der Tatbestände lässt allerdings auch nach dieser Entschärfung zu wünschen übrig. Jedenfalls kann allen Geschäftsführern nicht entschieden genug in das Bewusstsein gerufen werden, dass die GmbH auch in strafrechtlicher Hinsicht als Rechts- und Vermögenssubjekt respektiert werden muss, und zwar auch im Fall einer Einpersonen-GmbH6. Dieser strafrechtliche Schutz der GmbH setzt bereits vor der nach § 15a Abs. 4, 5 InsO gleichfalls strafbewehrten Insolvenzantragspflicht (Rz. 38.1 ff.) ein. Nur bei der GmbH & Co. KG erkennt die strafgerichtliche Rechtsprechung einen untreuerechtlichen Schutz des Gesellschaftsvermögens nicht an und prüft Untreue nur zum Nachteil der einzelnen Gesellschafter7. Das steht im Widerspruch zu dem sogleich zu entwickelnden Kapitalsicherungssystem der GmbH & Co. KG8.

1 Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 8, 16 („Einlagen-Rückgewähr“). 2 BGH v. 29.5.1987 – 3 StR 242/86, BGHSt 34, 379 = GmbHR 1987, 464 = ZIP 1988, 306. 3 Vgl. Kubiciel, NStZ 2005, 353, 359; Altmeppen, GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 165 m.w.N.; Perron in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 266 StGB Rz. 21b; a.A. Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 8. 4 BGH v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, GmbHR 2012, 958 = ZIP 2012, 1451; BGH v. 6.5.2008 – 5 StR 34/08, JR 2008, 384 = wistra 2008, 379; BGH v. 11.8.1989 – 3 StR 75/89, GmbHR 1989, 465; dazu Schäfer, GmbHR 1993, 795. 5 Vgl. BGH v. 15.5.2012 – 3 StR 118/11, GmbHR 2012, 958 = ZIP 2012, 1451; BGH v. 24.8.1988 – 3 StR 232/88, BGHSt 35, 333 = GmbHR 1988, 477 = ZIP 1989, 370; BGH v. 11.11.1988 – 3 StR 335/ 88, BB 1989, 974; BGH v. 20.7.1999 – 1 StR 668/98, NJW 2000, 154; BGH v. 21.6.1999 – II ZR 47/ 98, BGHZ 142, 92, 94 = NJW 1999, 2817, 2818 = GmbHR 1999, 921 m. Anm. Müller; BGH v. 30.9.2004 – 4 StR 381/04, NStZ-RR 2005, 86; BGH v. 3.5.2006 – 2 StR 511/05, wistra 2006, 309; BGH v. 6.5.2008 – 5 StR 34/08, wistra 2008, 379 Rz. 14; BGH v. 31.7.2009 – 2 StR 95/09, BGHSt 54, 52, 58 = wistra 2010, 26 = ZIP 2009, 1860; BGH v. 28.5.2013 – 5 StR 551/11, NStZ 2013, 715, 717 m. krit. Anm. Trüg; Klinger in Rowedder/Pentz, vor § 82 GmbHG Rz. 15; Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 8 ff., 16 „Existenzvernichtender Eingriff“; Wodicka, Die Untreue zum Nachteil der GmbH bei Zustimmung aller Gesellschafter, 1993, S. 266 ff., 275 ff.; Bramsen, DB 1989, 1609, 1615; Maurer, GmbHR 2004, 1549, 1552; Schäfer, GmbHR 1993, 789 ff. = ZIP 2013, 1382; Heger in Lackner/Kühl, 29. Aufl., § 266 StGB Rz. 20a. 6 BGH v. 29.5.1987 – 3 StR 242/86, BGHSt 34, 379, 384 = GmbHR 1987, 464 = ZIP 1988, 306; BGH v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, BGHZ 149, 10 = GmbHR 2001, 1036; Schäfer, GmbHR 1993, 789 f.; Stapelfeld, BB 1991, 1502 f. = ZIP 2001, 1874. 7 Vgl. zusammenfassend BGH v. 10.7.2013 – 1 StR 532/12, JZ 2014, 909 = NJW 2013, 3590, 3593 m. krit. Anm. Brand; eingehend Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 22. 8 Dazu eingehend Karsten Schmidt, JZ 2014, 425 ff.; krit. auch Wessing, NZG 2014, 97, 99.

28 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.42 § 2

6. GmbH & Co. KG a) Im Fall der GmbH & Co. KG ist analog § 30 GmbHG auch das Vermögen der Kommanditgesellschaft geschützt1, und zwar auch gegen Auszahlungen an Nur-Kommanditisten2. Der Bundesgerichtshof setzt allerdings bezüglich des Tatbestands nicht bei der Kommanditgesellschaft, sondern bei der Komplementär-GmbH an, die durch die Komplementärhaftung bilanziell belastet und durch den ihr nach § 110 HGB (mit dem Inkrafttreten des MoPeG am 1.1.2024 ergibt sich der Freistellungsanspruch aus § 105 Abs. 3 HGB i.V.m. § 716 Abs. 1 BGB) zustehenden Freistellungsanspruch nur nach Maßgabe seiner Werthaltigkeit entlastet wird. Hieraus entnimmt die Rechtsprechung eine das Kapital der GmbH berührende Vermögensschmälerung auch bei Zahlungen aus dem KG-Vermögen und weist den sich aus § 31 GmbHG ergebenden Erstattungsanspruch der Kommanditgesellschaft zu3. Sinngemäß gelten damit auch die Ausführungen zu § 31 GmbHG und zur Geschäftsführerhaftung. Hierzu hat der BGH folgenden Leitsatz formuliert4:

2.41

„Der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH haftet nach § 43 Abs. 3 GmbHG für nach § 30 Abs. 1 GmbHG verbotene Auszahlungen aus dem Vermögen der Kommanditgesellschaft an einen Gesellschafter der Komplementär-GmbH gegenüber der Kommanditgesellschaft.“

Das zugrundeliegende Urteil betrifft einen komplizierten, aber überaus lehrreichen Fall: Der dem GmbH-Recht entnommene Kapitalschutz des KG-Vermögens trifft nach § 31 GmbHG den bzw. die Kommanditisten – auch als bloß mittelbare Kommanditisten – und nach § 43 Abs. 3 GmbHG den Geschäftsführer5. b) Umstritten war, ob diese Anwendung der §§ 30 ff. GmbHG auf Auszahlungen aus dem KG-Vermögen bei einer GmbH & Co. KG nach dem Vorbild z.B. der § 19 Abs. 2, § 130a a.F., § 131 Abs. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 138 Abs. 2 HGB) oder des § 15a Abs. 1 Satz 3 InsO auf Fälle begrenzt ist, in denen keine natürliche Person der Komplementärhaftung ausgesetzt ist. Der BGH hat im Urteil vom 9.12.2014 in diesem Punkt zwischen Nur-Kommanditisten und Auch-GmbH-Gesellschaftern unterschieden6: „Bei der GmbH & Co. KG ist eine Zahlung aus dem Vermögen der Kommanditgesellschaft an einen Gesellschafter der Komplementär-GmbH oder einen Kommanditisten eine nach § 30 Abs. 1 GmbHG verbotene Auszahlung, wenn dadurch das Vermögen der GmbH unter die Stammkapitalziffer sinkt oder eine bilanzielle Überschuldung vertieft wird. Wenn der Zahlungsempfänger (auch) Gesellschafter der Komplementär-GmbH ist, ist es für seine Haftung nach § 30 Abs. 1 GmbHG grundsätzlich ohne Bedeutung, ob daneben eine natürliche Person als Komplementär unbeschränkt haftet.“

1 BGH v. 29.3.1973 – II ZR 25/70, BGHZ 60, 324 = NJW 1973, 1036; BGH v. 27.9.1976 – II ZR 162/ 75, BGHZ 67, 171, 175 = NJW 1977, 104, 105 m. Anm. Karsten Schmidt; BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322; st. Rspr.; Heidinger in Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 169; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 172. 2 BGH v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, BGHZ 110, 342 = NJW 1990, 1725 = GmbHR 1990, 251; BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 3. Aufl. 2012, §§ 171/172 HGB Rz. 128; Heidinger in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 169; differenzierend Pöschke/Steenbreker, NZG 2015, 614, 619. 3 Zusammenfassend BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322; Pöschke/Steenbreker, NZG 2015, 614, 619; wohl auch Heidinger in Michalski/Heidinger/ Leible/J. Schmidt, § 30 GmbHG Rz. 170, 160. 4 BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322. 5 BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322. 6 BGH v. 9.12.2014 – II ZR 360/13, DB 2015, 369 = GmbHR 2015, 248 = ZIP 2015, 322.

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2.42

§ 2 Rz. 2.42 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Das Vorhandensein eines solventen Zweitkomplementärs kann nach dieser Entscheidung zwar bei der Feststellung der Unterbilanz eine Rolle spielen, weil sich die Mithaftung des MitKomplementärs als Ausgleichsanspruch auch im Vermögen der Komplementär-GmbH niederschlägt1. Die Anwendung des Kapitalschutzes als solche ist aber nicht ausgeschlossen.

2.43

c) Dementsprechend greift sogar in der GmbH & Still2 der Schutz auch bei Auszahlungen an stille Gesellschafter ein3. Selbstverständlich kann es hier in Anbetracht der fehlenden Rechtsund Insolvenzfähigkeit nur um die Anwendung der §§ 30 f. GmbHG auf die KomplementärGmbH ankommen, dies aber mit Rücksicht (auch) auf das virtuelle Gesamthandsvermögen der „Innen-KG“4 und unter Anwendung des § 31 GmbHG auch auf die atypisch stillen Gesellschafter als Quasi-Kommanditisten5. Durch Urteil vom 13.2.2006 hat der BGH dies in folgenden Worten bestätigt6: „Ein an einer GmbH beteiligter stiller Gesellschafter ist in Bezug auf die Kapitalerhaltungsregeln wie ein GmbH-Gesellschafter zu behandeln, wenn er aufgrund der vertraglichen Ausgestaltung des stillen Gesellschaftsverhältnisses hinsichtlich seiner vermögensmäßigen Beteiligung und seines Einflusses auf die Geschicke der GmbH weitgehend seinem GmbH-Gesellschafter gleichsteht.“

2.44–2.60

Einstweilen frei.

III. Liquiditätsschutz 1. Kreditgewährung oder Kreditbesicherung zu Lasten des Gesellschaftsvermögens: § 30 GmbHG als Liquiditätsschutz der Gesellschaft? 2.61

a) Zur Krisenvermeidung gehört auch die Sorge für Liquidität der Gesellschaft. Dies ist in erster Linie eine Geschäftsführeraufgabe.7 Der Geschäftsführer darf bei der Schwachstellenanalyse und Selbstprüfung des Unternehmens (Rz. 2.141 ff., Rz. 3.1 ff.) selbstverständlich die Gewährleistung nachhaltiger Liquidität nicht vernachlässigen. Das gebieten schon seine Pflichten aus § 43 GmbHG8. Nicht an die reine Liquidität der Gesellschaft anknüpfend, handelt es sich hingegen bei § 30 GmbHG um einen reinen Vermögensschutz, nicht jedoch um einen Liquiditätsschutz. Geschützt wird das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Reinvermögen der Gesellschaft gegen Ausschüttungen, die eine Unterbilanz herbeiführen oder vergrößern9. Der Tatbestand des § 30 GmbHG ist deshalb von einer bilanziellen Betrachtungsweise be1 Vgl. Gummert, DStR 2015, 761, 766. 2 Allgemein zur GmbH & Still: Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still, 7. Aufl. 2019 (passim). 3 BGH v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, BGHZ 106, 7, 9 ff. = NJW 1989, 982 = GmbHR 1989, 152; BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531 = ZIP 2006, 703; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 3. Aufl. 2012, § 230 HGB Rz. 171; Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10, 47. 4 Vgl. zu dieser Rechtsfigur Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2014, 1457 ff. 5 Vgl. Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2014, 1457 ff. 6 BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531 = ZIP 2006, 703; s. auch OLG Stuttgart v. 13.11.2008 – 19 U 115/08. 7 Vgl. Fleischer in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 62; Goetker in Flöther, § 1 StaRUG Rz. 37. 8 Diese bereits im Rahmen des § 43 GmbHG anerkannte Pflicht, ergibt sich nunmehr auch (mittelbar) aus § 1 Abs. 1 StaRUG. 9 Vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1133 ff.; Sotiropoulos, GmbHR 1996, 653 ff.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 30; Joost, GmbHR 1983, 285 ff.; Joost, ZHR 148 (1984), 27 ff.

30 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.63 § 2

herrscht (Rz. 2.23)1. Ein vermögensrechtlich neutraler Aktiventausch – mag er auch auf der Gesellschafterstellung eines Leistungsempfängers beruhen – ist nur eine Maßnahme der Mittelverwendung in der GmbH und kann keine verbotene Ausschüttung sein: Die Lieferung an einen Gesellschafter ist nur dann eine „Auszahlung“ i.S. von § 30 Abs. 1 GmbHG, wenn keine gleichwertige Gegenleistung erfolgt (verdeckte Gewinnausschüttung), die Kreditgewährung nur, wenn sie aus wirtschaftlicher Sicht à fonds perdu erfolgt (kein vollwertiger Rückgewähranspruch) oder wenn und soweit keine angemessenen Zinsen gezahlt werden (dann aber verdeckte Gewinnausschüttung nur in der Höhe der Zinsdifferenz). Die bloße Kreditgewährung oder Kreditbesicherung aus bzw. an dem Gesellschaftsvermögen stellt dagegen nach dieser rein vermögensrechtlichen Betrachtung keinen Verstoß gegen § 30 GmbHG dar, wenn der Gesellschafter als Darlehensnehmer kreditwürdig, der Rückzahlungs- bzw. Freistellungsanspruch der Gesellschaft also vollwertig ist2. b) Das hat die GmbH-Reform 2008 (MoMiG) klargestellt (§ 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Ein vollwertiger3 Rückgewähranspruch schließt danach die Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG auf die Ausreichung eines Kredits an einen Gesellschafter aus. Im Fall der Kreditbesicherung durch die Gesellschaft (Beispiel: Die Tochter-GmbH besichert einen von der Muttergesellschaft aufgenommenen Bankkredit) steht der Belastung der Gesellschaft ein Freistellungs- bzw. Regressanspruch gegen den Kreditnehmer gegenüber (§ 670 BGB bzw. §§ 774, 1143, 1225 BGB), und es kommt auf die Vollwertigkeit dieses Anspruchs an.

2.62

2. Überwundene Haftungsrisiken a) Zwischenzeitlich hatte der BGH auch die Kreditgewährung an Gesellschafter und – weitaus wichtiger – die Kreditbesicherung zugunsten von Gesellschaftern auf Kosten des Gesellschaftsvermögens unter § 30 Abs. 1 GmbHG subsumiert4. Das Schlagwort hieß: Aufgabe der bilanziellen Betrachtungsweise5. Im Sonnenring-Urteil des BGH vom 21.9.1981 hatte sich der lapidare Satz gefunden, auch eine zu Gunsten der Beklagten vereinbarte Stundung unterliege den Kapitalerhaltungsvorschriften der §§ 30, 31 GmbHG „mit der Folge, dass die Beklagte einen in der Stundung liegenden Vermögensvorteil nicht behalten dürfte, soweit er zu Lasten des Stammkapitals geht“6. Deutlicher wurde der BGH im „Novemberurteil“ vom 24.11.2003: „Kreditgewährungen an Gesellschafter, die nicht aus Rücklagen oder Gewinnvorträgen, sondern 1 Vgl. Begr. RegE MoMiG BT-Drucks. 16/6140, S. 41; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1133 ff.; kritisch zu der rein bilanziellen Betrachtungsweise Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 111. 2 Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 54 ff.; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 92 ff.; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 78 ff.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 67 ff.; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 71; Uwe H. Schneider in FS Döllerer, 1988, S. 543 f.; Sotiropoulos, Kredite und Kreditsicherheiten der GmbH zu Gunsten ihrer Gesellschafter und nahestehender Dritter, 1996, S. 33 ff., 96 ff.; Sotiropoulos, GmbHR 1996, 654 m.w.N. 3 Der Gesetzgeber wich damit von der Rspr. des BGH im sog. November-Urteil ab, in welchem dieser noch davon ausging, dass § 30 GmbHG ein über den allgemeinen Vermögensschutz hinausgehenden Liquiditätsschutz enthalte. Vgl. BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, NZG 2004, 233 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos = ZIP 2004, 263. 4 Vgl. mit erheblichen Unterschieden im Detail BGH v. 21.9.1981 – II ZR 104/80, BGHZ 81, 311, 321 = GmbHR 1982, 133, 136; BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos; OGH Wien v. 25.6.1996 – 4 Ob 2078/96, AG 1996, 572; OLG München v. 19.6.1998 – 21 U 6130/97, GmbHR 1998, 986; KG v. 11.1.2000 – 14 U 7683/97, NZG 2000, 479 m. Anm. Kleindiek. 5 Grundlegend Stimpel in FS 100 Jahre GmbHG, 1992, S. 335 ff.; Schön, ZHR 159 (1995), 351, 359 ff. 6 BGH v. 21.9.1981 – II ZR 104/80, BGHZ 81, 311, 321 = GmbHR 1982, 133, 136 = ZIP 1981, 1200.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 31

2.63

§ 2 Rz. 2.63 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

zu Lasten des gebundenen Vermögens der GmbH erfolgen, sind auch dann grundsätzlich als verbotene Auszahlung von Gesellschaftsvermögen zu bewerten, wenn der Rückzahlungsanspruch gegen den Gesellschafter im Einzelfall vollwertig sein sollte.“1 Diese Entscheidung hatte eine gesetzliche Vorgeschichte und ein gesetzliches Nachspiel. In § 43a GmbHG (Kredite an Geschäftsführer) hatte die Novelle von 1980 die Kreditgewährung an Gesellschafter nicht berücksichtigt und zwar in der Annahme, dass § 30 GmbHG auch Kreditgewährungen bei Unterbilanz erfasse. Dem Bundesratsvorschlag, auch Kredite an Gesellschafter dem § 43a GmbHG zu unterwerfen2, hatte die Bundesregierung mit dem Hinweis auf den hinreichenden Schutz durch § 30 GmbHG widersprochen3, und der Rechtsausschuss schloss sich dem an4. Der Wille des Gesetzgebers von 1980 war insofern eindeutig: Die Kreditvergabe bzw. Kreditbesicherung zu Gunsten von Gesellschaftern sollte nicht aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen bestritten werden!5 Die Frage war nur, ob dieser Schutz über § 30 GmbHG gewährt werden kann. Der IX. Zivilsenat des BGH hatte dies im Jahr 1998 noch ausdrücklich offen gelassen6, bevor dann der II. Zivilsenat im Novemberurteil von 2003 den § 30 GmbHG für anwendbar erklärte. Im vorliegenden Werk wurde die Anwendung des § 30 GmbHG auf die Ausreichung von Krediten an solvente Gesellschafter bereits in den Vorauflagen abgelehnt7.

2.64

b) Einen noch intensiveren Liquiditätsschutz ermöglichte die auf Uwe H. Schneider zurückgehende8, seither mehrfach diskutierte analoge Anwendung des § 43a GmbHG auf Kredite an Gesellschafter (und ggf. an ihnen nahestehende Dritte)9. Diese Auffassung hatte gegenüber dem Liquiditätsschutz über § 30 GmbHG, der für einen solchen Schutz nicht konzipiert ist, rechtssystematische und überdies auch rechtspolitische Vorteile10. Sie ging von der inzwischen durch das MoMiG unterstützten Annahme aus, die in der Reform von 1980 von Bundesregierung und Rechtsausschuss vertretene Ansicht, Kredite an Gesellschafter seien bereits nach § 30 GmbHG erfasst, sei rechtlich unrichtig und die sich hieraus ergebende Lücke sei durch analoge Anwendung des § 43a GmbHG zu füllen11. Überwiegend und auch durch das „Novemberurteil“ des BGH wurde die analoge Anwendung des § 43a GmbHG zwar abgelehnt12, aber sie hätte dem der 1 BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263; zust. z.B. Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, 1. Aufl., § 30 GmbHG Rz. 49; Bayer/Lieder, ZGR 2005, 133 ff.; Saenger/Koch, NZG 2004, 271 ff.; abl. z.B. Cahn, Der Konzern 2004, 235 ff.; Helmreich, GmbHR 2004, 457; J. Vetter, BB 2004, 1509, 1512. 2 BT-Drucks. 8/1347, S. 64, 67. 3 BT-Drucks. 8/1347, S. 72, 74. 4 BT-Drucks. 8/3908, S. 20. 5 A.M. Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 111. 6 BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, BGHZ 138, 291, 298 = NJW 1998, 2592, 2594 = ZIP 1998, 793 = GmbHR 1998, 935. 7 3. Aufl., Rz. 69; 4. Aufl., Rz. 1.45; vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1134; ausführlich dazu Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 78 ff.; wohl auch Scholz/H.P. Westermann, 10. Aufl. 2006, § 30 GmbHG Rz. 44 f.; zur Entwicklung der Rechtslage Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 33 ff. 8 Uwe H. Schneider in FS Döllerer, 1988, S. 537; Uwe H. Schneider, GmbHR 1982, 197. 9 Eingehend Sotiropoulos, Kredite und Kreditsicherheiten der GmbH zu Gunsten ihrer Gesellschafter und nahestehender Dritter, 1996, S. 17 ff., 37 ff., 100 ff.; Sotiropoulos, GmbHR 1996, 655; Standpunkt des Verfassers bei Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1147 ff. 10 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1147 ff. 11 Ebd., mit einem Konzernprivileg auf S. 1149; ausführlich Sotiropoulos, Kredite und Kreditsicherheiten der GmbH zu Gunsten ihrer Gesellschafter und nahestehender Dritter, 1996, S. 71 ff. 12 Vgl. etwa BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72, 74 = ZIP 2004, 263 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 43a GmbHG Rz. 8; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 13; Altmeppen, § 43a GmbHG Rz. 7; Schnorbus in Ro-

32 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.66 § 2

Novelle von 1980 zu Grunde liegenden Gesetzgeberwillen, auch Darlehen an Gesellschafter dem Kapitalschutz zu unterwerfen, voll und ganz Rechnung getragen, und zwar ohne Verbiegung des § 30 GmbHG. Seit der Reform von 2008 scheint ein Rückgriff auf § 43a GmbHG ausgeschlossen. Formaljuristisch könnte zwar argumentiert werden, dass § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG n.F. nur eine Anwendung des § 30 GmbHG auf die Ausreichung vollwertiger Kredite ausschließt. Aber die schärfere Rechtsfolge des § 43a GmbHG scheint nach dem aus dem MoMiG sprechenden Gesetzgeberwillen gleichfalls ausgeschlossen. Die Neufassung des § 30 Abs. 1 GmbHG schließt die Annahme einer ungewollten Lücke bezüglich der Kredite an Gesellschafter im Gesetz aus. Das hat Auswirkungen insbesondere in Buy-Out-Fällen (dazu Rz. 6.234).

3. Kredite an Gesellschafter nach geltendem Recht a) Die Reform von 2008 (MoMiG) hat den vor allem durch das „Novemberurteil“ des BGH ausgelösten Diskussionen1 durch Rückkehr zur bilanziellen Betrachtungsweise ein Ende bereitet2: Die Kreditgewährung an einen Gesellschafter aus dem zur Deckung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen verstößt nach § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG (Rz. 2.75) nicht mehr gegen das Ausschüttungsverbot, wenn sie durch einen vollwertigen Gegenanspruch gedeckt ist, m.a.W. nicht mehr als einen Aktiventausch bewirkt (Kasse gegen Forderung). Das Zahlungsverbot des § 30 GmbHG darf nur noch als eine Vermögensschutzregel, nicht mehr als eine Liquiditätsschutzregel verstanden werden (vgl. Rz. 2.63). Das aktienrechtliche MPS-Urteil vom 1.12.20083 zeigte alsbald, dass der II. Zivilsenat auch für Altfälle aus der Zeit vor dem MoMiG zur bilanziellen Betrachtungsweise zurückgekehrt ist.

2.65

b) Wie sich aus § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG ergibt, ist das Auszahlungsverbot gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG grundsätzlich weiterhin auch auf Kreditvergaben an Gesellschafter sowie auf die Besicherung von Krediten zu Gunsten der Gesellschafter anwendbar. Das Auszahlungsverbot gilt nur nicht für solche Kredite, die durch einen vollwertigen Gegenleistungsoder Rückgewährsanspruch gedeckt sind. Daraus ergibt sich folgende Prüfungsreihenfolge:

2.66

– Vor der Vergabe von Krediten an Gesellschafter ist eine im Fall der Kreditvergabe entstehende hypothetische Unterbilanz (unter Nichtmitrechnung des Darlehens-Rückgewähranspruchs) zu prüfen. Diese indiziert eine potenzielle Verletzung des § 30 Abs. 1 GmbHG. – Zu prüfen ist sodann die Vollwertigkeit des Anspruchs gegen den Kreditnehmer (im Fall der Kreditbesicherung die Vollwertigkeit des Freistellungsanspruchs gegen den Kreditnehmer). Ist die Vollwertigkeit gewährleistet, so schließt dies eine Verletzung des § 30 GmbHG aus. – Ferner ist für eine marktgerechte Verzinsung des Kredits (bei Kreditbesicherung für eine marktgerechte Avalprovision) zu sorgen (sonst Verstoß gegen § 30 GmbHG in Höhe der Zinsdifferenz, soweit das Eigenkapital nicht gedeckt ist)4.

1 2 3 4

wedder/Pentz, § 43a GmbHG Rz. 3; Kühbacher, Darlehen an Konzernunternehmen, 1993, S. 45 ff.; Schön, ZHR 159 (1995), 360. Dazu ausführlicher noch 4. Aufl., Rz. 1.44 ff. Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 41; dazu etwa Altmeppen, ZIP 2009, 49 ff.; Drygala/ Kremer, ZIP 2007, 1289, 1296; Kallmeyer, DB 2007, 2755, 2757; Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1074 f. BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 = GmbHR 2009, 199 m. Anm. Podewils. Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 252; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 120; a.A. Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 57; ein Verstoß gegen

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 33

§ 2 Rz. 2.66 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– Im Fall der Kreditbesicherung zu Lasten der Gesellschaft kommt es statt auf den Rückzahlungsanspruch auf den Freistellungsanspruch der Gesellschaft an1.

2.67

c) Hinzu kommen allgemeine Rechtspflichten der Geschäftsführer, insbesondere aus § 43 GmbHG, unter Einschluss einer nachlaufenden Deckungsprüfung2. Da die Vollwertigkeitsprüfung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG stichtagsbezogen ist (entscheidend ist der Zeitpunkt der Auszahlung, nicht der Verpflichtungszeitpunkt)3, geht sie mit einer Pflicht der Geschäftsführung einher, sich aus der Kreditgewährung oder -besicherung ergebende Bonitätsrisiken unter Kontrolle zu halten und ggf. auf sie mit der Ausübung von Kündigungsrechten oder durch Nachbesicherung zu reagieren4.

4. Kredite an Geschäftsführer 2.68

a) Für Kredite an Geschäftsführer, Prokuristen und Generalhandlungsbevollmächtigte – nach h.M. nicht für Kredite an Gesellschafter (Rz. 2.65) und auch nicht für Kredite an Aufsichtsratsmitglieder5 – gilt gemäß § 43a Satz 1 GmbHG das Verbot, Kredit aus dem zur Erhaltung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen auszureichen. Wird gegen das Verbot verstoßen, ist der Kredit ohne Rücksicht auf entgegenstehende Vereinbarungen sofort zurückzugewähren (§ 43a Satz 2 GmbHG). Als Zeitpunkt der Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis ist derjenige der Kreditausreichung oder -verlängerung, nicht des Kreditvertrags maßgebend6. Die Kreditgewährung an Dritte, die für Rechnung der in § 43a GmbHG genannten Personen handeln, wird den in § 43a GmbHG beschriebenen Krediten gleichgestellt, die Kreditgewährung an nahestehende Personen grundsätzlich auch, sofern darin zumindest eine mittelbare Zuwendung an die Normadressaten zu sehen ist7.

2.69

§ 43a GmbHG basiert auf dem Tatbestand einer fiktiven Unterbilanz8: Diese ist insofern fiktiv, als der Anspruch der Gesellschaft auf Darlehens-Rückzahlung aus der Bilanz weggedacht wird.9 – Bei Kreditgewährung durch die Gesellschaft zu Gunsten von Geschäftsführern gilt: Wenn das Reinvermögen der Gesellschaft – Aktiva minus Verbindlichkeiten – unter Vernachlässigung des Anspruchs auf Rückgewähr des Darlehens nicht mehr das Stammkapital deckt, ist die Kreditgewährung unerlaubt und nach § 43a Satz 2 GmbHG zurückzufordern10.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

§ 30 Abs. 1 GmbHG aufgrund einer ungemessenen Verzinsung erst bei einer Laufzeit von über einem Jahr befürwortend: Rothley/Weinberger, NZG 2010, 1001, 1006. BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, GmbHR 2017, 643 = ZIP 2017, 971. Vgl. BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 Rz. 14 = ZIP 2009, 70 (AG) = GmbHR 2009, 199 m. Anm. Podewils; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 111; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 89 m.w.N. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 16/6140, S. 41; BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, BGHZ 193, 96–110 = GmbHR 2012, 784 = ZIP 2012, 1071; Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 108; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 247. Begr. RegE BT-Drucks. 16/6140, S. 41; auch hierzu BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, BGHZ 179, 71 = ZIP 2009, 70 (AG) = GmbHR 2009, 199 m. Anm. Podewils. Nachweise bei Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 17. Vgl. nur Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 43a GmbHG Rz. 8. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 19; Löwisch in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43a GmbHG Rz. 16; differenzierend Verse in Scholz, § 43a GmbHG Rz. 17 ff. Vgl. BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, BGHZ 193, 96 = GmbHR 2012, 784 = ZIP 2012, 1071; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 43a GmbHG Rz. 1. Vgl. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 27; Verse in Scholz, § 43a GmbHG Rz. 28. Vgl. BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, BGHZ 193, 96 = GmbHR 2012, 784 = ZIP 2012, 1071.

34 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.73 § 2

– Bei Kreditbesicherung am Gesellschaftsvermögen – die ebenfalls als Kreditgewährung i.S. des § 43a Satz 1 GmbHG zu qualifizieren ist1 – zu Gunsten von Geschäftsführern gilt: Wenn das Reinvermögen der Gesellschaft unter Vernachlässigung ihres Freistellungs- bzw. Erstattungsanspruchs gegen den Kreditnehmer nicht mehr das Stammkapital deckt, da die mögliche Inanspruchnahme der Sicherheit zu einer realen Minderung des Reinvermögens führen musste, ist die Kreditgewährung unerlaubt2. Umstritten ist der für die bilanzielle Prüfung maßgebliche Zeitpunkt. Die herrschende Auffassung stellt auch hier auf den Zeitpunkt der Kreditgewährung ab3, während eine Gegenansicht einen Rückzahlungsanspruch auch bei erst nachträglicher Vermögensverschlechterung zuerkennen will4. Vertreter der herrschenden Auffassung berufen sich dabei insbesondere auf den Wortlaut des § 43a GmbHG „gewährt“, der augenscheinlich nur auf den Zeitpunkt der Auszahlung selbst abstellt. Ferner verweisen sie darauf, dass auch im Rahmen des § 30 GmbHG anerkannt ist, dass eine nachträglich entstehende Unterbilanz nicht zu einem Rückzahlungsanspruch führt5. Im Hinblick auf die herrschende Auffassung und der damit einhergehenden unterschiedlichen Behandlung einer nachträglichen Unterbilanz, empfiehlt sich die bei Rz. 2.72 dargestellte Vertragsgestaltung.

2.70

b) Ein Verstoß gegen § 43a GmbHG führt nicht zur Nichtigkeit des Kredit- oder Sicherungsgeschäfts6, sondern lediglich zu einem Leistungsverbot7 bzw. zu einer Pflicht der Geschäftsführer, Kredite zurückzufordern bzw. die Freigabe von Sicherheiten zu verlangen.

2.71

c) Kredite und Kreditsicherheiten zu Gunsten eines Geschäftsführers sollten zu Lasten der GmbH nur unter dem Vorbehalt gewährt werden, dass der Kreditnehmer diese Leistung bei Eintritt einer Unterbilanz zurückgewähren muss und im Fall einer Kreditbesicherung verpflichtet und gegenüber dem Kreditgeber – typischerweise: der Bank – berechtigt und verpflichtet ist, die am Gesellschaftsvermögen bestellte Sicherheit abzulösen oder zu ersetzen. Diese Dauerwirkung des Kapitalschutzes und die damit verbundene permanente nachlaufende Kontrolle bei Krediten und Kreditsicherheiten zu Gunsten eines Geschäftsführers ist ohne Parallele bei § 30 GmbHG, wo das Gesetz ganz auf den Zeitpunkt der Zuwendung abstellt (Rz. 2.23).

2.72

5. Konzerninterne Kredite a) Typischerweise beschränkten sich die Kapitalschutzprobleme auf aufsteigende Kredite („Upstream Loans“) bzw. Kreditsicherheiten zu Gunsten von Muttergesellschaften als Gesellschafterinnen. Absteigende Kredite („Downstream Loans“) werden grundsätzlich als 1 Vgl. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz:26; Löwisch in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43a GmbHG Rz. 29. 2 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 43a GmbHG Rz. 8; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 26; Löwisch in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43a GmbHG Rz. 29. 3 Vgl. für die h.M. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 43a GmbHG Rz. 10 m.w.N.; Verse in Scholz, § 43a GmbHG Rz. 34; Altmeppen, § 43a GmbHG Rz. 4; BGH v. 23.4.2012 – II ZR 252/10, BGHZ 193, 96 = GmbHR 2012, 784 = ZIP 2012, 1071. 4 So Uwe H. Schneider in Scholz, 11. Aufl., § 43a GmbHG Rz. 43; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1148; Schneider, GmbHR 1982, 197, 204; Sotiropoulos, GmbHR 1996, 653, 656. 5 Verse in Scholz, § 43a GmbHG Rz. 34; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 40. 6 Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 43a GmbHG Rz. 30; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 43a GmbHG Rz. 12; Verse in Scholz, § 43a GmbHG Rz. 40. 7 So auch Altmeppen, § 43a GmbHG Rz. 4, der im Auszahlungsverbot eine von Amts wegen zu beachtende Einrede sieht.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 35

2.73

§ 2 Rz. 2.73 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Maßnahmen der Kapitalverwendung in der GmbH, nicht als Quasi-Ausschüttungen an die Muttergesellschaft (vgl. allerdings zur Würdigung der Auszahlung an eine von den Gesellschaftern beherrschte Drittgesellschaft als Fall des Hin- und Herzahlens Rz. 6.20 ff.) betrachtet.1 So entschied etwa das OLG München2: „Die verbotene Einlagenrückgewähr i.S. des § 30 GmbHG setzt eine Minderung des im Gläubigerinteresse gebundenen Gesellschaftsvermögens voraus. Daran fehlt es bei einer Übertragung von liquiden (Sanierungs-)Mitteln auf eine hundertprozentige Tochter- oder Enkelgesellschaft bereits deshalb, weil sich dieser Vorgang für die übertragende Obergesellschaft als vermögensneutral darstellt: Im Umfang des Mittelabflusses erhöht sich nämlich der Wert ihrer Beteiligung.“ Zu bedenken ist allerdings, dass absteigende Darlehen in Bezug auf die Tochtergesellschaft dem Sonderrecht der Gesellschafterdarlehen (dazu Rz. 6.84 ff.) unterliegen können3.

2.74

b) Im Hinblick auf aufsteigende Kredite („Upstream Loans“) bzw. Kreditsicherheiten ist durch das MoMiG im Jahre 2008 ein Ausnahmetatbestand in § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG normiert worden. Ausgehend von dem Umstand, dass im Falle eines bestehenden Beherrschungsund Gewinnabführungsvertrag (§ 291 AktG analog) der beherrschende Vertragsteil gemäß § 302 Abs. 1 AktG analog jeden entstehenden Jahresfehlbetrag ausgleichen muss, ist der von § 30 GmbHG bezweckte Kapitalschutz in hinreichendem Umfang gewährleistet4. Folgerichtig sieht § 30 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 GmbHG eine Ausnahme von dem Auszahlungsverbot nach § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG für den Fall vor, dass ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag besteht. Diese nunmehr ausdrücklich normierte Ausnahme war bereits vor dem MoMiG von der h.M anerkannt, welche analog § 291 Abs. 3 AktG eine Ausnahme von der strengen Kapitalbindung des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG zuließ. Voraussetzung für das Konzernprivileg ist jedoch, dass ein – wenn auch fehlerhafter5 – Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag besteht. Allein die faktische Abhängigkeit reicht hingegen nicht aus6. Ferner steht das Konzernprivileg unter der Einschränkung, dass der Verlustausgleichsanspruch werthaltig ist7.

2.75

c) § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG enthält damit8 – die eindeutige Regelung eines Konzernprivilegs für Vertragskonzerne (Rz. 2.25) sowie – die schon bei Rz. 2.65 besprochene Festlegung des § 30 GmbHG auf eine bilanzielle Betrachtungsweise.

2.76

Für aufsteigende Kreditvergabe („Upstream loans“) bedeutet dies: – In jedem Konzern ist eine Darlehensgewährung an das herrschende Unternehmen zulässig, sofern der Rückgewähranspruch vollwertig ist9. 1 Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 183; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 59. 2 OLG München v. 6.7.2005 – 7 U 2230/05, ZIP 2006, 564 = GmbHR 2005, 1486 m. Anm. Schröder. 3 Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 133; näher Spindler, ZHR 171 (2007), 245, 269 ff. 4 Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 72 ff. 5 Vgl. Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 74. 6 Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 276; so bereits Sotiropoulos, Kredite und Kreditsicherheiten der GmbH zu Gunsten ihrer Gesellschafter und nahestehender Dritter, 1996, S. 73; Schön, ZHR 159 (1995), 372. 7 Eingehend Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 102; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 75; a.M. Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 278. 8 Eingehend Altmeppen, ZIP 2009, 49 ff. 9 Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 92.

36 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.78 § 2

– Im Vertragskonzern können an die nach § 302 AktG zum Verlustausgleich verpflichtete Muttergesellschaft nicht nur Kredite, sondern auch echte Ausschüttungen ohne Begrenzung durch § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG geleistet werden, sofern der Verlustausgleichsanspruch werthaltig ist1. d) Wiederum nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass eine Aushöhlung des Vermögens oder der Liquidität der Tochtergesellschaft gegen Geschäftsführerpflichten (§ 43 GmbHG) verstößt oder eine Haftung von Gesellschaftern wegen existenzvernichtenden Eingriffs nach sich zieht (zu dieser Haftung vgl. Rz. 2.34, 40.19 ff.)2. Die absteigende Kreditvergabe („Downstream loan“) ist Mittelverwendung in der kreditgebenden Gesellschaft (Rz. 2.73). Allerdings obliegt den Geschäftsführern im Rahmen der Mittelverwendung auch hier die Aufgabe der Vollwertigkeitsprüfung. Besonders hinzuweisen ist auch auf das Verbot, durch Zahlungen an Gesellschafter die Zahlungsunfähigkeit herbeizuführen (Rz. 40.9).

2.77

6. Cash Pool-Probleme a) Die Cash Pool-Diskussion resultiert teilweise noch aus dem dem MoMiG vorausgegangenen Recht und brachte sowohl Kapitalaufbringungsprobleme bei Kapitalerhöhungen (dazu Rz. 6.10 ff.) als auch Kapitalerhaltungsprobleme mit sich. Die Rede ist hier vom „echten“, nicht vom bloß rechnerischen („virtuellen“3) Cash Pooling, also von der (wenn die Formulierung bei Buchgeld erlaubt ist) „physischen“ Sammlung der Konzernliquidität auf einem Konto der Muttergesellschaft. Die Schwierigkeit war eine doppelte: Zum einen sah die Rechtsprechung den Cash Pool als einen Kredit an und vernachlässigte die treuhänderische Funktion dieses Sondervermögens. Zum anderen hatte die „Novemberentscheidung“ des BGH aus § 30 GmbHG eine Liquiditätsschutznorm gemacht (dazu Rz. 2.63 f.). Der bessere Denkansatz ist der, dass der Cash Pool wirtschaftlich wie ein Gemeinschaftskonto der Konzerngesellschaften funktioniert. Im Cash Pool-System hält gleichsam jede Konzerngesellschaft Buchgeld bei einem Gemeinschaftskonto4. Das Kapitalsicherungsproblem dieser Art Konzernfinanzierung resultiert im Grunde daraus, dass dieser Pool kein der Aufsicht unterliegendes Kreditinstitut ist und dass im Cash Pool die Gefahr einer Quersubventionierung der Gesellschaften und der konkurrierenden Mittelverwendung auch durch die Muttergesellschaft droht. Doch blieb die Rechtlage unsicher. – Unter Kapitalaufbringungsgesichtspunkten hatte der BGH durch Urteil vom 16.1.2006 die Einspeisung der Bareinlagen in einen bei der Muttergesellschaft gehaltenen Cash Pool wegen Fehlens der für die Einlageleistung erforderlichen freien Verfügung als unwirksam angesehen5. Die Gesellschafter hatten die Einlagen von je 750.000 DM auf ein Treuhandkonto der GmbH eingezahlt, und diese hatte sie in den bei der Muttergesellschaft geführten Cash Pool weitergeleitet, wo sie für Schuldentilgungen verwendet wurden. Die Gesellschafter wurden zur nochmaligen Einzahlung verurteilt. Der Leitsatz des BGH-Urteils lautet: „Die 1 Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 93 f., 102. 2 Begr. RegE MoMiG, BT-Drucks. 16/6140, S. 41. 3 Zum „virtuellen“ Cash Pooling („virtual cash pool“) vgl. m.w.N. Grothaus/Halberkamp, GmbHR 2005, 1317, 1322 f. 4 Skeptisch allerdings Burg/Westerheide, BB 2008, 62 ff. 5 BGH v. 16.1.2006 – II ZR 76/04, BGHZ 166, 8 = BB 2006, 847 m. Anm. Flitsch/Schellenberger = GmbHR 2006, 477; dazu eingehend m.w.N. Dieter Mayer in FS Priester, 2007, S. 445 ff.; Altmeppen, ZIP 2006, 1025 ff.; Gehrlein, MDR 2006, 789 ff.; Bayer/Lieder, GmbHR 2006, 449 ff.; Cahn, ZHR 166 (2002), 278 ff.; Hentzen, DStR 2006, 948 ff.; Lamb/Schluck-Amend, DB 2006, 879 ff.; Priester, ZIP 2006, 1557 ff.; Schmelz, NZG 2006, 456 ff.

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 37

2.78

§ 2 Rz. 2.78 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

in ein Cash Pool-System einbezogenen Gesellschaften mit beschränkter Haftung unterliegen – ohne dass ein Sonderrecht für diese Art der Finanzierung anerkannt werden könnte – bei der Gründung und der Kapitalerhöhung den Kapitalaufbringungsvorschriften des GmbHG und den dazu von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen.“ Diese Rechtsfolge war dramatisch, der empfohlene Ausweg in Gestalt einer Sachkapitalerhöhung1 wenig praxisnah. – Unter Kapitalerhaltungsgesichtspunkten hatte das „Novemberurteil“ des BGH (Rz. 2.63) auch und gerade hier für Diskussionsstoff gesorgt: Wenn die Ausreichung von Darlehen aus dem zur Deckung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen gegen § 30 GmbHG verstößt2, ist dann die Sammlung der Konzernliquidität bei der Muttergesellschaft verboten und haftungsrechtlich riskant3? Das OLG München hatte entschieden4: „Ein Finanzierungs- und Liquiditätsausgleich zwischen verbundenen Unternehmen (Cash Pool-Management) unter Einbeziehung gebundenen Vermögens verstößt jedenfalls dann gegen § 30 Abs. 1 GmbHG, wenn die Erhaltung des Stammkapitals nicht hinreichend abgesichert ist.“ Andere hingegen hielten das Cash Pooling auch unter dem Regime des „Novemberurteils“ für zulässig5. Der BGH hatte offen gelassen, „ob die Gewährung eines Darlehens aus gebundenem Vermögen ausnahmsweise zulässig sein kann, wenn die Darlehensvergabe im Interesse der Gesellschaft liegt, die Darlehensbedingungen dem Drittvergleich standhalten und die Kreditwürdigkeit des Gesellschafters selbst bei Anlegung strengster Maßstäbe außerhalb jedes vernünftigen Zweifels steht oder die Rückzahlung des Darlehens durch werthaltige Sicherheiten voll gewährleistet ist.“ Dieser Vorbehalt eignete sich allerdings wenig als Grundlage der Rechtfertigung einer Cash Pool-Finanzierung.

2.79

b) Die GmbH-Reform von 2008 (MoMiG) hat die Cash Pool-Finanzierung in verschiedener Hinsicht erleichtert, die Diskussion allerdings keineswegs beendet6: – In puncto Kapitalaufbringung durch Zahlung in einen dem Inferenten zuzurechnenden Cash Pool soll § 19 Abs. 5 GmbHG helfen: „Ist vor der Einlage eine Leistung an den Gesellschafter vereinbart worden, die wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage entspricht und die nicht als verdeckte Sacheinlage im Sinne von Absatz 4 zu beurteilen ist, so befreit dies den Gesellschafter von seiner Einlageverpflichtung nur dann, wenn die Leistung durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt ist, der jederzeit fällig ist oder durch fristlose Kündigung durch die Gesellschaft fällig werden kann. Eine solche Leistung oder die Vereinbarung einer solchen Leistung ist in der Anmeldung nach § 8 anzugeben.“

Ob auf die Kapitalerhöhung unter Verwendung des Cash Pool durchgehend § 19 Abs. 5 GmbHG anzuwenden7 oder ob zwischen den Fällen eines positiven oder negativen Saldos der das Kapital erhöhenden Tochtergesellschaft zu unterscheiden ist, ist allerdings noch umstrit1 Dazu Dieter Mayer in FS Priester, 2007, S. 445, 463 f.; Cahn, ZHR 166 (2002), 278, 303 ff.; Priester, ZIP 2006, 1557, 1560. 2 BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, BGHZ 157, 72 = ZIP 2004, 263 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos. 3 Vgl. nur Bender, BB 2005, 1492 ff.; Fuhrmann, NZG 2004, 552 ff.; Habersack/Schürnbrand, NZG 2004, 689 ff.; Langner, GmbHR 2005, 1017 ff.; Schilmar, DB 2004, 1411 ff.; Seidel, DStR 2004, 1130 ff. 4 OLG München v. 24.11.2005 – 23 U 3480/05, GmbHR 2006, 144; dazu Schilmar, DStR 2006, 568 ff. 5 Schäfer, GmbHR 2005, 133, 135 ff.; Ulmer, ZHR 169 (2005), 1, 3 ff.; Engert, BB 2005, 1951, 1956 f. 6 Dazu Pentz in Rowedder/Pentz, § 19 GmbHG Rz. 160 ff., § 30 GmbHG Rz. 37; Strohn, DB 2014, 1535. 7 Dafür Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 19 GmbHG Rz. 201.

38 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.82 § 2

ten. Die h.M. wendet bei negativem Saldo § 19 Abs. 4 GmbHG an (verdeckte Sacheinlage), bei positivem Saldo am Stichtag dagegen § 19 Abs. 5 GmbHG1. Insgesamt sprechen die Meinungsstreitigkeiten und die praktischen Anwendungsprobleme entschieden gegen eine alsbaldige Einspeisung der auf erhöhtes Stammkapital geleisteten Bareinlage in einen dem Einlageschuldner selbst zuzurechnenden Cash Pool2. – In puncto Kapitalerhaltung hilft der schon behandelte § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG (Rz. 2.62). Danach ist ein vollwertiges Cash Pool-Konto der Gesellschaft sowie ein Cash Management im Vertragskonzern unter dem Gesichtspunkt des § 30 GmbHG problemfrei. Es kommt also darauf an, ob ein Unternehmensvertrag vorliegt bzw. der Anteil der Gesellschaft am Cash Pool vollwertig und nach der Finanzsituation der den Cash Pool betreibenden (Mutter-)Gesellschaft zugunsten der Gesellschaft verfügbar ist3. Dann verstößt die Überführung der Liquidität in den Cash Pool nicht gegen § 30 GmbHG. Stets sollten die Beteiligten nach dem Grundsatz handeln, dass das Liquiditätsmanagement im Cash Pool nicht, wie Verfügungen über Bankkonten, bloß als Teil der Mittelverwendung durch die Gesellschaft, sondern im Verhältnis zwischen ihr und dem Gesellschafter (Mutterunternehmen) auch als Bestandteil der Aufbringung und Erhaltung von Stammkapital betrachtet und insoweit an den Maßstäben der §§ 19 und 30 GmbHG gemessen wird. Es ist hier nicht der Ort für Überlegungen, ob das Gesetz dem Cash Pool oder der Cash Pool dem Gesetz nicht gerecht wird. Vor allem, wenn die GmbH kein aktivisches Konto im Cash Pool führt, drohen Kapitaldeckungsrisiken.

2.80

Aufgrund der systematischen Ausgestaltung eines Cash-Pools und der damit zusammenhängenden Liquiditätsverlagerung auf eine (Mutter-)Gesellschaft, treffen den Geschäftsführer hier – wie auch bei sonstigen Darlehen – Überprüfungspflichten hinsichtlich der Werthaltigkeit des Rückzahlungsanspruchs. Aufgrund des Umstands, dass beim Cash-Pool regelmäßig sämtliche Liquiditätsüberschüsse an die Muttergesellschaft überwiesen werden, sollte der Geschäftsführer ein besonders sorgfältig ausgestaltetes Informations- bzw. Frühwarnsystem implementieren4. Derartige Informationsrechte gegenüber der Muttergesellschaft sollten am besten bereits im Rahmen des Cash-Pool Vertrag vereinbart werden.

2.81

7. Verbot solvenzbedrohender Auszahlungen und Kreditbesicherungen? a) Auf ein Verbot solvenzbedrohender Entnahmen jenseits des § 30 GmbHG wurde hier schon vor der gesetzlichen Regelung hingewiesen5. Das OLG Karlsruhe hatte im Jahr 1997 1 BGH v. 20.7.2009 – II ZR 273/07, BGHZ 182, 103 = GmbHR 2009, 926 m. Anm. Bormann; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 19 GmbHG Rz. 129 ff.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 19 GmbHG Rz. 161 ff.; Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 37 ff.; Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 19 GmbHG Rz. 337 f.; Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 164 ff. m.w.N.; krit. Altmeppen, ZIP 2009, 1545 ff. 2 Vgl. Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 19 GmbHG Rz. 207; Komo, BB 2011, 2307, 2313; Theiselmann, Der Konzern 2009, 460, 462; Theusinger, NZG 2009, 1017, 1018. 3 Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl., § 30 GmbHG Rz. 184 ff., 188; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 37 ff.; bei Bestehen eines Unternehmensvertrags wird auf das Merkmal der Vollwertigkeit verzichtet; vgl. Habersack in Habersack/Casper/Löbbe, § 30 GmbHG Rz. 89; Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 62; gegen einen Verzicht auf das Merkmal der Vollwertigkeit bei Bestehen eines Unternehmensvertrags: Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 102. 4 Vgl. Pentz in Rowedder/Pentz, § 30 GmbHG Rz. 37 d. 5 3. Aufl., Rz. 80: vorgezogener Kapitalschutz nach § 826 BGB?

Karsten Schmidt/Schluck-Amend | 39

2.82

§ 2 Rz. 2.82 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

rechtskräftig entschieden1: „Die Befugnis zur Disposition über das Vermögen einer GmbH durch den Alleingesellschafter (oder die Gesamtheit aller Gesellschafter) stößt auch jenseits des von § 30 GmbHG gewährten Vermögensschutzes auf das schutzwerte Eigeninteresse der Gesellschaft, wenn es um die Haftung für den Entzug von existenznotwendiger Liquidität geht. Die Disposition des Gesellschafters über das Vermögen der GmbH wird auch außerhalb gesellschaftsrechtlicher Regeln durch Gesetz und Sittenordnung begrenzt. Auch die eingliedrige GmbH ist bei sittenwidriger Verfügung über ihr Vermögen durch den Alleingesellschafter in den Schutzbereich des § 826 BGB einbezogen“. Seit 2008 bis 31.12.2020 galt § 64 Satz 3 GmbHG, wonach insolvenzauslösende Auszahlungen an Gesellschafter den Geschäftsführer zur Erstattung verpflichten. Seit dem 1.1.2021 werden die seither im Gesellschafrecht verstreuten Zahlungsverbote bei Insolvenzreife im neu geschaffenen § 15b InsO zusammengefasst. Gemäß § 15b Abs. 5 Satz 1 InsO führen Zahlungen, die zur Zahlungsunfähigkeit der juristischen Person führen mussten, zu einer Rückzahlungspflicht des Geschäftsführers, es sei denn dies war auch bei Beachtung der in § 15b Abs. 1 Satz 2 InsO bezeichneten Sorgfalt nicht erkennbar. Unter Existenzvernichtungsgesichtspunkten kommt auch eine Gesellschafterhaftung in Betracht (dazu Rz. 40.1 ff.).

2.83

b) Dieser Schutz ist auf die Bestellung von Sicherheiten auszudehnen. Insolvenzauslösende Kreditsicherheiten zu Gunsten von Gesellschaftern dürfen unabhängig von § 30 GmbHG (bzw. § 43a GmbHG) nicht bestellt werden. Dieses Verbot kompensiert eine Schwachstelle des gesetzlichen Solvenzschutzsystems2. Auch ohne bereits als verbotene „Auszahlung“ unter § 30 Abs. 1 GmbHG zu fallen (Rz. 2.66), ist die Verwendung von Gesellschaftsvermögen zur Besicherung von Schulden der Gesellschafter im Innenverhältnis grundsätzlich unerlaubt, soweit dieses Vermögen für die eigene Liquiditätssicherung, insbesondere für die Besicherung von Bankkrediten, unentbehrlich ist. Geschäftsführer haften ggf. nach § 43 GmbHG sowie nach § 15b Abs. 5 InsO, wenn die Besicherung zugunsten des Gesellschafters kausal für den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit war. Gesellschafter nur in den engeren Grenzen der Existenzvernichtungshaftung (Rz. 40.1 ff.).

8. Fazit 2.84

§ 30 GmbHG bleibt reiner Vermögensschutz. Daneben ergibt sich damit auch ohne Überdehnung des § 30 GmbHG ein umfangreiches Liquiditätsschutzarsenal. Für die Geschäftsführung einer GmbH ergeben sich hieraus bereits vor der Krise und erst recht in der Krise strenge Verhaltensregeln: – Ausschüttungen, auch verdeckte und mittelbare Ausschüttungen, unterliegen dem strikten Verbot des § 30 GmbHG, wenn sie eine Unterbilanz herbeiführen oder verschärfen. – Kredite und Kreditsicherheiten zu Gunsten von Gesellschaftern (auch: Muttergesellschaften) sind Gegenstand der Mittelverwendung in der Gesellschaft. Die Ausreichung oder Besicherung von Krediten auch aus dem zur Deckung des Stammkapitals erforderlichen Vermögen kann unter Kapitalschutzgesichtspunkten zulässig sein, vorausgesetzt, der Rückgewähranspruch ist vollwertig (§ 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Die Leistungen müssen aber zurückgefordert bzw. von den Gesellschaftern abgelöst werden, sobald ohne Aktivierung des Rückforderungs- bzw. Freistellungsanspruchs der Gesellschaft eine (fiktive) Unterbilanz entsteht. Insoweit trifft den Geschäftsführer eine ständige Überwachungspflicht. 1 OLG Karlsruhe v. 25.7.1997 – 15 U 131/96, GmbHR 1998, 235. 2 Vgl. sinngemäß schon 3. Aufl., Rz. 89.

40 | Karsten Schmidt/Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.103 § 2

– Kredite an Geschäftsführer verstoßen gegen § 43a GmbHG, wenn durch sie im Zeitpunkt der Leistung eine fiktive Unterbilanz entsteht. Sinngemäß Gleiches gilt für die Besicherung von Krediten an Geschäftsführer aus Vermögen der Gesellschaft. – Solvenzbedrohende Zahlungen und Kreditbesicherungen sind unabhängig von §§ 30, 43a GmbHG untersagt und verpflichten ggf. den Geschäftsführer zum Ersatz (vgl. § 15b Abs. 5 InsO, § 43 GmbHG und dazu Rz. 40.9 ff.). Einstweilen frei.

2.85–2.100

IV. Liquiditätsvorsorge 1. Rechtliche Vorgaben Die „Liquiditätskrise“ ist nach der „Erfolgskrise“ die letzte Stufe in der Kette der Krisenarten vor der Insolvenz (s. Rz. 1.2). Im Vergleich mit den anderen Krisenarten trifft die Liquiditätskrise das Unternehmen an der empfindlichsten Stelle: Fehlt es nämlich an ausreichenden liquiden Mitteln, dann droht entweder die Zahlungsunfähigkeit oder sie ist bereits eingetreten. Im ersten Fall ist die Gesellschaft berechtigt (§ 18 InsO), im zweiten Fall verpflichtet, Insolvenzantrag zu stellen (§ 17 InsO).

2.101

Zeichnet sich eine Liquiditätskrise ab, dann bleibt nicht mehr viel Zeit, eine Insolvenz zu vermeiden. Zwar verpflichtet eine (vorübergehende) Zahlungsstockung nicht zur Insolvenzantragstellung. Der BGH hat aber für die Abgrenzung der Zahlungsstockung von der Zahlungsunfähigkeit klare Grenzen gezogen und den Zeitraum der bloßen Zahlungsstockung eingeengt (dazu auch Rz. 14.13)1. Danach ist eine Zahlungsstockung anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die notwendigen Mittel zu leihen. Dafür sind nach Auffassung des BGH drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend. Beträgt eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird, was im Falle der Insolvenzantragstellung der Gläubiger darlegen und glaubhaft machen müsste. Beträgt die Liquiditätslücke 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen (widerlegbare Vermutung), sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke zwar nicht innerhalb von zwei bis drei Wochen – dann läge nur eine Zahlungsstockung vor –, jedoch immerhin in überschaubarer Zeit vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist. Die Beweislast für diesen Ausnahmefall trägt der Geschäftsführer der GmbH; dazu ist eine Benennung konkreter Umstände erforderlich.

2.102

Der BGH hat seit seinem Urteil vom 24.5.20052 zwar den Zeitraum, innerhalb dessen die Zahlungsstockung beseitigt sein muss, andernfalls sie als Zahlungsunfähigkeit behandelt wird, gegenüber der Rechtsprechung unter der Geltung der Konkursordnung3 und der Gesamtvoll-

2.103

1 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426 Rz. 15, 30 f. = GmbHR 2005, 1117 m. Anm. Blöse. 2 Seitdem st. Rspr.: BGH v. 8.1.2015 – IX ZR 203/12, NZI 2015, 369 Rz. 13 = ZIP 2015, 437; BGH v. 26.2.2013 – II ZR 54/12, GmbHR 2013, 482 Rz. 14; BGH v. 30.6.2011 – IX ZR 134/10, NZI 2011, 589 Rz. 20 = ZIP 2011, 1416. 3 BGH v. 27.4.1995 – IX ZR 147/94, ZIP 1995, 929, 931 sub II.2.b).

Karsten Schmidt/Schluck-Amend und Sinz | 41

§ 2 Rz. 2.103 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

streckungsordnung1 um eine Woche eingeschränkt. Andererseits weist er den Weg, bei nur geringen Liquiditätslücken eine Insolvenz zu vermeiden. Das Geschäftsleben ist nach den Feststellungen des BGH in weiten Teilen dadurch gekennzeichnet, dass Phasen mit guter Umsatz- und Ertragslage und Rückschläge sich abwechseln. Insbesondere mittelständische Unternehmen mit geringer Eigenkapitalausstattung, etwa Handwerksbetriebe, seien oft darauf angewiesen, dass Kundenzahlungen vollständig und zeitnah erfolgen. Werde ein größerer Auftrag nicht bezahlt, könne dies eine Liquiditätskrise auslösen. Je kleiner die Liquiditätslücke ist, desto begründeter sei die Erwartung, dass es dem Schuldner gelingen werde, das Defizit in absehbarer Zeit zu beseitigen – sei es durch eine Belebung seiner Geschäftstätigkeit, sei es durch die anderweitige Beschaffung neuer flüssiger Mittel, sei es durch Einigung mit Gläubigern –, also die Zahlungsfähigkeit wieder zu erlangen. Sofern die Auftragslage des Schuldners gut ist und künftig mit anderen Zahlungseingängen gerechnet werden könne, wäre es unangemessen, wenn er wegen einer vorübergehenden Unterdeckung von wenigen Prozent, die nicht binnen drei Wochen beseitigt werden kann, Insolvenz anmelden müsste. Der damit verbundene Eingriff in grundrechtlich geschützte Positionen (Art. 12, 14 GG) wäre unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit bedenklich. Der BGH verweist zu Recht auf das Beispiel der Saisonbetriebe. In bestimmten Branchen seien regelmäßig saisonale Flauten zu überbrücken, die teilweise mehrere Monate andauern. Als Beispielsfälle nennt der BGH die Bauwirtschaft, den Fremdenverkehr und die Hersteller typischer Saisonartikel (wie etwa Bademoden, Wintersportgeräte und -bekleidung). Wer sich auf einem derartigen Wirtschaftssektor als Anbieter betätigt, müsse immer wieder mit Liquiditätsengpässen rechnen. Er dürfe jedoch normalerweise mit einer wirtschaftlichen Erholung rechnen, sobald die Saison wieder angelaufen ist. Müsse er trotzdem, sobald die Grenze der Zahlungsstockung überschritten ist, selbst bei prozentual geringfügiger Liquiditätslücke Insolvenz anmelden, würde dies in manchen Wirtschaftszweigen zu erheblichen Problemen führen.

2.104

Der BGH hat mit seinem Urteil vom 24.5.20052 Vorgaben für die Liquiditätsvorsorge der Unternehmen bestimmter Branchen gemacht. Der Bauunternehmer muss aus der Erfahrung wissen, dass auf Zeiten guter Ertragslage schlechte Jahre folgen können. In schlechten Zeiten darf er aus der Erfahrung auf gute hoffen. Das Wissen um dieses konjunkturelle Auf und Ab in der Baubranche zwingt in guten Zeiten zur Risikovorsorge. In schlechten Zeiten will der BGH dem Bauunternehmer dadurch helfen, dass nicht bereits eine nur geringe Liquiditätsunterdeckung zur Insolvenz führt. Bei den Produzenten und Händlern von Saisonartikeln (insbesondere zu Karneval, Ostern, Weihnachten) ist das nicht anders. Auch sie müssen sich liquiditätsmäßig darauf einstellen, dass auf Zeiten mit guten Umsätzen Zeiten geringer Beschäftigung folgen.

2.105

Wenn der BGH drei Wochen für ausreichend hält, damit eine kreditwürdige Person sich die zur Behebung der Finanzkrise benötigten Mittel beschaffen kann, so kann diese Aussage dennoch nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen. Sicherlich wird dies einer Person gelingen, deren Planung die Rückzahlung der neuen Fremdmittel als sicher erscheinen lässt und die ausreichende Kreditsicherheiten zu bieten hat. Für alle anderen Unternehmen sind drei Wochen zur Lösung finanzieller Probleme recht ambitioniert. Diese Unternehmen müssen mit der Liquiditätsvorsorge viel früher beginnen. Vorrangiges Ziel der Liquiditätsvorsorge muss die unbedingte Vermeidung kurzfristiger Liquiditätsengpässe sein. Die allgemeinen Liquiditäts1 BGH v. 25.10.2001 – IX ZR 17/01, ZIP 2001, 2235 sub 2a). 2 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, ZIP 2005, 1426 Rz. 21, 23 f., 31 f. = GmbHR 2005, 1117; bestätigt durch: BGH v. 7.5.2013 – IX ZR 113/10, ZIP 2013, 2323 Rz. 15; BGH v. 6.12.2012 – IX ZR 3/ 12, NZI 2013, 140 Rz. 15.

42 | Sinz

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.109 § 2

grundsätze, nämlich das Streben nach Fristenkongruenz, die Disposition kurzfristig aktivierbarer Zahlungsmittelreserven und die exakte zeit- und volumensmäßige Disposition der Anlage von Zahlungsmittelüberschüssen zur Vermeidung einer Überliquidität ergänzen das Ziel der Vermeidung kurzfristiger Liquiditätsengpässe.

Eine einmal eingetretene Zahlungsunfähigkeit wirkt grundsätzlich fort und lässt sich nur dadurch beseitigen, dass die Zahlungen an die Gesamtheit der Gläubiger im Allgemeinen wieder aufgenommen werden1. Dazu genügt es nicht, dass der Schuldner nur an einzelne, am meisten drängende Gläubiger Ratenzahlungen leistet, um ihr Stillhalten zu erreichen. Vielmehr müssen auch die Forderungen der anderen, zurückhaltenden Gläubiger in vergleichbarer Weise bedient werden, was der Schuldner bei seiner Liquiditätsvorsorge zu berücksichtigen hat.

2.106

Gegen unvorhersehbare Ereignisse wie Hochwasserkatastrophen oder ein Lockdown im Rahmen der COVID-19-Pandemie kann auch keine Liquiditätsvorsorge schützen. Hier ist dann der Gesetzgeber gefragt, wie dies auch in Form der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht durch § 1 COVInsAG oder das Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht wegen Starkregenfällen und Hochwassern vom 10.9.20212 geschehen ist.

2.107

2. Betriebswirtschaftliche Umsetzung Ausgangspunkt einer zeitweisen oder permanenten Liquiditätsprüfung ist zunächst die Liquiditätsanalyse3. Dabei sind zwei Arten von Liquiditätsanalysen gebräuchlich:

2.108

1. Analyse der (zeitpunktbezogenen) statischen Liquidität: Bei dieser werden Vermögensteile zu Verbindlichkeiten unter Fristigkeitsgesichtspunkten in Relation gesetzt, um eine Gegenüberstellung von Zahlungsmittelbedarf und Zahlungsmitteldeckung zu ermöglichen (horizontale Bilanzstrukturanalyse). Instrumente sind u.a. die Liquiditätsbilanz4, die Liquiditätskennzahlen und der Anlagendeckungsgrad. Da die mit diesen Methoden gewonnenen Informationen vergangenheits- und stichtagsbezogen sind, ist ihr Aussagewert hinsichtlich der gegenwärtigen und künftigen Unternehmensliquidität allerdings begrenzt. 2. Analyse der (zeitraumbezogenen) dynamischen Liquidität: Sie eröffnet die Möglichkeit der Liquiditätsplanung und auf deren Basis ihre laufende Kontrolle. Instrumente sind u.a. der Finanzplan, die Cash-Flow-Analyse und die Kapitalflussrechnung. Um aus der Bilanz Liquiditätsaussagen ableiten zu können, sind Liquiditätskennzahlen zu ermitteln, die auch als Liquiditätsgrade bezeichnet werden. Sie werden durch Gegenüberstellung bestimmter Vermögenspositionen (kurzfristiger Deckungsmittel) und kurzfristiger Verbindlichkeiten gebildet. Die gebräuchlichsten sind5:

1 2 3 4

BGH v. 25.10.2001 – IX ZR 17/01, ZIP 2001, 2235. BGBl. I 2021, 4149. Mock in Skauradszun/Fridgen, 1. Aufl. 2022, BeckOK StaRuG, § 1 StaRUG Rz. 12–19. In einer Liquiditätsbilanz werden die Bilanzpositionen nach dem Grad ihrer Bindung (gebundenes und freies Vermögen, lang- und kurzfristiges Kapital) und nach der Fristigkeit (Dauer der Liquidierbarkeit von Vermögen, Laufzeit des Kapitals) geordnet und in Bilanzgruppen übereinstimmender Fristigkeit zusammengefasst; die flüssigen Mittel stehen am Schluss. 5 Zu weiteren Kennzahlen: Jacobs, Bilanzanalyse, 2. Aufl. 1994, S. 136, 139 f. Working Capital = Umlaufvermögen – kurzfristiges Fremdkapital; Net Working Capital = Umlaufvermögen – liquide Mittel – kurzfristiges Fremdkapital; Zwischen der Liquidität 3. Grades (L 3) und dem Working Capital (WC) besteht folgender Zusammenhang: L 3 = 1 entspricht WC = 0; L 3 > 1 entspricht

Sinz | 43

2.109

§ 2 Rz. 2.109 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

liquide Mittel Liquidit¨at 1: Grades ðcash ratioÞ ¼ banker s rule: kurzfristiges Fremdkapital ðBarliquidit¨atÞ 0;2 0

liquide Mittel þ kurzfr: Forderungen Liquidit¨at 2: Grades ðquick ratioÞ ¼ banker s rule: kurzfristiges Fremdkapital ðLiquidit¨at auf kurze SichtÞ 0;1 0

liquide Mittel þ kurzfr: Forderungen Liquidit¨at 3: Grades ðcurrent ratioÞ ¼ þ Vorr¨ate banker s rule: kurzfristiges Fremdkapital ðLiquidit¨at auf mittlere SichtÞ 0;2 0

2.110

Die Barliquidität soll die Zahlungsverpflichtungen des laufenden Monats sicherstellen, weshalb es genügt, wenn ihr Wert unter 1 liegt; ein Deckungsgrad von 0,2 bis 0,3 wird allgemein als ausreichend angesehen. Zur Abdeckung der Verbindlichkeiten aus dem operativen Geschäft dienen auch die kurzfristig fälligen Forderungen; die Praxis bevorzugt zur Bonitätsbeurteilung daher die Liquidität 2. Grades und verlangt, dass die kurzfristigen Verbindlichkeiten vollständig durch liquide und kurzfristig liquidierbare Mittel gedeckt sind. Dagegen beschreibt die Liquidität 3. Grades eher die Liquiditätsreserven; das Verhältnis des Umlaufvermögens zum kurzfristigen Fremdkapital sollte daher zwei zu eins betragen.

2.111

Im Rahmen der langfristigen Liquiditätsanalyse gibt der Anlagendeckungsgrad an, inwieweit langfristig zur Verfügung stehendes Kapital1 die langfristig gebundenen Vermögensteile finanziell absichert: Anlagedeckungsgrad 1 ¼

2.112

Eigenkapitel 100 Anlageverm¨ogen

Anlagedeckungsgrad 2 ¼

Eigenkapital þ langfr: FremdkapitalÞ Anlageverm¨ogen

100

Anlagedeckungsgrad 3 ¼

Eigenkapital þ langfr: FremdkapitalÞ 100 Anlageverm¨ogen þ langfr: Umlaufverm¨ogen

Zur Beurteilung der Fristenkonformität („Goldene Finanzierungsregel“) wird meist der Anlagendeckungsgrad 2 herangezogen. Je deutlicher dieser über 100 % liegt, umso mehr ist neben dem Anlagevermögen auch das Umlaufvermögen durch langfristiges Kapital finanziert und damit eine höhere finanzielle Stabilität des Unternehmens gegeben. Ist hingegen das Anlagevermögen zu einem wesentlichen Teil kurzfristig finanziert (Anlagendeckungsgrad 2 unter 100 %), kann das Unternehmen bei Fälligkeit kurzfristiger Verbindlichkeiten schneller in

WC > 0; L 3 < 1 entspricht WC < 0. Zur banker’s rule: Mensch, Finanz-Controlling. Finanzplanung und -kontrolle, Controlling zur finanziellen Unternehmensführung, 2. Aufl. 2008, S. 181. 1 Negatives Eigenkapital ist rechnerisch zu behandeln wie ein durch langfristiges Fremdkapital zu finanzierender langfristiger Vermögenswert (das negative Eigenkapital soll im Zähler unberücksichtigt bleiben und den Nenner erhöhen).

44 | Sinz

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.115 § 2

Zahlungsschwierigkeiten geraten, weil das Umlaufvermögen zur Deckung nicht ausreicht und das Anlagevermögen nicht so schnell liquidierbar ist.

Während Finanzierungskennzahlen wie der Anlagendeckungsgrad und Verschuldungskoeffizient1 – insb. bei langfristiger Finanzierung – in der Regel auch über den Bilanzstichtag hinaus gelten, beschränkt sich die Aussagekraft von Liquiditätskennzahlen rein auf den zur Bildung der Kennzahl herangezogenen Bilanzstichtag, wobei die Wertansätze durch bilanzpolitische Maßnahmen beeinflusst sein können. Sowohl die liquiden Mittel als auch die kurzfristigen Verbindlichkeiten können sich in der Zwischenzeit bereits wieder verändert haben. Hinzu kommt, dass der Liquiditätsgrad nur das durchschnittliche Deckungsverhältnis angibt, aber nichts über die genaue Fälligkeit und die tatsächlich vorhandene Liquidität zum aktuellen Zeitpunkt aussagt. Vor allem noch nicht bilanzierte zukünftige Zahlungsströme (wie z.B. Lohn- und Zinszahlungen, Steuernachzahlungen) sowie Sicherungsrechte an Vermögenswerten sind nicht berücksichtigt. Aufgrund dieser starken Stichtagsbezogenheit haben Liquiditätskennzahlen nur eine begrenzte Aussagekraft für die künftige Liquiditätsentwicklung eines Unternehmens.

2.113

Eine wertvolle Ergänzung stellen daher Cash-Flow-Prognoserechnungen dar. Zielsetzung der Ermittlung des Cash Flow2 ist die Bereinigung der GuV um alle zahlungsunwirksamen Aufwendungen und Erträge, insb. aus Maßnahmen der Bilanzpolitik, zwecks Feststellung, in welchem Umfang die laufende Betriebstätigkeit innerhalb einer bestimmten Periode zu Einnahmeüberschüssen3 führt. Der Cash Flow ist ein wichtiger Indikator für die Finanz- und Ertragskraft, der zeigt, in welcher Höhe ein Unternehmen oder Unternehmensteil aus eigener Kraft finanzielle Mittel erwirtschaftet hat bzw. künftig erwirtschaften kann. Seine Berechnung kann je nach Untersuchungsziel variieren; üblicherweise wird er mangels verfügbarer unternehmensinterner Zahlen indirekt (retrograd) nach folgender Formel ermittelt4:

2.114

Cash Flow = Jahresergebnis + Abschreibungen – Zuschreibungen + Erhöhung langfr. Rückstellungen – Verminderung langfr. Rückstellungen Wird der so ermittelte Brutto-Cash-Flow auch noch um Gewinnausschüttungen bereinigt (Netto-Cash-Flow), gibt diese Kennzahl an, welcher Teil des Jahresergebnisses für Investitionen und zur Schuldentilgung zur Verfügung steht. Gerade bei einem Mehrjahresvergleich ist ein sinkender Cash Flow ein guter Indikator für zunehmende Liquiditätsschwierigkeiten. Zur Insolvenzprognose erfreut sich in der Praxis daher auch die Kennzahl des Entschuldungsgrades großer Beliebtheit:5 Entschuldungsgrad ¼

1 2 3 4

5

Cash Flow Effektivverschuldung

Fremdkapital Eigenkapital 100 . Zum Teil auch als liquiditätswirksamer Jahresüberschuss, Zahlungsüberschuss aus dem laufenden Betriebsprozess oder als Kapitalrückfluss aus dem Unternehmensprozess bezeichnet; Siener, Der Cash-Flow als Instrument der Bilanzanalyse, 1991, S. 35. Streng genommen müsste es Einzahlungsüberschüsse heißen. Coenenberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse, 26. Aufl. 2021, S. 1086. Busse von Colbe, Cash Flow, in HWF, 1976, Sp. 241 ff.; Köhler, Cash-Flow, in HWR, 3. Aufl. 2020, Sp. 353 ff.; Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.1.1.4 (S. 159 ff.). Die direkte (progressive) Methode führt zum gleichen Ergebnis: Cash Flow = einzahlungswirksame Erträge – auszahlungswirksame Aufwendungen. = Fremdkapital – liquide Mittel – kurzfr. Forderungen – Kundenanzahlungen. ¼

Sinz | 45

2.115

§ 2 Rz. 2.116 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.116

Dies beruht vor allem darauf, dass in Krisenzeiten die Effektivverschuldung aufgrund der schlechten Absatzlage steigt und gleichzeitig der Cash Flow aufgrund des verminderten Jahresüberschusses sinkt1. Die gewonnenen Werte lassen sich unter Berücksichtigung unterschiedlicher Grade der Kapazitätsauslastung zu einer mehrperiodigen Cash-Flow-Prognoserechnung fortschreiben, die sich aus einer Entstehungsrechnung (Überschuss der Betriebseinnahmen über die Betriebsausgaben) und Verwendungsrechnung (für Investitionen, Schuldentilgung, Gewinnsteuern) zusammensetzt2.

2.117

Eine weitere insb. zur Insolvenzprognose bei jungen Wachstumsunternehmen häufig verwendete Kennzahl ist die Cash-burn-Rate3, die darüber Auskunft geben soll, wann bei einem Unternehmen mit dem Verbrauch der vorhandenen Liquidität zu rechnen ist: Cash burn Rate ¼

liquide Mittel þ liquidit¨atsnahe Mittel negativer Cash Flow

2.118

Je niedriger diese Kennziffer ist, desto schneller soll das Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Diese Prognose unterstellt, dass das Unternehmen über keine Möglichkeit verfügt, neue Gelder aufzunehmen, und die vergangenheitsorientierten Daten auch für die Zukunft repräsentativ sind. Eine niedrige Cash-burn-Rate kann daher für sich allein keine zuverlässige Aussage zur Überlebensdauer eines Unternehmens treffen, sondern allenfalls Anlass für weitere Analysen der Liquiditäts- und Wettbewerbssituation sein4.

2.119

Diese Kritik gilt zugleich grundsätzlich gegenüber dem Konzept der Cash-Flow-Rechnung, da hier von Zahlungsmittelbewegungen einer abgelaufenen Periode auf künftige Liquiditätsentwicklungen geschlossen wird. Dies ist nur gerechtfertigt, wenn – die Kennzahlen für mehrere Perioden ermittelt werden, – sich aus dem Mehrjahresvergleich ein signifikanter Trend ableiten lässt und – keine gravierenden Veränderungen der Rahmenbedingungen, insb. an den Beschaffungsund Absatzmärkten, eingetreten oder zu erwarten sind (Ceteris-Paribus-Vorbehalt)5.

2.120

Die Nachteile einer statischen Analyse, bei der lediglich bestimmte Bilanzpositionen in unterschiedlicher Weise zusammengefasst und ins Verhältnis zueinander gesetzt werden, soll die Kapitalflussrechnung6 vermeiden und eine Beurteilung der Bewegungen dieser Bilanzbestän-

1 Hauschildt/Rösler/Gemünden, DBW 1984, 353, 358 f. m.w.N. 2 Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 229 InsO Rz. 26 ff. 3 Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.1.2.2 (S. 169 f.). Nicht zu verwechseln mit der Burn-Rate, bei der ein anfallender Verlust ins Verhältnis zum Umsatz gesetzt wird, um Aufschluss darüber zu erhalten, wie viel Verlust pro Einheit Umsatz erwirtschaftet wurde. 4 Schellberg, FB 2001, 184, 187, 191. 5 Weitere Kritikpunkte sind: Problematik von (zahlungswirksamen und zahlungsunwirksamen) Mischposten, fehlende Berücksichtigung stiller Reserven, Verzerrungen durch Leasing, eingeschränkter zwischenbetrieblicher Vergleich. Dazu: Siener, Der Cash-Flow als Instrument der Bilanzanalyse, 1991, S. 133 ff.; Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.1.2.4 (S. 172 ff.). 6 Zum Teil auch als Finanzbewegungsrechnung bezeichnet; so: Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.1.2.3 (S. 170 f.). Die Offenlegung von Kapitalflussrechnungen erfolgte bis zum Inkrafttreten des KonTraG am 1.5.1998 ausschließlich auf freiwilliger Basis. Gemäß § 264 Abs. 1 Satz 2, § 297 Abs. 1 Satz 1 HGB wird die Kapitalflussrechnung für bestimmte Kapitalgesellschaften zum Pflichtbestandteil des Jahresabschlusses erhoben. Im internationalen Bereich ist sie in IAS 7 und SFAS 95 geregelt, die Vorlage für den deutschen Rechnungslegungsstandard DRS 2 waren.

46 | Sinz

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.121 § 2

de während zweier Perioden ermöglichen1. Dazu werden zuerst die Differenzen bestimmter Bilanzpositionen aus zwei aufeinander folgenden Bilanzen gebildet; die so entstehende Beständedifferenzenbilanz zeigt die Veränderung der Bilanzposten. Durch die Umgliederung der Bewegungsgrößen der Beständedifferenzenbilanz entsteht die Veränderungsbilanz (Bewegungsbilanz), indem Aktivzunahmen und Passivabnahmen als Mittelverwendung sowie Passivzunahmen und Aktivabnahmen als Mittelherkunft ausgewiesen werden. Erst durch die Einbeziehung der Daten der GuV wird die Bewegungsbilanz (in der lediglich umgegliederte Bilanzdifferenzen ausgewiesen werden) schließlich zu einer zahlungsstromorientierten Kapitalflussrechnung; dazu werden die absoluten Bestandsveränderungen durch die ihnen zugrunde liegenden Soll- und Habenbuchungen und die Veränderungen des Jahreserfolgs durch die entsprechenden Aufwendungen und Erträge ersetzt, zahlungsunwirksame Posten (Doppelerfassungen als Mittelverwendung und Mittelherkunft) sind zu eliminieren. Als letzter Schritt sind die saldierten und bereinigten Posten der erweiterten Bewegungsbilanz entsprechend dem Schema der Kapitalflussrechnung umzugliedern, und zwar in die Bereiche operative (gewöhnliche) Geschäftstätigkeit sowie Investitions- und Finanzierungsbereich2.

2.121

Muster einer Kapitalflussrechnung3: Plan-Liquiditätsrechnung Entwicklung der Kapitalflussrechnung

Monatsergebnis (vor Sanierungsgewinn) Abschreibungen Cash-Earnings Zunahme (–)/ Abnahme der Vorträge Zunahme (–)/ Abnahme der Lieferforderunge

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

01

02

03

04

05

06

07

08

09

10

11

12

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

– 5,4

– 7,4

38,9

104,5

39,9

– 74,5

38,8

28,0

– 45,1

181,7

– 39,2

PLAN

34,4

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

10,0

– 46,4

2,6

48,9

114,5

49,9

– 64,5

48,8

38,0

– 35,1

191,7

– 29,2

44,4

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

109,9 – 4739 – 125,6 – 157,7

49,1

253,7 – 104,4

– 83,1

137,4 – 334,5

129,7

93,9

Zunahme (–)/ Abnahme der sonstigen Vermögensgegenstände

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Zunahme (–)/ Abnahme der sonstigen Wertpapiere

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

1,0

Zunahme (–)/ Abnahme der übrigen Aktiva

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

1 Coenenberg/Haller/Schultze, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse, 26. Aufl. 2021, S. 785. Zu den Grundsätzen ordnungsgemäßer Erstellung: Coenenberg/Schmidt, ZfB 1978, 507, 509 ff. 2 Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.2.3 (S. 183 ff.) und 1.3.2.5 (S. 195 ff., Beispiel). Muster einer Kapitalflussrechnung: Rendels/Zabel in Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 52, Anlage 2.2.3. 3 Übernommen von Rendels/Zabel in Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 52, Anlage 2.2.3.

Sinz | 47

§ 2 Rz. 2.121 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung Entwicklung der Kapitalflussrechnung PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

PLAN

01

02

03

04

05

06

07

08

09

10

11

PLAN 12

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

TEUR

Zunahme (–)/ Abnahme der Rückstellungen

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Zunahme (–)/ Abnahme der erhaltenen Anzahlungen

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Zunahme (–)/ Abnahme der Lieferverbindlichkeiten

– 8,3

4,5

4,2

5,9

– 5,4

– 10,3

10,5

– 1,0

– 6,6

20,4

– 4,9

– 8,3

Zunahme (–)/ Abnahme der Verbindlichkeiten nahest. Unt.

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

– 17,6

11,0

10,4

14,5

– 1,5

– 25,4

26,0

– 2,5

– 16,2

50,6

– 49,4

16,6

38,6

4,2

– 61,1

– 19,8

81,1

154,5

– 18,1

– 47,6

80,5

– 70,8

47,2

147,6

– 17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

17,0

Abgänge aus dem Anlagevermögen

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Cashflow aus der Investitionstätigkeit

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

– 17,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Aufnahme/ Tätigkeit (–) von Darlehnsverbindlichkeiten

– 80,

– 7,9

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Cashflow aus der Finanzierungstätigkeit

– 8,0

– 7,9

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

0,0

Zahlungswirksame Veränderungen des Zahlungsmittelbestandes

13,6

– 20,7

– 78,1

– 36,8

64,1

137,5

– 35,1

– 64,6

63,5

– 87,8

30,2

130,6

Finanzmittelbestand am Anfang der Periode

184,1

197,7

177,0

98,9

62,1

126,2

263,7

228,6

164,0

227,5

139,7

169,9

Finanzmittelbestand am Ende der Periode

197,7

177,0

98,9

62,1

126,2

263,7

228,6

164,0

227,5

139,7

169,9

300,5

Zunahme (–)/ Abnahme der übrigen Passiva Cashflow aus laufender Geschäftsfähigkeit Investitionen in das Anlagevermögen

Einlagen der Gesellschafter

48 | Sinz

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.122 § 2

Plan-Liquiditätsrechnung Grafische Darstellung des Finanzmittelbestandes Finanzmittelbestand

Bankguthaben 1200 1000 800 600 400 200 0

01

02

03

04

05

06

07

08

09

10

11

12

– 200 – 400

Die Prognosewerte des Cash Flow oder einer Kapitalflussrechnung1 leiden ebenfalls daran, dass sie aus vergangenheitsorientierten Daten abgeleitet sind und gleichbleibende Verhältnisse unterstellen. Um die künftig verfügbare Liquidität planen und überwachen zu können, bedarf es somit einer Liquiditätsrechnung, die laufend aktualisiert wird. Dies vermag nur ein detaillierter Finanzplan zu leisten. Darin muss zum Ausdruck kommen, welche Finanzmittel zu welchem Fälligkeitszeitpunkt benötigt werden und aus welchen Quellen diese zu welchen Zeitpunkten kommen sollen. Ausgangspunkt der Finanzplanung ist das Unternehmenskonzept, in dem der geplante Soll-Verlauf des Unternehmens dargestellt wird. In der Prognose können auch bereits festgelegte Sanierungsmaßnahmen berücksichtigt werden wie die Veräußerung nicht betriebsnotwendiger Aktiva oder die Bereitschaft von Gesellschaftern, für die Weiterführung benötigtes Kapital bereitzustellen. Die zugrunde gelegten Prämissen müssen realistisch sein und dürfen nicht auf geschönten Zukunftsprognosen beruhen. Es dürfen nur solche Positionen eingestellt werden, deren Eintritt hinreichend gesichert ist, also z.B. keine bloße vagen Aussichten auf Geschäftsabschlüsse2. Als Prognosezeitraum wurde früher das laufende und das darauf folgende Geschäftsjahr, also ein Zeitraum von 12 bis 24 Monaten gefordert3. Der Gesetzgeber hat nunmehr in § 19 Abs. 2 InsO den Prognosezeitraum für die Fortbestehensprognose auf 12 Monate festgelegt. Eine nach diesem Prognosezeitraum eintretende Liquiditätslücke begründet zum Beurteilungsstichtag keine Überschuldung, sondern lediglich eine drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 Abs. 2 Satz 2 InsO) und damit nur ein Antragsrecht4. Da die Planungsgenauigkeit mit zunehmendem Abstand vom Betrachtungszeitpunkt sinkt, ist es üblich, die Zahlungsströme nur in den ersten sechs Monaten als Monatswerte darzustellen und in der Folgezeit auf Quartalswerte zu verdichten. Die Über- bzw. Unterdeckung der einzelnen Periode wird so schnell sichtbar; die Salden sind auf die nächste Periode vorzutragen.

1 Für Kapitalflussrechnung: Küting/Weber, Die Bilanzanalyse, 11. Aufl. 2015, 1.3.2.2.2 (S. 179). 2 BGH v. 2.6.1997 – II ZR 211/95, ZIP 1997, 1648 sub I.2. = GmbHR 1997, 890. 3 IDW S 11 (2015), Rz. 60; Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 18 InsO Rz. 24; Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, Vor § 64 GmbHG Rz. 57. 4 IDW S 11 (2021), Rz. 61.

Sinz | 49

2.122

§ 2 Rz. 2.123 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.123

Muster eines Finanzplans (stark vereinfacht): 01

02

03

04

05

06

III.

IV.

Vorhandene Liquidität eigene1 offene Kontokorrentlinie Einzahlungen Umsatzerlöse Sonstige Erlöse Außerordentliche Erlöse Summe Auszahlungen Materialeinkäufe Personalkosten Miete, Leasing Steuern Sonstige Betriebskosten Kapitaldienst Summe Über-/Unterdeckung

2.124

Die tägliche Finanzdisposition erfolgt im Rahmen des Cash-Managements2. Die dazu nötigen Informationen sollten zentral in einer Stelle (Treasury) zusammengeführt und mit Buchhaltungs-, Marktinformations- und Auswertungssystemen verknüpft werden.

2.125

Der Finanzplan als zukunftsorientierte Rechnung gibt nur dann zuverlässig Auskunft über die künftige Liquidität, wenn er – – – –

vollständig3, termingenau4, realistisch5 und ehrlich6

1 Ab 2. Periode: jeweiliger Saldovortrag aus Vorperiode. 2 Ernst/Gleißner, Treasury Management, München 2013, S. 45 ff. 3 Auch erst künftig zu erwartende Verbindlichkeiten müssen enthalten sein (s. dazu auch Rz. 14.145 ff.). Insb. die Umsatzsteuer (§ 18 Abs. 2 Satz 1 und 3 UStG) und die Beiträge an die Berufsgenossenschaft werden in der Liquiditätsplanung von Jungunternehmern häufig vernachlässigt. 4 Die Ein- und Auszahlungen sind für die Periode zu erfassen, in der sie tatsächlich anfallen. 5 Die Annahmen im Finanzplan müssen plausibel und leicht nachvollziehbar sein. 6 In der Anfälligkeit für Manipulationen liegt die größte Schwachstelle.

50 | Sinz

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.140 § 2

ist. Ferner bedarf es eines permanenten Soll-Ist-Vergleichs als Grundlage für eine aktualisierte Fortschreibung. Aufgabe des Controllings ist es, den kritischen Wert oder die Bandbreite festzulegen1, ab welcher Abweichung der tatsächlichen Liquiditätsentwicklung von der Sollgröße eine Überarbeitung der Liquiditätsplanung erforderlich ist. Reichen die Liquiditätsreserven nicht aus, um Engpässe zu überbrücken, ist zu prüfen, welche Maßnahmen zur kurzfristigen Verbesserung der Finanzlage umgesetzt werden können. In Betracht kommen vor allem:

2.126

– auf der Einzahlungsseite: – Vereinbarung von Anzahlungen oder Teilzahlungen, – schnellere Abrechnung der erbrachten Leistungen, – Einräumung kürzerer Zahlungsziele an Kunden (ggf. Lastschrift, Skontogewährung), – Verbesserung des Mahnwesens, – Sale-and-lease-back, Factoring, – Verkauf nicht benötigter Betriebsmittel, – Gesellschafterdarlehen, – Erhöhung der Kontokorrentlinie, – ggf. öffentliche Liquiditätshilfen – (wie z.B. DtA-Existenzgründungsprogramm, KfW-Mittelstandsprogramm). – auf der Auszahlungsseite: – konsequente Umsetzung von Kostensenkungspotentialen – (im Einkauf2, im Produktions-3 und Personalbereich4, im Vertrieb5) – Verschiebung von Investitionen (sofern ohne nachteilige Folgen), – Vereinbarung längerer Zahlungsziele bei Lieferanten, – Konditionenverbesserung durch Umschuldung, – Reduzierung von Privatentnahmen. Einstweilen frei.

2.127–2.140

1 Zu den Verfahren der Sensitivitätsanalyse: Horváth/Gleich/Seiter, Controlling, 14. Aufl. 2020, S. 447, 459. 2 Z.B. Konditionenverbesserung (Skonti, Rabatte, Boni), Senkung der Vorratshaltung (ggf. Outsourcing), Senkung der Transport- und Lagerkosten, Standardisierung der Produkte. 3 Z.B. Optimierung der Losgrößen, Reduzierung der Prozesszeiten, Senkung der Ausschussquote. 4 Z.B. Automatisierung von Prozessen, Outsourcing. 5 Z.B. Standardisierung der Verpackung, Reduzierung der Lagerhaltung, Reduzierung der Transportkosten.

Sinz | 51

§ 2 Rz. 2.141 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

3. Rechtspflichten 2.141

Die Liquiditätsvorsorge obliegt in erster Linie dem Geschäftsführer (den Geschäftsführern)1. Sie sind die Akteure der Risikokontrolle2. Die Selbstprüfungspflichten der Geschäftsführer (Rz. 3.1 ff.) erschöpfen sich nicht in der Solvenzprüfung. Sie setzen nicht erst im Vorfeld von Krise und Insolvenz ein, sondern sie sind ständige Begleiter des GmbH-Managements. Die Geschäftsführer haben nicht nur Verlustentwicklungen im Auge zu behalten und die Gesellschafter hierüber in Kenntnis zu setzen (§ 49 Abs. 3 GmbHG ist Ausdruck dieser allgemeinen Verpflichtung)3; insoweit müssen sie für eine Organisation sorgen, die ihnen die zur Wahrnehmung ihrer Pflichten erforderliche Übersicht über die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Gesellschaft jederzeit ermöglicht4. Im Gegensatz zur AG, bei welcher die existenzgefährdenden Pflichten ausdrücklich in § 91 Abs. 2 AktG normiert sind, findet sich im GmbHG hierzu keine ausdrückliche Regelung. Dennoch besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass derartige Kontroll- und Überwachungspflichten als allgemeiner Grundsatz auch für die GmbH gelten5. Diese allgemeine Risikoüberwachungspflichten des Geschäftsführers haben nunmehr auch in § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG Niederschlag gefunden, der eine fortlaufende Überwachungspflicht normiert6. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG ist die Geschäftsführung ferner verpflichtet, im Falle von unternehmensgefährdenden Entwicklungen geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen7. Nicht übernommen wurden hingegen die im ursprünglichen Regierungsentwurf enthaltenen §§ 2, 3 StaRUG-RegE, die die Geschäftsführungsorgane haftungsbeschränkter Gesellschaften ab Einritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit auf das Gläubigerinteresse verpflichten sollten (sog. shift of duties)8. Trotz der Streichung der vorstehenden Normen wird teilweise vertreten, dass im Zeitpunkt der drohenden Zahlungsunfähigkeit eine auf das Gläubigerinteresse bezogene Verpflichtung der Geschäftsführung bestehe9. Der ursprüngliche Wunsch des Gesetzgebers, eine vorgelagerte Berücksichtigung der Gläubigerinteressen zu erreichen, sollte daher bei der Auslegung der gesellschaftsrechtlichen Haftungsnormen (§ 43 Abs. 2 GmbHG) dennoch beachtet werden10. Auch die Vermeidung von Forderungsausfällen durch Besicherung der von der Gesellschaft vergebenen Kredite11 und die 1 Vgl. Lutter, GmbHR 2000, 301, 305. 2 Altmeppen, § 43 GmbHG Rz. 17; Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 66; ihnen obliegt insbesondere auch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Buchführung, die gerade den zuverlässigen Überblick über die Finanzlage schafft und so Liquiditätskontrolle und Krisenfrüherkennung ermöglicht (Bellen/ Stehl, BB 2010, 2579, 2580 f.); zur Liquiditätsvorsorge vor dem Hintergrund der Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen auch Radtke, GmbHR 2009, 673, 676 (unter II.). 3 Karsten Schmidt hier in 5. Aufl. Rz. 1.35; Noack in Noack/Servatius/Haas, § 49 GmbHG Rz. 20 f. 4 BGH v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, NZG 2016 658, 660 f. = ZIP 2016, 1119; BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967, 968 = NZG 2012, 940 = ZIP 2012, 1557. 5 BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967, 968 = NZG 2012, 940; Schoberth/Servatius/ Thees, BB 2006, 2571, 2574; Schülke, DStR 2021, 621, 622; Gras in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 2 Rz. 28. 6 Gehrlein, BB 2021, 66, 66. 7 Die Norm hat im Wesentlichen klarstellender Charakter, da diese Pflichten bereits dem bestehenden Recht zu entnehmen waren, nunmehr jedoch ausdrücklich normiert sind, vgl. Desch, BB 2020, 2489, 2500; Gehrlein, BB 2021, 66, 67. 8 Die Streichung wurde damit begründet, dass aufgrund des unklaren Verhältnisses zu den Sanierungspflichten im Gesellschaftsrecht und der Auswirkungen der Covid19-Pandemie der Druck auf die Geschäftsführungsorgane nicht noch weiter erhöht werden sollte, vgl. BT-Drucks. 19/ 25353, S. 6. 9 Bitter, GmbHR 2021, R16, R17; Bitter in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 32, 463 ff. m.w.N. 10 Gehrlein, BB 2021, 66, 67. 11 Goette, Die GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 143.

52 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.146 § 2

nachhaltige Bonitätsprüfung gehört zu den Pflichten der Geschäftsführer im Rahmen der Liquiditätsvorsorge und entsprechender Risikokontrolle1. Die ständige Prüfung von Waren- und Kassenbeständen2 sollte sich von selbst verstehen, ebenso das Nachsetzen bei Außenständen. Zur Liquiditätsvorsorge gehört aber auch die rechtzeitige Verhandlung mit der Hausbank über etwa notwendige Kreditlinien und die Einschaltung der Gesellschafter im Fall einer Kreditunfähigkeit. Für Verletzungen dieser Pflichten haftet der Geschäftsführer der Gesellschaft nach § 43 GmbHG auf Ersatz des hierdurch verursachten Schadens im Gesellschaftsvermögen (zu dieser Geschäftsführerhaftung Rz. 40.19 ff.).

V. Krisenabwehr durch laufende Kontrolle Da der Faktor Zeit bei der Krisenabwehr eine zentrale Rolle spielt, ist eine laufende Kontrolle derjenigen Bereiche erforderlich, in denen Signale bevorstehender Unternehmenskrisen auftreten können.

2.142

1. Bilanzanalyse Das klassische Gebiet zur Diagnose von Unternehmenskrisen ist der Finanzbereich eines Unternehmens. Durch den laufenden Vergleich der verschiedenen Positionen von Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung der letzten Rechnungsperioden3 untereinander (ggf. mittels daraus gebildeter Kennzahlen wie z.B. Eigenkapitalausstattung, Verschuldensgrad, Zinsdeckung und Liquidität; vgl. dazu Rz. 3.54 ff.4) sowie mit den durchschnittlichen Branchenvergleichsdaten lassen sich Unternehmenskrisen zumindest im Stadium der Erfolgskrise identifizieren.

2.143

Bereits dargelegt wurde (Rz. 1.35), dass ein Krisensignal darin zu erblicken ist, dass Verluste das Stammkapital angreifen. Dieser Befund kann sich zunächst aus dem Jahresabschluss der GmbH ergeben, der nach den §§ 242, 264 HGB am Ende eines jeden Geschäftsjahres zu erstellen ist.

2.144

Nach ganz h.M. besteht eine Pflicht zur Einberufung der Gesellschafterversammlung nach § 49 Abs. 3 GmbHG in Anlehnung an § 92 Abs. 1 AktG jedoch schon, sobald das Erreichen der darin beschriebenen Kennzahlen erkennbar wird5. Diese, an die Erkennbarkeit von unternehmensgefährdenden Umständen anknüpfende, Berichtspflicht ist nunmehr auch in § 1 StaRUG niedergelegt. Demnach ist die Geschäftsführung verpflichtet, den Überwachungsorganen unverzüglich Bericht zu erstatten, wenn sie Entwicklungen erkennen, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden.

2.145

Zu fordern ist somit eine laufende Kontrolle der gesellschaftlichen Vermögenssituation, damit die in § 49 Abs. 3 GmbHG vorgesehene Krisenreaktion, die Einberufung der Gesellschaf-

2.146

1 2 3 4

Vgl. Wälzholz in GmbH-Handbuch, Rz. I 4144. Goette, Die GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 140, 143. Dazu Hauschildt, Erfolgs-, Finanz- und Bilanzanalyse, 3. Aufl. 1996, S. 131 ff. Vgl. hierzu auch Drukarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 2 Rz. 10 ff., die die Kennzahlen in verschiedene Gruppen einteilen. 5 S. Hüffer/Schäfer in Großkommentar zum GmbHG, § 49 GmbHG Rz. 22; Noack in Noack/Servatius/Haas, § 49 GmbHG Rz. 20; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 49 GmbHG Rz. 16; Uhlenbruck, GmbHR 1999, 313, 320.

Schluck-Amend | 53

§ 2 Rz. 2.146 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

terversammlung, schnellstmöglich erfolgen kann1. Die Bilanzierung sollte – soweit verhältnismäßig2 – zumindest in monatlichen Abständen erfolgen3.

2.147

Neben den Zahlen aus dem Bereich der Kapitalausstattung geben auch andere bilanzielle Veränderungen mehr oder weniger deutliche Hinweise auf eine mögliche Unternehmenskrise, z.B. die Erhöhung der kurzfristigen Verbindlichkeiten, Umschichtungen im Umlaufvermögen zu Gunsten von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen oder zu Gunsten von Lagerbeständen an Fertigerzeugnissen, der Rückgang von Umsatz4, der Rückgang des ordentlichen betrieblichen Erfolges (ggf. verbunden mit der Erhöhung des Anteils außerordentlicher Erträge am Gesamtergebnis oder der Verminderung der Abschreibungsquote) oder der Anstieg zwingender Sonderabschreibungen.

2.148

Über die klassische Bilanzanalyse hinaus wurden in der Betriebswirtschaft zur Erkennung von Strategiekrisen Frühwarnsysteme auf der Basis von Kennzahlen entwickelt, u.a. die sog. Diskriminanzanalyse5. Näher zum Risikofrüherkennungssystem s. Rz. 3.51.

2. Betriebliche Statistik 2.149

Aus Sicht des Krisenmanagements wichtiger noch als die Analyse des finanzwirtschaftlichen Bereichs eines Unternehmens ist die Untersuchung der leistungswirtschaftlichen Daten, aus denen wertvolle Schlussfolgerungen über die Erfolgs- und Risikopotentiale des Unternehmens im Strategiebereich gezogen werden können6. Eine Krisenfrüherkennung nur anhand einer Bilanzanalyse würde regelmäßig erhebliche Lücken bzw. Nachteile aufweisen7, da das externe Rechnungswesen primär auf eine ordnungsgemäße Rechnungslegung ausgerichtet ist. Demgegenüber kommt dem internen Rechnungswesen eine zentrale Funktion im Hinblick auf die Unterstützung der Geschäftsleitung durch zusätzliche Informationen zu8. Dies gilt insbesondere für Daten aus dem Beschaffungs-, Produktions-, Absatz- und Logistikbereich des Unternehmens, die ggf. mit Hilfe von Kennzahlen statistisch aufzubereiten sind.

2.150

Insbesondere eine Analyse des Produktsortiments ist aufschlussreich. Hauptaugenmerk muss hier der Altersstruktur gelten: Wird der Hauptumsatz mit Produkten erwirtschaftet, deren Produktlebenszyklus bereits die sog. Sättigungsphase erreicht hat, liegt eine strategische Krise des Unternehmens nahe, da mit sinkenden Absatzchancen zu rechnen ist9. In der Betriebswirtschaftslehre wird eine Sortimentsstruktur empfohlen, bei der 40–50 % des Umsatzes auf Produkte entfallen, die sich im Zenit ihres Lebenszyklus, der sog. Reifephase, befinden, 1 S. Geißler, DZWIR 2011, 309, 310; vgl. auch: BGH v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, NZG 2016, 658, 660 f. = ZIP 2016, 1119; BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967, 968 = NZG 2012, 940 = ZIP 2012, 1557; Noack in Noack/Servatius/Haas, § 49 GmbHG Rz. 20; Bayer in Lutter/ Hommelhoff, § 49 GmbHG Rz. 16. 2 Vgl. Kallmeyer, ZGR 1993, 111 f. 3 Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Rz. 6004. 4 S. Hess/Groß in Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 3 Rz. 162. 5 Drukarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 2 Rz. 32; Steffan in Oppenländer/Trölitzsch, GmbH Geschäftsführung, 3. Aufl. 2020, § 37 Rz. 7. 6 Vgl. Hauschildt, Erfolgs-, Finanz- und Bilanzanalyse, 3. Aufl. 1996, S. 1; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 230; Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 149 f. 7 Haghani in Bickhoff/Blatz, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004, S. 48 f. 8 Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 5. Aufl. 2015, Rz. 915 f. 9 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 197; vgl. weiterhin Haghani in Bickhoff/Blatz, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004, S. 54 f.

54 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.154 § 2

während sich die übrigen 50–60 % möglichst gleichmäßig auf die anderen Phasen, Einführungsphase, Wachstumsphase, Sättigungsphase und Degenerationsphase, verteilen sollen1. Viele Unternehmen zögern jedoch, ertragsschwache Produkte rechtzeitig aus dem Produktionsprogramm zu eliminieren oder den Marktbedürfnissen entsprechend zu variieren. Absatzwiderständen, die in der Sättigungsphase des Produktlebenszyklus regelmäßig auftreten, wird stattdessen oft durch verstärkte Absatzbemühungen begegnet. Auch die Erfolgsbeiträge der einzelnen Produkte sind zu untersuchen. Aufschlussreich ist zunächst der Umsatzanteil der verschiedenen Produkte am Gesamtumsatz. Wichtigstes Kriterium des Erfolgsbeitrages ist insoweit jedoch der sog. Deckungsbeitrag, der sich aus der Differenz zwischen den dem Produkt zurechenbaren Erlösen und der auf dieses entfallenden Kosten ergibt2.

2.151

Darüber hinaus kann eine Analyse der Produktion sinnvoll sein. Analysiert werden hier die Produktionsverfahren3, die Betriebsmittel4, die Personalsituation5 sowie die sonstigen Produktionsbedingungen (lokale Infrastruktur, räumliche Verhältnisse, geltende Sicherheits- und Umweltschutzbestimmungen sowie Abgabenlast). Unter strategischen Gesichtspunkten ist des Weiteren eine Analyse im Bereich der Kostensituation, des Marketings und der Forschung und Entwicklung möglich6.

2.152

Auch unternehmensexterne Daten sind, soweit sie für das Unternehmen von Relevanz sein können (Rz. 2.159), von der betrieblichen Statistik zu sammeln, so z.B. Daten zur Entwicklung der Beschaffungs- und Absatzmärkte oder zum Verhalten von Konkurrenzunternehmen7. Gerade in diesem Bereich werden häufig Unternehmenskrisen verursacht, etwa wenn wichtige Entwicklungen am Absatzmarkt, wie beispielsweise Trendwechsel, Änderungen des Nachfrageverhaltens oder technologische Neuerungen, nicht erkannt oder falsch eingeschätzt werden8.

2.153

3. Unternehmensplanung Finanzanalyse und betriebliche Statistik liefern ausschließlich vergangenheitsbezogene Informationen auf einer mehr oder weniger veralteten Datenbasis. Über dieses Instrumentarium erkannte Unternehmenskrisen befinden sich bereits in einem kritischen Stadium. Aktuelle Fehlentwicklungen im Unternehmen lassen sich zeitnah nur über einen ständigen Soll/Ist-Vergleich auf Basis einer detaillierten Unternehmensplanung ausmachen (vgl. auch Rz. 3.11 ff.)9. 1 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 195 ff. 2 Näher Hess/Groß in Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 3 Rz. 171 ff.; Harz/Hub/Schlarb, SanierungsManagement, S. 58, 152 ff.; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 198 f.; zur Deckungsbeitragsrechnung auch Gras in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 2 Rz. 39 f. 3 U.a. in Bezug auf Flexibilität, Komplexität und Lagerintensität (Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 202 f.). 4 U.a. in Bezug auf Auslastung, Altersstruktur und Qualität (Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 204 f., 230). 5 U.a. in Bezug auf Qualifikation, Fluktuation und Fehlzeiten (Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 205 f.). 6 Hierzu Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 207 ff. 7 Haghani in Bickhoff/Blatz, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004, S. 49 f. 8 Eichholz, BC 1998, 49; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 232. 9 Vgl. Gless, Unternehmenssanierung, 1996, S. 40; Gras in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 2 Rz. 33 ff.

Schluck-Amend | 55

2.154

§ 2 Rz. 2.155 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.155

Unternehmensplanung meint die Vorgabe der Unternehmensaktivitäten im strategischen und operativen Bereich. Während Allein- und Kleinunternehmer weitgehend intuitiv über das zukünftige Unternehmensverhalten zu entscheiden pflegen, ist bei steigendem Komplexitätsgrad der unternehmerischen Verhältnisse eine systematische Vorbereitung der Entscheidungen über künftiges Verhalten für einen nachhaltigen Unternehmenserfolg unabdingbar1.

2.156

Unternehmensplanung ist vor diesem Hintergrund als eine Methode zu verstehen, die Schritte konkret vorauszuplanen, die zur Erreichung der angestrebten Primärziele des Unternehmens erforderlich sind2. Manifestiert sich die Unternehmenskrise darin, dass diese Primärziele nicht erreicht werden, dann ermöglicht eine Kontrolle der Unternehmensplanung die Früherkennung dieser Krisen mit der Aussicht auf rechtzeitige Abwendung3. Eine Reihe von Unternehmenskrisen lassen sich dementsprechend auf Mängel in der Unternehmensplanung zurückführen4.

2.157

Für ein Planungs- und Kontrollsystem dieser Art ist zunächst eine Umwelt- und eine Unternehmensanalyse durchzuführen. Auf Grund der gewonnenen Daten ist eine strategische Planung zu erstellen, mit der die Verwirklichung der unternehmenspolitischen Grundsatzentscheide erreicht werden soll. Sie legt die grundsätzliche zukünftige Entwicklung des Unternehmens fest. Dabei hat die strategische Planung die zukünftige Unternehmensentwicklung zu sichern, indem sie die Voraussetzungen späterer andauernder Erfolge schafft5. Die Unternehmensziele sind hierfür klar zu formulieren6. Durch die operative Planung ist sodann die strategische Planung auf regelmäßige Planungsperioden zu übertragen und in operationale Ziele und Maßnahmepläne umzusetzen. Die betrieblichen Aktivitäten sind dazu in detaillierten Plänen und Budgets für alle Teilbereiche des Unternehmens aufeinander abzustimmen7.

2.158

Die Zielverwirklichung muss mit einem auf die Planung abgestellten Kontrollsystem auf allen Ebenen laufend überprüft werden, damit Plan- und Budgetabweichungen rechtzeitig erkannt werden und notwendige Korrekturmaßnahmen eingeleitet werden können (Controlling)8. Der Soll/Ist-Vergleich sollte – soweit verhältnismäßig9 – zumindest in monatlichen Abständen erfolgen10.

4. Analyse der Unternehmensumwelt 2.159

Unter der Annahme, dass die Unternehmenskrise in der Regel aus einer unzureichenden Anpassung an veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen folgt und zunächst im strategischen Bereich auftritt, ist Krisenfrüherkennung aber auch durch genaue Beobachtung des wirtschaftlichen Umfeldes möglich, dass das Unternehmen umgibt11. Ziel ist es, sog. „schwa1 Vogelsang, ZfbF 1988, 105; Feddersen, ZGR 1993, 116. 2 Kallmeyer, ZGR 1993, 108 f.; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 227. 3 Vgl. Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 108; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 228. 4 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 227 f. 5 Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 110. 6 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 227. 7 Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 110 f. 8 Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 152 f.; Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Kap. 6 Rz. 6004. 9 Vgl. Kallmeyer, ZGR 1993, 111 f. 10 Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Kap. 6 Rz. 6004. 11 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 231.

56 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.171 § 2

che Signale“ sich ankündigender Veränderungsprozesse frühzeitig zu erkennen, um ausreichende Zeit zur Reaktion zur Verfügung zu haben1. Erforderlich dafür ist die permanente und vor allem ungerichtete, also nicht vorab auf bestimmte Bereiche fixierte Umweltanalyse („Scanning“)2. Je früher ein derartiges Signal jedoch aufgenommen wird, desto schwerer fällt seine Interpretation (Beispiel von Bea/Haas3: die Auswirkung bestimmter Fortschritte in der Mikroelektronik auf die deutsche Uhrenindustrie). Schwache Signale lassen sich auch nicht in Kennziffern ausdrücken4. Oft lässt sich nicht einmal die Wirkungsrichtung dieser Signale (positiv oder negativ) ausmachen5. Neben diesem Interpretationsproblem besteht aber auch ein Implementationsproblem, da wegen der Ungerichtetheit dieser Wahrnehmungsaufgabe spezifische Handlungsanweisungen für deren Umsetzung kaum gegeben werden können6. Aus der unüberschaubaren Menge von Umweltbedingungen sind diejenigen Daten herauszufiltern, die für die gegenwärtige Lage relevant sind oder für die zukünftige Lage des Unternehmens relevant werden können. Entscheidender Erfolgsfaktor dieses Konzeptes ist eine entsprechende Sensibilisierung der Unternehmung für schwache Signale7. Aufgrund der aufgezeigten Schwierigkeiten hinsichtlich der Interpretation und Implementation, sowie des damit verbundenen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwands einer Krisenfrüherkennung anhand „schwacher Signale“ wird teilweise dafür plädiert, eine Rechtspflicht zur entsprechenden Analyse der Unternehmensumwelt nur für solche Gesellschaften anzunehmen, für die dies aufgrund ihrer Größe verhältnismäßig erscheint8. Einstweilen frei.

2.160

2.161–2.170

VI. Krisenvermeidende Organisation Aber auch organisatorische Mängel, z.B. eine ineffiziente Aufbauorganisation9 oder eine schwerfällige Ablauforganisation10, können zur Krisenanfälligkeit des Unternehmens erheblich beitragen und eine durchdachte Organisation andererseits einen wichtigen Beitrag zur Krisenabwehr darstellen. Im Interesse eines präventiven Krisenmanagements sind daher organisatorische Mängel zu beseitigen.

1 Bea/Haas, Strategisches Management, 10. Aufl. 2019, S. 95, 327 ff. und WiSt 1994, 488; Eichholz, BC 1998, 49; weiterhin Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 2 Rz. 47. 2 Vgl. Rz. 2.142 ff.; Bea/Haas, Strategisches Management, 10. Aufl. 2019, S. 328 und WiSt 1994, 488; Haag, ZfP 1993, 264. 3 Bea/Haas, WiSt 1994, 488. 4 Gless, Unternehmenssanierung, 1996, S. 41. 5 Eine Möglichkeit zur Bewältigung dieses Problems ist die sog. Szenario-Analyse, in der die möglichen Auswirkungen, geordnet nach Eintrittswahrscheinlichkeit, einander gegenübergestellt werden (vgl. Bea/Haas, Strategisches Management, 10. Aufl. 2019, S. 312 ff. und WiSt 1994, 489 ff.). 6 Bea/Haas, WiSt 1994, 488 f. 7 Bea/Haas, Strategisches Management, 10. Aufl. 2019, S. 153. 8 Bork, ZIP 2011, 101, 103. 9 Aufbauorganisation bedeutet die Strukturierung der Unternehmung in organisatorische Einheiten (Jung, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. Aufl. 2016, S. 268 ff.). 10 Gemeint ist die Gestaltung von Arbeitsprozessen innerhalb des von der Aufbauorganisation bereitgestellten Gerüsts (Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 27. Aufl. 2020, S. 103, 117 f.).

Schluck-Amend | 57

2.171

§ 2 Rz. 2.172 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.172

Vornehmlich in älteren Unternehmen hat sich oftmals ein „Verwaltungswasserkopf“ gebildet, der den Informationsfluss im Unternehmen bremst und hohe Kosten verursacht. Es ist somit bezüglich des nicht unmittelbar am Wertschöpfungsprozess beteiligten Personals zu prüfen, ob eine (zurückzuführende) Überbesetzung vorliegt1.

2.173

In der Unternehmensorganisation ist jedoch auch dafür Sorge zu tragen, dass die zur Abwehr von Unternehmenskrisen geeigneten Frühwarnsysteme in die Unternehmensstruktur aufgenommen werden, so dass sie im Unternehmen auch zur tatsächlichen Anwendung kommen.

1. Krisenaverse Organisationsstrukturen 2.174

Allgemein sind aus Sicht der Krisenprävention flexible und innovationsförderliche Organisationsstrukturen anzustreben, die ein rasches Reagieren auf kurzfristig veränderte Rahmenbedingungen erlauben („Lean Management“)2.

2.175

Die betriebswirtschaftliche Organisationslehre zählt hierzu u.a. eine flache Hierarchie mit kurzen Kommunikationswegen, eine starke Dezentralisierung3, geringe Spezialisierung auf Stellen- und Abteilungsebenen und die Minimierung der Stärke zentraler unterstützender Abteilungen (Stäbe)4.

2.176

Letztlich kann die Zweckmäßigkeit der Unternehmensorganisation jedoch nur unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten vor Ort beurteilt werden. Ein steigender Dezentralisationsgrad vergrößert beispielsweise den Koordinationsaufwand. Gerade bei dezentralen Organisationsstrukturen kann eine Unternehmenskrise aber auf mangelnde Koordination zurückzuführen sein5.

2.177

Bei der Aufbauorganisation ist darauf hinzuwirken, dass sich Aufgabenbereiche, Kompetenz und Ergebnisverantwortung möglichst entsprechen6. Generell ist auf eine zweckmäßige Abteilungsgliederung mit klaren Kompetenzabgrenzungen zu achten7. Bei der Ablauforganisation ist ein Gleichgewicht von Stabilität und Elastizität anzustreben, d.h. einerseits müssen gleichartige Aufgaben nach standardisierten Verfahren erledigt werden können, andererseits muss die Organisationsstruktur auch genügend Elastizität bieten, um bei außergewöhnlichen Aufgaben ausreichenden Dispositionsspielraum für flexible Reaktionen zur Verfügung stellen zu können8. 1 Eine von Spiegelberger (Kauf von Krisenunternehmen, 1996, S. 122, 260) durchgeführte Befragung amerikanischer Turnaround-Manager ergab, dass Krisenunternehmen durchschnittlich zu 30 % personell überbesetzt sind. 2 Vgl. auch Freilinger/Klis, Organisation 2000, 1994, S. 62 ff. 3 Gemeint ist die Verteilung gleichartiger Aufgaben auf mehrere Stellen (s. Jung, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. Aufl. 2016, S. 309). 4 Kieser/Walgenbach, Organisation, 6. Aufl. 2010, S. 393 ff.; Jung, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 13. Aufl. 2016, S. 283 f. 5 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 223. 6 S. Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 174; Vogelsang, ZfbF 1988, 100 f.; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 233. Insbesondere beim sog. „Stab-Liniensystem“ besteht die Möglichkeit, dass bestimmte Stellen Entscheidungen herbeiführen, die sie nicht verantworten (s. Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 27. Aufl. 2020, S. 112 ff.). Beispiel: Einstellung ungeeigneter Arbeitskräfte durch die Personalabteilung. Ähnliche Probleme entstehen bei der sog. „Matrix-Organisation“ (vgl. Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 183 ff.). 7 Hess/Groß in Hess, Sanierungshandbuch, S. 121. 8 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 222.

58 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.182 § 2

Bei der Organisation des Managements ist insbesondere bei kleinen und mittleren Betrieben eine unzureichende Aufgabendelegation festzustellen. Dadurch wird die Geschäftsleitung mit Routinearbeiten überlastet, und die eigentlichen Führungsaufgaben werden vernachlässigt1.

2.178

2. Organisation der Unternehmenskontrolle Trotz aller Effizienz im Hinblick auf den Unternehmensertrag sind in der Unternehmensorganisation jedoch auch Vorkehrungen zu treffen, welche die Implementation von Krisenfrühwarnsystemen ermöglichen2. Hierzu bedarf es grundsätzlich bestimmter Kontrollinstanzen.

2.179

a) Statutarische Berichtspflichten der Geschäftsführung Die gesetzlich vorgesehene Kontrollinstanz der GmbH ist die Gesellschafterversammlung. Organisatorisch ist dabei zu regeln, auf welcher Grundlage eine derartige Kontrolle erfolgen kann. Der jährlich erstellte Jahresabschluss als gesetzliche Mindestgrundlage der Unternehmenskontrolle ist hierfür unzureichend3. Empfehlenswert ist es deshalb, in den Gesellschaftsvertrag eine dem § 90 AktG entsprechende Klausel aufzunehmen, wonach die Geschäftsführung u.a. verpflichtet ist, der Gesellschafterversammlung vierteljährlich über den Gang der Geschäfte zu berichten, damit der Gesellschafterversammlung genug Informationen zur Verfügung stehen, um Unternehmenskrisen frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können4. Die konkrete Ausgestaltung der Berichtspflicht ist dabei auf die besonderen Verhältnisse der Gesellschaft abzustimmen5.

2.180

Eine regelmäßige Berichtspflicht als Grundlage einer ausreichenden und effektiven Kontrolle durch die Gesellschafterversammlung ist seit dem Inkrafttreten des StaRUG umso mehr angezeigt. Andernfalls läuft die Geschäftsführung Gefahr, ihrer Berichtspflicht aus § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG nicht im erforderlichen Maße nachzukommen.

2.181

b) Externe Unternehmenskontrolle Extern erstellte Prüfungsberichte sind ein gängiges Mittel zur Kontrolle der wirtschaftlichen Entwicklung eines Unternehmens. Nach § 316 HGB besteht für alle Kapitalgesellschaften, die keine kleinen i.S. des § 267 Abs. 1 HGB sind, die zwingende Pflicht, den Jahresabschluss und den Lagebericht durch einen Abschlussprüfer prüfen zu lassen. Kleine Kapitalgesellschaften können sich freiwillig einer Jahresabschlussprüfung unterziehen. Insbesondere bei geplanten Transaktionen oder zum Einsammeln von Fremdkapital sind testierte Abschlüsse regelmäßig erforderlich6. Unstimmigkeiten in Buchführung und Berichterstattung werden im Prüfungsbericht des Abschlussprüfers dokumentiert.

1 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 223. 2 BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967, 968 = NZG 2012, 940; BGH v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, GmbHR 1995, 299 = ZIP 1995, 560; BGH v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, GmbHR 2019, 227 = NZG 2019, 225, 229. 3 Hommelhoff, ZIP 1983, 386. 4 Nach § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG ist der Bericht des Vorstands an den Aufsichtsrat um Abweichungen von früher berichteten Zielen unter Angabe von Gründen zu erweitern (sog. follow-up). Damit wird eine Soll-Ist-Analyse ermöglicht bzw. erleichtert. 5 In diesem Sinne: Hommelhoff, ZIP 1983, 388 f. 6 Zur Früherkennung durch Kreditinstitute vgl. Rz. 3.51 ff.

Schluck-Amend | 59

2.182

§ 2 Rz. 2.183 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.183

Ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk des Jahresabschlussprüfers erfolgt nur bei Richtigkeit der finanziellen Berichterstattung. Gemäß § 321 HGB hat der Abschlussprüfer über das Ergebnis seiner Prüfung schriftlich zu berichten (§ 321 Abs. 1 HGB: Prüfungsbericht). Der Abschlussprüfer hat dabei im Hauptteil des Prüfungsberichts die Posten des Jahresabschlusses aufzugliedern und zu erläutern (§ 321 Abs. 2 HGB). Zuvor hat er aber zur Beurteilung der Unternehmenslage durch die Geschäftsleitung Stellung zu nehmen, wobei er insbesondere auf die Beurteilung des Fortbestandes und der künftigen Entwicklung des Unternehmens einzugehen hat. Nach § 321 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 HGB muss der Abschlussprüfer auch berichten, dass bestandsgefährdende oder die Entwicklung des Unternehmens wesentlich beeinträchtigende Maßnahmen vorliegen und welche Auffälligkeiten festgestellt worden sind1. Der Prüfungsbericht kann deshalb wichtige Hinweise auf mögliche Krisensituationen liefern. Krisen, die erst im Rahmen des § 321 HGB entdeckt werden, sind allerdings i.d.R. bereits weit fortgeschritten; eine ausreichende Krisenvorsorge kann durch die externe Prüfung des Jahresabschlusses daher nicht gewährleistet werden. Schließlich hat der Abschlussprüfer durch § 321 Abs. 2 Satz 4 HGB „auch auf wesentliche Bewertungsgrundlagen sowie darauf einzugehen, welchen Einfluss Änderungen in den Bewertungsgrundlagen einschließlich der Ausübung von Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechten und der Ausnutzung von Ermessensspielräumen sowie sachverhaltsgestaltende Maßnahmen insgesamt auf die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage haben“2. Um zu gewährleisten, dass der Abschlussprüfer seiner gesetzlichen Berichtspflicht auch tatsächlich nachkommt, insbesondere der nach § 321 Abs. 1 Satz 2 HGB u.a. geforderten Stellungnahme zur Lagebeurteilung, hat der Gesetzgeber in § 321a Abs. 1 HGB, für den Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Gesellschaftsvermögen oder der Abweisung eines entsprechenden Antrags mangels Masse, ein Recht auf Einsichtnahme in die Prüfungsberichte der letzten drei Geschäftsjahre begründet3. Dieses Recht steht den Gläubigern der Gesellschaft sowie den Gesellschaftern zu, beschränkt sich jedoch auf solche Prüfungsberichte, die aufgrund einer gesetzlichen Prüfungspflicht veranlasst wurden.

c) Interne Kontrolle 2.184

Zur Früherkennung von Unternehmenskrisen ist es deshalb notwendig, organisatorisch eine interne Unternehmenskontrolle zu installieren. Insbesondere bei solchen Frühwarnsystemen, die auf innerbetriebliche Krisenindikatoren abstellen, reicht es in der Praxis nicht aus, dem Geschäftsführer gesetzlich oder statutarisch bestimmte Einberufungs- oder Berichtspflichten aufzuerlegen. Denn dieser wird sich für derartige Fehlentwicklungen i.d.R. in irgendeiner Weise persönlich verantwortlich fühlen4. Es besteht also die Gefahr, dass das Krisensignal vom Geschäftsführer – bewusst oder unbewusst – unterdrückt wird und die rechtzeitige Ein1 So Theiss, GmbHR 2002, 231, 235: Ersatz der Negativerklärung zu Gunsten einer Positiverklärung. 2 Die Regierungsbegründung führt eine ganze Reihe von bilanzpolitischen Maßnahmen auf, über die bei wesentlicher Auswirkung zu berichten ist: Abschreibungen bei schlechter wirtschaftlicher Entwicklung oder unterlassene Abschreibungen; Angemessenheit der von der Geschäftsleitung zugrunde gelegten Ertragsaussichten, die gegebenenfalls für den Verkehrswert von Vermögensgegenständen von Bedeutung sind; Auflösung von Rückstellungen auf Grund geänderter Beurteilung der Wahrscheinlichkeit; sachverhaltsgestaltende Maßnahmen wie sale-and-lease-back usw., vgl. Begr. RegE des TransPuG, BR-Drucks. 109/02 v. 8.2.2002, S. 72. 3 Ebke in Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 2020, § 321a HGB Rz. 1 f. 4 Vgl. dazu auch Holzer, NZI 2005, 308, 315, der zu Recht darauf hinweist, dass sich die zuständigen Organe oftmals nicht eingestehen wollen, dass das Unternehmen in die Krise geraten ist; weiterhin Uhlenbruck/Leibner, KTS 2004, 505, 506 f.

60 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.186 § 2

berufung der Gesellschafterversammlung unterbleibt1. Es bedarf somit eines von der operativen Geschäftsführung organisatorisch getrennten Kontrollsystems, das über die wirtschaftliche Lage der GmbH ständig wacht.

Zu diesem Zweck muss das Unternehmen über ein internes Kontrollsystem verfügen, dem die Überwachung und Kontrolle der betrieblichen Tätigkeit obliegt (Controlling- und Revisionsabteilung)2. Die speziellen Aufgaben und der Umfang der Überwachung sind je nach Art des Wirtschaftszweiges und der Betriebsgröße unterschiedlich. Die ihr zugedachte Funktion kann diese Kontrollinstanz jedoch nur dann voll ausüben, wenn sie einerseits mit hinreichenden Befugnissen, andererseits mit der nötigen Unabhängigkeit ausgestattet ist3. § 91 Abs. 2 AktG sieht ebenso wie § 1 Abs. 1 StaRUG für Aktiengesellschaften die zwingende Einführung eines institutionalisierten Risikokontrollsystems vor4. Inwieweit diese Verpflichtung auch GmbHs betrifft, ist bisher nicht abschließend geklärt5. Die Gesetzesbegründung spricht von einer „Ausstrahlungswirkung“ des § 91 Abs. 2 AktG auf andere Gesellschaftsformen, ohne dies jedoch zu konkretisieren6. Teilweise wird angenommen, dass die Verpflichtung gemäß § 91 Abs. 2 AktG nur auf große Gesellschaften i.S. des § 267 Abs. 3 HGB zu übertragen sei7. Demnach wäre allerdings die Mehrzahl der GmbHs und GmbH & Co. KGs hiervon auf Grund ihrer Größe nicht betroffen. Die Einführung eines solchen Kontrollsystems könnte daher in diesen Fällen lediglich auf freiwilliger Basis empfohlen werden8. Der in kleineren Wirtschaftseinheiten oftmals anzutreffenden „Kaufmännischen Leitung“ sollten daher ebenfalls Controllingaufgaben zugewiesen werden. Dabei muss aber beachtet werden, dass die Kontrollaufgabe nicht mit dem bloßen Zusammentragen von Daten verwechselt wird und aus den vorhandenen Informationen keine entsprechenden Anstöße gegenüber den anderen Abteilungen bzw. der Geschäftsleitung erfolgen9.

2.185

3. Errichtung eines Aufsichtsorgans Dem Bedürfnis nach Kontrolle der Geschäftsführung kann aber auch durch weitere Maßnahmen im Bereich der Unternehmensverfassung, etwa durch die Einrichtung eines Kontroll1 Böckenförde, Unternehmenssanierung, S. 54. 2 Harz/Hub/Schlarb, Sanierungs-Management, S. 47; Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 224; Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 64. 3 Ulrich/Fluri, Management, 7. Aufl. 1995, S. 154. 4 Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 4. Aufl. 2006, Rz. A 880. 5 Vgl. hierzu Fleischer in Spindler/Stilz, § 91 AktG Rz. 40 m.w.N., Bork, ZIP 2011, 101, 103 ff. m.w.N., sowie Haas, Gutachten E, 66. DJT 2006, S. 105 f., der eine ausdrückliche Regelung für die GmbH nach Vorbild des § 22 des österreichischen GmbHG fordert; die h.M. geht insoweit davon aus, dass sich die Pflichten aus § 91 Abs. 2 AktG – zumindest teilweise – auch auf die GmbH übertragen lassen, vgl. Gras in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 2 Rz. 28; Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, § 91 AktG Rz. 87. Dogmatisch wird dies zum Teil auf eine analoge Anwendung des § 91 Abs. 2 AktG gestützt, während andere die gleichen Pflichten aus allgemeinen Grundsätzen herleiten wollen, vgl. hierzu Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, § 91 AktG Rz. 87. 6 Begr. RegE KonTraG, BT-Drucks. 13/9712, S. 15. 7 Drygala/Drygala, ZIP 2000, 297, 300; Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, § 91 AktG Rz. 87. 8 Ein solches internes Kontrollsystem ist auch Voraussetzung dafür, dass die Geschäftsführer bei erfolgter Geschäftsverteilung ihre dennoch bestehende Informations- und Überwachungsverantwortung wahrnehmen können, zu dieser vgl. Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 119 ff. 9 Geißler, DZWIR 2011, 309, 310; zur Definition und den Aufgaben des Controllings auch Gras in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 2 Rz. 86 ff.

Schluck-Amend | 61

2.186

§ 2 Rz. 2.186 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

organs, Rechnung getragen werden1. Denn die GmbH verfügt – im Gegensatz zur AG – im Normalfall2 über kein obligatorisches Aufsichtsorgan, das die Tätigkeit der Geschäftsführung laufend zu überwachen hat. Eine effektive Krisenprävention hängt aber davon ab, die Gesellschafterversammlung rechtzeitig über Fehlentwicklungen des Unternehmens zu informieren. Zu diesen Zwecken ist an die Errichtung eines unabhängigen Gesellschaftsorgans, welches zur Kontrolle der Geschäftsführung berufen ist, zu denken3. GmbH-rechtlich handelt es sich dabei stets um einen Aufsichtsrat i.S. des § 52 GmbHG, auch wenn das Organ in der Satzung als Beirat, Gesellschafterausschuss oder Verwaltungsrat bezeichnet wird4.

2.187

Der Aufsichtsrat hat – neben der Gesellschafterversammlung – die Geschäftsführung auf Legalität5, Ordnungsmäßigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit zu überwachen und dahin gehend zu beraten6. Diese Aufgabe bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ist vor allem auch ex ante-Kontrolle begleitender und vorausschauender Natur7. Satzungsmäßig sollte diesem Organ die Einberufungskompetenz und -pflicht für die Gesellschafterversammlung eingeräumt werden, wenn es im Zuge seiner Tätigkeit auf bestimmte Warnsignale stößt. Um diesem Organ die Möglichkeit des Erkennens solcher Warnsignale zu ermöglichen, sollte über die Satzung zudem ein entsprechendes Berichtswesen implementiert werden, nach dem die Geschäftsführung dem freiwilligen Aufsichtsrat in bestimmten zeitlichen Abständen zu berichten hat. Die konkrete Ausgestaltung der Berichtspflicht ist dabei auf die besonderen Verhältnisse der Gesellschaft abzustimmen (s. auch Berichtspflicht der Geschäftsführung gegenüber der Gesellschafterversammlung Rz. 2.180).

2.188

Dem Aufsichtsrat sollten fest umrissene Kompetenzen und Verantwortlichkeiten übertragen werden. Die Mitglieder des Aufsichtsrats sollten zumindest nicht ausschließlich aus Gesellschaftern der GmbH bestehen; nach Möglichkeit sollte die Gesellschafterversammlung stattdessen besonders qualifizierte, erfahrene und unabhängige Persönlichkeiten berufen8. Selbst bei kleineren GmbHs muss ein Aufsichtsrat keinen unverhältnismäßig großen Aufwand bedeuten; nach h.M. ist schon ein Ein-Personen-Aufsichtsrat möglich9. 1 Durch das TransPuG wurden eine Reihe von Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex vom 26.2.2002 umgesetzt, abgedruckt in ZIP 2002, 452. Der Kodex enthält auch heute noch in D. umfassende Regelungen zum verstärkten Zusammenwirken von Geschäftsführung und Aufsichtsorgan, insbesondere zu Informations- und Berichtspflichten der Geschäftsführung, vgl. Grundsätze 16, 17; zum Erreichen guter Governance in Familienunternehmen durch Einrichtung eines Beirats: Koeberle-Schmid/Groß/Lehmann-Tolkmitt, BB 2011, 888 ff. 2 Anders bei der mitbestimmten GmbH (vgl. Uwe H. Schneider/Seyfarth in Scholz, § 52 GmbHG Rz. 23 ff., 27 ff.; Noack in Noack/Servatius/Haas, § 52 GmbHG Rz. 144 ff., 269 ff.: insbesondere nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG und § 1 Abs. 1, § 6 Abs. 1 MitbestG bei Gesellschaften die mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen). 3 Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 223 f.; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 52 GmbHG Rz. 3. 4 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 52 GmbHG Rz. 4. 5 OLG Karlsruhe v. 4.9.2008 – 4 U 26/06, WM 2009, 1147 = AG 2008, 900. 6 Heermann in Habersack/Casper/Löbbe, § 52 GmbHG Rz. 87 f.; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 52 GmbHG Rz. 16. 7 Altmeppen, § 52 GmbHG Rz. 26; Heermann in Großkommentar zum GmbHG, § 52 GmbHG Rz. 89; BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130 = AG 1991, 312 = ZIP 1991, 653 = GmbHR 1991, 324 zum Aktienrecht. 8 Vogelsang, ZfbF 1988, 100; vgl. auch Uwe H. Schneider/Seyfarth in Scholz, § 52 GmbHG Rz. 215 ff. zu zwingenden Wählbarkeitsvoraussetzungen beim fakultativen Aufsichtsrat. 9 S. Uwe H. Schneider/Seyfarth in Scholz, § 52 GmbHG Rz. 121; Noack in Noack/Servatius/Haas, § 52 GmbHG Rz. 32; krit. Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 52 GmbHG Rz. 5.

62 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.203 § 2

Nach § 110 Abs. 3 AktG, der sinngemäß über § 52 Abs. 1 GmbHG auch für den Aufsichtsrat der GmbH greift, wird die Sitzungsfrequenz des Aufsichtsrats auf grundsätzlich zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr erhöht, wobei in nicht börsennotierten Gesellschaften der Aufsichtsrat beschließen kann, dass eine Sitzung ausreichend ist. Die Satzung kann die Modalitäten des freiwilligen Aufsichtsrats der GmbH im Einzelnen regeln. Einstweilen frei.

2.189

2.190–2.200

VII. Krisenmanagement Sollte sich trotz der laufenden Kontrolle eine Krisensituation des Unternehmens zeigen, so ist ein schnelles und wohl überlegtes Krisenmanagement angezeigt. Hierzu bedarf es zunächst einer Schwachstellenanalyse (1., Rz. 2.202 ff.), anschließend – oder sofern möglich auch parallel – sollten erste Maßnahmen des Krisenmanagements festgelegt und auch durchgeführt werden (2., Rz. 2.205 ff.).

2.201

1. Schwachstellenanalyse Ausgangsbasis der Schwachstellenanalyse1 ist die Analyse des ganzen Unternehmens. Sie deckt Sachverhalte und Zusammenhänge auf, die sich aus den vorliegenden Daten nicht unmittelbar ergeben. Es kommen hierfür sowohl verschiedene Methoden der Aufbereitung quantitativer Merkmale als auch Verfahren zur Ermittlung qualitativer Daten in Betracht. In Wissenschaft und Praxis sind eine Vielzahl von Methoden und Techniken der Unternehmensanalyse wie z.B. die Konkurrentenanalyse, Szenario-Analyse, Wertanalyse und Portfolio-Methoden entwickelt worden. Die Bestimmung des im Einzelfall anzuwendenden Verfahrens steht im pflichtgemäßen Ermessen des Analysierenden; seinen besonderen Kenntnissen und Erfahrungen kommt daher große Bedeutung zu. Bei der Verfahrensauswahl ist auch zu berücksichtigen, dass Umfang und Tiefe der Analyse durch die geringe Zeit, die im Rahmen der Unternehmenssanierung zur Verfügung steht, begrenzt sind. Die Analyse des Unternehmens erstreckt sich sowohl auf die Lagebeurteilung als auch auf die Analyse der unternehmensinternen Krisenursachen und Schwachstellen.

2.202

Die strategische Ausrichtung des Unternehmens erweist sich schon seit Jahren als einer der gravierenden Schwachpunkte vieler Unternehmenskonzepte. Marktveränderungen werden entweder überhaupt nicht oder zu spät zur Kenntnis genommen. Der strategischen Analyse kommt deshalb eine herausragende, in vielen Fällen die entscheidende Bedeutung zu. Die strategische Analyse muss der Unternehmensführung die notwendigen betriebsinternen Veränderungen aufzeigen, mit denen sie auf strukturelle Marktveränderungen zu reagieren hat. Ansatzpunkt der strategischen Analyse ist die Erfassung der sich verändernden unternehmensexternen Bedingungen (zur Unternehmensumweltanalyse vgl. Rz. 2.159 ff.). Hierzu gehören im Wesentlichen2

2.203

– die Analyse des gesamten Marktes, – die Analyse der eigenen Branche und – die Analyse des Wettbewerbs. 1 Zur Schwachstellenanalyse auch unter Nennung einzelner Sofortmaßnahmen in einzelnen Unternehmensbereichen: Steffan in Oppenländer/Trölitzsch, GmbH-Geschäftsführung, § 37 Rz. 46 ff. 2 Vgl. Kußmaul, DStR 1999, 1579, 1583; Steffan in Oppenländer/Trölitzsch, GmbH-Geschäftsführung, § 37 Rz. 116.

Schluck-Amend | 63

§ 2 Rz. 2.204 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.204

Das Unternehmen prüft zweckmäßige Anpassungsmaßnahmen an die sich verändernden Marktbedingungen durch – eine Potentialanalyse; sie soll die kurz-, mittel- und langfristig mobilisierbaren Unternehmensressourcen aufzeigen, – eine Stärken-/Schwächenanalyse, mit der insbesondere die möglichen Reaktionen auf das Verhalten des Wettbewerbs untersucht werden, – eine Chancen-/Risikenanalyse in Ergänzung der Stärken-/Schwächenanalyse zur Eingrenzung des möglichen Erfolgs bzw. des Misserfolgs und schließlich eine – Portfolioanalyse, die die „Machbarkeit“ der Anpassungsmaßnahmen zum Untersuchungsgegenstand hat.

2. Strategien a) Krisenmanagement im operativen Bereich 2.205

Je nach Stadium der eingetretenen Krise eröffnen sich mehrere Stoßrichtungen für ein Krisenmanagement. Die Krisendiagnose bietet hierfür den Ausgangspunkt. Ist die Krise bereits so weit fortgeschritten, dass die Insolvenz droht oder unmittelbar bevorsteht, so müssen neben Sanierungsmaßnahmen im operativen Bereich auch rechtliche Sanierungsmaßnahmen im Hinblick auf etwaige Insolvenzgründe eingeleitet werden1. Im fortgeschrittenen Krisenstadium ist es einzelnen Personen meist nicht mehr möglich, die vielfältigen erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, geschweige denn diese allein umzusetzen. Eine personelle Verstärkung zur Unterstützung der Geschäftsführung ist daher meist unumgänglich. aa) Veränderungen in der Geschäftsleitung

2.206

Stellen die Gesellschafter einer GmbH fest, dass die bisherige Geschäftsführung den veränderten Umständen in der Unternehmenskrise nicht gewachsen ist, so kann die Notwendigkeit bestehen, die Geschäftsführung auszutauschen oder zumindest durch einen Krisenmanager zu ergänzen2. Solche Personalentscheidungen und insbesondere deren Umsetzung erfordern regelmäßig ein gewisses Fingerspitzengefühl gegenüber den bisherigen Gesellschaftsorganen und gleichzeitig die erforderliche Entschlossenheit. Gefährlich wird die Situation allerdings dann, wenn die bisherige Geschäftsführung lediglich als „Bauernopfer“ abberufen wird. Gewonnen ist damit noch nichts, zumal das Unternehmen dann mit der bisherigen Geschäftsführung oft dringend benötigte Knowhow-Träger verliert.

2.207

Zudem besteht in der Praxis regelmäßig die Problematik, geeignete Krisenmanager zu finden, die auch bereit sind, die Organstellung in der Gesellschaft zu übernehmen. Vor dem Hintergrund einer etwaigen Geschäftsführerhaftung, deren Umfang gerade in Krisensituationen äußerst weit sein kann, neigen viele Krisenmanager dazu, als „Bevollmächtigte“ neben den eigentlichen Geschäftsführern aufzutreten, ohne sich allerdings als Gesellschaftsorgan bestellen zu lassen. Dass für „faktische Geschäftsführer“ grundsätzlich die identischen Haftungs-

1 S. zur Krisenintensität Holzer, NZI 2005, 308, 311. 2 Steffan in Oppenländer/Trölitzsch, GmbH-Geschäftsführung, § 37 Rz. 42; Kaufmann in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 20 Rz. 7, spricht sogar von „Schönwetterkapitänen“, deren Managementstil nicht zur Krisenbewältigung tauge.

64 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.211 § 2

maßstäbe gelten wie für diejenigen, die im Handelsregister eingetragen sind1, wird dabei freilich nur allzu oft übersehen. Zu begegnen ist ebenso dem Irrtum, dass die Implementierung eines einzigen Krisenmanagers ausreicht, um der Unternehmenskrise wirksam begegnen zu können. Die vielfältigen und sich z.T. erheblich voneinander unterscheidenden Aufgaben sind meist nur durch eine größere Anzahl von Leistungsträgern zu bewältigen. Die Verstärkung der Geschäftsführung durch Krisenmanager führt in vielen Fällen zu einer objektiveren Sicht der tatsächlichen Krisensituation. Die bisherige Geschäftsführung neigt oftmals zu einem zu großen Optimismus. Zudem muss bedacht werden, dass die Unternehmenskrise und die damit einhergehende Insolvenzgefahr automatisch zu einer persönlichen Bedrohung der bisherigen Geschäftsführung wird. Denn die ggf. erforderlich werdende Beantragung eines Insolvenzverfahrens geht oftmals auch mit dem absehbaren Ende der Stellung als Geschäftsführer einher. Die psychologische Hemmschwelle, die einer frühzeitigen Einleitung eines Insolvenzverfahrens entgegensteht, besteht regelmäßig auch bereits bei der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Unternehmenskrise2. Im fortgeschrittenen Stadium einer Krise weicht der eingangs beschriebene Optimismus der Geschäftsführung oftmals einer lähmenden Resignation. Dies führt dazu, dass die Geschäftsleitung die Krise zwar nunmehr in vollem Umfang wahrnimmt oder zumindest zur Kenntnis nehmen muss, gleichzeitig aber nicht mehr davon ausgeht, dass sie die Krise bewältigen kann3. Externe Krisenmanager unterliegen diesen Mechanismen naturgemäß nicht.

2.208

Gleichwohl kann die Implementierung externer Krisenmanager aus anderen Gründen problematisch sein. Um effiziente Sanierungsmaßnahmen einleiten zu können, ist die Geschäftsleitung auf Informationen aus dem Unternehmen und die Unterstützung der Mitarbeiter angewiesen. Gerade hier besteht die Gefahr, dass die wesentlichen Informationen auf Grund fehlenden Vertrauens oder der Angst, selbst Opfer von Sanierungsmaßnahmen zu werden, insbesondere wenn ein früheres Fehlverhalten aufgedeckt werden muss, nicht an externe Krisenmanager weitergeleitet werden.

2.209

Problematisch sind weiterhin die Fälle, in denen externe Krisenmanager auf Druck beteiligter Gläubiger, insbesondere Banken, implementiert werden. Diese Krisenmanager werden oft als „einseitige Interessenvertreter“ wahrgenommen, weshalb ihnen die nötige Akzeptanz im Unternehmen fehlt. Unter diesen Umständen erfordern die Versuche, die Krise zu bewältigen, erhöhte Anstrengungen.

2.210

bb) Verbesserung der Informationsstruktur zur Ermöglichung der Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen Ausgehend von der Krisendiagnose bzw. Schwachstellenanalyse gilt es in einem zweiten Schritt nunmehr, die erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten, um die erkannten Schwachstellen zu beseitigen. Im Rahmen eines Sanierungsplans sind die erforderlichen Maßnahmen zu erarbeiten. Gleichzeitig sind Zeitfenster für die Erfüllung der festgelegten Maßnahmen zu definieren. Ebenso nötig ist die Festlegung von regelmäßigen Zwischenkontrollen, um etwaigen Umsetzungsproblemen zeitnah begegnen zu können. 1 BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61 = WM 2002, 960 = GmbHR 2002, 549 m. Anm. Bender = ZIP 2002, 848; vgl. dazu mit umfassenden Nachweisen auch zur Gegenansicht: Fleischer in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 43 GmbHG Rz. 220 ff. 2 Vgl. hierzu auch Lange in Bickhoff/Blatz, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004, S. 124. 3 Uhlenbruck/Leibner, KTS 2004, 505, 506 f.

Schluck-Amend | 65

2.211

§ 2 Rz. 2.212 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

2.212

Ein maßgeblicher Schritt, um überhaupt die Grundlagen für ein erfolgreiches Krisenmanagement zu legen, ist in vielen Fällen die Veränderung der unternehmensinternen Informationsstruktur. Der Informationsfluss muss straffer und schneller gestaltet werden. Da die Auswertung des externen Rechnungswesens auf Grund der verzögerten Erstellung des Datenmaterials bereits für die Krisenabwehr nur eingeschränkt tauglich ist, ist sie für die Bewältigung einer bereits eingetretenen Krise nahezu unbrauchbar. Anhand des externen Rechnungswesens kann erst hinterher überprüft werden, ob eingeleitete Sanierungsmaßnahmen greifen.

2.213

Mit der Veränderung der unternehmensinternen Informationsstrukturen muss auch eine organisatorische und operative Einbindung des ggf. neuen „Krisen-Stabs“ einhergehen1. Ebenso sind die jeweiligen Verantwortlichen aus den betroffenen Unternehmensbereichen festzulegen, welche die Umsetzung der jeweiligen Sanierungsmaßnahmen vollziehen sollen. Dies setzt voraus, dass sich die Geschäftsführung „nach unten“ öffnet und die oftmals vernachlässigte oder bewusst schlecht informierte „zweite Ebene“ innerhalb der Unternehmenshierarchie gezielt in das Krisenmanagement mit einbindet. Auch wenn dies für die bisherige Geschäftsführung mit dem unerfreulichen unternehmensinternen Eingeständnis der Krise verbunden sein mag, so ist dieser Schritt in der Mehrzahl der Fälle unerlässlich. Ebenso kann sich die Bildung von Projektgruppen mit Mitarbeitern aus allen Unternehmenshierarchien anbieten, um konkrete Sanierungsmaßnahmen am effizientesten zu gestalten2. cc) Kontrollmaßnahmen und Signale

2.214

Um die Umsetzung bzw. das Gelingen der angestrebten Sanierungsmaßnahmen überprüfen zu können, ist es erforderlich, dass die festgelegten Zwischenkontrollen, d.h. der Soll-Ist-Vergleich, strikt eingehalten werden. Krisensituationen ist immanent, dass sie ein hohes Maß an Eigendynamik entwickeln. Umso wichtiger ist es, durch strukturierte Abläufe zu gewährleisten, dass die geplanten Aktionen durchgeführt werden und die Tätigkeit des Krisenmanagements sich nicht in Reaktionen auf ständig neue Problempunkte erschöpft.

2.215

Um die nötige Akzeptanz für Sanierungsmaßnahmen bei der Belegschaft im Krisenunternehmen zu erlangen, kann es angezeigt sein, dass die Geschäftsleitung entsprechende Signale setzt. Gehen den Sanierungsmaßnahmen insbesondere Einschnitte auf der Geschäftsleitungsebene voraus, so wird dies das Vertrauen der ggf. ebenfalls betroffenen Belegschaft in einen ernsthaften Sanierungswillen stärken, der auch vor der „Chef-Etage“ nicht haltmacht. Gleich wenn die Aufgabe von Statussymbolen (z.B. der unternehmenseigene Fahrdienst etc.) in finanzieller Hinsicht – gemessen am gesamten Einsparungsvolumen – nicht entscheidend ins Gewicht fallen werden, so demonstrieren sie dennoch die nötige Entschlossenheit des Krisenmanagements3.

b) Krisenmanagement im rechtlichen Bereich 2.216

Hat die Krise ein Stadium erreicht, in dem bereits die Zahlungsunfähigkeit droht (oder gar eingetreten ist) oder eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne gegeben ist, so gilt es, ne1 Kaufmann in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 20 Rz. 41 ff. 2 Vgl. hierzu Kraus in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 4 Rz. 41 ff. 3 Vgl. hierzu Beutin/Ziechmann in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Aufl. 2014, § 9 Rz. 89; in § 87 Abs. 2 AktG ist sogar die Möglichkeit der Anpassung der Vorstandsvergütung in Krisenzeiten ausdrücklich aufgenommen. Mit der Frage der Haftung des Aufsichtsrats im Falle der Nichtanpassung beschäftigt sich Kaiser, RdA 2010, 280 ff.

66 | Schluck-Amend

§ 2 Krisenvorsorge | Rz. 2.220 § 2

ben den Sanierungsmaßnahmen im operativen Bereich auch die Insolvenzgründe zu beseitigen oder zu verhindern. Jedoch auch bereits vor Erreichen dieses Stadiums1 verpflichtet § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG die Geschäftsführung zum Ergreifen geeigneter Gegenmaßnahmen, wenn diese den Fortbestand der juristischen Person gefährdende Entwicklungen erkennt (vgl. Rz. 2.141). Dies kann durch Maßnahmen der Gesellschafter oder Dritter kurzfristig erreicht werden. Die nachhaltigste Maßnahme der Gesellschafter ist die Durchführung einer Kapitalerhöhung. Anstelle einer Kapitalerhöhung könnten die Gesellschafter auch eine beschränkte Nachschusspflicht durch Satzungsänderung nach §§ 26, 28 GmbHG einführen. All diese Maßnahmen sind in der Regel nur mittelfristig möglich. Kurzfristig kann die Insolvenz durch mit einem Rangrücktritt versehene Kredite abgewendet werden, im Fall bloßer Überschuldung auch durch den Rangrücktritt2 an sich oder durch eine harte Patronatserklärung der Gesellschafter. Auch Finanz- und Warenkredite Dritter können mit einem Rangrücktritt versehen werden.

2.217

Bevor aber mit solchen Sanierungsmaßnahmen im rechtlichen Bereich begonnen werden kann, muss meistens „psychologische Vorarbeit“ geleistet werden. Befindet sich ein Unternehmen in der Krise, so ist das Vertrauensverhältnis zwischen der Geschäftsführung und den Gesellschaftern häufig gestört. Wechselseitige Schuldvorwürfe vergrößern den eingetretenen Vertrauensverlust. Dies führt dazu, dass Sanierungskonzepte der Geschäftsführung nicht die nötige Akzeptanz durch die Gesellschafter erfahren3. Ist zudem eine Kapitalzufuhr erforderlich oder dienlich, so kann dies von der Geschäftsführung nur schwerlich vermittelt werden. Hier kann die Einschaltung externer Berater durch die Geschäftsführung oder durch die Gesellschafter dazu führen, das Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. Dieselbe Funktion erfüllt auch ein Krisenmanager, der als weiteres oder neues Gesellschaftsorgan in die Geschäftsleitung eintritt.

2.218

Auch das Vertrauensverhältnis zwischen finanzierenden Banken, Warenkreditversicherern einerseits und der Geschäftsführung und den Gesellschaftern andererseits ist im Krisenfall regelmäßig gestört. Hier kann es sich ebenfalls anbieten, dass zusätzliche Sanierungsberater vermittelnd tätig werden. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei allerdings, dass die beauftragten Sanierungsberater die nötige Akzeptanz bei der Geschäftsführung genießen4 und gleichzeitig unabhängig von den beteiligten Gläubigern sind. Erst auf Basis dieses wieder gewonnenen Vertrauens können dann konkrete Sanierungsmaßnahmen im rechtlichen Bereich eingeleitet werden.

2.219

Begleitend zu den Verhandlungen mit Gesellschaftern und Gläubigern ist unternehmensintern stets dafür Sorge zu tragen, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen eingehalten werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf eine u.U. schon laufende Antragsfrist. Gerade vor diesem Hintergrund ist darauf zu achten, dass etwaige Zugeständnisse durch Kreditgeber nicht lediglich dazu führen, dass die Insolvenz zu Lasten anderer Gläubiger hinausgezögert wird5. Ist dies der Fall, so können hieraus nicht unerhebliche Schadensersatzansprüche resultieren.

2.220

1 Zum Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG s. Rz. 10.8. 2 Zu den Voraussetzungen und der nötigen Ausgestaltung eines sog. qualifizierten Rangrücktritts: BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, NJW 2015, 1672 = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian. 3 Vgl. Kraus/Haghani in Bickhoff/Blatz, Die Unternehmenskrise als Chance, 2004, S. 19 f. 4 Dies impliziert ebenfalls die Notwendigkeit, dass sich Krisenmanager oder Sanierungsberater auch gegen die Interessen der Geschäftsführung und Gesellschafter durchsetzen können müssen, vgl. Kaufmann in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 20 Rz. 20. 5 Uhlenbruck/Leibner, KTS 2004, 505, 508.

Schluck-Amend | 67

§3 Krisenfrüherkennung I. Selbstprüfung und Früherkennung durch die Geschäftsführer 1. Selbstprüfungspflicht der Gesellschaftsorgane 3.1

Die kontinuierliche Kontrolle der Finanzsituation der Gesellschaft gehört zu den „10 Gebote [n] an den Geschäftsführer“1 und ist Bestandteil der Corporate Governance jedes Unternehmens. Schon für § 91 Abs. 2 AktG als erste Kodifizierung dieser Grundsätze war anerkannt, dass die Regelung Ausstrahlungswirkung auch auf andere Rechtsformen hat und der Geschäftsführer einer GmbH nicht von dieser Aufgabe befreit ist, weil das GmbHG keine entsprechende Regelung vorsieht2: das GmbH-Recht lässt lediglich mehr Flexibilität zu. Durch Satzung oder Gesellschafterbeschluss kann in gleicher Weise ein förmliches Krisenwarnsystem installiert werden3. Inzwischen verpflichtet das am 1.1.2021 in Kraft getretene Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG), mit dem die EU-Restrukturierungsrichtlinie4 umgesetzt wurde, die Geschäftsleiter von Unternehmen, „fortlaufend über Entwicklungen, welche den Fortbestand der juristischen Person gefährden können“, zu wachen und bei Erkennen solcher Entwicklungen geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen (§ 1 Abs. 1 StaRUG). Die konkrete Ausgestaltung und Reichweite dieser Pflicht ist von der Größe, Branche, Struktur und auch Rechtsform des jeweiligen Unternehmens abhängig5. In § 1 Abs. 2 StaRUG wird diese Pflicht auf andere Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit – und somit zu einer rechtsformunabhängigen Regelung – erweitert; Instrumente zur frühzeitigen Identifizierung von Krisen sollen vom Justizministerium bereitgestellt werden (§ 101 StaRUG)6.

3.2

Die Selbstprüfungsaufgabe ist notwendige Voraussetzung einer erfolgreichen Tätigkeit der Gesellschaft und setzt nicht erst im Vorfeld der Krise ein (zur Liquiditätsvorsorge Rz. 2.101 ff.). Sie wird besonders akut, sobald es um Krisenvermeidung, Sanierung und Insolvenz-Früherkennung geht. Die Verpflichtung eines etwa vorhandenen Aufsichtsrats zur Solvenz- und Sanierungsbedarfsprüfung ist diesem Amt immanent. Auch hier entlastet die Kontrollaufgabe eines Aufsichtsrats den Geschäftsführer ebenso wenig wie das gänzliche Fehlen eines Aufsichtsorgans. Im Vorfeld der Insolvenz bedarf es besonders intensiver Anstrengung der in § 43 Abs. 1 GmbHG apostrophierten „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns“7. Jeder Sanierungsbedarf, jede Sanierungsstrategie, jede konkrete Sanierungsmaßnahme oder deren Unter1 Lutter, GmbHR 2000, 301, 305. 2 Zum Risikomanagement Verse in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 43 GmbHG Rz. 66 ff.; Spindler, Unternehmensorganisationspflichten, 2001, S. 386 ff.; Altmeppen, ZGR 1999, 300. 3 Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 90 Rz. 11. 4 RL (EU) 2019/1023 vom 20.6.2019; https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX %3A32019L1023. 5 Ehret in Braun, 1. Aufl. 2021, § 1 StaRUG Rz. 5. 6 Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie bietet im Internet für Existenzgründer eine „Früherkennungstreppe“ als Checkliste an: https://www.existenzgruender.de/SharedDocs/Down loads/DE/Checklisten-Uebersichten/Krisenvorbeugung-Krisenmanagement/01_uebersicht-Frueh erkennungstreppe.pdf?__blob=publicationFile. 7 Über Fakten vgl. Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz, 1999, S. 414 ff.

68 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.4 § 3

lassung bedarf rascher, gewissenhafter und zielorientierter Prüfung. Zur Pflicht, die Gesellschafterversammlung einzuberufen (§ 49 Abs. 2 und 3 GmbHG) vgl. Rz. 2.145. Je näher die Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit bzw. die Gefahr ihres Eintritts rückt, umso mehr konkretisieren und verschärfen sich die Selbstprüfungspflichten. Die Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) ist zuweilen als ein sanierungsfeindliches Rechtsinstrument missverstanden worden, verbunden mit dem Ruf nach der Abschaffung dieser gesetzlichen Pflicht im Sanierungsinteresse1. Nach richtigem Verständnis handelt es sich jedoch um einen Aufruf zur selbstverantwortlichen Solvenz- und Sanierungsprüfung2. Sie bezweckt der Sache nach ein Verbot der Insolvenzverschleppung und ist die deutsche Variante des „wrongful trading“ (vgl. Rz. 38.1)3. Bevor der Geschäftsführer den Weg zum Insolvenzrichter antritt, will § 15a InsO ihn dazu anhalten, im Fall einer Krise die Gesellschaft rechtzeitig zu sanieren oder (!) den Insolvenzantrag zu stellen. Hinter der vom MoMiG-Gesetzgeber insolvenzrechtlich eingeordneten4 Regel des § 15a InsO verbirgt sich als ungeschriebene unternehmensrechtliche Regel das Gebot der Krisenvermeidung, der Krisenfrüherkennung und der Krisenüberwindung durch frühe Sanierung. Dies hat der Gesetzgeber durch das ESUG nochmals unterstrichen. Versäumt es die Geschäftsführung, durch laufende Selbstprüfung des Unternehmens drohende Krisen abzuwenden oder eingetretene Krisen durch Sanierungsmaßnahmen zu überwinden, so handelt sie gesetzwidrig nicht nur durch das Unterlassen eines Insolvenzantrags, sondern auch durch die verbotene Fortführung der Geschäfte trotz eingetretener Insolvenz5.

3.3

2. Pflichtenkollisionen Die Konfliktsituation der Geschäftsführer im Vorfeld des § 15a InsO ist trotz der vorstehenden Erwägungen unbestreitbar. Sie müssen unverzüglich reagieren und haften bei verspätetem Insolvenzantrag nach § 823 Abs. 2 BGB, § 15a InsO den Gläubigern (Rz. 38.18 ff.) bzw. nach § 15b Abs. 4 InsO der Gesellschaft (Rz. 38.51 ff.)6. Andererseits können sie aber auch bei verfrühtem Insolvenzantrag nach § 43 Abs. 2 GmbHG der Gesellschaft gegenüber haftpflichtig sein7. Eine präzise Feststellung, wann genau Zahlungsunfähigkeit eintritt (Rz. 14.31 ff.), ist aber selbst bei seriösester Anstrengung und bei Kenntnis aller relevanten Fakten regelmäßig kaum möglich. Auch ist die Insolvenzantragsfrist des § 15a InsO kein Freibrief für untätiges Zuwarten, sondern eine letzte Chance für Sanierungsanstrengungen. Eine verspätete Sanierung kann nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist eine Verletzung des § 15a InsO nicht mehr rückgängig machen. Ziel des Geschäftsführerhandelns muss deshalb eine Vermeidung oder Beseitigung einer Zahlungsunfähigkeit vor dem Ablauf der Drei-Wochen-Frist bzw. SechsWochen-Frist bei Überschuldung (s. dazu § 4a SanInsKG: Verlängerung auf acht Wochen bis 1 Z. B. Wüst, JZ 1985, 819 ff. 2 Karsten Schmidt in 54. DJT, Band 1, 1982, Gutachten D, S. D 107 f. 3 Karsten Schmidt in Lutter, Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa, 2006, S. 201; Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 64 GmbHG Rz. 274, 283. 4 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/6140, S. 55 = ZIP-Beilage zu Heft 23/2007, S. 31. 5 Zu den strafrechtlichen Konsequenzen Karsten Schmidt in FS Rebmann, 1989, S. 419 ff. 6 In Insolvenzverfahren, die vor dem 1.1.2021 beantragt wurden, sind Haftungsansprüche weiterhin nach § 64 Satz 1 GmbHG a.F. (GmbH und UG) bzw. den § 130a Abs. 2 a.F., § 177a HGB (GmbH & Co. KG) oder den § 92 Abs. 2, § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a.F. (AG) geltend zu machen (Art. 36 MoPeG). 7 Zur gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht („Suhrkamp“): LG Frankfurt/M. v. 10.9.2013 – 3-09 O 96/13, ZIP 2013, 1831; OLG Frankfurt v. 1.10.2013 – 5 U 145/13, ZIP 2013, 2018.

Sinz | 69

3.4

§ 3 Rz. 3.4 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

31.12.2023) sein – schon wenn sich die Krise abzeichnet. Der Geschäftsführer muss alles daran setzen, vor Ablauf der Frist eine positive Fortführungsprognose wieder herzustellen. Allerdings beseitigt die bloße Sanierungshoffnung die Insolvenzantragspflicht ebenso wenig wie eine Niederlegung des Amts als Geschäftsführer vor bereits begangenen Verstößen schützt1. Einer Haftung gegenüber der Gesellschaft aus § 43 GmbHG wegen Versäumung der Geschäftsführerpflichten kann der Geschäftsführer nicht einmal durch rechtzeitige Insolvenzantragstellung zuverlässig ausweichen (vgl. zur sog. Insolvenzverursachungshaftung des Geschäftsführers Rz. 40.1 ff.).

3.5

Das früher bestehende Dilemma zwischen Zahlungsverbot des § 64 GmbHG a.F. (jetzt: § 15b Abs. 1 InsO; Vorrang der Massesicherung)2 einerseits und dem Zahlungsgebot aus den § 69 AO und § 266a StGB andererseits (Vorrang öffentlich-rechtlicher Pflichten)3 ist inzwischen beseitigt4. Der Geschäftsführer haftet nicht nach § 15b Abs. 4 InsO, wenn er noch nach Eintritt der Insolvenzreife Umsatz- und Lohnsteuern an das Finanzamt und Arbeitnehmeranteile5 zur Sozialversicherung an die Einzugsstelle zahlt, selbst wenn die Insolvenzantragsfrist bereits überschritten ist oder Rückstände bezahlt werden. Denn es kann dem Geschäftsführer nicht zugemutet werden, wegen des Zahlungsverbots aus § 15b Abs. 1 InsO auf die Möglichkeit zu verzichten, sich Straffreiheit nach § 266a Abs. 6 Satz 1, 2 StGB oder jedenfalls eine Strafmilderung nach § 46 Abs. 2 Satz 2 a.E. StGB oder eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153a StPO zu verdienen und sich von dem Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB zu befreien.

3.6

Im Verhältnis zu Insolvenzgläubigern kann ein Konflikt zwischen Vertraulichkeit und Transparenz entstehen. Erst mit Eintritt der materiellen Insolvenz (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) bzw. mit dem Ablauf der Insolvenzantragsfrist wird die GmbH jedoch (durch ihre Geschäftsführer) gegenüber jedem Gläubiger offenbarungspflichtig6. Hier endet ihr berechtigtes Interesse an Vertraulichkeit über die wirtschaftliche Situation. Im Vorfeld der Insolvenz hängen die Offenbarungspflichten teils von den Vereinbarungen mit den Gläubigern ab (über Covenants vgl. Rz. 3.64 ff.), teils von den schuldrechtlichen Treuepflichten, also von der konkreten Verhandlungssituation und vom Umfang des vom Gläubiger eingegangenen Solvenzvertrauens7.

1 Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 64 GmbHG Rz. 261. 2 So noch BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, ZIP 2001, 135 = GmbHR 2001, 190; BGH v. 18.4.2005 – II ZR 61/03, ZIP 2005, 1026 = GmbHR 2005, 874. 3 So BGH v. 9.8.2005 – 5 StR 67/05, ZIP 2005, 1678 = GmbHR 2005, 1419; BGH v. 30.7.2003 – 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307 ff. = GmbHR 2004, 122. 4 BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, NZI 2007, 477 Rz. 12 = GmbHR 2007, 757 unter Aufgabe Urt. v. 8.1.2001 und 18.4.2005; bestätigt in BGH v. 29.9.2008 – II ZR 162/07, ZIP 2008, 2220; BGH v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, ZIP 2011, 422 Rz. 11 (USt., LSt.) und 17 (AN-Anteile zur Sozialversicherung) = GmbHR 2011, 367; BFH v. 23.9.2008 – VII R 27/07, BStBl. II 2009, 129 = GmbHR 2009, 222 = ZIP 2009, 122. 5 Nicht bei Arbeitgeberanteilen, da dort kein Interessenkonflikt besteht; BGH v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, ZIP 2011, 422 Rz. 19 = GmbHR 2011, 367. 6 BGH v. 27.10.1982 – VIII ZR 187/81, GmbHR 1983, 44 (unter II d) = ZIP 1982, 1435; BGH v. 25.1.1984 – VIII ZR 227/82, GmbHR 1985, 51; Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 64 GmbHG Rz. 275; a.M. OLG Düsseldorf v. 18.11.1980 – 4 U 99/80, GmbHR 1981, 194 = ZIP 1984, 439. 7 OLG Celle v. 19.11.1993 – 4 U 46/91, GmbHR 1994, 467.

70 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.8 § 3

3. Früherkennungssysteme Damit ein Frühwarnsystem seine Prognosefunktion erfüllen kann, sollten die hierfür eingesetzten Analyse- bzw. Früherkennungs-Instrumente die folgenden fünf Anforderungen erfüllen1: – Objektivität: – Neutralität: – Ganzheitlichkeit: – Frühzeitigkeit:

– Wirtschaftlichkeit:

3.7

Die Verfahren sollten auf empirischen Untersuchungen basieren und von Dritten nachprüfbar sein. Die verwendeten Informationen sollten nicht durch Dritte beeinflussbar/verfälschbar sein, um falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden. Es sind alle Informationen heranzuziehen, die für eine Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens relevant sind. Die zur Krisenerkennung eingesetzten Instrumente sollten möglichst frühzeitig zur Verfügung stehen, um Maßnahmen zur Krisenabwehr sofort einleiten zu können. Der Nutzen des Früherkennungsinstruments muss in einem wirtschaftlich vertretbaren Verhältnis zum Aufwand für die Informationsbeschaffung des Instruments stehen.

Die „Risikovorsorge“ der Unternehmen bzw. Gesellschaften hat durch das am 1.5.1998 in Kraft getretene „Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich“ (KonTraG)2 einen neuen rechtlichen Rahmen und auch neue betriebswirtschaftliche Impulse erhalten. Nach § 91 Abs. 2 AktG hat der Vorstand der Aktiengesellschaft geeignete Maßnahmen zu treffen, insbesondere ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden. Bei einer börsennotierten Aktiengesellschaft hat der Wirtschaftsprüfer im Rahmen der Jahresabschlussprüfung zu beurteilen, ob der Vorstand die ihm nach § 91 Abs. 2 AktG obliegenden Maßnahmen in einer geeigneten Form getroffen hat und ob das danach einzurichtende Überwachungssystem seine Aufgaben erfüllen kann (§ 317 Abs. 4 HGB). Die Prüfung erfolgt als Systemprüfung3, d.h. es wird auf die zweckmäßige Konzeption (Erfassungsprüfung, Systemprüfung i.e.S.) und Funktionsfähigkeit (Funktionsprüfung) abgestellt4. Die Prüfung gemäß § 317 Abs. 4 HGB stellt eine erhebliche Ausweitung der gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussprüfung dar. Denn sie umfasst neben Buchführung, Rechnungslegung und deren internen Kontrollen alle sonstigen betrieblichen Bereiche, aus denen einzeln oder kumuliert bestandsgefährdende Risiken erwachsen können5. Welche Maßnahmen zur Einrichtung des Risikofrüherkennungssystems (RFS) konkret zu ergreifen sind, lässt das Gesetz zu Recht offen, denn die Anforderungen an ein wirksames und zweckmäßiges Risikofrüherkennungssystem sind letztlich unternehmensindividuell zu formulieren. Von großer praktischer Relevanz ist allerdings, dass die Gesetzesbegründung eindeutig und unzweifelhaft von einer Abstrahlung des § 91 Abs. 2 AktG auch auf andere Gesellschafts1 Baetge/Hater/Schmidt in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 2. Kap. Rz. 102 ff.; eine vom BMJ veröffentlichte Liste derzeit verfügbarer Frühwarnsysteme i.S. des § 101 StaRUG ist abrufbar unter: https://www.bmj.de/DE/Themen/FinanzenUndAnlegerschutz/Fruehwarnsysteme/ Fruehwarnsysteme.html?nn=18222514. 2 BGBl. I 1998, 786. 3 Giese, WPg 1998, 453; Brebeck/Förschle in Saitz/Braun, Das Kontroll- und Transparenzgesetz, 1999, S. 184; IDW PS 340, WPg 1999, 660, Rz. 19. 4 Carmichael/Willingham/Schaller, Auditing Concepts and Methods, 6. Aufl. 1996, S. 107 f.; grundlegend zum Ablauf von Systemprüfungen Leffson, Wirtschaftsprüfung, 4. Aufl. 1988, S. 8, 61. 5 Dobler, DStR 2001, 2086.

Sinz | 71

3.8

§ 3 Rz. 3.8 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

formen, insbesondere mittlere und große GmbHs, aber auch Personenhandelsgesellschaften ausgeht. Allgemein wurde schon seit Inkrafttreten des KonTraG die Ausweitung der gesetzlichen Verpflichtung zur Einrichtung eines RFS auf alle mittelständischen Unternehmen gefordert1. Die Geschäftsführer der GmbH sollten sich dafür zu verantworten haben, wenn sie ein solches RFS nicht eingerichtet und seine Funktionsfähigkeit nicht überwacht haben. Immer häufiger verlangte auch die Kreditvergabepolitik von Banken in gleicher Weise von kleineren und mittleren Unternehmen ein RFS. Banken sehen in einem RFS offenbar ein Instrument zur Absicherung gegenwärtigen und potentiellen Kreditarrangements.

3.9

Das am 1.1.2021 in Kraft getretene „Unternehmensstablilisierungs- und -restrukturierungsgesetz“ (StaRUG) regelt nunmehr – in Umsetzung der EU-Restrukturierungsrichtlinie2 – eine rechtsformunabhängige Pflicht der Geschäftsleiter zur fortlaufenden Krisenfrüherkennung und zur Einrichtung eines frühzeitigen Krisenmanagements (§ 1 StaRUG). Dadurch soll sichergestellt werden, dass bestandsgefährdende Entwicklungen zu einem Zeitpunkt erkannt werden, in dem noch geeignete Maßnahmen zur Sicherung des Fortbestandes der Gesellschaft ergriffen werden können. Wie dieses Früherkennungssystem ausgestaltet wird, bleibt jedem Unternehmen selbst überlassen. Brandes/Rabenau3 nennen als maßgebliche Werkzeuge der Krisenfrüherkennung: – die Pflicht der gesetzlichen Vertreter zur Unternehmensplanung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG), – die Einführung eines Überwachungssystems (§ 91 Abs. 2 AktG), – Risikomanagementsysteme (bei börsennotierten Gesellschaften; § 91 Abs. 3 AktG), – die regelmäßige Überprüfung auf bestandsgefährdende Risiken im Rahmen der Jahresabschlusserstellung, – Online-Beratungsangebote (§ 101 StaRUG) sowie – Hinweispflichten von Beratern (§ 102 StaRUG). Auch wenn diese Pflichten teilweise nur für die AG geregelt seien, sollen sie nach ihrem Verständnis auch für die GmbH Bedeutung haben. § 1 Abs. 3 StaRUG, wonach spezialgesetzlichen Regelungen (wie in § 91 Abs. 2 AktG; §§ 23 ff. VAG; § 28 KAGB oder § 25a Abs. 1 Satz 3 und 4 KWG), soweit sie weitergehende Pflichten enthalten, unberührt bleiben, spricht jedoch eher dafür, dass die Anforderungen an die Geschäftsführer einer GmbH geringer sind. Die originäre Aufgabe der Krisenfrüherkennung kann von dem Geschäftsleiter auch auf eine externe Steuer- oder Rechtsberatung übertragen werden, die dann als Frühwarnsystem i.S. des StaRUG fungiert (§ 102 StaRUG).

3.10

Ausgangspunkt für die Normierung der Pflichten zur Krisenfrüherkennung und zur Einrichtung eines wirksamen Risikomanagementsystems waren die bestehenden Corporate Governance-Regeln4. Als Corporate Governance wird der rechtliche und faktische Ordnungsrahmen für die Leitung und Überwachung eines Unternehmens verstanden. Corporate Governance-Konzepte stellen Verhaltensregeln für den Vorstand und Aufsichtsrat auf, die über die 1 Gras in Nerlich/Kreplin, Insolvenz und Sanierung, 3. Aufl. 2019, § 2 Rz. 71 f.; Korth/Ball/Biermann, Wirtschaftsprüfer-Kompendium, Bd. 1, 3. Aufl. 2007, S. 7. 2 RL (EU) 2019/1023 vom 20.6.2019. 3 Brandes/Rabenau, ZIP 2021, 2374, 2376 ff. 4 Wellerdt, ZIP 2022, 356, 358; Hommelhoff, AG 1998, 249 ff.

72 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.13 § 3

kodifizierten Vorgaben des Aktiengesetzes hinausgehen1. Der Deutsche Corporate Governance Kodex2 legt in Grundsatz 4 die allgemeine Pflicht des Vorstands fest, für ein angemessenes Risikomanagement und Risikocontrolling im Unternehmen zu sorgen. Der Aufsichtsrat berät und überwacht den Vorstand bei der Leitung des Unternehmens (Grundsatz 6). Der durch das „Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Publizität (TransPuG)“ vom 19.7.2002 eingefügte § 161 AktG sieht vor, dass Vorstand und Aufsichtsrat einer börsennotierten Gesellschaft jährlich erklären, ob den vom Bundeministerium der Justiz bekannt gemachten Verhaltensempfehlungen der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ entsprochen wurde und wird oder warum nicht. Als Ausfluss der wirtschaftlichen Selbstprüfungspflicht ist die Unternehmensleitung verpflichtet, neben dem Risikofrüherkennungssystem auch ein Überwachungssystem im Unternehmen einzurichten. Dieses umfasst organisatorische Sicherungsmaßnahmen, interne Kontrollen und interne Prüfungen (insbesondere die interne Revision). Das Überwachungssystem hat unter Risikogesichtspunkten zwei Aufgaben zu erfüllen3:

3.11

– Bestehende und potentielle Risiken sollen vermieden oder zumindest vermindert werden (Präventivfunktion des Überwachungssystems). – Die Funktionsfähigkeit der Maßnahmen des Risikomanagementsystems soll durch umfassende Prüfungen festgestellt und, falls erforderlich, korrigiert werden (Korrekturfunktion des Überwachungssystems). Das Risikofrüherkennungssystem ist auf die Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen und damit auf einen wichtigen Teilaspekt des Risikomanagementsystems ausgerichtet. Werden Risiken erkannt, so sind die Informationen unverzüglich an die zuständigen Entscheidungsträger weiterzuleiten, so dass diese in geeigneter Weise reagieren können. Wichtige Teilbereiche des RFS können sein4:

3.12

– Festlegung der Risikofelder, die zu bestandsgefährdenden Entwicklungen führen können, – Risikoerkennung, – Risikoanalyse, – Risikobewertung, – Risikokommunikation, – Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Aufgaben, – Einrichtung des Überwachungssystems. Die Beschränkung der Überwachung auf Risiken i.e.S. ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll, klammert sie doch die Möglichkeit zur Erfassung von Chancen aus. Gerade in 1 Zu den verschiedenen Corporate Governance-Richtlinien: v. Werder in Kremer/Bachmann/Lutter/ v. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex, 8. Aufl. 2021, Rz. 80 ff.; Gabler Wirtschaftslexikon, 19. Aufl. 2019, Corporate Governance, Kap. III.; Lutter in Hommelhoff/Hopt/v. Werder, Handbuch Corporate Governance, 2. Aufl. 2009, S. 123 ff. 2 Geltende Fassung vom 28.4.2022, abrufbar unter https://www.dcgk.de//files/dcgk/usercontent/de/ download/kodex/220627_Deutscher_Corporate_Governance_Kodex_2022.pdf. 3 Lück, DB 1998, 1925, 1928; Demski in Becker/Schulte-Mattler, Finanzkrise 2.0 und Risikomanagement von Banken, 2012. 4 IDW-FN 1999, 352, 353.

Sinz | 73

3.13

§ 3 Rz. 3.13 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

der heutigen Zeit geht schon vom Nichterkennen einer Chance ein beträchtliches Risikopotential aus. Insofern muss aus betriebswirtschaftlicher Sicht an die Stelle des vom Gesetzgeber verlangten Risikofrüherkennungssystems ein modernes Risikomanagementsystem (RMS) treten, das von einem weiten Risikobegriff ausgeht, der neben Risiken auch Chancen erfasst. Als Risikomanagement kann die Gesamtheit aller organisatorischen Regelungen und Maßnahmen zur Risikoerkennung und zum Umgang mit den Risiken unternehmerischer Betätigung bezeichnet werden1. Das Risikofrüherkennungssystem ist auf die Früherkennung bestandsgefährdender Entwicklungen und damit auf einen zwar wichtigen, aber eben nur einen Teilaspekt des Risikomanagements ausgerichtet. Insoweit kann das RFS als Pflicht und das RMS als Kür gelten. Ein RMS bietet weit mehr Chancen als das frühzeitige Erkennen bestandsgefährdender Risiken: Ein systematisches Management aller wesentlichen Risiken ermöglicht erst eine wert- und erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung2 im Sinne eines gezielten Managements von Chancen und Risiken in einem immer dynamischeren, globalen Umfeld. Weil der Wert eines Unternehmens (als wichtiger Erfolgsmaßstab) sowohl von den zukünftigen Erträgen als auch deren Risiken abhängt, wird ein RMS zum unverzichtbaren Bestandteil jeder strategischen Unternehmensführung. Das Risikomanagementsystem hat durch organisatorische Regelungen – insbesondere durch eine klare Verantwortungszuordnung – sicherzustellen, dass Risiken frühzeitig identifiziert und regelmäßig bewertet werden. Außerdem sind für ein Risikomanagementsystem die Berichtswege zur Unternehmensleitung und etwaigen Aufsichtsgremien festzulegen.

3.14

Mit dem Begriff „System“ sind alle systematischen Anstrengungen gemeint, die die Unternehmensleitung hinsichtlich der Erkennung, Bewertung und Steuerung von Risiken unterstützen sollen3. Eine eindeutig strukturierte Risikolandschaft setzt sich aus den folgenden Bausteinen zusammen4: – Risikoidentifikation, – Risikoanalyse, – Risikobewertung, – Risikoplanung und -steuerung, – Darstellung der Risikosituation des Unternehmens, – Vergleich der Risikosituation mit den Vorgaben der Risikostrategie, – Überarbeitung der Risikostrategie, – Festlegung der Maßnahmen des Risikomanagements.

3.15

Durch das RMS muss sichergestellt sein, dass die identifizierten, analysierten und bewerteten Risiken angemessen gesteuert werden. Um Risiken steuern zu können, müssen Maßnahmen der Risikovermeidung, Risikoverminderung, Risikoüberwälzung und Risikokompensation festgelegt werden. Die Risikosituation des Unternehmens ist in regelmäßigen Zeitabständen darzustellen und mit den Vorgaben der Risikostrategie zu vergleichen, um die bestehende Risikostrategie überarbeiten zu können. 1 IDW-FN 1999, 351; Diederichs, Risikomanagement und Risikocontrolling, 4. Aufl. 2018, 2.1.2.2 (S. 13 f.) m.w.N. 2 Gleißner/Meier, DSWR 2000, 6. 3 Ertl, DSWR 2000, 3, 4. 4 Lück, DB 1998, 1925, 1926.

74 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.21 § 3

Zu unterscheiden sind Systeme zur operativen und solche zur strategischen Früherkennung von Krisensignalen. Operative Frühwarnsysteme bauen auf „harten“ Informationen über Erfolg und Liquidität des Unternehmens auf. Informationslieferant ist in der Regel die Bilanzanalyse, aus der Kennzahlen und Kennzahlensysteme zur Standortbestimmung entwickelt werden. Der entscheidende Nachteil dieser Systeme, die auch Unternehmensexternen (Gläubigern) zur Verfügung stehen können (Rz. 2.143), ist die Vergangenheitsbezogenheit der Daten. Dieser Hauptmangel der operativen Frühwarnsysteme hat die Verfahren zur strategischen Frühaufklärung gefördert. Im Gegensatz zur vergangenheitsbezogenen operativen Frühwarnung ist die strategische Frühaufklärung zukunftsorientiert. Strategische Frühwarnsysteme verlassen den vergleichsweise engen Planungshorizont der operativen Systeme, der für den Kontroller oder den Produktionsleiter ausreichend war. Der Planungshorizont der Unternehmensführung ist dagegen ein anderer. Er muss sowohl längerfristiger sein als auch solche Signale mit einbeziehen, die schwächer zu empfangen sind als die „harten“ Informationen für die operative Planung. Die strategische Planung bezieht das Gesamtunternehmen ein, während die operative Planung sich auf Teilbereiche des Unternehmens beschränken kann. Der Zweck der strategischen Frühaufklärung besteht letztlich darin, die langfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens durch entsprechende Weichenstellungen in der Gegenwart zu ermöglichen1. Die frühzeitige Wahrnehmung „schwacher Signale“ ist die primäre Aufgabe bei der strategischen Frühaufklärung. Durch eine permanente Beobachtung des relevanten Umfeldes eines Unternehmens müssen frühzeitig die Signale aufgenommen und verarbeitet werden, die zu strategischen Anpassungsmaßnahmen führen. Einstweilen frei.

3.16

3.17–3.20

II. Früherkennung durch die Gesellschaftsgläubiger 1. Vertragsgläubiger Das Problem der Krisenfrüherkennung durch die Vertragsgläubiger liegt für sie als Außenstehende in der Beschaffung betriebsinterner Informationen2. Dies gilt vor allem für die große Zahl der Gläubiger, die nicht ständig und nur in geringem Umfang in Geschäftsbeziehungen zu dem krisengefährdeten Unternehmen stehen. Die Informationen, die sie sporadisch vom Management erlangen, können wahr, halbwahr, unwahr, vollständig, aber auch unvollständig sein. Das Management kann den Informationsgehalt gezielt steuern. Andere Gläubigergruppen, z.B. die Arbeitnehmer, die Hausbanken (vgl. dazu Rz. 3.51), die Finanzverwaltung und die Sozialversicherungsträger, stehen sich vergleichsweise besser. Sie erhalten kraft ihrer rechtlichen und tatsächlichen Gläubigerposition regelmäßige Informationen über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens. Darüber hinaus verfügen sie meistens über geeignete Methoden, mit denen der Wahrheitsgehalt der Informationen verifiziert und die geeigneten und überprüften Informationen systematisch ausgewertet werden können3; Informationslieferant für die Vertragsgläubiger kann der Jahresabschluss des Schuldners sein. Die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften haben den Jahresabschluss unverzüglich nach seiner Vorlage an die Gesellschafter und binnen eines Jahres nach dem Abschlussstichtag mit dem Bestäti1 Nagel/Ley, Unternehmenssignale, 1994. 2 Harz/Hub/Schlarb, Sanierungs-Management, 3. Aufl. 2006, S. 47. 3 Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 9 ff., bezeichnet diesen unterschiedlichen Umfang und die unterschiedliche Werthaltigkeit der Unternehmensinformationen für die einzelnen Gläubigergruppen als Informationsasymmetrie.

Sinz | 75

3.21

§ 3 Rz. 3.21 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

gungsvermerk oder dem Vermerk über dessen Versagung elektronisch beim Betreiber des Bundesanzeigers einzureichen (§ 325 Abs. 1 HGB). Diese Einreichungsfrist ist nicht verlängerbar1.

3.22

Neben dem Jahresabschluss sind auch der Lagebericht und der Bericht des Aufsichtsrats offenzulegen (§ 325 Abs. 1 HGB)2. Einblicke in den Lagebericht können lohnend sein, denn im Lagebericht sind der Geschäftsverlauf einschließlich des Geschäftsergebnisses und die Lage der Kapitalgesellschaft so darzustellen, dass ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt wird. Der Lagebericht hat eine ausgewogene und umfassende, dem Umfang und der Komplexität der Geschäftstätigkeit entsprechende Analyse des Geschäftsverlaufs und der Lage der Gesellschaft zu enthalten. In die Analyse sind die für die Geschäftstätigkeit bedeutsamsten finanziellen Leistungsindikatoren einzubeziehen und unter Bezugnahme auf die im Jahresabschluss ausgewiesenen Beträge und Angaben zu erläutern. Ferner ist im Lagebericht die voraussichtliche Entwicklung mit ihren wesentlichen Chancen und Risiken zu beurteilen und zu erläutern. Der Lagebericht soll auch eingehen auf Vorgänge von besonderer Bedeutung, die nach dem Schluss des Geschäftsjahrs eingetreten sind, die Risikomanagementziele und -methoden der Gesellschaft einschließlich ihrer Methoden zur Absicherung aller wichtigen Arten von Transaktionen, die im Rahmen der Bilanzierung von Sicherungsgeschäften erfasst werden, sowie die Preisänderungs-, Ausfall- und Liquiditätsrisiken und die Risiken aus Zahlungsstromschwankungen, denen die Gesellschaft ausgesetzt ist (§ 289 Abs. 1, 2 HGB). Haben die geschäftsführenden Organe die Pflichtangaben nicht oder nicht vollständig erteilt, können sie schadensersatzpflichtig sein.

3.23

Aus den Jahresabschlüssen können Kennzahlen und Kennzahlensysteme zur Bonitätsbeurteilung von Unternehmen entwickelt werden3. Kennzahlen sind verdichtete Maßgrößen, die entweder in Form von Verhältniszahlen oder absoluten Zahlen in konzentrierter Form über einen zahlenmäßig erfassbaren Sachverhalt berichten. Die einzelnen Kennzahlen und Kennzahlensysteme lassen sich den folgenden fünf großen Unternehmensbereichen zuordnen: Rentabilität, Innenfinanzierungsvolumen und Finanzierungskraft, Umschlagsgeschwindigkeit, Aufwands- und Ertragsstruktur, Kapital- und Vermögensstruktur. Ihre Zahl ist unübersehbar geworden. Drukarczyk/Schöntag4 listen eine Vielzahl von zur Analyse geeigneten Kennzahlen auf und prüfen deren Aussagekraft am Beispiel der Praktiker AG. Eine der gebräuchlichsten Kennzahlen zur Signalisierung einer Krise ist nach wie vor der Cash Flow. Er kann als Indikator sowohl der Ertrags- als auch der Finanzkraft interpretiert werden5. Der Cash Flow soll eine Aussage über den Zahlungsmittelüberschuss bzw. das Zahlungsmitteldefizit des Unternehmens erlauben. Der Begriff wird allerdings unterschiedlich definiert6. In seiner Grundform kann er wie folgt dargestellt werden:

1 Um die Folgen der Corona-Krise abzumildern, hat das Bundesamt für Justiz jedoch am 23.12.2021 bekanntgegeben, dass bis zum 7.3.2022 keine Ordnungsgeldverfahren für die verspätete Offenlegung der Jahresabschlüsse 2020 für kleine und mittlere Kapitalgesellschaften eingeleitet werden, was einer faktischen Verlängerung der Offenlegungsfrist gleichkommt. 2 Das gilt nicht für kleine Kapitalgesellschaften i.S. von § 267 HGB (§ 326 HGB). 3 Staehle, Kennzahlen und Kennzahlensysteme als Mittel der Organisation und Führung von Unternehmen, 1969, S. 70; Baetge, WPg 1980, 651; Beaver, Financial Ratios as Predictors of Failure, in Empirical Research in Accounting: Selected Studies of Accounting Research 4, 1966, S. 71–111. 4 Drukarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 2 Rz. 17 ff. 5 Kußmaul, DStR 1999, 1579; Behringer/Lühn, Cash-flow und Unternehmensbeurteilung, 11. Aufl. 2016, S. 169 ff., 175 ff. 6 Crone in Crone/Werner, Modernes Sanierungsmanagement, 6. Aufl. 2021, 3.1.5.2.

76 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.25 § 3 Jahresüberschuss + Aufwendungen, die nicht Auszahlungen der gleichen Periode sind – Erträge, die nicht Einzahlungen der gleichen Periode sind + Einzahlungen aus der laufenden Betriebstätigkeit, die nicht Ertrag der gleichen Periode sind – Auszahlungen aus der laufenden Betriebstätigkeit, die nicht Ertrag der gleichen Periode sind

In einem Kennzahlensystem werden einzelne Kennzahlen zu einem System mit Wechselwirkungen kombiniert, um funktionale Abhängigkeiten sichtbar zu machen. Das bekannteste mathematisch-statistische Verfahren zur Gewinnung einer signifikanten Kennzahl zur Unterscheidung gesunder von kranken Unternehmen auf der Basis von Bilanzanalysen ist die Diskriminanzanalyse. Ihre methodischen Grundlagen wurden von Beaver und Altmann gelegt. Die von Beaver angewandte Univariate Diskriminanzanalyse wurde von Altmann zur Multivariaten Linearen Diskriminanzanalyse fortentwickelt1. Letztere hat in der Praxis, vor allem bei den Banken und den Kreditversicherern, große Bedeutung erlangt2. Die Analyse erfolgt in zwei Arbeitsschritten:

3.24

1. Schritt: Die beiden Gruppen (Unternehmen, die in die Insolvenz geraten sind; gesunde Unternehmen) werden anhand des bekannten Ausgangs empirisch darauf überprüft, durch welche signifikante Kriterien (Merkmale und Kennzahlen) sie sich voneinander unterscheiden. 2. Schritt: Anschließend wird die Trennungsqualität dieser Merkmale und Kennzahlen analysiert. Das Ziel ist dabei, eine möglichst überschneidungsfreie Zuordnung der Trennungskriterien zu den Teilgruppen vornehmen zu können. Die Trennung erfolgt mittels einer Trennfunktion (sog. Diskriminanzfunktion), die aus einem oder mehreren Merkmalen gebildet wird, sowie der Festlegung eines Trennwertes (sog. cut-off-point), dessen Über- bzw. Unterschreiten über die Zuordnung zu den Gruppen entscheidet. Um eine hohe Trennschärfe zu erreichen, sollte die Varianz (Streuung) innerhalb einer Gruppe möglichst klein sein, da sich sonst die Verteilungen durchmischen und keine klare Zuordnung erlauben. In Anlehnung an die Richtlinien der Deutschen Bundesbank zur Beurteilung der Bonität von notenbankfähigen Unternehmen3 hat es sich bewährt, bei der Auswahl und Gewichtung der Einzelkennzahlen eine Unterteilung in verarbeitendes Gewerbe, Handel und sonstige Unternehmen vorzunehmen:

1 Altman, „Financial Ratios, Discriminant Analysis and the Prediction of Corporate Bankruptcy“, in Journal of Finance, 1968, Bd. 23 (4), S. 589–610. 2 Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 28. 3 Deutsche Bundesbank, Beurteilung der Bonität von Unternehmen durch die Deutsche Bundesbank im Rahmen der Geldpolitik des Eurosystems, Stand: August 2012, S. 16; s. auch: Bonitätsanalyse der Deutschen Bundesbank, Stand: März 2021, abrufbar unter: https://www.bundesbank.de/ resource/blob/602050/66c9453d51d8827523d7514b314f9c9e/mL/bonitaetsanalyse-kurzuebersichtdata.pdf.

Sinz | 77

3.25

§ 3 Rz. 3.25 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung Sektorspezifische Kennzahlenauswahl Verarbeitendes Gewerbe

Handel

Sonstige

Umsatzrendite vor a.o. Ergebnis

Umsatzrendite vor a.o. Ergebnis

Betriebsrendite

Einnahmenüberschussquote

Kapitalrückflussquote

Schuldtilgungsfähigkeit

Kurzfristige Kapitalbindung

Kurzfristige Kapitalbindung

Kreditorenumschlag

Eigenmittelquote

Eigenmittelquote

Eigenmittelquote

Quelle: Deutsche Bundesbank

Um eine Verzerrung des Gesamtbildes durch den Einfluss von Zufallsfaktoren oder Sonderverhältnissen auszuschließen, werden für die Werte der einzelnen Kennzahlen Kappungsgrenzen festgelegt und eine Konstante addiert, die die Vergleichbarkeit über die Jahre hinweg gewährleisten soll. Die Kennzahlen und – empirisch ermittelten – Gewichte (einschließlich der Konstanten) sind regelmäßig auf Veränderungen in den tatsächlichen Gegebenheiten zu überprüfen und ggf. zu aktualisieren. Aus den gewichteten Kennzahlen und der Konstanten wird für das zu beurteilende Unternehmen ein erster vorläufiger Gesamtindikator errechnet.

3.26

Trotz der beachtlichen Ergebnisse, die mit der Diskriminanzanalyse erzielt wurden, darf nicht übersehen werden, dass dieses Verfahren ein Klassifikations- und nicht ein Prognoseverfahren ist. Das Verfahren kann allenfalls als „vorausschauende Klassifikation“ bezeichnet werden1. Im Übrigen ist das Diskriminanzanalyseverfahren der gleichen Kritik ausgesetzt, die für alle Bilanzanalyse-Methoden zur Früherkennung von Krisen gilt: Die Klassifizierungsregeln entstehen aus Daten vergangener Abrechnungsperioden. Der Vorschlag von Rösler2, das mathematisch-statistische Verfahren der Diskriminanzanalyse mit Prognoseverfahren zu kombinieren, also die Diskriminanzanalyse auf einen prognostizierten Jahresabschluss anzuwenden, hat sich in der Praxis nicht durchgesetzt. Schließlich werden bei dem Diskriminanzanalyseverfahren Finanzierungsgesetzmäßigkeiten unterstellt, die bisher nicht bewiesen sind.

3.27

Um die Trenngüte des Verfahrens zu steigern, kommt daher häufig im Nachgang zur Diskriminanzanalyse ein Expertensystem zum Einsatz, in dem neben quantitativen auch qualitative Faktoren Berücksichtigung finden3. Rechtsform, Größe und Alter eines Unternehmens können Korrekturen des zuvor ermittelten Gesamtindikators nach oben oder unten rechtfertigen4; allerdings sind für solche Zu- und Abschläge Limite vorgegeben, um den diskriminanzanalytischen Kern des Bonitätsbeurteilungsverfahrens nicht zu verwässern.

1 Oser, BB 1996, 368. 2 Rösler, Bilanzanalyse durch Vergleich von projizierten und realisierten Jahresabschlüssen – Eine empirische Untersuchung über Projektionstechniken in der Bilanzauswertung und ihre Einsatzmöglichkeiten, Kiel 1986. 3 Vgl. auch Deutsche Bundesbank, Beurteilung der Bonität von Unternehmen durch die Deutsche Bundesbank im Rahmen der Geldpolitik des Eurosystems, Stand: August 2012, S. 18. 4 Z.B. als Wenn-Dann-Beziehung: Wenn Gesamtleistung gestiegen und Umsatzrendite gesunken, dann verringere Gesamtkennzahl.

78 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.30 § 3

Ein vergleichbarer Ansatz wie bei der Diskriminanzanalyse wird beim Scoring-Verfahren gewählt1. Hierbei handelt es sich um ein mathematisch-statistisches Entscheidungsverfahren, mit dem Merkmale eines Unternehmens zu einem Gesamturteil über seine Insolvenzwahrscheinlichkeit zusammengefasst werden (Punktbewertungsverfahren). Die Unterschiede zwischen später in die Insolvenz geratenen und gesunden Unternehmen werden auf der Basis quantitativer (z.B. Jahresabschlusszahlen) und qualitativer (z.B. Qualifikation der Geschäftsleitung) Kriterien analysiert. Die Merkmalsausprägungen werden bewertet und gewichtet zu einem Gesamtpunktwert (Scoringwert) aufaddiert. Auch qualitative Merkmale lassen sich so durch eine Transformation für diese Rechenoperationen nutzen, worin ein leichter Vorteil gegenüber der Diskriminanzanalyse liegt. Der errechnete Punktwert wird für die Zuordnung mit dem Grenzscore (Trennwert oder Cut-off Score) verglichen und erlaubt eine Aussage, ob das Unternehmen zu den insolvenzgefährdeten zählt oder nicht.

3.28

Diejenigen Vertragsgläubiger, denen die Kennzahlensysteme nicht zur Verfügung stehen, müssen auf einfacher zu erlangende Informationen über die wirtschaftliche Situation ihres Geschäftspartners ausweichen. Allgemeine Krisenanzeichen sind2

3.29

– Übergang von Skonto- auf Zielzahlung, – Überschreitung vereinbarter Zahlungsziele, – häufige Änderung der Zahlungsweise, – Mahnungen werden nicht mit Zahlungen beantwortet, – steigende Neigung zu Reklamationen, – Stornierung von Aufträgen, – verstärkter Wunsch nach Ratenzahlungen, – häufiger Wechsel der Lieferanten, – kleinere Bestellmengen, – verspätete Bilanzerstellung, – verspätete Einreichung von Unterlagen gemäß § 18 KWG – unabgestimmte Überziehungen. Seit dem 1.1.2005 haben kapitalmarktorientierte Unternehmen, von einigen Ausnahmen abgesehen, ihre Konzernabschüsse nach IAS/IFRS zu erstellen und zu veröffentlichen. Für die Konzernabschlüsse nicht kapitalmarktorientierter Unternehmen und für Einzelabschlüsse besteht eine Option der EU-Mitgliedstaaten, IFRS-Abschlüsse wahlweise zuzulassen oder vorzuschreiben. Nächstes Ziel der Rechnungslegung nach internationalen Grundsätzen sind Rechnungslegungsstandards für mittelständische Unternehmen (Accounting Standards for small and medium-sized Entities [SMEs]). Für Unternehmen, die nach IAS/IFRS bilanzieren, ist der seit dem 1.1.2007 geltende IFRS 7 von Bedeutung3, der erstmals die umfassende Berichterstattung über finanzielle Risiken regelt. Nach IFRS sind anzugeben: 1 Kamlah, ZVI 2004, 9 ff.; zum Umfang der Auskunftspflicht der SCHUFA über die herangezogenen Daten und die Scoreformel: BGH v. 28.1.2014 – VI ZR 156/13, ZIP 2014, 476. 2 Harz/Hub/Schlarb, Sanierungs-Management, 3. Aufl. 2006, S. 49. 3 Die am 16.12.2011 vom IASB veröffentlichten Änderungen an IFRS 7 (Anhangangaben zu Saldierungsvorgängen) sind erstmalig in der ersten Berichtsperiode eines am oder nach dem 1.1.2013 beginnenden Geschäftsjahres rückwirkend anzuwenden; Verordnung (EU) Nr. 1256/2012 der Kommission v. 13.12.2012, ABl. Nr. L 360 v. 29.12.1912, S. 145.

Sinz | 79

3.30

§ 3 Rz. 3.30 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– die Risikomanagementstrategie, – die hierzu erlassenen Richtlinien, – deren Verfolgung und – deren Auswirkung auf die Risikosituation des Unternehmens. IFRS 7 verlangt ferner Angaben zu – Marktrisiken (IFRS 7.40–42), – Kreditrisiken (IFRS 7.36–38) und – Liquiditätsrisiken (IFRS 7.39).

2. Sozialversicherungsträger/Finanzbehörden 3.31

Die Sozialversicherungsträger sind „Hauptkunden“ der deutschen Insolvenzgerichte1. Der Grund hierfür liegt in der Erleichterung der Antragsvoraussetzungen. Sozialversicherungsträger brauchen zur Glaubhaftmachung der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers lediglich Leistungsbescheide oder Beitragsnachweise der Arbeitgeber vorzulegen2. Die Vorlage eines einfachen „Kontoauszuges“3 oder die „amtliche Erklärung“, dass die Forderung bestehe4, reicht jedoch nicht aus, es sei denn, der Schuldner bestreitet das Bestehen der Forderung nicht5.

3.32

Grundlage für intensivere Kenntnis der Sozialversicherungsträger von den wirtschaftlichen Verhältnissen können Betriebsprüfungen sein. Die Rentenversicherungsträger führen mindestens alle vier Jahre eine Betriebsprüfung bei den Arbeitgebern durch. Im Wesentlichen geht es dabei um die Überprüfung der korrekten versicherungsrechtlichen Beurteilung sowie der Beitragsberechnung- und -abführung. Der Arbeitgeber ist dabei zur Mitwirkung verpflichtet. Über das Ergebnis der Prüfung erhält der Arbeitgeber einen Prüfbericht. Die Krankenkassen als Einzugsstellen können an den Betriebsprüfungen teilnehmen und sind dabei auf ihr Verlangen hin anzuhören. Der Prüfungszeitraum von vier Jahren steht in engem Zusammenhang mit der sozialversicherungsrechtlichen Vorschrift zur Verjährung von Beitragsforderungen (§ 25 SGB IV). Es ist nicht bekannt, dass die Sozialversicherungsträger kürzere Prüfungszeiträume allein aus dem Grund fordern, um Informationen über die wirtschaftliche Situation des Arbeitgebers zu erhalten und sich auf diese Situation einzurichten. Ausreichendes Krisenwarnsignal ist für sie aber das Ausbleiben der Beitragszahlungen.

3.33

Die Finanzämter erhalten ständige Informationen über die Krisengefährdung der Steuerpflichtigen durch die Regelmäßigkeit der Steuervorauszahlungen. Die Steuererklärungen unterrichten umfassend über die wirtschaftliche Situation des Bürgers und der Gesellschaften. 1 Frind, ZInsO 2001, 1133. 2 BGH v. 21.7.2011 – IX ZB 256/10, NZI 2011, 712 Rz. 4 – Antrag eines FA; BGH v. 13.6.2006 – IX ZB 214/05, NZI 2006, 590 Rz. 8 ff. – Antrag eines FA; BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466 – Antrag einer KK. Ein Austausch der geltend gemachten Forderung ist zulässig: BGH v. 9.2.2012 – IX ZB 188/11, ZInsO 2012, 593 Rz. 6; BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466 Rz. 12. 3 BGH v. 21.7.2011 – IX ZB 256/10, NZI 2011, 712 Rz. 4 = ZIP 2011, 1971; BGH v. 8.12.2005 – IX ZB 38/05, NZI 2006, 172 Rz. 3 f. = ZIP 2006, 141. 4 Gundlach in Karsten Schmidt, § 14 InsO Rz. 22. 5 BGH v. 21.7.2011 – IX ZB 256/10, NZI 2011, 712 Rz. 4 = ZIP 2011, 1971; BGH v. 9.7.2009 – IX ZB 86/09, ZInsO 2009, 1533 Rz. 3.

80 | Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.36 § 3

Reichen die Steuererklärungen den Finanzbehörden nicht aus, können sie sich durch Betriebsprüfungen einen Überblick verschaffen. Den Betriebsprüfungsstellen der Finanzämter können auch Außenprüfungen i.S. des § 193 Abs. 2 AO, Sonderprüfungen sowie andere Tätigkeiten mit Prüfungscharakter, zum Beispiel Liquiditätsprüfungen, übertragen werden; dies gilt nicht für Steuerfahndungsprüfungen (§ 2 Abs. 2 BpO 2000)1. Die Finanzbehörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann eine Außenprüfung durchgeführt wird (§ 2 Abs. 3 BpO 2000). Liquiditätsprüfungen i.S. von § 2 Abs. 2 BpO 2000 stützten sich als Ermittlungsmaßnahme zum Zwecke der Vollstreckung auf die entsprechende Ermittlungsbefugnis der Finanzbehörden und die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen aus den §§ 88 ff., § 249 Abs. 2 AO. Der Liquiditätsprüfer erhält einen schriftlichen Ermittlungsauftrag – vergleichbar mit dem Vollstreckungsauftrag nach § 285 Abs. 2 AO für den Vollziehungsbeamten. Der Ermittlungsauftrag ist eine behördeninterne Entscheidung, die nicht anfechtbar ist. Im Gegensatz zur Außenprüfung gemäß §§ 193 ff. AO oder zur Durchsuchung zum Zwecke der Pfändung gemäß § 287 AO ist die Liquiditätsprüfung grundsätzlich nicht erzwingbar. Soweit erforderlich kann der Liquiditätsprüfer aber von einem Vollziehungsbeamten begleitet werden, dem ein üblicher Vollstreckungsauftrag erteilt wird. In diesen Fällen hat der Vollziehungsbeamte die Federführung in dem Verfahren, so dass es sich um eine reine Vollstreckungsmaßnahme handelt. Soweit der Liquiditätsprüfer gegen den Willen des Steuerpflichtigen dessen Wohn- bzw. Geschäftsräume zum Zwecke der Feststellung der Vermögensverhältnisse durchsuchen möchte, bedarf es dazu eines gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses.

3.34

Im Rahmen der Befugnis zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen und insbesondere zur Ermittlung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Steuerpflichtigen hat der Liquiditätsprüfer folgende Aufgaben:

3.35

– Ermittlung von Vollstreckungsmöglichkeiten, – Ermittlung anfechtbarer Rechtshandlungen, – Ermittlung möglicher Haftungsschuldner und ggf. der Haftungsquote, – Ermittlungen unter dem Gesichtspunkt „Zahlungsfähigkeit“, – Ermittlungen zu den Gesichtspunkten „Erlass-/Stundungsbedürftigkeit“ im Rahmen von Billigkeitsverfahren, – Prüfung der Werthaltigkeit angebotener Sicherheiten, – Prüfung möglicher Übersicherung anderer Gläubiger (z.B. Banken), – Überprüfung von Sanierungskonzepten – insbesondere von Insolvenzplänen, – Beteiligung an Fahndungsprüfungen – insbesondere wenn der Fall bereits in Vollstreckung ist.

Nach Durchführung der Liquiditätsprüfungen kennt niemand die wirtschaftliche Situation des Steuerpflichtigen besser als das Finanzamt. Gegenüber Maßnahmen der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) kann deshalb das Finanzamt, soweit es auf die Kenntnis des Anfechtungsgegners von der wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin ankommt, seine Kenntnis zumindest ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in Abrede stellen. Dessen ungeachtet hat das „Gesetz 1 BPO zuletzt geändert am 20.7.2011 (BStBl. I 2011, 710); eine Überarbeitung ist lt. BMF seit 2012 in Planung.

Sinz | 81

3.36

§ 3 Rz. 3.36 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz“ vom 29.3.2017 die ursprünglich geplanten Ausnahmen für Rechtshandlungen, die durch Zwangsvollstreckung erwirkt oder zu deren Abwendung getätigt wurden, nicht umgesetzt; sie bleiben weiterhin als inkongruente Deckungen nach § 131 InsO anfechtbar.

3.37–3.50

Einstweilen frei.

III. Früherkennung durch Kreditinstitute 1. Klassische Krisenanzeichen a) Bedeutung und Möglichkeiten der Krisenfrüherkennung für Kreditinstitute 3.51

Nicht nur für die Geschäftsführung des von einer Insolvenz bedrohten Unternehmens ist es von überragender Bedeutung, die bevorstehende oder bereits eingetretene Krise möglichst frühzeitig zu erkennen, um den endgültigen Zusammenbruch in der Insolvenz zu vermeiden (dazu Rz. 2.142 ff.). Auch die Gläubiger des Unternehmens haben ein gesteigertes Interesse daran, so rechtzeitig von der Krise zu erfahren, dass sie durch geeignete Maßnahmen einen Ausfall von Forderungen bei einer möglichen Insolvenz ihres Schuldners verhindern können. Dieses Gläubigerinteresse an einer Früherkennung der Krise ist gerade bei Kreditinstituten besonders ausgeprägt. Denn sie sind in der Mehrzahl der Fälle die größten Gläubiger eines bedrohten Unternehmens, haben also bei einer überraschend auftretenden Insolvenz am meisten zu verlieren, sofern sie nicht ausreichend besichert sind. Entsprechend ist den Kreditinstituten auch kraft Gesetzes aufgegeben, sich über die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer Kreditnehmer zu informieren, um Kreditausfälle zu verhindern. § 18 KWG verpflichtet die Kreditinstitute, sich von Kreditnehmern, denen sie insgesamt Kredite von mehr als 750.000 Euro oder 10 % ihres nach Art. 4 Abs. 1 Nr. 71 der CRR1 anrechenbaren Eigenkapitals gewähren, regelmäßig – vor der ersten Kreditvergabe und während der gesamten Laufzeit eines Kredites – die wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere durch Vorlage der Jahresabschlüsse, offen legen zu lassen. Das gilt nur dann nicht, wenn das Verlangen nach Offenlegung offensichtlich unbegründet wäre, weil im Hinblick auf die gestellten Sicherheiten oder die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Mitverpflichteten keinerlei vernünftige Zweifel daran aufkommen können, dass die Bedienung des Kredites gewährleistet ist. Darüber hinaus kann das Kreditinstitut von der laufenden Offenlegung insbesondere dann absehen, wenn der Kreditnehmer die geschuldeten Zins- und Tilgungsleistungen störungsfrei erbringt. Gemäß § 25a KWG, konkretisiert in den MaRisk2, sind die Kreditinstitute verpflichtet, alle für das sog. Adressenausfallrisiko eines Kreditengagements bedeutsamen Aspekte herauszuarbeiten und zu beurteilen, und zwar turnusmäßig mindestens jährlich und auch anlassbezogen.

3.52

Um dem Interesse der Gläubiger an einer frühzeitigen Warnung vor einer bevorstehenden Insolvenz ihres Schuldners Rechnung zu tragen, sind in der Literatur zahlreiche Kriterien be-

1 Capital Requirement Regulation, Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013, berichtigte Fassung veröffentlicht im ABl. EU Nr. L 321 v. 30.11.2013, S. 6 ff. 2 Rundschreiben 10/2021 der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk – vom 16.8.2021, geändert am 4.5.2022, veröffentlicht auch im Internet, http://www.bafin.de.

82 | Sinz und Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.53 § 3

nannt worden, die auf eine Krise in dem Unternehmen des Schuldners schließen lassen1. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Erkenntnismöglichkeiten der Gläubiger sehr unterschiedlich sind. Daher können beispielsweise Krisenanzeichen, die für Warenlieferanten von Bedeutung sind, für Kreditinstitute ohne Aussagekraft sein, da die Kreditinstitute nicht über die gleichen Informationen wie die Warenlieferanten verfügen2. Vielmehr muss eine Zusammenstellung der „klassischen Krisenanzeichen“ aus Sicht der Kreditinstitute, also eine Sammlung von Indizien, die auch oder ausschließlich für Kreditinstitute erkennbar auf eine drohende Insolvenz des Kreditnehmers hindeuten, solche Informationen heranziehen, die gerade den Kreditinstituten in ihrer Funktion als Kreditgeber und Vermittler des Zahlungsverkehrs zur Verfügung stehen3.

b) Kontoführung und Kreditgewährung Von erheblicher Bedeutung für Kreditinstitute sind Krisenanzeichen, die sich aus der Kontoführung und aus der sonstigen unmittelbaren Geschäftsbeziehung erkennen lassen. Denn solche Indizien sind einerseits von besonderer Aussagekraft, wenn das durch die Krise bedrohte Unternehmen den gesamten oder überwiegenden Teil seines Zahlungsverkehrs über die Konten der betreffenden Bank abwickelt. Zum anderen handelt es sich dabei um Erkenntnisse, die das kontoführende Kreditinstitut ohne besonderen Aufwand, quasi nebenbei, gewinnen kann. Als solche klassische Krisenanzeichen unmittelbar aus dem Kreditverhältnis und aus der Kontoführung kommen vor allem in Betracht4: – verspätete Zins- und/oder Tilgungsleistungen, – Zahlung von Zins- und/oder Tilgungsraten zu Lasten von Kreditlinien, ohne dass im Anschluss eine entsprechende Rückführung dieser Kreditlinien aus Zahlungseingängen erfolgt,

– Verlangen nach Freigabe von Gesellschafter- und/oder Geschäftsführersicherheiten (zu diesen Sicherheiten s. auch bei Rz. 27.121 ff.), auch im Austausch für Sicherheiten aus dem Vermögen der GmbH, – überraschender Kreditbedarf, – Nichtrückführung von Saison- oder befristeten Zusatzkrediten, – angespannte Kontoführung mit Überziehungstendenz, – Rückgang des Kontoumsatzes, – Abweichungen zwischen angekündigten und tatsächlichen Zahlungsein- und -ausgängen, – hohes Scheckobligo, – verstärkte Einreichung und Rückgabe eigener Schecks, gezogen auf andere Kreditinstitute, mit Gefahr der Scheckreiterei, 1 Beispielsweise bei Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 17 ff.; Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 18 ff., 63 ff. 2 So auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.205, 1.208. 3 S. beispielsweise die Indizienkataloge bei Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 84 f., 88; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.206. 4 S. auch Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 18; Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 70 ff., 88 ff.

Kuder/Unverdorben | 83

3.53

§ 3 Rz. 3.53 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– auffällig häufige Geltendmachung des Erstattungsanspruchs gemäß § 675x Abs. 2 BGB durch den Zahlungspflichtigen bei vom Kreditnehmer bei dem Kreditinstitut zur Einziehung eingereichten SEPA-Basislastschriften, – Geltendmachung des Erstattungsanspruchs gemäß § 675x Abs. 2 BGB durch den Kreditnehmer bei auf ihn gezogenen SEPA-Basislastschriften, – Zahlungen an Rechtsanwälte und Gerichtsvollzieher, – (Konto-)Pfändungen, insbesondere wegen Steuern und Sozialabgaben, – Häufung von Auskunftsanfragen und Verschlechterung neuer Auskünfte.

c) Kreditwürdigkeitsprüfung und Bilanzanalyse 3.54

Von entscheidender Bedeutung sind daneben Krisenanzeichen, die für die Kreditinstitute erkennbar sind, wenn sie ihrer Verpflichtung zu einer kontinuierlichen Kreditwürdigkeitsprüfung aus § 18 KWG und § 25a KWG i.V.m. den MaRisk1 nachkommen. Hierzu müssen sie sich vor und während der gesamten Laufzeit eines Kredits die wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Kreditnehmers offen legen lassen und eine Beurteilung der Adressausfallrisiken der Kreditnehmer turnusmäßig mindestens jährlich sowie immer dann anlassbezogen unverzüglich durchführen, wenn dem Institut aus externen oder internen Quellen Informationen bekannt werden, die auf eine wesentliche negative Änderung der Risikoeinschätzung der Engagements oder der Sicherheiten hindeuten2.

3.55

Dazu vereinbaren die Kreditinstitute in den Kreditverträgen, dass der Kreditnehmer verpflichtet ist, sie stets aktuell über seine wirtschaftlichen Verhältnisse zu informieren3. Je nach Umfang des Kredits und nach Größe des Geschäftsbetriebs des Kreditnehmers können Verpflichtungen zur Vorlage der folgenden Dokumente enthalten sein: – Der jeweils letzte (testierte) Jahresabschluss nebst Anhang und Lagebericht, – ein Konzernabschluss (Konzernbilanz, Konzern-Gewinn- und Verlustrechnung und Konzernanhang) nebst Konzernlagebericht der Unternehmensgruppe einschließlich der jeweiligen Wirtschaftsprüferberichte, – eine rollierende, nähe definierte, Mehr-Jahres-Planung für den Kreditnehmer bzw. die Unternehmensgruppe, einschließlich der Planung für das aktuelle Geschäftsjahr, – in regelmäßigen Abständen – etwa quartalsweise – betriebswirtschaftliche Auswertungen, ggf. aufgegliedert nach Standorten, Betriebsbereichen, Produktbereichen, – Debitorenlisten, Lagerbestandslisten, Bilanzstatus, Soll-Ist-Analysen.

1 Rundschreiben 10/2021der BaFin, Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk – vom 16.8.2022, geändert am 4.5.2022, veröffentlicht auch im Internet, http://www.bafin.de. 2 Zur Krisenfrüherkennung im Rahmen der Kreditwürdigkeitsprüfung s. auch Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 19; Wilden in Buth/ Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 70 ff. 3 Zur Durchsetzung der vertraglich vereinbarten Pflicht zur Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse sind die Kreditinstitute berechtigt, bei unzureichenden Auskünften des Kreditnehmers über seine wirtschaftlichen Verhältnisse letztlich den Kredit zu kündigen, so BGH v. 1.3.1994 – XI ZR 83/93, WM 1994, 838.

84 | Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.60 § 3

Seit dem 1.1.2021 besteht daneben gemäß § 1 StaRUG für die Geschäftsführer von GmbHs eine allgemeine Pflicht zur Implementierung eines Systems zur Krisenfrüherkennung und eines Krisenmanagements1 (dazu ausführlich Rz. 3.1 ff.). Eine solche Pflicht gab es bislang nur bei Aktiengesellschaften. Die Anforderungen an die Krisenfrüherkennung richten sich nach Größe, Branche und Struktur des Unternehmens. Mit Blick auf den für die drohende Zahlungsunfähigkeit geltenden Prognosezeitraum von nunmehr 24 Monaten gemäß § 18 Abs. 2 Satz 2 InsO muss sich die Krisenfrüherkennung mindestens auf diesen Zeitraum erstrecken2. Unerlässlicher Bestandteil eines effektiven Risikofrühwarnsystems ist eine detaillierte, transparente und technisch sauber hergeleitete Liquiditätsplanung für die nächsten 24 Monate3.

3.56

Im Hinblick darauf, dass einer kreditnehmenden GmbH bei Vorliegen der drohenden Zahlungsunfähigkeit über einen Prognosezeitraum von 24 Monaten die Instrumente des StaRUG zur Verfügung stehen, werden Kreditinstitute künftig ein großes Interesse daran haben, bereits vor Eintritt einer drohenden Zahlungsunfähigkeit frühzeitig – man könnte vom Drohen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit sprechen – über die Liquiditätssituation der GmbH informiert zu sein. Eine solch frühzeitige Kenntnis der prognostizierten Liquiditätslage des Kreditnehmers würde es dem Kreditinstitut ermöglichen, seine Risikobewertung entsprechend vorzunehmen bzw. anzupassen, vorab in einen vertieften Dialog mit dem Kreditnehmer zu treten, seine Bereitschaft oder Nicht-Bereitschaft zur Unterstützung einer Restrukturierung und deren Bedingungen frühzeitig deutlich zu machen und sich ggf. vom Kreditverhältnis lösen zu können, ohne von den Regelungen des StaRUG beschränkt zu sein. Aus diesem Grund werden Kreditinstitute vermehrt dazu übergehen, sich insbesondere auch die gemäß § 1 StaRUG ohnehin im Rahmen des Krisenfrüherkennungssystems fortlaufend zu erstellende Liquiditätsplanung der GmbH zusammen mit den anderen Unterlagen vorlegen zu lassen.

3.57

Daneben ist der Kreditnehmer nach dem Kreditvertrag in der Regel verpflichtet, das Kreditinstitut unverzüglich zu unterrichten, falls sich gegenüber erteilten Informationen oder übergebenen Unterlagen (auch Planungen und Vorhersagen) wesentliche negative Veränderungen oder Abweichungen ergeben, oder sich herausstellt bzw. Anhaltspunkte bestehen, dass erteilte Informationen oder übergebene Unterlagen unvollständig oder unrichtig waren.

3.58

Auf Grundlage der vorgelegten Unterlagen und Informationen sind die für die Beurteilung des Risikos wichtigen Faktoren unter besonderer Berücksichtigung der Kapitaldienstfähigkeit des Kreditnehmers zu analysieren und zu beurteilen. Zugleich müssen die Kreditinstitute auf der Basis quantitativer und qualitativer Risikomerkmale Indikatoren für eine frühzeitige Risikoidentifizierung entwickeln4.

3.59

Als Krisenanzeichen, die sich aus der Vorlage und Auswertung der Jahresabschlüsse und der damit in Zusammenhang stehenden Informationen sowie der weiteren Unterlagen erkennen lassen, werden vor allem folgende angesehen5:

3.60

1 Zur Krisenfrüherkennung im Unternehmen mittels Frühwarnsystem auch ausführlich Haghani, NZI-Beilage 2021, 15 ff. 2 Haghani, NZI-Beilage 2021, 15. 3 Haghani, NZI-Beilage 2021, 15, 16. 4 Rundschreiben 10/2021der BaFin, Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk – vom 16.8.2021, geändert am 4.5.2022, veröffentlicht auch im Internet, http://www.bafin.de. 5 S. auch Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 2 Rz. 84 ff.; Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 19.

Kuder/Unverdorben | 85

§ 3 Rz. 3.60 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– Verzögerungen bei der Einreichung von Bilanzen, GuV, Statuszahlen oder Inventuren, – Unklarheiten in der Buchhaltung, – Verschiebungen im Bilanzierungszeitpunkt, insbesondere zur Schaffung unterschiedlicher Bilanzierungszeitpunkte bei Mutter- und Tochtergesellschaften (Gefahr von Liquiditätsverschiebungen), – fehlendes oder eingeschränktes Testat des Wirtschaftsprüfers oder Steuerberaters, – fehlende Bilanzunterschrift und Weigerung der Vorlage unterzeichneter Bilanzen im Original,

– negative Abweichungen von vorläufigen und endgültigen Zahlen, – Änderung der Abschreibungsmethoden oder sonstige Vermeidung/Reduzierung von Abschreibungen, – Verringerung von Investitionen, – steigende Vorräte ohne Erhöhung der Außenstände, – hohe Forderungen gegen verbundene Unternehmen, – Eigenkapitalmangel, Abzug von Gesellschafterdarlehen und hohe Privatentnahmen, fehlende Einlagen (zur Kapitalausstattung und zur Eigenkapitalaufzehrung als Krisenwarnsignal s. auch Rz. 2.1 ff., 2.143 ff.), – mangelnde Fristenkongruenz; langfristigen Forderungen stehen kurzfristige Verbindlichkeiten gegenüber, – Auflösung von Reserven (Wertberichtigungen, Rückstellungen, Rücklagen), – Aufdeckung stiller Reserven (z.B. sale-and-lease-back, auch Betriebsaufspaltung), – Umbuchungen von Posten des Umlaufvermögens in das Anlagevermögen (Bilanzierung zu Anschaffungs-/Herstellungskosten statt zum Niederstwertprinzip), – eine sich in der Liquiditätsplanung für die kommenden 24 Monate abzeichnende angespannte Liquiditätslage, die kaum Puffer für unvorhergesehene Abweichungen enthält.

d) Kundenbesuche/Sicherheitenprüfungen 3.61

Kreditinstitute haben auch die Möglichkeit, Einblick in den betrieblichen Bereich ihres Kunden zu nehmen, beispielsweise bei Kundenbesuchen und Sicherheitenprüfungen1. Wird diesen Erkenntnisquellen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, können aus folgenden Anzeichen Rückschlüsse auf eine drohende oder eingetretene Krise gezogen werden: – Verschiebung von Gesprächsterminen bzw. Terminen für Sicherheitenprüfungen, – vermehrte Eintragung von Grundschulden, – Rückgang des Sicherheitenwertes beim Umlaufvermögen (Globalzession der Forderungen aus Lieferungen und Leistungen und Sicherungsübereignung von Warenlagern), Abweichungen zwischen den Bestandsmeldungen und dem bei der Sicherheitenprüfung festgestellten Bestand des Sicherungsgutes, 1 Zur Sicherheitenprüfung durch die Kreditinstitute Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 20; Cartano in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/354 ff. (123. Lfg.) (für die Sicherungsübereignung).

86 | Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.62 § 3

– Fehler im Management (fehlende Qualifikation der Geschäftsleitung, häufiger Wechsel – insbesondere im Finanz- und Rechnungswesen –, mangelnde Erfahrung, schlechter Führungsstil, unzureichende Nachfolgeregelung), – überraschender Austausch der Geschäftsführung, insbesondere durch offensichtlich nicht qualifizierte Personen, – Verlegung des Unternehmenssitzes, insbesondere unter Änderung der Firma1, – falsche Geschäftspolitik und Markteinschätzung, vor allem zu große Exportabhängigkeit, zu geringe Diversifikation, zu große Abhängigkeit von Lieferanten/Abnehmern, – mangelnde kaufmännische Effizienz: Rechnungswesen, Planung und Kalkulation unzureichend, – hohe Personalkosten, unqualifiziertes Personal, Personalfluktuation, fehlende Motivation des Personals, – Mängel im Einkauf, in der Lagerhaltung, Produktion und im Absatz, – Umsatz-Rückgänge, Absatzeinbußen wegen falscher Produkt-, Preis- und Sortimentspolitik, Ausfall von Forderungen, Verluste im Betrieb, aus Beteiligungen, Bürgschaften, – mangelnde Kapazitätsauslastung, unrationelle Produktion, veraltete Anlagen, schlechte Materialwirtschaft, fehlende Qualitätskontrolle, – fehlender Versicherungsschutz, – Gesellschafter-Streitigkeiten.

e) Geschäftsbeziehungen des Kreditnehmers zu Dritten Schließlich können Kreditinstitute Erkenntnisse aus den Geschäftsbeziehungen ihres Kreditnehmers zu seinen Lieferanten, Abnehmern und anderen Banken gewinnen. Für das kreditgebende Institut erkennbare Krisenanzeichen in diesem Bereich können insbesondere sein: – Lieferanten: Verschärfung der Liefer- und Zahlungsmodalitäten (Vorauskasse, Lieferanten fordern Besicherung durch Avale), Ausdehnung des Lieferantenkreises, Reklamationen gegenüber den Lieferanten, Poolen von Sicherheiten durch Kreditversicherer, – Abnehmer: Abhängigkeit von wenigen Abnehmern, Zahlungsverzögerungen und Insolvenzen im Kreis der Abnehmer, – Kreditinstitute: Ablösungswünsche für Kredite anderer Institute, Überleitung in die speziellen Betreuungseinheiten für Engagements mit erhöhtem Kreditrisiko anderer Kreditinstitute, Kreditkündigungen, Kreditsicherungen zu Gunsten anderer Institute, Aufnahme weiterer Bankverbindungen.

1 Um unlautere „Firmenbestattungen“ – die Beseitigung gescheiterter GmbH außerhalb eines geordneten Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens – zumindest zu erschweren, wurden durch das MoMiG die Zustellung von Schriftstücken und der Zugang von Willenserklärungen erheblich erleichtert. Zudem wurden die Bestellungshindernisse für Geschäftsführer erweitert, die Haftung der Gesellschafter, die einer von der Geschäftsführerstellung ausgeschlossenen Person die Führung der Geschäfte überlassen, eingeführt und die Insolvenzantragspflicht auch auf die Gesellschafter erstreckt. Vgl. hierzu im Überblick Kindler, NJW 2008, 3249, 3254 f. (s. auch Rz. 15.82 f.).

Kuder/Unverdorben | 87

3.62

§ 3 Rz. 3.63 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

f) Begrenzte Erkenntnismöglichkeiten auf Grund der Krisenanzeichen 3.63

Die Problematik dieser klassischen Krisenanzeichen liegt allerdings darin, dass keines der Indizien für sich allein die zwingende Erkenntnis liefert, dass bei dem Kreditnehmer die Insolvenz und damit ein Kreditausfall droht. Denn für die meisten der genannten Anhaltspunkte kann es auch andere Erklärungen als eine bevorstehende Krise geben. Deshalb kann allenfalls eine Gesamtbetrachtung aller verfügbaren Informationen über den Kreditnehmer, bei der die genannten Anzeichen herangezogen werden, Rückschlüsse auf eine krisenhafte Entwicklung zulassen. Diese Beurteilung wird noch erschwert dadurch, dass angesichts der wesentlichen Bedeutung der Bankverbindung und der gewährten Bankkredite für die Vermeidung oder Überwindung einer Krise die Kreditnehmer häufig besonderes Augenmerk darauf richten, dass ihre Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit durch die Kreditinstitute nicht in Frage gestellt wird, dass also die Krisenanzeichen den kreditgebenden Instituten verborgen bleiben. Dementsprechend kommt es vor, dass im Kreis der Lieferanten oder Wettbewerber die Krise eines Unternehmens schon lange bekannt ist, während dieser Umstand den Kreditinstituten verborgen bleibt, weil ihr Kreditnehmer seine Verpflichtungen ihnen gegenüber noch vertragsgetreu erfüllt, vor allem Zins- und Tilgungsleistungen pünktlich erbringt. Daher kann keine Rede davon sein, dass die Kreditinstitute gegenüber den anderen Gläubigern regelmäßig einen Informationsvorsprung genießen1.

2. Financial Covenants als Krisenindikatoren a) Grundlagen 3.64

Kreditinstitute versuchen, die Kreditwürdigkeit ihrer Kreditnehmer und die Kreditrisiken während der Laufzeit der Kredite enger zu überwachen, als dies durch Beobachtung der vorgenannten klassischen Krisenanzeichen möglich ist. Dabei ist das Ziel nicht nur, die sich anbahnende Krise früher erkennen zu können, sondern die Kreditgeber wollen auf verschlechterte Kreditrisiken auch schneller mit Maßnahmen zur Begrenzung des Kreditrisikos reagieren, vor allem Nachbesicherung verlangen oder notfalls ihre Kredite durch Kündigung vorzeitig fällig stellen. Eines der Instrumente dazu ist die Vereinbarung von Finanzkennzahlen oder, anders bezeichnet, Financial Covenants2.

3.65

Financial Covenants werden insbesondere im Rahmen von Konsortialkreditverträgen zwischen Kreditgebern und Kreditnehmer als Bestandteile des Kreditvertrages vereinbart. Dabei werden regelmäßig die eigentlichen Financial Covenants (Festlegung der einzuhaltenden Finanzkennzahlen und Definition der dabei verwandten Begriffe) durch eine Reihe weiterer Klauseln (Kontinuität der Bilanzierung, Information, Sanktionen bei Verletzung der Financial Covenants) ergänzt. Grundlage für die Festlegung der Financial Covenants sind die von dem Kreditnehmer bei der Verhandlung des Kreditvertrages vorgelegten Abschlüsse, Zwischenberichte und Planungen. Die Financial Covenants definieren für die gesamte Laufzeit des Kredits die von dem Kreditnehmer (oder seiner Konzernobergesellschaft) – in aller Regel auf konsoli1 So auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.208. 2 Zu Financial Covenants s. Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 137 ff.; Richter in Langenbucher/Bliesener/Spindler, BankrechtsKommentar, 3. Aufl. 2020, 31. Kap. Rz. 22 f.; Merkel/Richrath in Ellenberger/Bunte, BankrechtsHandbuch, 6. Aufl. 2022, § 77 Rz. 174 ff.; Diem/Jahn in Diem, Akquisitionsfinanzierungen, 4. Aufl. 2019, § 22 Rz. 1 ff.; Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.220 ff.; Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 86 ff.

88 | Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.68 § 3

dierter Basis – einzuhaltenden Bilanzrelationen und Finanzkennzahlen1. Sie sind dadurch gekennzeichnet, – dass sie sich auf die finanzielle Situation des Kreditnehmers bzw. seines Wirtschaftsunternehmens insgesamt beziehen, – dass sie Mindestanforderungen an die Vermögenssituation (Eigenkapital und Verschuldung), den Ertrag oder die Liquidität des Kreditnehmers stellen und – dass sie diese Mindestanforderungen durch Zahlen festlegen; absolut oder in Form von Verhältnisangaben. Bei der Definition der einzelnen Finanzkennzahlen berücksichtigt das Kreditinstitut in der Regel einen „Sicherheitsabstand“ (sog. Headroom), damit nicht jede kleinere Abweichung von der Planung des Kreditnehmers zu einer Verletzung der Financial Covenants führt2. Der Kreditnehmer ist verpflichtet, in regelmäßigen Abständen, üblicherweise quartalsweise zusammen mit der Vorlage der Quartalsberichte, die Einhaltung der Financial Covenants zu bestätigen. Dies geschieht durch die Vorlage eines von den Geschäftsführern des Kreditnehmers unterzeichneten (ggfls. zusätzlich von den Abschlussprüfern bestätigten) Bestätigungsschreibens (Compliance Certificate), in dem hinreichend detailliert dargelegt wird, ob und wie der Kreditnehmer die Financial Covenants eingehalten hat3.

3.66

Financial Covenants werden als Indikatoren zur Früherkennung von Krisen bei dem Kreditnehmer herangezogen, weil ihnen der Gedanke zugrunde liegt, dass eine verschlechterte wirtschaftliche Lage des Kreditnehmers frühzeitig daran erkennbar sein sollte, dass die vereinbarten Financial Covenants nicht eingehalten werden können4. Zugleich sollen Financial Covenants Kreditrisiken auf ein für den Kreditgeber akzeptables Maß beschränken. Denn um ihre Funktion als Krisenindikatoren erfüllen zu können, werden mit Financial Covenants die vereinbarten Mindestanforderungen an die wirtschaftliche Lage des Kreditnehmers in der Weise festgelegt, dass die laufende Bedienung des Kredites sowie seine endgültige Rückführung als sicher erscheinen und das Kreditrisiko gering bleibt, solange die festgelegten Grenzen eingehalten werden.

3.67

b) Inhalt typischer Financial Covenants Financial Covenants können die finanzielle Lage des Kreditnehmers und das daraus resultierende Kreditrisiko an einer Vielzahl von Kennzahlen messen. Darüber hinaus werden die maßgeblichen Kennzahlen (z.B. für die höchstzulässige Verschuldung) durch Financial Covenants in verschiedener Weise (z.B. für die Verschuldung durch absolute Beträge oder im Verhältnis zum Eigenkapital) festgelegt. Die üblicherweise vereinbarten Finanzkennzahlen sollen 1 Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 137. 2 Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.222. 3 Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 148; Kropf in Kümpel//Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.222. 4 Merkel/Richrath in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 77 Rz. 174; Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.220; Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 18 Rz. 86 ff.; Baetge, DB 2002, 2281; Fleischer, ZIP 1998, 313, 314; Thießen, ZBB 1996, 19.

Kuder/Unverdorben | 89

3.68

§ 3 Rz. 3.68 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

zum einen eine angemessene Liquidität und zum anderen eine angemessene Eigenkapitalausstattung des Kreditnehmers sicherstellen. Hierzu werden häufig folgende Financial Covenants verwendet: – Eigenkapitalausstattung (Rz. 3.69 f.) – Verschuldung (Rz. 3.71 ff.) – Ertrag (Rz. 3.74 f.) – Liquidität des Kreditnehmers oder seines Konzerns (Rz. 3.76 f.) aa) Eigenkapitalausstattung

3.69

Eine gerade bei kleineren Unternehmen vereinbarte Finanzkennzahl zur Eigenkapitalausstattung (Net Worth Requirement) verlangt, dass das Eigenkapital des Kreditnehmers einen bestimmten, in absoluten Zahlen festgelegten Betrag nicht unterschreitet. Oft wird dabei vorgesehen, dass der vereinbarte Mindestbetrag während der Laufzeit des Kredites ansteigt, und zwar in Stufen für jedes Geschäftsjahr des Kreditnehmers1.

3.70

Das in der Bilanz ausweisbare Eigenkapital repräsentiert denjenigen Betrag, der idealerweise dem Kreditnehmer verbleiben sollte, nachdem sämtliche Aktiva zu Buchwerten liquidiert und aus den Erlösen sämtliche Verbindlichkeiten, insbesondere die Forderungen des Kreditgebers, zurückgeführt worden sind. Solange (positives) Eigenkapital ausgewiesen werden kann, sollte also theoretisch jederzeit, selbst im Liquidationsfall, die Rückführung des Kredites möglich sein. Anders ausgedrückt: Solange die Anforderungen dieser Eigenkapitalklausel erfüllt werden, sollte keine Überschuldung des Kreditnehmers vorliegen können. Darüber hinaus dient das Eigenkapital dazu, mögliche Verluste aufzufangen, ohne dass es zur Überschuldung kommt. Wird diese Grenze unterschritten, ist dies ein Indikator für das gestiegene Kreditrisiko.

bb) Verschuldung

3.71

Eine typische Verschuldungsgradklausel (Gearing Ratio) zieht Grenzen für den relativen Verschuldungsgrad, indem sie dem Kreditnehmer auferlegt, dass die Summe der Verbindlichkeiten im Verhältnis zum Eigenkapital eine vereinbarte Obergrenze nicht übersteigen darf. Die absolute Obergrenze für die zugelassene Verschuldung ist damit abhängig von der Eigenkapitalausstattung, d.h. mit einem Wachsen des Eigenkapitals (z.B. durch Gewinnthesaurierung oder Kapitalerhöhung) ist dem Kreditnehmer eine proportional entsprechende Ausweitung seiner Verschuldung möglich, während umgekehrt eine geschmälerte Eigenkapitalbasis (durch Verluste) eine Rückführung der Verschuldung verlangt2.

3.72

Eine Begrenzung der Verschuldung relativ zum Eigenkapital enthält zugleich eine Festlegung, zu welchem Anteil an der Bilanzsumme Eigenkapital zur Verfügung stehen soll, um Verluste auszugleichen und damit eine Insolvenz auf Grund der Überschuldung des Kreditnehmers zu verhindern (zur Bedeutung der Eigenkapitalausstattung für die Krisenvermeidung bei der GmbH s. auch Rz. 2.1 ff.). Daneben erlaubt der Verschuldungsgrad den Rückschluss, 1 Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 89 f.; Wittig, WM 1996, 1381, 1382. 2 Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 90; Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.221.

90 | Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.75 § 3

wie sensibel Gewinn bzw. Verlust des Kreditnehmers auf seinen größeren bzw. geringeren geschäftlichen Erfolg reagieren. Denn während Zinsen für die Verschuldung (zumindest für den überwiegenden, verzinslichen Teil der Verbindlichkeiten) unabhängig davon gezahlt werden müssen, ob der Kreditnehmer geschäftlich erfolgreich war, braucht das Eigenkapital nur dann durch Gewinnausschüttungen verzinst zu werden, wenn tatsächlich Gewinne erwirtschaftet wurden. Anders ausgedrückt: Ein Rückgang des Ertrages vor Zinsen mag bei einem in hohem Grad durch Eigenkapital finanzierten Unternehmen lediglich den Gewinn aufzehren, sodass keine Dividende gezahlt werden kann. Dagegen müssen bei einem sehr viel stärker durch Fremdkapital finanzierten Unternehmen in der gleichen Situation trotz des Ertragsrückganges die Kreditzinsen bezahlt und deshalb Verluste ausgewiesen werden, die zur Überschuldung und damit zum Kreditausfall in der Insolvenz führen können. Häufig anzufinden ist auch eine Verschuldungsgradklausel (Leverage Ratio), die als Quotient aus Netto-Finanzverbindlichkeiten und EBITDA berechnet wird. Dabei werden als NettoFinanzverbindlichkeiten alle zinstragenden Verbindlichkeiten des Kreditnehmers abzüglich Bankguthaben, Kassenbestand und des Buchwerts bestimmter liquider Wertpapiere zu einem bestimmten Stichtag ins Verhältnis zum operativen Ergebnis vor Zinsen, Steuern, und Abschreibungen gesetzt1. Dieser Wert dient als Indikator für die Fähigkeit des Kreditnehmers seine Verbindlichkeiten künftig aus seinen operativen Erträgen zurückzahlen zu können.

3.73

cc) Ertrag Die in dieser Gruppe häufig zu findende Zinsdeckungsklausel (EBITDA Interest Cover Ratio), mit der bestimmte Anforderungen an die Ertragslage des Kreditnehmers gestellt werden, sieht vor, dass der Gewinn des Kreditnehmers vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände (EBITDA) im Verhältnis zum gesamten Zinsaufwand nicht unter eine bestimmte Mindestgröße, ausgedrückt als Verhältniszahl, fallen darf.

3.74

Im Gegensatz zu den Messgrößen der Eigenkapitalausstattung und des Verschuldungsgrades dient die Zinsdeckungsklausel als Maßstab, ob während der Laufzeit des Kredites die wiederkehrenden Zinszahlungen durch den Kreditnehmer erbracht werden können2. Ist der Kreditnehmer nicht in der Lage, so profitabel zu wirtschaften, dass er seine Zinsverpflichtungen bedienen kann, so sind nicht nur Verluste zu erwarten und eine Insolvenz wegen Überschuldung zu befürchten. Vielmehr ist auch die Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers gefährdet, und diese Gefahr wird verstärkt durch drohende Kreditkündigungen. Weiterhin zeigt das Verhältnis zwischen dem Gewinn vor Zinsaufwendungen und dem Zinsaufwand, wie empfindlich die Ertragslage des Kreditnehmers auf Steigerungen des allgemeinen Zinsniveaus oder Rückgänge des Gewinns reagieren wird. Schließlich werden in aller Regel demjenigen Kreditnehmer, dessen Gewinne vor Zinsen den Zinsaufwand nicht deutlich übersteigen, auf Dauer die Mittel für Neuinvestitionen und vor allem für die Kredittilgung fehlen.

3.75

1 Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 137; Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 90. 2 Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 90.

Kuder/Unverdorben | 91

§ 3 Rz. 3.76 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

dd) Liquidität

3.76

Eine sehr gebräuchliche Liquiditätsklausel (Current Ratio), mit der die Einhaltung bestimmter Liquiditätsanforderungen vereinbart wird, sieht vor, dass während der Laufzeit des Kredites beim Kreditnehmer die kurzfristig realisierbaren Mittel um ein festgelegtes Maß, als Verhältniszahl ausgedrückt, die kurzfristigen Verbindlichkeiten übersteigen müssen.

3.77

Neben der Eigenkapitalausstattung, der Verschuldung und der Ertragskraft bestimmt die Liquidität des Kreditnehmers entscheidend – vor allem kurzfristig – das Kreditrisiko. Denn selbst bei einer im Übrigen guten wirtschaftlichen Situation führt die Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers zum Insolvenzverfahren. Hintergrund dieser Klausel, die sich auf die – in der Terminologie der Bilanzanalyse – „Liquidität zweiten Grades“ bezieht, ist die Überlegung, dass zur Begleichung der kurzfristig fällig werdenden Verbindlichkeiten dem Kreditnehmer jeweils ausreichende Zahlungsmittel zur Verfügung stehen müssen, um ein Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Die erforderlichen Zahlungsmittel kann sich der Kreditnehmer verschaffen, sofern sie ihm nicht schon als flüssige Mittel zur Verfügung stehen, indem er seinerseits die kurzfristigen Forderungen einzieht und sein Vorratsvermögen umsetzt. Solange die „Current Assets“ die „Current Liabilities“ übersteigen, sollte also die Zahlungsfähigkeit des Kreditnehmers nicht gefährdet sein.

c) Folgen der Nicht-Einhaltung 3.78

Neben der Verpflichtung des Kreditnehmers, die näher definierten Finanzkennzahlen jederzeit oder zu bestimmten Stichtagen einzuhalten1, werden auch die Sanktionen bei der Verletzung der Verpflichtung zur Einhaltung der Finanzkennzahlen im Kreditvertrag vereinbart. In der Regel steht dem Kreditinstitut in diesem Fall (ggfls. nach Ablauf einer im Hinblick auf bestimmte oder auf alle Finanzkennzahlen vereinbarten Heilungsfrist) das Recht zur außerordentlichen Kündigung des Kredits aus wichtigem Grund zu. Das Recht zur Kündigung auf Basis allgemeiner Generalklauseln, etwa auf Grund einer wesentlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreditnehmers, steht selbständig neben diesem Kündigungsrecht und wird durch die Vereinbarung eines Kündigungsrechts bei der Nichteinhaltung von Financial Covenants nicht beeinträchtigt, selbst wenn die vereinbarten Kennzahlen noch eingehalten werden, aber aus einem anderem Grund eine wesentliche Verschlechterung der Verhältnisse eingetreten ist2.

3.79

Es kann aber auch vereinbart sein, dass das Kreditinstitut zunächst berechtigt ist, die Verstärkung der Sicherheiten für den Kredit zu verlangen, und erst nach dem fruchtlosen Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist eine Kündigung aussprechen kann.

3.80

In der Praxis kommt es aber bei der Nichteinhaltung der Finanzkennzahlen in den meisten Fällen nicht zur Kündigung, sondern zur Erteilung eines sog. Waivers. Dieser Verzicht des Kreditinstituts auf die Ausübung des Kündigungsrechts kann bei unkritischen Verstößen gegen die Financial Covenants ohne weitere Maßnahmen erteilt werden. Bei ernsteren Verstößen oder wenn die Finanzkennzahlen voraussichtlich dauerhaft nicht eingehalten werden können, kommt es zu Nachverhandlungen des Kreditvertrages. In kritischen Fällen wird das Kreditinstitut wegen des bestehenden Kündigungsrechts möglicherweise zunächst bis zum Abschluss dieser Verhandlungen auch die Kreditlinien einfrieren und keine weiteren Inan1 Eine übliche Vereinbarung ist, dass die Finanzkennzahlen auf konsolidierter, rollierender Ist-Zahlen Basis für jede an einem Quartalsende endende 12-Monatsperiode einzuhalten sind. 2 Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 144; Merkel/Richrath in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 77 Rz. 175.

92 | Kuder/Unverdorben

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.83 § 3

spruchnahmen zulassen. Üblicherweise ist für den mit der Erteilung eines Waivers verbundenen erhöhten Aufwand des Kreditinstituts die Zahlung eines bestimmten Entgelts (Waiver Fee) im Kreditvertrag vereinbart1.

d) Bewertung von Financial Covenants als Krisenindikatoren Mit Financial Covenants werden Kennzahlen für die wirtschaftliche Situation des Kreditnehmers in einer solchen Weise festgelegt, dass bei Einhaltung der Kennzahlen der wirtschaftliche Fortbestand des Unternehmens nicht gefährdet und daher die Bedienung der ausgereichten Kredite möglich ist. Werden beispielsweise Financial Covenants in der bereits gezeigten Weise vereinbart, kann es im Grundsatz weder zur Überschuldung noch zur Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers und damit zu keinem Insolvenzverfahren kommen, solange die vereinbarten Financial Covenants nicht verletzt werden. Die bloße Vereinbarung von Kennzahlen bleibt aber als Mittel der Risikobegrenzung bedeutungslos. Denn ob die verabredeten Financial Covenants eingehalten werden, steht nicht in der Macht des Kreditnehmers, sondern hängt zwingend von seinem wirtschaftlichen Erfolg ab. Kommt es beispielsweise zu einem Verlust, der das Eigenkapital des Kreditnehmers übersteigt, hat dies die Überschuldung zur Folge, selbst wenn in Financial Covenants vereinbart worden ist, dass der Kreditnehmer stets ein bestimmtes Eigenkapital aufweisen muss. Dementsprechend leisten Financial Covenants nach üblicher Einschätzung ihren Beitrag zur Begrenzung des Kreditrisikos auch nicht, solange der Kreditnehmer die vereinbarten Kennzahlen mühelos einhält, sondern dann, wenn diese Kennzahlen verletzt werden oder die Verletzung droht2.

3.81

Der Beitrag von Financial Covenants zur Begrenzung von Kreditrisiken liegt in ihrer Funktion als Früherkennungsinstrument, weil eine Nichteinhaltung der vereinbarten Finanzkennzahlen erkennen lässt, dass sich die Geschäfte bei dem Kreditnehmer zumindest nicht nach Plan entwickeln. Dies gibt dem Kreditgeber die Möglichkeit, auf die sich anbahnende Verschlechterung des Kreditrisikos zu reagieren, bevor die Krise in ein Insolvenzverfahren und den damit verbundenen Kreditausfall mündet3. Überbewerten sollte man Financial Covenants als Krisenindikatoren aber aus den folgenden Erwägungen nicht.

3.82

Financial Covenants beziehen sich auf die Zahlen aus der Bilanz und der GuV oder aus vergleichbaren Zahlenwerken. Anhand dieser Zahlenwerke kann nur derjenige Teilbereich des unternehmerischen Handelns beurteilt werden, der in Form von Geldbeträgen in das Zahlenwerk eingeht. Die Zahlenwerke erlauben aber (zumindest unmittelbar) kein Urteil über andere wesentliche, nicht bilanzierbare Erfolgsfaktoren, z.B. über Produktionsprogramme, Sortimente, Stellung am Markt, technische Stärken, Innovationskraft, die Fähigkeit, auf globale Trends wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit rechtzeitig und angemessen reagieren zu können, Kundentreue, Robustheit der (globalen) Lieferketten, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Belegschaft, Schlagkraft der Organisation oder Leistungs- und Leitungsfähigkeit des Managements, sondern bieten allenfalls Anhaltspunkte zur Beurteilung solcher Potentiale, die für die Leistungsfähigkeit des Kreditnehmers und damit für seine Kreditwürdigkeit wenigstens mittelfristig ausschlaggebend sind4.

3.83

1 Nouvertné, ZIP 2012, 2139, 2141 f.; Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 97 ff. 2 Ausführlich dazu aus betriebswirtschaftlicher Sicht Thießen, ZBB 1996, 19. 3 Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022, § 24 Rz. 92; Thießen, ZBB 1996, 19. 4 Haghani, NZI-Beilage 2021, 15, 17; Hauschildt, Erfolgs-, Finanz- und Bilanz-Analyse, 3. Aufl. 1996, S. 1.

Kuder/Unverdorben | 93

§ 3 Rz. 3.84 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

3.84

Weiterhin messen Financial Covenants die wirtschaftliche Situation des Kreditnehmers lediglich an Zahlen, die sich auf einen vergangenen Stichtag bzw. auf einen abgelaufenen Zeitraum beziehen. Krisenhafte Entwicklungen finden aber zum einen Einfluss in dieses Zahlenwerk erst mit Verspätung, also u.U. zu spät, um die eingetretene Krise an der Verletzung der Financial Covenants erkennen zu können, bevor sie zur Insolvenz führt1. Zum anderen sind zahlreiche bedeutsame, für die zukünftige Entwicklung wesentliche Risiken, bei deren Verwirklichung die Insolvenz des Kreditnehmers drohen kann, aus den Bilanzzahlen nicht ersichtlich, zumindest solange der bilanzierende Kreditnehmer darauf verzichtet, für diese Risiken Rückstellungen zu bilden. Insoweit ist von besonderer Bedeutung auch, dass in der Praxis häufig bei einer sich verschärfenden Krise des Kreditnehmers die vorzeitige Fälligstellung von Bankkrediten durch außerordentliche Kündigung mehr oder weniger plötzlich die Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers herbeiführt. Dieses Risiko ist aber aus den Bilanzzahlen des Kreditnehmers nicht ablesbar.

3.85

Daneben muss der Kreditgeber bedenken, dass die Einhaltung von Financial Covenants in gewissem Umfang vom Kreditnehmer gestaltet werden kann. Denn bei der unternehmerischen Rechnungslegung hat der Kreditnehmer maßgebliche Entscheidungen zu treffen, z.B. zur Bewertung der Vorräte oder über den Umfang der Rückstellungen für zweifelhafte Forderungen. Weil dem Kreditnehmer damit erheblicher Einfluss auf die Aussage seiner Rechnungslegung zum jeweiligen Stichtag verbleibt, ist es wichtig, ihm bei der Vereinbarung von Financial Covenants aufzuerlegen, dass stets die gleichen Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden beibehalten werden, um zumindest willkürliche und wechselnde Bewertungen zu untersagen. Doch selbst bei gleichmäßiger Bewertung und Bilanzierung hat der Kreditnehmer einen gewissen Spielraum, seine Bilanz oder andere maßgebliche Zahlenwerke für den jeweiligen Stichtag so zu gestalten, dass Financial Covenants eingehalten werden.

3.86

Gleichwohl hat die Vereinbarung von Financial Covenants für die Kreditinstitute große Bedeutung insbesondere bei strukturierten Konsortialkreditverträgen mit Unternehmen erlangt. Sie stellen – neben anderen Indikatoren – ein wichtiges Instrument zur Beobachtung und Steuerung von Kreditrisiken dar2.

3.87–3.100

Einstweilen frei.

IV. Insolvenzprognoseverfahren 3.101

Die Motivation für die Entwicklung von Insolvenzprognoseverfahren liegt sowohl im volkswirtschaftlichen Interesse (Sicherung der Stabilität des Bankensystems, Grundlage für Gläubigerschutzvorschriften) als auch im individuellen Interesse der Gläubiger, sich rechtzeitig vor Ausfällen zu schützen. Ziel solcher Verfahren ist es, Wahrscheinlichkeiten zu bestimmen, mit denen Unternehmen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (meist ein Jahr) insolvent werden. In der Wissenschaft hat sich bisher keines der zahlreichen Verfahren als überlegen bewährt. Einen Überblick gibt folgendes Schaubild3: 1 Aus dem gleichen Grund kritisch zum Wert von Financial Covenants für die Krisenfrüherkennung Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.213. 2 So auch Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.220. 3 Bemmann, Entwicklung und Validierung eines stochastischen Simulationsmodells für die Prognose von Unternehmensinsolvenzen, Diss. 2007, S. 6.

94 | Kuder/Unverdorben und Sinz

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.103 § 3

Insolvenzprognoseverfahren

informell

individuelle Analyse ohne Verfahrensunterstützung

formell

individuelle Analyse auf Basis von Leitfäden/ Checklisten

empirischstatische Verfahren

induktive Verfahren

Scoringmodelle

Expertensysteme

parametr. Verfahren

nichtparam. Verfahren

strukturelle Modelle

basierend auf Anleihespreads Optionspreisansatz

Diskriminanzanalyse

linear

quadratisch

Regressionsanalyse

linear

logistisch

Entscheidungsbaumverfahren

künstliche neuronale Netze

deterministische Simulationsmodelle stochastische Simulationsmodelle

Während die informellen Verfahren auf Intuition und persönlicher Erfahrung beruhen, basieren formelle Verfahren auf explizit festgeschriebenen Verfahrensregeln. Als Datenquelle bevorzugt der Geschäftsverkehr harte Daten, weil diese methoden- und personenunabhängig erhoben werden können; sie sind daher objektiv, eindeutig belegbar, mit geringen Kosten bzw. Erfassungsaufwand verbunden und kaum manipulierbar. Typische harte quantitative Daten sind Jahresabschlussdaten, das Kontoführungsverhalten und Finanzmarktdaten; als harte qualitative Daten, die einen signifikanten empirischen Zusammenhang mit der Ausfallwahrscheinlichkeit der Unternehmen aufweisen, sind vor allem die Rechtsform, Branchenzugehörigkeit und Sicherheiten zu nennen1. Dagegen unterliegen weiche Daten subjektiven Beurteilungen. Chancen werden häufig zu optimistisch gesehen und Risiken völlig unterschätzt; die Prognosewerte sind daher stärker manipulierbar. Aus dem Bereich der quantitativen Daten sind besonders Branchenwachstumsprognosen und Planungsdaten des Unternehmens von Bedeutung; weiche qualitative Daten erfassen Erfolgspotentiale wie die Qualität der Unternehmensführung und des Rechnungswesens sowie die Marktposition.

3.102

Die Schätzgüte eines Insolvenzprognoseverfahrens (Grad der Übereinstimmung der Insolvenzprognose mit den tatsächlich eingetretenen Insolvenzereignissen) hängt zum einen davon ab, ob sie sich im Wesentlichen auf Kennzahlenanalysen beschränkt und wie aktuell diese Daten sind, zum anderen von der (Branchen-)Erfahrung des Analysten, insbesondere wenn es um die Validierung weicher Daten geht. Das Maß zur Bestimmung der Trennschärfe wird häufig auf der Basis einer Lorenzkurve oder einer ROC-Kurve (Receiver Operating Characte-

3.103

1 So sind z.B. die Insolvenzquoten der Kapitalgesellschaften des Baugewerbes in Deutschland laut Statistik etwa fünfzehnmal höher als bei Einzelunternehmen des Dienstleistungsgewerbes; Quelle: Destatis, monatliche Insolvenzstatistiken. Zu Frühwarnindikatoren aus Konto- und Systemdaten: Adelmeyer/Littkemann in Becker/Berndt/Klein, Risikofrüherkennung im Kreditgeschäft, 2012, Rz. 562 ff.

Sinz | 95

§ 3 Rz. 3.103 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

ristic) berechnet1. Dennoch ist keines der heute verwendeten Insolvenzprognoseverfahren auch nur annähernd in der Lage, derart trennscharfe und gleichzeitig stets korrekte Prognosen zu erstellen2. Zu unterscheiden sind Fehler des Typs I (tatsächliche Ausfälle, die als Nicht-Ausfälle prognostiziert wurden) und Fehler des Typs II (tatsächliche Nicht-Ausfälle, die als Ausfälle prognostiziert wurden). Fehler des Typs I können erhebliche Ausfallkosten nach sich ziehen, während Fehler des Typs II sich i.d.R. auf den entgangenen Gewinn beschränken; zwischen beiden besteht ein Zielkonflikt. Die optimale („kostenminimale“) Fehlerkombination wird letztlich durch subjektive Zielvorgaben bestimmt.

3.104–3.110

Einstweilen frei.

V. Warnpflichten und Haftung von Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern, Rechtsanwälten? 1. Hinweispflichten 3.111

Hinweispflichten können sich entweder als Hauptpflicht aus dem ausdrücklichen Auftrag oder als Nebenpflicht aus anderslautenden Aufträgen ergeben. Bei einem ausdrücklich die Insolvenzprüfung betreffenden Mandat ist der Hinweis auf den (drohenden) Eintritt eines Insolvenzgrundes zentraler Leistungsgegenstand des Beratungsvertrages. Grundlage ist in solchen Fällen ein Werkvertrag, dessen Schlechterfüllung zum Schadensersatz verpflichtet (§§ 633, 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB)3. Probleme bereiten in der Praxis nur die Warnpflichten gelegentlich anderer dienst- oder werkvertraglicher Tätigkeiten, die nicht unmittelbar auf die Krisenprüfung gerichtet sind (Anlasshinweise). Sie können den Steuerberater treffen, der die Bilanz erstellt4, genauso wie den Wirtschaftsprüfer, der die erstellte Bilanz prüft, oder den Rechtsanwalt, der mit Gläubigern Vergleiche aushandeln soll. Die Haftung für die Verletzung von Hinweispflichten ist zu unterscheiden von der Haftung für insolvenzspezifische Folgen anderer Vertragsverletzungen. Der Hauptfall ist die Ausweisung eines überhöhten Eigenkapitals durch einen Buchhaltungsfehler. Unterlässt der Geschäftsführer deshalb eine Insolvenzprüfung, haftet der Berater für den durch den verzögerten Insolvenzantrag entstandenen Schaden5.

3.112

Für den Steuerberater hat der BGH 2013 gegen die teilweise in Literatur6 und von Instanzgerichten7 vertretene Auffassung entschieden, dass ein „steuerberatendes Dauermandat“ für eine GmbH „bei üblichem Zuschnitt“ keine Hinweispflicht bezüglich einer möglichen Insolvenzreife 1 Boehme/Straube in Becker/Berndt/Klein, Risikofrüherkennung im Kreditgeschäft, 2012, Rz. 473 ff. 2 Bemmann, Verbesserung der Vergleichbarkeit von Schätzgüteergebnissen von Insolvenzprognosestudien, in Dresden Discussion Paper Series in Economics 08/2005, S. 73 ff. 3 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1004 = ZIP 2012, 1353, BGH v. 6.2.2014 – IX ZR 53/13, GmbHR 2014, 375 = ZIP 2014, 583 („Rückläufer“ der Sache aus 2012); BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539; Pape, NZI 2019, 260, 263. 4 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römermann; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539. 5 BGH v. 18.2.1987 – IVa ZR 232/85, GmbHR 1987, 463; BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, ZIP 2017, 427. 6 U.a. Gräfe, DStR 2010, 618, 621; Mutschler, DStR 2012 539, 540; Schwarz, NZI 2012, 869, 870 f.; Wagner/Zabel, NZI 2008, 660, 663 f. 7 LG Saarbrücken v. 28.11.2011 – 9 O 261/10, ZInsO 2012, 330; LG Wuppertal v. 6.7.2011 – 3 O 359/10, NZI 2011, 877; OLG Schleswig v. 2.9.2011 – 17 U 14/11, NZG 2012, 307.

96 | Sinz und Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.113 § 3

begründe. Erst recht müsse er eine Prüfung des Insolvenzgrundes nicht selbst vornehmen1, auch wenn dazu ein „äußerer Verdacht“ bestehe2. Zwar habe der Steuerberater den Mandanten auf Fehlentscheidungen, die für ihn offen zutage träten, aufmerksam zu machen. Das gelte aber nur in den Grenzen des Mandats, das sich regelmäßig auf steuerrechtliche, nicht aber auf insolvenz- und gesellschaftsrechtliche Fragen erstrecke. Weise die Handelsbilanz eine Überschuldung aus, sei es Aufgabe des Geschäftsführers und nicht des Steuerberaters, hieraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen im Rahmen der Selbstprüfung, die er Kraft seiner Organstellung vornehmen müsse3. Im Vergleich zu seinen betrieblichen Kenntnissen habe der Steuerberater kein überlegenes Wissen, aus dem sich eine Hinweispflicht ergeben könne4. Diese Rechtsprechung hat der BGH 2017 teilweise aufgegeben. Nunmehr ist der mit der Erstellung eines Jahresabschlusses beauftragte Steuerberater verpflichtet, den Mandanten auf einen möglichen Insolvenzgrund und die anknüpfende Prüfungspflicht ihres Geschäftsführers hinzuweisen, sofern er annehmen müsse, dass die mögliche Insolvenzreife der Mandantin nicht bewusst sei5. Wird diese Pflicht verletzt, ist eine Haftung für einen Insolvenzverschleppungsschaden gegeben. Somit kommt es zur Beurteilung der Haftungsfrage darauf an, wann beim steuerberatenden Dauermandat eine Überschreitung des üblichen Zuschnitts vorliegt. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Dauermandat den Steuerberater auch jenseits der konkret bearbeiteten Angelegenheit verpflichten kann, ungefragt über steuer- und zivilrechtliche Gestaltungen zu beraten6. Zwar hatte dies in den vom BGH entschiedenen Fällen jeweils nur steuerrechtliche Auswirkungen7. Die Tätigkeit des Steuerberaters muss jedoch nicht auf die Steuerberatung beschränkt sein, sondern umfasst häufig die Buchführungshilfe bis zur Bilanzerstellung (§ 33 Satz 2 StBerG). So wie beim steuerrechtlichen Dauermandat eine Hinweispflicht aus den ungünstigen steuerlichen Auswirkungen einer Gestaltung folgen kann8, kann sie bei der Buchführungshilfe für die Insolvenzgründe aus der Fortführungsprognose folgen, von der die handelsrechtliche Bewertung abhängt (§ 252 Abs. 1 Nr. 2, § 264 Abs. 1 HGB), was wiederum Auswirkungen auf die Ertragsteuer hat (§ 5 Abs. 1 EStG, § 8 Abs. 1 KStG). Zwar betont der BGH9 zutreffend, dass die bilanzielle Überschuldung nicht identisch ist mit der insolvenz1 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543; so schon vorher OLG Celle v. 10.10.2012 – 4 U 36/12, GmbHR 2012, 1245; BGH v. 6.4.2011 – 3 U 190/10, DStR 2012, 539; OLG Köln v. 19.7.2012 – 8 U 55/11 (unveröffentlicht). 2 BGH v. 6.2.2014 – IX ZR 53/13, GmbHR 2014, 375 = ZIP 2014, 583; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/ 12, GmbHR 2013, 543 = ZIP 2013, 829. 3 U.a. BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967 = ZIP 2012, 1557. 4 S. zum Ganzen die Erläuterungen der Senatsmitglieder Fischer, DB 2013, 2010, 2012 f., Kayser, ZIP 2014, 597, 601 ff. und Gehrlein, WM 2014, 226, 231. 5 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römermann; OLG Düsseldorf v. 20.12.2018 – 10 U 70/18, NZI 2018, 757. 6 BGH v. 23.2.2012 – IX ZR 92/08, GmbHR 2012, 643; BGH v. 21.7.2005 – IX ZR 6/02, DStR 2006, 160; BGH v. 19.7.2001 – IX ZR 246/00, ZIP 2001, 1819; BGH v. 11.5.1995 – IX ZR 140/94, NJW 1995, 2108; BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312; OLG Koblenz v. 15.4.2014 – 3 U 633/13, juris; OLG Köln v. 16.1.2014 – 8 U 7/13, DStR 2014, 1355; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539. 7 BGH v. 23.2.2012 – IX ZR 92/08, GmbHR 2012, 643; BGH v. 11.5.1995 – IX ZR 140/94, NJW 1995, 2108; ebenso bei BGH v. 20.11.1997 – IX ZR 62/97, NJW 1998, 1221 und BGH v. 20.10.2005 – IX ZR 127/04, ZIP 2006, 1538. 8 BGH v. 23.2.2012 – IX ZR 92/08, GmbHR 2012, 643; BGH v. 20.10.2005 – IX ZR 127/04, ZIP 2006, 1538; BGH v. 20.11.1997 – IX ZR 62/97, NJW 1998, 1221; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539. 9 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543 Rz. 16, 18 = ZIP 2013, 829.

Spliedt | 97

3.113

§ 3 Rz. 3.113 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

rechtlichen. Das Ausmaß der bilanziellen Überschuldung hängt aber wiederum davon ab, ob eine die Fortführung hindernde und weitere Bewertungskorrekturen erfordernde insolvenzrechtliche Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Somit sollte auch nach den bei Rz. 3.112 erwähnten BGH-Entscheidungen gelten: Beschränkt sich der Auftrag an den Steuerberater auf rein steuerrechtliche Vorgänge bzw. bei der Buchführungshilfe darauf, die vom Mandanten übermittelten Daten nur technisch zu verarbeiten und zu einer Bilanz zu aggregieren, trifft ihn nach Auffassung des BGH keine insolvenzspezifische Informationspflicht. Lautet sein Auftrag hingegen, eine Bilanz zu erstellen, die i.S. von § 264 Abs. 2 HGB ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt, muss der Steuerberater im Rahmen der Fortführungsprognose sämtliche gewonnene Erkenntnisse über eine Insolvenzgefahr mitteilen1. Dies kann ebenfalls für einen Steuerberater gelten, der mit der Lohnbuchhaltung des Unternehmens beauftragt ist und die Gesellschaft über einen wesentlichen Zeitraum keine Sozialversicherungsbeiträge oder Steuern mehr entrichten kann2. Dafür genügt der Hinweis auf einen näheren Untersuchungsbedarf, wenn ein Insolvenzgrund nicht evident ist. Der Steuerberater überschreitet damit keineswegs die Grenze zur unerlaubten Rechtsberatung3. Für sie hat er die Annexbefugnis des § 5 Abs. 1 RDG. In diesem Rahmen ist der Steuerberater sogar zur wirtschaftsberatenden und gutachterlichen Tätigkeit befugt (§ 57 Abs. 3 Nr. 3 StBerG). Die Sanierungs- und Insolvenzberatung zählt der BGH zum Berufsbild des Steuerberaters und des Wirtschaftsprüfers4. Die Erstellung der Fortführungsprognose selbst obliegt nicht dem Steuerberater, sofern kein gesonderter Auftrag seitens der Gesellschaft vorliegt5. Er hat aber auf Zweifel an einer Fortführungsfähigkeit der Gesellschaft hinzuweisen, wenn sich Anhaltspunkte im Rahmen der Auftragserledigung ergeben.

3.114

Eine Hinweispflicht besteht erst recht, wenn der Steuerberater den Eindruck erweckt, sich mit den Insolvenzgründen auseinandergesetzt zu haben6. Beispielsweise macht die Empfehlung eines Rangrücktritts für eine Forderung nur Sinn, wenn dadurch ein Insolvenzantrag vermieden wird. Wer sich konkludent zum Insolvenzgrund äußert, muss dies wie bei einer ausdrücklichen Frage vollständig und richtig tun7. Insbesondere beinhaltet auch die Erklärung des Steuerberaters, eine im Jahresabschluss ausgewiesene Überschuldung sei „nur“ bilanzieller Natur, konkludent die Aussage, es sei keine insolvenzrechtliche Überschuldung gegeben. Trifft das nicht zu, haftet der Berater8. Es handelt sich bei solchen Erklärungen keineswegs nur um eine unverbindliche Gefälligkeit. Wegen der Bedeutung9 solcher Erklärungen muss der Mandant darauf vertrauen dürfen10. 1 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312; Zugehör, WM 2013, 1965 ff.; Smid, ZInsO 2014, 1127, 1141; Pape, NZI 2019, 260, 262. 2 So Pape, NZI 2019, 260, 264. 3 Baumert, ZIP 2013, 1851; Kayser, ZIP 2014, 597. 4 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543 Rz. 20 = ZIP 2013, 829. 5 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römerman; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539, 541; Pape, NZI 2019, 260, 262. 6 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römermann. 7 Dazu BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543 Rz. 23 = ZIP 2013, 829. Der BGH hatte aus der Empfehlung des Rangrücktritts nur deshalb keine Haftung hergeleitet, weil der Kläger sich nicht auf einen dadurch verursachten Irrtum berufen hatte. 8 BGH v. 6.2.2014 – IX ZR 53/13, GmbHR 2014, 375 = ZIP 2014, 583; BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 13 = ZIP 2013, 1332. 9 Zu dieser Haftungsvoraussetzung: BGH v. 22.6.1956 – I ZR 198/54, BGHZ 21, 102. 10 BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 13 = ZIP 2013, 1332.

98 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.117 § 3

Maßgebend für Hinweispflichten ist stets das „gelebte“ Mandat. Bei mittelständischen Unternehmen ist der Steuerberater häufig der wirtschaftliche „Hausarzt“ des Unternehmens. Seine Tätigkeit geht nicht selten weit über die Buchhaltung und die Steuerberatung hinaus, indem er die Initiative zu betrieblichen Umstrukturierungen oder zu Vermögens- oder Nachfolgeplanungen ergreift. Hat sich der Steuerberater in der Vergangenheit als jemand geriert, der die Vermögensfürsorge für den Unternehmer und das Unternehmen betreibt, kann der Unternehmer auch erwarten, dass der Berater ihn auf einen Prüfungsbedarf für die Insolvenzgründe hinweist, wenn es dem Berater bekannte Anhaltspunkte für eine Krise gibt. Die Rolle des unternehmensinternen „Hausarztes“ geht weit über den üblichen Zuschnitt eines rein steuerberatenden Mandats hinaus, bei dem der BGH eine Information nicht für geboten hält.

3.115

Was für die Steuerberater gilt, gilt für den Abschlussprüfer umso mehr, hat er doch gemäß § 322 Abs. 2 HGB im Bestätigungsvermerk sogar auf die Risiken für den Fortbestand des Unternehmens einzugehen1. Eine solche Gefährdung kann schon erheblich vor dem Eintritt der materiellen Insolvenz vorliegen. Aber nicht erst der Inhalt des Bestätigungsvermerks gibt Anlass für Hinweise auf eine Insolvenzgefahr. Originärer Gegenstand schon der vorangegangenen Prüfung ist, ob die gesetzlichen Bewertungsvorschriften eingehalten wurden (§ 317 Abs. 1 HGB). Dazu gehören insbesondere die Fortführungsprognose bei der Bewertung im Rahmen von § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB und die Darstellung aller wesentlichen Chancen und Risiken im Lagebericht (§ 289 Abs. 1, § 317 Abs. 2 HGB). Zwar ist über die Erteilung des Bestätigungsvermerks erst am Ende der Prüfung zu entscheiden, eine Redepflicht besteht aber schon vorher, da es wegen des Handlungsbedarfs keinen Grund gibt, den Redezeitpunkt hinauszuschieben. Darüber hinaus haftet der Abschlussprüfer nach § 826 BGB im Falle der bewussten unrichtigen Testierung über die Lageberichte von Geschäftsjahren. Dabei genügt die nachlässige Erledigung, bspw. durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein2. Eine unzureichende Prüfung führt jedoch nur zu einer Schadensersatzpflicht, wenn eine entsprechende Kausalität gegeben ist. Diese fehlt beispielsweise, wenn sicher festgestellt werden kann, dass die Gesellschaft im Fall eines Nachfragens des Prüfers alle nachgefragten Unterlagen durch Fälschung erstellt hätte3.

3.116

Im Unterschied zu den Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern werden einem Rechtsanwalt die tatsächlichen Verhältnisse für den Eintritt der materiellen Insolvenz anlässlich anderer Tätigkeiten regelmäßig nicht bekannt sein. Eine Hinweis- oder Warnpflicht des Rechtsanwalts besteht außerhalb des ihm erteilten Mandats erst bei Kenntnis der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten, aus denen die dem Mandanten drohende Gefahr folgt, oder wenn diese offenkundig sind4. Erfährt er, dass der Mandant eine Verbindlichkeit nur zum Vorwand bestreitet, sie in Wirklichkeit aber gar nicht zahlen kann, muss der Anwalt über die insolvenzrechtliche Bedeutung dieses Unvermögens informieren; denn ihm obliegt die umfangreiche Wahrnehmung der rechtlichen Interessen, zu denen auch die Vermeidung der Insolvenzverschleppung gehört, wenn diese Gefahr für den rechtskundigen Berater naheliegt. Ein solcher Anlasshinweis ist unabhängig davon zu erteilen, ob der Anwalt weiß, welchen Anteil diese Verbindlichkeit an den fälligen Gesamtverbindlichkeiten hat. Im Übrigen gilt auch hier wie

3.117

1 Vgl. IDW PS 400, Rz. 77 ff. S. BGH v. 12.3.2020 – VII ZR 236/19, ZIP 2020, 1024. 2 BGH v. 12.3.2020 – VII ZR 236/19, ZIP 2020, 1024; OLG München v. 9.12.2921 – 8 U 6063/21, AG 2022, 368; Fischer/Zastrow, GWR 2020, 351, 353 f.; Nietsch, WM 2021, 158, 164 ff. Zur Schadenskausalität: Buck-Heeb, AG 2022, 337. 3 OLG Stuttgart v. 22.2.2022 – 12 U 171/21, BeckRS 2022, 6326 = juris. 4 BGH v. 9.1.2020 – IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139; BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 = ZIP 2019, 521.

Spliedt | 99

§ 3 Rz. 3.117 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

beim Steuerberater, dass sich aus einem Dauermandat Hinweispflichten ergeben können, wenn die Insolvenzgefahr eine Berührung zum Beratungsgegenstand hat. Das wird bei einem auf das öffentliche Recht oder das Urheberrecht beschränkten Dauermandat seltener der Fall sein als bei der laufenden unternehmensrechtlichen Betreuung. Ausgeschlossen ist eine entsprechende Obliegenheit aber auch bei den anderen Spezialmandaten nicht, bspw. wenn dem Anwalt bekannt wird, dass wegen fehlender öffentlich-rechtlicher Genehmigungen oder Lizenzen die Unternehmensfortführung gefährdet ist. Schließlich ist der Rechtsanwalt grundsätzlich zur allgemeinen, umfassenden und möglichst erschöpfenden Belehrung des Auftraggebers verpflichtet1. Sofern es Grund zu der Annahme gibt, dass sich der Mandant den Gefahren nicht bewusst ist, obliegt dem Rechtsanwalt eine Warn- und Hinweispflicht – selbst in gegenständlich beschränkten Mandaten.

3.118

Erst recht geschuldet sind die Anlasshinweise bei einer Sanierungsberatung2, unabhängig davon, welcher Profession der Berater angehört. Sie ist nur so lange erlaubt, solange außerhalb des Insolvenzverfahrens Sanierungsmaßnahmen ergriffen werden dürfen. Das ist nicht mehr der Fall, wenn die Insolvenzantragsfrist abgelaufen ist. Allerdings muss auch hier das Insolvenzereignis in einem sachlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit stehen. Das ist sowohl wegen der Zulässigkeit rechtlicher Beratung i.S. von § 5 RDG erforderlich als auch und vor allem wegen der berechtigten Erwartung des Auftraggebers. Der allein mit der leistungswirtschaftlichen Effizienzsteigerung beauftragte Berater schuldet keinen Hinweis. Das kann sich ändern, je mehr er in die finanzwirtschaftliche Beratung „rutscht“. Je näher der Berater auftragsgemäß an den Informationen ist, die auf den Eintritt der Insolvenz deuten, umso stärker ist seine Hinweispflicht. Ist er beispielsweise beauftragt, Erlassvergleiche oder Moratorien mit den Gläubigern zu verhandeln, muss er darüber informieren, dass diese Verhandlungen nur innerhalb der drei Wochen des § 15a Abs. 1 InsO zulässig sind und diese Frist auch nicht durch eine wie auch immer geartete Fortführungsprognose unterlaufen werden darf3 (s. Rz. 38.2).

3.119

Eine Aufklärungspflicht besteht nur bei einem entsprechenden Belehrungsbedarf. Wer davon ausgehen darf, dass der Mandant seine Obliegenheiten kennt, muss ihn nicht informieren. Der Hinweispflichtige muss i.d.R. von der Belehrungsbedürftigkeit des Mandanten ausgehen4, und zwar auch dann, wenn der Mandant durch Dritte wie bspw. einen Genossenschaftsverband (allgemein) betreut wird5. Ist der Berater aus tatsächlichen Gründen der Auffassung, dass der Mandant die erforderlichen Kenntnisse hat, trifft ihn die Beweislast6. Maßgebend für den Belehrungsbedarf des Mandanten ist nicht dessen Ausbildungsniveau, sondern dessen konkrete Befassung mit dem Insolvenzgrund. Belehrungsbedürftig ist deshalb auch ein Rechtsanwalt, der auf die Aussagen des Beraters vertraut7, wie umgekehrt der Belehrungsbedarf fehlt, wenn der Mandant einen Dritten mit der insolvenzrechtlichen Beratung beauftragt hat. Dann greift eine Hinweispflicht nur ein, wenn der Berater positiv weiß, dass der 1 BGH v. 9.1.2020 – IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139; BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 = ZIP 2019, 521. 2 In der Regel ist die Sanierungsberatung ein Dienstvertrag mit Geschäftsbesorgungscharakter, so dass die Haftung wegen Schlechterfüllung aus §§ 611, 675 Abs. 1, § 280 Abs. 1 BGB folgt, Kayser, ZIP 2014, 597, 598 f. LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 3 BGH v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33. 4 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 = ZIP 2012, 1353; BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427; OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539. 5 BGH v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33. 6 BGH v. 26.10.2000 – IX ZR 289/99, ZIP 2001, 33. 7 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 = ZIP 2012, 1353.

100 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.121 § 3

Mandant ein Risiko nicht erkannt hat1 Sind hingegen mehrere Dienstleister im Rahmen ihrer Aufgaben informationspflichtig, haften sie als Gesamtschuldner2. Ein Ausgleich findet zwischen den Beratern statt. Der eine Berater darf dem Mandanten das Mitverschulden des anderen nicht entgegenhalten. Anders ist es bei abgestuften Pflichtenkreisen, wenn der erste Berater dem zweiten die Informationen liefert, auf denen der Zweitberater aufbauen soll. Die Tätigkeit des ersten muss dann aber der Mitwirkungspflicht des Mandanten ähneln, was bspw. auch der Fall ist, wenn er die Kontrollpflicht übernimmt, die eigentlich der Geschäftsführer3 zu erledigen hat4, wie die Plausibilitätsprüfung eines Gutachtens über Insolvenzgründe. Der Adressat des Hinweises muss ein rangangemessener Repräsentant in der Hierarchie der beratenen Gesellschaft sein5. Nur ausnahmsweise reicht es aus, dass die Informationen einem anderen Dienstleister oder einem unterhalb der Geschäftsführungsebene tätigen Mitarbeiter erteilt werden. Der Berater muss aufgrund der besonderen Umstände davon ausgehen dürfen, dass die Einschaltung der Mittelsperson auch die Entgegennahme solch grundlegender Hinweise umfasst und überdies zu erwarten ist, dass sie an die handlungspflichtigen Adressaten weitergeleitet werden6. In der Praxis hat das nicht nur Bedeutung, wenn der Kontakt auf den Leiter der Buchhaltung beschränkt ist, sondern insbesondere auch dann, wenn allein mit einem von mehreren Geschäftsführern gesprochen wird, obwohl alle den insolvenzspezifischen Pflichten und Haftungen unterworfen sind. Der Hinweispflicht wird genügt, sofern der Berater nach Feststellung der zunächst bilanziellen Überschuldung den Mandanten auf die gesetzliche Insolvenzantragspflicht hinweist7. Dem Berater ist zu raten, seine Hinweise und Warnungen ordnungsgemäß zu dokumentieren8.

3.120

2. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter Die Verletzung von Beratungs- und Hinweispflichten führt außer bei der GmbH als der Auftraggeberin vor allem bei deren Geschäftsführern wegen einer Insolvenzverschleppung bzw. eines Verstoßes gegen § 64 GmbHG a.F.9 bzw. § 15b InsO n.F. zu Schäden. Ebenso können Gesellschafter Investitionen oder Gläubiger Forderungen verlieren. Eine vertragliche Haftung besteht in der Regel nur gegenüber dem Vertragspartner. Einen eigenen Anspruch haben Dritte nur dann, wenn sie in den Schutzbereich des Vertrages einbezogen werden. Für den Berater kann das wegen einer Vervielfachung der Haftungsgläubiger und der Haftungshöhe zu einem unkalkulierbaren Risiko führen. Deshalb ist die drittschützende Wirkung des Vertrages nur unter engen Voraussetzungen anzunehmen. Entwickelt wurde der Schutz für Konstellationen, in denen der Vertragsgläubiger für das Wohl und Wehe des Dritten Sorge trägt. Von diesem personenrechtlichen Einschlag einer Fürsorge hat sich die Rechtsprechung zugunsten einer objektivierenden Betrachtung aus der Sicht verständiger Vertragspartner gelöst. 1 BGH v. 21.7.2005 – IX ZR 6/02, WM 2005, 1904; BGH v. 19.7.2001 – IX ZR 246/00, ZIP 2001, 1819; BGH v. 4.5.2000 – IX ZR 142/99, WM 2000, 1591. 2 BGH v. 19.7.2001 – IX ZR 246/00, ZIP 2001, 1819; BGH v. 20.1.1994 – IX ZR 46/93, NJW 1994, 1211; Smid, ZInsO 2014, 1127, 1139. 3 Dazu BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967 = ZIP 2012, 1557. 4 Vgl. BGH v. 20.1.1994 – IX ZR 46/93, NJW 1994, 1211; BGH v. 3.5.2001 – IX ZR 46/00, NJW 2001, 2169 = ZIP 2001, 1099; BGH v. 29.11.2001 – IX ZR 278/00, NJW 2002, 1117. 5 BGH v. 23.2.2012 – IX ZR 92/08, GmbHR 2012, 643 Rz. 12 = ZIP 2012, 777. 6 BGH v. 23.2.2012 – IX ZR 92/08, GmbHR 2012, 643 Rz. 12 = ZIP 2012, 777. 7 OLG Schleswig v. 29.11.2019 – 17 U 80/19, NZI 2020, 539. 8 Pape, NZI 2019, 260, 264. 9 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256).

Spliedt | 101

3.121

§ 3 Rz. 3.121 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Danach kommt eine Haftung gegenüber Dritten in Betracht, wenn sie bestimmungsgemäß mit dem Leistungsgegenstand in Kontakt geraten (Leistungsnähe), einen Schutzbedarf haben und ein berechtigtes Interesse des Vertragsgläubigers an deren Schutz angenommen werden kann. All das muss für den Vertragsschuldner zudem erkennbar und kalkulierbar gewesen sein1. Maßgebend ist eine verständige Würdigung des Parteiverhaltens, so dass es letztlich eine Frage der Auslegung im Rahmen der §§ 133, 157 BGB ist, ob der Vertrag Schutzwirkung für Dritte entfaltet2.

3.122

Die Haftung besonders sachkundiger Personen wird mit dem Schlagwort der „Expertenhaftung“ versehen. Sie kann zulasten derjenigen eingreifen, die wegen ihrer besonderen Fachkenntnis Erklärungen abgeben, damit Dritte darauf Vermögensdispositionen stützen3. Das gilt üblicherweise für Experten, deren Fachkenntnis durch eine besondere Zulassung bestätigt wurde, so insbesondere für einen Fachanwalt für Insolvenzrecht und Sanierung4. Allgemeine Rechtskenntnisse sind nicht ausreichend. Notwendig ist die Zulassung jedoch nicht, so dass auch Unternehmensberater einer Expertenhaftung ausgesetzt sein können5. Die Einzelheiten hängen jedoch immer von der Auftragsformulierung ab, nicht von der Funktions- oder Berufsbezeichnung.

3.123

Bei einem direkt die Insolvenzprüfung betreffenden Auftrag kann der Berater je nach den Umständen im Einzelfall wissen, dass davon Kreditentscheidungen oder Investitionen abhängen6. Hingegen weiß der Berater bei originär anderen Aufgaben betreffenden Tätigkeiten, aus denen sich nur die Pflicht zu Anlasshinweisen ergibt, nicht, wer von seiner Unterlassung konkret betroffen ist. Dann versagt das für den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zentrale Auslegungskriterium der erkennbaren Zweckbestimmung des Tätigkeitsergebnisses für Entscheidungen von Dritten hier. Anders sieht es nur für die Organe der Gesellschaft aus, die schon qua lege eine Entscheidung treffen müssen, wenn eine Insolvenzgefahr besteht7. Die Einbeziehung weiterer Personen in den Schutzbereich des Vertrages, aus dem sich nur Pflichten zu Anlasshinweisen ergeben, weil der originäre Beratungsgegenstand nicht die Insolvenzgefahr ist, kommt deshalb nur in Betracht, wenn es dafür im Beratungsverhältnis weitere Anhaltspunkte gibt8. Insoweit stellt die etwaig fehlende Hinweispflicht eine Nebenpflichtverletzung dar. Der Rat beschränkt sich darauf, „die Insolvenzreife der Gesellschaft durch einen 1 BGH v. 9.7.2020 – IX ZR 289/19, NJW 2020, 3169; BGH v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, GmbHR 2012, 97 (grundlegend); BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972 Rz. 3 ff.; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543 Rz. 25 f.; BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 13 ff.; BGH v. 7.5.2009 – III ZR 277/08, ZIP 2009, 1166; OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, BeckRS 2021, 22718; OLG Hamm v. 18.3.2021 – 28 U 279/19, BeckRS 2021, 11809 = juris; LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 2 BGH v. 9.7.2020 – IX ZR 289/19, NJW 2020, 3169; BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972 Rz. 9, 14; BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 19. 3 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972; OLG Hamm v. 18.3.2021 – 28 U 279/19, BeckRS 2021, 11809. 4 Dies gilt hingegen nicht für einen Fachanwalt für Transport- und Speditionsrecht, vgl. OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, ZIP 2022, 169 = GmbHR 2021, 1214. 5 BGH v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, ZIP 2004, 1814. 6 OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, ZIP 2022, 169 = GmbHR 2021, 1214; Froehner, GWR 2021, 390. 7 LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 8 Z.B. Erörterung von Sanierungsmöglichkeiten, BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 = ZIP 2012, 1353; OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, BeckRS 2021, 22718; Froehner, GWR 2021, 390.

102 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.124 § 3

sachkundigen Berater prüfen zu lassen und mit diesem die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu besprechen“1. Zur Einbeziehung Dritter in den zwischen einer GmbH und ihrem Steuerberater bestehenden Vertrag hat sich der BGH grundlegend in 2011 geäußert2 und in späteren Entscheidungen einige Ergänzungen vorgenommen3. Danach ist der Geschäftsführer in den Schutzbereich des Vertrages, der ausdrücklich die Prüfung eines Insolvenzgrundes4 bezweckt, genauso einbezogen wie der Gesellschafter; denn sowohl das Haftungsrisiko des Geschäftsführers als auch die Einbeziehung der Gesellschafter in eine Sanierung sind typische Begleiterscheinungen einer Beratung über die Einleitung bzw. Vermeidung des Insolvenzverfahrens5. Dabei bedarf es nicht deckungsgleicher Interessen zwischen Geschäftsführer und Gesellschaft. Regelmäßig ist nämlich der Geschäftsführer primär daran interessiert, persönliche Risiken im Zusammenhang mit der möglichen Insolvenzreife und insbesondere eine Haftung nach § 64 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F. auszuschließen. Der Gesellschaft kommt es hingegen grundsätzlich auf die Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten sowie auf ihr weiteres Schicksal an6. Eine ordnungsgemäße Abwicklung der Insolvenzschuldnerin steht jedoch gleichermaßen im Interesse beider, sodass die Zulässigkeit und Rechtsfolgen beabsichtigter Zahlungen ein wesentlicher Punkt von Beratungshandlungen eines Rechtsanwalts oftmals sind und dies als Einbeziehungsinteresse in einen Vertrag zugunsten Dritter genügt. Dadurch wird der Haftungsumfang zwar erheblich erweitert. So kann der Geschäftsführer einen Ausgleich für den Masseschaden i.S. von § 64 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F.7 verlangen, obwohl kein Schaden der Gesellschaft eintritt8 (s. Rz. 38.15 ff.). Gegenüber dem Gesellschafter kann eine Haftung beispielsweise bei einer sinnlosen Kapitalerhöhung eingreifen, obwohl sie bei der Gesellschaft als der eigentlichen Mandantin zu einer Vermögensmehrung führt. Ebenso kann ein Gesellschafter geltend machen, dass er die Beteiligung an der später insolventen GmbH nicht erworben hätte, wenn der Abschlussprüfer keine falsche Bilanz testiert hätte, obwohl er wusste, dass das Testat für die Entscheidung eines konkreten Investors ausschlaggebend ist9. Auch hier tritt der Schaden nur bei dem Gesellschafter, nicht aber bei der GmbH ein, deren Bilanz geprüft wurde. Das vergrößerte Schadensrisiko ist jedoch Haftungsfolge, nicht Haftungsvoraussetzung. Es spielt nur insofern eine Rolle, als es um die Frage geht, ob sich der Vertragsschuldner nach Treu und Glauben darauf einlassen muss, steht aber der Haftung nicht a priori entgegen. Maßgebend bleibt das Kriterium der Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit. Deshalb wird die Einbeziehung aller Geschäftspartner oder künftigen Investoren10 der GmbH in den geschützten Personenkreis abgelehnt. Das würde die Haftung auf einen unvorhersehbaren Umfang erweitern. Ebenso wenig können sich die Neugläubiger (zum Begriff s. Rz. 38.8) gegenüber dem Berater darauf berufen, 1 OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, ZIP 2022, 169 = GmbHR 2021, 1214. 2 BGH v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, GmbHR 2012, 97 = ZIP 2011, 2475. 3 S. die Erläuterungen der Mitglieder des 9. Zivilsenats: Fischer, DB 2012, 1489 ff. und DB 2013, 2070, 2073, Gehrlein, DStR 2014, 226, 228 ff. und NZG 2013, 961, 963 ff., Kayser, ZIP 2014, 599 ff. 4 Ähnlich für die anwaltliche Insolvenzberatung, OLG Köln v. 12.8.2021 – 18 U 197/20, ZIP 2022, 169 = GmbHR 2021, 1214. 5 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 25, 30 = ZIP 2012, 1353. 6 OLG Hamm v. 18.3.2021 – 28 U 279/19, BeckRS 2021, 11809 = GmbHR 2021, 928. 7 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 8 Ebenso kann es sich mit der Geschäftsführerhaftung gemäß §§ 69, 34 AO verhalten, die nicht mit einem Schaden der Gesellschaft korrelieren muss, BGH v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, GmbHR 2012, 97 = ZIP 2011, 2475. 9 BGH v. 2.4.1998 – III ZR 245/96, GmbHR 1998, 600 = ZIP 1998, 826. 10 Ablehnend: BGH v. 6.4.2006 – III ZR 256/04, ZIP 2006, 954; BGH v. 15.12.2005 – III ZR 424/04, ZIP 2006, 854.

Spliedt | 103

3.124

§ 3 Rz. 3.124 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

dass bei pflichtgemäßem Verhalten des Beraters ein Insolvenzantrag gestellt und ein Forderungsausfall vermieden worden wäre1. Allerdings können diese Gläubiger ihren Schaden mittelbar beim Berater liquidieren, wenn sie sich einen gegen ihn gerichteten Regressanspruch des Geschäftsführers abtreten oder im Wege der Zwangsvollstreckung überweisen lassen2.

3.125

Soll hingegen ein im Vorhinein – nicht unbedingt auch schon namentlich bekannter3 – konkretisierbarer Kreis von Geschäftspartnern das Leistungsergebnis bestimmungsgemäß als vertrauensbildende Maßnahme erhalten, haftet der Berater diesen Personen gegenüber4. Schließlich soll die vom Berater zu erbringende Leistung in einem solchen Fall nach einem objektiven Empfängerhorizont auch Dritten einen Schutz vor möglichen Vermögensschäden vermitteln5. Das ist bspw. der Fall, wenn er mit der Prüfung des Insolvenzgrundes beauftragt wird und das Gutachten in Bankenverhandlungen verwendet werden soll, und er weiß, dass seine Stellungnahme gerade deshalb erforderlich ist, weil die Bank den Aussagen allein des Geschäftsführers nicht vertraut6. Wer eine Entscheidungsgrundlage für Dritte liefert, ist auch ihnen gegenüber im Obligo7. Die Unbestimmtheit des Personenkreises tritt als Kriterium in den Hintergrund, wenn sich das Haftungsvolumen durch eine Mehrzahl von Gläubigern im Vergleich zu einem von vornherein bestimmten Personenkreis nicht erhöht. Wird durch die Stellungnahme eines Sachverständigen eine vorher noch nicht bekannte Anzahl von Kapitalanlegern für eine Projektfinanzierung geworben, die auch eine Bank hätte übernehmen können, greift die Haftung ihnen gegenüber genauso ein wie sie gegenüber der Bank eingegriffen hätte8; denn die Kalkulierbarkeit des Haftungsrisikos ist gegeben, wenn eine bestimmte Kapitalsumme in Rede steht, so dass dem Berater eine Haftung zugemutet werden kann9. Gleiches gilt für die Verwendung einer Stellungnahme gegenüber Interessenten für eine Beteiligung an der GmbH, wenn der Berater weiß, dass Dritte auf die Richtigkeit vertrauen10. Die Gegenläufigkeit der Interessen hindert die Annahme eines Drittschutzes nicht11. Geht es nur um die Argumentationsfunktion eines Gutachtens, die dem Mandanten eine Durchsetzung seiner Interessen erleichtern soll, werden die Interessen allein des Mandanten, nicht des Dritten wahrgenommen12. Zur Haftung des Erstellers der Bescheinigung nach § 270b Abs. 1 InsO s. Rz. 35.120 ff.

3.126

Eine der häufigsten Verletzungen der Hinweispflichten tritt im Zusammenhang mit der Abschlussprüfung auf, weil die Fortführungswerte nur angesetzt werden dürfen, wenn keine In1 BGH v. 18.2.1987 – IVa ZR 232/85, GmbHR 1987, 463; OLG Köln v. 19.7.2012 – 8 U 55/11 (n.v.). Anders verhält es sich mit der deliktischen Haftung, wenn der Berater an einer vorsätzlichen Insolvenzverschleppung mitwirkt (§ 823 Abs. 2, § 830 BGB i.V.m. § 15a Abs. 1 InsO). 2 Der Regressanspruch rührt daher, dass der Geschäftsführer den Neugläubigern gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO auf Schadensersatz haftet (Rz. 38.8 ff.). 3 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972; BGH v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, ZIP 2004, 1814; BGH v. 13.11.1997 – X ZR 144/94, ZIP 1998, 556. 4 Wie der Geschäftsführung vgl. LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 5 S. zur erforderlichen Leistungsnähe BGH v. 9.7.2020 – IX ZR 289/19, NJW 2020, 3169 = ZIP 2020, 1720. 6 Vgl. BGH v. 19.12.1996 – IX ZR 327/95, ZIP 1997, 419. 7 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, ZIP 2012, 1353 Rz. 18 = GmbHR 2012, 1009. 8 BGH v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, ZIP 2004, 1814. 9 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972. 10 BGH v. 6.4.2006 – III ZR 256/04, ZIP 2006, 954; BGH v. 2.4.1996 – III ZR 245/96, ZIP 1998, 826 = GmbHR 1998, 600. 11 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972. Zu den drittschützenden Wirkungen und dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen einer von einem Rechtsanwalt erarbeiteten „Third Party Legal Opinion“: Ganter, NJW 2014, 1771, 1772 ff. 12 BGH v. 9.7.2020 – IX ZR 289/19, NJW 2020, 3169 = ZIP 2020, 1720.

104 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.128 § 3

solvenz droht. § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB nennt als einzige ersatzberechtigte Dritte nur verbundene Unternehmen. Einer Haftung gegenüber anderen Dritten steht das jedoch nicht entgegen. Sie beruht auf einer im Wege der Auslegung gewonnenen Vertragserweiterung, die allerdings wegen der die beiderseitigen Erwartungen prägenden gesetzlichen Haftungsbegrenzung nur mit Zurückhaltung angenommen werden darf1. Da der Dritte in den Schutzbereich des Vertrages „hineingeholt“ wird, an dessen Abschluss er nicht beteiligt ist, muss er sich auch gefallen lassen, dass im Vertrag die Dritthaftung ausgeschlossen oder begrenzt wird2. Ein Ausschluss durch AGB wird freilich an § 307 Abs. 1 BGB scheitern; denn die Grundlage der Dritthaftung ist letztlich die Auslegung des Vertrages gemäß §§ 133, 157 BGB. Was sich aber nach Treu und Glauben als Haftung ergibt, kann nicht zugleich via AGB ohne Verstoß gegen Treu und Glauben ausgeschlossen werden3. Das gilt jedenfalls für den Schutzbereich in persönlicher Hinsicht. Der Höhe nach ist eine Haftungsbegrenzung auch in AGB möglich, wenn dies nicht treuwidrig zu einem Leerlaufen der Dritthaftung führt. Gesetzliche Haftungsbeschränkungen wie die in § 323 Abs. 2 HGB für den Abschlussprüfer gelten auch gegenüber dem Dritten, weil gegenüber ihm nicht umfangreicher gehaftet werden kann als gegenüber der zu prüfenden Gesellschaft4. Auch sind individualvertragliche Haftungsbegrenzungen zulässig, solange ein Dritter nicht im Vertrauen auf die Einbeziehung in den Schutzbereich getäuscht wird.

3.127

3. Schaden Der Schaden der GmbH infolge unterbliebener oder falscher Hinweise besteht meist – zu Ausnahmen s. sogleich bei der Kausalität – in der Vermögensminderung, die durch einen früher gestellten Insolvenzantrag vermieden worden wäre. Zwar hat eine wegen Überschuldung antragspflichtige GmbH kein (positives) Reinvermögen mehr, so dass ein „Überschuldungsvertiefungsschaden“5 wirtschaftlich allein zu Lasten der Gläubiger geht. Der Schaden ist jedoch normativ zu bemessen6. Eine überschuldete GmbH ist genauso wenig wie eine überschuldete natürliche Person ein ungeschützter „Outlaw“. Da jeder Schuldner seine Verbindlichkeiten erfüllen muss, hat er trotz Überschuldung ein rechtliches Interesse an einer möglichst hohen Quote, zumal damit die Aussichten auf einen Insolvenzplan steigen. Der gemäß § 249 BGB zu ermittelnde Schaden entspricht der Differenz zwischen dem Ergebnis eines hypothetisch früheren und dem tatsächlich späteren Insolvenzverfahren7. Es reicht nicht etwa aus, wie bei der Vorbelastungshaftung8 das bilanzielle Eigenkapital an zwei Stichtagen gegenüberzustellen. Maßgebend sind nicht die Buchwerte, sondern die im Insolvenzverfahren realisierbaren Werte. Ein solcher Vergleich ist ähnlich wie die Ermittlung des Quotenverringerungsschadens, den die Insolvenzgläubiger durch eine Insolvenzverschleppung erleiden (s. Rz. 38.17), mit erheblichen Unsicherheiten belastet. Die Planung der alternativen Szenarien ist aufwendig und scheitert in 1 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009; BGH v. 6.4.2006 – III ZR 256/04, ZIP 2006, 954; BGH v. 2.4.1998 – III ZR 245/96, ZIP 1998, 826 = GmbHR 1998, 600; Fischer/Zastrow, GWR 2020, 351, 352 ff.; Nietsch, WM 2021, 158, 160 f. 2 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 = ZIP 2012, 1353. 3 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972; Pape, NZI 2019, 260, 266. 4 BGH v. 2.4.1998 – III ZR 245/96, ZIP 1998, 826 = GmbHR 1998, 600. 5 BGH v. 20.3.2014 – IX ZR 293/12, juris. 6 Vgl. die ähnlichen Überlegungen zu §§ 30 f. GmbHG: BGH v. 5.2.1990 – II ZR 114/89, ZIP 1990, 451 = GmbHR 1990, 249. Zur Schadensberechnung s. Pape, NZI 2019, 260, 264. 7 BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 28 = ZIP 2013, 1332; Pape, NZI 2019, 260, 264. 8 Dazu Karsten Schmidt in Scholz, § 11 GmbHG Rz. 139.

Spliedt | 105

3.128

§ 3 Rz. 3.128 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

der Praxis nicht selten an unzulänglichen Daten und vor allem an den Kosten, die aus der Masse nicht gedeckt werden können. Nur bei weitgehend statischen Vermögensverhältnissen ohne laufenden Geschäftsbetrieb ist die Ermittlung relativ einfach. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Forderungen, die ein früher tätig gewordener Verwalter noch realisiert hätte, wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar sind, oder wenn neue Verbindlichkeiten auflaufen, die bei einer Kündigung vermieden worden wären, wobei dann allerdings zu berücksichtigen ist, dass bei Laufzeiten, die die insolvenzrechtliche Kündigungsfrist überschreiten, der Vermieter den Verfrühungsschaden als Insolvenzforderung geltend machen kann (§ 113 InsO). Da der Schaden bei der GmbH auf einem Gesamtvermögensvergleich beruht, kommt es nicht allein auf die Verringerung der künftigen Insolvenzmasse an. Insofern unterscheidet sich der Überschuldungsvertiefungsschaden vom Quotenverringerungsschaden. Ein weiterer Unterschied ist, dass insolvenzspezifische Ansprüche bspw. Ansprüche aufgrund insolvenzrechtlicher Anfechtung zwar die Masse und damit die Quote erhöhen, nicht aber das hier zugrunde liegende Reinvermögen verändern, soweit die Haftungsschuldner im Gegenzug zur Zahlung an die Masse eine Insolvenzforderung in gleicher Höhe erhalten (z.B. § 144 InsO).

3.129

Wesentlich einfacher ist der Schaden Dritter zu ermitteln, der bei einer drittschützenden Wirkung des Beratungsvertrages geltend gemacht werden kann. Das betrifft vor allem die Geschäftsführer wegen der Belastung mit persönlichen Haftungsverbindlichkeiten aufgrund eines Verstoßes gegen § 64 GmbHG a.F.1 bzw. § 15b InsO n.F. bzw. der Verletzung der gläubigerschützenden Insolvenzantragspflicht, das betrifft aber auch die Gesellschafter wegen (eigenkapitalersetzender) Leistungen, die sie bei rechtzeitiger Information über die Insolvenzgefahr vermieden hätten. In der Praxis lässt sich regelmäßig der Insolvenzverwalter diese Rückgriffsansprüche abtreten oder im Wege der Zwangsvollstreckung überweisen, weil die der schuldnerischen GmbH nahestehenden Dritten wegen der Belastung mit anderen Verbindlichkeiten häufig nicht leistungsfähig sind. Anders ist das bei außenstehenden Dritten wie insbesondere Kreditgebern, deren Schaden durch Forderungsausfall zudem leicht beziffert werden kann.

4. Kausalität, Beweislast 3.130

In der Praxis bilden Äußerungen zum Insolvenzgrund bei bilanzieller Überschuldung den Regelfall. Deshalb ist die Informationspflicht eher eine Nachweis- als eine Rechtsfrage. Die Beweislast für das Bestehen einer Hinweispflicht liegt beim Geschädigten2. Dem kann er leicht nachkommen, wenn der Auftrag ausdrücklich die Insolvenzprüfung betrifft. Schwierig wird es hingegen bei der Verpflichtung zur Erteilung von Anlasshinweisen. Dazu muss der Umfang des „gelebten Mandats“ nachgewiesen werden. Ebenso muss der Geschädigte beweisen, dass der Berater die erforderlichen Hinweise nicht erteilt hat, wobei es im Rahmen der sekundären Behauptungslast erst einmal dessen Aufgabe ist darzulegen, wann und in welcher Form er seiner Pflicht nachgekommen sein will3. Erst wenn er das getan hat, kommt die Beweislast beim Geschädigten für das Gegenteil zum Tragen.

3.131

Für die haftungsbegründende Kausalität zwischen Beratungsfehler und Schaden gilt die Vermutung beratungsgemäßen Verhaltens4. Dieser Anscheinsbeweis versagt allerdings bei Ver1 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 2 BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 = ZIP 2019, 521. 3 BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476; BGH v. 11.5.2006 – III ZR 205/05, ZIP 2006, 1449; Buck-Heeb, ZIP 2013, 1401, 1406; a.A. Einsele, ZRP 2014, 190, 191. 4 BGH v. 9.1.2020 – IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139; BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 39 = ZIP 2012, 1353.

106 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.134 § 3

haltensalternativen, wenn außer dem Insolvenzantrag auch noch eine Sanierung in Betracht gekommen wäre1. Dann muss der Schadensersatzgläubiger darlegen, welche Maßnahme ergriffen worden wäre, wobei gemäß § 287 Abs. 1 Satz 3 ZPO eine Vernehmung des Geschäftsführers auch als Partei zulässig ist2, wenn nicht der Insolvenzverwalter ohnehin den Prozess führt, in dem der Geschäftsführer Zeuge ist. Eine Sanierung kann von vornherein bspw. wegen eines fehlenden Sanierungswillens scheitern, oder fehlender Sanierungsbeiträge der Gesellschafter bzw. Gläubiger ausgeschlossen sein. In der Praxis wird eine Verweigerung von Sanierungsbeiträgen wegen der „Rückschauverzerrung“3 häufig leicht nachzuweisen sein, weil im Nachhinein keiner behaupten wird, er hätte angesichts der tatsächlich eingetretenen Insolvenz vorher auf Forderungen verzichtet bzw. neue Einlagen erbracht. Ist die Drei-Wochen-Frist des § 15a Abs. 1 InsO im Zeitpunkt der Pflichtverletzung schon verstrichen, bleibt als Verhaltensalternative nur der Insolvenzantrag, ggfls. nach einer vorgeschalteten gesonderten Prüfung des Insolvenzgrundes. Geschäftsführer beantragen die Insolvenzeröffnung allerdings häufig auch dann nicht, wenn ihnen die Verpflichtung später bekannt wird. Der Anscheinsbeweis wird dadurch entkräftet. Es kann nicht unterstellt werden, dass der Geschäftsführer nur wegen zu später Kenntnis keinen Insolvenzantrag gestellt hätte, wohl aber bei früherer, weil dann im Rahmen des Insolvenzverfahrens noch höhere Sanierungschancen bestanden hätten. Die naturwissenschaftliche Kausalität eines Beratungsfehlers wird durch die wertende Betrachtungsweise der Adäquanz und des Schutzzwecks der Norm begrenzt4. Eine Vertiefung der Überschuldung durch eine Geschäftsführung, die grob gegen die Sorgfaltsanforderung des § 43 Abs. 1 GmbHG verstößt, indem wirtschaftlich unvertretbare Risiken eingegangen werden, ist nicht ausgleichspflichtig5.

3.132

Bei der haftungsausfüllenden Kausalität, also dem durch den Beratungsfehler verursachten Schadensumfang, wird die Darlegungs- und Beweislast des Geschädigten durch die Möglichkeit der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO erleichtert, die zu nutzen der BGH gerade im Zusammenhang mit der Beraterhaftung betont6.

3.133

5. Mitverschulden Jede Haftung kann wegen Mitverschuldens gemindert werden (§ 254 BGB). Natürlich darf ein Auftragnehmer, der die Insolvenzantragspflicht prüfen soll, nicht einwenden, dass auch die Geschäftsführung ihre Selbstprüfungspflicht verletzt und er deshalb nur einen Teil des Schadens zu tragen habe. Es wäre widersprüchlich, einerseits die Delegation dieser Aufgabe zu akzeptieren, die Haftung dann aber via Mitverschulden zurück zu delegieren7. Anders ist es, wenn die GmbH den Auftragnehmer unvollständig informiert8 oder bei der erforderlichen Plausibilitätskontrolle9 1 BGH v. 16.7.2015 – IX ZR 197/14, WM 2015, 1622; BGH v. 15.5.2014 – IX ZR 267/12, ZIP 2014, 1490; BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 40; s. auch OLG Koblenz v. 15.4.2014 – 3 U 633/13, DStR 2015, 965; OLG Köln v. 16.1.2014 – 8 U 7/13, DStR 2014, 1355. 2 BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 17 = ZIP 2013, 1332. 3 Zur psychologischen Bedeutung rückwirkender Beurteilungen: Falk/Alles, ZIP 2014, 1209. 4 BGH v. 9.1.2020 – IX ZR 61/19, NJW 2020, 1139; BGH v. 10.7.2012 – VI ZR 127/11, NJW 2012, 2964 Rz. 12 f. 5 BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 24 = ZIP 2013, 1332. 6 BGH v. 6.6.2013 – IX ZR 204/12, GmbHR 2013, 934 Rz. 25 = ZIP 2013, 1332. 7 Vgl. BGH v. 19.2.2015 – III ZR 90/14, ZIP 2015, 934 Rz. 13 (zur Anlageberatung). 8 Vgl. LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 9 Zur Informations- und Überprüfungspflicht s. BGH v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, GmbHR 2012, 746 = ZIP 2012, 1174.

Spliedt | 107

3.134

§ 3 Rz. 3.134 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

erkennbare Fehler nicht moniert. Von diesen Ausnahmen abgesehen, kommt eine Haftungsminderung bei direkt die Insolvenzprüfung betreffenden Aufträgen nicht in Betracht. Die Aufträge hingegen, aus denen die Verpflichtung zu Anlasshinweisen erwachsen, sind gerade nicht auf die Insolvenzprüfung gerichtet. Die GmbH muss sich hier ein Mitverschulden der Geschäftsführer gemäß § 31 BGB zurechnen lassen1. Sind auch Dritte befasst mit der Sache, aus deren Bearbeitung die Pflichtverletzung des Beraters resultiert (Angestellte, andere Berater), erfolgt die Zurechnung über § 278 BGB. Anders verhält es sich, wenn Dritte als Berater in einem eigenen Pflichtenkreis (z.B. Bilanzersteller und Bilanzprüfer) tätig sind. Sie haften als Gesamtschuldner mit Ausgleich untereinander, nicht aber mit Haftungsminderung durch Mitverschulden des Mandanten (s. Rz. 3.119). Allerdings ist bei der Haftung für einen fehlerhaften Jahresabschluss und seine Bedeutung für eine bei Überbewertungen nicht erkannte Insolvenzantragspflicht zu beachten, dass die Aufstellung des Jahresabschlusses dem Geschäftsführer obliegt (§§ 242, 264, 49 ff. HGB), so dass bereits Fehler bei der Aufstellung ein Mitverschulden begründen können2. Allein mit der Verpflichtung zur ständigen Prüfung des Insolvenzgrundes lässt sich ein solches Mitverschulden jedoch nicht rechtfertigen, weil das eine delegationsfähige Aufgabe ist.

3.135

Die Haftungsquote beruht auf einer Abwägung zwischen den normativen Anforderungen an die eigene Sorgfalt, insbesondere also auf die Abwägung zwischen der in der Krise eingreifenden Selbstprüfungspflicht der Geschäftsführung, und der Schwere des Beratungsfehlers3. Auch wenn der Geschäftsführer nicht weiß, dass er in der Krise ständig die Antragspflicht prüfen muss, gehört dies dennoch zur normativ geforderten Sorgfalt4, deren Verletzung ihm angelastet werden kann. Je stärker der Mandant auf eine Belehrung durch den Berater vertrauen darf, umso weiter tritt die Selbstprüfungspflicht hinter die Belehrungspflicht zurück. Von dieser normativen Betrachtung der Anforderungen an die eigene Sorgfalt des Mandanten zu unterscheiden ist der Belehrungsbedarf. Er betrifft nicht erst das Mitverschulden, sondern schon den Haftungsgrund, die Frage nämlich, ob der Berater den Mandanten überhaupt aufklären muss (Rz. 3.119).

3.136

Beratungsfehler außerhalb insolvenzbezogener Anlasshinweise, bei deren Vermeidung der Geschäftsführer einen Anlass zur eigenen Prüfung der Insolvenzreife gehabt hätte, werden in der Regel nur von einem geringen Mitverschulden begleitet sein, so bspw. wenn statt einer bilanziellen Überschuldung ein so hohes Eigenkapital bescheinigt wird, dass der Geschäftsführer keine Veranlassung zur Krisenprüfung hat. Gleiches gilt für einen Anwalt, der fehlerhaft den rechtlichen Bestand grundlegender Betriebsgenehmigungen oder für einen technischen Berater, der fehlerhaft die Funktionsfähigkeit von Betriebsanlagen bestätigt. Von Bedeutung wird all das nur bei einer Haftung des Beraters gegenüber Dritten sein, weil es beim Geschäftsführer schon am Verschulden für eine insolvenzspezifische Haftung fehlt.

3.137

Eine Haftungsminderung wegen Mitverschuldens der GmbH wirkt sich nicht nur auf deren eigene Ansprüche aus, sondern gleichermaßen auch auf die Ansprüche Dritter, die in den 1 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römermann; LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris; Pape, NZI 2019, 260, 264. 2 Pape, NZI 2019, 260, 264. 3 LG Aachen v. 14.4.2021 – 11 O 241/17, BeckRS 2021, 10869 = juris. 4 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 64/12, GmbHR 2013, 543 Rz. 21 = ZIP 2013, 829; BGH v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, GmbHR 2012, 967 = ZIP 2012, 1557; BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, NZI 2017, 312 = ZIP 2017, 427.

108 | Spliedt

§ 3 Krisenfrüherkennung | Rz. 3.140 § 3

Schutzbereich des Vertrages einbezogen werden; denn Grundlage der Haftung bleibt der zweiseitige Vertrag mit den zweiseitigen Rechten und Pflichten von Berater und GmbH1.

6. Verjährung Ein Insolvenzgrund tritt häufig lange vor dem Insolvenzantrag auf. Bis zur Bearbeitung der Haftungsansprüche durch den Insolvenzverwalter können Jahre vergehen. Die Verjährungsfrist beträgt gemäß § 195 BGB drei Jahre. Die früheren spezialgesetzlichen Regelungen für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte gibt es nicht mehr. Die Frist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen erlangt bzw. ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen musste (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Zu den anspruchsbegründenden Umständen gehört auch die Kenntnis von der Pflichtverletzung des Steuerberaters. Der Schadensersatzgläubiger muss also wissen können, dass der Berater auf einen Insolvenzgrund hätte hinweisen sollen bzw. den erforderlichen Hinweis unterlassen hat2. Da der Laie in der Regel nicht gehalten ist, die Rechtsanwendung des Beraters zu überprüfen3, wird die Verjährung erst beginnen, wenn er weitere Anhaltspunkte hat. Allein der Eintritt eines Schadens reicht dafür nicht aus. Der Geschädigte muss auch noch wissen können, dass dieser Schaden auf einer Pflichtverletzung beruht. Deshalb wird dem Insolvenzverwalter eine grob fahrlässige Kenntnis der Pflichtwidrigkeit eher anzulasten sein, so dass ein Haftungsanspruch der Masse gegen den Berater durchaus früher verjähren kann als ein etwaiger Rückgriffsanspruch eines im Schutzbereich des Beratungsvertrages stehenden Dritten.

3.138

Außer der Pflichtwidrigkeit als dem haftungsbegründenden Umstand muss auch der Schaden bekannt sein können, wobei es ausreicht, dass eine Feststellungsklage für einen erst noch zu beziffernden Schaden zulässig ist4. Besteht der Schaden in einer Verbindlichkeit z.B. aufgrund einer Haftung des Geschäftsführers gemäß § 64 GmbHG a.F.5 bzw. § 15b InsO n.F., steht der Geschäftsführer vor dem Dilemma, zur Vermeidung des Verjährungseintritts den Steuerberater etc. in Anspruch zu nehmen, obwohl der Verwalter noch keine Ansprüche geltend gemacht hat; denn im Verhältnis zum Verwalter gilt eine (kenntnisunabhängige) längere Verjährung von fünf Jahren (§ 64 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F. i.V.m. § 43 Abs. 4 GmbHG). Eine Inanspruchnahme durch ihn ist für den Beginn der Verjährungsfrist gegenüber dem Berater nicht maßgebend, weil der Schaden bereits mit der Belastung durch die Haftung eingetreten ist. Der Geschäftsführer muss also entweder eine Feststellungsklage auf Befreiung von der drohenden Verbindlichkeit einreichen – selbst auf die Gefahr, dass er den Verwalter dann erst darauf hinweist – oder einen Einredeverzicht mit dem Berater vereinbaren.

3.139

Beim Vertrag zugunsten Dritter reicht für den Verjährungsbeginn ebenfalls das Kennenkönnen des Schadens und der Pflichtverletzung. Da ein Schadensersatzgläubiger nicht zusätzlich auch die rechtliche Würdigung über den Bestand eines Haftungsanspruchs vornehmen muss, muss der Dritte nicht wissen, dass er in den Schutzbereich des mit der GmbH geschlossenen Vertrages einbezogen ist6. Allerdings muss er die diese Einbeziehung rechtfertigenden Tatsachen kennen können.

3.140

1 BGH v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, GmbHR 2012, 1009 Rz. 35 = ZIP 2012, 1353. 2 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972; BGH v. 6.2.2014 – IX ZR 217/12, ZIP 2014, 1030; BGH v. 6.2.2014 – IX ZR 245/12, ZIP 2014, 624. 3 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972 Rz. 26. 4 St. Rspr., u.a. BGH v. 27.5.2008 – XI ZR 132/07, ZIP 2008, 1268 Rz. 32. 5 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 6 BGH v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972 Rz. 26.

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§4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise I. Grundlagen 1. Die maßgeblichen Themen 4.1

Spätestens mit dem Eintritt der Krise bei einer GmbH stellt sich für das Kreditinstitut, das die Bankgeschäfte für diesen Kunden abwickelt, die Frage, ob und inwieweit Bankgeschäfte im Insolvenzverfahren der GmbH rechtsbeständig bleiben würden. Grund sind insbesondere die insolvenzrechtlichen Anfechtungsvorschriften der §§ 129 ff. InsO, die nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens dem Insolvenzverwalter erlauben, Geschäftsvorfälle, die vorher – also in der Krise – abgewickelt wurden, rückgängig zu machen. In der Praxis betrifft dies vor allem den Zahlungsverkehr der anschließend insolventen GmbH und die für die Kreditverbindlichkeiten der GmbH gestellten Sicherheiten. In fast jedem Insolvenzverfahren wird der Insolvenzverwalter auf Grundlage der Anfechtungsvorschriften versuchen, Zahlungsverkehrsvorgänge sowie die Bestellung von Kreditsicherheiten aus Zeiten der Krise vor der Verfahrenseröffnung im dann eröffneten Verfahren rückgängig zu machen. Daher müssen vorausschauend der Zahlungsverkehr (Rz. 4.2 ff.) und die Kreditbesicherung mit einer GmbH (Rz. 4.101 ff.) in der Krise daraufhin betrachtet werden, welche Auswirkungen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf diese Geschäfte hätte. Soweit das Kreditinstitut der insolvenzbedrohten GmbH mit Darlehen zur Verfügung steht, ist auch zu prüfen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Kündigung möglich ist (Rz. 4.201 ff.), um so einen drohenden Ausfall bei Eintritt der Insolvenz des Kreditnehmers zu vermeiden.

2. Zahlungsverkehr in der Krise 4.2

Angesichts der großen Bedeutung, die dem bargeldlosen Zahlungsverkehr – also der Abwicklung von Zahlungsein- und -ausgängen über Konten bei Kreditinstituten – im Wirtschaftsleben zukommt, ist es nicht verwunderlich, dass Insolvenzverwalter fast immer prüfen, ob die Abwicklung des Zahlungsverkehrs des Schuldners vor dem Insolvenzverfahren in der Krise rechtmäßig und insolvenzfest erfolgt ist. Im Verhältnis zwischen der GmbH als Kontoinhaber und dem kontoführenden Kreditinstitut geht es meist um zwei Fragen: Erstens ist zu prüfen, ob und bis zu welchem Zeitpunkt das kontoführende Kreditinstitut die bei ihm zu Gunsten der GmbH eingegangenen Zahlungen „behalten“, also mit einem Sollsaldo oder einer sonstigen Kreditverbindlichkeit der GmbH insolvenzfest verrechnen kann. Zweitens muss beantwortet werden, inwieweit der Insolvenzverwalter Zahlungsausgänge, die im Auftrag des Kontoinhabers zu Lasten eines Kontoguthabens der GmbH oder durch Krediterhöhung erfolgt sind, gegen die Masse gelten lassen muss (zum Zahlungsverkehr im Insolvenzeröffnungsverfahren s. Rz. 16.65 ff. und im eröffneten Verfahren s. Rz. 27.1 ff.).

4.3–4.10 Einstweilen frei.

II. Zahlungseingänge 4.11

Gehen zu Gunsten des Kontos einer GmbH, die sich in der Krise befindet, bei dem kontoführenden Kreditinstitut Zahlungen ein, stellen sich zwei Fragen: 110 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.13 § 4

– Zum einen muss geklärt werden, ob das kontoführende Kreditinstitut die eingehende Zahlung dem Konto der GmbH noch gutschreiben muss bzw. darf. – Zum anderen fragt sich, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet worden ist, ob und bis zu welchem Zeitpunkt das Kreditinstitut eingehende Zahlungen mit einem debitorischen Kreditsaldo oder mit anderen Forderungen insolvenzfest verrechnen durfte1.

1. Berechtigung und Verpflichtung zur Gutschrift des Zahlungseingangs Werden an eine GmbH in der Krise Zahlungen von Dritten bargeldlos auf ein Konto der GmbH geleistet, so ist das kontoführende Kreditinstitut gegenüber der GmbH berechtigt und verpflichtet, die Gelder gutzuschreiben2. Dies folgt aus dem der Kontoführung zu Grunde liegenden Zahlungsdiensterahmenvertrag im Sinne des § 675f Abs. 2 BGB, wie das Gesetz heute den klassischen Girovertrag bezeichnet. Ergänzt wird der Zahlungsdiensterahmenvertrag um eine Kontokorrentabrede (§ 355 HGB entsprechend), durch die eine Verrechnung der einzelnen Buchungsposten erst am Ende der vereinbarten Rechnungsperiode im Rahmen eines Rechnungsabschlusses erfolgt, der dann einen kausalen Saldo zu Gunsten des Kontoinhabers oder zu Gunsten des Kreditinstituts ausweist; die aus den Kontoauszügen oder online ersichtliche fortlaufende Saldierung bedeutet noch keine Verrechnung, sondern lediglich eine Information über die Buchungsposten3. Der Zahlungsdiensterahmenvertrag verpflichtet das Kreditinstitut, den Zahlungsdienstleister, für den Kunden, den Zahlungsdienstnutzer, ein Konto, das Zahlungskonto, einzurichten, eingehende Zahlungen auf dem Konto gutzuschreiben4 und erteilte Überweisungsaufträge zu Lasten dieses Kontos abzuwickeln5. Dieser Zahlungsdiensterahmenvertrag bleibt in der Krise bestehen, selbst nach einem Antrag des Kontoinhabers auf Insolvenzeröffnung und Anordnung eines Verfügungsverbots, denn der Zahlungsdiensterahmenvertrag ist eine besondere Form des Geschäftsbesorgungsvertrages. Für solche Verträge ordnen §§ 115, 116 InsO das Erlöschen erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens an6.

4.12

2. Unanfechtbare Verrechnung von Zahlungseingängen Da das kontoführende Kreditinstitut berechtigt und verpflichtet ist, eingehende Zahlungen dem Konto der insolvenzbedrohten GmbH gutzuschreiben, stellt sich weiter die Frage, inwieweit das Kreditinstitut solche Zahlungseingänge mit einem debitorischen Saldo des Kontoinhabers verrechnen darf und ob eine solche Verrechnung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch gegenüber dem Insolvenzverwalter zu Lasten der Masse Bestand hat7. Dabei 1 Dazu im Überblick auch Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 52 ff.; Stapper/Jacobi, BB 2007, 2017. 2 Dazu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.1 ff.; Steinhoff, ZIP 2000, 1141. 3 Schmieder in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 26 Rz. 64 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.1. 4 Zur Berechtigung des Kreditinstituts zur Gutschrift im Verhältnis zum Überweisungsauftraggeber ausführlich Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.100 ff.; zur Verpflichtung des Kreditinstituts zur Gutschrift im Verhältnis zum Überweisungsbegünstigten ausführlich Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.136 ff. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.7 ff. 6 BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 = ZIP 2008, 1437; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138.; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 116 InsO Rz. 37 ff. 7 Dazu im Überblick auch Zuleger, ZInsO 2002, 49 ff.

Kuder/Unverdorben | 111

4.13

§ 4 Rz. 4.13 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

gilt im Ausgangspunkt, dass die Verrechnung mit einem debitorischen Saldo auf demjenigen Konto, auf dem die Zahlungen eingehen, zunächst automatisch mit dem nächsten Rechnungsabschluss auf Grund der antizipierten Verrechnungsabrede aus dem Zahlungsdiensterahmenvertrag erfolgt. Ist die antizipierte Verrechnungsabrede wegen der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots im Antragsverfahren erloschen, bleibt dem Kreditinstitut die Möglichkeit, die Verrechnung durch ausdrückliche Erklärung der Aufrechnung vorzunehmen. Beide Möglichkeiten der Verrechnung laufen jedoch im Ergebnis auf das gleiche wirtschaftliche Ergebnis hinaus, da stets zu prüfen ist, ob zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs der Verrechnung Anfechtungsgründe entgegenstanden. Denn liegt ein Anfechtungsgrund vor, kann entweder die Verrechnung auf Grund der Kontokorrentabrede angefochten werden, oder die Aufrechnung ist nach § 96 Nr. 3 InsO ausgeschlossen, da das Kreditinstitut die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Eine Anfechtung scheidet von vorneherein aus, wenn das Konto bei Zahlungseingang ein Guthaben aufweist oder es sich bei dem Zahlungseingang um die Wiedergutschrift eines widerrufenen Überweisungsauftrags handelt1. Im Fall des Einsatzes einer Kreditkarte als Barzahlungsersatz ist die Deckungsanfechtung nur gegen das Vertragsunternehmen und nicht gegen das die Karte ausstellende Kreditinstitut möglich2. Im Übrigen ist die Anfechtung der Verrechnung ausgeschlossen, wenn die Forderung, auf die der Überweisungsauftraggeber zahlt, an das Kreditinstitut abgetreten ist oder das Kreditinstitut den Kontoinhaber in Höhe der Zahlungseingänge wieder verfügen lässt.

a) Sicherungsabtretung der Zahlungsansprüche 4.14

Die Anfechtbarkeit der Verrechnung eines Zahlungseingangs zu Gunsten der GmbH mit einem debitorischen Saldo auf deren Konto ist zum einen stets ausgeschlossen, wenn die Forderung, die der Zahlungsauftraggeber begleichen wollte, dem kontoführenden Kreditinstitut anfechtungsfrei zur Sicherheit abgetreten war3. Denn alle Anfechtungstatbestände setzen gemäß § 129 InsO voraus, dass die Insolvenzgläubiger in ihrer Gesamtheit objektiv benachteiligt werden. Hieran fehlt es, wenn ein Gläubiger Befriedigung oder Deckung erhält, die nach der besonderen Fallgestaltung auch der Insolvenzverwalter hätte gewähren müssen, denn dann erhält der betreffende Gläubiger nicht etwas zu Lasten der Masse. Dementsprechend scheidet eine Anfechtung aus, wenn das kontoführende Kreditinstitut durch die Verrechnung des Zahlungseingangs nur das erhalten hat, was dem Institut auf Grund der Sicherungszession ohnehin zugestanden hätte. Weil schon die Grundvoraussetzung jeglicher Insolvenzanfechtung nach § 129 InsO, nämlich die Gläubigerbenachteiligung fehlt4, kommt es im Übrigen nicht darauf an, ob der Zahlungseingang auf die abgetretene Forderung wegen Fälligkeit des Kreditsaldos eine kongruente oder mangels Fälligkeit eine inkongruente Deckung war5. Ebenso ist 1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.141. 2 BGH v. 23.10.2014 – IX ZR 290/13, ZInsO 2014, 2359 = NZI 2015, 32 m Anm. Huber = ZIP 2014, 2351. 3 BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 = ZIP 2008, 1437; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 144/05, WM 2008, 1512 = ZIP 2008, 1435; BGH v. 1.10.2002 – IX ZR 360/99, WM 2002, 2369 = ZIP 2002, 2182. Im Überblick Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 108d, 150, 156. Ausführlich zur Bedeutung einer Sicherungszession für die Anfechtung von Zahlungseingängen im Kontokorrent Streit/Jordan, DZWIR 2004, 441, 446 ff. 4 Die Bedeutung der Gläubigerbenachteiligung gerade auch für die Anfechtbarkeit bei der Verrechnung von Zahlungsein- und -ausgängen betont BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 = ZIP 2002, 812. 5 Die eine Insolvenzanfechtung ausschließende Bedeutung der fehlenden Gläubigerbenachteiligung bei Zahlungseingängen und sicherungshalber abgetretene Forderungen übersieht Feuerborn, ZIP 2002, 290, 294 ff., die deshalb fälschlich nach Fälligkeit des Kreditsaldos differenzieren will.

112 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.16 § 4

es unerheblich, ob die Zession im Zeitpunkt des Zahlungseingangs bereits offengelegt war oder noch still behandelt wurde. Denn dies ist nur für die Frage von Bedeutung, ob der Drittschuldner durch die Zahlung auf das Konto seines ursprünglichen Gläubigers mit befreiender Wirkung gegenüber dem Zessionar leisten konnte und ob etwaige verlängerte Eigentumsvorbehalte untergehen, hat aber auf die materielle Berechtigung des Kreditinstituts keinen Einfluss. Zwar erlischt bei einer stillen Zession auf Grund der Zahlung des Drittschuldners auf das Konto seines Gläubigers die abgetretene Forderung; gleichzeitig erwirbt das Kreditinstitut jedoch ein Pfandrecht nach Nr. 14 Abs. 1 AGB-Banken an dem Anspruch aus der Gutschrift1. Der Tausch der einen Sicherheit gegen eine andere gleichwertige Sicherheit benachteiligt die Gläubiger nicht2. Erfolgt ein Zahlungseingang von einem Drittschuldner des Kontoinhabers auf eine Forderung, die dem kontoführenden Kreditinstitut zur Sicherheit abgetreten ist, insbesondere im Wege der Globalzession, scheidet daher eine Anfechtbarkeit wegen fehlender Gläubigerbenachteiligung aus. Etwas anderes kann ausnahmsweise nur dann gelten, wenn das Kreditinstitut auch schon sein Absonderungsrecht auf Grund der Zession in anfechtbarer Weise erworben hat. Soweit es sich um eine Globalzession handelt, die auch die Abtretung künftiger Forderungen vorsieht, ist dabei maßgeblicher Zeitpunkt nicht (nur) der Abschluss des Globalzessionsvertrages. Vielmehr ist gemäß § 140 Abs. 1 InsO auch später für jede einzelne von der Globalzession erfasste Forderung zu prüfen, ob zum Zeitpunkt ihrer Entstehung oder ihres Werthaltigwerdens die Abtretung oder das Werthaltigmachen der Forderung3 anfechtbar sind. Dabei scheidet aber eine Anfechtung nach § 131 InsO aus, weil es sich bei der Abtretung der einzelnen Forderungen unter einem Globalzessionsvertrag jeweils um eine kongruente Deckung handelt4.

4.15

b) Bargeschäft bei Zahlungsein- und -ausgängen Die Privilegierung des Bargeschäfts schließt die Anfechtbarkeit der Verrechnung von Zahlungseingängen nach den praktisch besonders relevanten Tatbeständen der §§ 130, 131 InsO auch dann aus, wenn das kontoführende Kreditinstitut eine bestehende Kreditlinie offen gehalten und dem Kontoinhaber in Höhe der eingegangenen Beträge Verfügungen gestattet hat5. 1 BGH v. 12.2.2004 – IX ZR 98/03, ZInsO 2004, 342 = ZIP 2004, 620; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/ 05, ZInsO 2008, 803 = ZIP 2008, 1437; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 156. 2 BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 67/09, WM 2012, 1200 Rz. 26 = ZIP 2012, 1301; BGH v. 17.3.2011 – IX ZR 63/10, WM 2011, 762 Rz. 32 = ZIP 2011, 773; BGH v. 17.9.2009 – IX ZR 106/08, WM 2010, 87 Rz. 16 = ZIP 2010, 38; BGH v. 9.12.1999 – IX ZR 318/99, WM 2000, 262 = ZIP 2000, 244; BGH v. 17.9.1998 – IX ZR 300/97, WM 1998, 2160 = ZIP 1998, 1805; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 108d. 3 Dazu BGH v. 14.2.2013 – IX ZR 94/12, NZI 2013, 344, 346 = ZIP 2013, 588; BGH v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, NZI 2013, 258, 260 = ZIP 2013, 223; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 ff. = ZIP 2008, 1437; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 144/05, WM 2008, 1512 = ZIP 2008, 1435; BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 165/05, WM 2008, 363 ff. = ZIP 2008, 372. 4 Grundlegend BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 204 ff. = ZIP 2008, 183; bestätigt durch BGH v. 14.2.2013 – IX ZR 94/12, NZI 2013, 344, 346 = ZIP 2013, 588; BGH v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, NZI 2013, 258, 260; BGH v. 17.1.2008 – IX ZR 134/07, DZWiR 2008, 253 = ZIP 2013, 223. 5 BGH v. 25.2.1999 – IX ZR 353/98, WM 1999, 781 = ZIP 1999, 665; BGH v. 25.1.2001 – IX ZR 6/ 00, WM 2001, 689 = ZIP 2001, 524; BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 = ZIP 2002, 812; BGH v. 1.10.2002 – IX ZR 360/99, WM 2002, 2369 = ZIP 2002, 2182; BGH v. 17.6.2004 – IX

Kuder/Unverdorben | 113

4.16

§ 4 Rz. 4.16 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Das Gleiche gilt seit der Änderung des § 142 InsO durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz1 im Ergebnis für den Tatbestand der Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO (dazu Rz. 4.129 ff.). Das kontoführende Kreditinstitut ist objektiv nicht begünstigt und die übrigen Gläubiger werden nicht benachteiligt, wenn im Rahmen der Kontoverbindung die Zahlungseingänge in entsprechender Höhe durch Zahlungsausgänge ausgeglichen sind und damit der Kreditsaldo insgesamt nicht zurückgeführt wird. Dementsprechend hat der BGH entschieden, dass es sich bei den Verrechnungen um ein Bargeschäft handelt, wenn den Zahlungseingängen ohne Saldorückführung in engem wirtschaftlichen, rechtlichen und zeitlichen Zusammenhang Zahlungsausgänge gegenüberstehen, die das Kreditinstitut seinen vertraglichen Verpflichtungen entsprechend gegenüber dem Schuldner zulässt2. Solche Bargeschäfte sind gemäß § 142 Abs. 1 InsO grundsätzlich nicht anfechtbar. Es bleibt damit nur die Anfechtbarkeit insoweit, wie Zahlungseingänge per Saldo trotz dagegenstehender Zahlungsausgänge zu einer Verringerung des Debetsaldos des Schuldners geführt haben.

4.17

Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 142 Abs. 1 InsO ist, dass der Schuldner für eine Leistung aus seinem Vermögen unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung erhält. Entscheidend für das Vorliegen der Unmittelbarkeit ist gemäß § 142 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht die Reihenfolge von Zahlungseingängen und -ausgängen, sondern dass nach Art der ausgetauschten Leistungen und unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung besteht3. Dies ist nach der Rechtsprechung jedenfalls dann der Fall, wenn zwischen den kontokorrentmäßig zu verrechnenden Soll- und Habenbuchungen weniger als zwei Wochen vergehen4. Aber auch bei Buchungen in einem Zeitraum von vier Wochen ist noch ein enger zeitlicher Zusammenhang gegeben5. Im Übrigen dürfen nur solche Ein- und Ausgänge in die Betrachtung einbezogen werden, die innerhalb des von der Anfechtung erfassten Zeitraums liegen6. Betrachtet wird

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5 6

ZR 124/03, WM 2004, 1576 = ZIP 2004, 1509; BGH v. 11.10.2007 – IX ZR 195/04, WM 2008, 222 = ZIP 2008, 237; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 = ZIP 2008, 1437; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, WM 2013, 708 Rz. 16 = GmbHR 2013, 464 m. Anm. Bormann = ZIP 2013, 734; BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, NZI 2014, 309 Rz. 2 = ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476. Dazu im Überblick auch Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 19. Gesetz vom 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). Ausführlich zum Gesetz Thole, ZIP 2017, 401 ff. BGH v. 25.2.1999 – IX ZR 353/98, WM 1999, 781 = ZIP 1999, 665; BGH v. 25.1.2001 – IX ZR 6/ 00, WM 2001, 689 = ZIP 2001, 524; BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 = ZIP 2002, 812; BGH v. 1.10.2002 – IX ZR 360/99, WM 2002, 2369 = ZIP 2002, 2182; BGH v. 17.6.2004 – IX ZR 124/03, WM 2004, 1576 = ZIP 2004, 1509; BGH v. 11.10.2007 – IX ZR 195/04, WM 2008, 222 = ZIP 2008, 237; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 = ZIP 2008, 1437; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, WM 2013, 708 Rz. 16 = GmbHR 2013, 464 m. Anm. Bormann = ZIP 2013, 734; BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, NZI 2014, 309 Rz. 2 = ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476. Zur Regelung der Unmittelbarkeit Thole, ZIP 2017, 401, 408; Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 26 ff. BGH v. 25.2.1999 – IX ZR 353/98, WM 1999, 781 = ZIP 1999, 665; BGH v. 25.1.2001 – IX ZR 6/ 00, WM 2001, 689 = ZIP 2001, 524; BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 = ZIP 2002, 812; BGH v. 1.10.2002 – IX ZR 360/99, WM 2002, 2369 = ZIP 2002, 2182; BGH v. 17.6.2004 – IX ZR 124/03, WM 2004, 1576 = ZIP 2004, 1509; BGH v. 11.10.2007 – IX ZR 195/04, WM 2008, 222 = ZIP 2008, 237; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 47/05, WM 2008, 1442 = ZIP 2008, 1437; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, WM 2013, 708 = GmbHR 2013, 464 m. Anm. Bormann = ZIP 2013, 734. Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 30. BGH v. 25.2.1999 – IX ZR 353/98, WM 1999, 781; bestätigt durch BGH v. 25.1.2001 – IX ZR 6/ 2000, WM 2001, 689 = ZIP 1999, 665.

114 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.20 § 4

hierbei der gesamte Zeitraum, auf den sich die Anfechtung erstrecken kann, also der Zeitraum, indem der jeweilige Anfechtungstatbestand gemäß §§ 130, 131 InsO erfüllt war – maximal der Zeitraum von drei Monaten; die aus Sicht des Insolvenzverwalters günstigere Anfechtung der Saldoreduzierung, die sich bei Betrachtung lediglich eines Ausschnitts des gesamten Anfechtungszeitraums ergäbe, ist nicht zulässig1. Für die Annahme eines Bargeschäfts i.S. von § 142 Abs. 1 InsO reicht allein die objektive Gleichwertigkeit der ausgetauschten Leistungen aus. Eine solche gleichwertige Leistung erbringt das Kreditinstitut aber mit den Zahlungsausgängen selbst bei offener Kreditlinie, da das Kreditinstitut nicht nur mit Einräumung einer Kreditlinie oder mit einer Krediterhöhung dem Kunden eine Leistung gewährt, sondern auch insoweit, als es ihn einen schuldrechtlich versprochenen Kredit tatsächlich ausnutzen lässt. Wollte man dagegen bei offener Kreditlinie die Anfechtung zulassen, würde dies nicht dem Sinn des Bargeschäfts gerecht. § 142 InsO soll es dem Schuldner ermöglichen, auch in der Zeit seiner wirtschaftlichen Krise noch Rechtsgeschäfte, welche die Insolvenzgläubiger nicht unmittelbar benachteiligen, zeitnah abzuwickeln. Bei keinem Kreditinstitut kann die Bereitschaft unterstellt werden, trotz nicht voll ausgeschöpfter Kreditlinie weitere Verfügungen des Schuldners über sein Konto zuzulassen, wenn es damit das Risiko eingeht, Zahlungen des Schuldners an Dritte später aus eigenen Mitteln an die Insolvenzmasse erstatten zu müssen. Mit Kenntnis auch nur der Gefahr einer wirtschaftlichen Krise des Schuldners würde es daher erfahrungsgemäß sofort den diesem zuvor eingeräumten Kredit fristlos kündigen. Damit würde dem Schuldner im Ergebnis schon die Chance genommen, in einer zwar riskanten, aber noch nicht aussichtslosen Lage planmäßig weiteren Kredit in Anspruch zu nehmen, sogar wenn eingehende Gutschriften wieder einen gewissen Spielraum bis zur Kreditobergrenze eröffneten.

4.18

Aber auch dann, wenn ausnahmsweise kein Bargeschäft vorliegt, können die Rückführungen einer Kontokorrentkreditlinie nicht über den dem Kreditnehmer eingeräumten Kreditbetrag hinaus angefochten werden, da das Kreditinstitut regelmäßig eine darüber hinausgehende Inanspruchnahme nicht zugelassen hätte. Ohne die einzelnen Rückführungen hätte der Kreditnehmer keine weiteren Inanspruchnahmen der Kreditlinie mehr tätigen können. Mehr als der vollständig in Anspruch genommene Kreditbetrag der Kreditlinie war im Vermögen des Schuldners nie vorhanden und für die Gläubigerbefriedigung verfügbar2.

4.19

Allerdings ist die Anfechtung dann möglich, wenn die Belastungsbuchungen im wirtschaftlichen Sinn gar keine Zahlungsausgänge, also keine Zahlungen an Dritte zur Erfüllung von Vertragspflichten sind, sondern lediglich interne Überweisungen an das kontoführende Kreditinstitut selbst zur Tilgung eigener, auf anderen Konten verbuchter Kreditforderungen3. Denn in einem solchen Fall erfolgt entgegen dem Wesen des Bargeschäfts nicht eine bloße Um-

4.20

1 BGH v. 15.11.2007 – IX ZR 212/06, WM 2008, 169 = ZIP 2008, 235; BGH v. 27.3.2008 – IX ZR 29/07, BeckRS 2008, 05759; OLG Koblenz v. 27.5.2010 – 2 U 97/09, NZI 2010, 649, 653 f.; Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 30; Kirchhof, ZInsO 2003, 15. 2 BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, NZI 2014, 309 Rz. 2 = ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476; BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, WM 2013, 708 Rz. 16 = GmbHR 2013, 464 m. Anm. Bormann = ZIP 2013, 734; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 174a. 3 BGH v. 17.6.2004 – IX ZR 124/03, WM 2004, 1576, 1577 = ZIP 2004, 1509; BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 46/02, NZI 2005, 630; BGH v. 11.10.2007 – IX ZR 195/04, WM 2008, 222 = ZIP 2008, 237; Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 20; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.183 ff.

Kuder/Unverdorben | 115

§ 4 Rz. 4.20 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

schichtung im Vermögen des Kontoinhabers, durch die andere Gläubiger nicht benachteiligt werden, sondern die entsprechenden „Zahlungsausgänge“ kommen einzig dem kontoführenden Kreditinstitut zugute und führen dessen Forderungen zurück.

4.21

Liegen nach dem bereits Gesagten die objektiven Voraussetzungen eines Bargeschäfts vor, ist auch eine Anfechtung der Verrechnung von Zahlungseingängen im 4-Jahres-Zeitraum des § 133 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 133 Abs. 2 InsO im Ergebnis ausgeschlossen. Die Anfechtung eines Bargeschäfts nach § 133 Abs. 1–3 InsO ist gemäß § 142 Abs. 1 InsO seit der Änderung des Anfechtungsrechts durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz1 nur noch möglich, wenn eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung eingetreten ist und der Schuldner nicht nur mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, sondern unlauter gehandelt hat2. Zudem muss der andere Teil erkannt haben, dass der Schuldner unlauter handelte. Anfechtbar sind dann grundsätzlich sowohl kongruente als auch inkongruente Deckungen; aus dem Verweis auf § 133 Abs. 3 InsO, der nur für kongruente Deckungen gilt, folgt nichts anderes3.

4.22

Das neu eingeführte Tatbestandsmerkmal der Unlauterkeit ist im Gesetz nicht näher definiert4. In der Gesetzesbegründung führt der Gesetzgeber aus, dass ein unlauteres Verhalten des Schuldners mehr voraussetze als die Vornahme der Rechtshandlung in dem Bewusstsein, nicht mehr in der Lage zu sein, alle Gläubiger befriedigen zu können. Es müssten hinreichend gewichtige Umstände hinzutreten, um in dem vollzogenen Leistungsaustausch einen besonderen Unwert zu erkennen5. Dies sei jedenfalls bei einer gezielten Gläubigerbenachteiligung der Fall, wie sie etwa gegeben sei, wenn es dem Schuldner gerade um eine Schädigung der übrigen Gläubiger gehe. Gleiches gelte, wenn der Schuldner sein Vermögen – etwa durch Ausgaben für flüchtige Luxusgüter, die für die Gläubiger von keinerlei Nutzen sind – verschleudere. Ebenso könne das Abstoßen von Betriebsvermögen, das zur Aufrechterhaltung des Betriebs unverzichtbar sei, unlauter sein. Die Unrentabilität der Betriebsfortführung soll hingegen ausdrücklich keine Unlauterkeit begründen6.

4.23

Daraus folgt, dass die nur billigende Inkaufnahme einer Gläubigerbenachteiligung durch den Schuldner im Sinne eines dolus eventualis für die Annahme der Unlauterkeit nicht ausreicht. Vielmehr ist für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz bei der Anfechtung eines Bargeschäfts nunmehr erforderlich, dass der Schuldner mit dolus directus gehandelt hat7.

4.24

Bei den hier diskutierten Fällen der Verrechnung von Zahlungseingängen, denen in einem engen zeitlichen Zusammenhang ohne eine Saldorückführung Zahlungsausgänge gegenüberstehen, reicht die Fantasie nicht aus, sich eine solche Konstellation, dass der Schuldner mit dolus eventualis die Gläubiger benachteiligen möchte und das Kreditinstitut das erkannt hat, vorzustellen. Im Ergebnis ist daher die Verrechnung von Zahlungseingängen bei dem Vorliegen eines Bargeschäfts auch nach § 133 InsO in der Praxis nicht anfechtbar.

1 2 3 4 5 6 7

Gesetz vom 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). Kirchhof/Piepenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 37. Thole, ZIP 2017, 401, 407; Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 146a. Ausführlich dazu Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 146a. Begr. RegE zu § 142, BT-Drucks. 18/7054, S. 19. Begr. RegE zu § 142, BT-Drucks. 18/7054, S. 19; Thole, ZIP 2017, 401, 407. Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 146b.

116 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.28 § 4

c) Cash-Pool Gehört die GmbH einem Konzern an, wird ihr Konto häufig in einen Cash-Pool eingebunden sein, der die Liquidität des Konzerns optimieren soll. Dies geschieht, indem die Liquidität des Konzerns auf dem Zielkonto, das in der Regel bei der Muttergesellschaft geführt wird, konzentriert wird. Die in den Cash-Pool eingebundenen Ursprungskonten werden dabei täglich am Tagesanfang auf null gestellt, indem vorhandene Guthaben auf das Zielkonto übertragen und vorhandene Sollsalden zu Lasten des Zielkontos ausgeglichen werden. Entsteht auf einem solchen Ursprungskonto der GmbH durch untertägige Belastungsbuchungen ein Sollsaldo, ist dieser Saldo nicht als Kredit zu werten, sondern als Aufwendung des Kreditinstituts, mit dem dieses untertägig in Vorleistung getreten ist und für die sie einen täglichen Ausgleich als Aufwendungsersatz gemäß § 670 BGB nach den Bestimmungen des Cash-PoolVertrages verlangen kann. Ein entsprechender Zahlungseingang auf dem Konto ist folglich kongruent und als Bargeschäft nicht gegenüber dem Kreditinstitut anfechtbar1.

4.25

Handelt es sich bei dem Konto der GmbH um das Zielkonto des Cash-Pools, sind die einzelnen Verrechnungen von Zahlungseingängen auf dem Konto, die durch die Umbuchung von Guthaben der Ursprungskonten erfolgen, ebenfalls nicht gegenüber dem Kreditinstitut anfechtbar. Soweit das Kreditinstitut auf dem Zielkonto eine eingeräumte Kreditlinie offengehalten und Verfügungen über die Zahlungseingänge zugelassen hat, gilt das bei Rz. 4.16 ff. Gesagte; es ergeben sich insoweit keine Besonderheiten gegenüber Konten, die nicht in einen CashPool eingebunden sind.

4.26

3. Anfechtbare Verrechnung von Zahlungseingängen Anfechtbar kann somit die Verrechnung von Zahlungseingängen nur in den übrigen Fällen sein, wo Gutschriften auf dem Konto der GmbH im Insolvenzvorfeld zur Rückführung eines debitorischen Saldos auf dem Konto oder zur Tilgung anderer Kredite verrechnet worden sind, ohne dass das Kreditinstitut die Zahlungseingänge auf Grund eines Sicherungsrechts beanspruchen konnte oder ihnen Zahlungsausgänge gegenüberstanden. Hier ist stets gemäß §§ 129 ff. InsO zu prüfen, ob die Verrechnung im Kontokorrent anfechtbar bzw. die Aufrechnung wegen der anfechtbaren Erlangung der Aufrechnungslage nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ausgeschlossen ist. Dazu muss danach differenziert werden, in welchem Zeitraum vor dem Insolvenzantrag der Zahlungseingang erfolgt ist. Der maßgebliche Zeitpunkt wird dabei nicht durch Gutschrift auf dem Empfängerkonto, sondern durch den Zahlungseingang bei dem Kreditinstitut bestimmt2.

4.27

a) Zahlungseingänge in den letzten drei Monaten vor Insolvenzantrag Erhält ein Kreditinstitut einen Zahlungseingang zu Gunsten einer GmbH, deren Konto einen debitorischen Saldo aufweist, innerhalb der letzten drei Monate vor dem Insolvenzantrag, so ist das Kreditinstitut auf Grund des Zahlungsdiensterahmenvertrages zur Gutschrift verpflichtet. Die damit verbundene Verrechnung im Kontokorrent kann jedoch unter Umständen nach den Tatbeständen der Deckungsanfechtung (§§ 130, 131 InsO) angefochten werden. Diese Tatbestände der Deckungsanfechtung haben für den Zahlungsverkehr in der Praxis die größte Bedeutung. Denn einerseits liegt angesichts des größtmöglichen Anfechtungszeitraums von drei Monaten vor dem Insolvenzantrag eine hinreichende zeitliche Nähe zur Krise des Schuld1 BGH v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, NZI 2013, 896 Rz. 20 = ZIP 2013, 1826. 2 BGH v. 20.6.2002 – IX ZR 177/99, WM 2002, 1690 = ZIP 2002, 1408; Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 54.

Kuder/Unverdorben | 117

4.28

§ 4 Rz. 4.28 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

ners vor, die dem Insolvenzverwalter den Nachweis der Anfechtungsvoraussetzungen in objektiver und subjektiver Hinsicht, sofern diese vorliegen, erlaubt. Zum anderen beruht der Gegenstand der Anfechtung, nämlich die Herbeiführung einer oder mehrerer Verrechnungslagen, meist nicht auf Handlungen des Schuldners, sondern seiner Drittschuldner, die Zahlungen zu Gunsten des Schuldners auf sein Konto bei einem Kreditinstitut leisten. Die Rückführung eines Kontokorrentkredits beruht aber immer auch auf einer Rechtshandlung des Schuldners, weil Zahlungen Dritter immer nur nach der Maßgabe der zwischen dem Schuldner und dem Kreditinstitut getroffenen Kontokorrentabrede Tilgungswirkung entfalten1.

4.29

Wegen der unterschiedlichen Voraussetzung der Anfechtung einer kongruenten Deckung nach § 130 InsO oder einer inkongruenten Deckung nach § 131 InsO muss dabei zunächst als Vorfrage geklärt werden, ob und unter welchen Voraussetzungen die Verrechnung eines Zahlungseingangs als kongruente oder inkongruente Sicherung oder Befriedigung anzusehen ist. Inkongruente Deckungen sind gemäß § 131 Abs. 1 InsO solche Zahlungseingänge, die das kontoführende Kreditinstitut nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte. Umgekehrt handelt es sich demnach um eine kongruente Deckung, wenn das Kreditinstitut auf die Zahlung in der konkreten Form einen fälligen Anspruch hatte. Da bei Zahlungseingängen auf ein Konto im Soll das Kreditinstitut einen Betrag in der eingegangenen Höhe und in der empfangenen Art zu beanspruchen hatte, hängt die Antwort auf diese Frage, ob die Rückführung eines debitorischen Saldos durch Verrechnung von Zahlungseingängen eine inkongruente Deckung oder eine kongruente Deckung darstellt, im Wesentlichen davon ab, ob das Kreditinstitut die Deckung auch zu dieser Zeit verlangen konnte. Maßgebend ist also, ob das Institut gegen den Kontoinhaber einen dem Zahlungseingang entsprechenden fälligen Zahlungsanspruch hatte. Dies wiederum richtet sich danach, welcher Art die Forderung des Kreditinstituts ist2:

4.30

Handelt es sich um eine nur geduldete, nicht aber vereinbarte oder zugesagte Überziehung des Girokontos oder handelt es sich um die nicht vereinbarte oder zugesagte Überziehung einer Kreditlinie, so kann das Kreditinstitut jederzeit Rückführung auf den vereinbarten Saldo verlangen; das Institut hat einen fälligen Anspruch auf Zahlung bis zum Ausgleich der Überziehung3. Es liegt also in einem solchen Fall beim Eingang einer Zahlung eine kongruente Deckung vor4. Allerdings kann auch bei einer zunächst bloß geduldeten Überziehung eine vertragliche Vereinbarung zur Duldung der Überziehung stillschweigend zu Stande kommen, so dass ein fälliger Anspruch des kontoführenden Kreditinstituts erst entsteht, wenn eine Kündigung erfolgt ist5. Ist der Darlehensvertrag wirksam gekündigt worden, stellt eine anschließende Rückzahlung des Darlehens aber wiederum eine kongruente Deckung dar6. 1 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, NZI 2014, 321 Rz. 9 = GmbHR 2014, 417 = ZIP 2014, 584; BGH v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, NZI 2013, 804 Rz. 15 = ZIP 2013, 1629. 2 Eingehend zu der nachfolgenden Differenzierung BGH v. 13.1.2005 – IX ZR 457/00, WM 2005, 319 = ZIP 2005, 585; BGH v. 17.6.1999 – IX ZR 62/98, WM 1999, 1577 ff. = ZIP 1999, 1271. S. dazu im Überblick auch Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 131 InsO Rz. 44 f. 3 BGH v. 13.1.2005 – IX ZR 457/00, WM 2005, 319; OLG München v. 21.12.2001 – 23 U 4002/01, ZIP 2002, 608. 4 Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 54; Kayser/ Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 131 InsO Rz. 44a. 5 BGH v. 13.1.2005 – IX ZR 457/00, WM 2005, 319 = ZIP 2005, 585; BGH v. 17.6.1999 – IX ZR 62/ 98, WM 1999, 1577, 1578 = ZIP 1999, 1271. 6 OLG Köln v. 15.9.2000 – 11 W 56/00, NZI 2001, 262; Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 54.

118 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.34 § 4

Handelt es sich dagegen um einen fest zugesagten und für eine bestimmte Zeit zur Verfügung gestellten Kredit, so erhält das Kreditinstitut durch Rückführung des Kredits aus den Zahlungseingängen eine Deckung, die es zu dieser Zeit nicht zu beanspruchen hatte, mithin eine inkongruente Deckung1. Dies gilt insbesondere auch für Annuitätendarlehen und sonstige Ratenkredite, die nicht auf dem laufenden Konto gewährt werden und bei denen keine Verrechnung, sondern allenfalls eine Aufrechnung in Betracht käme. Ausnahmsweise wäre hier jedoch die Aufrechnung nur als kongruente Deckung anfechtbar, wenn eine fällige Rate (für Zins oder Tilgung) aussteht und durch den Überweisungseingang gedeckt wird2.

4.31

Gleiches gilt bei einer zugesagten Kontokorrentkreditlinie, auch wenn diese bis auf weiteres, d.h. unbefristet, zugesagt war. Zwar kann eine solche Kreditlinie nach den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Kreditgewerbes (Nr. 19 Abs. 2 AGB-Banken, Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen) durch das Kreditinstitut jederzeit ohne Gründe ordentlich gekündigt werden3. Solange die Kreditlinie jedoch nicht gekündigt wurde, konnte das Institut die Rückführung zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs nicht verlangen. Eine Verrechnung eingehender Zahlungen kann daher, auch bei unbefristeten Kreditlinien, nur als kongruente Deckung angesehen werden, wenn und soweit zum maßgeblichen Zeitpunkt nach erfolgter Kündigung oder hinsichtlich einer Überziehung ein fälliger Anspruch des Kreditinstituts auf Rückführung der Kreditinanspruchnahme bestand4.

4.32

Soweit dagegen bei ungekündigter Kreditlinie Zahlungseingänge zu einer Rückführung des Kreditsaldos im maßgeblichen Anfechtungszeitraum führen, ist die darin liegende Kredittilgung als inkongruente Deckung anfechtbar, weil schon die Herstellung der Verrechnungslage auf Grund der Zahlungseingänge die anderen Insolvenzgläubiger des Kontoinhabers benachteiligt5. Die Höhe der anfechtbaren Verrechnungen ergibt sich dabei aus dem Betrag, um den während des gesamten Anfechtungszeitraums die verrechneten Einzahlungen die Auszahlungen überstiegen; der höchste Saldo im Anfechtungszeitraum ist unerheblich6. Soweit dagegen keine Rückführung des Kreditsaldos im Anfechtungszeitraum erfolgt ist, weil das Kreditinstitut die Kontokorrentabrede eingehalten, den Giroverkehr fortgesetzt und insbesondere unter Offenhaltung der eingeräumten Kreditlinie Zahlungsausgänge zugelassen hat, sind auch die Zahlungseingänge vertragsgemäße, also kongruente Deckungen (hierzu ausführlich Rz. 4.16 ff.).

4.33

Nach der Klärung der Vorfrage, ob es sich bei dem Zahlungseingang um eine kongruente oder eine inkongruente Deckung handelt, können die Voraussetzungen, unter denen eine An-

4.34

1 BGH v. 13.1.2005 – IX ZR 457/00, WM 2005, 319 = ZIP 2005, 585; Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 54. 2 So BGH v. 17.6.1999 – IX ZR 62/98, WM 1999, 1577 = ZIP 1999, 1271. 3 Die Wirksamkeit des ordentlichen Kündigungsrechts gemäß Nr. 19 Abs. 1 AGB-Banken bestätigt BGH v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519 Rz. 11 ff. = ZIP 2013, 304. 4 BGH v. 14.10.2010 – IX ZR 160/08, WM 2010, 2368 Rz. 6; BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 140/08, WM 2009, 1101 Rz. 9; BGH v. 17.6.1999 – IX ZR 62/98, WM 1999, 1577, 1578; KG v. 15.11.2010 – 24 U 103/09, WM 2011, 1184 (B, II, 4, a); Thole in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 131 InsO Rz. 16; Steinhoff, ZIP 2000, 1141, 1144. 5 BGH v. 14.10.2010 – IX ZR 160/08, WM 2010, 2368 Rz. 6 = ZIP 2010, 2460; BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 140/08, WM 2009, 1101 Rz. 9 = ZIP 2009, 1124; BGH v. 15.11.2007 – IX ZR 212/06, ZInsO 2008, 159 = ZIP 2008, 235; BGH v. 13.1.2005 – IX ZR 457/00, WM 2005, 319 = ZIP 2005, 585; BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 = ZIP 2002, 812. 6 BGH v. 7.7.2011 – IX ZR 100/10, WM 2011, 1523 Rz. 8 = ZIP 2011, 1576; BGH v. 15.11.2007 – IX ZR 212/06, WM 2008, 169; BGH v. 27.3.2008 – IX ZR 29/07, BeckRS 2008, 05759 = juris; KG v. 15.11.2010 – 24 U 103/09, WM 2011, 1184 (B, II, 4, a) = ZIP 2011, 535; Kirchhof, ZInsO 2003, 15.

Kuder/Unverdorben | 119

§ 4 Rz. 4.34 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

fechtung erfolgen kann, betrachtet werden. Ist der Zahlungseingang zu Gunsten der GmbH in der Krise bei dem kontoführenden Kreditinstitut als kongruente Deckung anzusehen, so ist dies nach § 130 InsO nur anfechtbar, wenn die GmbH zurzeit der Handlung zahlungsunfähig war und das Kreditinstitut die Zahlungsunfähigkeit kannte. Der positiven Kenntnis des Kreditinstituts von der Zahlungsunfähigkeit der GmbH steht dabei die Kenntnis von Umständen, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen lassen, gleich (§ 130 Abs. 2 InsO). Damit ist die Anfechtung eines Zahlungseingangs als kongruente Deckung im Vorfeld des Insolvenzantrags nur dann möglich, wenn sich die Krise des Schuldners schon so verfestigt hat, dass eine objektive Voraussetzung erfüllt ist, nämlich die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners vorliegt, und wenn auf Seiten des Gläubigers zusätzlich eine subjektive Voraussetzung erfüllt wird.

4.35

Handelt es sich dagegen bei dem Zahlungseingang zu Gunsten der GmbH in der Krise um eine inkongruente Deckung, ist die Verrechnung des Zahlungseingangs nach § 131 InsO unter wesentlich erleichterten Voraussetzungen anfechtbar. Ist der Zahlungseingang innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Insolvenzantrag der GmbH erfolgt und war die GmbH zu dieser Zeit bereits zahlungsunfähig, so ist die Anfechtung möglich, ohne dass es auf den Kenntnisstand des Anfechtungsgegners ankommt (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Ebenso ist die Anfechtung von Zahlungseingängen in diesem Zeitraum möglich, wenn die GmbH bei Zahlungseingang noch nicht zahlungsunfähig oder überschuldet, aber dem kontoführenden Kreditinstitut bekannt war, dass die Insolvenzgläubiger der GmbH benachteiligt werden (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Der Insolvenzverwalter muss in diesem Fall also beweisen, dass dem Kreditinstitut als Anfechtungsgegner die Benachteiligung der anderen Gläubiger positiv bekannt war. Ebenso reicht für die Anfechtung der Nachweis, dass das Kreditinstitut Kenntnis von Umständen hatte, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen (§ 131 Abs. 2 InsO). Schließlich ist die Verrechnung von Zahlungseingängen, die zu Gunsten des Kontos der GmbH im letzten Monat vor dem Insolvenzantrag erfolgt sind, bei Inkongruenz nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO grundsätzlich anfechtbar. Subjektive Momente sind für diesen Anfechtungstatbestand nicht erforderlich. Damit ist in jedem Fall einer inkongruenten Rückführung des Kontosaldos durch Zahlungseingänge im letzten Monat vor dem Insolvenzantrag die Verrechnung auf Grund eines späteren Kontoabschlusses anfechtbar und eine spätere Aufrechnung nach § 96 Nr. 3 InsO nicht mehr möglich. Die aus den Überweisungen eingegangenen Zahlungen müssen gemäß § 143 InsO an den Insolvenzverwalter zu Gunsten der Masse herausgegeben werden.

4.36

Ist gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG eine Restrukturierungssache anhängig, sind Anfechtungen gemäß §§ 130, 131 InsO grundsätzlich möglich. Insbesondere bei der Anfechtung einer kongruenten Deckung gemäß § 130 InsO werden allerdings die Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel nicht gegeben sein, da § 130 InsO an die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners und die Kenntnis des Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit anknüpft. Die Zahlungsunfähigkeit jedoch schließt den Zugang zum Restrukturierungsrahmen aus. Eine während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache eintretende Zahlungsunfähigkeit ist dem Restrukturierungsgericht gemäß § 32 Abs. 3 Satz 1 StaRUG vom Schuldner unverzüglich anzuzeigen. Im Anfechtungsprozess kann das Kreditinstitut eine vorschriftswidrig nicht durchgeführte Anzeige aber nicht für sich geltend machen.

b) Zahlungseingänge bis zu vier Jahren vor Insolvenzantrag 4.37

Von den Anfechtungsmöglichkeiten reicht die Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung nach § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO am weitesten zurück.

4.38

Nachdem die Rechtsprechung in den Jahren seit dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung den Anwendungsbereich der Vorsatzanfechtung immer weiter ausgedehnt hatte, steht in den letz120 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.44 § 4

ten Jahren das Bemühen im Vordergrund, diesen Tatbestand im Interesse der Rechtssicherheit für die Teilnehmer am Wirtschaftsleben wieder zu begrenzen. Zunächst hat der Gesetzgeber 2017 durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz1 die Vorsatzanfechtung von Deckungshandlungen, also Rechtshandlungen, die einem Gläubiger eine – kongruente oder inkongruente – Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, auf den Zeitraum der letzten vier Jahre vor Insolvenzantragstellung begrenzt (§ 133 Abs. 2 InsO). Mit seinem Urteil vom 6.5.20212 hat zudem der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung geändert und damit begonnen, diese insgesamt neu auszurichten. Er hat insbesondere die subjektiven Voraussetzungen für eine erfolgreiche Anfechtung deutlich angehoben. Dieses Urteil bildet dabei den „Startschuss“ für eine Neuausrichtung, die nunmehr fortlaufend vom Bundesgerichtshof selbst und den Instanzgerichten konkretisiert wird3.

4.39

Für die Vorsatzanfechtung von Zahlungseingängen gilt damit im Überblick Folgendes:

4.40

Da die Verrechnung von Zahlungseingängen eine Deckungshandlung darstellt, umfasst der maximale Anfechtungszeitraum insoweit nicht 10 Jahre vor dem Insolvenzantrag gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO, sondern gemäß § 133 Abs. 2 InsO lediglich vier Jahre. Daher kann die Verrechnung von Zahlungseingängen, die in den letzten vier Jahren vor dem Insolvenzantrag eingegangen sind, in einem nachfolgenden Insolvenzverfahren angefochten werden, wenn zum einen der Kontoinhaber bei Eingang der Zahlung den Vorsatz hatte, seine Gläubiger zu benachteiligen und zum anderen das kontoführende Kreditinstitut dies wusste, also Kenntnis von dem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Kontoinhabers hatte. Aus praktischen Gründen ist der zeitliche Anwendungsbereich der Vorsatzanfechtung jedoch noch deutlich beschränkter.

4.41

Einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz kann der Schuldner nur dann hegen, wenn im Zeitpunkt des Zahlungseingangs sein Vermögen objektiv nicht mehr ausreicht, seine Gläubiger sämtlich zu befriedigen, wenn er also schon überschuldet ist oder wenn er schon einen Anlass hatte, mit dem baldigen Eintritt einer Krise und einer nachfolgenden Insolvenz zu rechnen4. Im Ergebnis führt dies also dazu, dass nach § 133 Abs. 1 InsO eine Anfechtung nur dann in Betracht kommt, wenn zumindest schon die Krise des Kontoinhabers eingetreten war.

4.42

Sodann müssen für eine erfolgreiche Anfechtung subjektive Umstände festgestellt werden, nämlich der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Kontoinhabers und die Kenntnis des Kreditinstituts von diesem Vorsatz.

4.43

Dabei kann der Insolvenzverwalter die Kenntnis des Kreditinstituts vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Kontoinhabers entweder gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO durch vollen Beweis führen oder den Nachweis mittels der Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO erbrin-

4.44

1 Gesetz vom 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). Zu der der Gesetzesänderung vorangegangenen Diskussion in der Literatur vgl. statt vieler die umfassende Darstellung von Marotzke, ZInsO 2014, 417 ff. 2 BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 ff. m. Anm. Ganter. 3 Zur Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung Schubert, NZI 2021, 761 ff.; Maier, ZInsO 2021, 2005 ff.; Pape/Gehrlein, ZInsO 2021, 2061 ff. 4 Die reine Zahlungsunwilligkeit des Schuldners reicht nicht aus; Zahlungsunwilligkeit liegt aber nur vor, wenn gleichzeitig Zahlungsfähigkeit gegeben ist, BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 287/13, ZInsO 2014, 1661.

Kuder/Unverdorben | 121

§ 4 Rz. 4.44 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

gen. Wenn das kontoführende Kreditinstitut nämlich wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Kunden drohte und die Handlung dessen Gläubiger benachteiligte, wird seine Kenntnis von dem entsprechenden Vorsatz des Kontoinhabers vermutet.

4.45

Die Neuausrichtung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bezieht sich lediglich auf die Fälle, in denen der Insolvenzverwalter für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Kontoinhabers und die Kenntnis des Kreditinstituts davon den vollen Beweis gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO erbringt. Daneben kann er sich weiterhin auf die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO stützen1.

4.46

Zu unterscheiden ist, ob es sich bei dem Zahlungseingang um eine kongruente oder eine inkongruente Deckung handelt (zur Abgrenzung s. Rz. 4.29): (1) Inkongruente Deckung. Handelt es sich bei dem Zahlungseingang um eine inkongruente Deckung, spielt die Neuausrichtung der Vorsatzanfechtung durch den Bundesgerichtshof keine Rolle; diese ändert nur die Rechtsprechung im Hinblick auf kongruente Deckungen2.

4.47

Stützt sich der anfechtende Insolvenzverwalter zum Nachweis der Kenntnis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes auf die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO, wird die Kenntnis des Kreditinstituts von dem entsprechenden Vorsatz des Kontoinhabers vermutet, wenn das Kreditinstitut wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Kunden drohte und die Handlung dessen Gläubiger benachteiligte.

4.48

Das Kreditinstitut muss also lediglich die tatsächlichen Umstände kennen, aus denen sich bei zutreffender Betrachtung die zumindest drohende Zahlungsunfähigkeit des Kontoinhabers zweifelsfrei ergibt3. Ist das Kreditinstitut aber so gut besichert, dass es im Hinblick auf den Wert der Sicherheiten und der besicherten Forderung davon ausgehen durfte, dass es auch im Fall einer Insolvenz des Kreditnehmers auf Grund der Sicherungsrechte umfassende Befriedigung erhält, ist eine Kenntnis von einem etwaigen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ausgeschlossen4. Nach der von der Rechtsprechung entwickelten Lehre von den Beweisanzeichen5 stellt die Tatsache, dass der Zahlungseingang bei gleichzeitig beengten finanziellen Verhältnissen zu einer inkongruenten Deckungführt, ein starkes Indiz für einen Benachteiligungsvorsatz dar6.

4.49

(2) Kongruente Deckung. Handelt es sich bei dem Zahlungseingang hingegen um eine kongruente Deckung, ist die Anfechtung deutlich erschwert. Zum einen greift die gesetzliche Vermutung der Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners gemäß § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO gemäß § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO erst bei Kenntnis des Kreditinstituts von der eingetretenen Zahlungsunfähigkeit 1 BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 30 ff., 49 = ZIP 2021, 1447; BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, NZI 2022, 385 Rz. 109 = ZIP 2022, 589; BGH v. 23.6.2022 – IX ZR 75/21, ZIP 2022, 1608 Rz. 29. 2 BGH v. 23.6.2022 – IX ZR 75/21, ZIP 2022, 1608 Rz. 40. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.204. 4 Für den Fall dinglicher Besicherung BGH v. 3.7.2014 – IX ZR 233/12, juris; BGH v. 9.2.2012 – IX ZR 48/11, NZI 2012, 514 Rz. 3 ff. 5 Ausführlich hierzu Huber, ZInsO 2012, 53 ff. 6 Vgl. nur BGH v. 17.9.2020 – IX ZR 174/19, NZI 2020, 1101 Rz. 18 = ZIP 2020, 2135; BGH v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, NZI 2017, 669 Rz. 24 = ZIP 2017, 1233; BGH v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, ZIP 2013, 2368 Rz. 12.

122 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.52 § 4

des Schuldners; die Kenntnis von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit reicht bei kongruenten Deckungen nicht aus. Zum anderen kommt die neuere Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung beim vollen Beweis gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO zum Tragen:

4.50

Selbst eine bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Schuldner mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz handelt. Erforderlich ist vielmehr eine „vertiefte Zahlungsunfähigkeit“. Der anfechtende Insolvenzverwalter muss zusätzlich darlegen und beweisen können, dass der Schuldner es billigend in Kauf nahm, seine Gläubiger auch künftig nicht befriedigen zu können1. Die eingetretene Zahlungsunfähigkeit stellt lediglich ein Indiz für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners dar. Hinzutreten muss die auch künftig fehlende Schuldendeckungsfähigkeit2. Bestehen keine Aussichten auf eine nachhaltige Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit, ist regelmäßig der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz anzunehmen. Erscheint die Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit allerdings möglich, insbesondere in Fällen, in denen die Deckungslücke überschaubar ist, kann nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass der Schuldner mit Benachteiligungsvorsatz gehandelt hat3. Wie stark dieses Indiz wirkt, hängt daher maßgeblich von der Tiefe der Zahlungsunfähigkeit und von den Möglichkeiten des Schuldners ab, seine Zahlungsfähigkeit wieder herzustellen. Die Feststellung einer Zahlungseinstellung durch den Schuldner kann vom Insolvenzverwalter durch eine ausdrückliche Erklärung des Schuldners dargelegt werden, zahlungsunfähig zu sein oder seine fälligen Verbindlichkeiten nicht binnen drei Wochen zahlen zu können4. Liegt eine solche Erklärung des Schuldners nicht vor, müssen weitere Umstände dazukommen, die mit hinreichender Gewissheit ein Gewicht erreichen, das einer solchen Erklärung gleichkommt. Bloße Zahlungsverzögerungen sind für sich genommen nicht ausreichend; die gesamten Umstände müssen erkennen lassen, dass die verzögerten Zahlungen auf einen Liquiditätsmangel des Schuldners zurückzuführen sind5. Das gilt auch für das Zahlungsverhalten gegenüber Sozialversicherungsträgern6. Auch ein dauerhaft schleppendes Zahlungsverhalten des Schuldners, das sich auch auf den Zeitraum vor der Zahlungseinstellung bezieht, lässt für sich allein genommen nicht den Schluss auf eine später eingetretene Zahlungseinstellung zu7.

4.51

Auch die Fortdauer einer vor dem für die Anfechtung relevanten Zeitpunkt eingetretenen Zahlungsunfähigkeit bis zu dem für die Anfechtung maßgeblichen Zeitpunkt wird nunmehr nur noch unter bestimmten Umständen vermutet. Auch hier hängen die Stärke und Dauer der Vermutung davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist. Während bislang der Nachweis der Wiederaufnahme der Zahlungen von dem Anfechtungsgegner zu führen war, ist damit nach der neueren Rechtsprechung jetzt der Insolvenzverwalter belastet8.

4.52

1 2 3 4 5 6 7 8

BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 36 = ZIP 2021, 1447. Gehrlein/Pape, ZInsO 2021, 2061, 2062 f. BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 46 ff. = ZIP 2021, 1447. BGH v. 10.2.2022 – IX ZR 148/19, NZI 2022, 397 Rz. 22 = ZIP 2022, 537; BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 41 = ZIP 2021, 1447. BGH v. 28.4.2022 – IX ZR 48/21, NZI 2022, 733 ff. m. Anm. Bangha-Szabo = ZIP 2022, 1341; BGH v. 10.2.2022 – IX ZR 148/19, NZI 2022, 397 Rz. 17 ff. = ZIP 2022, 537; BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 41 = ZIP 2021, 1447. BGH v. 28.4.2022 – IX ZR 48/21, NZI 2022, 733 Rz. 31 ff. = ZIP 2022, 1341. BGH v. 10.2.2022 – IX ZR 148/19, NZI 2022, 397 Rz. 22 = ZIP 2022, 537. BGH v. 10.2.2022 – IX ZR 148/19, NZI 2022, 397 Rz. 19 = ZIP 2022, 537; BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 43 ff. = ZIP 2021, 1447.

Kuder/Unverdorben | 123

§ 4 Rz. 4.53 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

4.53

Des Weiteren ist die lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit kein ausreichendes Indiz für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners. Hierzu bedarf es weiterer Indizien wie beispielsweise die Befriedigung einzelner Gläubiger außerhalb des ordnungsgemäßen Geschäftsverlaufs1.

4.54

Es kann bei einer kongruenten Leistung vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit davon ausgegangen werden, dass der Kontoinhaber in erster Linie seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommen wollte und nicht mit dem Vorsatz, seine anderen Gläubiger zu benachteiligen, gehandelt hat2.

4.55

Auch die insolvenzrechtliche Überschuldung stellt ein eigenes Beweisanzeichen für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners dar, da die im Überschuldungstatbestand gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO enthaltene negative Fortführungsprognose den späteren Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlich macht. Welches Gewicht diesem Beweisanzeichen beizumessen ist, hängt davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Überschuldung den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners erwarten lässt und wann deren Eintritt bevorstehen könnte3.

4.56

Auch die Verrechnung von Überweisungseingängen, bei denen die Gutschrift auf Zahlungsaufträge von Drittschuldnern zurückgeht, kann nach § 133 InsO anfechtbar sein. Es genügt für § 133 InsO eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung. Damit kommen als Anknüpfungspunkt für eine Anfechtbarkeit wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung alle Handlungen des Schuldners in Betracht, die unter Inkaufnahme einer mindestens mittelbaren Benachteiligung seiner übrigen Gläubiger darauf gerichtet sind, für einen das Kreditinstitut begünstigenden Zahlungseingang auf dem Kontokorrentkonto zu sorgen. Damit kann eine Anfechtbarkeit insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schuldner in Phasen angespannter Liquidität seine Drittschuldner mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz zur Zahlung auf ein bestimmtes Girokonto auffordert und dem kontoführenden Institut diese Absicht im maßgebenden Zeitpunkt, nämlich bei Eingang der buchmäßigen Deckung bei ihm, bekannt war.

4.57

Eine Anfechtung kann gleichwohl ausscheiden, sofern ausnahmsweise bei der Rückführung der offenen Linie ein Bargeschäft im Sinne des § 142 InsO vorliegt. Dann kann die Verrechnung des Zahlungseingangs nur erfolgen, wenn eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung eingetreten ist und der Schuldner nicht nur mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, sondern unlauter gehandelt hat4. Zudem muss der andere Teil erkannt haben, dass der Schuldner unlauter handelte, vgl. dazu Rz. 4.21 ff.

4.58

In den Fällen, in denen eine Restrukturierungssache gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG rechtshängig war oder die GmbH Instrumente des Stabilisierungs- oder Restrukturierungsrahmens in Anspruch genommen hat, gilt im Hinblick auf die Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO Folgendes:

4.59

Gemäß § 89 Abs. 1 StaRUG kann die tatbestandlich erforderliche Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht allein auf die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten des Stabilisierungsoder Restrukturierungsrahmens gestützt werden. Damit scheidet auch die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO bei Kenntnis einer drohenden Zahlungsunfähigkeit aus. Denn die drohende Zahlungsunfähigkeit geht zwangsläufig mit den vorstehenden Tatsachen einher. An1 2 3 4

BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 Rz. 40 = ZIP 2021, 1447. Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 33. BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 53/19, NZI 2022, 476 Rz. 14 ff. = ZIP 2022, 704. Kirchhof/Piepenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 37.

124 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.82 § 4

dere Umstände, die üblicherweise mit der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache einhergehen, verlieren ihre Indizwirkung demgegenüber nicht. Auch wenn das Gesetz dies nicht ausdrücklich regelt, ist nach dem Ziel des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens die Kenntnis von Umständen, die der Schuldner im Zusammenhang mit den beim Restrukturierungsgericht einzureichenden Unterlagen (insb. Restrukturierungskonzept oder -plan) offenlegt, im Rahmen der Anfechtung unbeachtlich. Allerdings schließt § 89 Abs. 1 StaRUG nicht aus, dass der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz gemäß § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO bei Vorliegen anderer Indizien als der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache gleichwohl vom Insolvenzverwalter dargelegt und bewiesen werden kann1. In dem Fall, dass während der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache Insolvenzreife eintritt und das Gericht auf eine vom Schuldner vorgenommene Anzeige der Insolvenzreife hin die Restrukturierungssache § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StaRUG entsprechend nicht aufhebt, kann gemäß § 89 Abs. 2 StaRUG die Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz auch nicht auf die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung gestützt werden2. Ausdrücklich setzt dieser Tatbestand voraus, dass der Schuldner dem Restrukturierungsgericht seine Insolvenzreife angezeigt hat und dieses von einer Aufhebung der Restrukturierungssache absieht. Zweck dieser Regelung ist es, die Gläubiger zu motivieren, die Restrukturierung aktiv zu begleiten. Im Hinblick darauf muss aber dasselbe für den Zeitraum vor der Anzeige sowie in den Fällen gelten, in denen der Schuldner die Anzeige unterlässt bzw. das Restrukturierungsgericht die Restrukturierungssache aufhebt.

4.60

4. Eingänge in der Insolvenz Zu Überweisungseingängen nach Stellung des Insolvenzantrags s. Rz. 16.66 ff. Zu Überweisungseingängen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens s. Rz. 27.2 ff. Einstweilen frei.

4.61

4.62–4.80

III. Zahlungsausgänge Während bei Zahlungseingängen zu Gunsten der GmbH in der Krise bei anschließender Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu prüfen ist, ob das kontoführende Kreditinstitut diese Eingänge „behalten“, also mit einem Debetsaldo auf dem Konto oder mit sonstigen Forderungen verrechnen darf, stellt sich bei Zahlungsaufträgen der GmbH, die zu Zahlungsausgängen führen, eine umgekehrte Frage. Hier wird nämlich im Insolvenzverfahren darum gestritten, ob solche Zahlungsausgänge vom Kreditinstitut wirksam von einem Guthaben des Kontoinhabers und Schuldners „abgezogen“, also damit verrechnet werden können oder ob dem Insolvenzverwalter ein Anspruch auf Auszahlung des ungekürzten Guthabens in die Insolvenzmasse zusteht.

4.81

1. Grundstrukturen am Beispiel der Überweisung Für die insolvenzrechtliche Betrachtung werden alle Zahlungsaufträge, die ein Kreditinstitut im Auftrag des Kontoinhabers zu Lasten des Kontos ausführt, von der Rechtsprechung als 1 Hölzle/Curtze, ZIP 2021, 1293, 1301. 2 Schelo, WM 2021, 513, 519.

Kuder/Unverdorben | 125

4.82

§ 4 Rz. 4.82 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Verfügungen des Schuldners über sein Vermögen, also das Kontoguthaben bei seinem Kreditinstitut angesehen1. Dies gilt auch für die Überweisung.

4.83

Nach dem seit 2009 geltenden Zahlungsdiensterecht bildet der Zahlungsdiensterahmenvertrag (Girovertrag) gemäß § 675f Abs. 2 BGB die Grundlage der Überweisung. Bei der einzelnen Überweisung handelt es sich um eine auftragsrechtliche Weisung des Zahlungsdienstnutzers gemäß § 665 BGB im Rahmen des Zahlungsdiensterahmenvertrages an seinen Zahlungsdienstleister.

4.84

Der im Rahmen eines Zahlungsdiensterahmenvertrages erteilte Überweisungsauftrag ist eine einseitige Weisung und bedarf keiner Annahme. Er beinhaltet zugleich die nach § 675j Abs. 1 BGB erforderliche Autorisierung des Zahlungsvorgangs2. Das Kreditinstitut ist auf Grundlage des Zahlungsdiensterahmenvertrages gemäß § 675f Abs. 2 Satz 1 BGB verpflichtet, den ihm erteilten Zahlungsauftrag auszuführen, sofern die vereinbarten Ausführungsbedingungen erfüllt und die Ausführung nicht gegen sonstige Rechtsvorschriften verstößt (§ 675o Abs. 2 BGB).

2. Ausführung vor Zahlungsunfähigkeit und Insolvenzantrag 4.85

Bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann der Bankkunde, sofern kein allgemeines Verfügungsverbot erlassen ist (§§ 21, 24 InsO), unbeschränkt über sein Vermögen verfügen. Demgemäß kann die GmbH auch noch in der Krise wirksam Zahlungsaufträge, insbesondere auch Überweisungsaufträge, erteilen. Das Kreditinstitut ist auf Grund des Zahlungsdiensterahmenvertrages (§ 675f Abs. 2 BGB) verpflichtet, bei ausreichender Deckung bzw. verfügbarer Kreditlinie den Zahlungsauftrag auszuführen. Führt das Kreditinstitut diese Zahlungsaufträge noch vor der Zahlungsunfähigkeit der GmbH oder ihrem Insolvenzantrag aus, so erwirbt das Kreditinstitut – unanfechtbar – einen Aufwendungsersatzanspruch, den das Institut in das Kontokorrent einstellen kann3. In Höhe dieses Aufwendungsersatzanspruchs ermäßigt sich ein etwaiger Guthabensaldo; ein debitorischer Saldo erhöht sich entsprechend4.

4.86

Ist das Konto der GmbH als Ursprungskonto in einen Cash-Pool eingebunden und werden Guthaben von diesem Konto im Rahmen des Cash-Pool-Vertrages am Tagesende auf das für eine andere Konzerngesellschaft geführte Zielkonto übertragen (zum umgekehrten Fall eines Zahlungseingangs s. Rz. 4.20 f.), ist die Umbuchung gegenüber dem Kreditinstitut nicht als Deckungsanfechtung gemäß §§ 130, 131 InsO anfechtbar, da das Kreditinstitut hier lediglich als Leistungsmittler eingeschaltet ist5. In Frage kommt nur eine Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung unter den engen Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO. Sofern sich jedoch das Kreditinstitut auf seine reine Zahlstellenfunktion beschränkt und sich jeglicher steuernder Eingriffe in den Cash-Pool enthält, ist für den Vorwurf einer vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung kein Raum6. Das Gleiche gilt in der Konstellation, dass es sich bei dem Konto der GmbH um das Zielkonto des Cash-Pools handelt: Zahlungsausgänge können gegenüber dem Kreditinstitut nur angefochten werden, wenn dieses seine Rolle als reine Zahlstelle verlassen hat und die Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO vorliegen. 1 Für die Gleichstellung von Überweisung und Barauszahlung direkt an den Schuldner ausdrücklich BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138. 2 Schmieder in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 28 Rz. 2 ff. 3 BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 140/08, WM 2009, 1101 Rz. 11 = ZIP 2009, 1124; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/128 (142. Lfg. 2019). 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.8. 5 BGH v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, NZI 2013, 896 Rz. 22 = ZIP 2013, 1826. 6 BGH v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, NZI 2013, 896 Rz. 23 ff. = ZIP 2013, 1826.

126 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.104 § 4

3. Ausführung in der Insolvenz Zur Ausführung von Zahlungsaufträgen nach Zahlungsunfähigkeit und Insolvenzantrag s. Rz. 16.69 ff.; zur Ausführung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens s. Rz. 27.4 ff.

4.87

4. Besonderheiten im Lastschriftverkehr 4.88

Zu Besonderheiten im Lastschriftverkehr s. Rz. 17.41 ff. und Rz. 27.9 ff. Einstweilen frei.

4.89–4.100

IV. Kreditbesicherung in der Krise Mit der Krise der GmbH geht eine gravierende Verschlechterung ihrer Kreditwürdigkeit einher. Deshalb suchen Kreditinstitute (und andere Gläubiger) der GmbH in der Krise des Schuldners nach Wegen zur Begrenzung des Kreditrisikos. Eine der Möglichkeiten, die sich hier anbieten, ist die Hereinnahme von (zusätzlichen) Kreditsicherheiten. Dabei müssen sich die Kreditinstitute aber im Klaren sein, dass spätestens mit dem Eintritt der Krise das Gesetz, vor allem im Interesse der Gleichstellung aller Gläubiger, aber auch zum Erhalt der wirtschaftlichen Freiheit des Kreditnehmers, Grenzen für die wirksame Besicherung zieht. Diese finden ihre Ausprägung in den Tatbeständen der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) und dem allgemeinen Verbot sittenwidrigen Handelns (§ 138 BGB).

4.101

Um diese Grenzen der Kreditbesicherung in der Krise zu beurteilen, muss – vor allen Dingen im Hinblick auf die Anfechtung – zwischen der Besicherung von neu oder zusätzlich ausgereichten Krediten (dazu Rz. 4.103 ff.) und der nachträglichen Besicherung von bereits gewährten Darlehen (dazu Rz. 4.109 ff.) unterschieden werden. Soweit die Kreditbesicherung im Zeitraum vor der Insolvenz auch an die allgemeine Wirksamkeitsschranke der Sittenwidrigkeit (dazu Rz. 4.152 ff.) stößt, ist diese Unterscheidung von geringerer Bedeutung (zur Kreditbesicherung im Insolvenzeröffnungsverfahren s. Rz. 17.7 f. und zur Kreditbesicherung im eröffneten Insolvenzverfahren s. Rz. 27.32 ff.).

4.102

1. Besicherung neu gewährter Kredite Im Hinblick auf Anfechtungstatbestände ist eine Besicherung in der Krise weitgehend unproblematisch, wenn der Kreditgeber angesichts des gestiegenen Kreditrisikos die Bestellung von Sicherheiten für neu zu gewährende Kredite von der GmbH verlangt. Hier ist nämlich, obwohl die Sicherheitenbestellung schon in der Krise der GmbH erfolgt, die Anfechtung in einem nachfolgenden Insolvenzverfahren der GmbH in der Regel ausgeschlossen, weil ein Bargeschäft vorliegt.

4.103

Die Insolvenzordnung regelt in § 142 Abs. 1 InsO ausdrücklich, dass eine Anfechtung ausgeschlossen ist, wenn für die Leistung des Schuldners unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung in dessen Vermögen gelangt. Dabei hat sich der Gesetzgeber entscheidend von der wirtschaftlichen Überlegung leiten lassen, dass ein Schuldner, der sich in der Krise befindet, praktisch vom Geschäftsverkehr ausgeschlossen wäre, wenn selbst die von ihm abgeschlossenen Bargeschäfte mit dem Risiko der Anfechtung behaftet wären1.

4.104

1 Ausführlich zu dieser Überlegung des Gesetzgebers Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 161 RegE, S. 167.

Kuder/Unverdorben | 127

§ 4 Rz. 4.105 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

4.105

Für die Besicherung von Krediten, die in der Krise neu gewährt werden, bedeutet dies, dass die Bestellung von Sicherheiten in aller Regel nicht anfechtbar ist, wenn sie in engem zeitlichem Zusammenhang zur Kreditgewährung erfolgt1. Dies ist gerade bei der Bestellung von Sicherheiten für Sanierungskredite von Bedeutung. Denn damit ist die Anfechtung ausgeschlossen, wenn der Wert der für den Sanierungskredit bestellten Sicherheiten die Höhe des Kredites nicht wesentlich übersteigt, und zwar selbst dann, wenn die Sanierung scheitert und zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Kreditbetrag im Schuldnervermögen nicht mehr vorhanden ist. Eine Anfechtung kommt aber da in Betracht, wo sich der Kreditgeber für den Sanierungskredit Sicherheiten bestellen lässt, deren Wert außer Verhältnis zur Kredithöhe steht2. Bei Umlaufsicherheiten wie der Sicherungsübereignung eines Warenlagers oder der Globalzession der Forderungen aus Lieferungen und Leistungen ist dabei bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit ein in der Praxis üblicher Risikozuschlag von 50 % des Schätzwertes hinzunehmen3. Ebenso geht die Rechtsprechung davon aus, dass insgesamt kein Bargeschäft, sondern ein in vollem Umfang anfechtbares Rechtsgeschäft vorliegt, wenn eine Kreditsicherheit zugleich ein im Gegenzug neu gewährtes Darlehen und andere Forderungen des Kreditgebers aus schon früher gewährten Krediten abdecken soll, ohne dass festzustellen ist, ob und in welchem Umfang sich die Sicherheitenbestellung auf bestimmte Ansprüche bezieht. Eine andere Beurteilung ist nur gerechtfertigt, falls ein Rangverhältnis in der Weise festgelegt ist, dass die Sicherheit vorrangig die Forderung aus dem Sanierungskredit abdecken soll4.

4.106

Zu beachten ist weiterhin, dass gerade die vereinbarten Leistungen erbracht werden müssen. Dabei können die Beteiligten ihre Vereinbarungen längstens bis zu dem Zeitpunkt abändern, in dem die erste Leistung erbracht wird5. Für die Kreditbesicherung in der Krise bedeutet dies, dass kein unanfechtbares Bargeschäft vorliegt, wenn zunächst der Kredit ausgezahlt und anschließend – selbst in engem zeitlichem Zusammenhang – einvernehmlich eine andere als die vereinbarte Sicherheit bestellt wird6.

4.107

Hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhangs gilt, dass der Leistungsaustausch nicht Zug um Zug erfolgen muss; eine für die Bestellung der jeweiligen Sicherheit übliche, kurze Verzöge1 BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, NZI 2010, 339 Rz. 13; BGH v. 26.1.1977 – VIII ZR 122/75, NJW 1977, 718 = ZIP 2010, 739; Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 21; Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 45 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.88 ff. Zum Nichtvorliegen eines Bargeschäfts bei revolvierenden Kreditsicherheiten BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 204 Rz. 40 ff. = ZIP 2008, 183. 2 Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 21, 24; Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 45 f. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.92. 4 BGH v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, WM 1993, 270; OLG Hamburg v. 26.10.1984 – 11 U 168/83, WM 1984, 1616; zur Rechtslage auf Grund dieser Entscheidungen auch Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 20, § 143 InsO Rz. 31; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.103, geht auf Grund BGH v. 11.11.1993 – IX ZR 257/92, ZIP 1994, 40, davon aus, dass eine bloße Teilanfechtung nur der Besicherung des Altkredits auch ohne Vereinbarung eines Rangverhältnisses dann in Betracht kommt, wenn das Rechtsgeschäft der Sicherheitenbestellung teilbar ist. 5 Zur Bedeutung der Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung durch die Parteivereinbarung s. Begründung zum Regierungsentwurf der Insolvenzordnung (RegE), BR-Drucks. 1/92, § 161 RegE, S. 167. 6 BGH v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, WM 1993, 2099 = ZIP 1993, 1653; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.102.

128 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.109 § 4

rung schadet nicht1. Insbesondere bei Besicherung eines Kredites durch Grundschulden ist die noch zulässige Zeitspanne zwischen Kreditauszahlung und der maßgeblichen Grundbucheintragung großzügig zu bemessen. So wurde beispielsweise ein unanfechtbares Bargeschäft auch dann noch angenommen, als ein Kredit gegen Grundschuldbesicherung gewährt und die Grundschuld erst zweieinhalb Monate oder sogar vier Monate nach Auszahlung des Kredits im Grundbuch eingetragen wurde, sofern die Beteiligten die Verzögerung nicht zu vertreten hatten2. Ebenfalls scheidet eine Anfechtung der Bestellung von Kreditsicherheiten in den letzten vier Jahren vor dem Insolvenzantrag gemäß § 133 Abs. 1, 2 InsO aus, wenn die Voraussetzungen eines Bargeschäfts vorliegen. Wie unter Rz. 4.21 näher ausgeführt, ist die Anfechtung eines Bargeschäfts nach § 133 Abs. 1–3 InsO gemäß § 142 Abs. 1 InsO seit der Änderung des Anfechtungsrechts durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz3 nur noch möglich, wenn eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung eingetreten ist und der Schuldner nicht nur mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, sondern unlauter gehandelt hat4. Da die GmbH aber einen für die Sanierung benötigten Kredit besichern möchte, scheidet ein Handeln mit Gläubigerbenachteiligungsabsicht im Sinne eines dolus directus aus. Keine Absicht zur Gläubigerbenachteiligung liegt ebenfalls dann vor, wenn der neue Kredit auf der Basis eines schlüssigen Sanierungskonzepts zu einem Sanierungsversuch beiträgt, der im Interesse des Kreditnehmers und allen Gläubigern liegt5.

4.108

2. Anspruch auf Nachbesicherung bestehender Kredite Gerät der Kreditnehmer in eine Krise, so werden die Kreditgeber aber nicht nur für neue Kredite (sofern diese überhaupt noch gewährt werden) eine Besicherung fordern, sondern zur Verringerung des Kreditrisikos regelmäßig erwägen, die Bestellung bzw. Verstärkung von Sicherheiten auch für bereits bestehende Kredite zu verlangen. Dabei können sich Kreditinstitute auf die Regelungen in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen (Nr. 13 Abs. 2 AGBBanken, Nr. 22 Abs. 1 AGB-Sparkassen) stützen6. Denn dort ist vereinbart, dass das Kreditinstitut auch dann, wenn bei der Kreditgewährung zunächst von der Bestellung von Sicherheiten ganz oder teilweise abgesehen worden ist, die Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten nachträglich verlangen kann. Voraussetzung ist, dass Umstände eintreten oder bekannt werden, die eine erhöhte Risikobewertung der Ansprüche gegen den Kunden rechtfertigen, 1 Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 29. 2 BGH v. 26.1.1977 – VIII ZR 122/75, WM 1977, 254; OLG Hamburg v. 26.10.1984 – 111 U 168/83, WM 1984, 1616 = ZIP 1984, 1373; OLG Brandenburg v. 21.3.2002 – 8 U 71/01, ZInsO 2002, 929 ff. Ein Zeitraum von sechs Monaten zwischen Kreditgewährung und Abtretung einer Grundschuld ist nach Ansicht des BGH v. 8.5.2008 – IX ZR 116/07, MittBayNot 2009, 61 m. Anm. Kesseler, aber zu lang. 3 Gesetz vom 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). 4 Kirchhof/Piepenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 37. 5 BGH v. 3.4.2014 – IX ZR 201/13, WM 2014, 1009 = ZIP 2014, 1032; BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, WM 2013, 763 = GmbHR 2013, 529 m. Anm. Blöse; KG v. 20.10.2000 – 14 U 9911/99, WM 2001, 2054; Ganter, NZI 2014, 673, 675; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.89. 6 Dazu Bunte in Bunte/Zahrte, AGB-Banken, AGB-Sparkassen, Sonderbedingungen, 5. Aufl. 2019, Rz. 275 ff.; Bunte/Artz in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 3 Nr. 13 AGB-Banken Rz. 18 ff.; Mackenthun in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/356 ff. (125. Lfg.).

Kuder/Unverdorben | 129

4.109

§ 4 Rz. 4.109 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

insbesondere falls sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kunden nachhaltig verändert haben oder zu verändern drohen, also eine Krise eingetreten ist. Die Rechtswirksamkeit dieses Nachbesicherungsanspruchs hat die Rechtsprechung in mehreren Entscheidungen anerkannt, weil die Kreditinstitute ein schutzwürdiges Interesse an der Sicherung ihrer Kredite haben1. Der Nachbesicherungsanspruch besteht nur dann nicht, wenn vereinbart ist, dass der Kunde keine oder ausschließlich im Einzelnen benannte Sicherheiten zu bestellen hat2. Für die Kreditpraxis ist besonders wichtig, dass eine solche Vereinbarung außerhalb des Verbraucherkreditrechts nicht schon dann stillschweigend getroffen ist, wenn im Kreditvertrag keine oder lediglich bestimmte Sicherheiten vereinbart sind3. Jedoch sollten Kreditgeber auf Bestimmungen im Kreditvertrag verzichten, nach denen der Kredit „blanko“ oder „unbesichert“ gewährt wird, da darin ein individualvertraglicher Ausschluss des AGB-Nachbesserungsanspruchs gesehen werden kann.

4.110

Allerdings müssen die Kreditinstitute, wenn sie ihren Nachbesicherungsanspruch für bereits ausgereichte Kredite durchsetzen, die Risiken der Anfechtung genauso in Kauf nehmen wie sonstige Kreditgeber, die eine Nachbesicherung auf Grund von Verhandlungen erreichen. Denn in diesen Fällen erfolgt die Besicherung ohne unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang nach der Kreditgewährung, so dass kein Bargeschäft vorliegt und die Bestellung der Kreditsicherheit anfechtbar sein kann. Ein unberechtigtes Nachbesicherungsverlangen löst aber keine Schadensersatzpflichten aus, weil darin keine Verletzung von Vertragspflichten durch das Kreditinstitut zu sehen ist4.

3. Bestellung von Drittsicherheiten 4.111

Die Anfechtung der nachträglichen Besicherung in der Insolvenz der kreditnehmenden GmbH ist ausgeschlossen, sofern die Sicherheit nicht aus dem Vermögen der von der Krise bedrohten GmbH selbst, sondern von Dritten bestellt wird. Denn gemäß § 129 InsO sind nur solche Rechtshandlungen anfechtbar, die die Insolvenzgläubiger benachteiligen. Drittsicherheiten werden in der Praxis häufig entweder von den Gesellschaftern und/oder Geschäftsführern der GmbH sowie deren Angehörigen (zur Sicherheitenbestellung durch diesen Personenkreis s. ausführlich Rz. 27.121 ff.) bestellt. Insbesondere bei Konzernfinanzierungen stellen aber 1 BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1176; BGH v. 18.12.1980 – III ZR 157/78, WM 1981, 150 = ZIP 1981, 144; BGH v. 9.6.1983 – III ZR 105/82, WM 1983, 926 = ZIP 1983, 1053; OLG Celle v. 15.10.1983 – 3 U 16/83, m. zust. BGH-Beschluss v. 28.5.1984 – III ZR 231/82, WM 1984, 1175 = ZIP 1984, 1324; alle Urteile noch zu Nr. 19 AGB-Banken alter Fassung, die der Bank sogar „jederzeit“ einen nicht an objektive Voraussetzungen geknüpften Anspruch auf die Bestellung von Sicherheiten gab. Die Wirksamkeit der Regelung in Nr. 13 Abs. 2 AGB-Banken wird anerkannt durch BGH v. 3.12.1998 – IX ZR 313/97, WM 1999, 12, 14; OLG Nürnberg v. 31.7.2012 – 14 U 1737/11, WM 2012, 1866 (implizit) = ZIP 2012, 2051; OLG Hamm v. 7.5.2001 – 31 U 196/00, WM 2001, 2438 (implizit). 2 So die ausdrückliche Regelung in Nr. 13 Abs. 2 AGB-Banken im Anschluss an die frühere Rechtsprechung zu Nr. 19 AGB-Banken a.F.: BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1176; BGH v. 18.12.1980 – III ZR 157/78, WM 1981, 150 = ZIP 1981, 144; BGH v. 9.6.1983 – III ZR 105/82, WM 1983, 926; OLG Celle v. 15.10.1983 – 3 U 16/83, WM 1984, 1175, m. zust. BGH-Beschluss v. 28.5.1984 – III ZR 231/82, WM 1984, 1175 = ZIP 1984, 1324. 3 BGH v. 18.12.1980 – III ZR 157/78, WM 1981, 150 = ZIP 1981, 144; BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1176; BGH v. 9.6.1983 – III ZR 105/82, WM 1983, 926 = ZIP 1983, 1053; OLG Celle v. 15.10.1983 – 3 U 16/83, m. zust. BGH-Beschluss v. 28.5.1984 – III ZR 231/82, WM 1984, 1175 = ZIP 1984, 1324. 4 OLG Hamm v. 7.5.2001 – 31 U 196/00, WM 2001, 2438.

130 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.114 § 4

auch Tochtergesellschaften oder sonstige zum Konzern des Kreditnehmers gehörende Gesellschaften Sicherheiten, sog. Upstream-Sicherheiten (s. hierzu ausführlich Rz. 4.114 ff.).

a) Keine Anfechtung Eine Benachteiligung der Insolvenzgläubiger liegt nur vor, wenn sie in ihrer Gesamtheit objektiv benachteiligt werden, weil die haftende Aktivmasse des Schuldnervermögens durch belastende Verfügungen oder sonstige Beeinträchtigungen verkleinert und damit die Befriedigungsmöglichkeit der Gläubiger beeinträchtigt wird. Damit ist in einem Insolvenzverfahren überhaupt nur die Besicherung aus dem Vermögen des jeweiligen Schuldners anfechtbar. Die Bestellung so genannter Drittsicherheiten, die nicht vom Kreditnehmer (= Schuldner des Insolvenzverfahrens), sondern durch Dritte bestellt werden, kann dagegen in der Insolvenz des Kreditnehmers nicht angefochten werden, weil die Bestellung von Sicherheiten durch Dritte die Haftungsmasse für die Gläubiger des insolventen Schuldners nicht verkürzt1. Auch wenn der Dritte im Fall der Inanspruchnahme der Sicherheit einen Aufwendungsersatzanspruch gegen den Kreditnehmer erwirbt, sind die Gläubiger nicht benachteiligt, da es sich insoweit dann lediglich um einen wertneutralen Gläubigerwechsel handelt2. Zahlungen und Leistungen des Drittsicherungsgebers können auch nicht als mittelbare Zuwendung des Kreditnehmers angefochten werden3.

4.112

Eine Anfechtung kommt allerdings selbst bei Drittsicherheiten in Betracht, wenn nicht nur ein Insolvenzverfahren für die kreditnehmende GmbH, sondern daneben ein weiteres Insolvenzverfahren über das Vermögen des Drittsicherungsgebers eröffnet wird4. Denn die Sicherheitenbestellung für die Verbindlichkeiten der GmbH verkürzt natürlich die Insolvenzmasse in diesem Insolvenzverfahren und benachteiligt damit die Insolvenzgläubiger des Sicherungsgebers. Tatsächlich hat dieses Anfechtungsrisiko für die Kreditgeber eine erhebliche Bedeutung, da im Rahmen der Insolvenzordnung häufig damit gerechnet werden muss, dass es parallel zum Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH auch zu einem Insolvenzverfahren über das Vermögen der typischen Drittsicherungsgeber, nämlich der Gesellschafter und/oder Geschäftsführer sowie deren Angehörigen, kommt. Denn mit der Möglichkeit der Restschuldbefreiung nach Abwicklung eines (Verbraucher-)Insolvenzverfahrens ist für diesen Personenkreis ein starker Anreiz geschaffen worden, der Mithaft für die Verbindlichkeiten der insolventen GmbH durch ein separates Insolvenzverfahren über ihr eigenes Vermögen ledig zu werden.

4.113

b) Upstream-Sicherheiten und Limitation Language Sofern eine GmbH (Gleiches gilt für eine GmbH & Co. KG oder eine Aktiengesellschaft) bei Konzern- oder Akquisitionsfinanzierungen Sicherheiten für einen Kredit an ihre direkten oder indirekten Gesellschafter (sogenannte Upstream-Sicherheiten) oder – in der Regel auf Weisung der gemeinsamen Muttergesellschaft – eine Schwestergesellschaft (sogenannte Crossstream-Sicherheiten) stellt, kann dies gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften (§§ 30, 31 GmbHG) verstoßen. 1 So im Ergebnis auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.87. 2 BGH v. 10.7.2008 – IX ZR 142/07, ZIP 2008, 1695; BGH v. 11.3.2004 – IX ZR 160/02, ZIP 2004, 1060; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.87. 3 Gehrlein, ZInsO 2012, 197. 4 Ausführlich zur Anfechtung von Sicherungsleistungen Dritter in deren Insolvenz, insbesondere nach § 134 InsO: Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 134 InsO Rz. 33 ff.; Wittig, NZI 2005, 606.

Kuder/Unverdorben | 131

4.114

§ 4 Rz. 4.115 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

aa) Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften

4.115

Die Bestellung einer Upstream-Sicherheit stellt im Sinne der Kapitalerhaltungsvorschriften eine Leistung an den Gesellschafter dar, obwohl die Sicherheit nicht dem Gesellschafter, sondern einem Dritten bestellt wird. Der Gesellschafter hätte aber ohne die Stellung der Upstream-Sicherheit den Kredit nicht oder nur zu ungünstigeren Bedingungen erhalten1. Ein Verstoß gegen die Kapitalerhaltungsregeln liegt dann nicht vor, wenn durch die Bestellung der Upstream-Sicherheit das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen i.S. des § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG nicht angegriffen wird oder einer der Ausnahmetatbestände des § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG vorliegt: Besteht im Zeitpunkt der Bestellung (s. dazu nachfolgend Rz. 4.116) der Upstream-Sicherheit zwischen der GmbH und dem Gesellschafter ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag oder hat die GmbH gegen den Gesellschafter einen vollwertigen Gegenleistungs- oder Rückgriffsanspruch wegen der Gewährung der Upstream-Sicherheit, sind die Kapitalerhaltungsvorschriften nicht verletzt.

4.116

Auf welchen Zeitpunkt es bei der Beurteilung, ob die Bestellung der Upstream-Sicherheit gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften verstößt, ankommt, war in der Literatur lange Zeit umstritten2. Während ein Teil der Literatur den Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit als maßgeblich ansah3, stellte ein anderer Teil auf den Zeitpunkt der drohenden Verwertung der Sicherheit ab4. Der Bundesgerichtshof hat hierzu mit zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2017 für die Praxis weitgehend Klarheit geschaffen5. Der BGH sieht bereits mit der Bestellung der Sicherheit für einen Kredit des Gesellschafters die haftungsrelevante Auszahlung an diesen als vollendet an6. Dass sich die Bestellung der Sicherheit nicht unmittelbar in der Bilanz der Tochtergesellschaft auswirkt, steht dem nicht entgegen7. Der Gesetzgeber des MoMiG sei zwar im Grundsatz zur bilanziellen Betrachtungsweise zurückgekehrt, habe aber Darlehen im Blick gehabt, bei denen die Auszahlung immer bilanzwirksam sei8. Letztlich setzt der BGH aber die bilanzielle Betrachtung von Upstream-Sicherheiten konsequent um, indem er bereits im Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit prüft, ob eine Auszahlung vorliegt9.

4.117

Sofern ein vollwertiger Freistellungsanspruch als Gegenleistungsanspruch der Tochtergesellschaft gegen die Muttergesellschaft besteht, so dass die Tochtergesellschaft bei der Inanspruchnahme der Sicherheit von dieser freigestellt werden kann, liegt schon keine Auszahlung vor10. 1 Schmolke in Ziemons/Jaeger/Pöschke, BeckOK GmbHG, § 30 GmbHG Rz. 187 ff. (48. Edition); Pleister, ZIP 2015, 1097, 1098; Undritz/Degenhardt, NZI 2015, 348, 349. 2 Zur Diskussion ausführlich Kiefner/Bochum, NZG 2017, 1292, 1293 f.; Heerma/Bergmann, ZIP 2017, 803, 804. 3 OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363, 365; LG Darmstadt v. 25.4.2013 – 16 O 195/12, NZI 2014, 367; Heerma/Bergmann, ZIP 2017, 803, 804; Pleister, ZIP 2015, 1097, 1100. 4 So auch hier in der 5. Aufl. 2016; Undritz/Degenhardt, NZI 2015, 348, 349. 5 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479; BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, WM 2017, 945. Zu diesen Urteilen Sutter, WM 2018, 360 ff.; Kiefner/Bochum, NZG 2017, 1292 ff.; Altmeppen, ZIP 2017, 1977 ff. 6 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 15 = ZIP 2017, 472; BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, WM 2017, 945 Rz. 14 = ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann. 7 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 16 = ZIP 2017, 472. 8 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 16 = ZIP 2017, 472. 9 Sutter, WM 2018, 360, 361; Becker, ZIP 2017, 1599, 1600 sieht dagegen eine Relativierung der bilanziellen Betrachtung. 10 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 18 f. = ZIP 2017, 472; BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, WM 2017, 945 Rz. 14 = ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann.

132 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.120 § 4

Die Werthaltigkeit dieses Anspruchs ist aus einer ex-ante-Perspektive auf Grundlage einer vernünftigen kaufmännischen Prognoseentscheidung zu beurteilen1. Ist die Inanspruchnahme der Sicherheit unwahrscheinlich, weil der Ausfall des Kredits unwahrscheinlich ist, liegt ein zulässiger Tausch auf der Aktivseite vor, da bei der bilanziellen Betrachtung in diesem Fall keine Aktivierung bzw. Passivierung vorzunehmen ist2. Eine spätere Verschlechterung der Vermögenslage führt nicht im Nachhinein zu einer Auszahlung, da die aus ex-ante-Sicht gegebene Vollwertigkeit des Freistellungsanspruchs nicht rückwirkend entfällt3. Wenn der Geschäftsführer der Tochtergesellschaft im Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit bei seiner Prognoseentscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Tochtergesellschaft einen vollwertigen Gegenleistungs- und Rückgriffsanspruch gegen den Gesellschafter hat, trifft die Geschäftsführung der GmbH grundsätzlich auch eine Verpflichtung, die Werthaltigkeit des Anspruchs fortlaufend zu überwachen4. Aus Sicht der Geschäftsführung der Gesellschaft dürfte es dazu sinnvoll sein, mit ihrem Gesellschafter einen entsprechenden Monitoring-Prozess zu vereinbaren5. Ob die Gesellschaft dieser Verpflichtung nachkommt, ist für den Sicherungsnehmer, das Kreditinstitut, aber unerheblich. Für den Fall, dass sich während der Kreditlaufzeit die Werthaltigkeit des Gegenleistungs- und Rückgriffsanspruchs verschlechtert, dürfte die Geschäftsführung verpflichtet sein, von ihrem Gesellschafter die Stellung von Sicherheiten zu fordern6.

4.118

Der Bundesgerichtshof hat diese Fragen bislang ausdrücklich lediglich für Sachsicherheiten entschieden. Die in seinen Urteilen dargelegten Grundsätze gelten aber ebenso für Personalsicherheiten7.

4.119

Weiterhin umstritten ist die Frage, ob bei einem bestehenden Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag über den Wortlaut des § 30 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 GmbHG hinaus der durch die Inanspruchnahme der Sicherheit eventuell entstehende Anspruch der GmbH auf Verlustausgleich durch den Gesellschafter vollwertig sein muss. Diese Frage ist noch nicht höchstrichterlich8 entschieden.

4.120

1 BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, WM 2017, 945 Rz. 18 = ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann. 2 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 19 = ZIP 2017, 472. 3 BGH v. 10.1.2017 – II ZR 94/15, WM 2017, 479 Rz. 21 = ZIP 2017, 472; Castor in Langenbucher/ Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 106; Sutter, WM 2018, 360, 361. 4 BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, WM 2017, 945 Rz. 22 f. = ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643 m. Anm. Bormann. 5 Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 106; Sutter, WM 2018, 360, 364. 6 Sutter, WM 2018, 360, 364 f. 7 Wie hier: Sutter, WM 2018, 360, 366; Kiefner/Bochum, NZG 2017, 1292, 1296 f.; a.A. Längsfeld, WuB 2017, 325, 328; Becker, ZIP 2017, 1559, 1607. 8 Das OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363, hat diese Frage verneint. Zwar hat der BGH eine Beschwerde wegen der Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des OLG Frankfurt mit Beschluss vom 9.12.2014 (Az.: IX ZR 440/13) zurückgewiesen, jedoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass er die Meinung des OLG Frankfurt a.M. teilt. Denn dieses hat seine Rechtsmeinung lediglich in einem (die Entscheidung nicht tragenden) obiter dictum geäußert, so dass sie nicht Gegenstand des Nichtzulassungsverfahrens sein konnte. Zur Entscheidung des OLG Frankfurt a.M. Sutter/Kuznetsova, WM 2017, 745 ff.

Kuder/Unverdorben | 133

§ 4 Rz. 4.121 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

4.121

Die Befürworter dieser Auffassung1 übersehen, dass der Gesetzgeber in § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG zwei unterschiedliche Ausnahmetatbestände aufgenommen hat. Dabei wurde das Erfordernis der Vollwertigkeit nur für die zweite Alternative formuliert, obwohl der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren die bereits zu diesem Zeitpunkt bestehende Auffassung in der Literatur kannte, die auch bei einem bestehenden Unternehmensvertrag die Vollwertigkeit des Verlustausgleichsanspruchs forderte. Wäre auch in der ersten Alternative die Vollwertigkeit des Ausgleichsanspruchs erforderlich, hätte diese einen rein deklaratorischen Charakter2.

4.122

Auch wenn die Bestellung einer Sicherheit gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften verstößt, ist die Sicherheit im Verhältnis zu dem Kredit gewährenden Kreditinstitut wirksam, weil die Kapitalerhaltungsvorschriften auf das Kreditinstitut als Nichtgesellschafter keine Anwendung finden3. Dies gilt sowohl bei Konzern- als auch bei Akquisitionsfinanzierungen. Lediglich bei der Akquisition von Anteilen an einer Aktiengesellschaft kann die Zielgesellschaft keine Upstream-Sicherheiten für den dem Erwerber gewährten Kredit zur Finanzierung des Anteilskaufpreises bestellen; eine solche Upstream-Sicherheit ist wegen § 71a Abs. 1 AktG nichtig. Der Bestand der Sicherheit wird durch eine Limitation Language (s. Rz. 4.123 ff.) nicht berührt. Sie kann wieder durchgesetzt werden, wenn die vertragliche Beschränkung nicht greift – weil etwa durch die Verwertung der Sicherheit nicht gegen die Kapitalerhaltungsvorschriften verstoßen wird4. bb) Limitation Language

4.123

Um jedoch einen Verstoß gegen die Kapitalerhaltungs- und Liquiditätserhaltungsvorschriften und damit eine eventuelle persönliche Haftung der Geschäftsführer der GmbH von vorneherein zu vermeiden, wird eine GmbH bei der Bestellung einer Upstream-Sicherheit von dem Kreditinstitut dann eine vertragliche Beschränkung des Rechts des Kreditinstituts, die Upstream-Sicherheit zu verwerten, fordern, wenn in der Bestellung der Sicherheit eine Auszahlung an den Gesellschafter zu sehen ist. Solche vertraglichen Verwertungsbeschränkungen werden in der Praxis als Limitation Language bezeichnet. Im Kern beinhaltet eine Limitation Language im Hinblick auf die Kapitalerhaltungsvorschriften stets die Vereinbarung, dass die Verwertung der Sicherheit ausgeschlossen ist (oder entsprechende Beträge zurückerstattet werden), wenn und insoweit der Sicherungsgeber nachweist, dass die Inanspruchnahme der Sicherheit dazu führt, dass das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen angegriffen wird, indem das Reinvermögen des Sicherungsgebers unter den Betrag des Stammkapitals absinkt (Unterbilanz) oder sich eine bereits bestehende Unterbilanz weiter vertieft.

4.124

Im Hinblick auf die BGH-Rechtsprechung aus dem Jahr 2017 ist die Vereinbarung einer Limitation Language bei Konzern- und Akquisitionsfinanzierungen im Investment-Grade-Be-

1 Servatius in Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. 2022, § 30 GmbHG Rz. 45; Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 30 GmbHG Rz. 101 f.; Altmeppen, NZG 2010, 361, 364; Altmeppen, ZIP 2009, 49, 55; Spliedt, ZIP 2009, 149, 152. 2 OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363, 365; LG Darmstadt v. 25.4.2013 – 16 O 195/12, NZI 2014, 367; Pleister, ZIP 2015, 1097, 1099; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl. 2022, § 30 GmbHG Rz. 278; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 48; Winkler/Becker, ZIP 2009, 2361, 2366. 3 BGH v. 19.8.1998 – IX ZR 22/97, NJW 1998, 2592 = ZIP 1998, 793; Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 105; Ekkenga in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl. 2022, § 30 GmbHG Rz. 280; Pleister, ZIP 2015, 1097, 1100; Anm. Friese zu OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363, 366. 4 Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 105.

134 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.127 § 4

reich nicht erforderlich1. Vielmehr muss der Geschäftsführer eine vernünftige kaufmännische Prognoseentscheidung vornehmen, ob die Gesellschaft einen vollwertigen Gegenleistungsoder Rückgriffsanspruch gegen den Gesellschafter hat. Hierzu kann er sich gegebenenfalls ein Gutachten einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft einholen. Bei Konzern- und Akquisitionsfinanzierungen im Sub-Investment-Grade-Bereich und bei Leveraged Finanzierung (Verschuldungsgrad größer als 3) ist der Geschäftsführung zur eigenen Absicherung anzuraten, auf den Zeitpunkt der Sicherheitenbestellung eine Zwischenbilanz sowie ein Finanzmodell zur Beurteilung der Finanzlage der GmbH, ihrer Gesellschafter und des Gesamtkonzerns für die Laufzeit der Finanzierung aufstellen und durch externe Berater überprüfen zu lassen2. In diesem Bereich kann aufgrund des höheren Verschuldungsgrades die Prognoseentscheidung, ob der Gegenleistungsanspruch werthaltig ist, in der Praxis wesentlich schwieriger sein. Sofern die Prognose über die Werthaltigkeit des Freistellungsanspruchs nicht mit hinreichender Sicherheit getroffen werden kann, könnte die Vereinbarung einer Limitation Language im Hinblick auf die Kapitalerhaltungsvorschriften aus Sicht des Geschäftsführers der Tochtergesellschaft in einem solchen Einzelfall rechtlich geboten sein3. Sofern sich das Kreditinstitut auf die vertragliche Beschränkung der Sicherheitenverwertung einlässt, wird es gegebenenfalls seinerseits die Hereinnahme einer Zwischenbilanz der Gesellschaft, des Gesellschafters und des Konzerns sowie ein Finanzmodell zur Beurteilung der Finanzlage der GmbH zum Stichtag der Sicherheitenbestellung fordern, damit das Kreditinstitut beurteilen und im Verwertungsfall nachweisen kann, in welcher Höhe ein werthaltiger Gegenleistungs- oder Rückgriffsanspruch gegen den Gesellschafter im Zeitpunkt der Bestellung der Sicherheit bestand. Auf jeden Fall ist das Kreditinstitut gut beraten, zu vereinbaren, dass im Verwertungsfall eine solche Stichtagsbilanz bezogen auf das Datum der Sicherheitenbestellung vorzulegen ist und dass ohne eine solche die Verwertung nicht beschränkt ist.

4.125

Für Kreditinstitute – und indirekt auch für den Kreditnehmer – hat die Vereinbarung von Limitation Language zur Folge, dass solche Sicherheiten allenfalls eingeschränkt als Risikominimierungstechnik im Sinne der CRR4 eigenkapitalentlastend angerechnet werden können5. Dies führt dazu, dass das Kreditinstitut den betreffenden Kredit mit mehr Eigenkapital unterlegen muss, was wiederum dazu führt, dass der Kredit, auch für den Kreditnehmer, teurer wird.

4.126

Umstritten ist, ob die mit der Limitation Language vereinbarten Verwertungsbeschränkungen auch in der Insolvenz des Sicherungsgebers noch gelten oder entfallen. Diejenigen, nach deren Ansicht die Limitation Language auch im Fall der Insolvenz greift, argumentieren, Hauptzweck des Kapitalerhaltungsrechts sei der Schutz des Gesellschaftsvermögens im Interesse der Gesellschaftsgläubiger als eine Befriedigungsreserve. Dieser Zweck entfalle auch nicht in der Insolvenz der Gesellschaft, da gerade das Insolvenzverfahren der Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger diene. Bei der Leistung auf eine Upstream-Sicherheit handele es sich

4.127

1 Wie hier: Sutter, WM 2018, 360, 366. 2 Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 106. 3 Wie hier: Sutter, WM 2018, 360, 366. 4 Kapitaladäquanzverordnung (Capital Requirements Regulation, „CRR“) Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013, berichtigte Fassung veröffentlicht in ABl. EU Nr. L 321 v. 30.11.2013, S. 6 ff. 5 Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 107; Sutter, WM 2018, 360, 361. Zu Kreditsicherheiten als Instrument der Risikominderung bei syndizierten Unternehmensfinanzierungen Steinhauer, WM 2014, 1264 ff.

Kuder/Unverdorben | 135

§ 4 Rz. 4.127 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

wirtschaftlich um eine Leistung an einen Gesellschafter, was mit dem Zweck des Insolvenzverfahrens nicht vereinbar sei, solange nicht alle Insolvenzgläubiger befriedigt seien1. Die Gegenauffassung betont hingegen, dass Sinn und Zweck der Limitation Language einerseits die Erhaltung des Stammkapitals und andererseits der Schutz des Geschäftsführers vor einer persönlichen Haftung sei2. Bei einem eröffneten Insolvenzverfahren bedürften Dritte aber keines Schutzes mehr hinsichtlich der Erhaltung des Stammkapitals, da die Gesellschaft bereits zahlungsunfähig und/oder überschuldet und das Stammkapital folglich bereits verloren sei. Die Gesellschaft sei aufgelöst (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) und an die Stelle des Geschäftsführers trete der Insolvenzverwalter, der nicht der persönlichen Haftung gemäß § 43 Abs. 3 GmbHG, § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO unterliege3. Dem ist zuzustimmen. Bei rein wirtschaftlicher Betrachtung handelt es sich bei Upstream-Sicherheiten nicht um Leistungen an den Gesellschafter, weil die Kreditgewährung an die Muttergesellschaft regelmäßig auch im Interesse der Tochtergesellschaft liegt. Vielmehr liegt das wirtschaftliche Interesse an der Sicherheit spätestens im Zeitpunkt der Verwertung beim Sicherungsnehmer. Die Kreditinstitute lassen sich auf die Limitation Language, die zu einer für sie nicht kalkulierbaren Entwertung der gestellten Upstream-Sicherheiten führen kann, nur im Hinblick auf das schutzwürdige Interesse der Vermeidung einer persönlichen Haftung der Geschäftsführer des Sicherungsgebers ein; dies ist die Geschäftsgrundlage für die Vereinbarung der Verwertungsbeschränkung. Wenn aber mit der Insolvenz des Sicherungsgebers diese Geschäftsgrundlage entfällt, besteht kein Grund mehr für die Anwendung der Verwertungsbeschränkung.

4. Anfechtbarkeit nachträglicher Besicherung aus dem Vermögen der GmbH 4.128

Wie vorstehend (Rz. 4.103 ff., 4.111 ff.) erläutert, können in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH überhaupt nur solche in der Krise vorgenommenen Sicherungsgeschäfte angefochten werden, bei denen die GmbH aus ihrem eigenen Vermögen nachträglich für bereits bestehende Verbindlichkeiten Sicherheiten gestellt hat, wenn also weder ein Bargeschäft noch die Bestellung von Drittsicherheiten vorliegt. Denn nur in diesem Fall benachteiligt die nachträgliche Besicherung i.S. von § 129 InsO die anderen Insolvenzgläubiger4. Für die Anfechtung dieser nachträglichen Bestellung von Sicherheiten sind in der Praxis die Tatbestände der Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO) und der allgemeinen Insolvenzanfechtung (§§ 130, 131 InsO) von besonderer Bedeutung. Daneben kann bei einer Gesellschafterbeteiligung des Kreditgebers an der kreditnehmenden GmbH der Anfechtungstatbestand für Gesellschafterdarlehen (§ 135 InsO) einschlägig sein. Demgegenüber spielt die Anfechtung unentgeltlicher Leistungen (§ 134 InsO) praktisch kaum eine Rolle. Im Einzelnen gilt für die Anfechtungstatbestände Folgendes:

a) Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO 4.129

Da es sich bei der Bestellung von Sicherheiten um Deckungshandlungen handelt, ist ihre Bestellung nach der Bestimmung des § 133 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 InsO in den letzten vier Jahren vor dem Eröffnungsantrag anfechtbar, wenn der Schuldner dabei mit dem Vorsatz handelte, seine Gläubiger zu benachteiligen, und der Kreditgeber den Vorsatz des Schuldners kannte. 1 Heerma/Bergmann, ZIP 2017, 803 ff.; Undritz/Degenhardt, NZI 2015, 348, 353. 2 LG Darmstadt v. 25.4.2013 – 16 O 195/12, NZI 2014, 367, 368 f. 3 OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363, 365 m. Anm. Friese; LG Darmstadt v. 25.4.2013 – 16 O 195/12, NZI 2014, 367, 368 f.; Pleister, ZIP 2015, 1097, 1100 f. 4 Dabei kommt es nur auf den Nachteil für die Insolvenzmasse und nicht auf den Sicherheitenwert für den gesicherten Gläubiger an; so OLG Hamburg v. 9.5.2001 – 8 U 8/01, ZIP 2001, 1332.

136 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.133 § 4

Für die Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO) einer nachträglichen Sicherheitenbestellung ergeben sich die folgenden Grundsätze1: Voraussetzung für die Anfechtung nach § 133 InsO ist, dass die angefochtene Rechtshandlung objektiv zu einer Benachteiligung der Insolvenzgläubiger geführt hat, wobei eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung genügt2. Da die Bestellung einer Sicherheit aus dem Vermögen der GmbH den mit dem Sicherungsrecht belasteten Vermögensgegenstand dem Zugriff der Insolvenzgläubiger entzieht, liegt eine solche objektive Benachteiligung bei einer nachträglichen Besicherung von Krediten stets vor.

4.130

Für die Anfechtung nach § 133 InsO ist aber neben der objektiven Benachteiligung weiter erforderlich, dass der Schuldner die Rechtshandlung mit dem Vorsatz vorgenommen hat, seine Gläubiger im Allgemeinen zu benachteiligen. Hieran hat die Reform des Anfechtungsrechts3 nichts geändert4. Dabei genügt, wenn der Schuldner mit bedingtem Vorsatz eine Gläubigerbenachteiligung wenigstens als notwendige (Neben-)Folge seines Handelns billigend in Kauf nimmt5. Allerdings ist seit der Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung durch den Bundesgerichtshof (s. ausführlich Rz. 4.37 ff.) auch die Anfechtung im Rahmen von (letztlich gescheiterten) Sanierungsversuchen auf Basis eines Restrukturierungskonzepts deutlich erschwert worden.

4.131

Mit Benachteiligungsvorsatz handelt der Kreditnehmer, wenn im Zeitpunkt der Sicherheitenbestellung sein Vermögen nicht mehr ausreicht, alle Gläubiger zu befriedigen (also Überschuldung vorlag), oder wenn er schon Anlass hatte, mit dem baldigen Eintritt der Krise und einer nachfolgenden Insolvenz zu rechnen6. Der Kreditnehmer muss also entweder wissen, dass er neben dem Anfechtungsgegner nicht alle Gläubiger innerhalb angemessener Zeit befriedigen kann, oder aber sich diese Folge als möglich vorstellen, sie aber in Kauf nehmen, ohne sich durch die Vorstellung dieser Möglichkeit von seinem Handeln abhalten zu lassen7. Ist dagegen der Schuldner auf Grund konkreter Vorstellungen davon überzeugt, dass ein Insolvenzverfahren so gut wie ausgeschlossen ist und dass er alle seine Gläubiger in absehbarer Zeit befriedigen kann, ist ein Benachteiligungsvorsatz ausgeschlossen8. Lediglich fahrlässige Unkenntnis der Gläubigerbenachteiligung als Folge der Rechtshandlung genügt aber für die Anfechtung nach § 133 InsO nicht9.

4.132

Nach der von der Rechtsprechung entwickelten Lehre von den Beweisanzeichen stellt der Umstand, dass es sich bei der angefochtenen Bestellung von Sicherheiten um eine inkongruente

4.133

1 Zur Vorsatzanfechtung der nachträglichen Sicherheitenbestellung Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.114 ff. 2 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 11. 3 Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz v. 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). 4 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 12. 5 Dazu BGH v. 24.5.2007 – IX ZR 97/06, NZI 2007, 512 = ZIP 2007, 1511; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.115. 6 OLG Düsseldorf v. 30.6.1983 – 6 U 120/81, AG 1983, 250 = WM 1983, 873 = ZIP 1983, 786; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.116. 7 BGH v. 24.5.2007 – IX ZR 97/06, NZI 2007, 512 = ZIP 2007, 1511; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 14. 8 BGH v. 24.5.2007 – IX ZR 97/06, NZI 2007, 512 = ZIP 2007, 1511; BGH v. 28.11.1997 – V ZR 178/96, WM 1998, 245 = GmbHR 1998, 185 = ZIP 1998, 109; BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793. 9 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 14.

Kuder/Unverdorben | 137

§ 4 Rz. 4.133 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Deckung handelt, ein starkes Beweisanzeichen für einen Benachteiligungsvorsatz dar1. Allerdings kann der Benachteiligungsvorsatz nicht allein aus dem Umstand abgeleitet werden, dass der Schuldner dem Gläubiger eine Sicherheit bestellt2. Bei einer sofort wirksamen (und nicht auf den Eintritt des Insolvenzfalls bedingten) Sicherheitenbestellung kann nur dann ein Benachteiligungsvorsatz angenommen werden, wenn die Beteiligten den Eintritt der Insolvenz während der Dauer des Sicherungsgeschäfts für konkret wahrscheinlich halten3.

4.134

Werden im Rahmen eines ernsthaften Sanierungsversuchs auf Grundlage eines tragfähigen Sanierungskonzepts Sicherheiten auch für schon früher gewährte Kredite gewährt, so kann das Kreditinstitut das in der inkongruenten Deckung liegende Beweisanzeichen für den Beteiligungsvorsatz des Schuldners entkräften, wenn das Sanierungskonzept zumindest in seinen Anfängen schon in die Tat umgesetzt war und ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestand4. Daran hat sich auch mit der Neuausrichtung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung durch den Bundesgerichtshof nichts geändert5. Dabei schließt ein ernsthafter Sanierungsversuch, bei dem die Ausgangslage und die Durchführbarkeit von einem unvoreingenommenen, branchenkundigen Fachmann sachgerecht geprüft worden sind, schon objektiv eine Gläubigerbenachteiligung aus, auch wenn die Sanierung letztlich scheitert. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn der Schuldner die sichere Erwartung haben durfte, dass die Sanierungsverhandlungen in Kürze erfolgreich abgeschlossen, seine Kredite verlängert oder mit frischen Mitteln getilgt und auch die übrigen Zahlungsverpflichtungen erfüllt werden können6. Und selbst wenn die Sanierungsbemühungen nicht diese Qualität erreichen, weil z.B. nur ein Überbrückungskredit ohne fachmännische Prüfung des Sanierungskonzepts der GmbH ausgereicht wird, so fehlen die subjektiven Anfechtungsvoraussetzungen (Gläubigerbenachteiligungsvorsatz beim Schuldner, Kenntnis beim Anfechtungsgegner), falls die Beteiligten redlich und mit aus ihrer Sicht tauglichen Mitteln die Sanierung anstreben7. Diese Aussagen gelten auch nach der Änderung des § 133 InsO durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz8 unverändert fort9.

4.135

Bei einer kongruenten Besicherung (dazu Rz. 4.143 f.) hingegen reicht das Bewusstsein des Schuldners, dass die Bestellung der Sicherheiten zu Gunsten des Kreditinstituts seine übrigen Gläubiger benachteiligt, in der Regel nicht aus, um von einem Benachteiligungsvorsatz aus1 BGH v. 2.12.1999 – IX ZR 412/98, ZIP 2000, 82; BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, WM 2008, 223; BGH v. 20.6.2002 – IX ZR 177/99, ZIP 2002, 1408, 1412; BGH v. 11.3.2004 – IX ZR 160/02, ZIP 2004, 1060; BGH v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, ZIP 1993, 1653; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 13 ff. 2 BGH v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, NZI 2014, 68 Rz. 17 = ZIP 2013, 2368. 3 BGH v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, NZI 2014, 68 Rz. 17 = ZIP 2013, 2368. 4 BGH v. 12.2.2015 – IX ZR 180/12, ZIP 2015, 585 Rz. 22; BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 Rz. 44; BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, NZI 2013, 133 Rz. 17; BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 28/12, NZI 2013, 249 Rz. 19; BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, NZI 2013, 500 Rz. 11 = GmbHR 2013, 529 m. Anm. Blöse; BGH v. 19.9.2013 – IX ZR 232/12, WM 2013, 1995; BGH v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, WM 1993, 270; Huber, ZInsO 2018, 1761, 1762; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 37 f.; Ganter, NZI.2014, 673, 674; Hagemann, NZI 2014, 210; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.117. 5 BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, NZI 2022, 385 Rz. 74 ff. = ZIP 2022, 589. 6 BGH v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, ZInsO 2013, 76 = ZIP 2013, 79. 7 BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, WM 1998, 248 = ZIP 1998, 248. 8 Gesetz vom 29.3.2017 (BGBl. I 2017, 654). Zu der der Gesetzesänderung vorangegangenen Diskussion in der Literatur vgl. statt vieler die umfassende Darstellung von Marotzke, ZInsO 2014, 417 ff. 9 Thole, ZIP 2017, 401, 407.

138 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.138 § 4

zugehen1. Vielmehr liegt die Annahme näher, dass es dem Kreditnehmer auf die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtung ankam. Selbst das Bewusstsein des Schuldners, dass er in der Folge nicht mehr alle anderen Gläubiger vollständig befriedigen kann, und sogar die Kenntnis des Gemeinschuldners von seiner Überschuldung reichen regelmäßig nicht aus, um bei einer kongruenten Deckung die Annahme des Benachteiligungsvorsatzes zu rechtfertigen2. Eine lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit reicht als Indiz für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners alleine nicht aus. Hinzukommen müssen weitere Indizien, wie etwa, dass dem Schuldner bewusst ist, dass er kurzfristig Insolvenzantrag stellen wird und er in der Zwischenzeit gleichwohl noch Gläubiger befriedigt, oder der auf einem Sanierungskonzept beruhende Sanierungsversuch aus Sicht des Schuldners untauglich wird3. Schließlich muss für die Vorsatzanfechtung festgestellt werden, dass der Anfechtungsgegner Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners hatte. Ein unlauteres Zusammenwirken zwischen Schuldner und Anfechtungsgegner ist nicht erforderlich4. Dazu muss der Anfechtungsgegner gewusst haben, dass der Schuldner seine Handlung für Gläubiger benachteiligend hielt und eine solche Folge auch wenigstens billigend in Kauf genommen hat. Hatte dagegen allein der Anfechtungsgegner die Benachteiligung der anderen Gläubiger beabsichtigt, so reicht dies für die Anfechtung nach § 133 InsO nicht aus, wenn ein Benachteiligungsvorsatz beim Schuldner nicht gegeben war5. Das Gesetz erleichtert den Beweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners durch Vermutungsregelungen. Handelt es sich bei der Bestellung der Sicherheit um eine inkongruente Deckung, wird die Kenntnis gemäß § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO vermutet, wenn der Anfechtungsgegner wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger objektiv benachteiligte. Handelt es sich bei der Bestellung der Sicherheit allerdings um eine kongruente Deckung, reicht die Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht aus. In diesem Fall greift die Vermutung erst, wenn der Anfechtungsgegner Kenntnis von der bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit hatte, § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO.

4.136

b) Anfechtung der Sicherheitenbestellung für Gesellschafterdarlehen nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO Nur für Kredite an eine Tochtergesellschaft von Interesse ist die Anfechtungsvorschrift des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Nach dieser Vorschrift kann die Bestellung von Sicherheiten angefochten werden, die die Gesellschaft zur Besicherung eines Gesellschafterdarlehens bestellt hat, sofern die Sicherheitenbestellung in den letzten zehn Jahren vor dem Insolvenzantrag erfolgt ist. Die Regelung wird behandelt bei Rz. 6.116.

4.137

Gleichfalls für die kreditgebende Bank von geringem Interesse ist der Tatbestand der § 44a, § 135 Abs. 2, § 143 Abs. 3 InsO (dazu Rz. 6.136).

4.138

1 BGH v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, = ZIP 1984, 572 = GmbHR 1984, 343; BGH v. 5.5.1959 – VIII ZR 221/57, WM 1959, 1007; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 33 ff. 2 OLG Frankfurt v. 30.6.1959 – 5 U 331/58, WM 1959, 1079; BGH v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, = WM 1984, 625 = GmbHR 1984, 343 = ZIP 1984, 572; BGH v. 18.4.1991 – IX ZR 149/90, WM 1991, 1273 = ZIP 1991, 807. 3 BGH v. 23.6.2022 – IX ZR 75/21, NZI 2022, 777 Rz. 23 = ZIP 2022, 1608; BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, NZI 2022, 385 Rz. 20 ff.; 56 f. = ZIP 2022, 589. 4 BGH v. 17.7.2003 – IX ZR 272/02, WM 2003, 1923 = ZIP 2003, 1799. 5 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 19.

Kuder/Unverdorben | 139

§ 4 Rz. 4.139 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

c) Schenkungsanfechtung nach § 134 InsO 4.139

In den letzten vier Jahren vor dem Insolvenzantrag können nach § 134 InsO unentgeltliche Leistungen des Schuldners angefochten werden1. Der Begünstigte muss beweisen, dass die Schenkung vor dem Anfechtungszeitraum lag.

4.140

Jedoch kann die Bestellung von Sicherheiten durch die GmbH aus ihrem Gesellschaftsvermögen für eigene Verbindlichkeiten der GmbH nicht gemäß § 134 InsO als unentgeltliche Verfügung angefochten werden2. Unabhängig davon nämlich, ob die GmbH als Kreditnehmer auf Grund des Kreditvertrages zur Bestellung der konkreten Sicherheit verpflichtet ist, das Kreditinstitut einen allgemeinen Anspruch auf die Bestellung der Sicherheiten aus den Allgemeinen Geschäftsbedingungen hatte (Nr. 13 AGB-Banken; Nr. 22 Abs. 1 AGB-Sparkassen) oder ob der Kreditnehmer ohne rechtliche Verpflichtung die Sicherheiten bestellt hat, liegt bei der Bestellung von Sicherheiten durch den Kreditnehmer jedenfalls kein unentgeltliches Rechtsgeschäft i.S. der Anfechtungsvorschriften vor3. Darauf, ob die besicherte Forderung im Zeitpunkt der Besicherung werthaltig war oder nicht, kommt es nicht an4.

d) Anfechtung der Sicherheitenbestellung für nahestehende Personen nach § 133 Abs. 4 InsO 4.141

Anfechtbar sind entgeltliche Verträge mit nahestehenden Personen in den letzten beiden Jahren vor dem Eröffnungsantrag nach § 133 Abs. 4 InsO, sofern sie die Insolvenzgläubiger unmittelbar benachteiligen und sofern dem begünstigten Gläubiger nicht der Beweis gelingt, dass er keine Kenntnis vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners hatte. § 133 Abs. 4 InsO enthält keinen eigenen Anfechtungstatbestand, sondern erweitert die Grundnorm des § 133 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 InsO5. Er enthält eine Beweislastumkehr für die dort genannten entgeltlichen Geschäfte mit nahestehenden Personen6.

4.142

Die Anfechtung richtet sich gegen eine dem Schuldner im Zeitpunkt der Rechtshandlung nahestehende Person im Sinne des § 138 InsO7. Für Kreditinstitute kommt dieser Anfechtungstatbestand im Kreditgeschäft mit einer GmbH praktisch nur in Betracht, wenn sie über eine Kapitalbeteiligung an der GmbH verfügen, wobei diese ausnahmsweise bei dem Vorliegen besonderer Umstände auch unterhalb der 25 %-Grenze gemäß § 138 Abs. 2 Nr. 1 InsO liegen kann8. In der Regel ist allerdings bei einer geringeren Beteiligung die Anfechtung nach dieser Bestimmung ausgeschlossen, selbst wenn der Kreditgeber auf Grund gesellschaftsrechtlicher oder vertraglicher Regelungen umfangreiche Informationsmöglichkeiten hat. Gesellschafter, 1 Zur Anfechtung als unentgeltliche Leistung Kayser, ZIP 2019, 293 ff. 2 BGH v. 22.7.2004 – IX ZR 183/03, WM 2004, 1837 = ZIP 2004, 1819; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 134 InsO Rz. 27 ff.; ausführlich zur Anfechtung von Sicherungsleistungen nach § 134 InsO Wittig, NZI 2005, 606. 3 BGH v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, ZInsO 2013, 240 = ZIP 2013, 223; BGH v. 6.12.2012 – IX ZR 105/12, ZInsO 2013, 73; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.120 f.; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 134 InsO Rz. 28 f. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.120. 5 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 39; Thole, ZIP 2017, 401, 406. 6 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 39. 7 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 133 InsO Rz. 42. Zum Begriff der nahestehenden Person detailliert Kirchhof, ZInsO 2001, 825. 8 BGH v. 15.11.2012 – IX ZR 205/11, ZInsO 2012, 2335 = ZIP 2012, 2449.

140 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.144 § 4

die weniger als 25 % am Kapital der GmbH halten, sind grundsätzlich auch dann keine nahestehenden Personen, wenn sie auf Grund von Regelungen im Gesellschaftsvertrag, beispielsweise wegen Zustimmungserfordernissen für bestimmte Rechtsgeschäfte, weitergehenden Einfluss auf die Geschäfte der Gesellschaft haben. Andere, nicht durch gesellschaftsrechtliche, sondern durch geschäftliche Beziehungen begründete Informationsmöglichkeiten qualifizieren den Kreditgeber nicht als nahestehende Person, weil die Regelung des § 138 InsO verlangt, dass die in Betracht kommenden Personen besondere Informationsmöglichkeiten durch ihre Tätigkeit gerade innerhalb des Schuldnerunternehmens haben müssen1. Deshalb können z.B. auch sehr umfangreiche Informationspflichten im Kreditvertrag nicht die Anfechtung nach § 133 Abs. 2 InsO rechtfertigen.

e) Allgemeine Insolvenzanfechtung nach §§ 130, 131 InsO aa) Kongruente und inkongruente Besicherung Die Voraussetzungen der allgemeinen Insolvenzanfechtung sind in §§ 130, 131 InsO differenziert geregelt für kongruente und inkongruente Besicherungen. Eine Sicherung ist nur dann als kongruent anzusehen, wenn der Kreditgeber einen fälligen Anspruch gerade auf die konkrete Sicherheit hat. Erforderlich sind dazu Vereinbarungen, die auf bestimmte Gegenstände gerichtet sind. Absprachen, die es dem freien Belieben des Schuldners überlassen, welche konkrete Sicherheit gestellt wird, sind dagegen nicht geeignet, die Besserstellung des Gläubigers im Insolvenzverfahren zu rechtfertigen2. Solche auf die Stellung bestimmter Sicherheiten gerichtete Vereinbarungen können im Kreditvertrag, aber auch in einer besonderen Vereinbarung, z.B. einer sog. Positiverklärung, begründet sein3. Demgegenüber genügt der generelle Anspruch der Kreditinstitute auf die Bestellung oder Verstärkung bankmäßiger Kreditsicherheiten auf Grund allgemeiner Geschäftsbedingungen (Nr. 13 AGB-Banken; Nr. 22 Abs. 1 AGB-Sparkassen) nicht für eine kongruente Besicherung4. Ein Kreditinstitut, das in der Krise der GmbH auf Grund des Nachbesicherungsanspruchs in seinen allgemeinen Geschäftsbedingungen nachträglich die Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten verlangt, hat daher das Risiko zu tragen, dass diese Nachbesicherung nach den wesentlich schärferen Regelungen für inkongruente Deckungen anfechtbar ist. Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 2 InsO privilegiert sind nur Nachbesicherungen durch Finanzsicherheiten im Sinne des § 1 Abs. 17 KWG (Margensicherheiten)5.

4.143

Dagegen ist das Werthaltigmachen der Einzelforderungen, die unter einem Globalzessionsvertrag fortlaufend abgetreten werden, nur als kongruente Deckung anfechtbar6. Zwar sind im Zeitpunkt des Globalabtretungsvertrages die künftig entstehenden Forderungen nicht konkret bestimmt7. Die Begründung zukünftiger Forderungen ist jedoch – anders als bei Si-

4.144

1 BGH v. 11.12.1997 – IX ZR 278/96, WM 1998, 304 = ZIP 1998, 247. 2 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 2004 = ZIP 2008, 183; BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, WM 2002, 951 ff. = ZIP 2002, 812. 3 Zur Positiverklärung Wittig/Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/3078 ff. (108. Lfg.). 4 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 2004 = ZIP 2008, 183; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.132 f. 5 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 5d. 6 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 2004; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 13a; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.134 ff. S. dazu Kuder, ZIP 2008, 289; Jacoby, ZIP 2008, 385; Heinze, DZWIR 2008, 185. 7 Kuder, ZInsO 2006, 1065.

Kuder/Unverdorben | 141

§ 4 Rz. 4.144 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

cherheiten gemäß Nr. 13 bis 15 AGB-Banken – nach Inhalt und Sinn des Globalzessionsvertrages dem freien Belieben des Schuldners entzogen. Vielmehr beruht die getroffene Sicherungsvereinbarung gerade darauf, dass die Vertragspartner davon ausgehen, der Kreditnehmer werde den Geschäftsbetrieb im bisherigen Umfang fortsetzen und daher ständig neue Ansprüche gegen Kunden erwerben, die dann abgetreten sind. Der Umfang der in Zukunft auf das gesicherte Kreditinstitut übergehenden Forderungen des Schuldners sind dabei in abstrakter Form bereits rechtlich bindend festgelegt1. Dies gilt in gleicher Weise für sämtliche revolvierenden Kreditsicherheiten, d.h. auch für Raumsicherungsübereignungen eines Warenlagers, für Mantelzessionen und Mantelübereignungen sowie für Markierungsverträge. Anfechtbar ist dabei insbesondere das Werthaltigmachen der Forderungen mit Mitteln der Masse2. Dabei kann die Wertschöpfung insbesondere in der Herstellung einer Ware, in der Erbringung einer Dienstleistung oder in der Übergabe einer Kaufsache liegen3. bb) Anfechtbarkeit inkongruenter Besicherung nach § 131 InsO

4.145

Inkongruente Sicherheitenbestellungen, also die nachträgliche Bestellung von Sicherheiten in den Fällen, wo der Kreditgeber keinen fälligen Anspruch auf die konkrete Sicherheit hatte, sind gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO immer dann anfechtbar, wenn sie in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und der Sicherungsgeber zum Zeitpunkt der Besicherung zahlungsunfähig war. Eine Zahlungsunfähigkeit liegt regelmäßig dann vor, wenn die Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr beträgt, soweit nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass diese Lücke innerhalb von drei Wochen (fast) vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein solches Zuwarten zuzumuten ist4. Dabei ist eine Forderung dann – abweichend vom zivilrechtlichen Fälligkeitsbegriff – im insolvenzrechtlichen Sinn als fällig anzusehen, wenn der Gläubiger diese ernsthaft einfordert; dies ist dann der Fall, wenn sich aus einer Gläubigerhandlung, z.B. der Übersendung einer Rechnung, im Allgemeinen der Wille ergibt, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen5.

4.146

Dabei kommt es für die Anfechtung von inkongruenten Besicherungen durch einen zahlungsunfähigen Kreditnehmer auf subjektive Elemente beim Kreditgeber überhaupt nicht an, sondern allein der Umstand, dass die Sicherheitenbestellung nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit erfolgt ist, führt zur Anfechtbarkeit nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Diese Regelung wurde vom Gesetzgeber getroffen, weil er den inkongruenten Erwerb von einem zahlungsunfähigen Schuldner für besonders verdächtig hält und deswegen die sonst erforderlichen subjek-

1 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 2004 = ZIP 2008, 183. 2 BGH v. 11.6.2015 – IX ZR 110/13, NZI 2015, 765, 766 = ZIP 2015, 1398; BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 144/05, NZI 2008, 539, 540 = ZIP 2008, 1435. 3 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 13a. 4 BGH v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, WM 2012, 2286 Rz. 8 = ZIP 2012, 2391; BGH v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, WM 2012, 1124 Rz. 10 = ZIP 2012, 1174; BGH v. 21.6.2007 – IX ZR 231/04, WM 2007, 1616 Rz. 37 = ZIP 2007, 1469; BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, WM 2006, 2312 Rz. 27 = ZIP 2006, 2222; BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, WM 2005, 1468 = GmbHR 2005, 1117 = ZIP 2005, 1426; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 28 ff.; Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 17 InsO Rz. 4 ff. 5 BGH v. 6.12.2012 – IX ZR 3/12, WM 2013, 174 Rz. 26; BGH v. 20.12.2007 – IX ZR 93/06, ZInsO 2008, 273 Rz. 21; BGH v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, ZIP 2007, 1666 Rz. 19; Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 17 InsO Rz. 7a. Kritisch zum Begriff des ernsthaften Einforderns Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 17 InsO Rz. 9.

142 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.151 § 4

tiven Voraussetzungen auf Seiten des Anfechtungsgegners unwiderleglich zu vermuten seien1. Es obliegt aber dem Insolvenzverwalter, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners darzulegen und zu beweisen2. Nach § 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO ist eine inkongruente Besicherung in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag außerdem auch dann anfechtbar, wenn der Schuldner noch nicht zahlungsunfähig war, sondern dem Gläubiger zurzeit der Handlung die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger bekannt war. § 131 Abs. 2 InsO lässt für die Anfechtung in subjektiver Hinsicht auf Seiten des Anfechtungsgegners statt positiver Kenntnis von der Benachteiligung anderer Insolvenzgläubiger auch die Kenntnis von Umständen genügen, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen. Dabei darf aber nicht allein die Inkongruenz als ein Umstand angesehen werden, der zwingend auf die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger schließen lässt; denn da die Inkongruenz der Deckung für § 131 InsO schon objektives Tatbestandsmerkmal ist, wäre sonst das subjektive Tatbestandsmerkmal immer zu bejahen und hinfällig3.

4.147

Schließlich ist eine inkongruente Kreditbesicherung nach der Insolvenzordnung (§ 131 Nr. 1 InsO) auf jeden Fall anfechtbar, wenn die Sicherheit im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestellt worden ist. Irgendwelche weiteren Voraussetzungen in objektiver oder subjektiver Hinsicht müssen dafür weder auf Seiten des Schuldners noch auf Seiten des Kreditgebers erfüllt sein.

4.148

Der Gesetzgeber hat den Grund für diese scharfen Anfechtungsvorschriften darin gesehen, dass der Gläubiger, der eine ihm nicht oder nicht zu der Zeit oder nicht in der Art zustehende Sicherung oder Befriedigung, also eine inkongruente Deckung, erhält, ohnehin wenig schutzwürdig sei. Da eine inkongruente Deckung besonders verdächtig sei – wie es auch die Rechtsprechung anerkenne – sei es gerechtfertigt, den Anfechtungszeitraum auf einen Monat vor Eröffnungsantrag auszudehnen und auf subjektive Voraussetzungen beim Anfechtungsgegner völlig zu verzichten4.

4.149

cc) Anfechtbarkeit kongruenter Besicherung

Nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Bestellung von kongruenten Sicherheiten beginnend mit den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nur dann anfechtbar, wenn zur Zeit der Bestellung der Sicherheit einerseits der Schuldner zahlungsunfähig war und andererseits der Kreditgeber die Zahlungsunfähigkeit kannte. Zahlungsunfähigkeit liegt nach der auch für § 130 Abs. 1 InsO maßgeblichen Legaldefinition in § 17 Abs. 2 InsO vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen5.

4.150

Hinsichtlich der subjektiven Anforderungen beim Anfechtungsgegner verschärft § 130 Abs. 2 InsO die Anfechtungsregelung. Danach steht es der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit gleich, wenn der Anfechtungsgegner die Kenntnis von Umständen hatte, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen lassen. Dafür ist aber eine allgemeine Kenntnis von schlechten

4.151

1 Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 146 RegE, S. 158 f. 2 Dazu BGH v. 12.7.2007 – IX ZR 210/04, WM 2007, 1886 = ZIP 2007, 1913; Thole in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 131 InsO Rz. 33; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 131 InsO Rz. 61. 3 BGH v. 18.12.2003 – IX ZR 199/02, NZI 2004, 201 = ZIP 2004, 319; Paulus, WM 2000, 2225, 2229; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 131 InsO Rz. 63. 4 So die Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 146 RegE, S. 158 f. 5 Zum Begriff der Zahlungsunfähigkeit s. Rz. 4.145.

Kuder/Unverdorben | 143

§ 4 Rz. 4.151 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

wirtschaftlichen Verhältnissen des Kreditnehmers, die ein Kreditinstitut – vor allem auf Grund der nach § 18 KWG vorgeschriebenen laufenden Bonitätsprüfung – erlangt hat, nicht ausreichend1, da zum einen die Zahlungsunfähigkeit gegenüber der bloßen Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine wesentliche Verschärfung der Krise erfordert und zum anderen der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit durch die Kreditnehmer oft verschleiert wird2. Demgegenüber lässt der Umstand, dass ein Schuldner, der mit seinen laufenden Verbindlichkeiten seit mehreren Monaten zunehmend in Rückstand geraten ist, lediglich eine Teilzahlung leistet, ohne dass konkrete Anhaltspunkte für eine schnelle Zahlung aller fälligen Forderungen bestehen, zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners schließen3. Bloße fahrlässige Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit oder auch die Kenntnis von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit schaden dem Anfechtungsgegner aber nicht4.

5. Sittenwidrigkeit der Besicherung 4.152

Hat der Kreditgeber der GmbH einen ungesicherten oder nicht ausreichend gesicherten Kredit eingeräumt, so sind der nachträglichen Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten nicht nur Grenzen gesetzt durch die spezifisch insolvenzrechtlichen Anfechtungsregelungen. Vielmehr kann gerade in der Krise der GmbH die nachträgliche Sicherheitenbestellung auch nach der allgemeinen Regelung des § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein5. Dabei kann auch bei den wegen Sittenwidrigkeit nichtigen Rechtsgeschäften statt oder neben der Nichtigkeit die Anfechtung geltend gemacht werden6. Umgekehrt wird die Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit nicht durch die Vorschriften über die Anfechtung gläubigerbenachteiligender Rechtsgeschäfte ausgeschlossen7.

4.153

Der Umstand allein, dass es sich um eine nachträgliche Besicherung in der Krise der Gesellschaft handelt, führt noch nicht zur Sittenwidrigkeit der Sicherheitenbestellung, weil die nachträgliche Besicherung von bis dahin ohne Sicherheit gewährten oder nicht ausreichend gesicherten Krediten grundsätzlich zulässig ist8. Vielmehr verlangt § 138 Abs. 1 BGB das Hinzutreten weiterer Umstände, die im Hinblick auf die Größe der einer unbestimmten Vielzahl von Gläubigern drohenden Gefahr und der gewissenlosen Einstellung des Sicherungsnehmers sogar über die Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung hinausgehen9. Welche besonderen Merkmale dies sind, lässt sich abstrakt kaum abschließend bestimmen. Denn während die Anfechtbarkeit einer Kreditbesicherung anhand der durch die gesetzlichen Regelungen klar umrissenen Tatbestände zu beurteilen ist, kann nicht schon stets beim Vorliegen bestimmter typischer Merkmale die Sittenwidrigkeit bejaht und bei ihrem Fehlen die Sittenwidrigkeit verneint werden. Vielmehr ist erst auf Grund einer umfassenden Würdigung der objektiven Verhältnis1 In der Tendenz anders Paulus, WM 2000, 2225, 2228. 2 So im Ergebnis auch Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 39. 3 BGH v. 9.1.2003 – IX ZR 175/02, WM 2003, 400 = ZIP 2003, 410; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 38 f. 4 BGH v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, NZI 2009, 228 Rz. 22 = ZIP 2009, 526; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 130 InsO Rz. 34; Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 145 RegE, BT-Drucks. 12/7302, S. 173. 5 Huber, ZInsO 2018, 1761; Huber, NZI 2015, 447, 449 f. 6 Dazu im Detail Kirchhof/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor §§ 129 bis 147 InsO Rz. 50 ff. 7 BGH v. 16.3.1995 – IX ZR 72/94, WM 1995, 995 = ZIP 1995, 630. 8 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671. 9 BGH v. 16.3.1995 – IX ZR 72/94, WM 1995, 995 = ZIP 1995, 630; BGH v. 23.4.2002 – XI ZR 136/ 01, WM 2002, 1186 = ZIP 2002, 1155.

144 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.155 § 4

se, unter denen ein Kredit- und Sicherungsvertrag geschlossen wurde, und der für den Vertragsschluss leitenden Absichten und Beweggründe der Parteien ein Urteil möglich, ob eine Kreditbesicherung gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht denkenden Kaufleute verstößt und deshalb wegen Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB nichtig ist1. Immerhin lassen sich aber Fallgruppen bilden, in denen die Sittenwidrigkeit der nachträglichen Sicherheitenbestellung typischerweise zumindest naheliegt. Diese sollen hier unter den häufig verwandten Stichworten der „Knebelung“ (Rz. 4.154 ff.) und „Gläubigergefährdung“ (letztere häufig auch als „Gläubigerbenachteiligung“ oder „Kredittäuschung“ bezeichnet) (Rz. 4.162 ff.) erörtert werden2.

a) Knebelung Ein Sicherungsvertrag kann wegen Knebelung sittenwidrig und damit nichtig sein, wenn der Sicherungsnehmer den Sicherungsgeber durch die Inanspruchnahme der Sicherheiten in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit übermäßig einengt; sei es, weil dem Sicherungsgeber keine freien Mittel zur eigenen freien Verfügung mehr verbleiben, oder sei es, weil dem Sicherungsgeber in anderer Weise die Möglichkeit zu wirtschaftlich selbständigem Handeln genommen wird3. Die Knebelung kann sowohl durch den Umfang der Sicherheitenbestellung als auch durch die Einflussnahme auf den Geschäftsbetrieb des Kreditnehmers seitens des Kreditgebers herbeigeführt werden4.

4.154

Der Umstand allein, dass sich der Kreditgeber das wesentliche freie Vermögen des Unternehmens als Sicherheit hat übertragen lassen, führt nicht zur sittenwidrigen Knebelung, solange der Umfang der Sicherheitenbestellung in einem angemessenen Verhältnis zur Höhe der Kredite steht5 und dem Kreditnehmer noch genügend wirtschaftliche Bewegungsfreiheit zur Führung seines Unternehmens verbleibt6. Dieses notwendige Mindestmaß an Bewegungsfreiheit ist gewährleistet, wenn

4.155

– dem Kreditnehmer für die Bestellung der Sicherheiten „Gegenwerte“ in Form von Krediten zufließen, durch die er sein Geschäft weiter betreiben kann7, oder wenn 1 So BGH v. 20.12.1957 – VI ZR 188/56, WM 1958, 249; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/142 ff. (83. Lfg.). 2 Schon das Reichsgericht hat diese beiden Tatbestände als Fallgruppen benannt, in denen Sicherungsverträge wegen Sittenwidrigkeit nichtig sein können: RG v. 21.12.1933 – VI 196/33, RGZ 143, 48; zusammenfassend zur Sittenwidrigkeit wegen Knebelung und Gläubigergefährdung s. auch Kirchhof/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor §§ 129–147 InsO Rz. 68 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.4 ff. 3 So BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935; s. auch OLG Celle v. 30.6.1982 – 3 U 258/81, ZIP 1982, 942; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/144 (83. Lfg.). 4 Für einen Gesamtüberblick zur Knebelung durch die Bestellung von Kreditsicherheiten s. auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.8 ff.; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/142 ff. (83. Lfg.). 5 Werden Sicherheiten in solchem Umfang hereingenommen, dass bereits bei Vertragsschluss ein auffälliges Missverhältnis zwischen deren realisierbarem Wert und dem gesicherten Kredit feststeht, kann die Besicherung auch ohne Knebelung wegen ursprünglicher Übersicherung sittenwidrig und damit nach § 138 BGB unwirksam sein; dazu BGH v. 12.3.1998 – IX ZR 74/95, WM 1998, 856 = ZIP 1998, 684. 6 BGH v. 11.10.1961 – VIII ZR 113/60, WM 1961, 1297; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590. 7 BGH v. 21.11.1955 – II AZR 1/55, WM 1955, 1666; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590.

Kuder/Unverdorben | 145

§ 4 Rz. 4.155 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– der Kreditnehmer in seiner Entscheidung, durch freiwillige Leistung auch andere Gläubiger zu befriedigen, nicht beeinträchtigt wird1 oder wenn – der Kreditnehmer über die zur Sicherung übertragenen Forderungen und Gegenstände in seinem Geschäftsbetrieb weiter verfügen kann, solange das Kreditverhältnis ungestört verläuft2.

4.156

Im Hinblick auf den letzten Gesichtspunkt führt die Belastung des gesamten Anlagevermögens als Sicherheit für Bankkredite nicht zu einer sittenwidrigen Knebelung, da das Anlagevermögen gerade nicht zur Veräußerung bestimmt ist, sondern nachhaltig die Erträge erwirtschaften soll, aus denen die Fremdfinanzierung eines Unternehmens zu bedienen ist3. Vielmehr kommt es bei einer Sicherheitenbestellung, die nahezu das gesamte Vermögen des Kreditnehmers umfasst, zur Vermeidung der Sittenwidrigkeit darauf an, dass der unternehmerisch tätige Kreditnehmer in seinem gewöhnlichen Geschäftsbetrieb insbesondere über sein Umlaufvermögen verfügen kann, auch wenn das Umlaufvermögen, also vor allem die Forderungen aus Lieferung und Leistung, und die Vorräte im Wege der Globalzession und der (Raum-)Sicherungsübereignung mit Sicherungsrechten belastet worden sind. Denn nur in diesem Fall kann der Kreditnehmer seinen Betrieb ungehindert fortführen4. Die im Kreditgewerbe eingesetzten Standardverträge tragen diesem Umstand Rechnung. So sehen die üblichen Verträge für die Vereinbarung einer Globalzession vor, dass der Sicherungsgeber die zur Sicherung abgetretenen Forderungen im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebs einziehen kann, solange das gesicherte Kreditverhältnis ungestört verläuft (sog. Einziehungsbefugnis)5. In vergleichbarer Weise bleibt dem Sicherungsgeber bei dem im Kreditgewerbe gebräuchlichen Mustervertrag für eine Raumsicherungsübereignung die Befugnis erhalten, über das Sicherungsgut im Rahmen eines ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebes zu verfügen6.

4.157

Neben dem Umfang der Sicherheitenbestellung kann auch die Einflussnahme des Kreditgebers auf den Geschäftsbetrieb des Kreditnehmers dazu führen, dass Sicherungsverträge wegen Knebelung des Kreditnehmers sittenwidrig sind. Voraussetzung dafür ist ein solcher Grad an Einflussnahme, dass der Kreditgeber die so genannte stille Geschäftsinhaberschaft übernommen hat, weil – so die Definition des Reichsgerichts7 – „der Sicherungsnehmer den Schuldner zu seinem bloßen Strohmann erniedrigt, der nur noch nach außen hin als Inhaber des Geschäfts erscheint, ihm gegenüber in Wirklichkeit nur noch die Stellung eines abhängigen Verwalters hat, und zwar so, dass der ganze Gewinn des Geschäfts dem Sicherungsnehmer zufließt, ein etwaiger Verlust aber von ihm nicht getragen und jede Haftung für die Geschäftsschulden auch bei fehlender Deckung von ihm abgelehnt wird“.

4.158

Fälle, in denen der Kreditgeber die Geschäftsführung des Kreditnehmers seinen Weisungen unterwirft, um sämtliche Liquidität aus dem Geschäft zur Tilgung seiner eigenen Forderungen 1 BGH v. 20.12.1957 – VI ZR 188/56, WM 1958, 249; BGH v. 21.11.1955 – II AZR 1/55, WM 1955, 1666; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590. 2 BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968; BGH v. 11.10.1961 – VIII ZR 113/60, WM 1961, 1297; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590; BGH v. 4.3.1955 – I ZR 183/53, WM 1955, 914 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793. 3 OLG Celle v. 30.6.1982 – 3 U 258/81, ZIP 1982, 942. 4 So für die Sicherung des Warenkreditgebers durch verlängerten Eigentumsvorbehalt BGH v. 4.3.1955 – I ZR 183/53, WM 1955, 914. 5 Huber in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/595 ff. (146. Lfg.). 6 So das Muster für einen Raumsicherungsübereignungsvertrag in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/378; vgl. dazu auch Cartano in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/333 ff. (123. Lfg.). 7 RG v. 9.4.1932 – IX 74/31, RGZ 136, 247.

146 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.160 § 4

an sich zu ziehen, während alle übrigen Gläubiger leer ausgehen, werden in der Praxis des Kreditgeschäfts die Ausnahme bleiben. Aber die Rechtsprechung sieht die o.g. Definitionen des Reichsgerichts für sittenwidriges Handeln von Kreditinstituten bei der Besicherung von Krediten im Insolvenzvorfeld nur als beispielhafte, nicht aber abschließende Aufzählung an, so dass in jedem Einzelfall die Gesamtheit der Beschränkungen, denen der Kreditnehmer durch einen Sicherungsvertrag in Verbindung mit der sonstigen Einflussnahme des Kreditgebers unterliegt, und den Geist, in dem der Kreditgeber seine Rechte ausübt, beurteilt werden muss1. Insbesondere führt nicht jede Entsendung von Mitarbeitern oder Vertrauenspersonen in das Unternehmen des Kreditnehmers, die der Geschäftsführung mit Rat und Tat zur Seite stehen und den Kreditgeber über die Entwicklung des bedrohten Unternehmens unterrichten, zur sittenwidrigen Knebelung. Auch hier ist die Grenze zur Sittenwidrigkeit erst überschritten, wenn der Kreditgeber den Kunden, z.B. durch Drohung mit der Kreditkündigung, veranlasst, eine solch weitgehende Überwachung seiner geschäftlichen Tätigkeit zu dulden, dass jede Verfügung über Vermögenswerte von der Zustimmung des Kreditgebers abhängig ist2. Im Übrigen muss zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit neben dem Umfang der Sicherheitenbestellung in Betracht gezogen werden, welche Möglichkeiten dem Kreditnehmer verbleiben, trotz der Sicherungsübertragung über sein Vermögen auf Grund eigener geschäftlicher Entscheidung zu verfügen, ob der Kreditnehmer selbständig über die Begleichung seiner Verbindlichkeiten gegenüber dritten Gläubigern entscheidet, ob der Kreditnehmer frei bleibt, im Rahmen der ihm eingeräumten Kreditlinie Waren oder Rohstoffe nach eigener Entscheidung zu beziehen, ob er seine Waren und Fertigprodukte nach eigenem Gutdünken verkaufen kann, ob er in der Einstellung und Entlassung des Personals Beschränkungen unterliegt und in welchem Umfang der Kreditgeber auf die Unternehmensplanung Einfluss nimmt3.

Hat der Kreditgeber mit dem Kreditnehmer nacheinander mehrere Sicherungsverträge für die Deckung von Krediten abgeschlossen, mag zwar jeder Sicherungsvertrag für sich allein rechtmäßig sein. Doch kann der Kreditgeber auf diese Weise nach und nach das gesamte als Sicherheit verwertbare Vermögen in die Hand bekommen, so dass beim Hinzutreten weiterer Umstände durch die Verträge in ihrer Gesamtheit der Tatbestand der Knebelung erfüllt wird. Das hat aber nicht zur Folge, dass nunmehr auch frühere Sicherungsverträge, soweit sie weder für sich allein noch in ihrer Gesamtheit sittenwidrig waren, durch das Hinzutreten des weiteren Vertrages sittenwidrig und damit nichtig werden. Denn frühere Verträge, die zur Zeit ihres Abschlusses einwandfrei waren, werden nicht dadurch sittenwidrig, dass durch später getroffene, im Voraus nicht geplante Maßnahmen die Gesamtwirkung zu sittenwidrigem Handeln führt. Eine andere Beurteilung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn zwar die Sicherheiten auf Grund von solchen Einzelverträgen gewährt werden, aber diese nur die Erfüllung eines von vornherein auf die Bestellung übermäßiger Sicherheiten gerichteten Gesamtvertrages darstellen4.

4.159

Rechtsfolge der Knebelung ist nach § 138 Abs. 1 BGB die Nichtigkeit des Sicherungsvertrages wegen Sittenwidrigkeit. Nichtig ist in einem solchen Fall das dingliche Rechtsgeschäft der

4.160

1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.19, weist deshalb zu Recht darauf hin, dass es Kreditinstituten damit schwerfällt, in der Krise des Kreditnehmers zu entscheiden, welche Maßnahmen noch zulässig sind. 2 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671; BGH v. 9.2.1965 – VI ZR 153/63, WM 1965, 475. 3 Beispiele für solche Abwägungen bei BGH v. 3.3.1956 – VI ZR 334/55, WM 1956, 527; BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671; BGH v. 9.2.1965 – VI ZR 153/63, WM 1965, 475. 4 BGH v. 8.7.1958 – VIII ZR 201/57, WM 1958, 1369; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/145 (83. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.33.

Kuder/Unverdorben | 147

§ 4 Rz. 4.160 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Sicherheitenbestellung, so dass die gewollte Rechtsänderung zu Gunsten des Kreditnehmers nicht eintritt und der Sicherungsgeber Eigentümer des Sicherungsgutes bzw. Inhaber der Forderungen bleibt. Die Sicherungsgegenstände und Verwertungserlöse, die dem Kreditgeber auf Grund des nichtigen Vertrags zugeflossen sind, können vom Kreditnehmer bzw. dessen Insolvenzverwalter zurückgefordert werden1.

4.161

Dagegen können dritte Gläubiger wegen der Knebelung keine Schadensersatzansprüche gegen den gesicherten Kreditgeber geltend machen, da die Dritten nicht schon dadurch einen Schaden erleiden, dass die wirtschaftliche Freiheit des Schuldners – wenn auch in sittenwidriger Weise – eingeschränkt wird. Erst wenn weitere durch die Rechtsordnung missbilligte Umstände hinzutreten, insbesondere wenn der Knebelungsvertrag gleichzeitig auch zu einer Gläubigergefährdung geführt hat, kommen Schadensersatzansprüche der anderen Gläubiger in Betracht2.

b) Gläubigergefährdung 4.162

Sicherungsverträge können auch, selbst wenn der Tatbestand der Knebelung nicht verwirklicht ist, wegen Gläubigergefährdung sittenwidrig sein3. Zwar bringt jede Bestellung von Kreditsicherheiten für einen bestimmten Gläubiger, insbesondere in zeitlicher Nähe zu einer Insolvenz bei ungünstiger Vermögenslage des Kreditnehmers, die Gefahr für die übrigen (ungesicherten) Gläubiger mit sich, dass ihre Zugriffsmöglichkeiten auf das Schuldnervermögen vermindert werden. Dies allein führt aber noch nicht zur Sittenwidrigkeit der Besicherung, selbst wenn der Kreditnehmer fast sein gesamtes freies Vermögen zur Sicherung überträgt4. Hinzutreten muss vielmehr das Element der Täuschungsabsicht oder des Schädigungsvorsatzes5, d.h. die ausbedungene Sicherung muss gerade durch ihre Undurchsichtigkeit die Gefahr mit sich bringen, dass andere Gläubiger Schaden erleiden, und die Parteien (Sicherungsgeber und Kreditgeber) müssen eine solche Schädigung bewusst in Kauf nehmen6.

4.163

Diese Voraussetzungen der Gläubigergefährdung sind erfüllt, wenn7 – der Schuldner sein letztes zur Gläubigerbefriedigung taugliches Vermögen an einen bestimmten Kreditgeber überträgt und – dadurch gegenwärtige und künftige Gläubiger über die Kreditwürdigkeit des Schuldners getäuscht werden und – beide Vertragspartner bei dieser Täuschung zusammengewirkt haben. Die Täuschung muss allerdings nicht der Zweck ihres Handelns sein, sondern es genügt, wenn sie mit der 1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.31 f.; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/148 (83. Lfg.). 2 Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 117; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.34. 3 Für einen Überblick zur Gläubigergefährdung durch die Bestellung von Sicherheiten in der Krise des Kreditnehmers s. auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.40 ff.; Kirchhof/ Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor §§ 129–147 InsO Rz. 74 f. 4 BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968; BGH v. 4.3.1958 – VIII ZR 213/57, WM 1958, 590 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793; dazu auch Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/149 (83. Lfg.). 5 BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.52 f. 7 BGH v. 16.3.1995 – IX ZR 72/94, WM 1995, 995 = ZIP 1995, 630; BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/ 97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793.

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§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.167 § 4

Möglichkeit gerechnet haben, dass andere Gläubiger geschädigt werden. Kennt der begünstigte Kreditgeber die Umstände, die einen bevorstehenden Zusammenbruch des Schuldners nahelegen, handelt er schon dann sittenwidrig, wenn er sich über die Erkenntnis, dass andere Gläubiger möglicherweise geschädigt werden, mindestens grob fahrlässig hinwegsetzt. Sittenwidrig können danach insbesondere Kreditsicherungsverträge sein, durch die der Kreditnehmer sein verbliebenes freies Vermögen ganz oder nahezu vollständig einem Kreditgeber in einer solchen Weise zur Sicherheit überträgt, dass wegen der Undurchsichtigkeit der Besicherung den anderen Gläubigern und Geschäftspartnern die wirtschaftliche Lage des Schuldners verborgen bleibt und sie auf diese Weise über die Liquidität des Kreditnehmers getäuscht werden1.

4.164

Die Gefahr der Undurchsichtigkeit besteht letztlich allerdings nur bei den publizitätslosen Mobiliarsicherheiten wie Sicherungsübereignung und Sicherungszession. Die Vereinbarung solcher publizitätsloser Sicherheiten ist inzwischen aber so verbreitet und durch das Gesetz anerkannt (§ 51 Nr. 1, § 166 InsO), dass jeder Geschäftspartner des Sicherungsgebers davon ausgehen muss, dass solche Sicherheiten bestellt wurden. Die Rechtsprechung zur Undurchsichtigkeit der Besicherung kann daher heute allenfalls noch bei ungewöhnlichen Sicherheitenkonstruktionen in Frage kommen, die es dem Kreditinstitut erlauben, auf die üblichen Sicherungsübereignungen, Sicherungsabtretungen und Grundpfandrechte zu verzichten2.

4.165

Der Kreis der möglichen Geschädigten beschränkt sich nicht auf Gläubiger, deren Forderungen erst nach Abschluss des beanstandeten Vertrages mit dem Kreditinstitut zu Stande kommen, andererseits werden auch nicht sämtliche dieser Gläubiger gefährdet. Allgemeine Grundsätze lassen sich auch hier nicht aufstellen, vielmehr muss stets anhand des Einzelfalles geprüft werden, welche Gläubiger überhaupt gefährdet werden können. Gläubiger, die bei Abschluss des beanstandeten Vertrages bereits ausreichend gesichert sind, können nachträglich nicht mehr gefährdet werden. Das Gleiche gilt für Gläubiger, denen der Kreditnehmer nach Abschluss des beanstandeten Vertrages noch Sicherheiten durch verlängerten Eigentumsvorbehalt bestellt, wenn er dazu auf Grund einer dinglichen und nicht nur schuldrechtlichen Teilverzichtsklausel in Verhältnis zu dem Kreditinstitut berechtigt ist. Eine Gläubigergefährdung ist auch dann ausgeschlossen, wenn die schlechte wirtschaftliche Lage des Kreditnehmers in den betreffenden Kreisen bereits bekannt war oder wenn die Gläubiger auf Grund der allgemeinen Situation in der betreffenden Branche oder Region davon ausgehen müssen, dass durchweg das vorhandene Vermögen derartiger Unternehmen nicht einmal ausreicht, um die kreditgewährenden Banken zu sichern3.

4.166

Steht fest, dass die Sicherungsverträge durch ihren Umfang und ihre Undurchsichtigkeit objektiv zur Gefährdung dritter Gläubiger geeignet waren, so kann dem besicherten Kreditgeber ein sittenwidriges Verhalten schon dann vorgeworfen werden, wenn er die Auswirkungen auf andere Gläubiger kannte oder wenn ihm zwar diese Gefahren nicht bewusst waren, er sich aber über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kreditnehmers mangelhaft unterrichtet und sich aus grober Nachlässigkeit der Erkenntnis verschlossen hat, dass Dritte hierdurch Schaden erleiden können. Dabei muss der Kreditgeber desto sorgfältiger die Auswirkungen der Sicherheitenbestellung auf das Vermögen des Schuldners prüfen, je größer und konkreter die Gefahr des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist. Unterlässt er diese Prüfung, trifft ihn der

4.167

1 Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/151 (83. Lfg.). 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.52 f. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.59 ff.

Kuder/Unverdorben | 149

§ 4 Rz. 4.167 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Vorwurf, sich leichtfertig über die Gefährdung der anderen Gläubiger durch Kredittäuschung hinweggesetzt zu haben1. Umgekehrt kann den Kreditgeber der Vorwurf sittenwidrigen Handelns dann nicht treffen, wenn er nach sachgerechter Prüfung annehmen durfte, dass mit der Bestellung der Sicherheiten für Dritte keine Gefahren verbunden sind, weil das Unternehmen des Kreditnehmers nicht existentiell bedroht erscheint oder noch über hinreichend anderes, freies Vermögen verfügt2.

4.168

Ist der Vorwurf der sittenwidrigen Gläubigergefährdung gerechtfertigt, so haben als Rechtsfolge dritte Gläubiger gegen den besicherten Kreditgeber aus § 826 BGB Schadensersatzansprüche. Daneben führt die Gläubigergefährdung nach Auffassung der Rechtsprechung3 und weit verbreiteter Ansicht in der Literatur4 gemäß § 138 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit der Sicherungsverträge. Diese Auffassung ist aber abzulehnen, weil kein Bedürfnis besteht, wegen der Gefährdung anderer Gläubiger den Vertrag auch für den Schuldner, der bei dieser Gefährdung Dritter mitgewirkt hat, als nicht verbindlich anzuerkennen. Wurde mit dem Abschluss von Sicherungsverträgen nur der Tatbestand der Gläubigergefährdung erfüllt, ist daher das Vertragswerk, das den Vorwurf der Gläubigergefährdung begründet, nicht nichtig, und weder der Kreditnehmer noch dessen Insolvenzverwalter können auf Grund der Gläubigergefährdung Ansprüche gegen den besicherten Kreditgeber herleiten5. Allerdings wird eine Gläubigergefährdung häufig mit anderen Tatbeständen einhergehen, die die Nichtigkeit der Verträge auslösen, wie z.B. mit der Knebelung.

4.169–4.200

Einstweilen frei.

V. Kreditkündigung 4.201

Kreditinstitute, die einer GmbH in der Krise mit Darlehen zur Verfügung stehen, müssen angesichts des gestiegenen Kreditrisikos und der dargestellten (s. bei Rz. 4.128 ff.) rechtlichen Probleme, das erhöhte Kreditrisiko durch eine insolvenzfeste Nachbesicherung auszugleichen, darüber nachdenken, ob der bei Insolvenz des Darlehensnehmers drohende Ausfall durch Kündigung der Darlehensverträge verhindert oder zumindest begrenzt werden kann, weil so die ausgereichten Kreditmittel noch vor Insolvenz zurückgefordert werden oder zumindest eine Inanspruchnahme noch offener Kreditlinien verhindert wird. Dies erfordert aber eine sorgfältige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine – ordentliche oder außerordentliche – Kündigung vorliegen, da eine unberechtigte Kündigung das Kreditinstitut zum Schadensersatz verpflichten kann.

1. Ordentliches Kündigungsrecht 4.202

Ist für den Kredit keine feste Laufzeit vereinbart, so steht jedem Kreditinstitut ein ordentliches Kündigungsrecht zu. Dieses Kündigungsrecht folgt – sofern es nicht ausdrücklich in der Kreditvereinbarung niedergelegt ist – aus § 488 Abs. 3 BGB; die Kündigungsfrist beträgt drei Monate. In aller Regel werden Kreditinstitute ihre Kreditkündigung aber auf die speziellen Vereinbarungen in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen stützen. Nr. 19 Abs. 2 AGB1 BGH v. 16.3.1995 – IX ZR 72/94, WM 1995, 995 = ZIP 1995, 630; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/148 (83. Lfg.). 2 Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/148 (83. Lfg.). 3 BGH v. 16.3.1995 – IX ZR 72/94, WM 1995, 995 = ZIP 1995, 630. 4 So z.B. Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/150 (83. Lfg.). 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.65.

150 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.204 § 4

Banken bzw. – im Ergebnis weitgehend übereinstimmend – Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen berechtigen die Kreditinstitute, Kredite und Kreditzusagen, für die weder eine Laufzeit noch eine abweichende Kündigungsregelung vereinbart ist, jederzeit ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen1. Die Kündigung kann sowohl für schon ausgezahlte als auch für bislang lediglich zugesagte Kredite ausgesprochen werden2. Dieses in den AGB der Kreditwirtschaft vereinbarte Recht, das bis auf weiteres, also nicht für eine festgelegte Laufzeit, zugesagte Darlehen ohne Einhaltung einer Frist kündigen zu können, hat die Rechtsprechung stets für wirksam erachtet3 und Einschränkungen nur über das Verbot der Kündigung zur Unzeit erreicht (dazu sogleich bei Rz. 4.215 ff.). Eine vertragliche Vereinbarung, die die gesetzliche Kündigungsfrist von drei Monaten aus § 488 Abs. 3 Satz 2 BGB für die ordentliche Kündigung eines bis auf weiteres zugesagten Darlehens verkürzt, ist wirksam, da die gesetzliche Regelung nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers dispositiv sein soll4. Ebenso bleibt die Vereinbarung vertraglicher, ordentlicher Kündigungsrechte, wie sie sich z.B. aus Nr. 19 Abs. 2 AGB-Banken bzw. Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen ergeben, von den Regelungen der außerordentlichen Kündigungsrechte in § 490 BGB unberührt5. Insbesondere wegen der dem Darlehensnehmer nach Nr. 19 Abs. 5 AGB-Banken einzuräumenden angemessenen Abwicklungsfrist verstößt das vereinbarte Recht zur ordentlichen fristlosen Kündigung in Nr. 19 Abs. 2 AGB-Banken bzw. Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen nicht gegen ein gesetzliches Leitbild und benachteiligt daher auch nicht im Sinne von § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB den Darlehensnehmer unangemessen6.

4.203

2. Außerordentliches Kündigungsrecht Kreditinstituten steht auch bei Krediten, die für eine bestimmte Laufzeit vergeben worden sind oder für die das Recht zur ordentlichen Kündigung ausgeschlossen worden ist, ein Kündigungsrecht auf Grund der allgemeinen Geschäftsbedingungen des Kreditgewerbes zu. Die Kündigung solcher Kredite kann aber nur als (fristlose) außerordentliche Kündigung erfolgen, wozu ein wichtiger Grund vorliegen muss. Ein wichtiger Grund in diesem Sinne ist nach der Regelung in Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken (ähnlich Nr. 26 Abs. 2 AGB-Sparkassen) gegeben, wenn dem Kreditgeber, auch unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Kreditnehmers, die Fortsetzung des Kreditverhältnisses unzumutbar ist. Als „Regelbeispiele“ für solch einen wichtigen Grund nennt Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, – wenn der Kreditnehmer unrichtige Angaben über seine Vermögenslage gemacht hat, die für das Kreditinstitut bei der Entscheidung über die Kreditgewährung von erheblicher Bedeutung waren, 1 Zur Kündigung nach Nr. 19 Abs. 2 AGB-Banken ausführlich Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/559 ff. (108. Lfg.), mit Nachweis der Rechtsprechung. 2 K. P. Berger in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 488 BGB Rz. 233. 3 Zu Nr. 19 Abs. 1 AGB-Banken: BGH v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519 Rz. 11 ff.; zum heutigen Nr. 19 Abs. 2 AGB-Banken: BGH v. 30.5.1985 – III ZR 112/84, WM 1985, 1136; BGH v. 5.4.1984 – III ZR 2/83, ZIP 1984, 676; OLG Köln v. 22.1.1999 – 6 U 70/98, WM 1999, 1004; LG Bonn v. 25.2.1998 – 26 O 90/97, WM 1998, 1067. 4 K. P. Berger in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 488 BGB Rz. 223; Wittig/Wittig, WM 2002, 145; Begr. Fraktionsentwurf, BT-Drucks. 14/6040 v. 14.5.2001, zu § 488, S. 253. 5 Begr. Fraktionsentwurf, BT-Drucks. 14/6040 v. 14.5.2001, zu § 490, S. 254. 6 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/559 (108. Lfg.); Hopt in Hopt, HGB, 41. Aufl. 2022, AGB-Banken (8) Nr. 19 Rz. 3; Obermüller, ZInsO 2002, 97; Grundmann, BKR 2001, 66, 69.

Kuder/Unverdorben | 151

4.204

§ 4 Rz. 4.204 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

– wenn der Kunde seiner Verpflichtung zur Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten, die sich aus Nr. 13 Abs. 2 AGB-Banken oder einer sonstigen Vereinbarung ergibt, nicht innerhalb der von dem Kreditinstitut gesetzten angemessenen Frist nachkommt, oder – wenn eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage des Kreditnehmers oder in der Werthaltigkeit einer für das Darlehen gestellten Sicherheit eintritt oder einzutreten droht und dadurch die Erfüllung der Verbindlichkeiten des Kreditnehmers gegenüber dem Kreditinstitut gefährdet ist.

4.205

In der Krise ist naturgemäß der letztgenannte Kündigungsgrund, also die Gefährdung der Rückzahlung des Darlehens, von besonderer Bedeutung. Mit den Regelungen in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Kreditwirtschaft wird weitgehend wörtlich das außerordentliche Kündigungsrecht des § 490 Abs. 1 BGB übernommen1. Für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung sind danach ausdrücklich auch die für das Darlehen bestellten Sicherheiten zu berücksichtigen: Zum einen kann die (drohende) Verschlechterung in der Werthaltigkeit der Sicherheit schon ausreichender Kündigungsgrund sein, sofern dadurch die Rückerstattung des Darlehens gefährdet wird2. Zum anderen ist für die Frage, ob die Rückerstattung des Darlehens gefährdet ist, auch eine Verwertung der Sicherheiten und die Rückführung aus Verwertungserlösen einzubeziehen3. Darauf ist bei Rz. 4.218 ff. noch einzugehen. Voraussetzung jeder Kündigung nach dieser Regelung ist aber, dass die Umstände, die die Rückzahlung gefährden, erst im Verlauf der Kreditbeziehung eintreten oder einzutreten drohen. Dagegen besteht kein Recht zur außerordentlichen Kündigung, wenn die Umstände, die zur Kündigung herangezogen werden, dem Kreditgeber bereits im Zeitpunkt der Kreditgewährung bekannt waren4.

4.206

Die benannten Kündigungsgründe sind nicht abschließend, wie durch die „insbesondere“Formulierung in Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken verdeutlicht wird. Dies wird durch die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 490 Abs. 3 BGB gestützt, wonach das Kündigungsrecht des Darlehensgebers wegen Gefährdung der Rückerstattung aus § 490 Abs. 1 Satz 1 BGB keine abschließende Regelung darstellt, sondern daneben das allgemeine Recht zur Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB unberührt bleibt. Mit dieser Norm hat der Gesetzgeber den schon früher allgemein anerkannten Grundsatz, dass auch Dauerschuldverhältnisse aus wichtigem Grund fristlos gekündigt werden können, generell normiert. Damit bleibt z.B. die Kündigung aus wichtigem Grund bei Zahlungsverzug des Darlehensnehmers möglich, auch wenn keine Verschlechterung in den Vermögensverhältnissen des Schuldners oder in der Werthaltigkeit einer Sicherheit eingetreten ist5. Soweit jedoch seine Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, ist § 490 Abs. 1 BGB im Verhältnis zu § 314 BGB lex specialis6, so dass § 490 Abs. 1 BGB abschließend das Kündigungsrecht des Darlehensgebers regelt, wenn kein anderer Kündigungsgrund als die Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs vorliegt7. 1 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/575 f. (108. Lfg.); Mülbert, WM 2002, 465 ff.; Wittig/Wittig, WM 2002, 145 ff.; Freitag, WM 2001, 2370 ff.; Obermüller, ZInsO 2002, 97 ff.; Wittig, NZI 2002, 633. 2 So auch schon OLG Köln v. 15.9.2000 – 11 W 56/00, NZI 2001, 262. Eine Kreditkündigung wegen Wegfalls einer Sicherheit scheidet dagegen aus, wenn die Sicherheit ohnehin von Anfang an nicht werthaltig war: OLG Frankfurt a.M. v. 15.2.2002 – 24 U 5/01, ZIP 2002, 1030. 3 Dazu aus grundsätzlichen Gründen sehr kritisch Freitag, WM 2001, 2370, 2374. 4 Dazu BGH v. 7.5.2002 – XI ZR 236/01, WM 2002, 26 = ZIP 2002, 1241. 5 Mülbert, WM 2002, 465, 473. 6 Begr. Fraktionsentwurf, BT-Drucks. 14/6040 v. 14.5.2001, Vorbemerkung zu § 314, S. 177. 7 Zur Konkurrenz beider Vorschriften ausführlich Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/575 f., 1/578 (108. Lfg.); Mülbert, WM 2002, 465, 473; Wittig/Wittig, WM 2002, 145 ff. Dagegen mit Kritik an der gesetzlichen Regelung Freitag, WM 2001, 2370, 2377.

152 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.208 § 4

Weitere Gründe, bei deren Eintritt dem Kreditgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung zusteht, werden häufig in den Kreditverträgen ausdrücklich vertraglich vereinbart. Insbesondere bei strukturierten Konsortialkrediten ist es inzwischen marktüblich, dass sich der Kreditnehmer verpflichtet, bestimmte Finanzkennzahlen und Finanzrelationen, sog. Financial Covenants1, insbesondere hinsichtlich Eigenkapitalausstattung, Verschuldung, Ertrag und Liquidität einzuhalten; verstößt er gegen diese Verpflichtung, haben die Kreditgeber das Recht zur außerordentlichen Kündigung des Kreditvertrages2. Sofern eine außerordentliche Kündigung aus einem sonstigen, nicht ausdrücklich vertraglich oder durch AGB vereinbarten wichtigen Grund erfolgen soll, ist diese nur dann möglich, wenn der sonstige Grund qualitativ gleich schwerwiegend ist, so dass noch nicht jede Vertragsverletzung Kreditinstitute zur außerordentlichen Kreditkündigung berechtigt. Für das Kreditgeschäft mit einer insolvenzbedrohten GmbH oder einem sonstigen Kreditnehmer in der Krise ist aber entscheidend, dass eine Berechtigung zur Kreditkündigung in einem solchen Fall nahezu immer gegeben sein sollte, weil die Rechtsprechung das Recht zur außerordentlichen Kreditkündigung wegen schwerwiegender Verletzung der vertraglichen Verpflichtungen in typischen Fällen, die einer Insolvenz vorausgehen, bejaht hat, so z.B. wenn der Kreditnehmer die ihm eingeräumten Kreditlinien nachhaltig überschreitet, wenn er die Kreditmittel abredewidrig verwendet oder Zahlungen „umleitet“, an denen der Kreditgeber Sicherungsrechte geltend machen kann, wenn der Kreditnehmer mit der Zahlung von Zinsen in Verzug gerät3, wenn er Zins- oder sogar Tilgungszahlungen verweigert oder wenn er damit droht, seine Zahlungsunfähigkeit zu erklären und die Zahlungen völlig einzustellen4.

4.207

Die Zulässigkeit des ordentlichen wie des außerordentlichen Kündigungsrechts ist von der Rechtsprechung allgemein anerkannt5. Daran hat auch die Entscheidung des BGH zur Unwirksamkeit insolvenzabhängiger Lösungsklauseln6 nichts geändert7. Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken und Nr. 26 Abs. 2 AGB-Sparkassen knüpfen nicht, jedenfalls aber nicht ausschließlich, an die Insolvenz des Kreditnehmers an, sondern generell an die Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Kreditnehmers. Selbst wenn im konkreten Fall der Eintritt der Insolvenz ausdrücklich als Kündigungsgrund im Kreditvertrag vereinbart ist, ist diese Klausel zulässig, da sie einer gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeit (vgl. § 41 InsO; § 490 Abs. 1, § 314 Abs. 1, § 321 BGB) entspricht8 und deren Wirkungen nur vorwegnimmt. Wie bei jeder anderen Rechtsposition gilt aber auch bei der Ausübung des Kündigungsrechts das allgemeine

4.208

1 Zu Financial Covenants s. ausführlich Rz. 3.64 ff.; Castor in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kap. Rz. 137 ff.; Lehmann in Langenbucher/Bliesener/ Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 24. Kap. Rz. 12 ff., Hornuf/Reps/Schäferling, ZBB 2013, 202; Hannen, DB 2012, 2233; Kampshoff, GmbHR 2010, 897; Hoffmann, ZBB 2007, 413. 2 Samhat in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 54 Rz. 267 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.154. 3 Zur außerordentlichen Kündigung wegen Verzugs mit Zinsraten OLG Köln v. 30.1.2002 – 13 U 32/01, BKR 2002, 999; OLG Schleswig v. 27.4.2006 – 5 U 176/05, WM 2006, 1338 = ZIP 2006, 1339. 4 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/595 (108. Lfg.), mit Nachweisen der Rechtsprechung. 5 BGH v. 10.3.2009 – XI ZR 492/07, BeckRS 2009, 10673; BGH v. 20.5.2003 – XI ZR 50/02, WM 2003, 1416; BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/76, WM 1978, 234, 237 = ZIP 2003, 1336. 6 BGH v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZInsO 2013, 292 m. Anm. Raeschke-Kessler/Christopeit, WM 2013, 1592. 7 Huber, ZIP 2013, 493; Obermüller, ZInsO 2013, 476. 8 BGH v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZInsO 2013, 292 = ZIP 2013, 274.

Kuder/Unverdorben | 153

§ 4 Rz. 4.208 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

Willkürverbot, d.h. ein Kreditinstitut darf sein Kündigungsrecht nicht willkürlich ausüben, sondern unterliegt gewissen Schranken1.

3. Kreditkündigung bei Restrukturierungssachen nach dem StaRUG 4.209

Hat der Kreditnehmer gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG eine Restrukturierungsanzeige beim zuständigen Restrukturierungsgericht eingereicht und damit eine Restrukturierungssache rechtshängig gemacht, um die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen zu können, ändert dies an dem ordentlichen Kündigungsrecht des Kreditinstituts nichts. Ebenso zulässig bleibt eine ordentliche Kündigung auch in dem Fall, dass eine Stabilisierungsanordnung gemäß § 49 Abs. 1 StaRUG ergangen ist. Die Tatsachen der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder des Erlasses einer Stabilisierungsanordnung dürfen dabei vom Kreditinstitut bei der Bemessung der Kündigungsfrist nicht zu Lasten des Schuldners berücksichtigt werden.

4.210

Hat der Kreditnehmer gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG eine Restrukturierungsanzeige beim zuständigen Restrukturierungsgericht eingereicht und damit eine Restrukturierungssache rechtshängig gemacht, um die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen zu können, gilt für die außerordentliche Kündigung Folgendes: Das Kreditinstitut kann die außerordentliche Kündigung von Kreditverträgen gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StaRUG nicht allein auf den Umstand der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens stützen. Entgegenstehende Vereinbarungen, also entsprechende im Kreditvertrag definierte Kündigungsgründe oder sonstige Lösungsklauseln, sind gemäß § 44 Abs. 2 StaRUG unwirksam.

4.211

Zulässig bleibt aber eine auf sonstige Gründe gestützte außerordentliche Kündigung2. Insbesondere die Verletzung von Leistungspflichten des Kreditnehmers oder eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Kreditnehmers oder der Werthaltigkeit der für den Kredit gestellten Sicherheiten berechtigen gemäß § 490 Abs. 1 BGB zur Kündigung. Eine drohende Zahlungsunfähigkeit per se ist aber noch nicht ausreichend, um eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse zu begründen. Denn die Inanspruchnahme von Instrumenten des StaRUG setzt stets das Vorliegen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit voraus, so dass ein alleiniges Abstellen auf die drohende Zahlungsunfähigkeit als Umgehung des gesetzlichen Verbots von Lösungsklauseln gewertet werden könnte. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen, die geeignet sind, eine Gefährdung des Rückführungsinteresses des Kreditinstituts zu begründen.

4.212

Da auch die Stabilisierungsanordnung ein Instrument des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens ist, kann eine außerordentliche Kündigung ebenfalls nicht bereits auf den Umstand, dass der Kreditnehmer eine Stabilisierungsanordnung beantragt hat bzw. eine solche vom Gericht erlassen wurde, gestützt werden. Eine entgegenstehende Vereinbarung im Kreditvertrag ist gemäß § 44 Abs. 2 StaRUG unwirksam. Eine außerordentliche Kündigung der Kredite aus einem wichtigen Grund nach §§ 314, 490 Abs. 1 BGB, Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, etwa einer wesentlichen Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Schuldners oder der Werthaltigkeit der für den Kredit gestellten Sicherheiten oder eines Leistungsrückstands, bleibt 1 BGH v. 7.2.1956 – I ZR 43/54, WM 1956, 530; dazu Rümker, KTS 1981, 493, 495 ff.; Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 107. 2 Rechtmann, WM 2021, 520, 525.

154 | Kuder/Unverdorben

§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.215 § 4

aber auch bei Erlass einer Stabilisierungsanordnung zulässig. Dies gilt sowohl für bereits ausgezahlte Kredite als auch für noch nicht ausgezahlte Kredite bzw. noch nicht in Anspruch genommene Teile von Kreditlinien. Die ausdrückliche Erwähnung der Möglichkeit einer Kündigung nicht in Anspruch genommener Darlehen bei Leistungsrückstand nach § 490 BGB in § 55 Abs. 3 StaRUG ist nicht als Durchbrechung zu einer im Übrigen geltenden „Sperrung“ dieses Kündigungsgrundes zu verstehen, sondern hat allein klarstellende Funktion für den Sonderfall nicht in Anspruch genommener Kredite. Dies ergibt sich bereits aus der Systematik des § 55 Abs. 3 StaRUG, der eine Bestimmung für vorleistungspflichtige Gläubiger für den Fall einer Stabilisierungsanordnung enthält: In der Grundnorm in Satz 1 regelt das Gesetz für die Lieferanten, dass ein nach dem Vertrag vorleistungspflichtiger Gläubiger beim Erlass einer Stabilisierungsanordnung das Recht hat, vor seiner Leistung Sicherheitsleistung zu verlangen oder eine Zug-umZug-Leistung zu fordern. Satz 1 hat damit einen echten Regelungsgehalt, da sich allein durch die Rechtshängigkeit der Restrukturierungsache oder den Erlass der Stabilisierungsanordnung an der Vorleistungspflicht der Lieferanten nichts ändern würde. Bei Kreditinstituten besteht die Vorleistungspflicht darin, dass sie den Kredit auszahlen bzw. die Kreditlinie in Anspruch nehmen lassen. Insofern stellt Satz 2 für die Kreditinstitute klar, dass auch sie in den Fällen, in denen sie noch nicht in Vorleistung gegangen sind, nämlich im Hinblick auf die noch nicht in Anspruch genommenen Teile ihrer Kredite, ebenfalls – wie die Lieferanten – nicht vorleistungspflichtig sind, sondern das Recht haben, die nicht in Anspruch genommenen Teile der Kredite zu kündigen. Satz 3 wiederum stellt klar, dass mit dem Begriff des „Darlehens“ in Satz 2 auch revolvierende Bar- und Avalkreditlinien gemeint sind.

4.213

Die durch eine Kündigung herbeigeführte Fälligkeit der Kreditforderungen und eine dadurch etwa ausgelöste Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers führen nicht automatisch zu einer Beendigung der rechtshängigen Restrukturierungssache1. Das Gericht kann gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StaRUG von der Aufhebung absehen, wenn die Insolvenzreife aus der Kündigung oder einer sonstigen Fälligstellung einer Forderung resultiert, die nach dem vom Schuldner angezeigten Restrukturierungskonzept einer Gestaltung durch den Plan unterworfen werden soll und die Erreichung des Restrukturierungsziels überwiegend wahrscheinlich ist.

4.214

4. Einschränkung des Kündigungsrechts mit Rücksicht auf die Schuldnerinteressen Kreditinstitute dürfen ihr Kündigungsrecht nicht ohne Rücksicht darauf ausüben, ob dem Kreditnehmer ein vermeidbarer und durch eigene Interessen des Kreditinstituts nicht gerechtfertigter Nachteil zugefügt wird2. Auf Grund dieser Einschränkungen ist aber die Kündigung in den für das Kreditgeschäft mit einer insolvenzbedrohten GmbH besonders relevanten Fällen nicht ausgeschlossen. Denn hier wird regelmäßig ein Recht zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund bestehen. Dieses ist mit dem Recht zur ordentlichen Kündigung strukturell nicht vergleichbar, weil gerade wegen des wichtigen Grundes die Fortsetzung des Kreditverhältnisses dem Kreditgeber unzumutbar geworden ist. Daher kommt eine Ein1 Zur Diskussion über das Erfordernis eines „unechten Restrukturierungskredits“ bei Anordnung einer Verwertungssperre gemäß § 54 Abs. 2 StaRUG vgl. Trowski, NZI 2021, 297 ff.; Zuleger, NZI Beil. 1/2021, 43, 45; Knauth, NZI 2021, 158, 161. 2 Dazu BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/76, WM 1978, 234, 237; BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1179; OLG Zweibrücken v. 21.9.1984 – 1 U 244/82, ZIP 1984, 1334; ausführlich dazu Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/568 ff. (108. Lfg.).

Kuder/Unverdorben | 155

4.215

§ 4 Rz. 4.215 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

schränkung des außerordentlichen Kündigungsrechts wegen berechtigter Belange des Kreditnehmers nur in ganz seltenen Ausnahmefällen in Betracht, da andernfalls der Kreditgeber zu einer Kreditversorgung des Unternehmens in der Krise verpflichtet wäre, zu der noch nicht einmal die Gesellschafter verpflichtet sind1.

4.216

So ist insbesondere dann, wenn die GmbH oder ein anderer Kreditnehmer eingeräumte Kreditlinien überschreitet, das Kreditinstitut unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet, eine solche länger andauernde erhebliche Kontoüberziehung trotz wiederholter Abmahnung hinzunehmen2. Nur wenn der Kreditgeber häufige Überziehungen der Kreditlinie unbeanstandet hingenommen hat, kann er eine erneute Überziehung nicht ohne weiteres zum Anlass für eine Kündigung nehmen. Vielmehr muss er die kreditnehmende GmbH, genau wie jeden anderen Kreditnehmer, vorher warnen, weil sich das Kreditinstitut andernfalls in unzulässiger Weise widersprüchlich verhalten und ein zuvor in zurechenbarer Weise geschaffenes Vertrauen verletzen würde3.

4.217

Auch bei einem Kredit, der für die wirtschaftliche Existenz der GmbH notwendig ist, verbietet die Rücksichtnahme auf die Interessen des Kreditnehmers nicht jede Kündigung des Kredits. Vielmehr kann auch ein solcher Kredit von dem Kreditinstitut jedenfalls dann fristlos gekündigt werden, wenn objektive Umstände die Annahme rechtfertigen, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch des Kreditnehmers durch Zwangsmaßnahmen Dritter unvermeidlich geworden ist4.

5. Einschränkung des Kündigungsrechts wegen ausreichender Sicherheiten 4.218

§ 490 Abs. 1 BGB, der in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Kreditwirtschaft (Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen) fast wörtlich übernommen wurde, legt ausdrücklich fest, dass für die Feststellung dieses Kündigungsgrundes auch eine Verwertung der Sicherheiten und die Rückführung aus Verwertungserlösen einzubeziehen ist5. Dazu weisen die Gesetzesmaterialien darauf hin, dass bei Vorliegen hinreichender Sicherheiten trotz einer wesentlichen Verschlechterung in den Vermögensverhältnissen des Darlehensnehmers der Darlehensgeber kein Kündigungsrecht habe, weil die Gefährdung der Rückerstattung durch die Sicherheiten ausgeschlossen sei. Für die Beurteilung des Sicherheitenwertes sollen bei Sachsicherheiten die Werthaltigkeit der als Sicherheit gestellten Sache und bei Personalsicherheiten Dritter, insbesondere bei der Bürgschaft, die Vermögensverhältnisse des dritten Sicherungsgebers maßgeblich sein6.

4.219

Damit Sicherheiten in dieser Weise den Ausschluss der Kündigung rechtfertigen, ist aber erforderlich, dass sie nach dem Urteil eines unbeteiligten, sachkundigen und unterrichteten Be1 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/596 (108. Lfg.). 2 OLG Schleswig v. 3.5.2010 – 5 U 29/10, WM 2011, 460. 3 BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/76, WM 1978, 234, 237; BGH v. 14.7.1983 – III ZR 176/82, WM 1983, 1038; BGH v. 12.7.1984 – III ZR 32/84, WM 1984, 1273; BGH v. 28.2.1985 – III ZR 223/83, WM 1985, 769; OLG Zweibrücken v. 21.9.1984 – 1 U 244/82, ZIP 1984, 1334; dazu auch Rümker, KTS 1981, 493; Hopt, ZHR 143 (1979), 139; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/598 (108. Lfg.). 4 BGH, EWiR Nr. 17 AGB-Banken 2/85, 533; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.157. 5 Dazu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.145 f.; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/562 (108. Lfg.).; Mülbert, WM 2002, 465 ff.; Wittig/Wittig, WM 2002, 145 ff.; Freitag, WM 2001, 2370 ff.; Obermüller, ZInsO 2002, 97 ff.; Wittig, NZI 2002, 633. 6 Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 14/6857 v. 31.8.2001, zu Nr. 110, S. 64.

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§ 4 Bankgeschäfte in der Unternehmenskrise | Rz. 4.221 § 4

obachters im Hinblick auf die Gesamtumstände zur Deckung des vollen Kreditrisikos ausreichen und ohne nennenswerte Schwierigkeiten verwertbar sind1. Dazu sind strenge Anforderungen zu erfüllen: – Der Wert der gestellten Sicherheiten darf nicht nur für den Kapitalbetrag und die schon aufgelaufenen Zinsen reichen. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, für welchen Zeitraum durch die Sicherheiten auch die weiter anfallenden Zinsen gedeckt sind. Ist dagegen zu befürchten, dass ohne eine Verbesserung der finanziellen Verhältnisse des Darlehensnehmers das Kreditinstitut durch den Ausfall mit weiterhin auflaufenden Zinsen einen Verlust erleiden wird, so ist es nicht zumutbar, die Kündigung des Darlehens bis dahin zurückzustellen2.

– Bei Hinausschieben der Kündigung darf keine Beeinträchtigung des Wertes der zur Verfügung stehenden Sicherheiten zu befürchten sein. Denn § 490 Abs. 1 BGB lässt für die außerordentliche Kündigung schon genügen, dass in der Werthaltigkeit einer für das Darlehen gestellten Sicherheit eine wesentliche Verschlechterung erst einzutreten droht. – Die Sanierungsfähigkeit des Kreditnehmers muss grundsätzlich gegeben sein3. Denn ist eine Insolvenz ohnehin unvermeidbar, kann dem gesicherten Kreditinstitut mangels eines schutzwürdigen Interesses des Kreditnehmers an der Fortführung des Darlehensvertrages nicht zugemutet werden, die Rückführung des Darlehens durch Verwertung der Sicherheiten bis zum endgültigen Eintritt der Insolvenz hinauszuschieben. Denn damit würde dem Kreditinstitut das Risiko einer zwischenzeitlichen Wertminderung oder gar eines Verlustes der Sicherheiten (z.B. bei der besitzlosen Sicherungsübereignung durch Untreuehandlungen des Kreditnehmers) auferlegt. Sind diese engen Voraussetzungen einer Einschränkung des Kündigungsrechts wegen ausreichender Besicherung nicht gegeben, kann das Kreditinstitut nach der Kündigung auf die gestellten Sicherheiten zumindest bei Unternehmen sofort zurückgreifen und zu diesem Zweck auch Verwertungsmaßnahmen ergreifen, die an die Öffentlichkeit dringen, also vor allem eine Globalzession offenlegen. Wird der Kreditnehmer als Folge dieser Verwertungsmaßnahmen gezwungen, einen Insolvenzantrag zu stellen, so ist das Kreditinstitut bei einer berechtigten Kündigung weder dem Kreditnehmer noch gegenüber dessen Gläubigern zum Schadensersatz verpflichtet4.

4.220

6. Einschränkung des Kündigungsrechts bei Sanierungskrediten Bei der Kündigung von Sanierungskrediten sind weitere Einschränkungen zu beachten: Bei der Gewährung eines Sanierungskredits – zu dessen Gewährung das Kreditinstitut nicht verpflichtet war – lässt sich das Kreditinstitut auf der Basis eines ernsthaften Sanierungskonzepts5 auf die besondere Situation einer Sanierung ein6. Wesentlich für das Gelingen einer Sanierung ist, dass alle daran Beteiligten solange mitwirken, bis die Sanierung erfolgreich gelungen ist

1 So auch Obermüller, ZInsO 2002, 97, 100, unter Berufung auf BGH v. 5.5.1981 – 1 StR 487/80, NStZ 1981, 351. 2 Obermüller, ZInsO 2002, 97, 100. 3 So schon OLG Celle v. 30.6.1982 – 3 U 258/81, ZIP 1982, 942. Ebenso Obermüller, ZInsO 2002, 97, 100. 4 Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 107. 5 Zu den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung an ein Sanierungsgutachten: Huber, ZInsO 2018, 1761 ff.; Ganter, NZI 2014, 673. 6 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/599 (108. Lfg.).

Kuder/Unverdorben | 157

4.221

§ 4 Rz. 4.221 | 1. Teil Krisenvermeidung, Krisenfrüherkennung und Krisenbewältigung

oder feststeht, dass sie gescheitert ist1. Mit seiner Beteiligung an der Sanierung ist das Kreditinstitut nicht nur gegenüber dem Kreditnehmer, sondern auch den anderen Gläubigern gegenüber verpflichtet, die auf seine Mitwirkung vertrauen und deswegen ihrerseits eigene Risiken eingehen2. Dies bedeutet, dass die Kündigung eines Sanierungskredits nur dann zulässig ist, wenn es zu solchen negativen Abweichungen von dem in dem Sanierungsgutachten getroffenen Annahmen kommt, dass auf Grundlage einer sorgfältigen Untersuchung der neuen Situation nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die Sanierung erfolgreich abgeschlossen werden kann3. Diese Einschränkung gilt in der Regel auch dann, wenn das Kreditinstitut nur mit einer geringen Quote an der Finanzierung der sich in Sanierung befindlichen GmbH beteiligt ist. Denn auch wenn die Kündigung eines verhältnismäßig kleinen Betrages für sich genommen nicht die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens bedeutete, werden die übrigen Beteiligten nicht bereit sein, weiter die Sanierung zu begleiten, wenn sich ein Kreditgeber einseitig aus der Sanierungsgemeinschaft zurückziehen möchte4.

7. Rechtsfolgen unzulässiger Kündigung 4.222

Ist die Kündigung nach den zuvor dargelegten Grundsätzen unzulässig, so sind Schadensersatzansprüche Dritter ausgeschlossen5. Der Kreditnehmer kann jedoch der Kündigung entgegentreten und Schadensersatz vom Kreditgeber wegen einer zur Unzeit ausgesprochenen Kündigung fordern. Dabei erfasst der Schadensersatzanspruch auch den durch die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens entstandenen Schaden des Kreditnehmers, sofern die unzeitige Kündigung das Insolvenzverfahren adäquat-kausal verursacht hat6. War die Kündigung zudem unwirksam, kann das Kreditinstitut auch keine Sicherheiten verwerten, weil es keinen zur Rückzahlung fälligen Anspruch hat7.

4.223–4.250

Einstweilen frei.

1 BGH v. 14.9.2004 – XI ZR 184/03, WM 2004, 2200 = ZIP 2004, 2131; BGH v. 6.7.2004 – XI ZR 254/02, WM 2004, 1676 = ZIP 2004, 1589. 2 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/599 (108. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.145 f.; Veith, BankPraktiker 2006, 300. 3 BGH v. 6.7.2004 – XI ZR 254/02, WM 2004, 1676 = ZIP 2004, 1589. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.164; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/599 (108. Lfg.). 5 BGH v. 3.3.1956 – IV ZR 301/55, WM 1956, 597. 6 Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/600 (108. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.183. 7 BGH v. 14.9.2004 – XI ZR 184/03, WM 2004, 2200 = ZIP 2004, 2131; BGH v. 6.7.2004 – XI ZR 254/02, WM 2004, 1676 = ZIP 2004, 1589.

158 | Kuder/Unverdorben

2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

§5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) I. Ermittlung des Sanierungsbedarfs und Ableitung der Sanierungsmaßnahmen Grundlage des Sanierungskonzepts und der darin enthaltenen Einzelsanierungsmaßnahmen ist eine Ermittlung des Sanierungsbedarfs durch eine detaillierte Bestandsaufnahme des Unternehmens1. Dabei werden Schwachstellen und Krisenherde ermittelt, aber auch profitable Geschäftszweige und gesunde Unternehmensstrukturen analysiert.

5.1

Steht das Sanierungskonzept, wird insbesondere von Gläubigerseite regelmäßig ein Sanierungsgutachten zur Bedingung der Beteiligung an der Sanierung gemacht. Das von Dritten – insbesondere Wirtschaftsprüfern – angefertigte Sanierungsgutachten dient etwa Banken zur Haftungsbegrenzung (Insolvenzanfechtung, § 826 BGB) und kann dazu dienen, verloren gegangenes Vertrauen in die Geschäftsleitung und das Unternehmen wieder herzustellen2. Das Sanierungsgutachten untersucht die Erfolgsaussichten der Sanierung, indem das Sanierungskonzept hinsichtlich seiner Möglichkeiten zur Überwindung der Krise analysiert und überprüft wird, ob das Unternehmen für den Sanierungszeitraum durchfinanziert ist. Liegen beide Voraussetzungen vor, erteilt der Gutachter die positive Sanierungsfähigkeitsbescheinigung. Die Anforderungen an ein Sanierungsgutachten wurden in den letzten Jahren von der Rechtsprechung und in einem Standard des Instituts der Wirtschaftsprüfer (sog. IDW S 6-Gutachten) festgelegt. Wesentliche Bestandteile sind dabei eine Darstellung der wirtschaftlichen Ausgangslage sowie der Krise und ihrer Ursachen, eine integrierte Planung, eine zukunftsgerichtete Betrachtung der Wettbewerbsfähigkeit und des sanierten Unternehmens. Abgeschlossen wird das Gutachten mit der Aussage zur Sanierungsfähigkeit und der Fortbestehensprognose3 (s. hierzu Rz. 14.135 ff., 14.157 ff.). Nach der Rechtsprechung des BGH muss der Sanierungsplan zwar nicht zwingend den formalen Erfordernissen eines IDW S 6-Gutachtens entsprechen, da dies insbesondere bei kleinen Unternehmen nicht immer geboten ist4. Dennoch muss in diesem Fall ebenfalls die wirtschaftliche Lage des Schuldners im Sanierungs-

5.2

1 Hermanns in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 3. Teil, § 7 Rz. 3. 2 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3, Rz. 33. 3 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3 b), Rz. 38; Hermanns in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 2. Teil, § 6 II. 1. Rz. 4. 4 BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, NZI 2016, 636 = DB 2016, 1490; vgl. auch d’Avoine/Michels, NZI 2022, 1, 5.

Schluck-Amend | 159

§ 5 Rz. 5.2 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

plan analysiert und müssen Krisenursache sowie Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage erfasst werden1.

II. Pflicht der Geschäftsleitung zur Ermittlung des Sanierungsbedarfs 5.3

Die Pflichten der Geschäftsleitung sind nicht darauf beschränkt, im Krisenfall eine Sanierung zu betreiben. Es gehört vielmehr zum dauerhaften Pflichtenkanon der Geschäftsleitung, Anzeichen einer Krise und bestandsgefährdende Entwicklungen aufzuspüren (sog. Solvenzsicherungspflicht, s. Rz. 10.8 f., 10.41 ff.). Diese Pflichten wurden im Zuge des SanInsFoG in § 1 Abs. 1 StaRUG verankert, galten aber zuvor bereits auch für den Geschäftsführer der GmbH in Anlehnung an§ 91 Abs. 2 AktG2. Damit soll eine Einleitung des Sanierungsprozesses zu einem Zeitpunkt ermöglicht werden, in dem die Handlungsmöglichkeiten des Unternehmens durch das Ausmaß der Krise noch nicht auf ein Minimum reduziert sind. Bei der Krisenfrüherkennung (ausführlich Rz. 3.1 ff.) kann der Geschäftsführer auf verschiedene Analysemodelle zurückgreifen, die entweder auf der Basis von Bilanz- und GuV-Daten Kennzahlen ableiten oder durch Diskriminanzanalysen oder mittels neuronaler Netze ein Unternehmen als solvent oder gefährdet klassifizieren3; strategische Frühwarnsysteme kombinieren den vergangenheitsorientierten Ansatz mit verschiedenen Zukunftsszenarien. Bei der Ausgestaltung der Krisenfrüherkennung ist der Anwendungsbereich der „business judgement rule“ eröffnet4.

5.4

Neben die Pflicht zur Krisenfrüherkennung tritt seit dem 1.1.2021 nach § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG die Pflicht zum Krisenmanagement (Rz. 2.201 ff.) und zur Berichterstattung an die Überwachungsorgane (Rz. 10.42).

III. Die verschiedenen Sanierungsverfahren (Wegweiser) 5.5

Hat die Geschäftsleitung einen Sanierungsbedarf festgestellt, so stehen ihr verschiedene Sanierungsoptionen zur Verfügung. Hervorzuheben sind hierbei insbesondere die im Folgenden dargestellten Möglichkeiten. Diese sollen hier lediglich im Sinne eines „Wegweisers“ angesprochen werden. Eine detaillierte Erläuterung erfolgt an dem im jeweiligen Abschnitt aufgezeigten Verweis.

1. Freie Sanierung 5.6

Unter einer freien Sanierung wird eine Sanierung außerhalb eines geregelten (gerichtlichen) Verfahrens verstanden. Ziel ist dabei, eine Insolvenz zu vermeiden. Unter Heranziehung regulärer rechtsgeschäftlicher Gestaltungen (in der Regel ein außergerichtlicher Sanierungsvergleich) wird versucht, das Unternehmen wieder in geordnete wirtschaftliche Verhältnisse zu führen. S. ausführlich Rz. 9.1 ff.

1 BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, NZI 2016, 636 = DB 2016, 1490; BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/ 97, NJW 1998, 1561 = DB 1998, 817. 2 D‘Avoine/Michels, NZI 2022, 1, 2; Rieser in Prinz/Kahle, Beck-Hdb. GmbH, § 17 C II., Rz. 40. 3 Wilden in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 1. Teil, § 2 III.; Rieser in Prinz/Kahle, Beck-Hdb. GmbH, § 17 C II., Rz. 40 ff. 4 D‘Avoine/Michels, NZI 2022, 1, 2.

160 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.9 § 5

Bei Wahl der freien – außergerichtlichen – Sanierung haben die für die Sanierung verantwortlichen Akteure grundsätzlich die Wahl zwischen internen und externen Sanierungsmitteln. Während unter interner Sanierung gemeinhin eine solche aus eigener Kraft des kriselnden Unternehmens verstanden wird, stellt eine externe Sanierung eine solche unter Einbeziehung Dritter, vor allem der Gläubigerschaft, dar1. Eine gänzlich trennscharfe Unterscheidung ist hier jedoch nicht möglich. Oftmals weisen gängige Sanierungsmittel – etwa die Liquiditätsbeschaffung von Gesellschaftern – Komponenten beider Varianten auf.

5.7

S. ausführlich zur internen Sanierung Rz. 6.1 ff. S. ausführlich zur externen Sanierung Rz. 7.1 ff.

2. Das neue Restrukturierungsverfahren Ist ein Unternehmen aufgrund drohender Zahlungsunfähigkeit in Bedrängnis geraten und möchte sich nicht ausschließlich eigenverantwortlich sanieren2, sondern hierfür ein geordnetes Verfahren wählen, um gegebenenfalls gerichtliche Unterstützung und Moderation in Anspruch nehmen zu können, steht ihm auch die Möglichkeit eines Restrukturierungsverfahrens nach dem zum 1.1.2021 in Kraft getretenen StaRUG zur Verfügung. Dieses Verfahren kommt in Betracht, wenn die Krise des Unternehmens noch nicht bis zur Insolvenzantragspflicht fortgeschritten ist. Gleichzeitig greifen die zur Verfügung stehenden Mittel zur Bewältigung der Krise nicht so stark in die Rechte der betroffenen Gläubiger ein, wie dies in einem Verfahren nach der Insolvenzordnung der Fall ist. Beispielsweise fehlt es an der Möglichkeit der Vertragsbeendigung durch gerichtliche Entscheidung; daher ist das Restrukturierungsverfahren eher für finanzielle Restrukturierung geeignet.

5.8

S. ausführlich Rz. 10.1 ff.

3. Sanierung durch insolvenzrechtliche Verfahren Ist die Krise bereits weiter fortgeschritten, so stehen dem betroffenen Unternehmen nur noch die Verfahrensoptionen der Insolvenzordnung zu Verfügung. Diese sind daher dem Restrukturierungsverfahren zeitlich nachgelagert. Das Insolvenzrecht stellt ein umfassendes Instrumentarium für operative, insbesondere personalwirtschaftliche Restrukturierungen bereit. Hauptziel der insolvenzrechtlichen Handlungsoptionen ist zwar die gemeinschaftliche Gläubigerbefriedigung, § 1 Satz 1 InsO (s. dazu Rz. 13.1). Jedoch ist mit der allgemeinen Meinung davon auszugehen, dass die Unternehmenserhaltung zumindest ein sekundäres Verfahrensziel darstellt3. Eine Sanierung kann daher auch im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erfolgen. Für den Fall, dass eine zwingende Insolvenzantragspflicht – also bei Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung – gemäß § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO besteht, kommt ohnehin nur eine Sanierung im Rahmen des Insolvenzverfahrens in Betracht. Im Falle eines Insolvenzantragsrechts des Schuldners aufgrund drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO kann das Unternehmen fakultativ zwischen den Sanierungsmöglichkeiten im Rahmen eines Insolvenzverfahrens und denen in Rz. 5.8. dargestellten Möglichkeiten eines Restrukturierungsverfahrenszurückgreifen. 1 Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 90 Rz. 7; Karsten Schmidt, ZIP 1980, 333 f. 2 Zu der möglichen Akkordstörerproblematik als Nachteil einer außergerichtlichen Sanierung vgl. Rz. 9.21. 3 Vgl. zum Meinungsstand zu den Zwecken der insolvenzrechtlichen Verfahren Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 85; Stürner in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, Einl., Rz. 2; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 1 InsO Rz. 6; Pape in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 6.

Schluck-Amend | 161

5.9

§ 5 Rz. 5.10 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

5.10

Grundfall der insolvenzrechtlichen Verfahren ist dabei das sog. Regelinsolvenzverfahren, bei dem die Verfügungsbefugnis über das Schuldnervermögen auf einen durch das zuständige Insolvenzgericht bestellten Insolvenzverwalter übergeht. Eine Sanierung im Rahmen des Regelinsolvenzverfahrens (zum Zweck des Insolvenzverfahrens s. bereits Rz. 13.1) kann vor allem als sog. übertragende Sanierung erfolgen. Hierunter wird die Trennung des insolventen Unternehmens vom Unternehmensträger durch Veräußerung mit dem Ziel der Aufrechterhaltung verstanden1. Die Veräußerung kann dabei sowohl durch Veräußerung der Geschäftsanteile – als share deal – wie auch durch Veräußerung der einzelnen Bestandteile des Unternehmens – als asset deal – umgesetzt werden2.

5.11

Soll die übertragende Sanierung im Wege eines share deals erfolgen, müssen vorerst die Vermögensgegenstände (Aktiva) des Unternehmens von dem beim Unternehmensträger verbleibenden Verbindlichkeiten (Passiva) getrennt werden3. Denn während beim asset deal nur die Vermögensgegenstände (Aktiva) übertragen werden, findet beim share deal grundsätzlich auch eine Übertragung der Verbindlichkeiten (Passiva) statt4. In diesem Fall würde sich jedoch kaum ein Interessent für die Übernahme der Geschäftsanteile – und damit auch der Verbindlichkeiten – finden. Die daher erforderliche Abtrennung der Vermögensgegenstände von den Verbindlichkeiten kann dabei z.B durch die Übertragung der Vermögensgegenstände auf eine Auffang- und Betriebsübernahmegesellschaft erfolgen, während die Verbindlichkeiten beim Unternehmensträger verbleiben5.Außerdem werden sanierungshemmende Haftungsvorschriften des Übernehmers weitgehend außer Kraft gesetzt. So entfällt etwa die Haftung des Erwerbers für die im bisherigen Geschäftsbetrieb begründeten Verbindlichkeiten (§ 25 HGB) und dessen Haftung für die betrieblichen Steuern aus dem letzten Kalenderjahr vor der Betriebsübernahme (§ 75 Abs. 2 AO); auch wird die Vorschrift zum Betriebsübergang (§ 613a BGB) von der Rechtsprechung teleologisch reduziert6. Um den Erfolg der übertragenden Sanierung nachhaltig abzusichern und dem Unternehmen eine Struktur zu geben, die es für Käufer attraktiv macht, sind bei der Sanierung auch entsprechende leistungswirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen (s. dazu Rz. 5.51 f.). Diesem Erfordernis dienen unter anderem die Modifikationen des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer im Insolvenzrecht, welche für den Sanierungserfolg entscheidend sein können (§§ 125 ff. InsO, die kraft gesetzlicher Anordnung in § 128 Abs. 1 InsO auch auf den Fall der übertragenden Sanierung erstreckt werden)7. Alternativ kann die übertragende Sanierung auch in der Eigenverwaltung durch den Schuldner – dort allerdings mit in der Regel größerem Aufwand – umgesetzt werden.

5.12

Erfahrungsgemäß stellt sich die übertragende Sanierung – meist in Gestalt eines asset deals – als die am häufigsten genutzte Form der Sanierung im Insolvenzverfahren dar. Ihr größter Vorzug liegt darin, dass der Erwerber, der grundsätzlich auch der bisherige Inhaber sein kann, ein unbelastetes Unternehmen erhält. So weist dieses keine Bonitätsschwierigkeiten auf und der Erwerber kann die profitabelsten Bereiche „herauspicken“ und stärken. Auch kann die 1 Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 90a; Keller in Keller, Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2020, 4. Teil, Rz. 1698; Lambrecht in Rattunde, Fachberater für Sanierung und Insolvenzverwaltung, 3. Aufl. 2017, Kapitel 3 Rz. 1243; Karsten Schmidt, ZIP 1980, 336. 2 Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 90a; Zipperer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 157 InsO Rz. 7. 3 Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 92. 4 Frege/Keller/Riedel in Handbuch Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, Rz. 340. 5 Vgl. Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 92. 6 Zipperer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 157 InsO Rz. 8. Zur teleologischen Reduktion des § 613a BGB s. Undritz in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 10. Kapitel Rz. 411 f. 7 Undritz in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 10. Kapitel Rz. 415.

162 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.15 § 5

übertragende Sanierung im Vergleich zu anderen Verfahren meist sehr zügig abgewickelt werden. Als nachteilig kann sich bei derartigen Sanierungen jedoch erweisen, dass unter der übertragenden Sanierung die unternehmerische Kontinuität leidet. Durch die Übertragung auf einen neuen Rechtsträger muss das neue Unternehmen im Grundsatz alle vertraglichen Verhältnisse neu abschließen; häufig hat dies den Verlust langjähriger Beziehungen mit guten Konditionen zu Kunden oder Lieferanten zur Folge. Außerdem können sich – möchte der bisherige Inhaber das Unternehmen erwerben – Probleme bei der Beschaffung des Kapitals zum Erwerb des Unternehmens stellen. S. ausführlich zum Regelinsolvenzverfahren Rz. 24.1 ff. Das Eigenverwaltungsverfahren gleicht in seinen Grundzügen dem Regelinsolvenzverfahren, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass der unter Eigenverwaltung stehende Schuldner die Verfügungsbefugnis bewahrt und über dessen Handlungen ein Sachwalter wacht. Durch die Aufrechterhaltung der Verfügungsbefugnis des Schuldners soll ein Anreiz geschaffen werden, rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen, um damit etwaige Sanierungsmaßnahmen erfolgsversprechender zu machen1. Eine solche Eigenverwaltung kann jedoch nur angeordnet werden, wenn keinerlei Umstände bekannt sind, die zu einer Gläubigerbenachteiligung durch die Anordnung führen könnten (vgl. § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO).

5.13

Hinsichtlich der Vorteile einer solchen Eigenverwaltung ist zunächst anzuführen, dass unternehmensspezifisches Wissen des Schuldners bei diesem verbleibt und dadurch bestmöglich genutzt werden kann2. Die Unternehmensleitung hat meist jahrelange Erfahrung in der Führung des Unternehmens und daher „Sonderwissen“ im Vergleich zum Insolvenzverwalter, welcher sich erstmalig in der Krise mit dem betroffenen Unternehmen auseinandersetzen muss. Andererseits fehlen der Geschäftsleitung des insolventen Unternehmens jedoch häufig fundierte Kenntnisse hinsichtlich sanierungsspezifischer Fragen; dies wird häufig durch die Bestellung eines Sanierungsgeschäftsführers (Chief Restructuring Officer) kompensiert (s. dazu Rz. 5.27 ff.). Weiterhin sind grundsätzlich die Kosten eines Verfahrens in Eigenverwaltung niedriger als bei einem Regelinsolvenzverfahren, da ein Sachwalter zwar eine Vergütung erhält, welche sich an die des Insolvenzverwalters anlehnt, der Aufwand jedoch meist aufgrund der im Wesentlichen überwachenden Tätigkeit merklich niedriger ausfällt als der eines Insolvenzverwalters3. Zudem besteht eine größere Chance, Geschäftsbeziehungen durch Handeln des Schuldners anstelle eines Insolvenzverwalters aufrechtzuerhalten. Grund hierfür ist, dass der Schuldner den Geschäftspartnern meist schon länger bekannt ist und sie ihm daher eher ein persönliches Vertrauen entgegenbringen als einem ihnen unbekannten Insolvenzverwalter. Eine solche persönliche Bindung kann den Schuldner schließlich auch dazu motivieren, zugunsten der Gläubigerschaft eine bestmögliche Befriedigung zu erreichen4.

5.14

S. ausführlich zur Eigenverwaltung Rz. 35.1 ff. Beim Insolvenzplanverfahren erfolgt eine Umgestaltung des insolventen Unternehmens mit dem Ziel einer im Einvernehmen von Gläubigern und Schuldner erzielten Bewältigung der Insolvenz. Ziel kann dabei entweder die Reorganisation mit Unternehmenserhalt oder die Liqui1 Vgl. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, Vor. § 270 InsO Rz. 6. 2 Undritz in Kübler, Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Aufl. 2018, § 2 Rz. 24; Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1339. 3 Seagon in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Aufl. 2014, § 24 Rz. 76; Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1339. 4 Wehdeking in Rattunde, Fachberater für Sanierung und Insolvenzverwaltung, 3. Aufl. 2017, Rz. 1412.

Schluck-Amend | 163

5.15

§ 5 Rz. 5.15 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

dation und Verwertung sein1. Ausgangspunkt ist der von allen Betroffenen zu verabschiedende Insolvenzplan, der die Situation darstellt (sog. darstellender Teil) und die zu ergreifenden Maßnahmen bestimmt (sog. gestaltender Teil)2. Zur Vorlage eines Insolvenzplans beim Insolvenzgericht berechtigt sind sowohl der Insolvenzschuldner als auch der Insolvenzverwalter (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO). Im Insolvenzplan wird die Gläubigerschaft in abstimmungsberechtigte Gruppen eingeteilt. Hierbei wird unterschieden zwischen obligatorisch zu bildenden Gruppen (vgl. § 222 Abs. 1 InsO) und solchen die fakultativ gebildet werden können (vgl. § 222 Abs. 2 und 3 InsO). Um zu einer Planannahme zu gelangen ist in jeder dieser Gruppen sowohl eine Kopf- als auch eine Summenmehrheit erforderlich (vgl. § 244 InsO). Hierbei ist jedoch insbesondere das Obstruktionsverbot (vgl. § 245 InsO) sowie der Minderheitenschutz (§ 251 InsO) zu beachten.

5.16

Im gestaltenden Teil des Insolvenzplans können sämtliche Rechtsänderungen getroffen werden, die der Sanierung des Unternehmens dienlich sind und die die im darstellenden Teil beschriebenen Schwächen beseitigen sollen3. Gesellschaftsrechtliche Regelungen können hierbei insoweit ergriffen werden, als diese nach allgemeinen Maßstäben gesellschaftsrechtlich zulässig sind (vgl. § 225a Abs. 3 InsO). Darüber hinaus kann auf die Sanierungsinstrumente des Regelinsolvenzverfahrens zurückgegriffen werden, vor allem kann auf sämtliche Vertragsverhältnisse des Unternehmens eingewirkt werden. Auf diese Weise kann die zur erfolgreichen Sanierung nötige personalwirtschaftliche, finanzwirtschaftliche und operative Neuaufstellung des insolventen Unternehmens erzielt werden.

5.17

Im Vergleich zum Regelinsolvenzverfahren bietet das Insolvenzplanverfahren den Vorteil, von vielen für das Regelverfahren geltenden Vorgaben der Insolvenzordnung abweichen zu können und so eine höhere Flexibilität zu schaffen4. Zumeist werden durch einen Insolvenzplan außerdem ein schnellerer Abschluss sowie eine höhere Quotenzahlung angestrebt5. Denn die zur Planannahme gemäß § 244 Abs. 1 InsO erforderliche Mehrheit wird regelmäßig nur dann erreicht, wenn die Beteiligten durch den Insolvenzplan bessergestellt werden, als dies im Rahmen eines Regelinsolvenzverfahren der Fall wäre. S. ausführlich zum Insolvenzplanverfahren Rz. 31.1 ff.

4. Gegenüberstellung Insolvenzplanverfahren und Restrukturierungsplanverfahren 5.18

Überschneidungen zwischen den insolvenzrechtlichen Verfahren und dem Restrukturierungsverfahren können sich im Bereich der Sanierung bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit ergeben. Dem Unternehmen steht es hierbei nämlich frei, welches der beiden Verfahren es wählt6. Für die Praxis stellt sich daher die Frage, welches Verfahren sich als vorteilhaft erweisen könnte. Konkret gebietet sich eine Gegenüberstellung zwischen dem Insolvenzplanverfahren 1 vgl. § 1 Satz 1 InsO; im Übrigen Ludwig in Braun, 9. Aufl. 2022, § 1 InsO Rz. 9. 2 Zum Aufbau des Insolvenzplans vgl. Brünkmans in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 5 Rz. 1 ff. 3 Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 221 InsO Rz. 1 f.; Rühle in Nerlich/Römermann, 44. EL Januar 2022, § 221 InsO Rz. 1. 4 Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, Vorbemerkung zu §§ 217–269 InsO Rz. 1; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 61. 5 Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, Vorbemerkung zu §§ 217–269 InsO Rz. 1; Rühle in Nerlich/Römermann, 44. EL Januar 2022, § 217 InsO Rz. 7. 6 Vgl. § 29 Abs. 1 StaRUG; im Übrigen De Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661.

164 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.24 § 5

und dem Restrukturierungsplanverfahren. Diese sind in ihren Grundzügen ähnlich, da beide Planverfahren die Überwindung entgegenstehender Gläubiger mit höchstmöglicher Flexibilität zum Gegenstand haben.

Zunächst muss hinsichtlich der Entscheidung zwischen den beiden Planverfahren stets die Liquiditätsplanung im Blick behalten werden. Das Insolvenzplanverfahren bietet nämlich Liquiditätsunterstützungen in Form von beispielsweise Insolvenzgeld zur erleichterten Fortführung des Unternehmens in der Anfangsphase ohne Personalkosten, welche das Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG nicht bereithält1.

5.19

Weitergehend ist anzumerken, dass das Insolvenzplanverfahren in jedem Fall eine Beteiligung des Insolvenzgerichts voraussetzt, wohingegen das Restrukturierungsverfahren als ein im Kern außergerichtliches und exklusiv vom Schuldner kontrolliertes Verfahren lediglich eine optionale und dadurch „minimalinvasive Gerichtsbeteiligung“2 vorsieht3. Hierdurch kann sich der Vorteil ergeben, im Rahmen eines Restrukturierungsverfahrens eine flexiblere Ausgestaltung der Planabstimmung zu erreichen. Hingegen lässt sich für ein Insolvenzplanverfahren anführen, dass durch die ständige Begleitung eines Gerichts allen Beteiligten ein geordneter Verfahrensablauf sowie eine weitgehend gleichmäßige Gläubigerbefriedigung garantiert werden kann.

5.20

Ein wesentlicher Nachteil des Insolvenzplanverfahrens besteht jedoch in der öffentlichen Bekanntmachung (vgl. § 267 InsO). Hierdurch kann es zu einer nachhaltigen Bemakelung des Unternehmens kommen. Das Restrukturierungsverfahren wird im Gegensatz nicht „in aller Öffentlichkeit“ ausgetragen, da keine Veröffentlichungspflicht der handelnden Akteure oder des Restrukturierungsgerichts besteht. Durch die hiermit gewährleistete Vertraulichkeit kann die Reputation des Schuldners nachhaltig gesichert und die Erfolgswahrscheinlichkeit der Sanierung erhöht werden.

5.21

Unterschiede ergeben sich weiterhin in den operativen Handlungsmöglichkeiten in den jeweiligen Planverfahren. Beim Restrukturierungsverfahren ist grundsätzlich ein Eingriff in die Arbeitnehmerrechte durch Gesetz ausgeschlossen (vgl. § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG). Personalmaßnahmen können lediglich durch nicht unmittelbar gestaltende Maßnahmen in Form einer Planbedingung im darstellenden Teil des Restrukturierungsplans eingesetzt werden4. Bei einem Insolvenzplanverfahren kann hingegen ein solcher Eingriff grundsätzlich unmittelbar erfolgen. Für Unternehmen, deren Sanierungsansatz in weiten Teilen auf Personalmaßnahmen beruht, ist das StaRUG daher eher weniger geeignet.

5.22

Bei Restrukturierungsverfahren ist weiterhin keine Beendigung von Vertragsverhältnissen vorgesehen, wohingegen bei Insolvenzplanverfahren die Entledigung ungünstiger Vertragsverhältnisse grundsätzlich im Ermessen des Insolvenzverwalters möglich ist (vgl. § 44 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG; § 103 InsO).

5.23

Vorteil des Restrukturierungsplans ist jedoch, dass nicht alle Gläubiger miteinbezogen werden müssen; ein Eingriff und damit eine Entschuldung kann vielmehr selektiv hinsichtlich Forderungen einzelner Gläubiger oder Gläubigergruppen erfolgen5. Bei einem Insolvenzplan ist auf-

5.24

1 2 3 4 5

Böhm in Braun, 9. Aufl. 2022, § 22 InsO Rz. 37. So Flöther/Wilke, NZI-Beilage 2019, 82. De Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 662. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 32. Böhm in Braun, 1. Aufl. 2021, § 8 StaRUG Rz. 1.

Schluck-Amend | 165

§ 5 Rz. 5.24 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

grund des Gläubigergleichbehandlungsgrundsatzes jedoch stets die Inbezugnahme der gesamten Gläubigerschaft notwendig.

5.25

Schließlich ist bei einem Restrukturierungsverfahren tendenziell mit geringeren Kosten zu rechnen, da im Gegensatz zum Insolvenz(plan)verfahren kein zwingendes Organ wie ein Insolvenzverwalter oder ein Sachwalter zu bestellen ist und deshalb nicht mit einer Vergütung gerechnet werden muss.

5.26

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass beiden Planverfahren Vor- und Nachteile je nach erforderlichen Sanierungsinstrumenten zukommen. Daher sollte bei lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit je nach Situation abgewogen werden, welches Planverfahren sich besser zur Erreichung des Sanierungsziels eignet. Eine generalisierende Betrachtung ist insoweit nicht zielführend.

IV. Umsetzungskompetenzen der Sanierungskonzepte, insbesondere Chief Restructuring Officer und Treuhandkonstruktionen 1. Der Chief Restructuring Officer 5.27

Ein in die Krise geratenes Unternehmen stellt für die Geschäftsführung eine äußerst komplexe Herausforderung dar. Jedoch obliegt es gerade ihr, die Krise vom Unternehmen abzuwenden und bestandsgefährdende Faktoren zu beseitigen1. Insbesondere muss sie die Entwicklung des Unternehmens und der Krise fortlaufend überwachen2 und prüfen, ob Forderungen noch bedient werden können bzw. Schulden gedeckt sind3.

5.28

Hierzu kann sich die Geschäftsführung zum einen eigener Sachkunde und eines selbst aus fachlich und persönlich geeigneten Mitarbeitern erstellten Sanierungsteams bedienen4.

5.29

Es zeigt sich aber in der Regel, dass die bestehende Unternehmensleitung gewohnheitsmäßig keine oder nur wenige Kenntnisse hinsichtlich der Restrukturierung eines Unternehmens hat und mit dem Krisenmanagement regelmäßig überfordert ist5. Bei einer solchen mangelnden Sachkunde muss der Unternehmensleiter für fachkundigen Rat seitens Dritter sorgen6. In diesem Zusammenhang hat sich in der Praxis die Bestellung eines sog. Chief Restructuring Officers (CRO) herausgebildet7. Zugleich kann die Einsetzung eines CROs auch auf Druck der Gläubiger – insbesondere Banken fordern dies regelmäßig – erfolgen.

5.30

Der CRO zeichnet sich durch seine Spezialisierung auf den Sanierungsfall aus und ergänzt oder ersetzt die Geschäftsleitung während dieser Krisenphase8. Hierdurch soll das angeschla1 Vgl. hierzu § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG; im Übrigen auch Steffan in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, 3. Aufl. 2020, § 37 Rz. 128 ff. 2 So jetzt auch auf Grundlage des § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG. 3 BGH v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, GmbHR 1995, 299 = ZIP 1995, 560; vgl. BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06 Rz. 16, ZIP 2007, 1265. 4 Thierhoff in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 6. Kapitel I Rz. 3 ff. 5 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3 c), Rz. 40. 6 IDW S 11, Tz. 6. 7 Dorn/Jäger/Schulte in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 3. Kapitel II Rz. 16; Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3 c), Rz. 41. 8 Dorn/Jäger/Schulte in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 3. Kapitel II Rz. 16.

166 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.35 § 5

gene Unternehmen aus der Krise geführt und für den Erfolg einer Restrukturierung gesorgt werden1. Der CRO wird in der Praxis als Fortentwicklung des klassischen Interimsmanagers speziell für Sanierungs- und Restrukturierungssituationen betrachtet2. Regelmäßig erfolgt eine organschaftliche Bestellung des CRO als Geschäftsführer3. Hierdurch ist es ihm möglich, die anberaumten Maßnahmen hinsichtlich der Sanierung direkt umzusetzen4. Mit Blick auf eine effektive Unternehmenssanierung ist hierbei die Beachtung der jeweiligen Gläubigerinteressen durchaus sinnstiftend. Hierzu ist der CRO jedoch nicht verpflichtet, aus Schuldnerperspektive darf er zum Wohle des Unternehmens handeln und ist nicht an den Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz gebunden5. Hierdurch kann er den Sanierungsprozess mit größerer Einflussnahme und Unabhängigkeit eigenständig vorantreiben6.

5.31

Ist der CRO hingegen als beratende Kraft eingesetzt worden, erschöpfen sich seine Aufgaben in der Berichterstattung an die Geschäftsleitung in beratender Tätigkeit7. Zur Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen bleibt dann die Geschäftsführung berufen. Diese hat die Vorschläge des beratenden CROs nach allgemeinen Grundsätzen eigenverantwortlich zu prüfen und umzusetzen.

5.32

2. Doppelnützige Treuhand Ein weiteres häufig genutztes Mittel zur Durchführung einer Unternehmenssanierung ist die doppelnützige Treuhand. Hierbei werden die gesamten Firmenanteile der Anteilseigner (Gesellschafter) auf einen Treuhandgesellschafter – in der Regel eine eigens zu diesem Zweck gegründete GmbH – und damit auf einen unabhängigen Dritten übertragen8. Im Falle einer erfolgreichen Sanierung oder anderweitigen Refinanzierung erhalten die Gesellschafter, welche im Übrigen in wirtschaftlicher und steuerlicher Hinsicht Berechtigte bzw. Verpflichtete ihrer Beteiligung bleiben, ihre treuhänderisch gehaltenen Anteile zurück9.

5.33

Die Doppelnützigkeit dieser Treuhand ergibt sich daraus, dass einerseits die Fremdkapitalgeber (i.d.R. Banken) die erforderliche Liquidität zur Verfügung stellen und hierfür „durch die Treuhand an den Anteilen als Kreditsicherheit der Gesellschafter abgesichert werden“10. Der Treuhänder hält daher das Treugut in erster Linie für den in der Treuhandvereinbarung benannten Sicherungsnehmer – also den Fremdkapitalgeber –, während die Treuhand im Verhältnis zum Treugeber nur von untergeordneter Bedeutung ist11.

5.34

Andererseits profitieren durch die Treuhand die ehemaligen Gesellschafter. Durch die Übertragung der Anteile auf einen Treuhandgesellschafter und damit auf einen neutralen Dritten

5.35

1 Exler/Situm/Wanninger, KSI 2017, 103. 2 Exler/Situm/Wanninger, KSI 2017, 103. 3 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3 c), Rz. 43; Kramer in BeckOK/StaRUG, § 32 StaRUG Rz. 15 (Stand: 17.7.2022). 4 Kramer in BeckOK/StaRUG, § 32 StaRUG Rz. 15 (Stand: 17.7.2022). 5 Kramer in BeckOK/StaRUG, § 32 StaRUG Rz. 15 (Stand: 17.7.2022). 6 Dorn/Jäger/Schulte in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 3. Kapitel II Rz. 18. 7 Dorn/Jäger/Schulte in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 3. Kapitel II Rz. 18. 8 Undritz, ZIP 2012, 1156; Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 893. 9 Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 930. 10 Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 922. 11 Vgl. Bäuerle in Braun, 9. Aufl. 2022, § 51 InsO Rz. 48.

Schluck-Amend | 167

§ 5 Rz. 5.35 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

sind die Fremdkapitalgeber durch die Stärkung des Vertrauensverhältnisses eher dazu bereit, liquide Mittel zur Verfügung zu stellen. So kann eine erforderliche Restrukturierung ermöglicht und damit ein Totalverlust der Anteilseigner im Ergebnis verhindert werden1.

5.36

Den Treugebern bleibt nach der Übertragung ihrer Gesellschaftsanteile auf den Treuhandgesellschafter häufig ein Mitspracherecht in Form eines Weisungsrechts gegenüber dem Treuhänder auf Basis des Treuhandvertrages erhalten2. Dieses wird jedoch insoweit eingeschränkt, als dass die Weisungen nicht dem Sanierungskonzept und allgemein dem Sinn und Zweck der Sanierung widersprechen dürfen, um eine operative Umsetzung der Maßnahmen sicherzustellen. Denkbar ist jedoch auch, in der Treuhandvereinbarung dieses Weisungsrecht der Altgesellschafter gegenüber dem Treuhänder auszuschließen. Jedenfalls bestehen umfassende Informationsrechte der ehemaligen Gesellschafter gegenüber dem Treuhänder3.

5.37

Gegenüber den Fremdkapitalgebern und damit den begünstigten Dritten handelt der Treuhänder hingegen stets weisungsfrei und unabhängig, er hat jedoch bei seinen Handlungen deren Interessen zu berücksichtigen4. Eine Übertragung der Geschäftsanteile auf den Fremdkapitalgeber selbst findet in der Praxis hingegen nicht statt, da dadurch bereits von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass der Darlehensrückzahlungsanspruch als nachrangige Forderung gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO behandelt wird5.

V. Überblick über mögliche Sanierungsansätze 5.38

Sanierungsmaßnahmen lassen sich in die vier Kategorien der personalwirtschaftlichen, finanzwirtschaftlichen, operativen und strukturellen Sanierungsmaßnahmen unterteilen.

1. Personalwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen 5.39

Auf den personalwirtschaftlichen Bereich entfallen regelmäßig für das zu sanierende Unternehmen nicht unerhebliche Kosten. Deshalb besteht hier oftmals auch erhebliches Sanierungspotenzial und ein Schwerpunkt des Sanierungskonzepts6. Zu den arbeitsrechtlichen Aspekten der Sanierung (Personalabbau) s. ausführlich Rz. 26.81 ff.; zu den arbeitsrechtlichen Besonderheiten unter dem StaRUG s. Rz. 10.391 ff.

5.40

Ansetzen kann eine Sanierung zum einen bei einer Senkung der bestehenden Ausgaben unter Wahrung der personalwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. In Betracht kommen etwa betriebsbedingte Kündigungen (ausführlich Rz. 6.266 ff.) oder Modifizierungen von individualvertraglichen Vereinbarungen (Kürzung oder Widerruf von Ansprüchen aus Betriebsrenten7) (zu Eingriffen in die Ruhegehaltsansprüche von Geschäftsführern s. Rz. 6.371 ff.), die Kürzung 1 Pape/Opp, Sanierungsgutachten, 2017, Rz. 724; Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 928. 2 Undritz, ZIP 2012, 1154; Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 940. 3 Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 940. 4 Ziegenhagen in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, 12. Kapitel VIII Rz. 940. 5 Bäuerle in Braun, 9. Aufl. 2022, § 51 InsO Rz. 48. 6 Eberhard in Prinz/Kahle, Beck-Hdb. PersG., § 12 Rz. 77. 7 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 7 c), Rz. 113; Eberhard in Prinz/Kahle, Beck-Hdb. PersG., § 12 Rz. 83 ff.

168 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.46 § 5

von Arbeitsentgelten oder die Nutzung von Kurzarbeit1 (s. zu Letzterem Rz. 6.301) sowie eine Optimierung der Personalstruktur durch den Personalabbau und Outsourcing2. Daneben können Optimierungspotenziale bei der Mitarbeitereffizienz ausgeschöpft werden, indem etwa das bestehende Personal weitergebildet (Rz. 6.294) wird und die Arbeitszeit sowie die Personalbedarfsplanung angepasst wird.

5.41

Ein besonderes Augenmerk liegt hier auf der tarifvertraglichen und individualarbeitsvertraglichen Zulässigkeit der Maßnahmen (s. im Einzelnen Rz. 6.261 ff.).

5.42

Einer gesonderten Betrachtung bedarf die Tauglichkeit des Managements für die Sanierung und die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens. Wie bereits erwähnt (Rz. 5.27) besteht die Möglichkeit, die bestehende Unternehmensleitung durch einen CRO oder ein externes Sanierungsteam auszutauschen oder zu erweitern. Dies kann zur Gewährleistung der erforderlichen Fachkenntnis notwendig sein. Die Einbeziehung externen Sachverstands kann in der Krise zudem das Vertrauen in eine erfolgreiche Sanierung gegenüber Gläubigern, Arbeitnehmern und Kunden stärken3. Dies kann freilich auch in der Form einer rein beratenden Umsetzungsbegleitung passieren.

5.43

2. Finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen Unmittelbares Ziel der finanzwirtschaftlichen Sanierungsmaßnahmen ist die Überwindung von (drohender) Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung4 (zur Abgrenzung der Begriffe s. Rz. 10.10 ff.) durch die langfristige Steigerung der Liquidität. Finanzwirtschaftliche Maßnahmen können sowohl von den Gesellschaftern als auch den Gläubigern getragen werden. Wird die Sanierung ohne ein formalisiertes Verfahren durchgeführt, gelingt eine Sanierung unter Einbeziehung der Gläubiger freilich nur im Konsens und unter Beachtung der Akkordstörerproblematik (s. hierzu Rz. 9.21 ff.).

5.44

Eine Unterkapitalisierung kann kurzfristig vor allem durch eine Kapitalerhöhung durch alte oder neue Gesellschafter behoben werden5. Diese kann von einer nominellen Kapitalherabsetzung begleitet werden, §§ 58a ff. GmbHG. Werden nominelle Kapitalherabsetzung und effektive Kapitalerhöhung miteinander verbunden, spricht man von einem sog. Kapitalschnitt. Indem durch die vorgeschaltete Kapitalerhöhung die Unterbilanz beseitigt wird, soll sichergestellt werden, dass das neue Kapital nicht zur Deckung von früheren Verlusten gebunden ist6.

5.45

Zu den möglichen Eigenkapitalmaßnahmen s. insgesamt Rz. 6.1 ff. Gläubiger können einerseits durch einen Verzicht, andererseits und weniger einschneidend durch einen Zahlungsaufschub oder andere vertragliche Modifikationen einen Sanierungsbei1 V. Bockelmann in Tödtmann/v. Bockelmann, Arbeitsrecht in Not- und Krisenzeiten, A III 2., Rz. 59 ff. 2 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 7 a), Rz. 103. 3 Rieser in Prinz/Winkeljohann, Beck-Hdb. GmbH, § 17 D II. 4., Rz. 110; Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 3 c), Rz. 40. 4 Rieser in Prinz/Winkeljohann, Beck-Hdb. GmbH, § 17 D II. 2 b), Rz. 89. 5 Herrmanns in Haarmeyer, Sanierungs- und Insolvenzmanagement I, III. S. 188; Rieser in Prinz/ Winkeljohann, Beck-Hdb. GmbH, § 17 D II. 2. b), Rz. 90. 6 Vgl. Geiwitz/von Danckelmann in BeckOK/Insolvenzrecht, § 225a InsO Rz. 4.

Schluck-Amend | 169

5.46

§ 5 Rz. 5.46 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

trag leisten (insgesamt s. Rz. 7.1 ff.). Von praktischer Relevanz sind sog. Stand-Still-Agreements (Stillhalteabkommen, s. Rz. 7.5., 7.71 ff.), bei denen Gläubiger gegen Vorlage eines erfolgversprechenden Sanierungskonzepts dazu bewogen werden sollen, zustehende Rechte zur Kündigung oder Rückforderung eines Darlehens nicht auszuüben1.

5.47

Die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapital (debt-equity swap) kann sowohl die Überschuldung als auch die Zahlungsunfähigkeit beseitigen, birgt aber für den jeweiligen Gläubiger erhebliche Risiken, etwa eine mögliche Pflicht zur Nachzahlung gemäß § 9 GmbHG (im Einzelnen s. Rz. 7.41 ff.).

5.48

Des Weiteren können Fremdkapitalmaßnahmen durch die Gewährung von Darlehen von Gesellschaftern (Rz. 6.84 ff.) oder Dritten (zur Rolle der Kreditinstitute vgl. ausführlich Rz. 7.71 ff.; zur Beihilfe der öffentlichen Hand s. Rz. 7.131 ff.) die Sanierung begleiten und die Grundlage eines erfolgreichen Sanierungskonzepts bilden, aber nicht die Überschuldung beseitigen.

5.49

Eng mit der leistungswirtschaftlichen Sanierung verknüpft sind Umstrukturierungen betreffend den Bestand des Unternehmens, etwa durch die Veräußerung von Aktiva oder Distressed M&A-Verfahren (übertragende Sanierung, s. hierzu Rz. 5.10; 6.221 ff.).

5.50

Neben der unmittelbaren Bewältigung der Krise durch eine Sicherung der Liquidität und einer Vermeidung der Insolvenzreife kommt es bei der finanzwirtschaftlichen Sanierung darauf an, das Unternehmen auf der Grundlage eines Sanierungskonzepts finanzwirtschaftlich nachhaltig aufzustellen.

3. Operative und leistungswirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen 5.51

Im Bereich der operativen Sanierung kommt es darauf an, leistungswirtschaftliche Defizite durch eine umfassende Analyse des Unternehmens aufzuspüren und auf der Grundlage eines schlüssigen Sanierungskonzepts auszuschalten. Diese leistungswirtschaftliche Optimierung schließt alle Bereiche des Unternehmens vom Input bis zum Output ein. Dabei können zum einen bestehende Vertragsstrukturen an das neue Unternehmenskonzept angepasst werden; zum anderen müssen stets neue Vertragsoptionen geprüft und ggf. Gebrauch von Kündigungs- und Lösungsmöglichkeiten bei defizitären Verträgen gemacht werden.

5.52

Auch hier geht es einerseits um die Reduzierung von Kosten (etwa durch die Bereinigung des Produktportfolios), andererseits um die Steigerung der Effizienz der bestehenden Leistungswirtschaft.

5.53

Dies geht oftmals mit einer neuen strategischen Justierung des Unternehmens einher, bei der eine Neupositionierung am Markt durch ein neues oder verändertes Produktportfolio angestrebt wird2. Begleitet werden kann diese strategische Neuausrichtung von einer aktualisierten Marketingstrategie.

4. Strukturelle Sanierungsmaßnahmen 5.54

Im Bereich der strukturellen Sanierungsmaßnahmen liegt der Blick einerseits auf der rechtlichen Struktur der Gesellschaft, andererseits auf den Prozessen innerhalb des Unternehmens.

1 Rieser in Prinz/Winkeljohann, Beck-Hdb. GmbH, § 17 D II. 2 b), Rz. 99. 2 Kraus in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 2. Teil, § 4 III. 1., Rz. 12.

170 | Schluck-Amend

§ 5 Erfordernisse einer Unternehmenssanierung (Überblick und Wegweiser) | Rz. 5.59 § 5

Liegt die Krise auch in der aktuellen Gesellschaftsform begründet oder steht diese dem im Sanierungskonzept aufgezeigten Plan im Weg, kann es erforderlich sein, die Gesellschaftsform zu ändern.

5.55

Zur Restrukturierung durch Umwandlung s. im Einzelnen Rz. 6.246 ff. Das Umwandlungsgesetz hält mit dem Formwechsel gemäß §§ 190 ff. UmwG eine entsprechende Möglichkeit bereit. Dies kann etwa den Einstieg neuer Gesellschafter erleichtern, wenn eine OHG in eine GmbH überführt wird oder eine GmbH in eine GmbH & Co. KG1.

5.56

Ebenso besteht in der Verschmelzung mit einer gesunden Gesellschaft die Möglichkeit, kurzfristig Liquidität zu generieren, um eine Sanierung des Krisenunternehmens zu ermöglichen.

5.57

Möchte sich das Unternehmen von einem Unternehmensteil trennen – sei es bei einem gesunden Unternehmensteil, um damit Liquidität zur Fortführung des Kerngeschäfts zu generieren, sei es bei einem krisenbehafteten Unternehmensteil, um sich langfristig von unrentablen Geschäftszweigen zu trennen –, stehen dafür die verschiedenen Formen der Spaltung gemäß §§ 123 ff. UmwG zur Verfügung.

5.58

Daneben muss ein Fokus auch auf der unternehmensinternen Organisation liegen (vgl. schon zur krisenvermeidenden Organisation Rz. 2.171 ff.). Diese muss von einem effektiven Controlling auf der Grundlage eines aktuellen und validen Informations- und Berichtssystems geleitet werden2. Ggf. sind deshalb betriebsinterne Umstrukturierungen erforderlich (zur Verbesserung der Informationsstruktur zur Ermöglichung der Umsetzung von Sanierungsmaßnahmen s. bereits Rz. 2.211 ff.).

5.59

1 Grell/Praß in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I. 7 b), Rz. 110; Hermanns in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Teil, § 17 III. 4., Rz. 65 ff. 2 Hermanns in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 3. Teil, § 7 Rz. 9.

Schluck-Amend | 171

§6 Interne Sanierung I. Eigenkapitalmaßnahmen 1. Kapitalerhöhung und Kapitalschnitt a) Ordentliche Kapitalerhöhung 6.1

aa) Die effektive Kapitalerhöhung (§§ 55 ff. GmbHG)1 führt zur Einbringung neuer Baroder Sachmittel ohne Belastung durch Verbindlichkeiten (zum Sonderfall des Debt Equity Swap vgl. Rz. 6.27 ff., Rz. 7.41 ff.). Die Kapitalerhöhung führt zu einer Erhöhung des nach § 30 GmbHG gebundenen und im Insolvenzfall letztrangigen (vgl. § 199 InsO) Eigenkapitals. Die Kapitalerhöhung wird grundsätzlich durch satzungsändernden Beschluss bewirkt (§§ 53, 55 GmbHG), der der Anmeldung und Eintragung beim Handelsregister bedarf (§ 57 GmbHG). Seit der Reform von 2008 lässt das Gesetz auch genehmigtes Kapital zu, also die Ermächtigung der Geschäftsführung zur Kapitalerhöhung (§ 55a GmbHG)2. Das Gesetz unterscheidet Barkapitalerhöhungen (§ 55 GmbHG) und Sachkapitalerhöhungen (§ 56 GmbHG) und verweist für die der Eintragung vorausgehenden Mindestleistungen auf das erhöhte Stammkapital auf die Gründungsvorschrift des § 7 Abs. 2 GmbHG (§ 56a GmbHG). Entgegen der früher vorherrschenden Auffassung lässt die Praxis die nachträgliche Umwandlung eines Kapitalerhöhungsbeschlusses in eine Sachkapitalerhöhung zu, und zwar auch nach der Eintragung des ursprünglichen Beschlusses und nicht nur zum Zweck der Heilung verdeckter Sacheinlagen3. Strategische Bedeutung kann das Bezugsrecht der Gesellschafter haben, genauer: der Bezugsrechtsausschluss für die Gewinnung eines Sanierungsinvestors. Diese Frage wird bei Rz. 6.241 behandelt.

6.2

bb) Einlagepflichten entstehen nicht schon durch den Kapitalerhöhungsbeschluss (dies wäre mit § 53 Abs. 3 GmbHG unvereinbar), sondern erst durch den Abschluss eines formgerechten Übernahmevertrags (§ 55 GmbHG)4. Die Gesellschafter sind grundsätzlich zur quotengerechten Übernahme neuer Stammeinlagen berechtigt (Bezugsrecht bei der GmbH)5, sofern nicht das Bezugsrecht aus Sachgründen ausdrücklich oder stillschweigend ausgeschlossen wird (Sanierung durch einen Sanierungsinvestor)6. Zum Bezugsrecht bei der Kapitalherabsetzung auf null vgl. Rz. 6.5. Eine Verpflichtung zu quotengerechter Beteiligung am erhöhten Stammkapital besteht grundsätzlich nicht, auch nicht aufgrund der Treupflicht (vgl. allerdings zum Konzept 1 Eine Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln nach § 57c GmbHG bleibt in Krise und Sanierung außer Betracht. 2 Zu § 55a GmbHG vgl. Priester/Tebben in Scholz, § 55a GmbHG Rz. 2; Katschinski/Rawert, ZIP 2008, 1993, 1997; Priester, GmbHR 2008, 1177. 3 KG v. 26.10.2004 – 1 W 21/04, GmbHR 2005, 95; OLG Hamburg v. 29.4.2005 – 2 Wx 75/03, GmbHR 2005, 997; LG Stuttgart v. 4.3.2004 – 32 T 1/04 KfH, GmbHR 2004, 666; Lieder in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 56 GmbHG Rz. 47; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 34. 4 Vgl. nur Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 31 ff. 5 Zum Bezugsrecht bei der GmbH BGH v. 18.4.2005 – II ZR 151/03, GmbHR 2005, 925; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 20 ff.; Gummert in Henssler/Strohn, § 55 GmbHG Rz. 16; grundlegend Priester, DB 1980, 1925 ff.; ausführlich und mit umfassenden Nachweisen Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 42 ff. 6 Dazu etwa Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 25 ff.; Schnorbus in Rowedder/ Pentz, § 55 GmbHG Rz. 37 f.

172 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.4 § 6

„Sanieren oder Ausscheiden“ Rz. 6.7)1. Vorverträge (Übernahmeverpflichtungsverträge) bedürfen der Form des § 55 GmbHG2. Die bloß treuwidrige Enttäuschung von Verhandlungsvertrauen (widersprüchliches Verhalten) kann äußerstensfalls zum Schadensersatz zugunsten der in ihrem Vertrauen enttäuschten Mitgesellschafter führen, nicht zur Einlagepflicht. Scheitert die Sanierung nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss und nach Abschluss des Übernahmevertrags, so bleiben die Übernehmer gebunden. Bis zur Eintragung der Kapitalerhöhung im Handelsregister wird ihnen indes ein Rücktrittsrecht aus wichtigem Grund zuerkannt3. Eine hierauf gegründete außerordentliche Kündigung des Übernahmevertrags wird allerdings nicht anerkannt, wenn der Kapitalerhöhungsbeschluss in Kenntnis der Krise gefasst wurde4.

b) Vereinfachte Kapitalherabsetzung aa) Die sanierende Kapitalerhöhung geht typischerweise – vor allem bei disquotaler Kapitalerhöhung – einher mit einer nominellen Kapitalherabsetzung (sog. Kapitalschnitt). Diese Kombination verhindert eine Quersubventionierung des entwerteten Altkapitals durch das Neukapital und sie verbessert als Bilanzbereinigung im Blick auf § 30 GmbHG die Aussicht auf künftige Ausschüttungen. Betriebswirtschaftlich verbinden sich mit dem Kapitalschnitt schwierige Bewertungsprobleme. In rechtlicher Hinsicht wird der sog. Kapitalschnitt bei der GmbH durch die §§ 58a ff. GmbHG (vereinfachte Kapitalherabsetzung) ermöglicht5.

6.3

Die Regelung über das gesetzliche Mindeststammkapital bleibt von § 58a GmbHG unberührt6. Bemerkenswert ist, dass gleichwohl eine Stammkapitalherabsetzung unter 25.000 Euro zulässig ist, wenn die uno actu beschlossene effektive Kapitalerhöhung das Stammkapital wieder auf den gesetzlichen Mindestbetrag bringt (§ 58a Abs. 4 GmbHG)7. Ältere Literatur und Rechtsprechung zu dieser Frage ist dadurch überholt. Nicht zulässig ist ein Wechsel in eine mit einem Stammkapital von weniger als 25.000 Euro ausgestattete UG (haftungsbeschränkt)8, denn eine UG muss als solche gegründet sein (vgl. § 5a Abs. 1 GmbHG). Im Wesentlichen gelten folgende Grundsätze9:

6.4

– Eine vereinfachte Kapitalherabsetzung muss der Verlustdeckung dienen und setzt die Auflösung der offenen Eigenkapitalposten voraus (§ 58a Abs. 1, 2 GmbHG). – Die aus der Kapitalherabsetzung und der Rücklagenauflösung gewonnenen Beträge dürfen nur zur Verlustdeckung und für die Kapitalrücklage verwendet werden (§ 58b Abs. 1 und 2 GmbHG), und zwar einschließlich solcher Beträge, deren Vorhandensein sich nachträglich 1 BGH v. 18.4.2005 – II ZR 151/03, GmbHR 2005, 925 m. Anm. Werner = ZIP 2005, 985 = EWiR 2005, 599 (Priester); Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 41. 2 Dazu Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 40. 3 KG v. 8.12.1983 – 2 U 2521/83, GmbHR 1984, 124; OLG Hamm v. 15.6.1988 – 8 U 2/88, GmbHR 1989, 162; Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 98. 4 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, GmbHR 1995, 113 = ZIP 1995, 28; Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 91. 5 Eingehend zum legislativen Hintergrund Sommer, Die sanierende Kapitalherabsetzung bei der GmbH, 1993; Hirte, Die vereinfachte Kapitalherabsetzung bei der GmbH, 1997; Geißler, GmbHR 2005, 1102 ff.; Naraschewski, GmbHR 1995, 637 ff.; Maser/Sommer, GmbHR 1996, 22 ff.; Wirth, DB 1996, 867 ff. 6 Priester/Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 38. 7 Dazu Geißler, GmbHR 2005, 1102, 1105; Maser/Sommer, GmbHR 1996, 26, 29 f.; Altmeppen, § 58a GmbHG Rz. 22; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 58a GmbHG Rz. 15; Priester/Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 21. 8 Vgl. nur Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 5a GmbHG Rz. 16; Altmeppen, § 5a GmbHG Rz. 8. 9 Näher Priester/Tebben in Scholz, Vor § 58a GmbHG Rz. 7 ff.; Maser/Sommer, GmbHR 1996, 26 ff.

Karsten Schmidt | 173

§ 6 Rz. 6.4 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

bei der Rechnungslegung für das Geschäftsjahr herausstellt (§ 58c GmbHG: Nichteintritt erwarteter Verluste). – Die in die Kapitalrücklage eingestellten Beträge unterliegen einer Ausschüttungssperre von fünf Jahren (§ 58b Abs. 3 GmbHG), und künftige Gewinne dürfen nur in begrenztem Umfang ausgeschüttet werden (§ 58d GmbHG).

6.5

Zulässig ist sogar eine Kapitalherabsetzung auf null1. Bei der mit ihr notwendig verbundenen Kapitalerhöhung müssen aber Treupflichten gegenüber der Minderheit beachtet werden. Diese darf in einem solchen Fall grundsätzlich nicht vom Bezugsrecht ausgeschlossen, also nicht auf kaltem Wege aus der Gesellschaft eliminiert werden2. Dieser Grundsatz ist im Fall des Kapitalschnitts im Insolvenzplanverfahren umstritten (Rz. 31.37). Außerhalb eines Insolvenzverfahrens kann es nicht hingenommen werden, wenn fortsetzungswillige Gesellschafter durch Kapitalschnitt vom Fortführungswert des Unternehmens ausgeschlossen werden3. Zu den steuerrechtlichen Folgen der Kapitalerhöhung s. Rz. 8.81 ff.

6.6

bb) Als Maßnahme der Sanierung impliziert die vereinfachte Kapitalherabsetzung eine strategische Komponente, vor allem im Zusammenhang mit der regelmäßig mit ihr einhergehenden effektiven Kapitalerhöhung. Aber nach dem auf die Aktiengesellschaft bezogenen „Sachsenmilch“-Urteil des BGH vom 9.2.19984 bedarf ein Beschluss über die vereinfachte Kapitalherabsetzung keiner sachlichen Rechtfertigung. Die Legitimation liegt grundsätzlich in der gesetzlichen Regelung, die auf einer abstrakten Abwägung der Aktionärsbelange und des Interesses der Gesellschaft an der Maßnahme beruht. Gleichfalls entschieden wurde (allerdings für den Fall eines eröffneten Insolvenzverfahrens)5: „Kann durch die zum Zwecke der Verlustdeckung beschlossene Kapitalherabsetzung eine Überschuldung oder Unterbilanz der Gesellschaft nicht vollständig beseitigt werden, so braucht die Kapitalherabsetzung jedenfalls dann nicht mit einem Kapitalerhöhungsbeschluss verbunden zu werden, wenn eine solche Maßnahme absehbar nicht zu einer erfolgreichen Sanierung der Gesellschaft führen würde.“

6.7

cc) Grundsätzlich gilt also: Jeder Gesellschafter kann nach eigenem Ermessen für oder gegen eine sanierende Kapitalherabsetzung stimmen6, so wie er auf der anderen Seite auch für oder gegen die Kapitalerhöhung stimmen kann und grundsätzlich nicht zur Übernahme neuer Stammeinlagen verpflichtet ist. Allerdings ist dieses Ermessen durch Treupflichten gebunden. Demgemäß kann die Abgabe einer Nein-Stimme, wenn diese dem Gesellschafter keinen Vorteil und die Kapitalerhöhung keinen unzumutbaren Nachteil bringt, ausnahmsweise treupflichtwidrig sein7. 1 BGH v. 18.4.2005 – II ZR 151/03, GmbHR 2005, 925 m. Anm. Werner = ZIP 2005, 985 = EWiR 2005, 599 (Priester); Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 58a GmbHG Rz. 15; zum Erlöschen von Pfandrechten LG Kiel v. 30.4.2015 – 16 O 42/14, ZIP 2015, 1731. 2 Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 58a GmbHG Rz. 27, im Anschluss an BGH v. 5.7.1999 – II ZR 126/98, BGHZ 142, 167 = NZG 1999, 1158 m. Anm. Rottnauer = AG 1999, 517 = ZIP 1999, 1444. 3 So wohl auch Priester/Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 41; s. aber BGH v. 18.4.2005 – II ZR 151/03, GmbHR 2005, 925 m. Anm. Werner = EWiR 2005, 599. 4 BGH v. 9.2.1998 – II ZR 278/96, BGHZ 138, 71 = AG 1998, 284 = ZIP 1998, 692; dazu Priester/ Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 16; Hirte, ZInsO 1999, 616 ff.; Krieger, ZGR 2000, 885. 5 BGH v. 9.2.1998 – II ZR 278/96, BGHZ 138, 71 = AG 1998, 284 = ZIP 1998, 692; dazu Priester/ Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 17; Hirte, ZInsO 1999, 616 ff.; Krieger, ZGR 2000, 885. 6 Zusammenfassend Altmeppen, ZIP 2005, 119; Kessler, GmbHR 2005, 257, 261; Geißler, GmbHR 2005, 1102, 1106. 7 Vgl. zur AG BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136 = NJW 1995, 1739 m. Anm. Altmeppen = GmbHR 1995, 665; dazu Priester/Tebben in Scholz, § 58a GmbHG Rz. 18; Lutter, JZ 1995, 1053; Lutter, ZHR 162 (1998), 164, 170.

174 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.8 § 6

Auch gilt bei der GmbH sinngemäß die vom BGH1 für Personengesellschaften entwickelte Regel „Sanieren oder Ausscheiden“2: Im Rahmen eines realisierungsfähigen Sanierungskonzepts kann es den Gesellschaftern einer sanierungsbedürftigen GmbH zuzumuten sein, zwischen dem Ausscheiden zum Liquidationswert (ggf. auch zu null!) und der Teilnahme an der Sanierung durch Zeichnung jungen Stammkapitals im Zuge der Kapitalerhöhung zu wählen. Dieses Instrument stellt Anforderungen an die Beschlussvorlage3, zumal es faktisch die Wirkung eines bedingten Ausschlusses aus der Gesellschaft hat4. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung müssen für die strategische Einschätzung des Gesellschafters Daten vorliegen über: – die Sanierungsbedürftigkeit und Sanierungsfähigkeit der Gesellschaft, – die Eignung des Sanierungskonzepts, – die Kapitalstruktur der Gesellschaft im Fall der Bezugsrechtsausübung, – die erwarteten Folgen einer Liquidation und – die Angemessenheit der (ggf. Zu-Null-)Abfindung in Ausscheidensfällen

c) Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG Bei der GmbH & Co. KG empfiehlt es sich, das GmbH-Kapital unverändert zu lassen. Wird es erhöht und führt die GmbH die neue eingezahlte Einlage dem Vermögen der Kommanditgesellschaft zu, so droht nach einer für die Praxis kaum akzeptablen5 Rechtsprechung des BGH6 die Gefahr einer doppelten Einzahlungspflicht (dazu krit. Rz. 6.22 f.). Empfehlenswert ist eine andere Technik: Erhöht wird nur das Kommanditkapital. Einer Eintragung in das Handelsregister bedarf es hierfür nicht7. Die zu beachtenden Regeln (Einstimmigkeit? Qualifizierte Mehrheit? Bezugsrechte?) richten sich nach dem Gesellschaftsvertrag und nach den im Einzelfall zu beachtenden Treupflichten. Grundsätzlich sind Gesellschafter nicht verpflichtet, Nachschüsse zu leisten. Vertragsklauseln über Nachschusspflichten der Gesellschafter sind unwirksam, wenn sie zu unabsehbaren Risiken führen, insbesondere keine Obergrenze enthalten8. Die Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes durch das BGH-Urteil vom 21.10.20149 hat hieran nichts geändert, denn sie betrifft nur die formelle Mehrheitskompetenz als solche und 1 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, BGHZ 183, 1 = GmbHR 2010, 32 = NJW 2010, 65 = ZIP 2009, 2289; bestätigend BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, ZIP 2015, 1626; dazu Stephan Schneider, Gesellschafter-Stimmpflichten bei Sanierungen, 2014, S. 282 ff.; Grunewald in FS Roth, 2011, S. 187 ff.; Haas, NJW 2010, 984; Karsten Schmidt, JZ 2010, 125; Schöne, ZIP 2015, 501. 2 Priester/Tebben in Scholz, § 58 GmbHG Rz. 92; J. Vetter in Münchener Kommentar zum GmbHG, Vor § 58 GmbHG Rz. 68 ff., 74 ff.; Priester, ZIP 2011, 497, 499 ff. 3 Die Anforderungen sind geringer als im Fall einer oHG oder GbR, bei der im Ausscheidensfall, wie das BGH-Urteil „Sanieren oder Ausscheiden“ zeigt, auch die Nachschusspflicht wegen Altverbindlichkeiten kalkulierbar sein muss; vgl. dazu Karsten Schmidt, JZ 2010, 125, 128 ff. 4 Treffend insofern die Grundsatzkritik bei Schöne, ZIP 2015, 501 ff. 5 Dazu krit. Karsten Schmidt, ZIP 2008, 481 ff. 6 BGH v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = BB 2008, 181 m. Anm. Witt = GmbHR 2008, 203 = ZIP 2008, 174. 7 § 175 HGB meint mit der „Einlage“ die Haftsumme. 8 BGH v. 3.12.2007 – II ZR 304/06, ZIP 2008, 695; BGH v. 5.11.2007 – II ZR 230/06, ZIP 2007, 2413; BGH v. 19.3.2007 – II ZR 73/06, ZIP 2007, 812; BGH v. 5.3.2007 – II ZR 282/05, GmbHR 2007, 535. 9 BGH v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, BGHZ 203, 77 = BB 2015, 328 m. Anm. Grunewald = GmbHR 2014, 1303 m. Anm. Ulrich = NJW 2015, 859 = ZIP 2014, 2231.

Karsten Schmidt | 175

6.8

§ 6 Rz. 6.8 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

lässt den Individualschutz der Gesellschafter gegen Mehrheitsentscheidungen unberührt. Anwendbar ist dagegen das bei Rz. 6.7 geschilderte Prinzip „Sanieren oder Ausscheiden“1.

6.9

Nehmen nicht alle Kommanditisten quotenidentisch an der Erhöhung des Kommanditkapitals teil, so empfiehlt sich eine Kombination mit einer Herabsetzung der Alt-Kapitalanteile, die die Aufgabe einer vereinfachten Kapitalherabsetzung übernimmt (Herabsetzung der Festkapitalkonten). Die Haftsummen der Altkommanditisten können mit Wirkung gegenüber den Gläubigern allerdings nur für Neuverbindlichkeiten der Gesellschaft ab Eintragung herabgesetzt werden2.

2. Risiken der Kapitalerhöhung a) Grundsätzliches 6.10

aa) Die Durchführung der sanierenden Kapitalerhöhung führt neben Bewertungsproblemen (Rz. 7.54 ff.) immer wieder zu spezifischen Kapitalaufbringungsproblemen und damit zum Risiko einer Doppelleistung, wenn die Einlagen auf erhöhtes Stammkapital nicht wirksam erbracht sind. Neben den Fällen des Hin- und Herzahlens und der verdeckten Sacheinlage (Rz. 6.20 ff.) ist besonders hinzuweisen auf die Praxis zur Zahlung auf debitorische Konten (Rz. 6.12), zur Zahlung in einen Cash Pool, zur Mittelverwendung vor Eintragung der Kapitalerhöhung (Rz. 6.13), zur Leistung an Gesellschaftsgläubiger (Rz. 6.15), zur bestimmungsmäßigen Verwendung (Rz. 6.16) und zur Vorauszahlung auf geplante Kapitalerhöhung (Rz. 6.17 ff.). Alle diese Gesichtspunkte spielen bei der sanierenden Kapitalerhöhung eine erhebliche Rolle. Alle stehen in Zusammenhang mit dem vormals extrem streng gehandhabten Gebot der „freien Verfügung der Geschäftsführer“ über die zu leistenden Einlagen, das früher wörtlich verstanden wurde3, jedoch nur bedeutet, dass der Mitteltransfer wirklich vollzogen und ein Zugriff des leistenden Gesellschafters ausgeschlossen sein muss4. Das Merkmal der „freien Verfügung“ darf nicht buchstäblich-gegenständlich, sondern nur in dem Sinne verstanden werden, dass die Kapitalaufbringung beendet und das Stadium der Kapitalverwendung erreicht sein muss.

6.11

bb) Die Haftungsrisiken einer Kapitalerhöhung treffen über § 24 GmbHG nicht nur diejenigen Alt- oder Neugesellschafter, die neue Stammeinlagen übernommen haben, sondern auch die Mitgesellschafter5. Diese in Anbetracht des Mehrheitsprinzips bei einer Kapitalerhöhung nicht unproblematische, aber dem Solidaritätsgedanken des § 24 GmbHG entsprechende Auffassung stellt vor allem Altgesellschafter vor schwer übersehbare Haftungsrisiken. Selbst auf überstimmte Mitgesellschafter, die gegen eine Kapitalerhöhung oder gegen einen Bezugsrechtsausschluss gestimmt haben, wird die Bestimmung angewandt6. Dem überstimmten Ge1 Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566 ff.; a.M. Stephan Schneider, Gesellschafter-Stimmpflichten bei Sanierungen, 2014, S. 233. 2 Oder ab Kenntnis; vgl. Karsten Schmidt/Grüneberg in Münchener Kommentar zum HGB, § 175 HGB Rz. 18. 3 Vgl. zur Herkunft des Begriffs Karsten Schmidt, AG 1986, 106 ff. 4 BGH v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799 = AG 2002, 456. 5 LG Mönchengladbach v. 23.10.1985 – 7 O 45/85, GmbHR 1986, 312 = ZIP 1986, 306; Kersting in Noack/Servatius/Haas, § 24 GmbHG Rz. 5; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 24 GmbHG Rz. 9; Altmeppen, § 24 GmbHG Rz. 17; Altmeppen, § 55 GmbHG Rz. 2; Emmerich in Scholz, § 24 GmbHG Rz. 19 f.; Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 16. 6 Kersting in Noack/Servatius/Haas, § 24 GmbHG Rz. 5; Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 16.

176 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.12 § 6

sellschafter wird zur Abwendung eines drohenden Ausfallhaftungsrisikos nur ein Austrittsrecht zugebilligt, das er alsbald auszuüben hat1. Es ist also nicht nur im Interesse des Sanierungszwecks, sondern auch im Interesse mitbetroffener Gesellschafter, tunlichst für Volleinzahlung zu sorgen (zum Haftungsumfang nach § 24 GmbHG vgl. Rz. 6.19).

b) Typische Szenarien aa) Die Einzahlung der Bareinlage auf ein debitorisch geführtes Bankkonto kann befreiende Wirkung haben2. Die Rechtsprechung verlangte lange Zeit, dass bei Zahlungseingang weder die Kreditlinie überschritten noch der Überziehungskredit fällig gestellt sei3. Der Gedanke besteht darin, dass eine Bareinlage Liquidität verschaffen muss und nicht bloß durch Zahlung an die Bank als Gläubiger die Verbindlichkeiten der Gesellschaft reduzieren darf4. Vorsorglich sollten sich die Beteiligten nach wie vor auf diese Rechtsprechung einrichten, was bedeutet: Der Geschäftsführer sollte vor dem Eingang neuer Bareinlagen vorsorglich ein neues, aktivisches Konto einrichten oder mit der Bank über die Kreditlinie verhandeln. Denn es genügt, dass der Geschäftsführer auf Grund der Einzahlung über den Betrag verfügen kann5. Das ist sicherlich nicht der Fall, wenn die Bank den eingehenden Betrag, statt ihn als Liquidität nutzbar zu machen, lediglich mit dem Debet der Gesellschaft verrechnet6. Auch eine bloß geduldete Kontoüberziehung soll nach der traditionellen Ansicht nicht ausreichen7. In einzelnen Fällen ist der BGH aber großzügiger verfahren. So lässt ein Urteil von 2004 die stillschweigend gestattete Überziehung des Kontos ausreichen8. Es soll auch genügen, wenn die Bank auf Grund der Einzahlung einen Kreditspielraum auf einem anderen Konto eingeräumt hat9. Die Prüfung dieser schwierigen Voraussetzungen ist in erster Linie Sache des (hoffentlich hinreichend sachkundigen oder sachkundig beratenen) Geschäftsführers bei der Einforderung der Zahlungen. Im Sinne der Klarheit und Einfachheit ist zu wünschen, dass der BGH in Fortschreibung der bereits anerkannten Fälle die Einzahlung der Einlage auf ein debitorisches Konto für die Befreiung allgemein ausreichen lässt. Damit ist der Kapitaltransfer vollzogen. Doch ist zu Vorsicht zu mahnen. Besonderes gilt, wenn die kontoführende Bank selbst eine Bareinlage auf das erhöhte Kapital gezeichnet hat. Grundsätzlich kann zwar auch die Bank befreiend auf ein debitorisches Konto der Gesellschaft zahlen, wenn sie ihr hierdurch Liquidität zuführt. Eine Zahlung, auf die sie als Inferentin selbst wieder zurückgreifen kann, stellt jedoch einen Fall des Hin- und Herzahlens dar und befreit nur unter den engen Voraussetzungen des § 19 Abs. 5 GmbHG (Rz. 6.22 f.). Wesentlich ist also, dass die Bank als Inferentin die Verfügung über das Konto zulässt. Auch ist zu ergänzen, dass sich der Geschäftsführer 1 LG Mönchengladbach v. 23.10.1985 – 7 O 45/85, ZIP 1986, 306 = GmbHR 1986, 312; Priester/ Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 22. 2 BGH v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799 = AG 2002, 456. 3 BGH v. 24.9.1990 – II ZR 203/89, NJW 1991, 226; BGH v. 3.12.1990 – II ZR 215/89, ZIP 1991, 445 = GmbHR 1991, 152; BGH v. 10.6.2022 – II ZR 98/95, ZIP 1996, 1466 = GmbHR 1996, 772; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 7 GmbHG Rz. 11; Veil in Scholz, § 7 GmbHG Rz. 40. 4 Dazu Karsten Schmidt, AG 1986, 106. 5 BGH v. 8.11.2004 – II ZR 362/02, GmbHR 2005, 229 = ZIP 2005, 121; Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 7; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 8; Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 34. 6 Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 34 m.w.N. 7 OLG Dresden v. 23.8.1999 – 2 U 1449/99, GmbHR 1999, 1035; Veil in Scholz, § 7 GmbHG Rz. 40; großzügiger wohl OLG Hamm v. 25.2.1992 – 8 U 247/91, GmbHR 1992, 750, 751. 8 BGH v. 8.11.2004 – II ZR 362/02, GmbHR 2005, 229, 230 = ZIP 2005, 121; Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 7; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 8. 9 Goette, DStR 2003, 887, 891.

Karsten Schmidt | 177

6.12

§ 6 Rz. 6.12 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

nach § 43 GmbHG schadensersatzpflichtig machen kann, wenn er durch die Einziehung von Einlagen auf ein debitorisches Bankkonto die beabsichtigte Liquiditätszufuhr vereitelt.

6.13

bb) Die Mittelverwendung vor Eintragung der Kapitalerhöhung schloss nach der älteren Rechtsprechung die Anerkennung einer zur freien Verfügung der Geschäftsführer stehenden Einlage aus1. Schuldrechtliche Verwendungsabreden, wie sie bei Kapitalerhöhungen an der Tagesordnung sind, wurden allerdings als rechtens angesehen, sofern sie nicht auf eine Rückgewähr an den Einlagepflichtigen zielten2. Erst Schritt für Schritt wurde das traditionelle Thesaurierungsgebot aufgegeben3. Die Rechtsprechung bis 2002 verlangte noch die Garantie einer „wertgleichen Deckung“ im Eintragungszeitpunkt. Dieses Prinzip lief darauf hinaus, dass eingezahlte Beträge nur gegen aktivierungsfähige Wirtschaftsgüter eingetauscht oder für den Abbau von Gesellschaftsschulden verwendet werden durften. Nach einer aktienrechtlichen Grundlagenentscheidung von 1992 sollte die Erklärung über die freie Verfügung auch die Versicherung enthalten, dass der eingezahlte Betrag wertmäßig im Gesellschaftsvermögen gedeckt ist4. Dieses sog. Erfordernis der wertgleichen Deckung wurde durch zwei Urteile vom 18.3.2002 vollständig aufgegeben5: „a) Bei einer Kapitalerhöhung ist die Bareinlage schon dann zur (endgültig) freien Verfügung der Geschäftsführung geleistet worden, wenn sie nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss in ihren uneingeschränkten Verfügungsbereich gelangt ist und nicht an den Einleger zurückfließt (Aufgabe von BGHZ 119, 177 Leitsätze a und b). b) Bei der Anmeldung der Kapitalerhöhung zur Eintragung in das Handelsregister hat die Geschäftsführung zu versichern, dass der Einlagebetrag für die Zwecke der Gesellschaft zur (endgültig) freien Verfügung der Geschäftsführung eingezahlt und auch in der Folge nicht an den Einleger zurückgezahlt worden ist.“

6.14

Ausreichend ist seither, dass die Einlage nach dem Kapitalerhöhungsbeschluss in den uneingeschränkten Verfügungsbereich der Geschäftsführung gelangte und nicht an den Einleger zurückfloss6. Das war i.S. der Sanierungspraxis eine klare Verbesserung. Ein alsbaldiger Rückfluss der eingelegten Mittel vor der Beschlussfassung – auch als Darlehen – war und blieb aber unzulässig7. Dasselbe gilt für den umgekehrten Fall, dass die Gesellschaft die Einlage durch einen Kredit an den Zeichner der Bareinlage vorfinanziert8. Die weitere Liberalisierung durch das MoMiG von 2008 (§§ 56a, 19 Abs. 5 GmbHG und dazu Rz. 6.22 f.) wird bei einer sanierenden Kapitalerhöhung kaum zum Zuge kommen (zu den Folgerungen vgl. Rz. 6.23). 1 Vgl. noch OLG Koblenz v. 28.5.1986 – 6 U 140/86, 6 U 141/86, ZIP 1986, 1559, 1561 = AG 1987, 88; Henze, ZHR 154 (1990), 117 f. 2 BGH v. 18.2.1991 – II ZR 104/90, BGHZ 113, 335, 348 = NJW 1991, 1754, 1757 = GmbHR 1991, 255 = ZIP 1991, 511; BGH v. 24.9.1990 – II ZR 203/89, GmbHR 1990, 554, 556 = ZIP 1990, 1400; BGH v. 22.6.1992 – II ZR 30/91, GmbHR 1992, 601, 603 = ZIP 1992, 1303; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 14; Veil in Scholz, § 7 GmbHG Rz. 36, 39. 3 Überblick bei Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 11 f. 4 BGH v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = NJW 1992, 3300 = ZIP 1992, 1387 = GmbHR 1993, 225; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 12. 5 BGH v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799 = AG 2002, 456; BGH v. 18.3.2002 – II ZR 11/01, GmbHR 2002, 993; Priester/Tebben in Scholz, § 57 GmbHG Rz. 11; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 11. 6 BGH v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197 = ZIP 2002, 799 = AG 2002, 456; BGH v. 18.3.2002 – II ZR 11/01, GmbHR 2002, 993; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 57 GmbHG Rz. 11. 7 BGH v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, NJW 2003, 825 = GmbHR 2003, 231 = ZIP 2003, 211; zweifelnd Priester/Tebben in Scholz, § 57 GmbHG Rz. 11. 8 BGH v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, GmbHR 2006, 982 = ZIP 2006, 1633 = ZIP 2007, 824 = WuB II C § 55 GmbHG 1.07; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 19 GmbHG Rz. 128.

178 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.17 § 6

cc) Die Zahlung an einen Dritten, insbesondere an einen Gesellschaftsgläubiger, befreit den Einlageschuldner nach der bis heute herrschenden Auffassung auch dann nicht, wenn sie auf Weisung des Geschäftsführers erfolgt1. Diese jedenfalls für die Mindesteinzahlung von 1/4 der Kapitalerhöhungssumme vorherrschende Auffassung beruht gleichfalls auf der Vorstellung, dass die Bareinlage verwertbare Liquidität beschaffen muss und nicht bloß die Verbindlichkeiten der Gesellschaft verringern darf. Sie wird außerdem auf eine sinngemäße Anwendung des § 54 Abs. 3 AktG und auf ein hierzu ergangenes Grundsatzurteil des BGH2 gestützt3. So diskussionswürdig dieser Standpunkt ist, der Geschäftsführer sollte ihn doch bei der Einforderung der Einlagezahlung als eiserne Regel behandeln. Wie in Fällen der Zahlung auf ein debitorisches Bankkonto ist die Gerichtspraxis aber aufgerufen, diese Regel zu lockern. Wenn dem Geschäftsführer Verwendungsvorgaben gemacht werden können (vgl. Rz. 6.16), sollte auch eine vom Geschäftsführer veranlasste, evtl. sogar von den Gesellschaftern beschlossene Zahlung an einen Gesellschaftsgläubiger für Rechnung der Gesellschaft als befreiende Einlageleistung ausreichen. Ein Sonderfall ist die Wiederauszahlung an den Inferenten. Hier gilt § 19 Abs. 5 GmbHG, der in der Sanierung kaum hilft (Rz. 6.14). Zur Einzahlung auf ein debitorisches Bankkonto vgl. Rz. 6.12.

6.15

dd) Verwendungsabsprachen oder entsprechende Weisungen der Gesellschafter schließen eine wirksame Einlageleistung „zur freien Verfügung“ nicht aus4. Sie sind zulässig und in Fällen der Kapitalerhöhung geradezu charakteristischerweise mit Investitions- oder Sanierungsstrategien verbunden. Anderes gilt nur, wenn die vorbestimmte Verwendung ihrerseits eine die Anerkennung einer wirksamen Einzahlung hindernde Maßnahme – z.B. eine Rückzahlung des Einlagebetrags an den Einlageschuldner – darstellt5.

6.16

ee) Anders verhält es sich mit Vorleistungen auf eine noch nicht beschlossene Kapitalerhöhung. Gegenüber einem solchen – bei Sanierungs- wie bei Investitionsvorgängen durchaus nicht seltenen – Vorgehen ist eine dringende Warnung angebracht. Der BGH hat für Sacheinlagen entschieden6: „Gegenstände und Sachwerte, deren Besitz einer GmbH bereits vor dem Kapitalerhöhungsbeschluss überlassen worden ist, können nur dann als Sacheinlage eingebracht werden, wenn sie zumindest im Zeitpunkt des Kapitalerhöhungsbeschlusses noch gegenständlich im Gesellschaftsvermögen vorhanden sind. Ist das nicht der Fall, kommt als Sacheinlage lediglich eine dem Gesellschafter zustehende Erstattungs- oder Ersatzforderung in Betracht (im Anschluss an BGHZ 51, 157 = NJW 1969, 840). Ob die Vorleistung von im Zeitpunkt der Kapitalerhöhung nicht mehr vorhandenen Gegenständen und Sachwerten im

6.17

1 BGH v. 18.3.2002 – II ZR 363/00, BGHZ 150, 197, 200 = ZIP 2002, 799 = AG 2002, 456; Priester/ Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 14; Veil in Scholz, § 7 GmbHG Rz. 33; Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 42 m.w.N.; a.M. Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 7 GmbHG Rz. 16. 2 BGH v. 13.7.1992 – II ZR 263/91, BGHZ 119, 177 = NJW 1992, 3300 = ZIP 1992, 1387; dazu Koch, § 54 AktG Rz. 12. 3 Vgl. nur Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 19 GmbHG Rz. 13; Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 14; Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 42. 4 BGH v. 22.3.2004 – II ZR 7/02, GmbHR 2004, 896; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1177; Karsten Schmidt, AG 1986, 106, 109 f. = ZIP 2004, 1046; jetzt wohl h.M.; vgl. Servatius in Noack/ Servatius/Haas, § 19 GmbHG Rz. 27; im Ansatz a.M. Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 57. 5 So offenbar im Ergebnis auch Ulmer/Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 7 GmbHG Rz. 56–58; charakteristisch auch BGH v. 22.3.2010 – II ZR 12/08, BGHZ 185, 44, 49 Rz. 14 = GmbHR 2010, 700 = NZG 2010, 702 = ZIP 2010, 978. 6 BGH v. 18.9.2000 – II ZR 365/98, BGHZ 145, 150 = GmbHR 2000, 1198 = ZIP 2000, 2021.

Karsten Schmidt | 179

§ 6 Rz. 6.17 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Sanierungsfall unter bestimmten engen Voraussetzungen als Sacheinlage anerkannt werden kann, bleibt offen.“ Bei Bareinlagen ist die Rechtslage nicht weniger problematisch. Wenn der Zeichner einen Vorschuss auf das noch zu erhöhende Kapital leistet, wäre dies zunächst nur ein Kredit. Die sich aus diesem Transfer ergebende Forderung wäre tauglicher Gegenstand einer Sacheinlage, und eine Verrechnung wäre mit dem Risiko versehen, dass sie als verdeckte Sacheinlage angesehen würde1. Eine solche befreit aber selbst nach der Neufassung des § 19 Abs. 4 GmbHG durch das MoMiG nur, wenn die statt Barzahlung verrechnete Forderung des Gesellschafters im Zeitpunkt der Registeranmeldung oder der etwa noch später liegenden Verrechnung noch vollwertig ist, und genau hierauf können sich die Beteiligten in Sanierungsfällen nicht verlassen.

6.18

Die sich umso dringender stellende Frage, ob eine Vorauseinzahlung unmittelbar als befreiende Bareinlage anerkannt werden kann, ist im Grundsatz klar zu verneinen. Der BGH hatte die genauen Voraussetzungen einer solchen Vorausleistung noch im Jahr 2000 unentschieden gelassen2. Fest stand zunächst nur, dass es sich um einen Sanierungsfall handeln3, die Voreinzahlung zur Krisenbewältigung notwendig sein4 und ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang mit einer bevorstehenden, mit aller gebotenen Beschleunigung eingeleiteten Kapitalerhöhung bestehen musste5. Klarheit schufen dann zwei Urteile von 20046 und 20067. Beide unterstreichen die Haftungsdramatik der Voreinzahlungsfälle: In dem 2004 entschiedenen Fall hatte der beklagte Gesellschafter den bar zu erbringenden Teil der auf erhöhtes Stammkapital zu leistenden Einlage wenige Tage vor dem Kapitalerhöhungsbeschluss eingezahlt. Der Insolvenzverwalter der GmbH verlangte nochmalige Einzahlung von umgerechnet etwa 700.000 Euro, und der BGH gab ihm Recht. Der Leitsatz des Urteils lautet8: „Im Kapitalaufbringungssystem der GmbH bildet der Kapitalerhöhungsbeschluss die maßgebliche Zäsur. Voreinzahlungen auf die künftige Kapitalerhöhung haben schuldtilgende Wirkung nur dann, wenn der eingezahlte Betrag im Zeitpunkt der Fassung des Erhöhungsbeschlusses noch als solcher im Vermögen der Gesellschaft vorhanden ist. Dem steht es nicht gleich, dass auf ein debitorisches Konto der Gesellschaft eingezahlt wird und die Bank nach Verrechnung der Gutschrift eine Verfügung über den Einlagebetrag zulässt (Klarstellung von BGH v. 21.6.1996 – II ZR 98/95, ZIP 1996, 1466 = GmbHR 1996, 772).“

Im Urteil von 2006 war das Kapital einer GmbH sukzessiv um nahezu 1 Mio. DM erhöht worden, und wiederum waren Vorleistungen vor den Erhöhungsbeschlüssen geleistet worden. Die vom Insolvenzverwalter zunächst auf 100.000 Euro begrenzte Teilklage hatte Erfolg. Der Leitsatz dieses BGH-Urteils lautet9: „Voreinzahlungen auf eine künftige Kapitalerhöhung haben 1 Zur verdeckten Sacheinlage vgl. eingehend Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1122 ff.; Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 116 ff.; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 52 ff.; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 56a GmbHG Rz. 20. 2 BGH v. 18.9.2000 – II ZR 365/98, BGHZ 145, 150, 154 = GmbHR 2000, 1198, 1200 = ZIP 2000, 2021; vgl. bereits BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, GmbHR 1995, 113 = ZIP 1995, 28. 3 BGH v. 13.4.1992 – II ZR 277/90, BGHZ 118, 83 = ZIP 1992, 995 = AG 1992, 312; BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, ZIP 1995, 28 = GmbHR 1995, 113; BGH v. 21.6.1996 – II ZR 98/95, ZIP 1996, 1466 = GmbHR 1996, 772. 4 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, ZIP 1995, 28 = GmbHR 1995, 113. 5 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, ZIP 1995, 28 = GmbHR 1995, 113. 6 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 210/01, BGHZ 158, 283 = GmbHR 2004, 736 m. Anm. Heidinger; dazu eingehend Blöse, DB 2004, 1140 ff. = ZIP 2004, 849. 7 BGH v. 26.6.2006 – II ZR 43/05, BGHZ 168, 201 = GmbHR 2006, 1328 m. Anm. Werner. 8 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 210/01, BGHZ 158, 283 = GmbHR 2004, 736 m. Anm. Heidinger. 9 BGH v. 26.6.2006 – II ZR 43/05, BGHZ 168, 201 = GmbHR 2006, 1328 m. Anm. Werner.

180 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.20 § 6

grundsätzlich nur dann Tilgungswirkung, wenn der eingezahlte Betrag im Zeitpunkt der Beschlussfassung und der mit ihr üblicherweise verbundenen Übernahmeerklärung als solcher noch im Gesellschaftsvermögen zweifelsfrei vorhanden ist (Bestätigung von BGH v. 15.3.2004 – II ZR 210/01, BGHZ 158, 283 = GmbHR 2004, 736 m. Anm. Heidinger). Ausnahmsweise können Voreinzahlungen unter engen Voraussetzungen als wirksame Erfüllung der später übernommenen Einlageschuld anerkannt werden, wenn nämlich die Beschlussfassung über die Kapitalerhöhung im Anschluss an die Voreinzahlung mit aller gebotenen Beschleunigung nachgeholt wird, ein akuter Sanierungsfall vorliegt, andere Maßnahmen nicht in Betracht kommen und die Rettung der sanierungsfähigen Gesellschaft scheitern würde, falls die übliche Reihenfolge der Durchführung der Kapitalerhöhungsmaßnahme betrachtet werden müsste.“ Der BGH hat diese Rechtsprechung im Jahr 2008 bestätigt1. Sein Standpunkt verdient Zustimmung. Differenzierungsvorschläge, die im Prozessfall helfen mögen2, sind als Grundlage für die Gestaltungspraxis wenig verlässlich. In der typischen GmbH wird – anders als beim langen Vorlauf einer AG-Hauptversammlung – die Notwendigkeit einer Vorauszahlung nicht ohne Weiteres ersichtlich sein. In den für Voreinzahlungen ernstlich in Betracht kommenden Fällen ist nämlich ein förmlicher Kapitalerhöhungsbeschluss ohne Verzug leicht zu bewerkstelligen oder, wo dies zweifelhaft ist, umso weniger als verlässliche Basis der Vorauszahlung geeignet. Für die Sanierungspraxis erweist sich deshalb eine dem Kapitalerhöhungsbeschluss vorausgehende Zahlung, sofern nicht die vom BGH anerkannte Ausnahmesituation eindeutig gegeben sein sollte, als ein Kunstfehler. Verstöße gegen diese Vorsichtsregel kommen allerdings immer noch erstaunlich oft vor. Im Fall von 20063 hatte sogar der – notariell beurkundete! – Kapitalerhöhungsbeschluss dahin gelautet, dass die Bareinlage „bereits erbracht“ sei. Noch weniger geht es an, dass sich die Barkapitalerhöhung nach der Bezuschussung durch den Gesellschafter nur mehr als Befreiung von einem Gesellschafterdarlehen erscheint4. In Fällen dringenden Liquiditätsbedarfs ist an ein Doppelkonto5 oder an die Aufnahme eines vorübergehend durch den Gesellschafter besicherten Überbrückungskredits bei der Hausbank zu denken6. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Rechtsprechung in einer solchen Umgehung einen unerlaubten Rückfluss an den Inferenten sieht. Es bleibt damit bei der generellen Warnung.

6.19

3. Veränderte Risiken bei Hin- und Herzahlen sowie bei verdeckter Sacheinlage Das Hin- und Herzahlen sowie Fragen der sog. verdeckten Sacheinlage sind typische Kapitalerhöhungsprobleme (nicht Gründungsprobleme), und diese werden gerade in Sanierungsfällen virulent, weil im ungünstigsten Fall hinterher ein Insolvenzverwalter vor der Tür steht. 1 BGH v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, GmbHR 2008, 483 = ZIP 2008, 643; BGH v. 24.4.2008 – III ZR 223/06, GmbHR 2008, 766, 767 = ZIP 2008, 1928. 2 Für vorsichtige Lockerung Lieder in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 56a GmbHG Rz. 31 ff.; Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 20 f.; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 56a GmbHG Rz. 14 ff. 3 BGH v. 26.6.2006 – II ZR 43/05, BGHZ 168, 201 = GmbHR 2006, 1328 m. Anm. Werner. 4 Vgl. Priester/Tebben in Scholz, § 56a GmbHG Rz. 19; s. auch Karsten Schmidt, ZGR 1982, 519, 530. 5 Blöse, DB 2004, 1140. 6 Wird dieser Kredit durch den künftigen Einlagenschuldner besichert, so ist mit dem Risiko zu rechnen, dass die Besicherung im etwaigen Insolvenzfall unter § 44a InsO fällt und, wenn der Kredit mit Mitteln der Einlage abgelöst wurde, der Anfechtung nach § 135 Abs. 2 InsO unterliegt (zur Privilegierung von Überbrückungskrediten vgl. aber Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.605).

Karsten Schmidt | 181

6.20

§ 6 Rz. 6.20 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Das MoMiG von 2008 hat zu einer Entschärfung der Haftungsgefahren geführt. Aber die Regelung ist komplex und rechtfertigt schon aus diesem Grund keine Entwarnung.

6.21

Die Reform von 2008 brachte sowohl bezüglich der verdeckten Sacheinlagen als auch hinsichtlich des Hin- und Herzahlens substantielle Veränderungen mit sich.

6.22

a) Nach der für das bis 2008 geltende Recht ständigen Rechtsprechung des BGH befreite sich ein Gesellschafter nicht von der Einlagepflicht, wenn der Einlagebetrag, z.B. als Kredit, alsbald wieder an ihn zurückfloss (Hin- und Herzahlung)1. Das galt auch dann, wenn der Rückfluss nicht dem Gesellschafter selbst, sondern einer von ihm beherrschten Gesellschaft zugeleitet wurde2. Eine spiegelbildliche Situation liegt vor, wenn die Gesellschaft dem Gesellschafter im Voraus ein Darlehen gewährt und diese Kreditmittel für die Einlagezahlung verwendet werden3. Der BGH verneinte in diesen Fällen eine Einlageleistung „zur freien Verfügung“ der Geschäftsführer4. Erst wenn auf die nach der Einschätzung des BGH nichtige Darlehensabrede gezahlt worden war, erkannte der BGH diese Zahlung als befreiende Einlageleistung an5. Seit dem MoMiG ist das Hin- und Herzahlen in § 19 Abs. 5 i.V.m. § 56a GmbHG geregelt: „Ist vor der Einlage eine Leistung an den Gesellschafter vereinbart worden, die wirtschaftlich einer Rückzahlung der Einlage entspricht und die nicht als verdeckte Sacheinlage im Sinne von Absatz 4 zu beurteilen ist, so befreit dies den Gesellschafter von seiner Einlageverpflichtung nur dann, wenn die Leistung durch einen vollwertigen Rückgewähranspruch gedeckt ist, der jederzeit fällig ist oder durch fristlose Kündigung durch die Gesellschaft fällig werden kann. Eine solche Leistung oder die Vereinbarung einer solchen Leistung ist in der Anmeldung nach § 8 anzugeben.“

6.23

Diese Neuerungen6 kommen der Gründungs- und Kapitalerhöhungspraxis durch Teillegalisierung der inkriminierten Transaktionen, durch Verringerung von Haftungsrisiken und durch Entformalisierung des Kapitalaufbringungsrechts entgegen7. Die rein formale Betrachtung der Kapitalgarantie wurde durch eine Wertdeckungsgarantie mit Beweislast des Einlageschuldners ersetzt. Die auf die Verwendung der Bareinlage für eine Zahlung an den einlegenden Gesellschafter gemünzte Regel gilt auch für den umgekehrten Fall der Vorfinanzierung der Einlage durch Zahlung an den Gesellschafter („Her- und Hinzahlen“)8. Für Barkapitalerhöhungen in Sanierungsfällen sind aber diese Haftungserleichterungen wenig hilfreich. Das hat faktische Gründe (Liquiditätsabfluss an den Einlageschuldner!), vor allem aber auch rechtliche Gründe. Die Unterdeckungsrisiken sind in der Krise der Gesellschaft hoch. 1 Vgl. nur BGH v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = GmbHR 2006, 43; BGH v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = GmbHR 2006, 306 m. Anm. Emde. 2 BGH v. 21.2.1994 – II ZR 60/93, BGHZ 125, 141, 144 = ZIP 1994, 701, 702 = GmbHR 1994, 394; BGH v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, BGHZ 153, 107, 111 = ZIP 2003, 211, 212 = GmbHR 2003, 231; BGH v. 16.1.2006 – II ZR 76/04, BGHZ 166, 815 = ZIP 2006, 665, 667 = GmbHR 2006, 477 m. Anm. Langner; BGH v. 20.11.2006. – II ZR 176/05, BGHZ 170, 47, 53 = ZIP 2007, 178, 180 = AG 2007, 121; BGH v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = ZIP 2008, 174 = GmbHR 2008, 203 m. Anm. Rohde. 3 BGH v. 12.6.2006 – II ZR 334/04, GmbHR 2006, 982 = ZIP 2006, 1633. 4 BGH v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113, 116 = GmbHR 2006, 43 = ZIP 2005, 2203. 5 BGH v. 21.11.2005 – II ZR 140/04, BGHZ 165, 113 = GmbHR 2006, 43; s. auch BGH v. 9.1.2006 – II ZR 72/05, BGHZ 165, 352 = GmbHR 2006, 306 m. Anm. Emde; anders noch OLG Schleswig v. 27.1.2005 – 5 U 22/04, ZIP 2005, 1827 = GmbHR 2005, 357 m. Anm. Emde. 6 Zur Kritik vgl. insbesondere Bormann/Ulrich, GmbHR 2008, 119; Büchel, GmbHR 2007, 1065; ähnlich Priester, ZIP 2008, 55. 7 Vgl. Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 19 GmbHG Rz. 202 f.; Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 173; Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1073. 8 Vgl. Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 19 GmbHG Rz. 128; Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 178 m.w.N.

182 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.25 § 6

Vor allem sind sie zusätzlich durch ein Alles-oder-Nichts-Prinzip belastet1: Jedes messbare Ausfallrisiko bezüglich der Forderung gegen den Einlageschuldner lässt das Privileg des § 19 Abs. 5 GmbHG ganz entfallen. Insgesamt hat die Regelung bei der Legalisierung der Kapitalerhöhung durch Einzahlung in einen Cash Pool geholfen (dazu Rz. 2.79), jedoch wenig bei der Krisenbewältigung. Insgesamt sollte die Grundtendenz weiterhin lauten: Hände weg von der Hin- und Herzahlung!

b) Um verdeckte Sacheinlagen handelt es sich, wenn eine Geldeinlage durch Kombination mit einem Rechtsgeschäft zwischen dem Einleger und der Gesellschaft ganz oder teilweise Sacheinlageeffekte herbeiführt (vgl. § 19 Abs. 4 Satz 1 GmbHG). Risiken aus verdeckter Sacheinlage drohen bei nahezu allen mit der Kapitalerhöhung kombinierten Geschäften zwischen der Gesellschaft und dem Einlageschuldner. Nur echte Umsatzgeschäfte sind von diesem Risiko grundsätzlich frei2. Entgeltliche Transfers3 sind ebenso gefährlich wie Verrechnungen4 oder Schaukelfinanzierungen zwischen gesellschafteridentischen Gesellschaften5. Eine verdeckte Einlage wurde auch in einem Fall angenommen, in dem die von der Muttergesellschaft (also der herrschenden Gesellschafterin) auf erhöhtes Stammkapital eingezahlte Liquidität dafür verwendet worden war, den Erwerb eines Betriebs von einer Schwestergesellschaft zu finanzieren6.

6.24

Die verdeckte Sacheinlage ist seit dem MoMiG in dem folgenden § 19 Abs. 4 GmbHG i.V.m. § 56 Abs. 2 GmbHG geregelt7: „Ist eine Geldeinlage eines Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung und auf Grund einer im Zusammenhang mit der Übernahme der Geldeinlage getroffenen Abrede vollständig oder teilweise als Sacheinlage zu bewerten (verdeckte Sacheinlage), so befreit dies den Gesellschafter nicht von seiner Einlageverpflichtung. Jedoch sind die Verträge über die Sacheinlage und die Rechtshandlungen zu ihrer Ausführung nicht unwirksam. Auf die fortbestehende Geldeinlagepflicht des Gesellschafters wird der Wert des Vermögensgegenstandes im Zeitpunkt der Anmeldung der Gesellschaft zur Eintragung in das Handelsregister oder im Zeitpunkt seiner Überlassung an die Gesellschaft, falls diese später erfolgt, angerechnet. Die Anrechnung erfolgt nicht vor Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister. Die Beweislast für die Werthaltigkeit des Vermögensgegenstandes trägt der Gesellschafter.“

Der im Dienste der Praxis und in guter Absicht formulierte Tatbestand zeigt, wie ein Gesetz nicht verfasst sein sollte. Dass die verdeckte Sacheinlage nicht befreit (Satz 1), aber vertraglich wirksam (Satz 2) und nach der Eintragung (Satz 4) auf die fortbestehende Einlagepflicht anzurechnen ist (Satz 3), hat im Wesentlichen einen einzigen Grund: Die verdeckte Sacheinlage soll verboten, der Geschäftsführer, wenn er die Leistung der Bareinlage versichert, sogar strafbar bleiben (§ 82 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG). Aber selbst für die Gesellschafter gilt wegen des Unterdeckungsrisikos nach wie vor: Hände weg, auch wenn die Rechtsfolgen nicht mehr so scharf sind! 1 Dazu Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 19 GmbHG Rz. 202; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 19 GmbHG Rz. 124. 2 OLG Hamm v. 17.8.2004 – 27 U 189/03, AG 2005, 444 = ZIP 2005, 1138. 3 Vgl. nur BGH v. 7.7.2003 – II ZR 235/01, BGHZ 155, 329 = ZIP 2003, 1540 = GmbHR 2003, 1051 m. Anm. Bormann. 4 Vgl. nur BGH v. 16.9.2002 – II ZR 1/00, BGHZ 152, 37 = BB 2002, 2347 = GmbHR 2002, 1193 m. Anm. Müller; s. auch BGH v. 4.3.1996 – II ZB 8/95, BB 1996, 813 = GmbHR 1996, 351 = ZIP 1996, 668. 5 BGH v. 2.12.2002 – II ZR 101/02, BGHZ 153, 107 = GmbHR 2003, 231 = ZIP 2003, 211. 6 OLG München v. 6.10.2005 – 23 U 2381/05, GmbHR 2005, 1606 = ZIP 2005, 1923. 7 Dazu z.B. Lieder in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 56 GmbHG Rz. 71 ff.; Schwandtner in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 19 GmbHG Rz. 162 ff.; Bormann, GmbHR 2007, 897; Noack, DB 2007, 1395, 1397; Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1072, 1073; Veil, ZIP 2007, 1241, 1243; abl. freilich z.B. Büchel, GmbHR 2007, 1065, 1067; Wirsch, GmbHR 2007, 736 ff.

Karsten Schmidt | 183

6.25

§ 6 Rz. 6.25 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Der BGH lässt zwar die Heilung verdeckter Sacheinlagen durch formgerechte Umwandlung der Barkapitalerhöhung in eine Sachkapitalerhöhung zu1, aber eine solche Abhilfe funktioniert nur, solange sich die Gesellschaft noch nicht in der Krise befindet, denn sie setzt Vollwertigkeit voraus2. Die Vollwertigkeit wird bei der Heilung verdeckter Sacheinlagen nämlich nicht – wie allerdings vorgeschlagen worden ist3 – für den Zeitpunkt des verdeckten Vermögenstransfers, sondern für den Zeitpunkt des Heilungsverfahrens festgestellt4. Dann aber ist der Gegenstand der verdeckten Sacheinlage (z.B. eine Forderung) häufig entwertet oder nicht mehr vorhanden. Die Heilung verdeckter Sacheinlagen ist ein Schönwetterinstrument. Sie taugt als Haftungsprophylaxe für den Gesellschafter, nicht dagegen als Sanierungsinstrument für die Gesellschaft. Außer Acht lassen sollte man sie bei Sanierungsaktivitäten allerdings nicht. Soweit nach geglückter Sanierung festgestellt wird, dass im Zuge dieser Sanierungen verdeckte Sachkapitalerhöhungen stattgefunden haben, sollte die Chance der Heilung nicht ungenutzt bleiben. Das bedeutet: Die Heilung verdeckter Sacheinlagen gehört in das Vorfeld der Krise und in die Phase der Konsolidierung nach geglückter Sanierung. In diesem Sinne kann sie trotz des komplizierten Beschluss- und Eintragungsverfahrens genutzt werden. Aber sobald und solange die Insolvenz droht, stößt diese Abhilfe auf Grenzen.

4. Konsequenzen 6.26

Was lehren hiernach Gesetzgebung und Gerichtspraxis für die Durchführung interner Sanierungen? – Die Umwandlung von Forderungen in haftendes Kapital (Rz. 6.30, 7.41 ff.) kann Bestandteil eines Sanierungskonzepts sein, sollte aber nur im Wege der Sachkapitalerhöhung erfolgen, die freilich immer noch das Differenzhaftungsrisiko des § 9 GmbHG mit sich bringt (Rz. 6.31). Wo dies nicht akzeptiert wird, sollte die Sachkapitalerhöhung überhaupt vermieden oder in ein Insolvenzverfahren verlegt werden (Rz. 7.56, 31.31 ff.). Altgläubiger der Gesellschaft fahren, wenn sie einen Sanierungsbeitrag leisten wollen, mit einem Rangrücktritt mit Besserungsabrede (dazu Rz. 7.12) haftungsrechtlich besser als mit der Verwendung ihrer Forderungen für eine Kapitalerhöhung. – Auch Gesellschafter sollten, was den Einsatz ihrer Forderungen für die Sanierung anlangt, den Rangrücktritt vorziehen (dazu Rz. 7.14 ff.). – Nur nach geglückter Sanierung sind verdeckte Sachkapitalerhöhungen heilbar und sollten geheilt werden. Bei Kapitalerhöhungen im Zuge einer Sanierung gilt es auch unter dem neuen Recht ein Hin- und Herzahlen ebenso zu vermeiden wie eine verdeckte Sacheinlage.

5. Anteilserwerb und Forderungsumwandlung in Beteiligung (Debt Equity Swap) 6.27

Die Teilnahme von Gläubigern an sanierenden Kapitalmaßnahmen kann nicht nur im Erlass, in der Stundung oder in der Subordinierung von Ansprüchen bestehen (dazu Rz. 7.1 ff.), sondern auch in der Kontrollübernahme. Diese kann auf sehr unterschiedliche Weise zustande kommen: 1 BGH v. 4.3.1996 – II ZB 8/95, BGHZ 132, 141 = GmbHR 1996, 351; BGH v. 24.7.2000 – II ZR 202/98, GmbHR 2001, 31; dazu Priester, JbFSt. 1996/97, S. 254 ff.; Priester, ZIP 1996, 1025 ff. 2 Näher Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 19 GmbHG Rz. 33. 3 Sernetz, ZIP 1995, 188 ff. 4 BGH v. 4.3.1996 – II ZB 8/95, BGHZ 132, 141 = GmbHR 1996, 351, 356 = ZIP 1996, 668.

184 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.31 § 6

– durch Anteilserwerb (Rz. 6.28), – durch Teilnahme an einer Barkapitalerhöhung (Rz. 6.29) oder – durch Umwandlung von Forderungen in haftendes Kapital im Wege der Sachkapitalerhöhung (Debt Equity Swap nach Rz. 6.30, 7.41 ff.). a) Die externe Sanierung durch Anteilserwerb (im äußersten Fall im Wege der Übernahme des Unternehmens durch einen externen Investor) ist nur die Kehrseite der bei Rz. 6.241 geschilderten Aufnahme neuer Gesellschafter. Mit dem Anteilserwerb pflegen zusätzliche finanzielle Engagements einherzugehen. Soweit es sich um Kredite und um gestundete Forderungen handelt, kommt dem Investor das Sanierungsprivileg des § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO zugute (dazu Rz. 6.95 ff.).

6.28

b) Anteilserwerb und Kapitalerhöhung können zusammentreffen, etwa indem derselbe Sanierungsinvestor alle vorhandenen Anteile erwirbt und im Wege der Kapitalerhöhung neue Anteile schafft. Die Chancen und Risiken einer solchen Sanierung sind rein betriebswirtschaftlicher Art, wenn der Weg des Anteilserwerbs und (oder) der Barkapitalerhöhung gewählt wird und hierbei kein technischer Fehler gemacht wird. Hier wird Geld an die Anteilseigner (Anteilserwerb) bzw. in das Gesellschaftsvermögen (Barkapitalerhöhung) gezahlt, und die Frage ist nur, ob dieses Geld der richtige Preis für die Sanierungschance ist oder ob es am Ende verloren geht, weil die Sanierung scheitert.

6.29

c) Spezifisch juristische Risiken bringt der Debt Equity Swap mit sich, also die Umwandlung von Forderungen in haftendes Kapital1: Der Gläubiger verwendet – im buchstäblichen oder im wirtschaftlichen Sinne! – seine Forderungen für die Erhöhung des Stammkapitals (im Fall einer KG: des Kommanditkapitals).

6.30

Debt Equity Swaps machen aus bloßen Forderungen Unternehmensbeteiligungen. Als strategische Optionen werden sie nicht selten im Sinne einer ultima ratio geschildert, zu der der Gläubiger greift, wenn alle anderen Sanierungsmaßnahmen gescheitert sind2. Genau dann ist aber das Risiko hoch, dass die gegen Anteile einzutauschenden Forderungen nicht vollwertig sind (dazu Rz. 7.54 ff.). Gesicherte Gläubiger werden zögern, sich auf diese Weise zu beteiligen, denn sie tauschen Sicherheiten gegen Haftungsrisiken ein3. Ungesicherte Gläubiger werden über diese Strategie nachdenken, wenn der Fortführungswert des Unternehmens höher ist als der Zerschlagungswert4. Aber genau hierher rühren die Haftungsrisiken aus zweifelhafter Wertdeckung. Fehlt es an dieser, so kann die Eintragung der Sachkapitalerhöhung verweigert werden (Rz. 7.52), und es besteht außerhalb des Insolvenzverfahrens eine Differenzhaftung in Höhe des fehlenden Werts der Stammeinlage (Rz. 7.53). Eine solche Differenzhaftung besteht im Übrigen auch, wenn bei der GmbH & Co. KG eine erhöhte Kommanditeinlage mit einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung belegt wird: Deckt die Einlage nicht die im Handelsregister eingetragene Haftungs-

6.31

1 Dazu Beck in Beck/Depré, § 10 Rz. 69; Haghani/Holzamer in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 24 Rz. 70 ff.; Kestler/Striegel/Jesch, Distressed Debt Investments, 2006; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.1318 ff.; Sinhart in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 16 Rz. 83c ff.; Patrick Schulz, Der Debt Equity Swap in der Insolvenz, 2015, S. 81-94; Redeker, BB 2007, 673 ff.; Wittig in FS Uhlenbruck, 2000, S. 685 ff. 2 Vgl. Redeker, BB 2007, 673 mit Hinweis auf FINANCE-Magazin Juni 2006, 38 ff.: „letzte Rettung“. 3 Vgl. Wittig in FS Uhlenbruck, 2000, S. 701. 4 Redeker, BB 2007, 673.

Karsten Schmidt | 185

§ 6 Rz. 6.31 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

summe, so haftet der Kommanditist nach § 171 Abs. 1 HGB auf die Differenz (näher Rz. 7.58 ff.)1.

6.32

d) Wichtig ist, dass der Debt Equity Swap als offene Sacheinlage vollzogen wird. Gegen das Risiko der Neueinzahlungspflicht wegen verdeckter Sacheinlage (Rz. 6.22) hilft seit der Reform von 2008 (MoMiG) dem Gesellschafter (nicht dem anmeldenden Geschäftsführer!) zwar die gesetzliche Anrechnungslösung (Rz. 6.24): Der Gesellschafter haftet nicht, soweit er die Werthaltigkeit der Forderung nachweist (§ 19 Abs. 4 GmbHG n.F.). Aber das Unterdeckungsrisiko bleibt gravierend. Eine zusätzliche Frage bestand in Fällen bis 2008 darin, ob das Eigenkapitalersatzrecht einen Debt Equity Swap hinderte2, und zwar vor allem in Fällen des sog. Distressed Debt Purchase (dazu Rz. 7.42). Bei diesem erwirbt der Investor die gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen (z.B. von Banken oder Lieferanten), um sie sodann in Eigenkapital umzuwandeln (Debt Equity Swap)3. Nach der damaligen BGH-Praxis konnten eigenkapitalersetzende Gesellschafterforderungen nicht für eine Sachkapitalerhöhung verwendet werden4. Wer als Drittinvestor durch Debt Equity Swap einstieg, war in dieser Hinsicht im Vorteil5. Durch das Sanierungsprivileg (§ 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG a.F., § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO) bevorzugt war allerdings ein Gesellschafter, der erst im Zuge der Sanierung Gesellschafter wurde, denn das Privileg befreite auch von der analogen Anwendung des § 30 GmbHG6. Nach dem durch das MoMiG reformierten Recht der Gesellschafterdarlehen hat sich diese Frage erledigt (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG). Das Recht der Gesellschafterdarlehen ist deshalb kein Hindernis mehr für den Debt Equity Swap (Rz. 7.48). Aber die anderen Probleme bleiben.

6. Sofortmaßnahmen 6.33

a) Die Geschäftsführer werden – soweit irgend möglich mit der Rückendeckung einer nach § 49 Abs. 2 GmbHG einzuberufenden Gesellschafterversammlung, – jedenfalls unter Information der Gesellschafter – auf Grund der Schwachstellenanalyse Sofortmaßnahmen einleiten. Diese Sofortmaßnahmen müssen sowohl an die Gesamtsituation der Gesellschaft als auch untereinander angepasst, also planvoll angelegt sein. Insbesondere wird die Geschäftsführung – einen Bericht an die Gesellschafter verfassen, – die Liquidität sichern bzw. wiederherstellen7, – logistische Voraussetzungen für die Unternehmensfortführung schaffen8, – die Versilberung nicht betriebsnotwendigen Anlagevermögens einleiten9, 1 Vgl. BGH v. 25.6.1973 – II ZR 133/70, BGHZ 61, 59, 72 = NJW 1973, 1691, 1694 f.; Karsten Schmidt/Grüneberg in Münchener Kommentar zum HGB, § 172 HGB Rz. 57 ff. 2 Dazu etwa Redeker, BB 2007, 673, 676. 3 Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561, 562. 4 BGH v. 26.3.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370, 376 = GmbHR 1984, 313 = ZIP 1984, 698; BGH v. 8.7.1985 – II ZR 269/84, BGHZ 95, 188, 191 = GmbHR 1986, 21 zur GmbH & Co. KG; OLG Schleswig v. 14.12.2000 – 5 U 182/98, NZG 2001, 566. 5 Eingehend Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561 ff.; Redeker, BB 2007, 673, 676 f.; Redeker, BB 2007, 673, 677. 6 BGH v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, BGHZ 165, 106 = GmbHR 2006, 311 = ZIP 2006, 279. 7 Kraus/Simon in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 5 Rz. 65; s. auch Thiele/Sopp in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 29; Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21. 8 Thiele/Sopp in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 15. 9 Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 53 f.

186 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.51 § 6

– arbeitsrechtliche Notmaßnahmen, z.B. Kurzarbeit, in die Wege leiten1, – einen vorläufigen Sanierungs-Businessplan vorbereiten und mit den Gesellschaftern abstimmen2.

Der Business-Plan unterliegt einer ständigen Kontrolle, Bereinigung und Aktualisierung. Wohl bedacht sein muss die Einschaltung von Sanierungshelfern sowie die Beratung mit Gläubigern. Die Umstände des Einzelfalls müssen darüber entscheiden, wie lange bei einer internen Sanierung auf die Einschaltung Dritter verzichtet werden kann. Auch ist die Zuziehung von Sanierungsexperten Vertrauenssache und setzt eine sorgsame Vorprüfung voraus. Wiederum wird sich die Geschäftsführung der Rückendeckung seitens der Gesellschafter vergewissern. Die bloße Fühlungnahme mit einem Mehrheitsgesellschafter – ein sehr verbreitetes Vorgehen! – kann bei Vorüberlegungen helfen, ersetzt aber nicht die Einschaltung der Gesellschaftergesamtheit, insbesondere die Einladung der Versammlung nach § 49 GmbHG (dazu Rz. 2.145).

6.34

b) Die Gesellschafter können

6.35

– auf die zeitnahe Abhaltung einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung dringen, falls diese nicht vom Geschäftsführer einberufen wird (vgl. § 50 GmbHG), – Information über die wirtschaftliche Situation und ihre Ursachen einfordern (§ 51a GmbHG), – ggf. auch einen Geschäftsführerwechsel beschließen (§ 46 Nr. 5 GmbHG). Die letztere Maßnahme, vor allem als Abberufung aus wichtigem Grund, will wohlbedacht sein (auch wegen der Außenwirkung). Ggf. ist auch eine Auflösung des Dienstvertrags durch Kündigung zu erwägen (dazu Rz. 6.181). Die Abberufung der Geschäftsführer ohne Neubestellung versetzt die Gesellschaft in den Stand der Führungslosigkeit mit den hieraus für die Gesellschafter folgenden Risiken (z.B. aus § 15a Abs. 3 InsO; dazu Rz. 25.4 ff.). Der Eintritt der Führungslosigkeit sollte unbedingt vermieden werden. Handelt es sich um den alleinigen Gesellschafter und Geschäftsführer, so stellt sich die Frage, ob die Amtsniederlegung überdies wegen Rechtsmissbrauchs unwirksam ist (vgl. Rz. 6.201)3.

6.36

c) Auch bei Sofortmaßnahmen ist die vertrauensvolle Zusammenarbeit des Gesellschafterkreises mit der Geschäftsführung essentiell, z.B. bei der Auswahl von Sanierungsberatern, bei der Verständigung über Rangrücktritte (Rz. 7.14) sowie bei der Vorbereitung von Kapitalmaßnahmen (zu ihnen Rz. 6.1).

6.37

Einstweilen frei.

6.38–6.50

II. Atypische Risikokapitalerhöhung Kapitalmaßnahmen zur außergerichtlichen Unternehmenssanierung können auch über die Einschaltung von Private Equity-Gesellschaften oder die Zuführung von Mezzanine-Kapital erreicht werden. Während die Zuführung von Mezzanine-Kapital die Gesellschafterstruktur 1 Seefelder, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2012, S. 190. 2 Über Businesspläne und Maßnahmenmanagement vgl. Kraus/Simon in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 5. 3 OLG Köln v. 1.2.2008 – 2 Wx 3/08, BB 2008, 638 = GmbHR 2008, 544 = ZIP 2008, 646.

Karsten Schmidt und Schluck-Amend | 187

6.51

§ 6 Rz. 6.51 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

des Krisenunternehmens unberührt lässt, wird bei Hinzuziehung von Private Equity-Gesellschaften in der Regel in die Gesellschafterstruktur eingegriffen1.

1. Private Equity 6.52

Nach der Definition der European Venture Capital and Private Equity Association (EVCA) kann mit dem Oberbegriff Private Equity der gesamte Markt für privates – nicht börsliches – Beteiligungskapital umschrieben werden. Hauptmerkmal des Private Equity-Modells ist, dass liquide Mittel eines Investors in das Eigenkapital (engl.: Equity) einer Gesellschaft fließen und der Gesellschaft damit für ihre Geschäftsaktivitäten zur Verfügung stehen. Da das Kapital von Unternehmen außerhalb des über die Börse organisierten Markts zur Verfügung gestellt wird, wird diese Beteiligungsform als „Private“ bezeichnet2. Innerhalb der Branche wird der Begriff Private Equity auch in Abgrenzung zu Venture Capital (dt.: Risiko- oder Wagniskapital), einem bedeutenden Teilbereich des Private Equity-Markts, verwendet. Venture Capital wird in erster Linie zur Startfinanzierung junger Technologiefirmen mit guten Zukunftsaussichten eingesetzt. Der Begriff Venture Capital bezieht sich auf Early Stage-Finanzierungen (Frühphasenfinanzierungen: Seed und Start up)3, während für Later Stage-Finanzierungen (Expansionsfinanzierungen) in der späteren Unternehmenshistorie der Begriff Private Equity verwendet wird4. Weiter – wohl am häufigsten – findet sich Private Equity-Engagement im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen (Buy-outs)5.

6.53

Venture Capital- und Private Equity-Gesellschaften fungieren als Kapitalsammelstelle und damit als Vermittler zwischen Investoren und kapitalsuchenden Unternehmen. Private Equity-Gesellschaften übernehmen in dieser Funktion die Suche nach geeigneten Zielgesellschaften, z.B. auch Krisenunternehmen, und deren Bewertung (Due Diligence). Im Falle des erfolgreichen Erwerbs der Zielgesellschaft übernehmen sie das Beteiligungsmanagement bis zum Ausstieg aus der Zielgesellschaft, dem Exit6 (Rz. 6.56).

6.54

Investoren stellen Private Equity-Gesellschaften voll haftendes Eigenkapital zur Verfügung, für das kein Rückzahlungsanspruch besteht. Anlagen in Private Equity-Gesellschaften sind Risikoanlagen, bei denen der Investor stets mit einem Totalausfall rechnen muss7. In Private Equity-Gesellschaften investieren in der Regel institutionelle Investoren – etwa Pensionskassen, Banken, Versicherungen – aber zuweilen auch die öffentliche Hand, große Unternehmen oder vermögende Privatleute8. 1 Private Equity umfasst im weiteren Sinne auch Mezzanine-Finanzierungen, die Grenzen sind fließend: Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 5, 17. 2 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 3 f. 3 Feldhaus in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 8; Gabrysch in Kompendium Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2010, § 2 Rz. 63. 4 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 21 f.; Gabrysch in Kompendium Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2010, § 2 Rz. 63. 5 Nach einer Statistik der Deutschen Beteiligungs AG befand sich die Anzahl der im Rahmen eines Private Equity-Engagement erfolgten Buy-outs im mittleren Mittelstand (Transaktionswert 50– 250.000.000 Euro) im Jahr 2021 auf einem neuen Höchststand, https://www.dbag.de/newsroom/ newsroom/detail/private-equity-ist-endgueltig-im-mittelstand-angekommen-anzahl-und-volumender-mbos-auf-rekordhoch (abgerufen am 16.08.2022). 6 Feldhaus in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 51. 7 Richter/Steinmüller/Gollan in Rechtshandbuch Private Equity, 2. Aufl. 2020, § 1 Rz. 22; Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 48. 8 Feldhaus in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 50; Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 28 ff.

188 | Schluck-Amend

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.57 § 6

In Deutschland sind Private Equity-Gesellschaften überwiegend als KG, GmbH & Co. KG oder aber GmbH strukturiert. Daneben gibt es wenige an der Börse notierte Private EquityGesellschaften, z.B. die Deutsche Beteiligungs AG1. Private Equity-Gesellschaften können kategorisiert werden in solche, bei denen ein Mehrheitsgesellschafter die Gesellschafterstruktur beherrscht (captive), z.B. 100%ige Tochterunternehmen institutioneller Anleger, solche mit einem kleinen und überschaubaren Gesellschafterkreis (semi-captive) und solche ohne dominierende Stellung eines Gesellschafters (independent)2. Zudem strukturieren Private Equity-Gesellschaften allein oder gemeinsam mit anderen Private Equity-Gesellschaften Private EquityFonds meist in der Rechtsform der GmbH & Co. KG, an denen sich die (institutionellen) Anleger gegen Gewährung eines Kommanditanteils beteiligen können3. Ein Recht auf Rückgabe des Fondsanteils bzw. des gewährten Gesellschaftsanteils gegen Auszahlung des Geldwerts seitens der Investoren besteht nicht. Das in den Fonds investierte Kapital ist entweder bis zur Ausschüttung der Realisierungsgewinne oder aber zur Liquidation des Fonds gebunden4. Die Private Equity-Fonds werden für ihre Tätigkeit in der Regel durch einen Gewinn-Vorab aus dem Fonds zur Abdeckung der laufenden Kosten des Fondsmanagements (Management Fee) sowie eine Gewinnbeteiligung (Carried Interest) vergütet5.

6.55

Die Private Equity-Gesellschaften oder -Fonds stellen (Krisen-)Unternehmen (Zielunternehmen, target) Eigenkapital zur Verfügung, indem sie sich an diesem – gegebenenfalls über eine weitere zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft (NewCo) – offen und direkt beteiligen. Erreicht wird diese Beteiligung durch eine Kapitalerhöhung bei dem (Krisen-)Unternehmen durch echte Kapitalerhöhung, Einzahlung in die Kapitalrücklage oder aber den Erwerb von Anteilen von Altgesellschaftern6. Der Private Equity-Geber wird also zeitlich befristet Mitgesellschafter des (Krisen-)Unternehmens. In der Regel sind Private Equity-Investitionen mittelfristig auf einen Zeitraum von zwei bis acht Jahren angelegt7. Das Ziel des Private Equity-Gebers ist erreicht, wenn das (Krisen-)Unternehmen restrukturiert ist und die Beteiligung mit möglichst hohem Gewinn veräußert werden kann (Exit). Der Exit der Private Equity-Gesellschaft aus dem (Krisen-)Unternehmen kann unterschiedlich ausgestaltet sein, z.B. als Verkauf an einen strategischen Investor (Trade Sale), an einen weiteren Finanzinvestor (Secondary Sale), an den ehemaligen Gesellschafter oder das verbliebene frühere Management (Buy-back), als Börsengang (Going-public) oder im gescheiterten Fall in Form der Liquidation des Investments (Write off)8.

6.56

Private Equity-Gesellschaften investieren durchaus auch in Krisenunternehmen, die sich in einer wirtschaftlichen Schieflage befinden9, und helfen dem Unternehmen so den Turnaround zu schaffen10. Hierfür gelten besondere wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingun-

6.57

1 Feldhaus in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 51. 2 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 31 f. 3 Veith in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 60 f.; Feldhaus in Frankfurter Kommentar zu Private Equity, 1. Aufl. 2009, Kap. 1 Rz. 162 f.; Richter/Steinmüller/ Gollan in Rechtshandbuch Private Equity, 2. Aufl. 2020, § 1 Rz. 25. 4 Richter/Steinmüller/Gollan in Rechtshandbuch Private Equity, 2. Aufl. 2020, § 1 Rz. 26. 5 Richter/Steinmüller/Gollan in Rechtshandbuch Private Equity, 2. Aufl. 2020, § 1 Rz. 28; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 24. 6 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 5. 7 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 7; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 18: drei bis sieben Jahre. 8 Gabrysch in Kompendium Gesellschaftsrecht, 1. Aufl. 2010, § 2 Rz. 63. 9 Baisch in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 11 Rz. 22; Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 3. Aufl. 2018, Einl. Rz. 3. 10 Knecht in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 95 f.

Schluck-Amend | 189

§ 6 Rz. 6.57 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

gen1. Aus Sicht von Private Equity-Gesellschaften und ihren Investoren haben Investitionen, insbesondere Unternehmenskäufe (Buy-outs), in Zeiten der Unternehmenskrise einen besonderen Reiz, da mit ihnen die Erwartung verbunden ist, ein erhebliches Wertsteigerungspotential realisieren zu können, wenn auch gleichzeitig in dieser Phase des Unternehmens Investitionen ein erhöhtes Verlustrisiko aufweisen2. Für das kapitalsuchende Krisenunternehmen wird die Schwierigkeit, insbesondere wegen des beherrschenden Zeitmoments, darin bestehen, aus den vielen potentiellen Private Equity-Gebern den geeigneten Partner auszuwählen und mit diesem einen Konsens hinsichtlich eines gemeinsamen Business-Plans zu finden3. Bei der Auswahl des geeigneten Partners wird für das Krisenunternehmen neben der Ausgestaltung der gewünschten Beteiligung (Maß der Mitbestimmung) der durch die Zusammenarbeit mit dem Private Equity-Geber – durch Unterstützung des Managements – erreichbare Wertzuwachs (Added Value) eine Rolle spielen4. Bei der Entscheidung für eine Beteiligung an dem Krisenunternehmen wird aus Sicht des Private Equity-Gebers von Relevanz sein, ob der Krisenfall z.B. auf eine einmalige Fehlinvestition zurückzuführen ist und sich allein durch die Eigenkapitalzufuhr beheben lässt, oder aber sich die Krise aufgrund eines langjährigen Missmanagements entwickelt hat5. Im letzteren Fall muss das alte Management in der Regel ausgetauscht, jedenfalls aber ergänzt werden6, so dass wiederum die Expertise und die Kapazitäten des Private Equity-Gebers eine große Rolle spielen, da dessen Mitarbeiter diese Funktionen des Sanierungsmanagers übernehmen sollen7. Nicht zu verkennen ist auch, dass der Private Equity-Geber im Gegensatz zur Beteiligung an gesunden Unternehmen bei der Beteiligung an Krisenunternehmen auch gezwungen sein kann, für das Krisenunternehmen zur Aufrechterhaltung des operativen Geschäfts neue Fremdkapitalgeber zu suchen und mit früheren Fremdkapitalgebern aktiv an einer Reduzierung ihrer Forderungen zu arbeiten8. Kommt es zu einer Beteiligung des Private Equity-Gebers an dem Krisenunternehmen, muss – unter aktiver Beteiligung des Private Equity-Gebers am operativen Geschäft – sofort mit der Umsetzung des Restrukturierungskonzepts begonnen werden. Nach der Umsetzungs- und Restrukturierungsphase und Überwindung der Krise sollte seitens des Private Equity-Gebers seine Beteiligung am operativen Geschäft des (vormaligen) Krisenunternehmens langsam reduziert und auf Kontrollfunktionen beschränkt werden, um sich auf die Ausarbeitung des Exit-Konzepts zu konzentrieren und etwaig erforderliche gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungen vorzubereiten9.

6.58

Private Equity-Gesellschaften werden oft kritisiert, weil ihre einzige Zielsetzung ihre eigene Gewinnoptimierung darstellt. Andere Beweggründe (wie z.B. die Erhaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen) treten i.d.R. zu Gunsten möglichst hoher Renditen in den Hintergrund. Als störend wird auch die relativ kurze Verweildauer des Investors im Unternehmen angesehen. Misstrauisch wird die Tendenz zu so genannten Quick Flips beobachtet, bei denen die Private Equity-Firmen nicht zwei bis acht Jahre im Unternehmen bleiben, sondern sehr schnell weiterzie1 Zu den vergleichbaren Risiken eines Unternehmenserwerbs im vorläufigen Insolvenzverfahren: Rz. 21.31 ff. 2 Paul/Josenhans in Eilers/Koffka/Mackensen/Paul/Josenhans, Private Equity, 4. Aufl. 2022, Einführung, Rz. 34. 3 Paul/Josenhans in Eilers/Koffka/Mackensen/Paul/Josenhans, Private Equity, 4. Aufl. 2022, Einführung, Rz. 26. 4 Ähnl. Göckeler in Beck’sches Handbuch der AG, 2. Aufl. 2009, § 21 Rz. 115. 5 Brandes in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 13 f. 6 Brandes in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 14. 7 Brandes in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 14, 29. 8 Brandes in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 16. 9 Brandes in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 34 ff.

190 | Schluck-Amend

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.61 § 6

hen. Insbesondere Gesellschafter von Familienunternehmen wollen die Kontinuität ihrer Unternehmen sicherstellen. Gerade in Krisenzeiten werden diese Erwägungen jedoch eher in den Hintergrund treten, geht es doch zunächst darum, das Unternehmen auf lange Sicht zu sichern.

2. Mezzanine-Kapital Mezzanine-Instrumente1 sind hybride, sehr flexible Finanzierungsinstrumente, die bilanziell zwischen dem Eigenkapital und dem Fremdkapital stehen2. Finanzierungstechnisch bieten Mezzanine-Instrumente die Möglichkeit, die Elemente der Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung optimal miteinander zu verbinden. Den Unternehmen wird diese Kapitalart in einer Phase zugeführt, in der eigentlich die Zuführung neuen Eigenkapitals erforderlich ist, Altgesellschafter oder Investoren zur Eigenkapitalzuführung jedoch nicht in der Lage oder bereit sind und zur Absicherung der klassischen Fremdfinanzierung über Banken erforderliche Sicherheiten nicht zur Verfügung stehen3; mithin in der typischen Krisensituation. Der große Vorteil von Mezzanine besteht darin, dass die Unternehmen ihre Eigenkapitalbasis verstärken können, ohne dafür Gesellschafterrechte gewähren zu müssen. Es findet also keine Stimmrechtsverwässerung statt. Weiterer Vorteil der Mezzanine-Finanzierung ist die Schonung noch vorhandener Mittel durch Aufteilung der Zinsen in einen auszahlungswirksamen sowie einen auflaufenden Anteil oder aber die Nutzung eines Equity Kickers4. Mezzanine kann eher eigenkapitalnah (equity mezzanine) oder eher fremdkapitalnah (debt mezzanine) ausgestaltet sein5. Mezzanine-Gestaltungen gemein ist üblicherweise ihre Nachrangigkeit gegenüber anderen Gläubigern in der Insolvenz, ihre Vorrangigkeit gegenüber dem „echten“ Eigenkapital und die zeitliche Befristung der Kapitalüberlassung6. Besondere Bedeutung hat die Mezzanine-Finanzierung im Ergebnis für Unternehmen aus dem Mittelstand mit geringer Eigenkapitalquote, weil sie – je nach Ausgestaltung im Einzelnen – die Bilanzstruktur zu Gunsten des Eigenkapitals verbessern kann und damit die Kreditwürdigkeit des Unternehmens gegenüber Fremdkapitalgebern erhöht wird7.

6.59

Mezzanine-Finanzierungen können in Form von Nachrangdarlehen, Vendor Loans, Genussscheinen oder Genussrechten, partiarischer Darlehen oder durch stille Beteiligungen begeben werden. Denkbar sind auch Mezzanine-Finanzierungen in Form von Wandel- oder Optionsanleihen sowie Gewinnschuldverschreibungen8.

6.60

Nachrangdarlehen zählen zum debt mezzanine, d.h. zum fremdkapitalnahen Mezzanine9. Als Mezzanine-Instrument sind sie der klassischen Kreditfinanzierung noch am ähnlichsten10.

6.61

1 Der Begriff Mezzanine stammt ursprünglich aus dem Italienischen und meint ein Zwischengeschoss in der Architektur. 2 Wöhe/Bilstein/Ernst/Häcker, Grundzüge der Unternehmensfinanzierung, 11. Aufl. 2013, S. 286. 3 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 212. 4 Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.32; Knecht in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 110. 5 Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.30. 6 Jäckle/Strehle/Clauss, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 51 Rz. 49; Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.30; Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 213. 7 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Kreditsicherheitslinien für Banken („Basel II“): Berberich/Haaf in Beck’sches Handbuch der GmbH, 6. Aufl. 2021, § 1 Rz. 41; Knecht in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 89. 8 Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.30. 9 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Auf 2012, § 10 Rz. 213. 10 Knecht in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 110.

Schluck-Amend | 191

§ 6 Rz. 6.61 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Nachrangdarlehen werden in der Regel nicht oder nur nachrangig besichert. Sie werden von Gesellschaftern oder aber Dritt-Darlehensgebern/Mezzanine-Darlehensgebern gewährt1. Da das Risiko des Darlehensgebers dem eines Eigenkapitalgebers angenähert ist, fällt die Verzinsung regelmäßig höher aus als bei besicherten Darlehen und ist als feste, zum Teil laufend, zum Teil am Ende der Laufzeit zu entrichtende Verzinsung ausgestaltet2. Zusätzlich erhält der Darlehensgeber am Ende der Laufzeit eine erfolgsabhängige Vergütung in Form von Gesellschaftsanteilen (Equity Kicker) oder Sonderzahlungen (virtueller oder Non Equity Kicker). Eine Teilnahme am Verlust der Gesellschaft durch den Dritt-Darlehensgeber findet in der Regel nicht statt3. In der Insolvenz der GmbH besteht ein gesetzlicher Nachrang der von Gesellschaftern gewährten Darlehen nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, sofern nicht das Kleinbeteiligtenoder das Sanierungsprivileg nach § 39 Abs. 4–5 InsO greift. Auch zu beachten ist die Insolvenzanfechtbarkeit von Zahlungen auf Gesellschafterdarlehen nach § 135 InsO4. Die Grenze zwischen Nachrangdarlehen Dritter und der Beteiligung als stiller Gesellschafter sind fließend5. Um eine Passivierung der Verbindlichkeit aus dem Nachrangdarlehen im Überschuldungsstatus zu vermeiden, muss nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ein Nachrang der Forderung des Darlehensgebers hinter sämtlichen in § 39 Abs. 1 Nr. 1–5 InsO genannten Forderungen vereinbart werden.

6.62

Beim Verkäuferdarlehen (Vendor Loan) gibt der Verkäufer dem Erwerberunternehmen einen individuell aushandelbaren Kredit, der einer Kaufpreisreduzierung entspricht6. Hierdurch wird das Vertrauen des Erwerberunternehmens in das Zielunternehmen gestärkt, da der Verkäufer seinen Glauben an das Unternehmen zum Ausdruck bringt. Gerade in der Krise der verkaufenden Gesellschaft wird diese Finanzierungsform jedoch wohl nicht mehr in Betracht kommen.

6.63

Partiarische Darlehen sind Darlehen i.S. von § 488 BGB und bieten anstatt oder in Ergänzung zu einer festen Verzinsung auch eine variable, erfolgsabhängige Verzinsungskomponente. Im Insolvenzfall sind Ansprüche des Darlehensgebers Fremdkapitalansprüche7.

6.64

Über stille Beteiligungen kann das Krisenunternehmen eine Kapitalzufuhr durch Neuinvestoren erreichen. Die flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten und die individuelle Kombinationsmöglichkeit von eigen- und fremdkapitalähnlichen Merkmalen kann die Finanzierungsbereitschaft im Krisenfall erhöhen8. Wie jede Personengesellschaft ist auch die stille Gesellschaft durch die gemeinschaftliche Zweckverfolgung geprägt. Diese kann auch zur Abgrenzung von anderen Finanzierungsformen herangezogen werden. Der stille Gesellschafter nimmt stets am Gewinn des Unternehmens teil (§ 231 Abs. 2 HGB), während eine Verlustbeteiligung vertraglich vollumfänglich ausgeschlossen werden kann9. Wird die Verlustbeteiligung vertraglich nicht ausgeschlossen, so ist sie doch nach dem Gesetz auf die Einlage begrenzt (§ 232 Abs. 2 1 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 214. 2 Insoweit ist auf die Einhaltung des Zinseszinsverbots zu achten (§ 248 BGB): Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 214; Knecht in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 19 Rz. 110. 3 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 214. 4 Dazu Schluck-Amend in Pape/Uhländer, Kommentar zum Insolvenzrecht, 2013, § 135 Rz. 1 ff. 5 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 217. 6 Eilers/Koffka in Eilers/Koffka/Mackensen, Private Equity, 3. Aufl. 2018, I Nr. 4 Rz. 40; Jäckle/Strehle/Clauss, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 51 Rz. 53. 7 Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.31. 8 Knecht/Haghani in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 18 Rz. 55. 9 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 244; Knecht/Haghani in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 18 Rz. 56.

192 | Schluck-Amend

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.65 § 6

HGB). Im Falle der Insolvenz kann der stille Gesellschafter seine Einlage als Insolvenzgläubiger geltend machen, soweit sie den Betrag des auf ihn entfallenden Anteils am Verlust übersteigt (§ 236 Abs. 2 HGB). Im Sanierungsfall – und so für Mezzanine-Instrumente üblich – wird die Nachrangigkeit der Forderung im Insolvenzfall vereinbart. Unterschieden wird zwischen der typischen, fremdkapitalähnlichen stillen Beteiligung und der atypischen, eigenkapitalähnlichen stillen Beteiligung1. Bei typischen stillen Gesellschaften bleiben die folgenden spezifischen, gesetzlichen Merkmale erhalten: Der stille Gesellschafter ist am Vermögen des Geschäftsinhabers nicht beteiligt und es existiert kein Gesamthandsvermögen, die Einlage geht vielmehr in das Vermögen des Geschäftsinhabers über; die Geschäfte werden allein durch den Geschäftsinhaber geführt und es existiert keine verbandsähnliche Organisationsstruktur. Bei der atypischen stillen Gesellschaft hingegen wird der stille Gesellschafter am Vermögen der Gesellschaft beteiligt, ihm werden weitergehende Kontrollrechte und Mitwirkungsbefugnisse eingeräumt und es existiert eine verbandsähnliche Organisationsstruktur zwischen dem Geschäftsinhaber und einer Vielzahl von stillen Gesellschaftern2. Der atypische stille Gesellschafter ist Mitunternehmer3. Dementsprechend kann der atypische stille Gesellschafter im Unterschied zum typischen stillen Gesellschafter seinen Anspruch auf Rückerstattung der Einlage im Insolvenzverfahren unabhängig von einem erklärten Rangrücktritt gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO stets nur nachrangig geltend machen4. Um eine Passivierung der Verbindlichkeit im Überschuldungsstatus zur vermeiden, muss nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO allerdings auch hier ein Nachrang der Forderung des atypischen stillen Gesellschafters hinter den anderen in § 39 Abs. 1 Nr. 1–5 InsO genannten Forderungen vereinbart werden. Genussrechte können rechtsformunabhängig ausgegeben werden und stehen damit auch bei der GmbH zur Verfügung5. Sie vermitteln regelmäßig keine Mitgliedschaftsrechte an der Gesellschaft, begründen jedoch auf schuldrechtlicher Basis vermögensrechtliche Ansprüche gegen die Gesellschaft, die den Vermögensrechten von Gesellschaftern angenähert oder gleichgestellt sind6. Die Verzinsung lässt sich zum Teil gewinnabhängig ausgestalten, so dass die Gesellschaft in Krisenzeiten nur in geringerem Umfang mit Finanzierungskosten belastet wird7. In der Finanzierungspraxis haben sich Genussrechts-Modelle mit und ohne Verlustbeteiligung herausgebildet8. Als Mezzanine-Instrument sind die Ansprüche aus Genussrechten in der Regel auch nachrangig ausgestaltet und rücken damit im Falle der Vereinbarung einer Verlustbeteiligung in Eigenkapitalnähe9. Während die Verzinsung in der Regel laufend erfolgt, ist das begebene Genussrechtskapital typischerweise in Summe am Ende der Laufzeit von üblicherweise 5 bis 10 Jahren fällig10. Denkbar ist auch die Vereinbarung eines Wandlungsrechts am Ende der Laufzeit (Genussrechte mit Equity Kicker)11. Für Krisenunternehmen dürfte die Be1 Knecht/Haghani in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 18 Rz. 56 f.; Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.30. 2 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 248. 3 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 258; Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.33. 4 BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, BGHZ 193, 378 = GmbHR 2012, 1181 = ZIP 2012, 1869. 5 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 239, 241. 6 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 225; Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.33. 7 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 226, 231. 8 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 233. 9 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 226, 233. 10 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 234. 11 Ruby/Seibold in Hamann/Sigle, Vertragsbuch Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2012, § 10 Rz. 234; Weinheimer/Renner in Hölters, Handbuch Unternehmenskauf, 10. Aufl. 2022, Rz. 13.32.

Schluck-Amend | 193

6.65

§ 6 Rz. 6.65 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

gebung von Genussrechten aufgrund des hohen Gestaltungsaufwands vor dem Hintergrund des beherrschenden Zeitmoments eher nicht geeignet sein.

6.66

Lediglich der Vollständigkeit halber sei auch kurz auf die Options- und die Wandelanleihe eingegangen, die für Krisenunternehmen aufgrund des hohen Gestaltungsaufwands vor dem Hintergrund des beherrschenden Zeitmoments ebenfalls nicht geeignet sein dürften. Bei der Optionsanleihe erhält der Investor/Gläubiger zusätzlich zur eigentlichen Anleihe/Schuldverschreibung das Recht, innerhalb eines bestimmten Zeitraums und zu einem vorab bestimmten Preis, eine bestimmte Anzahl an Aktien des Unternehmens des Käufers oder der zum Zwecke des Erwerbs gegründeten Erwerbsgesellschaft (NewCo) zu erwerben; der Rückzahlungsanspruch aus der Schuldverschreibung bleibt daneben bestehen. Bei Wandelanleihen erhält der Investor/Gläubiger das Recht, die Schuldverschreibung innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu erwerben und unter bestimmten Konditionen in Aktien des Schuldners umzuwandeln. Der Anspruch auf Rückzahlung geht mit Ausübung des Umwandlungsrechts unter1. Macht der Investor/Gläubiger von seinem Recht keinen Gebrauch, muss der Schuldner den gewährten Betrag zurückzahlen.

6.67–6.80

Einstweilen frei.

III. Kreditfinanzierung und Nutzungsüberlassung durch Gesellschafter 1. Das Recht der Gesellschafterfinanzierung im Überblick 6.81

Die Gesellschafter haben jenseits der gesetzlich festgelegten Mindestgrenze (§ 5 Abs. 1 GmbHG) die Wahl, ob sie der Gesellschaft das benötigte Kapital in Form von Eigen- oder Fremdkapital zur Verfügung stellen. Außerhalb der Insolvenz verschafft die Finanzierung durch Fremdkapital den Gesellschaftern insofern eine größere Flexibilität, als sog. Gesellschafterdarlehen gemäß § 31 Abs. 1 Satz 3 GmbHG nicht dem Ausschüttungsverbot des § 30 Abs. 1 GmbHG (Rz. 2.21 ff.) unterliegen. Im Insolvenzverfahren werden allerdings Ansprüche aus Gesellschafterdarlehen und vergleichbaren Finanzierungsformen nicht als normale Insolvenzforderungen behandelt. Für sie gelten vielmehr die Sonderregeln der § 39 Abs. 1 Nr. 5, §§ 44a, 135, 143 Abs. 3 InsO, die über §§ 29, 30 StaRUG Vorwirkungen auch schon für den Restrukturierungsplan zeitigen. Der Gesetzgeber wahrt durch diese Regelung einerseits die vorinsolvenzliche Finanzierungsfreiheit der Gesellschafter, er stellt aber andererseits sicher, dass aus der Entscheidung für die Finanzierung durch Darlehen seitens des Gesellschafters in der Insolvenz und der Restrukturierung keine negativen Effekte für die Gläubiger resultieren. Die sich aus den genannten Regelungen ergebenden Risiken (Nachrang der Rückzahlungsansprüche, Anfechtbarkeit vorinsolvenzlicher Rückzahlungen etc.) müssen die Gesellschafter schon bei der Darlehensgewährung im Auge haben, selbst wenn sich zu diesem Zeitpunkt noch keine Insolvenz abzeichnen sollte. Nur so können sie das Risiko einer Finanzierung mittels Darlehen richtig einschätzen. Erst recht müssen die § 39 Abs. 1 Nr. 5, §§ 44a, 135, 143 Abs. 3 InsO, § 29 StaRUG berücksichtigt werden, wenn es um die Gewährung von Sanierungskrediten geht. Dabei ist vor Umgehungsversuchen zu warnen, denn der BGH hat mehrfach gezeigt, dass er solchen Strategien mit einer extensiven Handhabung der Vorschriften begegnet.

1 Habersack in Münchener Kommentar zum AktG, 5. Aufl. 2021, § 221 AktG Rz. 29.

194 | Schluck-Amend und Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.83 § 6

a) Überblick Im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft erhält der Gesellschafter nach § 199 Satz 2 InsO nur dann Ausschüttungen auf seine Beteiligung am Gesellschaftskapital, wenn nach der vollständigen Befriedigung aller Insolvenzgläubiger noch ein Überschuss vorhanden ist (vgl. zu § 199 InsO auch Rz. 30.35). Haftungsrechtlich kaum besser stehen Ansprüche auf Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen. Gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO sind diese Darlehensrückzahlungsansprüche nachrangige Insolvenzforderungen. Der Nachrang des Darlehensrückzahlungsanspruchs korrespondiert mit der Anfechtbarkeit von vorinsolvenzlichen Darlehensrückzahlungen und Sicherungen nach § 135 Abs. 1 InsO (Rz. 6.109 ff.)1. Ergänzend regeln § 135 Abs. 2, § 44a und § 143 Abs. 3 InsO die Gewährung von Sicherheiten seitens eines Gesellschafters für Darlehen von dritter Seite (Rz. 6.116 ff.) und § 135 Abs. 3 InsO die Nutzungsüberlassung durch Gesellschafter (Rz. 6.144 ff.).

6.82

b) Die gemeinsame Legitimationsgrundlage der Regeln über Finanzierungsmaßnahmen der Gesellschafter Seit dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), das am 1.11.2008 in Kraft getreten ist2, ist der Normzweck des Rechts der Gesellschafterdarlehen umstritten. Uneinigkeit besteht insbesondere über die Frage, ob dieser – wie unter dem früheren Recht – in der Verwirklichung der Finanzierungsfolgenverantwortung der Gesellschafter liegt3. Nach der Gegenauffassung soll die Regelung einem „Missbrauch der Haftungsbeschränkung“ vorbeugen4. Beide Formeln bleiben für sich die Erklärung schuldig, warum im Fall des Gesellschafterdarlehens ein Verstoß gegen die Finanzierungsverantwortung bzw. ein „Missbrauch der Haftungsbeschränkung“ vorliegen soll5. Dies wird erst deutlich, wenn man betrachtet, welche Risikoanreize für den Gesellschafter bestünden, wenn von ihm gewährte Darlehen nicht nachrangig wären: Die Gesellschafter haben grundsätzlich die Wahl, ob sie der Gesellschaft Fremd- oder Eigenkapital zuführen. Die insolvenzrechtliche Subordination von Gesellschafterkrediten stellt vor dem Hintergrund dieser Finanzierungsfreiheit sicher, dass die Finanzierungsentscheidungen der Gesellschafter keine externen Effekte zu Lasten der Gläubiger erzeugen. Denn ohne den gesetzlich angeordneten Nachrang könnte der Gesellschafter mit seinem Darlehensrückzahlungsanspruch an Verteilungen im Insolvenzverfahren wie ein normaler Insolvenzgläubiger partizipieren und so seine Verluste teilweise auf die anderen Insolvenzgläubiger abwälzen6. 1 BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = GmbHR 2013, 410. Anders Thole, ZHR 176 (2012), 513, 528 ff., der zwischen Nachrang und erleichterter Anfechtbarkeit keinen teleologischen Zusammenhang sieht. § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO sei ein Fall der Deckungsanfechtung gegen Insider. 2 Altmeppen, NJW 2008, 3601 ff.; Gehrlein, BB 2008, 846 ff.; Goette/Kleindiek, Gesellschafterfinanzierung nach MoMiG und das Eigenkapitalersatzrecht in der Praxis, 2010; Habersack, ZIP 2007, 2145; Ulbrich, Die Abschaffung des Eigenkapitalersatzrechts der GmbH, 2011. 3 So BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 24 f. = GmbHR 2019, 1058; Altmeppen, ZIP 2019, 1985; Bork, ZGR 2007, 250, 257, 269; Hölzle, ZIP 2010, 913, 914 ff.; Hölzle, ZIP 2009, 1939, 1940 ff.; Kolmann in Saenger/Inhester, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 30 ff.; Schäfer, ZInsO 2010, 1311, 1313; Karsten Schmidt, ZIP 2010 Beilage Nr. 39, S. 15, 19 ff.; Spliedt, ZIP 2009, 149, 153; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 11 f.; zur Kontroverse Jacoby, ZGR 2007, 271 f.; strikt abl. U. Huber, ZIP 2010 Beilage Nr. 39, S. 7, 13 mit Fn. 50 a.E. 4 Habersack, ZIP 2007, 2145, 2147; Huber in FS Priester, 2007, S. 259, 277 f. 5 Bitter, ZIP 2010, 1, 5, 9. 6 Ähnlich U. Huber, ZIP 2010 Beilage Nr. 39, S. 7, 14: Der Gesellschafter soll nicht die Risikoverteilung zu seinen Gunsten durch die Finanzierung mit Fremdkapital verschieben können.

Brinkmann | 195

6.83

§ 6 Rz. 6.83 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Dies verstieße gegen den in § 199 Abs. 2 InsO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, dass in allererster Reihe die Gesellschafter die Verluste tragen müssen. Wäre der Darlehensrückzahlungsanspruch des Gesellschafters eine normale Insolvenzforderung, würde es dem Gesellschafter ermöglicht, die Risikoverteilung zu seinen Gunsten und damit zu Lasten der Gläubiger zu verschieben. Der Gesellschafter könnte auf Kosten der Gläubiger spekulieren1, so dass Anreize bestünden, zu hohe Risiken einzugehen: „Indem [die Gesellschafter] ihre Gesellschaft mit Fremd- statt Eigenkapital finanzieren, wird es in bestimmten Fällen für sie lohnend, bei der Führung des Unternehmens hohe Risiken auch dann einzugehen, wenn dies den Unternehmenswert insgesamt schmälert.“2 Der Ansicht, dass die Regelung die verhaltenssteuernde Funktion des Eigenkapitals schützt, hat sich auch der BGH angeschlossen3.

2. Der gegenständliche Anwendungsbereich der Regeln über Finanzierungsmaßnahmen der Gesellschafter a) Darlehensgewährung seitens eines Gesellschafters aa) Erfasste Gesellschaften und Gesellschafter

6.84

Die Regeln über Gesellschafterdarlehen sind gemäß § 39 Abs. 4 Satz 1 InsO anwendbar auf „Gesellschaften, die weder eine natürliche Person als persönlich haftenden Gesellschafter noch eine Gesellschaft als persönlich haftenden Gesellschafter haben, bei der ein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist.“4 Die Vorschriften finden danach auf die GmbH ebenso wie auf die GmbH & Co. KG Anwendung. Bei letzterer sind sowohl Darlehen seitens der Kommanditisten wie seitens der Komplementär-GmbH erfasst5. Auf eine Beteiligung der Komplementär-GmbH am Kapital der KG kommt es jedenfalls bei der beteiligungsidentischen GmbH & Co. KG nicht an.

6.85

Eine KG mit einem Komplementär als natürlicher Person fällt dagegen nicht in den Anwendungsbereich6. Das ist angesichts des Telos der Regelung konsequent: Da der Kommanditist nicht zur Geschäftsführung befugt ist, besteht nicht die Gefahr, dass er – im Schutz seiner beschränkten Haftung – die KG zu übermäßig riskanten Geschäften veranlasst. Der Komplementär wird solche Geschäfte schon im Hinblick auf seine persönliche Haftung nicht vornehmen.

6.86

Der Darlehensgeber muss zugleich Gesellschafter sein. Eine (fremd- oder eigennützige) treuhänderische Beteiligung genügt7. Maßgeblich ist, ob die Doppelrolle Gesellschafter/Kreditgeber in 1 Engert, ZGR 2012, 835 ff. S. auch Bitter, ZIP 2010, 1, 9. 2 Engert, ZGR 2012, 835, 857. 3 BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 24 = NJW 2019, 2923; BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579 Rz. 19 = GmbHR 2013, 980. 4 Die Vorschriften sind insolvenzrechtlich zu qualifizieren (Brinkmann in Karsten Schmidt, InsO, Art. 7 EuInsVO Rz. 9), so dass auch Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform in den Anwendungsbereich fallen, sofern sie den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen i.S. von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO in Deutschland haben. 5 BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, GmbHR 2012, 1181 = ZIP 2012, 1869 Rz. 15. 6 Krit. Haas, ZInsO 2007, 617, 628; Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 39 InsO Rz. 24. 7 BGH v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168 = ZIP 1988, 1248 = GmbHR 1989, 19 (HSWUrteil). Bitter (in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 270 ff.) will § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO auf fremdnützige Treuhandgesellschafter nicht anwenden. Eine solche teleologische Reduktion überzeugt allenfalls, wenn eine Bank – wie etwa im Rahmen von Börsengängen – neue Anteile als fremdnütziger Treuhänder für einen kurzen Zeitraum übernimmt, um die Aktien anschließend am Kapitalmarkt

196 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.88 § 6

einem beliebigen Zeitpunkt während des durch § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO bestimmten Ein-JahresZeitraums vorlag1. Scheidet der Darlehensgeber früher als ein Jahr vor der Antragstellung aus der Gesellschaft aus, unterliegt sein Darlehensrückzahlungsanspruch nicht mehr den Bindungen aus § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 InsO2. Bei einem Erwerb eines Gesellschaftsanteils durch Erbfall ist auf den Zeitpunkt der Annahme der Erbschaft abzustellen. Gewähren mehrere Darlehensgeber als Gesamtgläubiger (§ 428 BGB) ein Darlehen und ist nur einer von ihnen Gesellschafter der darlehensnehmenden Gesellschaft, so sind die Regeln über Gesellschafterdarlehen anteilig entsprechend dem Verhältnis der Berechtigungen der Gläubiger zueinander anwendbar (§ 430 BGB). Der Verwalter kann also nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO etwaige Tilgungen in einer Höhe gegenüber dem Gesellschafter anfechten, die seinem Anteil im Innenverhältnis entspricht3. bb) Darlehen von Dritten, Abtretungen und Treuhandabreden Nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO sind auch Darlehen seitens gesellschaftergleicher Dritter nachrangig. Die Gleichstellung des Dritten mit einem Gesellschafter kann entweder wegen einer besonderen Beziehung des dritten Kreditgebers zum Gesellschafter oder zur Gesellschaft selbst geboten sein.

6.87

Die Nähe zum Gesellschafter steht im Vordergrund, wenn es um die Frage geht, ob auch der Zessionar des Rückzahlungsanspruchs aus einem Gesellschafterdarlehen nur nachrangiger Insolvenzgläubiger ist, auch wenn er selbst nicht Gesellschafter der schuldnerischen Gesellschaft ist4. Diese Frage ist zu bejahen, denn

6.88

„der für ein Gesellschafterdarlehen durch § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO angeordnete Nachrang kann nicht ohne Weiteres dadurch unterlaufen werden, dass der Gesellschafter als Darlehensgeber seine Beteiligung an der Gesellschaft aufgibt oder die Darlehensforderung an einen Nichtgesellschafter abtritt5. Das Nachrangrisiko muss der Zessionar mangels der Möglichkeit eines gutgläubigen einredefreien Erwerbs gemäß § 404 BGB gegen sich gelten lassen.“6

Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Abtretung weniger als ein Jahr vor der Antragstellung erfolgte. Nach Auffassung des BGH kann der Insolvenzverwalter Darlehensrückzahlungen an den Zessionar sowohl gegenüber diesem als auch gegenüber dem Gesellschafter (= Altgläubiger) anfechten, Zessionar und Gesellschafter seien Gesamtschuldner des Anspruchs aus § 143 Abs. 1 InsO7. Der BGH begründet diese Auffassung damit, dass die „schier unerschöpfliche Gestaltungsphantasie der Gesellschafter und ihrer Berater“8 eine wirtschaftliche Betrach-

1 2 3 4

5 6 7 8

zu platzieren. Außerhalb solcher und vergleichbarer Fälle würde die von Bitter vorgeschlagene teleologische Reduktion Umgehungsstrategien ermöglichen. BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 = GmbHR 2014, 417 Rz. 15. BGH v. 15.11.2011 – II ZR 6/11, GmbHR 2012, 206 = ZIP 2012, 86, 88; so zuvor schon Schlösser/ Klüber, BB 2009, 1594, 1595 ff. Vgl. BGH v. 16.6.1997 – II ZR 154/96, GmbHR 1997, 793 = ZIP 1997, 1375 für Nutzungsüberlassung durch Bruchteilsgemeinschaft. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 12; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 19; Schlößer/Klüber, BB 2009, 1594, 1595 ff.; Haas, ZInsO 2007, 617, 626; Habersack, ZIP 2007, 2145, 2149; Hirte in Uhlenbruck, § 39 InsO Rz. 46; anders Kebekus/Zenker in FS Wellensiek, 2011, S. 475, 485 ff.: zu prüfen sei, ob die Abtretung anfechtbar sei. Anderes gilt bei der Übertragung von (Gesellschafter-)Anleihen, weil hier wegen § 796 BGB § 404 BGB nicht anwendbar ist, d’Avoine, NZI 2013, 321 ff. BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = ZIP 2013, 582 Rz. 24 = GmbHR 2013, 410. BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = ZIP 2013, 582 Rz. 28 = GmbHR 2013, 410. BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = ZIP 2013, 582 Rz. 31 = GmbHR 2013, 410.

Brinkmann | 197

§ 6 Rz. 6.88 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

tungsweise erforderlich mache, die auch Umgehungsversuche erfasse. Bisher nicht geklärt ist die Frage, ob die gesamtschuldnerische Haftung auch dann greift, wenn – wie etwa im Rahmen eines Unternehmenskaufs – mit dem Darlehen auch die Beteiligung übertragen wurde1.

6.89

Zu den nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO gleichzustellenden Gläubigern zählen ferner atypische stille Gesellschafter2 und atypische Pfandgläubiger3 sowie Darlehensgeber, die mittelbar an der Gesellschaft beteiligt sind, sofern sie ähnlich wie ein Gesellschafter auf die Geschicke der GmbH Einfluss nehmen können (sog. „Gesellschafter-Gesellschafter“)4. Bei solchen vertikalen Beteiligungen genügt es, wenn der Darlehensgeber mittelbar mit mehr als 10 Prozent (§ 39 Abs. 5 InsO) an der Darlehensnehmerin beteiligt ist5. Auch Darlehen, welche die Gesellschafter einer Komplementär-GmbH der KG gewähren, entsprechen wirtschaftlich einem Darlehen, das ein unmittelbar beteiligter Gesellschafter gewährt6. Dies ist selbstverständlich für die personenidentische GmbH & Co. KG, weil der Darlehensgeber dann zugleich Kommanditist, also selbst Gesellschafter der Darlehensnehmerin ist. Doch auch bei nicht-personenidentischen GmbH & Co. KG sind Darlehen eines GmbH-Gesellschafters solchen eines Kommanditisten gleichzustellen7, und zwar unabhängig davon, ob die GmbH am Kapital der KG beteiligt ist. Die Gegenansicht8 läuft auf eine teleologische Reduktion der § 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 5 InsO hinaus, die zu Umgehungsstrategien einladen würde.

6.90

Einem Darlehen eines Gesellschafters gleichzustellen sind auch Darlehen, die von einer Schwestergesellschaft gewährt werden, wenn also Darlehensnehmerin und -geberin über eine gemeinsame (Groß-) Muttergesellschaft verbunden sind. Voraussetzung ist aber, dass die Muttergesellschaft an der darlehensgebenden Gesellschaft „maßgeblich“ beteiligt ist9. Nach Auffassung des BGH ist dies der Fall, „wenn der Gesellschafter auf die Entscheidungen der kreditgebenden Gesellschaft, nämlich auf die Gewährung oder auf den Abzug der Kredithilfe, einen bestimmenden Einfluss ausüben, insbesondere dem Geschäftsführungsorgan der Hilfe gewährenden Gesellschaft durch Gesellschafterbeschlüsse gemäß § 46 Nr. 6 GmbHG entsprechende Weisungen erteilen kann.“10 Bei einer GmbH ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der Gesellschafter der Schuldnerin entweder mit mehr als 50 Prozent an der darlehensgebenden Gesellschaft beteiligt ist oder er nur 50 Prozent der Anteile hält, aber zugleich alleinvertretungs1 Hierzu Reinhard/Schützler, ZIP 2013, 582; Primozic, NJW 2016, 679. 2 BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531 = ZIP 2006, 703, 705; BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, GmbHR 2012, 1181 = ZIP 2012, 1869; zum Ganzen Bitter, ZIP 2019, 146, 148 ff. 3 BGH v. 13.7.1992 – II ZR 251/91, BGHZ 119, 191 = ZIP 1992, 1300 = GmbHR 1992, 656. 4 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 = NJW 2013, 3035 Rz. 22 ff.; BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = NJW 2013, 2282 Rz. 16 ff. = GmbHR 2013, 410; d’Avoine/Michels, ZIP 2018, 60. Vgl. zum alten Recht BGH v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, BGHZ 165, 106 = GmbHR 2006, 311 = ZIP 2006, 279 Rz. 20. 5 Kleindiek in Kayser/Thole, § 39 InsO Rz. 48; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 343 f.; in diese Richtung auch BGH v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, BGHZ 196, 220 = GmbHR 2013, 410 Rz. 22 = ZIP 2013, 582. 6 RegE MoMiG BT-Drucks. 16/6140, S. 57. 7 Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 39 InsO Rz. 50. 8 Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 39 InsO Rz. 43. 9 BGH v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, ZIP 2008, 1230 Rz. 10 = GmbHR 2008, 758 m. Anm. Blöse; BGH v. 11.10.2011 – II ZR 18/10, ZIP 2011, 2253 Rz. 11 = GmbHR 2011, 1316 m. Anm. Blöse. Anders Geist, ZIP 2014, 1662, 1665, der meint, dass Adressat der Anfechtung die Muttergesellschaft sein müsse. 10 BGH v. 28.2.2012 – II ZR 115/11, ZIP 2012, 865 Rz. 16 = GmbHR 2012, 641; BGH v. 11.7.2019 – IX ZR 210/18, ZIP 2019, 1675 Rz. 9 f. = GmbHR 2019, 1051 m. Anm. Blöse.

198 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.93 § 6

berechtigter Geschäftsführer der Darlehensgeberin ist1. Wurde das fragliche Darlehen dagegen von einer (Schwester-)Aktiengesellschaft begeben, so ist die Unabhängigkeit des Vorstands zu berücksichtigen, die einer Zurechnung aufgrund der bloßen Beteiligung entgegensteht2. Der bestimmende Einfluss auf die Darlehensgeberin, der zur planmäßigen Umgehung der § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 InsO erforderlich ist, muss dann im Einzelfall nachgewiesen werden3. Eine einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechende Rechtshandlung ist auch dann gegeben, wenn das Darlehen zwar durch einen Dritten vergeben wurde, die Mittel aber wirtschaftlich aus dem Vermögen eines Gesellschafters stammen. Das ist nicht nur bei Treuhandabreden der Fall, sondern auch dann, wenn im Innenverhältnis ein Freistellungsanspruch des Darlehensgebers gegen den Gesellschafter besteht4. Eine Vermutung für eine solche Verbindung wird nicht schon durch ein Näheverhältnis i.S. von § 138 InsO ausgelöst. Denn § 138 InsO zielt auf eine Vermutung hinsichtlich des Vorliegens bestimmter subjektiver Tatbestandsmerkmale und hat insofern einen anderen Regelungszweck5. Auch ein Anscheinsbeweis wird in diesen Situationen nicht zugelassen. Die Darlehensgewährung durch den Ehegatten des Gesellschafters unterliegt daher nicht ohne Weiteres dem Nachrang. Der Insolvenzverwalter muss vielmehr beweisen, dass die familiäre Nähe entweder dazu geführt hat, dass die Darlehensgewährung wirtschaftlich aus dem Vermögen des an der Gesellschaft beteiligten Ehegatten oder aus gemeinsamem Vermögen der Ehegatten erfolgte oder dass der Nicht-Gesellschafter/Ehegatte „auf Weisung“ des an der Gesellschaft beteiligten Ehegatten gehandelt hat.

6.91

Zuletzt kann sich eine gesellschaftergleiche Stellung eines Darlehensgebers, der nicht Gesellschafter ist, auch unabhängig von einer vertikalen oder horizontalen Verbindung zur Gesellschaft aus einer Gesamtwürdigung der Rechte des Darlehensgebers ergeben. Dies setzt nach dem BGH einerseits den rechtlichen Einfluss des Dritten auf die Gesellschaft und andererseits seine Beteiligung am wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft voraus6. Ein bloß faktischer, etwa durch wirtschaftliche Macht vermittelter Einfluss des Darlehensgebers auf die Schuldnerin genügt für die Gleichstellung mit einem Gesellschafter nicht7.

6.92

b) Ausnahmen vom Anwendungsbereich aa) Kleinbeteiligte Darlehen eines Gesellschafters, der mit nicht mehr als 10 % am Haftkapital (also dem statuarisch bestimmten Grund- bzw. Stammkapital) beteiligt ist, unterliegen nach § 39 Abs. 5 InsO den Regeln über Gesellschafterdarlehen nur, wenn der Gesellschafter die Geschäfte der Gesell1 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579 Rz. 24; BGH v. 15.11.2018 – IX ZR 39/18, ZIP 2019, 182 Rz. 7 = GmbHR 2019, 170. 2 Geist, ZIP 2014, 1662, 1667. 3 Vgl. schon BGH v. 5.5.2008 – II ZR 108/07, AG 2008, 541 = ZIP 2008, 1230 = GmbHR 2008, 758 Rz. 9 f. 4 Hierzu Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 39 InsO Rz. 38; Gehrlein, BB 2011, 3, 6; Lenenbach, ZInsO 2016, 1847, 1849 auch zur Möglichkeit der nur teilweisen Qualifikation als darlehensgleiche Rechtshandlung in diesem Fall. 5 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, ZIP 2011, 575 Rz. 12 ff.; Haas, ZIP 2017, 545, 547. 6 BGH v. 25.6.2020 – IX ZR 243/18, ZIP 2020, 1468 Rz. 26 ff., 30 ff. = GmbHR 2020, 1001 m. Anm. Blöse. 7 BGH v. 25.6.2020 – IX ZR 243/18, ZIP 2020, 1468 Rz. 56. Dagegen bei gleichzeitiger Beteiligung des Darlehensgebers am Gewinn OLG Koblenz v. 26.1.2016 – 3 U 891/15, GmbHR 2016, 298 m. krit. Anm. Kessler, EWiR 2016, 605; OLG Jena v. 25.9.2015 – 1 U 503/15, ZIP 2016, 1134.

Brinkmann | 199

6.93

§ 6 Rz. 6.93 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

schaft führt (sog. Kleinbeteiligtenprivileg)1. Bei der Feststellung der Beteiligungsquote ist die Zurechnungsregel des § 16 Abs. 4 AktG entsprechend anzuwenden. Sofern auch hiernach die Beteiligung die Mindestgrenze nicht überschreitet, ist zu prüfen, ob die Kredite mehrerer Kleingesellschafter koordiniert vergeben wurden2. Eine solche Koordination kann bei Treuhandverhältnissen oder Stimmbindungsverträgen vermutet werden. Ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen zwei Gesellschaftern rechtfertigt eine solche Vermutung dagegen nicht.

6.94

Die Voraussetzungen des Kleinbeteiligtenprivilegs müssen während des gesamten durch § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO bestimmten Ein-Jahres-Zeitraums vor Antragstellung vorliegen. Macht die Beteiligung zu Beginn dieses Zeitraums mehr als 10 Prozent aus, führt ein späteres Absinken oder die Aufgabe der Organstellung daher nicht zur Anwendbarkeit des Privilegs3. Umgekehrt fallen die Voraussetzungen der Privilegierung fort, wenn die Beteiligung während dieser Zeit die Schwelle von 10 Prozent überschreitet oder der darlehensgebende Gesellschafter das Amt des Geschäftsführers übernimmt. bb) Begründung der Gesellschafterstellung i.R. eines Sanierungsversuchs

6.95

Eine weitere Ausnahme ergibt sich aus dem Sanierungsprivileg nach § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO (§ 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG a.F.4): Erwirbt ein Darlehensgeber oder ein gleichgestellter Kreditgeber, der zuvor weder Gesellschafter noch gesellschaftergleicher Dritter ist5, Geschäftsanteile der insolvenzreifen Gesellschaft, sind seine bestehenden oder neugewährten Kredite dann nicht den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterworfen, sofern er die Anteile „zum Zwecke der Überwindung der Krise“ übernimmt. Dieses Sanierungsprivileg soll Anreize für den Anteilserwerb durch Gesellschaftsgläubiger setzen und besitzt praktische Bedeutung im Zusammenhang mit solchen Debt to Equity Swaps (dazu Rz. 7.41 ff., 31.31 ff.), bei denen der Gläubiger nicht seine gesamte Forderung einbringt, sondern mit einem Teil Gläubiger bleibt. Ein solcher Gesellschafter/Gläubiger kann im Falle des Scheiterns der Sanierung mit seinem Darlehensrückzahlungsanspruch als normaler Insolvenzgläubiger am Verfahren teilnehmen; trotz seiner Gesellschafterstellung ist der Anspruch aufgrund des Sanierungsprivilegs nicht nachrangig.

6.96

Privilegiert ist nach § 39 Abs. 4 Satz 2 InsO nur der Erwerb zu Sanierungszwecken. Diese Motivation kann durch ein dokumentiertes Sanierungskonzept belegt werden. Dieses muss schlüssig in dem Sinn sein, dass – die Gesellschaft nach der pflichtgemäßen Einschätzung eines objektiven Dritten im Augenblick des Anteilserwerbs objektiv sanierungsfähig ist – und die für ihre Sanierung konkret in Angriff genommenen Maßnahmen zusammen objektiv geeignet sind, die Gesellschaft in überschaubarer Zeit durchgreifend zu sanieren. 1 Eine Komplementär-GmbH, die keinen Kapitalanteil an der KG hält, kann sich wegen der ihr nach § 161 Abs. 2, § 114 HGB (ab 1.1.2024: § 116 HGB) zustehenden Geschäftsführungsbefugnis nicht auf § 39 Abs. 5 InsO berufen. 2 BGH v. 9.5.2005 – II ZR 66/03, ZIP 2005, 1316, 1318 = GmbHR 2005, 1135; Haas in Noack/Servatius/Haas, Anh. § 64 GmbHG Rz. 53; Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 39 InsO Rz. 43; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. § 30 GmbHG Rz. 46; Kleindiek in Kayser/Thole, § 39 InsO Rz. 66. 3 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 149. 4 S. zum alten Recht den Überblick bei Barth, Der Anwendungsbereich des Eigenkapitalersatzrechts nach § 32a Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 GmbHG, 2001, S. 151 f. 5 Zur Anwendung des Sanierungsprivilegs nur auf Neugesellschafter, Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 39 InsO Rz. 45.

200 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.99 § 6

Die Privilegierung hängt (selbstverständlich) nicht davon ab, dass die Sanierung erfolgreich ist. Gerade umgekehrt ist sie überhaupt nur für den Fall des Scheiterns relevant, denn nur dann stellt sich die Frage des Rangs der Forderung oder die der Anfechtbarkeit etwaiger Tilgungen nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO. In zeitlicher Hinsicht sind alle Darlehen privilegiert, die bis zur „nachhaltigen Sanierung“ gewährt werden. Eine derartige dauerhafte Sanierung ist nicht schon dann erreicht, wenn kein Insolvenzgrund mehr besteht, sondern erst, wenn die Gesellschaft für eine gewisse Zeit wieder kreditwürdig ist1. Wird die Gesellschaft vor ihrer nachhaltigen Sanierung erneut insolvent und wird das Verfahren eröffnet, so greift die Privilegierung nach wie vor ein. Gerät die Gesellschaft dagegen erst später, also nach einer erfolgreichen Sanierung, wieder in Schwierigkeiten, kann sich der Gesellschafter auch hinsichtlich der in der ersten Krise gewährten und stehengelassenen Darlehen nicht auf das Privileg berufen.

6.97

cc) Finanzplankredite und Darlehenszusagen Eine Sonderbehandlung sogenannter Finanzplankredite ist nach geltendem Recht nicht erforderlich, denn die Anwendbarkeit der Regeln über Gesellschafterdarlehen hängt nicht von der vertraglichen Finanzplanbindung ab, sondern ergibt sich schon aus dem Charakter als Darlehensrückzahlungsanspruch2. Auf einen sich aus der Finanzplanvereinbarung ergebenden Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 2 InsO kommt es nur an, wenn es darum geht, ob die Forderung gemäß § 19 Abs. 2 Satz InsO im Überschuldungsstatus anzusetzen ist (Rz. 7.19 f., 14.154).

6.98

Darlehenszusagen, die sich aus einem Finanzplan ergeben, unterfallen nicht § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 Abs. 1 InsO3. Sie können daher auch in der Krise gekündigt4 werden, ohne dass die Kündigung nach § 135 Abs. 1 InsO anfechtbar wäre5. In Betracht kommt allenfalls eine Anfechtung nach §§ 132, 133 InsO, wobei hier eine Beteiligung des Schuldners an der Aufhebung der Zusage erforderlich ist. Eine einverständliche Aufhebung des Darlehensversprechens in der Krise dürfte daher anfechtbar sein6, die Ausübung eines einseitigen Kündigungsrechts durch den Gesellschafter dagegen nicht7.

6.99

1 Nach Wittig (in FS Karsten Schmidt, 2009, S. 1743, 175) ist eine nachhaltige Sanierung immer dann anzunehmen, wenn die Kreditwürdigkeit der Gesellschaft über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten wiederhergestellt wurde. Im Ergebnis zustimmend Preuß in Kübler/Prütting/ Bork, § 39 InsO Rz. 77. 2 Kleindiek in Kayser/Thole, § 39 InsO Rz. 36; Hirte in Uhlenbruck, § 39 InsO Rz. 71; Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 39 InsO Rz. 52. 3 Zur abweichenden Rechtslage vor dem MoMiG Hueck/Fastrich in Baumbach/Hueck, 18. Aufl. 2006, § 32a GmbHG Rz. 52 ff. 4 Nach der früheren Rechtsprechung zu Finanzplankrediten war es ausgeschlossen, dass sich der Gesellschafter auf das Kündigungsrecht aus § 490 BGB berief. Vieles spricht dafür, dass die Rechtsprechung diese auch nach dem MoMiG im Hinblick auf Finanzplankredite als ausgeschlossen ansehen wird (Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 508). Die Parteien sollten angesichts dieser Zweifel das Kündigungsrecht ausdrücklich regeln (Thiessen in Bork/Schäfer, § 30 GmbHG Rz. 146; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 508). 5 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 19. 6 Buschmann, NZG 2009, 91, 93. 7 Zur Auslegung der Vereinbarung BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08 – STAR 21, BGHZ 187, 69 = AG 2010, 870 = GmbHR 2010, 1204 = ZIP 2010, 2092 Rz. 34 (die dort in Rede stehende Vereinbarung wurde vom BGH allerdings zu Recht nicht als Finanzplanvereinbarung eingeordnet).

Brinkmann | 201

§ 6 Rz. 6.100 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

dd) Darlehen von Unternehmensbeteiligungsgesellschaften

6.100

Ebenfalls vom Anwendungsbereich der insolvenzrechtlichen Regeln über Gesellschafterdarlehen und wirtschaftlich entsprechende Finanzierungshilfen ausgenommen sind nach § 24 des Gesetzes über Unternehmensbeteiligungsgesellschaften (UBGG) Darlehen, die eine Unternehmensbeteiligungsgesellschaft i.S. von § 1a Abs. 1 UBGG oder ein an ihr beteiligter Gesellschafter einem Unternehmen gewährt, an dem die Unternehmensbeteiligungsgesellschaft beteiligt ist. In relativer und absoluter Hinsicht ist allerdings der Anteil der Fremdfinanzierung der Gesellschaft durch eine Beteiligungsgesellschaft durch § 4 Abs. 7 UBGG beschränkt. Doch auch mit dieser Begrenzung bleibt die rechtspolitische Rechtfertigung für die Begrenzung des Privilegs zweifelhaft. Wieso es zur Verbesserung des Zugangs mittelständischer Unternehmen zu den organisierten Märkten für Eigenkapital1 erforderlich sein soll, die Kapitalgeber auch insoweit zu privilegieren, wie sie dem Unternehmen Fremdkapital zur Verfügung stellen, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich. Der Verbesserung der Ausstattung mit Eigenkapital – auch das ein Ziel des Gesetzes – dient die Regelung jedenfalls nicht unmittelbar. Ferner hat der Gesetzgeber in § 17 WStBG2 eine umfassende Privilegierung zugunsten des Finanzmarktstabilisierungsfonds geschaffen, die das Sanierungsprivileg erheblich ausweitet3.

c) Gesellschafterdarlehen entsprechende Rechtshandlungen aa) Darlehensäquivalente Rechtshandlungen

6.101

§ 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO erweitert den Anwendungsbereich der Regeln über Gesellschafterdarlehen nicht nur in persönlicher Hinsicht, indem Darlehen seitens gesellschaftergleicher Dritter einbezogen werden (Rz. 6.87), sondern auch in gegenständlicher Hinsicht, indem andere Finanzierungsformen als die Gewährung eines Kredits erfasst werden. Zu wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlungen gehören neben stillen Einlagen4, Kreditlinien für Ansprüche aus Lieferungen und Leistungen5 auch (tatsächlich) gestundete6 Ansprüche7. bb) Ansprüche des Gesellschafters aus Lieferungen und Leistungen

6.102

Eine einem Darlehen gleichzustellende Quasi-Kreditlinie des Gesellschafters für Lieferungen und Leistungen liegt vor, wenn es der Gesellschafter hinnimmt, dass Ansprüche, die ihm gegen die Gesellschaft wegen von ihm erbrachter Lieferungen oder Leistungen zustehen, in verkehrsunüblicher Weise nicht sofort beglichen werden. Eine Stundung stellt der BGH allerdings nur dann einem Darlehen gleich, wenn sie länger als im Geschäftsleben gebräuchlich 1 So die Gesetzesbegründung, vgl. BT-Drucks. 10/4551, S. 1. 2 Gesetz zur Beschleunigung und Vereinfachung des Erwerbs von Anteilen an sowie Risikopositionen von Unternehmen des Finanzsektors durch den Fonds „Finanzmarktstabilisierungsfonds – FMS“ und der Realwirtschaft durch den Fonds „Wirtschaftsstabilisierungsfonds – WSF“ vom 17.10.2008, BGBl. I 2008, 1982. 3 Näher Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 56 ff. 4 BGH v. 23.11.2017 – IX ZR 218/16, ZIP 2017, 2481 m.w.N., dazu Bitter, ZIP 2019, 146; BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, GmbHR 2012, 1181 = ZIP 2012, 1869, dazu Haas/Vogel, NZI 2012, 875 ff.; BGH v. 8.11.2004 – II ZR 300/02, GmbHR 2005, 232 = ZIP 2005, 182. 5 BGH v. 28.11.1994 – II ZR 77/93, LM § 30 GmbHG, Nr. 46 m. Anm. Roth = GmbHR 1995, 35 = ZIP 1995, 23. 6 BGH v. 11.7.2019 – IX ZR 210/18, ZIP 2019, 1675 Rz. 13 ff. (i.d.R. länger als drei Monate); allgemein zur Kreditierung einer aus einem Verkehrsgeschäft herrührenden Gesellschafterforderung: OLG Schleswig v. 29.5.2013 – 9 U 15/13, ZIP 2013, 1485 ff. = GmbHR 2019, 1051 m. Anm. Blöse. 7 OLG Hamm v. 21.11.2013 – 18 U 145/12, ZIP 2014, 186, ZInsO 2014, 243, 245.

202 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.104 § 6

gewährt wird und damit Finanzierungsfunktion hat, was in der Regel ab drei Monaten anzunehmen sei1. Ob die nicht sofortige Zahlung auf einer vertraglichen Stundungsabrede2 beruht oder auf einer bloßen Duldung des Gesellschafters, ist unbeachtlich. Es genügt, wenn der Gesellschafter die Verspätung wenigstens toleriert, bloßer Zahlungsverzug ist jedoch nicht ausreichend3. cc) Ansprüche des Gesellschafters auf Nutzungsentgelt Auch Ansprüche auf Nutzungsentgelt sind unter den soeben skizzierten Voraussetzungen nachrangig gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO. Hierunter können Ansprüche des Gesellschafters aus Miet-, Pacht-, Leasing- oder Lizenzverträgen aus der Zeit vor Verfahrenseröffnung fallen. Diese Ansprüche sind nur nachrangig, wenn die Entgeltforderungen in Vereinbarungsdarlehen oder durch Stehenlassen wenigstens in darlehensähnliche Finanzleistungen umgewandelt worden sind. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Fallgruppe, die unter dem alten Recht unter dem Stichwort „eigenkapitalersetzende Nutzungsüberlassung“ behandelt wurde. Hierbei wurden nicht die gestundeten Ansprüche, sondern der Nutzungswert des überlassenen Gegenstands für die betreffende Nutzungsdauer in Eigenkapital umqualifiziert4. Diese Rechtsprechung zur eigenkapitalersetzenden Nutzungsüberlassung kann seit dem MoMiG nicht fortgeführt werden, da § 135 Abs. 3 InsO insoweit gänzlich andere Rechtsfolgen vorsieht (hierzu Rz. 6.144 ff.)5.

6.103

Ansprüche auf Nutzungsentgelt können nur dann wie Darlehensforderungen behandelt werden, wenn der Gesellschafter diese Ansprüche wenigstens faktisch kreditiert hat6. Die Gegenauffassung7 will demgegenüber jeden Anspruch auf Zahlung von Nutzungsentgelt einem Gesellschafterdarlehen gleichstellen und verzichtet insofern auf das Erfordernis der Kreditierung. Dem ist nicht zu folgen. Denn nur wenn man das Kreditierungselement im Tatbestand des § 135 Abs. 1 InsO bzw. § 6 AnfG prüft, gelingt die Abgrenzung zu § 135 Abs. 3 InsO widerspruchsfrei8: Die Sonderregeln für Gesellschafterdarlehen zielen darauf, die Zurverfügungstellung von Fremd- bzw. von Eigenkapital durch den Gesellschafter haftungsrechtlich

6.104

1 BGH v. 11.7.2019 – IX ZR 210/18, ZIP 2019, 1675 Rz. 15, 17 m. Anm. Neußner, EWiR 2019, 593 = GmbHR 2019, 1051 m. Anm. Blöse; krit. Huber, NZI 2020, 149. 2 Das OLG Schleswig verlangt eine „verkehrsunübliche Stundungsabrede“, wobei es sich an den zu § 142 InsO entwickelten Grundsätzen orientiert, OLG Schleswig v. 29.5.2013 – 9 U 15/13, ZIP 2013, 1485. 3 Karsten Schmidt, NJW 2015, 1057, 1058. 4 BGH v. 11.7.1994 – II ZR 146/92 – Lagergrundstück III, BGHZ 127, 1 = GmbHR 1994, 612 = ZIP 1994, 1261; BGH v. 11.7.1994 – II ZR 162/92 – Lagergrundstück IV, BGHZ 127, 17 = GmbHR 1994, 691 = ZIP 1994, 1441. 5 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 38 ff. = ZIP 2015, 589. 6 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 69; OLG Hamm v. 21.11.2013 – 18 U 145/12, ZIP 2014, 186 ff.; OLG Schleswig v. 13.1.2012 – 4 U 57/11, GmbHR 2012, 1130 = ZIP 2012, 885, 887 unter Berufung auf die Gesetzesbegründung und nach ausführlicher Auseinandersetzung mit der Gegenauffassung; Karsten Schmidt in FS Wellensiek, 2011, S. 551, 557 f.; Karsten Schmidt, DB 2008, 1727; Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 31; Preuß in Kübler/Prütting/Bork, § 135 InsO Rz. 23; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 458; Bitter, ZIP 2010, 10; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325, 328. 7 Marotzke, ZInsO 2008, 1281, 1284 f.; Marotzke, ZInsO 2009, 2073; Hölzle, ZIP 2010, 913, 914; Henkel, ZInsO 2010, 2209, 2210; nunmehr offenlassend de Bra in Braun, § 135 InsO Rz. 27 f. 8 Karsten Schmidt in FS Wellensiek, 2011, S. 551, 558.

Brinkmann | 203

§ 6 Rz. 6.104 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

gleichzubehandeln. Eine Ausstattung mit Fremdkapital liegt immer dann vor, wenn der Gesellschafter der Gesellschaft Kapital nicht nur zur Nutzung überlässt, sondern das Kapital mit seinem Substanzwert Teil des Gesellschaftsvermögens wird. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur Nutzungsüberlassung, die unter § 135 Abs. 3 InsO fällt: Bei der Nutzungsüberlassung bleibt die überlassene Sache vermögens- und haftungsrechtlich dem Gesellschaftervermögen zugeordnet. Am deutlichsten wird der Unterschied beim Vergleich von Sachdarlehen und Miete: Das Sachdarlehen fällt unter § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 InsO, da hier die Darlehensnehmerin Eigentümerin des Gegenstands wird1. Die Miete fällt jedoch unter § 135 Abs. 3 InsO, weil der Vermieter/Gesellschafter grundsätzlich ein Aussonderungsrecht hat, dessen Ausübung durch § 135 Abs. 3 InsO gesperrt wird (Rz. 6.149 ff.)2. Eine hierüber hinausgehende insolvenzrechtliche Beschlagnahme des Nutzungswerts ist nicht gerechtfertigt3. Begleicht der Insolvenzschuldner vor Verfahrenseröffnung fällige Ansprüche des Gesellschafters auf die Zahlung von Nutzungsentgelt, kann der Insolvenzverwalter diese Zahlungen nur dann nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechten, wenn der Gesellschafter die Ansprüche wenigstens faktisch gestundet hatte. Die Gesellschafter sind vor diesem Hintergrund sowie im Hinblick auf die Höhe eines etwaigen Ausgleichsanspruchs nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO (Rz. 6.151) gut beraten, trotz der Krise auf der zeitnahen und vollständigen Begleichung ihrer Ansprüche zu beharren4.

dd) Gesellschaftersicherheiten

6.105

Auch die Stellung einer Sicherheit durch einen Gesellschafter für einen Kredit, den ein Dritter der Gesellschaft gegeben hat, entspricht wirtschaftlich einem Darlehen. Die Freistellungs- und Regressansprüche (§§ 670, 774, 1143, 1225 BGB) des Sicherungsgebers/Gesellschafters gegen die Darlehensschuldnerin, also die Gesellschaft, sind in der Insolvenz der Gesellschaft nachrangige Verbindlichkeiten nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO5. Tilgt die Gesellschaft vor Verfahrenseröffnung den Darlehensrückzahlungsanspruch, kann die für die Gesellschaftersicherheit befreiende Wirkung dieser Leistung nach § 135 Abs. 2 InsO angefochten werden (dazu Rz. 6.137).

3. Die Regelungen für Gesellschafterdarlehen im Einzelnen a) Die Bilanzierung von Gesellschafterdarlehen 6.106

In der Handelsbilanz sind Darlehen eines Gesellschafters wie andere Fremdverbindlichkeiten zu passivieren. Dass es sich bei der Verbindlichkeit um ein Gesellschafterdarlehen handelt, wirkt sich insoweit nicht aus. Grundsätzlich dasselbe gilt auch für die Aufstellung der Überschuldungsbilanz. Nur wenn Gesellschaft und Gesellschafter einen qualifizierten Rangrücktritt i.S. von § 39 Abs. 2 InsO vereinbart haben (Rz. 7.14 ff.), muss das Darlehen gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO im Überschuldungsstatus nicht passiviert werden (s. Rz. 7.19). Der Rücktritt muss dafür allerdings in einen Rang noch hinter die Forderungen des § 39 Abs. 1 InsO 1 Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 9. 2 Vgl. Bitter, ZIP 2010, 1, 7; s. auch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des BT, BTDrucks. 16/9737, S. 59. 3 Wie hier Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 85; de Bra in Braun, § 135 InsO Rz. 29. 4 Karsten Schmidt, NJW 2015, 1057, 1060. 5 Karsten Schmidt, BB 2008, 1966, 1970; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 80. Zum alten Recht: Thonfeld, Eigenkapitalersetzende Gesellschaftersicherheiten und der Freistellungsanspruch der Gesellschaft, 2004, S. 124 f.

204 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.109 § 6

erfolgen, also insbesondere hinter solche Gesellschafterdarlehen, für die kein ausdrücklicher Rangrücktritt besteht. Der Rangrücktritt kann zwar formlos erfolgen, die Beteiligten sind jedoch gut beraten, den Rangrücktritt ausdrücklich und schriftlich zu vereinbaren. Nur dann können sie in der Krise sicher sein, eine etwaige Überschuldung durch die Darlehensgewährung abzuwenden. Hinsichtlich der exakten Formulierung des Rangrücktritts kommt ihnen die Zweifelsregel des § 39 Abs. 2 InsO zu Gute. Sofern Gesellschaft und Gesellschafter nichts anderes vereinbaren, erfolgt hiernach der Rücktritt hinter die Forderungen, die § 39 Abs. 1 InsO unterfallen, so dass den Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO Genüge getan ist (Rz. 7.19).

b) Gesellschafterdarlehen als nachrangige Insolvenzforderungen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) Aus der Einordnung in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO folgt, dass der Darlehensgeber mit seinem Rückzahlungsanspruch erst dann an Verteilungen partizipiert, wenn alle Masseverbindlichkeiten (§ 53 InsO), alle Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) und alle nachrangigen Insolvenzforderungen, die den Nrn. 1–4 des § 39 Abs. 1 InsO zuzuordnen sind, vollständig befriedigt wurden. An Abschlagsverteilungen sollen diese Forderungen daher nicht teilnehmen (§ 187 Abs. 2 Satz 2 InsO). Dies gilt gemäß § 39 Abs. 3 InsO auch für Ansprüche auf Zahlung rückständiger Zinsen.

6.107

Die Nachrangigkeit wirkt sich nicht nur im Hinblick auf die Verteilung der Insolvenzmasse aus, sondern auch auf die Verfahrensrechte der Gläubiger. Zwar sind auch nachrangige Insolvenzgläubiger befugt, einen Insolvenzantrag zu stellen, selbst, wenn sie keine Befriedigung durch das Verfahren zu erwarten haben1, sie können aber ihre Forderungen nur auf entsprechende Aufforderung des Insolvenzgerichts anmelden (§ 174 Abs. 3 InsO). Die Verfahrensrechte werden ferner durch § 75 Abs. 1 Nr. 3, 4, § 77 Abs. 1 Satz 2, § 78 Abs. 1 InsO beschnitten. Im Insolvenzplanverfahren gelten nachrangige Insolvenzforderungen im Zweifel als erlassen (§ 225 Abs. 1 InsO). Sofern die nachrangigen Gläubiger dem Plan nicht zustimmen und ihre Zustimmung auch nicht durch § 246 InsO fingiert wird, kommt eine Fiktion nach § 245 InsO in Betracht. Im Restrukturierungsverfahren spielt der insolvenzrechtliche Nachrang insofern eine Rolle, als die in § 29 StaRUG enthaltenen Vorrangregeln an die insolvenzrechtliche Rangordnung anknüpfen. Der insolvenzrechtliche Nachrang entfaltet auf diese Weise schon Vorwirkung im Restrukturierungsverfahren.

6.108

c) Die Anfechtung von Befriedigungen nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 AnfG) aa) Der Tatbestand des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO Die Befriedigung von Ansprüchen aus Gesellschafterdarlehen vor Verfahrenseröffnung kann gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO (bzw. § 6 Abs. 1 Nr. 2 AnfG) vom Verwalter angefochten werden, wenn die Leistung innerhalb des letzten Jahres vor Antragstellung erfolgte. Wann die Rechtshandlung vorgenommen wurde, bestimmt sich nach § 140 InsO, die Jahresfrist wird nach § 139 InsO berechnet. Es kommt nicht darauf an, ob sich die Gesellschaft zum Zeitpunkt der Rückzahlung schon in der Krise befand2. Das Kleinbeteiligtenprivileg und das Sanie1 BGH v. 23.9.2010 – IX ZB 282/09, ZIP 2010, 2055 = GmbHR 2010, 1217; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 17.13, Fn. 38. 2 BGH v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, ZIP 2015, 1130 = GmbHR 2015, 704 Rz. 5.

Brinkmann | 205

6.109

§ 6 Rz. 6.109 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

rungsprivileg aus § 39 Abs. 4 und Abs. 5 InsO sind gemäß § 135 Abs. 4 InsO auch bezüglich der Anfechtbarkeit anwendbar. Für Befriedigungen, die nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO angefochten werden können, bleibt eine etwaige Anfechtbarkeit nach § 133 InsO unberührt1.

6.110

Der Rückzahlung eines Darlehens ist wie im Rahmen von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO die Befriedigung eines Anspruchs aus einer wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlung (hierzu Rz. 6.101) gleichgestellt. Ein bloßes Darlehensversprechen ist allerdings keine solche wirtschaftlich entsprechende Rechtshandlung, so dass seine Kündigung nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO angefochten werden kann2. Weil aus dem Darlehensversprechen selbst keine (nachrangige) Insolvenzforderung resultiert, so dass § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO nicht anwendbar ist, kommt auch eine Anwendung von § 135 Abs. 1 InsO nicht in Betracht. Dasselbe gilt für Darlehensversprechen, die sich aus einer (harten) Patronatserklärung ergeben3.

6.111

Die vorinsolvenzliche Zahlung von Zinsen auf Gesellschafterdarlehen ist nicht ohne Weiteres nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar4. Zwar sind aufgelaufene und während des Verfahrens entstehende Zinsansprüche nach § 39 Abs. 3 InsO genau wie der Darlehensrückzahlungsanspruch selbst nachrangige Forderungen. Dadurch werden die Zinsen jedoch nicht zu Darlehen oder gleichgestellten Forderungen i.S. von § 135 Abs. 1 InsO. Vorinsolvenzliche Zinszahlungen unterfallen nur dann dem Anwendungsbereich von § 135 Abs. 1 InsO, wenn sie auf solche Ansprüche erfolgen, die in verkehrsunüblicher Weise gestundet wurden, wenn sie mit anderen Worten auf rückständige Zinsansprüche erfolgt sind.

6.112

Ob die Befriedigung von Ansprüchen, für die Gläubiger und Schuldner einen Rücktritt in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO vereinbart haben (gewillkürter Rangrücktritt), analog § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar ist, hängt davon ab, ob sich die Vereinbarung in einem bloßen Rangrücktritt erschöpft, oder ob sich der Gläubiger ganz allgemein den Regeln unterwirft, die für Gesellschafterdarlehen gelten. Nur im zweiten Fall ist die Analogie zu befürworten5. bb) Gläubigerbenachteiligung

6.113

Die nach § 129 InsO für jede Anfechtung erforderliche Gläubigerbenachteiligung ist bei Darlehensrückzahlungen praktisch immer gegeben, denn ohne die Befriedigung wäre der Gläubi1 U. Huber, ZIP 2010 Beilage Nr. 39, S. 7, 10. Zur Vorsatzanfechtung bei der Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen auch: Bangha-Szabo, ZIP 2013, 1058 ff. 2 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 22; Nerlich in Nerlich/ Römermann, § 135 InsO Rz. 39; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 19. 3 Blum, NZG 2010, 1331, 1332. A.A. OLG München v. 22.7.2004 – 19 U 1867/04, ZIP 2004, 2102, 2106; Hirte in Uhlenbruck, § 135 InsO Rz. 11. 4 BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 43 ff. = GmbHR 2019, 1058; Mylich, ZGR 2009, 474, 483 ff.; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 66; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 164; nunmehr auch Habersack in Ulmer/Habersack/Winter, Ergänzungsband zum MoMiG, 2010, § 30 GmbHG Rz. 124; a.A. Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 27; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 21; Haas in Noack/Servatius/Haas, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 108; Clemens, Das neue Recht der Gesellschafterfremdfinanzierung nach dem MoMiG, 2012, S. 241. 5 Gegen eine Analogie Bitter, ZIP 2013, 2 ff. Die entsprechende Anwendung wird befürwortet von Bork, ZIP 2012, 2277, 2279. Bork befürwortet darüber hinaus eine Anwendung der Vorschrift auch dann, wenn der Rücktritt in den Rang zwischen § 39 Abs. 1 Nr. 4 und 5 InsO erfolgt; ebenso Leithaus in Andres/Leithaus, § 39 InsO Rz. 10; Ehricke/Behme in Münchener Kommentar zur InsO, § 39 InsO Rz. 96.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.116 § 6

ger auf seine (nachrangige) Forderung verwiesen gewesen und hätte daher nur dann Ausschüttungen erhalten, wenn alle besserrangigen Insolvenzgläubiger vollständig befriedigt worden wären. Der Gesellschafter kann die eingetretene Benachteiligung beseitigen, indem er den erhaltenen Betrag der Masse vor Verfahrenseröffnung wieder zur Verfügung stellt1.

An der Gläubigerbenachteiligung fehlt es auch dann nicht, wenn für die Forderung eine (unanfechtbare) Sicherheit bestanden hat, die durch die Zahlung frei wird2. Denn die Sicherheit war für eine in der Insolvenz nachrangige Forderung bestellt worden, so dass der Gesellschafter sein Absonderungsrecht in der Insolvenz nicht hätte durchsetzen können (näher Rz. 6.120 ff.). Insofern hindert die Besicherung der Forderung die Gläubigerbenachteiligung selbst dann nicht, wenn die Sicherheit ausnahmsweise nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar war.

6.114

cc) Unanwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs Das Bargeschäftsprivileg (§ 142 InsO) ist auf Anfechtungen nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO nicht anwendbar. Die Befriedigung eines Darlehens kann kein Bargeschäft sein, da bei einem Darlehen Vermögenszu- und Vermögensabfluss nie in dem von § 142 InsO vorausgesetzten „unmittelbaren Zusammenhang“ stehen. Das dem Darlehen sowie wirtschaftlich entsprechenden Rechtshandlungen innewohnende Kreditierungselement (s. auch Rz. 6.101 ff.) schließt es daher von vornherein aus, dass Darlehensrückzahlungen den Tatbestand des § 142 InsO erfüllen können3. Zur gleichfalls abzulehnenden Anwendung des § 142 InsO auf die Anfechtung auf die Bestellung von Sicherheiten s. Rz. 6.117, zur Behandlung des Cash Poolings s. Rz. 6.131.

6.115

d) Die Anfechtung von Sicherungen für Gesellschafterdarlehen nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 AnfG) aa) Der Tatbestand des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO Die Bestellung einer Sicherheit für ein Gesellschafterdarlehen oder für Ansprüche aus einem solchen gleichgestellten Rechtshandlungen kann nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO und § 6 Abs. 1 Nr. 1 AnfG angefochten werden. Erfasst sind nur dingliche Sicherheiten am Gesellschaftsvermögen4. Der Anfechtungszeitraum beträgt zehn Jahre vor Antragstellung, auch hier sind für die Berechnung der Frist die §§ 139, 140 InsO einschlägig.

1 BGH v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, BGHZ 198, 77 = GmbHR 2013, 1034 = ZIP 2013, 1629 Rz. 15 ff.: Erfolgt die Rückzahlung auf ein im Soll geführtes Konto der Gesellschaft bei einer Bank, für das der Gesellschafter eine Sicherheit bestellt hat oder als Bürge haftet, kann die Rückführung des Saldos gemäß § 135 Abs. 2 InsO anfechtbar sein. 2 Spliedt, ZIP 2009, 149, 153. 3 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 44; Ganter/Weinland in Karsten Schmidt, § 142 InsO Rz. 11; Gehrlein in FS Kübler, 2015, S. 181, 186; Henkel, ZInsO 2010, 2209, 2212 f.; Henkel, ZInsO 2009, 1577, 1578 f.; Haas, ZInsO 2007, 617, 624. 4 Verbürgt sich die Gesellschaft für eine Verbindlichkeit ihres Gesellschafters gegenüber einem Dritten (sog. upstream guarantee), kommt die Anfechtung gegenüber dem Gesellschafter nach den Grundsätzen über mittelbare Leistungen in Betracht. Hierzu van Bömmel, Insolvenzanfechtung von upstream guarantees im GmbH-Konzern, 2009, S. 114 ff.; Brinkmann in Kübler/Prütting/ Bork, Anh. I zu § 145 InsO Rz. 87.

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6.116

§ 6 Rz. 6.117 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

bb) Unanwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs

6.117

§ 142 InsO ist auf die Besicherung von Gesellschafterdarlehen nicht anwendbar, wie der BGH mit Entscheidung vom 14.2.2019 bestätigt hat1. Andernfalls wären insbesondere anfängliche Sicherheiten der Anfechtbarkeit entzogen. Denn solche Sicherheiten, die bereits bei Kreditauskehrung versprochen werden, sind nach allgemeinen Regeln als Bargeschäfte nach § 142 InsO anfechtungsfest2. Die vor der Entscheidung des BGH vertretene Gegenansicht3 machte für die Anwendbarkeit des Bargeschäftsprivilegs i.R. von § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor allem geltend, dass die Vergabe eines Kredits gegen die Bestellung einer Sicherheit einem sog. „Drittvergleich“ standhalte, die Gesellschaft den Kredit also auch von dritter Seite hätte bekommen können4. Es sei nicht ersichtlich, wieso in einem solchen Fall der Gesellschafter schlechter als ein anderer Kreditgeber zu behandeln sein solle. Diese Argumentation verkennt den Normzweck der § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 Abs. 1 InsO5. Die Vorschriften sollen verhindern, dass für den Gesellschafter Anreize bestehen, zu hohe Risiken einzugehen, die den Unternehmenswert insgesamt schmälern. Der BGH betont zu Recht, dass diese Fehlanreize bei der Besicherung eines Gesellschafterdarlehens besonders stark sind: „Der Gesellschafter ist zudem im Gegensatz zu externen Gläubigern über die als Sicherung in Betracht kommenden Vermögensgegenstände seines Unternehmens unterrichtet (BGH, Urteil vom 18. Juli 2013, aaO Rn. 20). Grundgedanke des neuen Rechts ist es, Gesellschafterdarlehen ohne Rücksicht auf einen Eigenkapitalcharakter einer insolvenzrechtlichen Sonderbehandlung zu unterwerfen und auf diese Weise eine darlehensweise Gewährung von Finanzmitteln der Zuführung haftenden Eigenkapitals weitgehend gleichzustellen (BGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 –IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 Rn. 22; vgl. auch Urteil vom 29. Januar 2015 –IX ZR 279/13, BGHZ 204, 83 Rn. 69). In der Insolvenz werden gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 und § 135 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO Gesellschafterdarlehen faktisch wie Eigenkapital behandelt. Dadurch werden die Finanzierungsfolgenverantwortung des Gesellschafters eingefordert sowie das Risikogleichgewicht zwischen Gesellschaftern und sonstigen Gesellschaftsgläubigern gewahrt. Mit diesem Konzept wäre unvereinbar, wenn eine innerhalb der Frist des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO gewährte Sicherheit für ein Gesellschafterdarlehen insolvenzfest wäre (vgl. Gehrlein in Festschrift Kübler, 2015, S. 181, 187; HK-InsO/Kleindiek, 9. Aufl., § 135 Rn. 16). Eine Privilegierung anfänglicher Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen unterliefe zudem das erklärte Ziel des Gesetzgebers, Rückzahlungen aus Gesellschafterdarlehen im Jahr vor der Antragstellung einem konsequenten Anfechtungsregime zu unterwerfen (BT-Drucks. 16/6140, S. 26, 42; vgl. Gehrlein in Festschrift Kübler, 2015, S. 181, 187; Köth, ZGR 2016, 541, 567). Die uneingeschränkte Anwendung des Bargeschäftsprivilegs eröffnete dem Gesellschafter die Möglichkeit, sogar bei einem innerhalb des kritischen Zeitraums gewährten Darlehen die Rechtsfolge des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO zu umgehen, indem er eine in unmittelbarer Nähe zur Ausreichung der Darlehensvaluta gewährte Sicherheit verwertet (vgl. Köth, ZGR 2016, 541, 567; Bitter, ZIP 2013, 1497, 1507).“6

1 BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666 Rz. 42 ff.; Gehrlein in FS Kübler, 2015, S. 181, 187 f.; Spliedt, ZIP 2009, 149, 151, 153; Hölzle, ZIP 2013, 1992, 1995; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 15 f. 2 BGH v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, ZIP 1993, 271 = BB 1993, 464; näher Bork in Kübler/Prütting/ Bork, Anh. I zu § 147 InsO Rz. 34; Borries/Hirte in Uhlenbruck, § 142 InsO Rz. 9; Riggert in Braun, § 142 InsO Rz. 4. 3 Bitter, ZIP 2019, 737; Bitter, ZIP 2013, 1583; Schröder, Die Reform des Eigenkapitalersatzrechts durch das MoMiG, 2012, S. 44; Ganter/Weinland in Karsten Schmidt, § 142 InsO Rz. 11. Für eine Privilegierung anfänglicher Sicherheiten auch Mylich, ZHR 176 (2012), 547, 569. 4 Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 182. 5 Auf den Normzweck stellt auch Gehrlein in FS Kübler, 2015, S. 181, 187 f. entscheidend ab. 6 BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666 Rz. 51, 52 = GmbHR 2019, 460.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.120 § 6

Dies gilt unabhängig davon, ob die Sicherheit anfänglich oder nachträglich gewährt wurde, denn in beiden Fällen liefe die verhaltenssteuernde Funktion des Eigenkapitals leer. Die ratio des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO gebietet es also, die Vorschrift auch auf anfängliche Sicherheiten anzuwenden. Methodisch ist dieses Ergebnis durch eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs von § 142 InsO zu erreichen. Diese ist zulässig und geboten1, weil der Gesetzgeber das Problem nicht gesehen hat, wie schon ein Blick auf die parallele Problematik im Anfechtungsgesetz zeigt: Hier führte die wortlautgetreue Anwendung des Gesetzes gerade umgekehrt zur Anfechtbarkeit anfänglicher Sicherheiten, denn der Wortlaut des § 6 Abs. 1 Nr. 1 AnfG entspricht § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO, ein Bargeschäftsprivileg kennt das AnfG jedoch nicht. Diese widersprüchliche Gesetzeslage hat der BGH zu Recht durch die beschriebene Rechtsfortbildung aufgelöst.

6.118

cc) Rechtsfolge der Anfechtbarkeit Anfechtbar gewährte Sicherheiten hat der Gesellschafter der Masse nach § 143 InsO zurückzugewähren. Der Insolvenzverwalter kann vom Anfechtungsgegner Freigabe der Sicherheit verlangen2. An die Stelle des Freigabeanspruchs tritt ein Wertersatzanspruch nach § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. § 818 Abs. 2, 4 BGB, wenn die Sicherheit nicht mehr herausgegeben werden kann, weil sie schon vor Verfahrenseröffnung verwertet wurde3. Nach der Entscheidung des BGH vom 18.7.2013 besteht dieser Wertersatzanspruch auch dann, wenn die Verwertung länger als ein Jahr vor der Antragstellung erfolgte4. Der BGH stellt überzeugend darauf ab, dass § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO keine Sperrwirkung in dem Sinn entfaltet, dass der Gesellschafter Befriedigungen, die er durch Verwertung einer (anfechtbaren) Sicherheit vor dem Beginn der Jahresfrist erlangt hat, endgültig behalten könnte. Zwar sei in diesem Fall die Befriedigung nicht nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar, dies lasse aber die Anfechtung der Stellung der Sicherheit nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO unberührt. Aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich kein Vorrang der Nr. 2 gegenüber der Nr. 1, weshalb die Gewährung der Sicherheit auch dann anfechtbar sein könne, wenn die (durch Verwertung der Sicherheit erlangte) Befriedigung anfechtungsfest ist.

6.119

dd) Behandlung unanfechtbarer Sicherheiten Ist die Sicherheit unanfechtbar, weil sie außerhalb der Zehnjahresfrist bestellt wurde, kommt ein Freigabeanspruch aus § 143 InsO nicht in Betracht. Ob dies allerdings bedeutet, dass die Sicherheit im Insolvenzverfahren zur abgesonderten Befriedigung berechtigt, ist umstritten5. Richtigerweise ist die Durchsetzbarkeit unanfechtbarer Sicherheiten für Gesellschafterdarle1 BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666 Rz. 43 = GmbHR 2019, 460. 2 Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, § 143 InsO Rz. 64. 3 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579 Rz. 10; Kirchhof/Piekenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, § 142 InsO Rz. 123. 4 BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579 Rz. 8. 5 Verneinend Altmeppen, Anh. § 30 GmbHG Rz. 174; Altmeppen, NZG 2013, 441, 442; Brinkmann, ZGR 2017, 708, 724 f.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 18; Ganter/Weinland in Karsten Schmidt, § 142 InsO Rz. 11; Kummer/Schäfer/Wagner, Rz. H 72; Hölzle, ZIP 2013, 1992, 1995; Azara, Das Eigenkapitalersatzrecht der GmbH nach dem Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), 2010, S. 706 f.; Lüneborg, Das neue Recht der Gesellschafterdarlehen, 2010, S. 157. A.A. Bitter, ZIP 2013, 1497, 1502; ihm folgend Thole, NZI 2013, 746; Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 13; nunmehr auch Görner in Rowedder/Pentz, Anh. § 30 GmbHG Rz. 128, 157.

Brinkmann | 209

6.120

§ 6 Rz. 6.120 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

hen zu verneinen. Es wäre wenig überzeugend, wenn der Gesellschafter die Nachrangigkeit seines Rückzahlungsanspruchs dadurch umgehen könnte, dass er sich – außerhalb des Zehnjahreszeitraums – eine Sicherheit bestellen lässt. Denn die Aussage des BGH, dass die Gewährung von Gesellschafterdarlehen, die durch das Gesellschaftsvermögen gesichert werden, „mit einer ordnungsgemäßen Unternehmensfinanzierung nicht vereinbar“ sind1, trifft in gleicher Weise auf Darlehen zu, die früher als zehn Jahre vor der Antragsstellung besichert wurden.

6.121

Dagegen führt Bitter2 zugunsten der Durchsetzbarkeit des Sicherungsrechts an, dass Sicherheiten für Ansprüche auf laufende Zinsen, die nach § 39 Abs. 1 Nr. 1 InsO nachrangig sind, auch in der Insolvenz durchsetzbar sind3. Allein aus dem Nachrang der gesicherten Forderung resultiere also nicht automatisch die Undurchsetzbarkeit einer Sicherheit. Aus der Entscheidung zu Gunsten der Durchsetzbarkeit von Sicherheiten für nachrangige Zinsansprüche kann aber richtigerweise nichts für die Frage gewonnen werden, wie Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen zu behandeln sind. Denn zwischen § 39 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 InsO ist zu differenzieren, weil der Nachrang jeweils aus ganz unterschiedlichen Gründen angeordnet ist: Bei Nr. 1 geht es „bloß“ darum, die Quotenberechnung zu vereinfachen, die durch sich laufend erhöhende Zinsansprüche erheblich erschwert würde4. Eine Wertung ist insofern mit dem Nachrang der Zinsforderungen nicht verknüpft. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO hat dagegen eine verhaltenssteuernde Funktion, die auch bei der Frage der Durchsetzbarkeit von Sicherheiten zu berücksichtigen ist: Die Gefahr von Fehlanreizen bei der Verwendung einer durch eine Grundschuld besicherten Kreditlinie wird nicht dadurch beseitigt, dass die Sicherheit (zufällig) schon vor elf Jahren bestellt wurde. Das Telos des Nachrangs der Forderung erfasst insofern – gerade anders als bei Nr. 1 – auch das Vorgehen aus der Sicherheit.

6.122

Dogmatisch lässt sich die Undurchsetzbarkeit für akzessorische Sicherheiten, die Gesellschafterdarlehen sichern, wie folgt herleiten: Forderungen, die § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterfallen, sind solange nicht durchsetzbar, wie das Gericht nicht die Gläubiger gemäß § 177 Abs. 3 InsO zur Anmeldung der Forderung aufgefordert hat. Diese Undurchsetzbarkeit hat jedenfalls in Bezug auf Gesellschafterdarlehen nicht nur eine verfahrensrechtliche Komponente5, sondern ist auch auf materiellrechtlicher Ebene zu berücksichtigen, denn anders als der Nachrang von Zinsansprüchen beruht die Nachrangigkeit von Gesellschafterdarlehen nicht auf verfahrensrechtlichen, sondern auf normativ-materiellrechtlichen Wertungen. Materiellrechtlich werden Gesellschafterdarlehen insofern zu unvollkommenen Verbindlichkeiten, wenn endgültig feststeht, dass auf sie keine Verteilungen entfallen werden. Dies wirkt sich auch auf die Sicherheit aus, denn akzessorische Sicherheiten für unvollkommene Verbindlichkeiten sind unwirksam6.

6.123

Für nicht-akzessorische Sicherheiten, insbesondere für die Sicherungsgrundschuld, gilt im Ergebnis nichts anderes. Hier folgt die Undurchsetzbarkeit nicht aus der dogmatischen Konstruktion des Sicherungsrechts, sondern aus der Sicherungsabrede, die dem Sicherungsgeber eine Einrede gegen die Verwertung der Sicherheit gibt, solange die gesicherte Forderung undurchsetzbar ist7. 1 2 3 4 5 6

BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, ZIP 2013, 1579 = GmbHR 2013, 980 Rz. 19. Bitter, ZIP 2013, 1497, 1502; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 189. BGH v. 17.7.2008 – IX ZR 132/07, ZIP 2008, 1539, 1540 Rz. 9. Henckel in Jaeger/Henckel, § 39 InsO Rz. 11. So aber Bitter, ZIP 2013, 1497, 1501. Zur Unwirksamkeit von Sicherheiten für unvollkommene Verbindlichkeiten Siber, Jherings Jb. 70, 223, 244; Olzen in Staudinger, Neubearbeitung 2019, Einl. zu § 241 BGB Rz. 249. 7 Wolfsteiner in Staudinger, Neubearbeitung 2019, Vorbem. zu §§ 1191 ff. BGB Rz. 118.

210 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.125 § 6

Um eine effiziente Verwertung des belasteten Massegegenstands zu erleichtern, wird man dem Verwalter bereits dann einen Rückübertragungsanspruch hinsichtlich der Sicherheit gewähren müssen, wenn endgültig feststeht, dass die gesicherte Forderung im Zuge des Verfahrens erlöschen wird. Der Verwalter kann daher auch schon vor der Liquidation des Rechtsträgers bzw. der Bestätigung des Insolvenzplans die Rückübertragung der für den Gläubiger wertlosen Sicherheit verlangen, so dass der Insolvenzverwalter das Sicherungsgut unbelastet veräußern kann. Gegen die Anerkennung eines solchen Anspruchs spricht auch nicht, dass so die Zehnjahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO leer liefe. Anfechtbarkeit und materiellrechtliche Undurchsetzbarkeit sind zweierlei. Denn der Weg über § 135 Abs. 1 Nr. 1, § 143 InsO ist für den Verwalter vor allem in prozessualer Hinsicht einfacher: Er ist nicht an etwaige Schiedsvereinbarungen gebunden1, die Gerichte des Verfahrensstaates sind auch für Anfechtungsklagen international zuständig2 und er trägt eine geringere Darlegungslast, weil er nur die Voraussetzungen des § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO darzulegen hat und nicht auch die Tatsache, dass auf die Forderung sicher keine Verteilungen entfallen werden3. Nicht zuletzt spielt auch eine etwaige Abtretung des Rückgewähranspruchs an einen Dritten für den Anspruch aus § 143 InsO keine Rolle. Dieser Vergleich des Anspruchs aus § 143 InsO mit dem Rückgewähranspruch nach materiellem Recht erklärt auch, warum die methodischen Bedenken gegen die hier befürwortete Ansicht nicht zu überzeugen vermögen: Leitet man die Undurchsetzbarkeit der Sicherheit aus der materiellrechtlichen Konstruktion des Sicherungsrechts her, wird die anfechtungsrechtliche Wertung, dass eine mehr als zehn Jahre alte Sicherheit unanfechtbar ist, nicht tangiert.

6.124

4. Kontokorrentkredite, revolvierende Kredite, Cash Pooling a) Grundsätze Viele Detailfragen hinsichtlich der insolvenzrechtlichen Behandlung von Kontokorrenten, Cash Management Systemen und von revolvierenden Krediten sind streitig und noch nicht höchstrichterlich geklärt (vgl. auch Rz. 6.131). Die insolvenzfeste Ausgestaltung solcher Konstruktionen ist daher mit großer Unsicherheit verknüpft. Der unstreitige Ausgangspunkt ist, dass auch ein Kontokorrentkredit, den ein Gesellschafter seiner Gesellschaft einräumt, den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterliegt, denn der Gesellschafter ermöglicht es der Gesellschaft, jeweils in Höhe des offenen Saldos mit Fremdkapital zu arbeiten4. Nach wie vor ist nicht vollständig geklärt, inwieweit zwischenzeitliche Rückzahlungen benachteiligende Wirkung i.S. von § 129 InsO haben. Es geht um die Frage, ob im Rahmen der Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO zu berücksichtigen ist, dass die Gesellschaft nur aufgrund der Rückführung des Saldos weitere Abrufungen in entsprechender Höhe vornehmen konnte, dass also ein Bedingungszusammenhang zwischen den Rückzahlungen und weiteren Auszahlungen bestand. In seiner Entscheidung vom 7.3.2013 hat der Bundesgerichtshof für einen Staffelkredit entschieden, dass „die Anfechtung wie bei einem Kontokorrentkredit auf die Verringerung des Schuldsaldos im Anfechtungszeitraum beschränkt“ ist5. In einem Beschluss vom 16.1.2014 1 BGH v. 17.1.2008 – III ZB 11/07, SchiedsVZ 2008, 148; BGH v. 17.10.1956 – IV ZR 137/56, NJW 1956, 1920 = ZIP 2008, 478; Heydn, SchiedsVZ 2010, 182. 2 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-339/07, ZIP 2009, 427 = NZI 2009, 199. 3 Insoweit greift allerdings ein Anscheinsbeweis zu Gunsten des Insolvenzverwalters ein, BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 321 = GmbHR 2014, 417 Rz. 19. 4 Karsten Schmidt in FS Wellensiek, 2011, S. 551, 557. Vgl. auch BGH v. 28.11.1994 – II ZR 77/93, LM § 30 GmbHG, Nr. 46 m. Anm. Roth = GmbHR 1995, 35 = ZIP 1995, 23. 5 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = GmbHR 2013, 464 LS 1.

Brinkmann | 211

6.125

§ 6 Rz. 6.125 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

hat der BGH im Anschluss hieran entschieden, dass in einem echten Kontokorrent mit vereinbarter Kreditobergrenze eine Gläubigerbenachteiligung durch einzelne Kreditrückführungen ausscheide, weil ohne sie die Kreditmittel, die der Schuldner danach tatsächlich noch erhalten hat, ihm nicht mehr zugeflossen wären. Anfechtbar seien solche Kreditrückführungen daher nicht in ihrer Summe, sondern bis zu der eingeräumten Kreditobergrenze1. Mit seinem Urteil vom 27.6.2019 hat der BGH diese Rechtsprechung hinsichtlich kontokorrentähnlicher Hin- und Herzahlungen fortgeführt. Maßgeblich sei der höchste Stand des Darlehens innerhalb des Anfechtungszeitraums, soweit dieser endgültig zurückgeführt wurde2.

6.126

Die Beratungspraxis kann danach für Kontokorrentkredite und vergleichbare Kreditverhältnisse davon ausgehen, dass eine Anfechtung nur insoweit in Betracht kommt, wie die Gesellschaft tatsächlich Mittel in Anspruch genommen hat. Keinesfalls kann der Insolvenzverwalter die Summe aller Abbuchungen zurückverlangen3. Aus der Erwähnung der „vereinbarten Obergrenze“ sollte nicht geschlossen werden, dass in dieser Höhe auch dann angefochten werden kann, wenn diese Obergrenze während des Anfechtungszeitraums nie erreicht war. Denn in der Entscheidung vom 7.3.2013 heißt es auch, dass „[m]ehr als die ausgeschöpften Mittel der Kreditlinie“ im Schuldnervermögen nie vorhanden und für die Gläubigerbefriedigung einsetzbar waren. Der Ausgangspunkt muss also der höchste Sollsaldo während des Anfechtungszeitraums sein4. Würde man darüber hinaus gehen, drohte die Gefahr, dass der Masse mehr zurückgewährt wird, als die Schuldnerin jemals hatte5.

6.127

Nach der Entscheidung des BGH vom 27.6.2019 ist zur Ermittlung der Höhe des Anfechtungsanspruchs der niedrigste Sollsaldo mit dem Saldo am Tag der Verfahrenseröffnung zu vergleichen6. Ein Rückzahlungsanspruch besteht nur in der Höhe der Differenz der Saldenstände. In der 5. Auflage dieses Handbuchs wurde demgegenüber insoweit auf den niedrigsten Sollsaldo in Anfechtungszeitraum abgestellt. Die beiden Betrachtungsweisen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn der höchste Sollsaldo zwischendurch ausgeglichen wurde, das Konto aber am Tag der Verfahrenseröffnung wieder ein Soll ausweist. Der BGH hat durch das Abstellen auf den Saldo am Tag der Verfahrenseröffnung im Rahmen von § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO denselben Ansatz gewählt, den er auch für die anfechtungsrechtliche Behandlung von Kontokorrentkrediten sonst verfolgt7. Für eine abweichende Behandlung, also für die Maßgeblichkeit des niedrigsten Sollsaldos, wurde hier angeführt, dass die Rechtsprechung zur Berechnung der Höhe des Anfechtungsanspruchs im allgemeinen Kontokorrentkredit zur Begründung der Maßgeblichkeit des Eröffnungssaldos entscheidend auf § 142 Abs. 1 InsO abstellt, der aber im Rahmen von § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO nicht anwendbar ist (Rz. 6.115). Die neue Rechtsprechung hat demgegenüber den Vorzug der Einfachheit für sich, weil nicht zwischen Kontokorrenten im Verhältnis einer Bank zu ihrem Kunden und solchen zwischen einem Gesellschafter und einer Gesellschaft unterschieden werden muss.

1 2 3 4

BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476 Rz. 2. BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 40, 98 = GmbHR 2019, 1058. BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476 Rz. 2. BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 40, 98; BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 Rz. 23 = GmbHR 2014, 417. 5 Zum Staffelkredit BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = GmbHR 2013, 464 Rz. 16. Ähnlich Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 153 a.E. 6 BGH v. 27.6.2019 – IX ZR 167/18, ZIP 2019, 1577 Rz. 98 ff. = GmbHR 2019, 1058. 7 BGH v. 7.3.2002 – IX ZR 223/01, BGHZ 150, 122 = ZIP 2002, 812, 814 f.; BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 67/09, ZIP 2012, 1301 Rz. 11.

212 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.131 § 6

b) Verbundene Kredite Weitgehend ungeklärt ist die Frage, auf welche Fälle jenseits des „echten Kontokorrents“ diese Rechtsprechung anzuwenden ist, wann also verschiedene Auszahlungen seitens des Gesellschafters und Rückzahlungen seitens der Gesellschaft nicht als mehrere Darlehen (mit der Folge der anfechtungsrechtlichen Aufsummierung der Rückzahlungen), sondern als ein (revolvierendes) Darlehen behandelt werden können. In der Staffelkreditentscheidung vom 7.3.2013 hat der Bundesgerichtshof eine Situation, in der der Schuldnerin von der Gesellschafterin fortlaufend Kredite gewährt wurden, einem Kontokorrent gleichgestellt. Entscheidend sei die wirtschaftliche Funktion der Zahlungen und nicht die Frage, ob die wechselseitigen Zahlungen formal in einer laufenden Rechnung verbucht wurden. Die vom BGH seinerzeit verwendeten Kriterien waren

6.128

– die gleich bleibenden Bedingungen und der gleiche Zweck der Auszahlungen, – der enge zeitliche Zusammenhang der Rück- und Neuauszahlungen sowie – das zwischen den Parteien bestehende Gesellschaftsverhältnis, das den Gesellschafter kraft der Treuepflicht u.U. zu einer Offenhaltung der Kreditlinie verpflichtete. Handelt es sich um zwei zeitlich nicht zusammenhängende Zahlungen von unterschiedlicher Höhe und zu unterschiedlichen Bedingungen, die keinem bestimmten Zweck dienten, sondern den allgemeinen Liquiditätsbedarf der Gesellschaft decken, liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so dass die Rückzahlungen nach Ansicht des BGH zu addieren sind1.

6.129

Für die Beratungspraxis bleibt erhebliche Unsicherheit. Gesellschaftern kann nur geraten werden, schon vor der ersten Auszahlung Vereinbarungen zu treffen, die die Kriterien des BGH erfüllen. Dabei muss die Deckung des allgemeinen Liquiditätsbedarfs nicht notwendig ein „schädlicher“ Zweck sein. Denn wenn die Vereinbarung eine Obergrenze enthält, ist die Funktion des Zweckbindungskriteriums erfüllt. Die Praxis wird sich darauf einstellen müssen, dass der BGH Versuchen, mehrere Darlehen im Nachhinein als ein revolvierendes Darlehen zu charakterisieren, sehr kritisch gegenüber stehen wird2. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, die Vereinbarungen notariell zu beurkunden, um Beweisprobleme von vornherein zu vermeiden.

6.130

c) Cash Pooling Offen ist insbesondere die Frage, ob und inwieweit die für das Kontokorrent erarbeiteten Grundsätze auf physische Cash Pooling-Systeme zu übertragen sind. Bei solchen Systemen werden die Konten der angeschlossenen Gesellschaften am Ende eines jeden Bankarbeitstages auf null gestellt. Dabei wird ein etwaiger Habensaldo auf das meist von der Mutter geführte „Master-Account“ gebucht, ein Debetsaldo wird zu Lasten dieses Kontos ausgeglichen (Rz. 4.20). Verengt man die Betrachtung auf das Verhältnis der Tochtergesellschaft zur Muttergesellschaft, die das Master-Account führt, lässt sich der Ausgleich eines Sollsaldos auf dem Konto der Tochter zu Lasten der Mutter als Darlehensgewährung seitens der Mutter begreifen („downstream-loan“). Wird dieser Kredit zurückgeführt, indem ein später entstehender Habensaldo auf das Master-Account der Mutter gebucht wird, dann könnte hierin eine nach § 135 Abs. 1 InsO anfechtbare Tilgung oder Sicherung eines Gesellschafterdarlehens liegen. 1 BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 116/13, ZIP 2014, 785 = GmbHR 2014, 476. 2 Für eine Saldierung bei jeder Kreditlinie mit wechselnden Inanspruchnahmen Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 154.

Brinkmann | 213

6.131

§ 6 Rz. 6.131 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Ließe man die Anfechtung zu – gar in Höhe der Summe aller einzelnen Umbuchung eines Habensaldos während des letzten Jahres vor Antragstellung! – so wäre der Versuch des Gesetzgebers, das Cash Pooling vor dem sog. November-Urteil (dazu Rz. 2.63 ff.) zu retten, missglückt: Statt die Umbuchungen mit dem November-Urteil als verbotene Einlagenrückzahlungen zu ächten, wären sie als Tilgungen von Gesellschafterdarlehen anfechtbar. Vieles spricht jedoch dafür, dass die Kassandrarufe, die das Ende des Cash Pools verkündeten1, unbegründet sind.

6.132

Zu fragen ist zunächst, ob bzw. wann die Zurverfügungstellung von Liquidität im Rahmen des konkreten Cash Pool Systems überhaupt als „Darlehen“ i.S. des § 135 Abs. 1 InsO einzuordnen ist2. Außerhalb des Cash Pools, also im Rahmen gewöhnlicher Kontokorrentkonten, ist unstreitig, dass ein negativer Saldo als Darlehen zu charakterisieren ist3, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Dispositionskredit oder um einen Überziehungskredit handelt4. Diese Einordnung ist gerechtfertigt, weil die Glattstellung des Saldos nicht sofort erfolgt, sondern der Rückzahlungsanspruch für eine gewisse Zeit rechtlich oder faktisch gestundet wird. Diese Grundsätze müssen auch die Behandlung des Cash Pools leiten: Führt die Muttergesellschaft (oder ein gesellschaftergleicher Dritter) das Master-Account und duldet sie es, dass sich dieses für eine gewisse Zeit im Soll befindet, gewährt sie der Tochtergesellschaft in dieser Höhe ein Darlehen, dessen Rückführung grundsätzlich nach § 135 Abs. 1 InsO anfechtbar ist5. Es kommt insofern darauf an, inwieweit die Liquiditätsüberlassung Finanzierungsfunktion hatte. Dies wird man jedenfalls dann bejahen können, wenn der Saldo über mehrere Tage stehenbleibt. Denn das Stehenlassen eines Sollsaldos kann nach der Staffelkredit-Entscheidung des BGH vom 7.3.2013 auch dann als Darlehen zu behandeln sein, wenn es sich um einen „kurzfristigen Überbrückungskredit“ handelt6. „Ausreißer“, also Fälle, in denen ein sehr hoher Sollsaldo nur für z.B. 24 Stunden bestand, wird man u.U. mit dem Argument ausschließen können, dass das Telos des Rechts der Gesellschafterdarlehen nicht einschlägig sei, weil es ausgeschlossen ist, dass eine derart kurzfristige Überlassung des Kapitals Risikofehlsteuerungen ausgelöst hat.

6.133

Eine Umbuchung auf das Master-Account ist als Befriedigung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar. Der für die Ermittlung der Differenz zwischen höchstem Sollsaldo und danach eingetretenem niedrigsten Sollsaldo maßgebliche Zeitraum ist daher das letzte Jahr vor Antragstellung. Die Gegenauffassung hält § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO für anwendbar – mit der Konsequenz, dass der Zehn-Jahreszeitraum maßgeblich wäre. Diese Ansicht stellt darauf ab, dass die Umbuchung der Konzernmutter eine Aufrechnungsmöglichkeit verschaffe, die einer Sicherung gleichkomme7. Hierbei wird die insolvenzrechtliche Erfüllungsäquivalenz einer Aufrechnungsmöglichkeit8 nicht genügend beachtet. Weil die Verschaffung der Aufrechnungsmöglichkeit wie eine Erfüllung wirkt, ist die Umbuchung als Befriedigung i.S. von § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO zu charakterisieren9. 1 Dass das MoMiG dem Cash-Pooling den Todesstoß versetze, suggerieren Klinck/Gärtner, NZI 2008, 457. In dieselbe Richtung auch Burg/Westerheide, BB 2008, 62. 2 Ebenso Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 21. 3 Brocker/Rockstroh, BB 2009, 730, 731; Grothaus/Halberkamp, GmbHR 2005, 1317, 1318; Priester, ZIP 2006, 1557. 4 Berger in Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 488 BGB Rz. 54 f. 5 Altmeppen, NZG 2010, 401, 404; Gehrlein in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 135 InsO Rz. 4. 6 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = GmbHR 2013, 464 Rz. 14. 7 Klinck/Gärtner, NZI 2008, 457, 459. 8 Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 19.02; Windel, KTS 2000, 215, 220 ff. 9 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 36; Hamann, NZI 2008, 667 ff.; Thole, ZInsO 2011, 1425, 1430; Reuter, NZI 2011, 921, 924; Göcke/Rittscher, DZWIR 2012, 355, 355.

214 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.136 § 6

Hinsichtlich der Gläubigerbenachteiligung gelten die zum Kontokorrentkredit gemachten Ausführungen (Rz. 6.127): Die Gläubiger sind benachteiligt, soweit der höchste Sollsaldo (ohne Berücksichtigung von „Ausreißern“) während des Anfechtungszeitraums zurückgeführt wurde1. Die Ansicht, dass Abbuchungen im Wege des Cash Pooling keine benachteiligende Wirkung hätten und schon deswegen der Anfechtung entzogen seien2, überzeugt nicht. Die „wirtschaftliche Betrachtungsweise“, die dieser Argumentation zugrunde liegt, ist für die Ermittlung einer Gläubigerbenachteiligung gerade nicht angezeigt. Dem hinter dieser Ansicht stehenden Anliegen, den Cash Pool mit Finanzierungsfunktion von einem bloßen Liquiditätsmanagement-System zu unterscheiden, wird schon dadurch Rechnung getragen, dass die einzelnen Rückzahlungen nicht aufsummiert werden, sondern nur die Differenz zwischen höchstem Sollsaldo und dem danach eintretenden niedrigsten Sollsaldo maßgeblich ist. Auch ein Abstellen auf den durchschnittlichen Sollsaldo3 ist nicht mit der Rechtsprechung des BGH vereinbar. Denn nach der Staffelkreditentscheidung reicht eben auch die kurzfristige Überlassung von Mitteln, so dass es nicht maßgeblich ist, wie viele Mittel der Gesellschafter der Gesellschaft bezogen auf den Durchschnitt des ganzen Jahres vor Antragstellung im Schnitt eingeräumt hat. Mit diesen Grundsätzen wäre es auch unvereinbar, einen Gesamtsaldo zwischen allen Abbuchungen und allen Zuflüssen im Betrachtungszeitraum zu bilden.

6.134

Schließlich ist auch die Anwendbarkeit von § 142 InsO auf Befriedigungen von Gesellschafterdarlehen im Rahmen eines Cash Pools umstritten. Richtigerweise scheidet die Anwendung von § 142 InsO im Rahmen des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO schon aus tatbestandlichen Gründen aus, denn die Rückführung eines Darlehens kann nie ein Bargeschäft sein (vgl. Rz. 6.115). Die Erfüllung des Rückzahlungsanspruchs ist „eine einseitige Deckungshandlung, der keinerlei ausgleichende Leistung“ der kontoführenden Gesellschaft gegenübersteht4. Dem Zusammenhang zwischen Ein- und Auszahlungen ist nicht durch die Anwendung des Bargeschäftsprivilegs Rechnung zu tragen5, sondern dadurch, dass die einzelnen Rückzahlungen nicht aufsummiert werden6.

6.135

5. Gesellschafterbesicherte Drittdarlehen Auf die Stellung einer Sicherheit seitens eines Gesellschafters für ein Darlehen, das der Gesellschaft von dritter Seite gewährt wurde, sind die § 135 Abs. 2, §§ 44a, 143 Abs. 3 InsO anwendbar. Der Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass die Gewährung eines Kredits und die Stellung einer Sicherheit durch den Gesellschafter haftungsrechtlich gleich zu behandeln sind, weil es im Hinblick auf die für den Gesellschafter bestehenden Risikoanreize keinen Unterschied macht, ob er der Gesellschaft ein Darlehen gewährt oder ob er sein Vermögen einsetzt,

1 Ebenso Göcke/Rittscher, DZWIR 2012, 355, 357. 2 Reuter, NZI 2011, 921, 925 f. 3 Hierfür Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 40; Schall, ZGR 2009, 126, 145; Willemsen/Rechel, BB 2009, 2215, 2218; Altmeppen, NZG 2010, 401, 404; Reuter, NZI 2011, 921, 926. Zahrte, NZI 2010, 596, 598 will auf die Höhe der der Tochter eingeräumten Kreditlinie abstellen. Dagegen spricht, dass es im Rahmen von § 135 InsO auf die tatsächliche Überlassung von Gesellschaftervermögen ankommt. 4 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = GmbHR 2013, 464 Rz. 27; s. auch BGH v. 7.5.2013 – IX ZR 271/12, NZI 2013, 816. So auch Spliedt, ZIP 2009, 149, 151. 5 Anders wohl Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 161. 6 Zahrte, NZI 2010, 596, 598; Göcke/Rittscher, DZWIR 2012, 355, 356; Gehrlein in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 135 InsO Rz. 4. A.A. Willemsen/Rechel, BB 2009, 2215, 2218; grds. auch Thole, ZInsO 2011, 1425, 1431.

Brinkmann | 215

6.136

§ 6 Rz. 6.136 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

um der Gesellschaft die Kreditaufnahme bei einem Dritten zu ermöglichen1. Die vom Gesellschafter gewährte Sicherheit wird daher haftungsrechtlich wie Gesellschaftsvermögen behandelt2. Die Vorschriften erfassen alle Personal- und alle Sachsicherheiten. Neben Bürgschaften3, Schuldbeitritten, Garantieerklärungen, selbständigen Schuldversprechen und (harten) Patronatserklärungen4 sind daher auch Hypotheken, Grundschulden5 und Sicherungsnießbrauchsbestellungen, Sicherungsübereignungen6 und Pfandrechtsbestellungen seitens eines Gesellschafters oder eines gesellschaftergleichen Dritten betroffen. Auch die Einräumung einer Option kann Sicherungscharakter haben7.

a) Die Anfechtung der Tilgung des Drittdarlehens, § 135 Abs. 2 i.V.m. § 143 Abs. 3 InsO (§ 6a i.V.m. § 11 Abs. 3 AnfG) 6.137

Zahlt der Geschäftsführer oder vorläufige Insolvenzverwalter8 vor Verfahrenseröffnung das vom Gesellschafter besicherte Darlehen zurück, wird die vom Gesellschafter gewährte Sicherheit hierdurch frei. Dieselbe Folge hat es, wenn sich der Gläubiger aus einer von der Gesellschaft gestellten Sicherheit befriedigt. In diesen Situationen ermöglicht § 135 Abs. 2 InsO dem Insolvenzverwalter die Anfechtung der Befreiungswirkung9 unter denselben Voraussetzungen, unter denen die Befriedigung eines Gesellschafterdarlehens anfechtbar gewesen wäre. Erforderlich ist danach insbesondere, dass die Erfüllung innerhalb der Jahresfrist des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO erfolgt ist (zur Berechnung Rz. 6.109). Eine Anfechtung nach § 135 Abs. 2 InsO kommt nach einer Entscheidung des BGH vom 9.12.2021 auch dann in Betracht, wenn der Gesellschafter gegenüber dem Darlehensgeber von seiner Sicherheit aus anderen Gründen als durch eine Befriedigung des Darlehensanspruchs des Dritten befreit worden ist. Eine Aufhebung der Gesellschaftersicherheit oder eine Verjährung des Anspruchs aus der Sicherheit lässt danach die Anfechtungsrechte des Verwalters unberührt, sofern die Gesellschaftersicherheit innerhalb der Jahresfrist undurchsetzbar wird10. Auch eine Berufung auf das Bargeschäftsprivileg kommt nicht in Betracht, weil seine Voraussetzungen in den von § 135 Abs. 2 InsO erfassten Konstellationen nie vorliegen können: Infolge der Tilgung des Darlehensrückzahlungsanspruchs erhält die Gesellschaft keine surrogierende Gegenleistung.

6.138

Nach § 143 Abs. 3 Satz 1 InsO (bzw. § 11 Abs. 3 AnfG) muss der Gesellschafter der Gesellschaft das erstatten, was diese dem Gläubiger zur Befriedigung des Darlehensrückzahlungs1 BGH v. 20.2.2014 – II ZR 164/13, NZI 2014, 321 Rz. 18; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 76. 2 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 321 = GmbHR 2014, 417 Rz. 18. 3 BGH v. 27.11.1989 – II ZR 310/88, ZIP 1990, 95 = BB 1990, 87 = GmbHR 1990, 125 für Prozessbürgschaft. 4 Thonfeld, Eigenkapitalersetzende Gesellschaftersicherheiten und der Freistellungsanspruch der Gesellschaft, 2004, S. 38. 5 BGH v. 26.6.2000 – II ZR 21/99, GmbHR 2000, 931 = ZIP 2000, 1489. 6 BGH v. 18.11.1991 – II ZR 258/90, ZIP 1992, 177 = BB 1992, 593 = GmbHR 1992, 168. 7 Kleindiek in Kayser/Thole, § 44a InsO Rz. 6. 8 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 = GmbHR 2014, 417 Rz. 10 ff. 9 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 44; anders Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 80, nach dem die Zahlung an den Darlehensgeber zugleich eine anfechtbare Leistung auf den Freistellungsanspruch sei. Wäre diese Sichtweise zutreffend, hätte es § 135 Abs. 2 InsO nicht bedurft, weil die Leistung dann als gleichgestellte Rechtshandlung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar gewesen wäre. 10 BGH v. 9.12.2021 – IX ZR 201/20, GmbHR 2022, 251 = ZIP 2022, 229 Rz. 17 ff. = EWiR 2022, 178 (Jakobs).

216 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.140 § 6

anspruchs (oder der gleichgestellten Verbindlichkeit) geleistet hat. Hintergrund der Sonderregel ist, dass bei der Anfechtung nach § 135 Abs. 2 InsO Empfänger der Leistung und Anfechtungsgegner auseinanderfallen, weil der Insolvenzverwalter gegenüber dem Gesellschafter anficht, die Gesellschaft aber an den Darlehensgläubiger gezahlt hat. § 143 Abs. 3 Satz 2 InsO beschränkt den Ersatzanspruch der Höhe nach auf den Wert der Sicherheit, soweit sie tatsächlich frei geworden ist. Ferner kommt ein Anspruch nur insoweit in Betracht, wie der Darlehensrückzahlungsanspruch tatsächlich von der Gesellschaft befriedigt wurde1. Nach § 143 Abs. 3 Satz 3 InsO kann der Gesellschafter seiner Verpflichtung auch nachkommen, indem er der Insolvenzmasse das Sicherungsgut „zur Verfügung stellt“2.

b) Die Situation des Darlehensgebers in der Insolvenz der Gesellschaft (§ 44a InsO) Für den Fall, dass die durch den Gesellschafter besicherte Forderung gegen die Gesellschaft im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung noch (teilweise) offen ist, verweist § 44a InsO den Gläubiger zunächst auf die Verwertung der Sicherheit und gestattet ihm in der Gesellschaftsinsolvenz die Anmeldung der Forderung nur in der Höhe, in der er bei der Verwertung der Sicherheit ausgefallen ist. Hierdurch wird die Regel des § 52 InsO, die das Ausfallprinzip für Sicherheiten an schuldnereigenem Vermögen normiert, auch auf Sicherheiten an Gesellschaftervermögen erstreckt3. § 44a InsO ist insofern lex specialis zu § 43 InsO4, der für die Haftung mehrerer das Prinzip der Doppelberücksichtigung vorsieht. Schon § 32a Abs. 2 GmbHG a.F. ordnete das Ausfallprinzip an, nahm jedoch anders als § 44a InsO nicht Bezug auf einen „Gläubiger nach Maßgabe des § 39 Abs. 1 Nr. 5“5. Der in § 44a InsO nunmehr enthaltene Zusatz ist missverständlich, weil der Gläubiger des Darlehensrückzahlungsanspruchs gerade kein nachrangiger Gläubiger i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ist. Nachrangig ist vielmehr der Gesellschafter mit seinem Regressanspruch. Der Verweis auf § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ist richtigerweise so zu verstehen, dass die Vorschrift nur dann anwendbar ist, wenn die Besicherung des Darlehens eine Rechtshandlung ist, die einem Gesellschafterdarlehen gleichsteht. Sanierungsund Kleinbeteiligtenprivileg (§ 39 Abs. 4 und 5 InsO, Rz. 6.93 ff.) finden daher Anwendung.

6.139

Der Verwalter kann der Anmeldung der Forderung in voller Höhe widersprechen und den Gläubiger zunächst auf die Geltendmachung der Sicherheit verweisen. So entsteht ein Zwang für den Gläubiger, zuerst beim Gesellschafter Befriedigung zu suchen, da der Gläubiger seinen Ausfall gegenüber dem Verwalter darlegen und ggf. beweisen muss. Entsprechend kann der Verwalter die Anmeldung der Forderung zurückweisen, wenn der Ausfall auf einem Verzicht des Gläubigers auf die (werthaltige) Sicherheit oder auf einer Vereinbarung mit dem Gesellschafter beruht6. Bei einem Prozessvergleich wird man die Erfolgsaussichten der Klage und eines etwaigen Vollstreckungsverfahrens zu berücksichtigen haben.

6.140

1 OLG Stuttgart v. 14.3.2012 – 14 U 28/11, GmbHR 2012, 573, 575 = ZIP 2012, 834, 836. 2 Thole in Kayser/Thole, § 143 InsO Rz. 45; Jacoby in Kübler/Prütting/Bork, § 143 InsO Rz. 81. 3 Im Ergebnis auch Spliedt, ZIP 2008, 149, 155 f. Für Doppelberücksichtigung dagegen Gehrlein, BB 2008, 846, 852. 4 Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 79. 5 Karsten Schmidt, BB 2008, 1966, 1969. 6 Kleindiek in Kayser/Thole, § 44a InsO Rz. 9; etwas anders Saft, ZInsO 2019, 17, der meint, der Verzicht sei anfechtbar.

Brinkmann | 217

§ 6 Rz. 6.141 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

c) Analoge Anwendung des § 143 Abs. 3 InsO auf Doppelsicherheiten aa) Wahlrecht des Gläubigers

6.141

Stellt nicht nur der Gesellschafter, sondern auch die Gesellschaft eine Sicherheit für die Forderung, hat der Gläubiger die freie Wahl, aus welchem Sicherungsrecht er zuerst vorgeht1. § 44a InsO regelt nur die Frage, in welcher Höhe der Gläubiger eine Insolvenzforderung im Gesellschaftsinsolvenzverfahren anmelden kann, betrifft aber nicht die Frage, ob der Gläubiger eine vom Gesellschafter gestellte Sicherheit verwerten muss, bevor er auf eine von der Gesellschaft gestellte Sicherheit zugreifen kann. bb) Vorgehen des Gläubigers aus Gesellschaftssicherheit

6.142

Geht der Dritte zuerst gegen die Gesellschaft vor – nämlich aus der Sicherheit –, ist der Gesellschafter analog § 143 Abs. 3 Satz 1 InsO verpflichtet, der Gesellschaft den vom Gläubiger durch die Verwertung der Gesellschaftssicherheit erzielten Betrag zu erstatten. Zwar ist § 135 Abs. 2 InsO nicht anwendbar, da er nur Situationen erfasst, in denen die Forderung vor Verfahrenseröffnung von der Gesellschaft befriedigt wurde. Es wäre aber nicht überzeugend, den Gesellschafter in der Situation der Doppelsicherheit in den vollen Genuss der Befreiungswirkung kommen zu lassen. Der BGH hat daher in seinem Urteil vom 1.12.20112 § 143 Abs. 3 Satz 1 InsO analog angewendet. Methodisch lässt die Entscheidung manche Wünsche offen3. Im Ergebnis kann man mit ihr leben, weil sie sowohl die Interessen des Dritten wahrt, dem aus dem Nachrang des Ausgleichsanspruchs des Gesellschafters keine Nachteile erwachsen sollen, als auch die der Masse, die auch in dieser Konstellation Regress beim Gesellschafter nehmen kann4. Der Rückgriffsanspruch gegenüber dem Gesellschafter steht dem Insolvenzverwalter der Gesellschaft unabhängig davon zu, ob die Gesellschaftssicherheit gegenüber dem Gläubiger anfechtbar war5. cc) Konsequenzen in der Doppelinsolvenz

6.143

Das Konzept ermöglicht auch in der Doppelinsolvenz von Gesellschaft und Gesellschafter – nicht selten in Konzernsituationen – ein überzeugendes Ergebnis, denn der Anspruch der Gesellschaft gegen den Gesellschafter ist in dessen Insolvenz eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO6. Der Anspruch aus § 143 Abs. 3 InsO trägt bereicherungsrechtliche Züge, in dem Sinn, dass die Masse des Gesellschafters ungerechtfertigt dadurch bereichert wurde, dass die Haftung des Gesellschaftervermögens für die Gesellschaftsschuld erloschen ist. Der Gesellschafter erlangt etwas – nämlich Befreiung von der durch seine Sicherheit begründeten Haftung –, das ihm insolvenzrechtlich nicht zusteht. Den bereicherungsrechtlichen Charakter des Anspruchs bestätigt auch die Verweisung des § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO. 1 Frege/Nicht/Schildt, ZInsO 2012, 1961, 1962. Für eine Pflicht zum vorrangigen Zugriff auf die Gesellschaftersicherheit Karsten Schmidt, BB 2008, 1966, 1970; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 79. 2 BGH v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, BGHZ 192, 9 = GmbHR 2012, 86 = ZIP 2011, 2417 Rz. 18 ff. So zuvor schon OLG Hamm v. 7.4.2011 – 27 U 94/10, ZIP 2011, 1226; Neußner in Graf-Schlicker, § 44a InsO Rz. 10. 3 Mikolajczak, ZIP 2011, 1285, 1290; Thole, ZIP 2015, 1609, 1613. 4 Ebenso Thole, ZIP 2015, 1609, 1613. Zu Problemen in grenzüberschreitenden Verfahren Frege/ Nicht/Schildt, ZInsO 2012, 1961, 1965 f. 5 BGH v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, ZIP 2017, 1632; zust. Karsten Schmidt, EWiR 2017, 565; ebenfalls zust. Thole, ZIP 2017, 1742 m.w.N. 6 Mit etwas anderer Begründung Mikolajczak, ZIP 2011, 1285, 1291.

218 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.146 § 6

6. Gebrauchsüberlassungen durch Gesellschafter (§ 135 Abs. 3 InsO) Nach § 135 Abs. 3 InsO kann der Gesellschafter in der Insolvenz der Gesellschaft solche Gegenstände nicht aussondern, die er der Gesellschaft vor Verfahrenseröffnung überlassen hatte und die für die Fortführung des Unternehmens von erheblicher Bedeutung sind1. Diese Aussonderungssperre währt höchstens ein Jahr ab Verfahrenseröffnung und verschafft dem Verwalter für diese Zeit ein (entgeltliches) Nutzungsrecht. Der BGH hat in einem Urteil vom 29.1.2015 wesentliche Orientierungspunkte für den Umgang mit dem neuen Recht markiert und dabei die Beschränkung der Rechte des Gesellschafters aus der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht abgeleitet2. Die hier interessierenden ersten drei Leitsätze des Urteils lauten:

6.144

1. Nach Wegfall des Eigenkapitalersatzrechts besteht kein Anspruch des Insolvenzverwalters auf unentgeltliche Nutzung von Betriebsanlagen, die der Gesellschafter seiner Gesellschaft vermietet hat. 2. Eine Aussonderungssperre kann in der Insolvenz einer Gesellschaft auch gegenüber einem mittelbaren Gesellschafter geltend gemacht werden. Das hierfür zu entrichtende Nutzungsentgelt bemisst sich nach dem Durchschnitt des im letzten Jahr vor Stellung des Insolvenzantrages anfechtungsfrei tatsächlich Geleisteten. Eine Aussonderungssperre scheidet aus, wenn der Überlassungsvertrag fortwirkt und der Gesellschafter gegenüber dem Insolvenzverwalter keine Aussonderung verlangen kann. 3. Die Zahlung eines Nutzungsentgelts kann gegenüber dem Gesellschafter nicht als Befriedigung eines Darlehens, sondern nur als Befriedigung einer darlehensgleichen Forderung angefochten werden. Schon diese Leitsätze zeigen, dass sich bei der Anwendung des neuen Rechts jede Orientierung an der Rechtslage vor dem MoMiG, mit dem das Recht der Nutzungsüberlassung grundlegend neu geregelt wurde3, verbietet4.

6.145

a) Voraussetzungen der Aussonderungssperre Die Voraussetzungen der Aussonderungssperre entsprechen denen für Gesellschafterdarlehen. Das Kleinbeteiligtenprivileg des § 39 Abs. 5 InsO (Rz. 6.93) ist zu berücksichtigen5. § 135 Abs. 3 InsO ist auch auf gesellschaftergleiche Dritte i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO anwendbar6. Dass in § 135 Abs. 3 InsO der Verweis auf „wirtschaftlich entsprechende“ Rechtshandlungen fehlt, ist ein gesetzgeberisches Versehen. Eine analoge Anwendung ist geboten, wenn ein von dem Dritten hypothetisch gewährtes Darlehen einem Gesellschafterdarlehen gleichzustellen wäre7. Daher ist die Vorschrift auch gegenüber einem Dritten anzuwen1 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 55; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 32. 2 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 54. Ausführlich zu dieser Entscheidung Karsten Schmidt, NJW 2015, 1057 ff. 3 Karsten Schmidt, NJW 2015, 1057, 1058. Zum alten Recht vgl. die ausführliche Darstellung in der 4. Aufl. sowie Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 30. 4 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 38 ff. = ZIP 2015, 589. 5 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 49. Rechtspolitisch kritisch Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 34. 6 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 56 f.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 36; T. Fleischer in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, § 135 InsO Rz. 10. 7 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 48; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 36; Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 57; Rühle, ZIP

Brinkmann | 219

6.146

§ 6 Rz. 6.146 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

den, der den Gegenstand innerhalb der Jahresfrist von einem Gesellschafter (oder einem gesellschaftergleichen Dritten) erworben hat.

6.147

Die Aussonderungssperre betrifft nur solche Gegenstände, die für die vom Verwalter beabsichtigte Fortführung des Unternehmens von erheblicher Bedeutung sind. Paradigma ist das Betriebsgrundstück, in Betracht kommen aber auch Nutzungsrechte an Immaterialgüterrechten oder bestimmte Maschinen und Werkzeuge. Maßgeblich ist – wie bei § 21 Abs. 1 Nr. 5 InsO –, ob der Betriebsablauf ohne die Verfügbarkeit des zuvor überlassenen Gegenstands nicht unerheblich gestört würde. Nicht entscheidend ist, ob und zu welchen Kosten ein dem überlassenen Gegenstand funktional entsprechender Gegenstand von dritter Seite beschafft werden könnte1. Es genügt, wenn es im Falle des Entzugs des überlassenen Gegenstands aus betrieblichen Gründen sinnvoll wäre, einen Ersatz zu beschaffen, weil sonst die Fortführung nicht unerheblich beeinträchtigt würde. Darlegungs- und beweisbelastet ist insoweit der Verwalter2.

6.148

§ 135 Abs. 3 InsO ist nur anwendbar, wenn der Gesellschafter der Gesellschaft den Gegenstand vor Verfahrenseröffnung tatsächlich zur Nutzung überlassen hat, so dass die Gesellschaft den Gegenstand bereits vor der Verfahrenseröffnung nutzen konnte. Entscheidend ist die faktische vorinsolvenzliche Nutzungsmöglichkeit durch die Gesellschaft. Wurde zwar vor Verfahrenseröffnung ein Mietvertrag geschlossen, die Mietsache der Gesellschaft aber noch nicht überlassen, so ist § 135 Abs. 3 InsO unanwendbar, da ein etwaiges Aussonderungsrecht noch nicht entstanden ist3. Wurde die Nutzungsmöglichkeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beendet, kann diese Rechtshandlung nach §§ 132–134 InsO anfechtbar sein4. Die Deckungsanfechtung kommt nicht in Betracht, da der Gesellschafter mit seinem Rückforderungsanspruch hinsichtlich des überlassenen Gegenstands kein Insolvenzgläubiger gewesen wäre5.

b) Rechtsfolgen aa) Nutzung für die Masse oder Rückgabe

6.149

Der Verwalter kann wählen, ob er das Aussonderungsbegehren des Gesellschafters zurückweist und den Gegenstand im Rahmen der Fortführung des Unternehmens nutzt, oder ob er den Gegenstand herausgibt und so das andernfalls zu zahlende Nutzungsentgelt spart. Dieses Wahlrecht aus § 135 Abs. 3 InsO ist von dem Wahlrecht aus §§ 103 ff. InsO zu unterscheiden: § 135 Abs. 3 InsO ist als Aussonderungssperre zu verstehen. Die Anwendung der Vorschrift setzt also einen durchsetzbaren, zur Aussonderung berechtigenden Anspruch des Gesellschafters voraus. An einem solchen fehlt es, wenn der Verwalter im Rahmen von §§ 103 ff. InsO die Erfüllung gewählt hat oder das Nutzungsrecht trotz der Verfahrenseröffnung ohnehin fortbesteht (§ 108 InsO)6. In diesem Fall hat der Verwalter das vertraglich geschuldete Entgelt als

1 2 3 4 5 6

2009, 1358, 1365; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 73; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 92 Rz. 529; a.A. Spliedt, ZIP 2009, 149, 156. Anders Bitter, ZIP 2010, 1, 12. Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 88. Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 52. Rühle, ZIP 2009, 1358, 1364. A.A. Schäfer, NZI 2010, 505, 507; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 67. BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 Rz. 57 ff. = ZIP 2015, 589 = GmbHR 2015, 420 m. Anm. Bormann; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 68. Ansprüche des Gesellschafters nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO sind Masseverbindlichkeiten, § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO ist ebenso unanwendbar wie § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO.

220 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.151 § 6

Masseverbindlichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO) zu zahlen, § 135 Abs. 3 Satz 1 und 2 InsO finden keine Anwendung1. Der gesamte Mechanismus des § 135 Abs. 3 InsO ist nur dann anwendbar, wenn entweder die Nutzungsüberlassung ohne vertragliche Grundlage erfolgte (so dass deswegen die §§ 103 ff. InsO nicht anwendbar sind) oder das Nutzungsrecht infolge der Erfüllungsablehnung (§ 103 Abs. 2 InsO) oder Kündigung (§ 109 Abs. 1 InsO) seitens des Verwalters erloschen ist2. Der Verwalter verhält sich somit keineswegs widersprüchlich, wenn er beispielsweise für die insolvente Lizenznehmerin die Erfüllung eines Lizenzvertrages nach § 103 Abs. 2 InsO ablehnt, aber zugleich von der Option aus § 135 Abs. 3 InsO gegenüber der Lizenzgeberin/Gesellschafterin Gebrauch macht3. Ein derartiges Verhalten ist insbesondere dann sinnvoll, wenn das nach § 135 Abs. 3 InsO zu zahlende Nutzungsentgelt niedriger ist als die vertraglich vereinbarte Vergütung oder der auf dem Markt für die Lizenz zu zahlende Preis.

Entscheidet sich der Verwalter dafür, den Gegenstand zu nutzen und verweigert er entsprechend die Erfüllung des Aussonderungsanspruchs, entsteht ein gesetzliches Schuldverhältnis, kraft dessen der Verwalter den massefremden Gegenstand für maximal ein Jahr ab Verfahrenseröffnung nutzen darf. Der Gesellschafter kann im Gegenzug einen gesetzlichen Ausgleichsanspruch geltend machen. Gesellschafter und Verwalter können das gesetzliche Nutzungsverhältnis durch ein vertragliches ersetzen und so auch die Nutzung über den Jahreszeitraum hinaus ermöglichen.

6.150

bb) Der Ausgleichsanspruch des Gesellschafters bei Nutzung durch den Verwalter Der Ausgleichsanspruch nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO ist eine Masseverbindlichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO)4. Nach dem Wortlaut des Gesetzes bestimmt sich seine Höhe nach dem Durchschnitt der Zahlungen in den letzten zwölf Monaten vor Verfahrenseröffnung. Die Phase nach der Stellung des Insolvenzantrags (sog. Eröffnungsverfahren) wäre danach in die Berechnung einzubeziehen. Der BGH und die h.M. gehen allerdings davon aus, dass es sich bei der Formulierung um ein Redaktionsversehen handelt und stellen daher auf die Zahlungen ab, die in den zwölf Monaten vor Antragstellung geleistet wurden5. Hierdurch erhöht sich der nach § 135 Abs. 3 Satz 2 InsO zu zahlende Betrag6, denn während des Eröffnungsverfahrens kann der vorläufige Verwalter regelmäßig die Herausgabe des überlassenen Gegenstands unter Berufung auf § 21 Abs. 1 Nr. 5 InsO verweigern und hat hierfür während der ersten drei Monate keine Nutzungsentschädigung zu zahlen, sondern nur einen durch die Nutzung eingetretenen Wertverlust auszugleichen. Das für diese Berechnung angeführte Argument, dass es auch sonst im Anfechtungsrecht auf den Zeitraum vor Antragstellung ankomme7, überzeugt 1 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 Rz. 58 = ZIP 2015, 589 = GmbHR 2015, 420 m. Anm. Bormann. 2 OLG Hamm v. 21.11.2013 – 18 U 145/12, ZInsO 2014, 243, 245; Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 52; a.A. Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, § 90 Rz. 533. 3 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 40. 4 Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 135 InsO Rz. 49. 5 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 56; Preuß in Kübler/ Prütting/Bork, § 135 InsO Rz. 72; Hirte in Uhlenbruck, § 135 InsO Rz. 23; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 135 InsO Rz. 49; G. Fischer in FS Wellensiek, 2011, S. 448; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325, 330. Auf den Zeitpunkt der Anordnung einer Verfügungsbeschränkung gemäß § 21 InsO stellen ab Spliedt, ZIP 2009, 149, 157; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 82. Für eine wortlautkonforme Anwendung des Gesetzes Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 59; Bitter, ZIP 2010, 1, 12. 6 G. Fischer in FS Wellensiek, 2011, S. 443, 448. Dagegen Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 446. 7 BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 56 = ZIP 2015, 589; Hirte in Uhlenbruck, § 135 InsO Rz. 23.

Brinkmann | 221

6.151

§ 6 Rz. 6.151 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

nicht, weil § 135 Abs. 3 InsO nichts mit einer Anfechtung zu tun hat, sondern eine Aussonderungssperre normiert. Überzeugender ist das Argument, dass die gesellschaftsrechtliche Treupflicht – die die Legitimationsgrundlage des § 135 Abs. 3 InsO bildet – keine insolvenzrechtlichen Sonderopfer des Gesellschafters zu rechtfertigen vermag1. Insofern ist es plausibel, Nichtzahlungen infolge der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs nicht zu berücksichtigen.

6.152

Maßgeblich sind die konkret gezahlten Beträge und nicht das vereinbarte Nutzungsentgelt. Zu berücksichtigen sind jedoch nur solche Zahlungen, die dem Gesellschafter haftungsrechtlich tatsächlich zustanden2. Hat die Gesellschaft ein überhöhtes Nutzungsentgelt gezahlt, kann die Vereinbarung nach § 132 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar sein, so dass nur ein nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen zu berechnender Wertersatz anzurechnen ist. Im Übrigen kommt nach allgemeinen Regeln grundsätzlich auch die Deckungsanfechtung entsprechender Zahlungen in Betracht3. Bei angemessenem Entgelt wird die Deckungsanfechtung jedoch am Bargeschäftsprivileg scheitern4. Soweit die Zahlungen anfechtbar sind, dürfen sie bei der Berechnung des Ausgleichsanspruchs nicht berücksichtigt werden5.

6.153

Dasselbe gilt für Zahlungen, die nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO (§ 64 Satz 1 GmbHG a.F.) vom Geschäftsführer zu erstatten sind6. Allerdings kann die Zahlung von Nutzungsentgelt nach Insolvenzreife an einen Gesellschafter trotz der Regelung in § 135 Abs. 3 InsO der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns entsprechen, wenn sie beispielsweise den Voraussetzungen des § 15b Abs. 2 Satz 2 InsO genügt. cc) Vorrang von Absonderungsrechten Dritter

6.154

Absonderungsrechte Dritter an einem überlassenen Gegenstand, die Forderungen des Dritten gegen den Gesellschafter sichern, haben Vorrang vor dem Nutzungsrecht des Verwalters7. Daher kann ein Grundpfandgläubiger das vom Gesellschafter der Gesellschaft überlassene Betriebsgrundstück unbelastet von dem Nutzungsrecht verwerten, denn das Nutzungsrecht endet im Moment der Beschlagnahme zu Gunsten des Grundpfandgläubigers8. Es begründet kein dingliches Recht an der überlassenen Sache. Ist auch der Gesellschafter insolvent, endet das Nutzungsrecht analog § 110 InsO mit Ablauf des Monats, welcher der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Gesellschafters folgt9.

6.155–6.180

Einstweilen frei.

1 BT-Drucks. 16/9737, S. 42, 56; BGH v. 29.1.2015 – IX ZR 279/13, NJW 2015, 1109 = GmbHR 2015, 420 Rz. 43 = ZIP 2015, 589. 2 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 60; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 82; Bitter, ZIP 2010, 1, 11. 3 Marotzke, ZInsO 2008, 1281, 1286; Dahl/Schmitz, NZG 2009, 325, 330; Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 91; a.A. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 135 InsO Rz. 48. 4 Habersack, ZIP 2007, 2145, 2150; G. Fischer in FS Wellensiek, 2011, S. 443, 449. 5 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 60. 6 Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 60. 7 Hirte in Uhlenbruck, § 135 InsO Rz. 22. 8 Für das alte Recht BGH v. 7.12.1998 – II ZR 382/96, BGHZ 140, 147 = GmbHR 1999, 175 = ZIP 1999, 65. Zu Recht für die Fortführung dieser Rechtsprechung Kleindiek in Kayser/Thole, § 135 InsO Rz. 61; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 135 InsO Rz. 74; a.A. Neußner in Graf-Schlicker, § 135 InsO Rz. 45; Göcke/Henkel, ZInsO 2009, 170, 172. 9 Thiessen in Bork/Schäfer, Anh. zu § 30 GmbHG Rz. 92. Zum alten Recht BGH v. 28.4.2008 – II ZR 207/06, GmbHR 2008, 761 = ZIP 2008, 1176, 1177.

222 | Brinkmann

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.182 § 6

IV. Eingriffe in Organisation und Struktur 1. Auswechselung und Abfindung von Geschäftsführern in der Unternehmenskrise a) Abberufung, Kündigung und Auswechselung Die Analysen der Insolvenzursachen bei der GmbH zeigen seit vielen Jahren, dass der Unternehmenszusammenbruch oftmals auf innerbetrieblichen Schwachstellen, nicht selten sogar persönlichem Verschulden der Geschäftsführer beruht1. Demgemäß besteht in der Krise der Gesellschaft oftmals die Notwendigkeit, die Geschäftsführung schnellstens auszuwechseln, die Anstellungsverträge zu kündigen und neue Geschäftsführer einzusetzen, um ein Vertrauen bei Banken und Lieferanten wieder herzustellen und sicherzustellen, dass die Anordnung einer beabsichtigten oder beantragten Eigenverwaltung den Umständen nach keine nachteiligen Auswirkungen auf die Gläubigerinteressen befürchten lässt (§ 270b Abs. 1 Nr. 2 InsO). Vor allem bei Großinsolvenzen werden in zunehmendem Maße renommierte Insolvenzfachleute (Insolvenzverwalter oder Sanierungsberater) in den Vorstand oder in die Geschäftsführung des Krisenunternehmens eingewechselt2. Der Sanierungs-Geschäftsführer vereinigt in sich die Kompetenz des Sanierungsberaters und die Organ-Verantwortung des Interimsmanagers3.

6.181

Zu unterscheiden ist zwischen der Organstellung und dem Anstellungsverhältnis eines Geschäftsführers4. Der „wichtige Grund“ für die Abberufung nach § 38 Abs. 2 GmbHG ist

6.182

1 Zu den sog. endogenen Krisenursachen vgl. WP-Hdb. 2014 Bd. II Kap. I Rz. 28; Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 2 Rz. 41; Reske/Brandenburg/Mortsiefer, Insolvenzursachen mittelständischer Betriebe – Eine empirische Studie, Nr. 70 der Schriften zur Mittelstandsforschung; H. Keiser, Betriebswirtschaftliche Analyse von Insolvenzen bei mittelständischen Einzelhandlungen, 1966, S. 99 ff.; Niering/Hillebrand, Wege durch die Unternehmenskrise, 4. Aufl. 2020, S. 61; Kihm in Blöse/Kihm, Unternehmenskrisen: Ursachen – Sanierungskonzepte – Krisenvorsorge – Steuern, 2006, Rz. 47 ff.; Zöller, ebd., Rz. 14; Zabel in Kübler, HRI, § 4 Rz. 39 ff.; Böckenförde, Unternehmenssanierung, S. 32 ff.; Bertl, Insolvenzursachen – Insolvenzprophylaxe – IRÄG, in Bertl, Insolvenz – Sanierung – Liquidation, Wien 1998, S. 1 ff.; H.-G. Kantner, Die nationale und internationale Insolvenzentwicklung, in B. Feldbauer-Durstmüller/Schlager, Krisenmanagement – Sanierung – Insolvenz, Wien 2002, S. 1289, 1291, 1320; Krystek, Krisenarten und Krisenursachen, in Hutzschenreuter/Griess-Nega, Krisenmanagement, 2006, S. 41, 51 ff. 2 S. AG Duisburg v. 1.9.2002 – 62 IN 167/02, ZInsO 2002, 1046, 1047; AG Köln v. 22.8.2005 – 71 IN 426/05, ZInsO 2005, 1006, 1008; Görg, Grundzüge der finanziellen Restrukturierung der Philipp Holzmann AG im Winter 1999/2000, in FS Uhlenbruck, 2000, S. 117, 123 f.; Görg/Stockhausen, Eigenverwaltung für Großinsolvenzen?, in FS Metzeler, 2003, S. 105, 111 f.; Specovius, Die Rolle des Sanierungsgeschäftsführers im Rahmen einer Eigenverwaltung mit dem Ziel der Sanierung über ein Insolvenzplanverfahren, S. 23; Hommel in Hommel/Knecht/Wohlenberg, Handbuch Unternehmensrestrukturierung, S. 104; Wuschek, ZInsO 2012, 110, 111; Thiele, ZInsO 2015, 877 ff. u. 977 ff.; Bierbach in Kübler, HRI, § 11 Rz. 179 ff.; Uhlenbruck in FS Kirchhof, 2003, S. 499; Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817, 825; Uhlenbruck, NJW 2002, 3219, 3220; Pape in Kübler/Prütting/ Bork, § 270 InsO Rz. 44 f.; Frind, ZInsO 2002, 745, 752. 3 Zutr. Loeber/Weniger, Der Sanierungs-Geschäftsführer in der Unternehmenskrise, KSI 2008, 53. S. auch Thiele, ZInsO 2015, 877 ff. u. 977 ff. Zur Organaußenhaftung analog §§ 60, 61 InsO s. Mönning in FS Kübler, 2015, S. 431 ff. u. Kebekus/Zenker in FS Kübler, S. 331 ff. 4 Vgl. BGH v. 11.10.2010 – II ZR 266/08, ZIP 2011, 122, 123 Rz. 7 = GmbHR 2011, 82; BGH v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, GmbHR 2003, 100, 101 m. Anm. Haase; Haase, GmbHR 2012, 614; Moll in FS Schwerdtner, 2003, S. 453, 545 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 25; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 33–37; Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Rz. 265 ff. S. 118 ff.; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 5 ff.

Spliedt | 223

§ 6 Rz. 6.182 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

nicht notwendig auch ein „wichtiger Grund“ für die Kündigung des Anstellungsverhältnisses nach § 626 Abs. 1 BGB (dazu Rz. 6.186). Die organschaftliche Stellung und der Anstellungsvertrag können jeweils unterschiedliche rechtliche Schicksale haben1. Aus der rechtlichen Trennung folgt, dass beide Rechtsverhältnisse (Organ- und Anstellungsverhältnis) nach den jeweiligen dafür geltenden Vorschriften beendet werden.

6.183

Mangels gesellschaftsvertraglicher anderer Regelung ist für die Abberufung eines Geschäftsführers grundsätzlich die Gesellschafterversammlung zuständig (§ 46 Nr. 5 GmbHG)2. Das gilt nicht nur für die Organstellung, sondern auch für sonstige Eingriffe in den Geschäftsführervertrag3. Während die Abberufung von Geschäftsführern gemäß § 46 Nr. 5 GmbHG grundsätzlich durch Gesellschafterbeschluss erfolgt, wird diese Befugnis bei der mitbestimmten GmbH vom Aufsichtsrat wahrgenommen (§ 31 MitbestG)4. Grundsätzlich sind im Fall eines wichtigen Grundes alle Gesellschafter verpflichtet, aufgrund ihrer Treuepflicht einer Abberufung zuzustimmen5. Die Satzung kann aber auch das Recht zur Abberufung einem einzelnen Gesellschafter anvertrauen6. Bei der GmbH & Co. KG hat die KG in der Regel keinen Einfluss auf die Abberufung des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH7.

6.184

Trotz Abberufung, Suspendierung oder Kündigung bleibt der GmbH-Geschäftsführer gemäß §§ 101, 97, 98 InsO in einem binnen zweier Jahre beantragten Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH auskunftspflichtig hinsichtlich aller das Verfahren betreffender Verhältnisse, auch wenn er selbst sein Amt niedergelegt hat. Der abberufene Geschäftsführer hat bei fortbestehendem Anstellungsverhältnis keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung in einer seiner früheren Tätigkeit vergleichbaren leitenden Funktion8.

b) Kündigung und Abberufung mit oder ohne wichtigen Grund 6.185

Nach § 38 Abs. 1 GmbHG ist die Bestellung eines Geschäftsführers zu jeder Zeit widerruflich, dies jedoch unbeschadet der Entschädigungsansprüche aus bestehenden Verträgen. § 38 Abs. 1 GmbHG gilt demnach nicht für die Beendigung des Geschäftsführervertrags9. Auch für Ge-

1 BGH v. 14.2.2000 – II ZR 218/98, ZIP 2000, 667 = GmbHR 2000, 431; BGH v. 23.1.2003 – IX ZR 39/02, ZIP 2003, 485 = GmbHR 2003, 472; Jacoby in Bork/Schäfer, § 35 GmbHG Rz. 13 u. § 38 GmbHG Rz. 8, 9; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 180. 2 Vgl. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 19; Jacoby in Bork/Schäfer, § 38 GmbHG Rz. 10 ff. Zu den „Trittbrettfahrern“ s. Schöne, ZIP 2015, 501 ff. 3 Vgl. nur BGH v. 8.1.2007 – II ZR 267/05, GmbHR 2007, 606, 607 = ZIP 2007, 910; Karsten Schmidt in Scholz, § 46 GmbHG Rz. 81. 4 Vgl. Habersack/Henssler, § 31 MitbestG Rz. 5 ff.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 46 GmbHG Rz. 24; Binz/Sorg, GmbH & Co. KG, 12. Aufl. 2018, § 14 S. 288 ff.; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 8. 5 Vgl. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 20; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 11 ff. 6 Uwe H. Schneider/Sven Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 22, 23. 7 Wenzel in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 4.24; Jacoby in Bork/Schäfer, § 38 GmbHG Rz. 14 m. Angabe abw. Meinungen. S. auch OLG München v. 19.11.2003 – 7 U 4505/03, GmbHR 2004, 587. 8 BGH v. 11.10.2010 – II ZR 266/08, ZIP 2011, 122 f.; Hess, Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2013, § 113 InsO Rz. 122; Beurskens in Noack/Servatius/Hass, § 38 GmbHG Rz. 101 f.; Kothe-Heggemann/ Schelp, GmbHR 2011, 75 ff. 9 Statt vieler Uwe-H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 2, 33.

224 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.188 § 6

sellschafter-Geschäftsführer1 ist das freie Abberufungsrecht nicht eingeschränkt2. Etwas anderes gilt auch, wenn Treuepflichten als Mitgesellschafter einer Abberufung oder Amtsniederlegung entgegenstehen3, es sei denn, dass ihm im Gesellschaftsvertrag ein Sonderrecht auf Geschäftsführung eingeräumt wurde. Besteht ein unwirksamer Anstellungsvertrag mit einem GmbH-Geschäftsführer, so sind die Grundsätze zum fehlerhaften Arbeitsverhältnis sinngemäß heranzuziehen, sodass die Geschäftsführertätigkeit für die Dauer als wirksam behandelt wird. Dagegen kann für die Zukunft der Vertrag auch ohne wichtigen Grund jederzeit aufgelöst werden4. Anders als die Abberufung nach § 38 Abs. 1 GmbHG ist eine fristlose Kündigung des Geschäftsführervertrags nur aus wichtigem Grund nach § 626 BGB möglich, wofür bloßer Vertrauensentzug ohne ein Verschulden nicht ausreicht5. Der wichtige Grund für eine außerordentliche Kündigung braucht nicht zwingend in der Person des Geschäftsführers zu liegen, sondern kann auch auf anderen Umständen beruhen, wie z.B. Reorganisation, Geschäftsrückgang oder Fusion6.

6.186

Der Gesellschaftsvertrag kann die Abberufung von einem wichtigen Grund abhängig machen (§ 38 Abs. 2 GmbHG). Solchenfalls darf der Geschäftsführer z.B. bei grober Pflichtverletzung oder Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung bzw. Unfähigkeit zur Sanierung abberufen werden (§ 38 Abs. 2 Satz 2 GmbHG). Der Gesellschaftsvertrag kann die wichtigen Gründe nicht einschränkend konkretisieren, wohl aber bestimmte Gründe als wichtig qualifizieren, die es bei objektiver Betrachtungsweise nicht sind7.

6.187

Streitig ist, ob die Überschuldung der Gesellschaft (§ 19 InsO) bzw. Verschuldung des Geschäftsführers ein wichtiger Grund für die Abberufung ist8. Der Vermögensverfall eines Geschäftsführers stellt wohl nur dann einen wichtigen Grund für die Abberufung dar, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse, vor allem eine Insolvenzeröffnung über sein Vermögen, eine

6.188

1 BSG v. 12.5.2020 – B 12 KR 30/19 R, NJW 2021, 1980. 2 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 18. 3 OLG Saarbrücken v. 10.10.2006 – 4 U 382/05–169, GmbHR 2007, 143, 150 = ZIP 2007, 870; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 18; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 2; Stephan/Tieves in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 38 GmbHG Rz. 12. 4 BGH v. 20.8.2019 – II ZR 121/16, NJW 2019, 3718 = GmbHR 2019, 1233 m. Anm. Haase = ZIP 2019, 1805. 5 Vgl. hierzu Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 71; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 5 f.; Reiserer, DB 2006, 1787 ff.; Freund, GmbHR 2010, 117, 118 f. 6 Einzelheiten bei Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 38 GmbHG Rz. 16, 23 ff.; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 13; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 34 ff.; Voigt, Die Entlassung des GmbH-Geschäftsführers aus wichtigem Grund, 2001, S. 99 ff.; Neu, Die Beendigung der Anstellungsverhältnisse von GmbH-Geschäftsführern, 2000, S. 71 f.; Freund, GmbHR 2010, 117. Zur fristlosen Kündigung des Dienstvertrages eines Geschäftsführers s. Lohr, NZG 2001, 826. 7 Vgl. Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 9; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 36; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 276a InsO Rz. 27 ff. S. auch Eckardt, Die Beendigung der Vorstands- und Geschäftsführerstellung in Kapitalgesellschaften, 1989, S. 96 ff. 8 Bejahend BGH v. 25.1.1960 – II ZR 207/57, WM 1960, 291; OLG Hamburg v. 27.8.1954 – 1 U 395/53, BB 1954, 978; einschränkend Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 21; verneinend Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 16; bejahend für die Eröffnung eines Verbraucherinsolvenzverfahrens OLG Stuttgart v. 26.10.2005 – 14 U 50/05, GmbHR 2006, 1258 m. Anm. Dollmann.

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§ 6 Rz. 6.188 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

ordnungsgemäße Erfüllung seiner Aufgaben nicht mehr gewährleisten1. Ist die Zulässigkeit des Widerrufs nicht gemäß § 38 Abs. 2 Satz 1 GmbHG auf wichtige Gründe beschränkt, führt die freie Widerruflichkeit (§ 38 Abs. 1 GmbHG) dazu, dass im Einzelfall die Abberufung auch in der Krise aus „offenbar unsachlichen Gründen“ ausgesprochen werden kann2.

c) Wichtige Gründe für eine Abberufung in der Unternehmenskrise 6.189

Die Gründe, die zur Krise der Gesellschaft geführt haben, sind oftmals wichtige Gründe i.S. von § 38 Abs. 2 GmbHG3, vor allem, wenn sie zu einem Vertrauensverlust bei den Gesellschaftern, Mitarbeitern und Geschäftspartnern geführt haben4. Ein wichtiger Grund für die Abberufung ist u.a. gegeben, wenn der Geschäftsführer pflichtwidrig oder gar schuldhaft gehandelt hat und der Gesellschaft durch dieses Verhalten ein existenzgefährdender Schaden entstanden ist5. Wichtige Gründe sind beispielsweise die Weigerung, Gesellschafterweisungen nachzukommen6, Fälschung von Buchungsunterlagen, langjährige Bilanzmanipulationen, Steuerhinterziehung, zerrüttete Vertrauensbasis7 sowie schuldhafte Insolvenzverschleppung (§ 15a InsO)8. Die Forderung der Hausbank, einen Geschäftsführer abzuberufen, andernfalls eine für die GmbH oder GmbH & Co. KG lebenswichtige Kreditlinie nicht verlängert werde, kann bei Insolvenzreife der Gesellschaft ein wichtiger Grund für eine Abberufung des Geschäftsführers sein9. Auf ein Verschulden kommt es nicht immer an10. Ein wichtiger Grund kann auch der Verstoß gegen § 49 Abs. 3 GmbHG (Einberufungspflicht) sein, vor allem, wenn den Gesellschaftern durch die Unterlassung rechtzeitiger Information die Möglichkeit genommen wurde, frühzeitig Sanierungsmaßnahmen einzuleiten11. Es kommt letztlich eine Vielzahl von Sachverhalten in Betracht, die sich unter Berücksichtigung der gesamten Umstände als Grund für eine Abberufung ergeben12. So kann z.B. schon der Verlust des Vertrau1 Vgl. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 48; Jacoby in Bork/Schäfer, § 38 GmbHG Rz. 36. 2 Zum (einstweiligen) Rechtsschutz in Abberufungsstreitigkeiten s. Liebscher/Alles, ZIP 2015, 1, 4 f.; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 62 ff.; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/ J Schmidt, § 38 GmbHG Rz. 72 ff., 75 ff. 3 Vgl. Jacoby in Bork/Schäfer, § 38 GmbHG Rz. 10 ff. 4 Vgl. Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 40 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 20 ff.; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 12.; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/ J. Schmidt, § 38 GmbHG Rz. 48 ff.; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 21 f.; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 38 GmbHG Rz. 62 f.; Freund, GmbHR 2010, 117. 5 Vgl. OLG Düsseldorf v. 30.6.1988 – 6 U 310/87, NJW 1989, 172 = GmbHR 1988, 484; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 21 f.; Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 59. 6 BGH v. 20.8.2019 – II ZR 121/16, NJW 2019, 3718 = GmbHR 2019, 1233 m. Anm. Haase = ZIP 2019, 1805. 7 Einzelheiten bei Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 38; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 43, 46 mit Einzelfällen Rz. 49 ff. 8 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 49 unter Berufung auf BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, DStR 2005, 1370 = GmbHR 2005, 1049 m. Anm. Haase/Sommermeyer = ZIP 2005, 1365. 9 So BGH v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125 für das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft. 10 Vgl. Picker, GmbHR 2011, 629 ff. (Krankheit); Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 59; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 35. 11 Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 49 GmbHG Rz. 22; Haas, Geschäftsführerhaftung und Gläubigerschutz, 1997, S. 123 ff. u. S. 151 ff.; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 37 f.; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 38 GmbHG Rz. 54 ff. 12 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 49b u. Einzelfälle Rz. 47 ff.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.192 § 6

ens von Kunden und Kreditgebern in die Person des Geschäftsführers ausreichen, selbst wenn dieser keinen Grund hierfür gesetzt hat1.

Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Geschäftsführer und den Gesellschaftern über schwebende, nicht ganz aussichtslose Sanierungsbemühungen und Insolvenzantragspflicht reichen für eine Abberufung ohne wichtigen Grund nach § 38 Abs. 1 GmbHG aus, sind aber nicht ohne Weiteres ein „wichtiger Grund“ nach § 38 Abs. 2 GmbHG bzw. § 626 BGB. Meint der GmbH-Geschäftsführer, wegen Vorliegens eines Insolvenzgrundes für die Gesellschaft Insolvenzantrag stellen zu müssen, so sind entgegenstehende Weisungen der Gesellschafter für ihn nicht verbindlich, denn die Insolvenzantragspflicht ist eine öffentliche Pflicht, hinsichtlich derer die Gesellschafter keine bindenden Weisungen erteilen können2. Das Einverständnis der Gesellschafter oder Gläubiger mit einer Insolvenzverschleppung lässt die Pflichten aus § 15 InsO nicht entfallen. Etwas anderes gilt bei Niederlegung des Amtes als Geschäftsführer oder Liquidator3.

6.190

Der wichtige Grund für eine Abberufung eines Gesellschafter-Geschäftsführers entscheidet bei Existenz einer entsprechenden Klausel in der Satzung zugleich auch über seinen Ausschluss als Gesellschafter4.

6.191

d) Die Abberufung von Geschäftsführern mit Sonderrechten Bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer mit Geschäftsführungssonderrechten5 reicht ein wichtiger Grund allein für eine Abberufung in der Unternehmenskrise nicht aus (§ 38 Abs. 2 GmbHG, § 35 BGB). Vielmehr ist zu prüfen, ob im Einzelfall nicht die Reduzierung auf mildere Mittel, wie z.B. Herabstufung „Zölibatsgeschäftsführer“ als Reduzierung auf die Wahrnehmung der obligatorischen Mindestaufgaben nach § 41, § 43 Abs. 3, § 49 Abs. 3 GmbHG, § 15a Abs. 1 InsO in Betracht kommen6. Hat ein Gesellschafter ein gesellschaftsvertragliches Geschäftsführer-Sonderrecht, so muss er auch in der Krise der GmbH seiner Abberufung 1 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 52; anders BGH v. 25.1.1960 – II ZR 207/57, WM 1960, 289, 292; s. auch Grunewald, Die Abberufung von Gesellschafter-Geschäftsführern in der GmbH, in FS Zöllner, 1998, S. 177; Westermann/Pöllath, Abberufung und Ausschließung von Gesellschaftern/Geschäftsführern in Personengesellschaften und GmbH, 4. Aufl. 1988. 2 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 84 u. § 37 GmbHG Rz. 5; Bitter in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 262.; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 87; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370. 3 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 161/79, BGHZ 78, 82, 93 = GmbHR 1980, 273 = ZIP 1980, 768; Bitter in Scholz, § 64 GmbHG Rz. 261 f.; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 64 Rz. 15; Palzer, Fortwirkende organschaftliche Pflichten des Geschäftsführers der GmbH, 2001, S. 236. 4 Liebscher/Alles, ZIP 2015, 1, 4. S. auch Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 36. Zur Abberufung im eröffneten Insolvenzverfahren s. OLG Hamm v. 2.9.2014 – 27 W 97/14, GmbHR 2015, 143. 5 S. hierzu BGH v. 6.3.2012 – II ZR 76/11, ZIP 2012, 824, 826 = GmbHR 2012, 638; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 Rz. 10; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 6 GmbHG Rz. 69; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 41 f. 6 Vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 10, 23; § 37 GmbHG Rz. 39; Lutter, ZIP 1986, 1196; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 41 f.; Lutter in FS Schwartz, 2009, S. 271 ff.; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 20 f.; kritisch Belz in Rowedder/Pentz, § 37 GmbHG Rz. 18 ff.; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 38 GmbHG Rz. 53. Zum Schadensersatzanspruch des Geschäftsführers bei fristloser Eigenkündigung wegen Einschränkung seiner Kompetenzen s. BGH v. 6.3.2012 – II ZR 76/11, ZIP 2012, 824 = GmbHR 2012, 638.

Spliedt | 227

6.192

§ 6 Rz. 6.192 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

zustimmen. Bei Sonderrechten ist die Abberufung ohne Zustimmung nur aus besonders wichtigem Grund zulässig, wie z.B. bei Unfähigkeit, grober Pflichtverletzung1, bei Fälschung von Belegen2 oder bei Verlangen der Hausbank3.

e) Formalien 6.193

Ist der abzuberufende Geschäftsführer gleichzeitig Gesellschafter, hat er bei der Beschlussfassung über eine Abberufung ohne wichtigen Grund (§ 38 Abs. 1 GmbHG) ein Stimmrecht bei der Beschlussfassung, dagegen kein Stimmrecht bei der Abberufung aus wichtigem Grund nach § 38 Abs. 2 GmbHG (§ 47 Abs. 4 GmbHG)4. Er ist aber berechtigt, gegen den Beschluss der Gesellschafterversammlung, der seine Kündigung beinhaltet, Anfechtungsklage zu erheben. Schon vor der Erhebung einer Anfechtungsklage kann ein Gesellschafter-Geschäftsführer einstweiligen Rechtsschutz gegen seine Abberufung beantragen5.

6.194

In Ausnahmefällen ist in der Abberufungserklärung zugleich auch die Kündigung des Anstellungsvertrages zu sehen6. Um Unklarheiten zu vermeiden, sollten beide Erklärungen jedoch voneinander getrennt werden. Grundsätzlich enthält die Abberufung mit sofortiger Wirkung nicht zugleich auch die Erklärung, der Anstellungsvertrag werde außerordentlich gekündigt7. In einer Kündigungserklärung ist, vor allem bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer, nicht unbedingt eine konkludente Abberufung enthalten8. Im Geschäftsführervertrag kann die Abberufung als Geschäftsführer als eine auflösende Bedingung für das Anstellungsverhältnis vereinbart werden9. Allerdings dürfen durch eine Kopplung zwischen Abberufung und Beendigung des Anstellungsvertrages die Mindestkündigungsfristen des § 622 Abs. 1 BGB 1 2 3 4

5 6 7 8

9

BGH v. 10.9.2001 – II ZR 14/00, GmbHR 2001, 1158 m. Anm. Teigelkötter. Vgl. auch Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 10. BGH v. 23.10.2006 – II ZR 298/05, ZIP 2007, 119 = AG 2007, 125. BGH v. 27.4.2009 – II ZR 167/07, GmbHR 2009, 770 m. Anm. Podewils; BGH v. 21.6.2010 – II ZR 230/08, GmbHR 2010, 977 m. Anm. Münnich; BGH v. 24.2.1992 – II ZR 79/91, ZIP 1992, 760 = GmbHR 1992, 299. S. Eckardt/van Zwoll, Der Geschäftsführer der GmbH, 2004, 1.2.1.2 S. 35; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 46 u. § 6 GmbHG Rz. 133; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 17 ff.; Grunewald in FS Zöllner, 1998, Bd. I, S. 177, 183; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 17, 17a; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 35, 41. Beyer, GmbHR 2001, 467; Littbarski, DStR 1994, 906; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 75 ff.; Lutz, BB 2000, 833; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 5, 36 ff. Vgl. OLG Hamburg v. 28.6.1991 – 11 U 148/90, GmbHR 1992, 43, 48; Baums, Der Geschäftsleitervertrag, 1987, S. 288 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 44; Bauer/Diller, GmbHR 1998, 809, 810. So Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Rz. 267 sub 1. S. 120; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 6, 7; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 34. Vgl. BGH v. 24.11.1980 – II ZR 182/79, BGHZ 79, 38, 41 = AG 1981, 73 = ZIP 1981, 45; BGH v. 21.9.1981 – II ZR 104/80, NJW 1982, 383 = AG 1982, 72 = GmbHR 1982, 133; OLG Frankfurt v. 18.2.1994 – 10 U 16/93, GmbHR 1994, 549; s. auch Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 85, 86 ff.; Freund, GmbHR 2010, 117, 118; Eckardt, Die Beendigung der Vorstands- und Geschäftsführerstellung in Kapitalgesellschaften, 1989; Voigt, Die Entlassung des GmbH-Geschäftsführers aus wichtigem Grund, 2001, S. 79 ff. Vgl. BGH v. 28.5.1990 – II ZR 245/89, GmbHR 1990, 345, 346; Bauer/Diller, GmbHR 1998, GmbHR 1998, 809, 810; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 44; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 69; Baums, Der Geschäftsleitervertrag, 1987, S. 288 ff.; Eckardt, Die Beendigung der Vorstands- und Geschäftsführerstellung in Kapitalgesellschaften, 1989, S. 147 ff.; Eckardt, AG 1989, 431 ff.; Goette, DStR 1999, 1745 f.; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 45;

228 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.196 § 6

nicht unterlaufen werden. Für den Unternehmer-Geschäftsführer und einen nicht erheblich beteiligten GmbH-Geschäftsführer gilt die kürzere Frist gemäß § 621 Nr. 3 BGB1, da es für die analoge Anwendung des § 622 BGB an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Die Kündigung des Fremd-Geschäftsführers durch die Gesellschaft aus wichtigem Grund kann auch in der Krise der GmbH nur innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des für die außergerichtliche Kündigung maßgeblichen Sachverhalts erfolgen (§ 626 Abs. 2 BGB). Die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB beginnt nicht vor der Beendigung des pflichtwidrigen Dauerverhaltens2. Die Frist für die außerordentliche Kündigung eines GmbH-Geschäftsführers beginnt erst ab Kenntnis des zuständigen Gesellschaftsgremiums vom Kündigungsgrund3. Zwar genügt dafür nach Auffassung des BGH die Verletzung des § 15a Abs. 1 InsO (§ 64 Abs. 1 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F.) für sich allein nicht; maßgebend ist vielmehr, ob der Gesellschaft unter Berücksichtigung aller Umstände die Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses wegen der Pflichtverletzung nicht mehr zugemutet werden kann4. Das Nachschieben von Kündigungsgründen durch die Gesellschafter ist zulässig5. Eine vorherige Abmahnung ist nicht erforderlich6. Für eine Verdachtskündigung gelten Besonderheiten7. Offenkundige Verdachtsmomente können aber zu einer Suspendierung führen.

6.195

f) Prozessfragen Gegen einen mangels fristgerechter Anfechtung gesellschaftsrechtlich verbindlichen Abberufungsbeschluss der Gesellschafterversammlung einer GmbH kann sich ein abberufener

1

2 3 4 5

6

7

Freund, GmbHR 2010, 117, 118. Zur Beendigung des Dienstvertrages durch Verlust der Organstellung s. OLG Saarbrücken v. 8.5.2013 – 1 U 154/12–43, GmbHR 2013, 758. BAG v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, NJW 2020, 2824; BGH v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, BGHZ 79, 291, 293 = GmbHR 1981, 158; OLG Hamm v. 27.1.1992 – 8 U 200/91, ZIP 1992, 418 = GmbHR 1992, 378; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 38 GmbHG Rz. 37 f.; Schrader/Schubert, BB 2007, 1617 ff.; offen lassend Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 473; str., a.A. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 53 und Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 133, die unter Berufung auf BGH v. 26.3.1984 – II ZR 120/83, BGHZ 91, 217, 220 = NJW 1984, 2528 § 622 BGB unabhängig von der Beteiligung oder Beherrschung anwenden. S. zur Rechtsprechungsdivergenz von BGH und BAG, Uffmann, NJW 2020, 3210 ff. So BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, NZG 2005, 1714, 1716 = GmbHR 2005, 1049 m. Anm. Haase/ Sommermeyer. BGH v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, ZIP 2013, 971 = GmbHR 2013, 645 m. Anm. Brötzmann. Zur Kündigung des Geschäftsführers einer Komplementär-GmbH in der Einheits-KG s. OLG Hamburg v. 22.3.2013 – 11 U 27/12, ZIP 2013, 881 = GmbHR 2013, 580 m. Anm. Haase. Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe, § 38 GmbHG Rz. 79 ff.; Freund, GmbHR 2010, 117, 119. BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, NZG 2005, 714, 716 = ZIP 2005, 1365, 1367 = GmbHR 2005, 1049 m. Anm. Haase/Sommermeyer; BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, BGHZ 75, 209, 211 = GmbHR 1980, 27; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 126; Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 44; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 63; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 35 GmbHG Rz. 127. BGH v. 2.7.2007 – II ZR 71/06, GmbHR 2007, 936 ff. = AG 2007, 699; BGH v. 14.2.2000 – II ZR 218/98, GmbHR 2000, 431 = ZIP 2000, 667; BGH v. 10.9.2001 –II ZR 14/00, GmbHR 2001, 1158; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 525 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 61a; Uwe H. Schneider, GmbHR 2003, 1 ff.; Freund, GmbHR 2010, 117, 118. BAG v. 10.2.2005 – 2 AZR 189/04, NZA 2015, 1056 f.; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 504; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 76; Tschöpe/Wortmann, NZG 2009, 161, 163; J. Koch, ZIP 2005, 1621 ff.; str., a.A. OLG Celle v. 5.3.2003 – 9 U 111/02, GmbHR 2003, 773; Beurskens in Noack/Servatius/Haas § 38 GmbHG Rz. 121; Teigelkötter, GmbHR 2001, 1160 f.

Spliedt | 229

6.196

§ 6 Rz. 6.196 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Fremdgeschäftsführer nicht mit der allgemeinen Feststellungsklage (§ 256 ZPO), gerichtet auf Feststellung der Unwirksamkeit des Beschlusses, wehren. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Beschluss nichtig ist1.

6.197

Eine Klage ist auch in den Grenzen einer Verwirkung zulässig2. Zweifelhaft ist, welcher Rechtsweg für Klagen (ehemaliger) GmbH-Geschäftsführer gegen die Gesellschaft gegeben ist. Das BAG hat in zwei aktuellen Entscheidungen3 festgestellt, dass der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nur dann ausgeschlossen ist, wenn der Geschäftsführer noch nicht abberufen ist oder sein Amt als Geschäftsführer noch nicht niedergelegt hat4. Nach ständiger Rechtsprechung des BAG und des BGH ist auch hier zu unterscheiden zwischen der Organstellung und dem zugrundeliegenden freien Dienstverhältnis. Auf letzteres finden die §§ 611 ff. BGB Anwendung, so dass es sich nicht um ein Arbeitsverhältnis handelt mit der Folge, dass die ordentlichen Gerichte zuständig sind5. Mit der Beendigung des der Organbestellung zu Grunde liegenden Dienstverhältnisses wird dieses nicht etwa automatisch zum Arbeitsverhältnis6.

6.198

Als inzwischen geklärt7 angesehen werden kann, dass für Klagen von und gegen den Geschäftsführer wegen Ansprüchen aus dem Geschäftsführervertrag der Zivilrechtsweg einschlägig ist, weil er nicht als arbeitnehmerähnliche Person anzusehen ist, sodass derartige Begründungen nicht zur Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 ArbGG führen8. Für einen Rechtsstreit zwischen dem Vertretungsorgan und der juristischen Person ist trotz der Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gegeben, wenn die Klagepartei Ansprüche aus einem auch während der Zeit als Geschäftsführer nicht aufgehobenen Arbeitsverhältnis nach Abberufung als Organmitglied geltend macht9. Nach Auffassung des BAG10 ist der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen auch dann gegeben, wenn ein Geschäftsführer erst nach Zustellung einer Kündigungsschutzklage abberufen wird, sofern nicht vorher eine rechtskräftige Entscheidung über die Rechtswegzuständigkeit ergeht.

6.199

Ob der Geschäftsführer gegen seine Abberufung Rechtsschutz im Wege der einstweiligen Verfügung suchen kann, ist umstritten11. Mit dem Zugang der Abberufungserklärung wird die Abberufung wirksam, so dass die Geschäftsführungsbefugnisse erlöschen. Vor allem im Hinblick auf die Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 Satz 1 InsO), die keinen Aufschub duldet, genießt ein abberufener Geschäftsführer nur beschränkten Rechtsschutz. Etwas anderes 1 BGH v. 11.2.2008 – II ZR 187/06, GmbHR 2008, 426; OLG Stuttgart v. 19.12.2012 – 14 U 10/12, GmbHR 2013, 414. S. auch Freund, GmbHR 2010, 117, 122. 2 Vgl. Freund, GmbHR 2010, 117, 122. Zum einstweiligen Rechtsschutz im GmbH-Recht s. Liebscher/Alles, ZIP 2015, 4 ff. 3 BAG v. 22.10.2014 – 10 AZB 46/14, GmbHR 2015, 27 m. Anm. Pröpper, BAG v. 3.12.2014 – 10 AZB 98/14, GmbHR 2015, 250 m. Anm. Haase. 4 Vgl. Graef/Heilemann, Das Bundesarbeitsgericht und der GmbH-Geschäftsführer – eine Rechtsprechungsanalyse, GmbHR 2015, 225 ff. 5 Vgl. BGH v. 8.1.2007 – II ZR 267/05, GmbHR 2007, 606 = ZIP 2007, 910; BAG v. 21.2.1994 – 2 AZB 28/93, GmbHR 1994, 547 = ZIP 1994, 1044. 6 BGH v. 8.1.2007 – II ZR 267/05, GmbHR 2007, 606 = ZIP 2007, 910. 7 Anders noch Hützen, EWiR 5/2015, 163 f.; vgl. auch BAG v. 10.12.1996 – 5 AZB 20/96, ZIP 1997, 690; Lunk, NZA-RR 2019, 406. 8 BAG v. 21.1.2019 – 9 AZB 23/18, NZA 2019, 490 = GmbHR 2019, 538 = ZIP 2019, 808. 9 BAG v. 26.10.2012 – 10 AZB 60/12, ZIP 2013, 335 = GmbHR 2013, 83 m. Anm. Haase. 10 BAG v. 22.10.2014 – 10 AZB 46/14, GmbHR 2015, 27 = NZA 2015, 60 = ZIP 2015, 98. 11 Vgl. Heller, GmbHR, 2002, 1227, 1231; Littbarski, DStR 1994, 906; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 36 ff.; Freund, GmbHR 2010, 117, 122.

230 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.202 § 6

gilt aber, wenn einem abberufenen Geschäftsführer Sonderrechte zustehen oder wenn er einen wesentlichen Gesellschaftsanteil hält1. Die Rechtsprechung lässt in diesen Fällen weitgehend einstweiligen Rechtsschutz zu2.

Besteht Streit über die Wirksamkeit der Abberufung eines GmbH-Geschäftsführers, kann durch einstweilige Verfügung ein Tätigkeitsverbot und ein Verbot der Ausübung der Organtätigkeit ausgesprochen werden, wenn glaubhaft gemacht ist, dass wichtige Gründe für eine sofortige Abberufung des Geschäftsführers vorlagen und die Abberufung wirksam beschlossen worden ist3.

6.200

g) Amtsniederlegung in der Unternehmenskrise Die Niederlegung des Geschäftsführeramtes ist grundsätzlich auch in der Unternehmenskrise zulässig und sofort wirksam, wenn nicht ein Fall des Rechtsmissbrauchs oder eine Niederlegung zur Unzeit gegeben ist4. Selbst die Amtsniederlegung des alleinigen Gesellschafter-Geschäftsführers im eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft ist nur dann missbräuchlich, wenn kein neuer Geschäftsführer bestellt wird5. Letztlich beurteilt sich die Frage, ob eine Amtsniederlegung in der Unternehmenskrise zur Unzeit erfolgt oder missbräuchlich ist, nach einer sorgfältigen Abwägung der Interessen der Gesellschaft und des Gläubigerschutzes. Eine missbräuchliche Amtsniederlegung zur Unzeit liegt entgegen früher vertretenen Auffassungen6 nicht schon dann vor, wenn die GmbH durch die Niederlegung geschäftsführerlos wird oder wenn sich der Geschäftsführer hierdurch seinen verfahrensrechtlichen Pflichten zu entziehen sucht, denn der MoMiG-Gesetzgeber hat dem durch die Regelungen in den § 35 Abs. 1 GmbHG, §§ 10, 15 Abs. 1, § 15a Abs. 3, §§ 20, 101 Abs. 1 Satz 2, 3 InsO vorgebeugt7. Allerdings kann sich ein Geschäftsführer durch Abberufung oder Amtsniederlegung nicht der Verantwortung für begangene Pflichtverletzungen entziehen8.

6.201

Der Geschäftsführer sollte trotz seines weitgehenden Rechts zur Amtsniederlegung triftige Gründe anführen, um dem Vorwurf einer organschaftlichen Treuepflichtverletzung zu entgehen. Aufgrund seiner Treuepflicht kann insbesondere ein niederlegender Gesellschafter-Geschäftsführer verpflichtet sein, für Notmaßnahmen Sorge zu tragen9. Der ausgeschiedene Ge-

6.202

1 Einzelheiten bei Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 72 ff.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 36 ff. 2 BGH v. 20.12.1982 – II ZR 110/82, BGHZ 86, 177, 183 = GmbHR 1983, 149; OLG Hamm v. 7.10.1992 – 8 U 75/92, GmbHR 1993, 743; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 78. 3 OLG München v. 10.12.2012 – 23 U 4354/12, GmbHR 2013, 714; OLG München v. 17.1.2013 – 23 U 4421/12, GmbHR 2013, 369. 4 Vgl. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 90; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 104; Link, Die Amtsniederlegung durch Gesellschaftsorgane, 2003, S. 159 ff.; Gundlach in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 7 S. 208 ff.; Uhlenbruck, NZI 2002, 401, 403. 5 So zutr. OLG Frankfurt v. 11.11.2014 – 20 W 317/11, GmbHR 2015, 363 = ZIP 2015, 478. S. auch OLG Düsseldorf v. 6.12.2000 – 3 Wx 393/00, GmbHR 2001, 144; OLG München v. 16.3.2011 – 31 Wx 69/11, BB 2011, 1105 u. OLG München v. 29.5.2012 – 31 Wx 188/12, DNotZ 2012, 795. 6 Vgl. Trölitzsch, GmbHR 1995, 857, 859 f.; Uhlenbruck, NZI 2002, 401 ff. 7 Zutr. Gundlach in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 7 S. 208 ff.; Terlau in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 38 GmbHG Rz. 84. 8 Gundlach in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 7 S. 208 ff. 9 BGH v. 8.2.1993 – II ZR 58/92, BGHZ 121, 257 = AG 1993, 280 = GmbHR 1993, 216. S. auch BGH v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, ZIP 2010, 2444 = GmbHR 2011, 83 m. Anm. Münnich; OLG

Spliedt | 231

§ 6 Rz. 6.202 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

schäftsführer ist z.B. verpflichtet, seine Mitgeschäftsführer oder seinen Nachfolger im Amt über die Insolvenzantragspflicht zu informieren. Nicht dagegen muss er sie zur Stellung eines Insolvenzantrages anhalten1. Ein Geschäftsführer verletzt jedenfalls seine aus dem Anstellungsvertrag resultierende Treuepflicht, wenn er sein Amt innerhalb der gesetzlichen Fristen des § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO niederlegt, oder wenn er sich abberufen lässt, um seiner Insolvenzantragspflicht zu entgehen2.

h) Suspendierung (Freistellung) von Geschäftsführern 6.203

Eine nur vorläufige Amtsenthebung (Suspendierung, Freistellung) ist keine Abberufung, sondern als Eilmaßnahme nur eine Anordnung der Gesellschafter, dass sich der Geschäftsführer ab sofort jeglicher Ausübung seines Amtes zu enthalten hat3. Überwiegend wird in der Literatur4 die Auffassung vertreten, dass eine echte Suspendierung bzw. vorläufige Amtsenthebung durch die Gesellschafter unzulässig ist. Die GmbH könne mit einem Geschäftsführer aber vereinbaren, dass er nach einer Kündigung bis zum Ausscheiden von der Geschäftsführertätigkeit freigestellt wird5. Bejaht man die Zulässigkeit einer einseitigen Suspendierung, müssen im Einzelfall schwerwiegende Gründe vorliegen, die eine als Eilmaßnahme sofortige Beendigung der Geschäftsführertätigkeit erfordern6, z.B. wenn strafbare Handlungen eines Geschäftsführers aufgedeckt werden, durch die die GmbH geschädigt oder gar ruiniert worden ist. Eine vorläufige Amtsenthebung (Suspendierung) kann auch angezeigt sein, wenn ein Geschäftsführer aus Sorge vor einer Insolvenzverschleppungshaftung Insolvenzantrag zu stellen beabsichtigt, während das Vorliegen eines Insolvenzgrundes von den Gesellschaftern oder/und Mitgeschäftsführern mit guten Gründen verneint wird. Der suspendierte Geschäftsführer ist nicht mehr berechtigt oder verpflichtet, einen Insolvenzantrag für die GmbH zu stellen7. Zu seinem Schutz wird man in diesen Fällen auf eine Suspendierung nicht verzichten können8.

1 2

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Düsseldorf v. 6.12.2000 – 3 WX 393/00, ZInsO 2001, 323; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 77 ff. Krit. Palzer, GmbHR 2001, 53 ff.; Link, Die Amtsniederlegung durch Gesellschaftsorgane, 2003, S. 159 ff. BGH v. 14.7.1980 – II ZR 161/79, BGHZ 78, 82, 92 = GmbHR 1980, 270 = ZIP 1980, 768; BGH v. 8.2.1993 – II ZR 58/92, BGHZ 121, 257, 262 = GmbHR 1993, 216 = ZIP 1993, 430; Haas/Ziemons in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 42 GmbHG Rz. 93a; Kleindiek in Kayser/Thole, § 15a InsO Rz. 40. Vgl. Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Rz. 214 S. 90; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 94, 95; Neu, Die Beendigung der Anstellungsverhältnisse der GmbHGeschäftsführer, 2000, S. 143 ff. So z.B. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 38 GmbHG Rz. 39; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 32; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 94 f.; Neu, Die Beendigung des Anstellungsverhältnisses von GmbH-Geschäftsführern, 2000, S. 146 ff.; a.A. Altmeppen, § 38 GmbHG Rz. 74 f. Vgl. OLG Düsseldorf v. 28.12.1984 – 8 U 64/84, EWiR § 35 GmbHG 1/85, 299 (Semler); Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 38 GmbHG Rz. 95. Vgl. Vollmer, GmbHR 1984, 5, 11. Vgl. Palzer, Fortwirkende organschaftliche Pflichten des Geschäftsführers der GmbH, 2001, S. 236; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 93. Zur Schadensersatzpflicht wegen verfrühten Insolvenzantrags (§ 43 Abs. 2 GmbHG) s. Goette in FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 123, 137; Meyke, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 5. Aufl. 2007, Rz. 102 S. 54.

232 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.206 § 6

i) Die Rechtsstellung des Sanierungs-Geschäftsführers aa) Ein eingewechselter Sanierungs-Geschäftsführer ist echter Geschäftsführer. Er ist damit allen rechtlichen Risiken eines Geschäftsführers ausgesetzt, z.B. aus § 64 GmbHG a.F. bzw. § 15b InsO n.F.1, § 266a StGB oder § 283c StGB2. Der Sanierungs-Geschäftsführer erlangt im Schutzschirmverfahren oder in der Eigenverwaltung nicht den Status eines Insolvenzverwalters mit entsprechender Honorierung nach der InsVV. Er unterliegt den gesetzlichen Insolvenzantragspflichten wie jeder andere Vorstand oder Geschäftsführer. Überhöhte Vergütungen laufen in einem später eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH Gefahr, nach den §§ 129 ff. InsO angefochten zu werden (vgl. sinngemäß Rz. 6.206).

6.204

bb) Maßgebliche Haftungsgrundlage für die schuldhafte Verletzung von Organpflichten bleibt § 43 GmbHG oder die Verletzung dienstvertraglicher Pflichten. Da der eingewechselte Geschäftsleiter nicht in die Position eines Insolvenzverwalters überwechselt, scheidet eine Haftung nach §§ 60, 61 InsO aus3.

6.205

j) Abfindungsvereinbarungen und Anfechtungsrisiko Die einvernehmliche Beendigung des Anstellungsvertrages durch Aufhebungsvertrag ist jederzeit möglich4. § 623 BGB, wonach der Auflösungsvertrag zu seiner Wirksamkeit der Schriftform bedarf und die elektronische Form ausgeschlossen ist, findet auf den Aufhebungsvertrag keine Anwendung5. Im Rahmen einer einvernehmlichen Beendigung können alle offenen und streitigen Punkte geregelt werden, z.B. Abfindung, Urlaub, Niederlegung des Geschäftsführeramtes sowie die Niederlegung weiterer Ämter, die mit der Stellung als Geschäftsführer verbunden sind6. Wird einvernehmlich eine Abfindung als Entschädigung für die vorzeitige Beendigung des Anstellungsvertrages vereinbart, besteht die Gefahr, dass in einem späteren Insolvenzverfahren der Insolvenzverwalter die Abfindungszahlung nach den §§ 129 ff. (§§ 131, 133) InsO anficht7. Es liegt insoweit kein Bargeschäft i.S. von § 142 InsO vor. Soweit Rückzahlungen auf den Gesellschaftsanteil erfolgt sind, ergibt sich eine Rückzahlungspflicht 1 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 2 Vgl. Thiele, ZInsO 2015, 877 ff. u. 977 ff.; Jacoby, Die Haftung des Sanierungsgeschäftsführers in der Eigenverwaltung, in FS Vallender, 2015, S. 261 ff.; Loeber/Weniger, KSI 2008, 53, 56; Fechner/ Kober, Praxis der Unternehmenssanierung, 2004, S. 305 ff. Zu den Haftungsrisiken s. Uhlenbruck in FS Görg, 2010, S. 515 ff. 3 Vgl. Hofmann, Eigenverwaltung, Rz. 482 ff., S. 147 ff.; Hofmann, Die Eigenverwaltung in der Insolvenz, 2006, S. 99 ff.; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, 2014, Rz. 434 ff., 498, S. 125 ff.; Uhlenbruck in FS Kirchhof, 2003, S. 479, 500; Flöther in Kübler, HRI, § 18 Rz. 8, 9; A. Schmidt/Poertzgen, NZI 2013, 369; Siemon/Klein, ZInsO 2012, 2009; Thole/Brünkmans, ZIP 2013, 1097 ff., die die Vorschrift des § 60 Abs. 1 InsO über die Verweisung des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO auch auf den Schuldner im Eigenverwaltungsverfahren für anwendbar halten. 4 Vgl. Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 138 f.; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 146 f.; Belz in Rowedder/Pentz, § 38 GmbHG Rz. 38. 5 Vgl. Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 38 GmbHG Rz. 146 f.; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 456; Neu, Die Beendigung der Anstellungsverhältnisse von GmbH-Geschäftsführern, 2000, S. 134 ff. 6 Tebben in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 6 GmbHG Rz. 247 unter Berufung auf BGH v. 1.2.1993 – II ZR 1/92, DB 1993, 875 = ZIP 1993, 434. 7 Zur Beschränkung des Schadensersatzanspruchs eines unkündbaren GmbH-Geschäftsführers bei Kündigung in der Insolvenz (Verfrühungsschaden) s. BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829.

Spliedt | 233

6.206

§ 6 Rz. 6.206 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

unter den Voraussetzungen der § 30 Abs. 1 Satz 1, § 31 Abs. 1 GmbHG. Maßgebend für einen Verstoß gegen diese Vorschriften sind nicht die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft im Zeitpunkt der Abfindungsvereinbarung, sondern die im Zeitpunkt der Abfindungsauszahlung1. Die Stundung des Abfindungsanspruchs eines Gesellschafters entspricht bei einer über einen Monat hinausgehenden Dauer dem eines Darlehen i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und ist deshalb in einem Insolvenzverfahren nachrangig, bzw., wenn Zahlung und Gesellschaftereigenschaft erst im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag zusammenfallen, gemäß § 135 InsO anfechtbar. Das gilt auch für gestundete Abfindungen, die ihren Rechtsgrund ausschließlich im Anstellungsvertrag haben. Der Anfechtungsanspruch kann mit einem Schadensersatzanspruch z.B. nach § 64 Satz 1 GmbHG a.F.2 bzw. § 15b InsO n.F. gegen den GmbH-Geschäftsführer konkurrieren (dazu Rz. 23.9 f.)3. War eine Abfindung bereits im Anstellungsvertrag vereinbart, empfiehlt sich in der Krise der GmbH die Prüfung, ob es sich insoweit um eine unzulässige und damit nichtige Vereinbarung handelt, die die Kündigung aus wichtigem Grund erschwert4. Ein tarifvertraglicher Abfindungsanspruch ist selbst dann bloße Insolvenzforderung, wenn die Kündigung nach Verfahrenseröffnung erfolgt5. Eine unzulässige Einschränkung des Kündigungsrechts aus § 626 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn der Anstellungsvertrag für den Fall der Kündigung des Vertrages aus wichtigem Grund eine Abfindung vorsieht6. Daneben haften gemäß § 64 Satz 3 GmbHG a.F.7 bzw. § 15b InsO n.F. die Mitgeschäftsführer der GmbH für Zahlungen an Gesellschafter-Geschäftsführer, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten und sie sich nicht exkulpieren können (eingehend Rz. 35.179).

6.207

Besonderheiten gelten für Abfindungen i.S. von § 3 BetrAVG8. Danach können unverfallbare Anwartschaften im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und laufende Leistungen nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 BetrAVG abgefunden werden. Durch Art. 6 Nr. 4 des Gesetzes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz) vom 5.7.20049 hat der Gesetzgeber die Abfindungsmöglichkeiten neu geregelt. Laufende Versorgungsleistungen können, soweit der Rentenbeginn nach dem 31.12.2004 liegt, nur noch in den Grenzen des § 3 BetrAVG abgefunden werden10. Scheitert die Sanierung und wird über das Vermögen der GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet, scheidet eine Anfechtbarkeit der 1 BGH v. 28.1.2020 – II ZR 10/19, GmbHR 2020, 534 m. Anm. Schmitz-Herscheidt/Münnich = ZIP 2020, 511. 2 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 3 Vgl. BGH v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325 ff. = GmbHR 1996, 211; Thole in Kayser/ Thole, § 129 InsO Rz. 97 f.; Flöther/Korb, NZG 2012, 2333. Zur Nichtigkeit einer Abfindungsvereinbarung s. auch BGH v. 3.7.2000 – II ZR 282/98, BB 2000, 1751, 1752 f. = GmbHR 2000, 876 m. Anm. Haase. 4 Vgl. Eckardt/van Zwoll, Der Geschäftsführer der GmbH, 2004, 5.1. S. 92. 5 BAG v. 27.4.2006 – 6 AZR 364/05, ZIP 2006, 1962. 6 BGH v. 3.7.2000 – II ZR 282/98, ZIP 2000, 1442, 1444 = GmbHR 2000, 876 m. Anm. Haase; BAG, AP Nr. 1 zu § 626 BGB (Kündigungserschwerung); BAG, AP Nr. 27 zu § 626 BGB; Schwerdtner in Münchener Kommentar zum BGB, § 626 BGB Rz. 63; Franzen in Anwaltkommentar BGB, § 626 BGB Rz. 11. 7 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 8 Zur Abfindung von Betriebsrenten in der Insolvenz s. Hinrichs/Plitt, ZInsO 2011, 2109 ff.; Gantenberg/Hinrichs/Janko, ZInsO 2009, 1000 ff. 9 BGBl. I 2004, 1427 ff. Vgl. auch Riewe, DB 2010, 2503 ff.; Hinrichs/Plitt, ZInsO 2011, 2109, 2114. 10 Vgl. Kisters-Kölkes in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 3 BetrAVG Rz. 1 ff., 78; Heubeck in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, Teil IV Rz. 35 ff. S. 624 ff.

234 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.221 § 6

Abfindungszahlung nach §§ 129 ff. InsO aus, weil es sich um eine Gegenleistung für geleistete Arbeit handelt. Erfolgte die Abfindung, ohne dass die Voraussetzungen des § 3 BetrAVG vorliegen, ist die Abfindung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB unwirksam1. Die Umwandlung einer Rentenversicherung in eine pfändungsgeschützte Versicherung ist gegenüber der Versicherungsgesellschaft anfechtbar, wenn die Umwandlung nach dem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vorgenommen wurde und die Versicherung Kenntnis vom Insolvenzantrag hatte2. Wenn die Gesellschaft als Arbeitgeber in der Unternehmenskrise eine nichtige Abfindungszahlung vorgenommen hat, wird sie von ihrer Leistungspflicht nicht befreit3. Der Arbeitnehmer, der die Abfindung zu Unrecht erhalten hat, ist gemäß § 817 Abs. 2 BGB verpflichtet, den Abfindungsbetrag an den Arbeitgeber zurückzuzahlen4. Einstweilen frei.

6.208

6.209–6.220

2. Übertragende Sanierung a) Chancen und Risiken aa) Die übertragende Sanierung5, auch als „Distressed M&A“ bezeichnet6, setzt nicht beim Unternehmensträger – also z.B. nicht bei der GmbH oder GmbH & Co. KG – an, sondern beim Unternehmen oder Betrieb und besteht in dessen Überführung auf einen neuen oder bereits vorhandenen Rechtsträger gegen Entgelt (eher nicht gegen Gewährung von Anteilen). Regelmäßig liegt also ein Asset Deal vor7. Erwerberin ist meistens eine Auffanggesellschaft. Die übertragende Sanierung gilt bis heute als ein Hauptinstrument der Sanierung von Unternehmen und Unternehmensteilen8. Diese Sanierungstechnik ist im eröffneten Insolvenzverfahren – und zwar gleichermaßen im Regelverfahren, im Verfahren der Eigenverwaltung und im Insolvenzplanverfahren – als Erfolgsmodell anerkannt9 und verfahrensrechtlich ohne Zweifel durch die Beteiligung der Gläubigergremien legitimiert (dazu Rz. 24.171 ff.). An über1 2 3 4

5 6 7 8

9

Kisters-Kölkes in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 3 BetrAVG Rz. 5 u. 98 ff. AG Köln v. 31.5.2012 – 130 C 25/12, ZIP 2012, 1976. Kisters-Kölkes in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 3 BetrAVG Rz. 5. Vgl. BAG v. 17.10.2000 – 3 AZR 7/00, EzA § 3 BetrAVG Nr. 7 = DB 2001, 2201; Kisters-Kölkes in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 3 BetrAVG Rz. 100; str. a.A. Andresen/Förster/Rößler/ Rühmann, Arbeitsrecht der betrieblichen Altersversorgung, Teil 10 DRZ 382; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 3 BetrAVG Rz. 40 ff. Die Bezeichnung geht auf den Verfasser zurück (vgl. ZIP 1980, 328, 337; näher dazu Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 1385; Karsten Schmidt in Leipold, Insolvenzrecht im Umbruch, S. 67 ff.; Falk/Schäfer, ZIP 2004, 1337 ff.). Vgl. Arends/Hafert-von Weiss, BB 2009, 641; Sondry/Schwenkel, GWR 2010, 366. Ausführlich Cavaillès in Dietmar Schulz, Restrukturierungspraxis, 2010, Kap. 6 Rz. 1.2, 1.7 = S. 153 ff. Eingehend Bertram/Künzl in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 104; Cavaillès, Übertragende Sanierung, in Dietmar Schulz, Restrukturierungspraxis, 2010, S. 153 ff.; Groß, Sanierung durch Fortführungsgesellschaften, 2. Aufl. 1988; Hess/Fechner/Freund/Körner, Sanierungshandbuch, Rz. E III 250 ff.; Sinhart in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 16 Rz. 82; Undritz in Kübler, HRI, § 2 Rz. 11 ff.; Besau, KSI 2011, 202 ff.; Bitter/Laspeyres, ZIP 2010, 1157; Hölzle, DStR 2004, 1433 ff.; Müller-Feldhammer, ZIP 2009, 2186 ff. (rechtsvergleichend); Niesert/ Hohler, NZI 2010, 127 ff. (strafrechtlich). Undritz in Kübler, HRI, § 2 Rz. 11; Undritz, ZGR 2010, 201, 205; einschränkend Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 16 f.

Spliedt und Karsten Schmidt | 235

6.221

§ 6 Rz. 6.221 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

tragenden Sanierungen außerhalb des Insolvenzverfahrens gibt es Kritik in der Literatur, gerade auch vom Verfasser dieses Textes1. Solche Kritik ist unpopulär2, weil sie als sanierungsfeindlich gilt und weil Anteilseigner, Geschäftsführung, Arbeitnehmerschaft und Großgläubiger bei übertragenden Sanierungen an einem Strang zu ziehen pflegen. Indes: Es geht nicht darum, ein bestimmtes Sanierungskonzept für „gut“ oder „böse“ zu erklären, sondern es geht um die Legitimation der Sanierung gegenüber denen, die die Sanierungsopfer erbringen. Das sind bei der übertragenden Sanierung die Gläubiger in ihrer Gesamtheit, wenn ihnen nur der Zerschlagungswert des Unternehmens als Teilungsmasse angeboten wird, während der Ertragswert, losgelöst von den Schulden, in der Auffanggesellschaft realisiert werden soll. Ob eine solche Loslösung des Unternehmens von den Schulden und vice versa die Loslösung der Schulden von dem in neue Trägerschaft übergegangenen Unternehmen ohne Mitwirkung der Gläubiger zulässig ist – das ist das Problem!

6.222

Unabhängig von der rechtspolitischen Einschätzung ist auch die Ratsamkeit der übertragenden Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens zweifelhaft, und zwar durchaus auch für den Unternehmenserwerber (i.d.R. also die Auffanggesellschaft). Als ein Problem hat sich beispielsweise die Überführung öffentlich-rechtlicher Betriebsberechtigungen und ähnlicher Rechte erwiesen3. Haftungsrisiken auf der Erwerberseite kommen hinzu. Sowohl § 613a BGB als auch § 25 HGB und § 75 AO können zum Zuge kommen (vgl. Rz. 21.52 ff.; zu § 613a BGB vgl. Rz. 12.46 ff.). Die materielle Insolvenz des Unternehmens (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) schließt die Haftung des Erwerbers für Altverbindlichkeiten nicht aus (zur Rechtslage im eröffneten Verfahren vgl. dagegen Rz. 24.172)4. Die Haftung des Unternehmenserwerbers nach § 25 HGB setzt allerdings nach der dem klaren Gesetzeswortlaut folgenden herrschenden Auffassung die Fortführung der Firma durch den übernehmenden Rechtsträger voraus5. Die Firmenfortführung wird deshalb in der Sanierungspraxis vermieden, was heute wesentlich leichter als früher ist, weil die Firmenbildung seit dem Handelsrechtsreformgesetz wesentlich freier ist als bis 1998 (§§ 18 ff. HGB)6 und weil die Firmenfortführung für den Unternehmenswert in der Wirtschaftspraxis neben der Marke nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie früher. Die Rechtsprechung lässt aber von Fall zu Fall die bloße Firmenähnlichkeit und die Fortsetzung eines identifizierenden Produkt-Logos für die Haftung aus § 25 HGB genügen7, und der Verfasser will entgegen der herrschenden Ansicht auf das Erfordernis der Firmenfortführung sogar ganz verzichten8. Zuverlässigen Schutz gibt die Eintragung eines Nicht-Haftungsvermerks in das Handelsregister (§ 25 Abs. 2 HGB), aber auch sie schützt nicht gegen § 613a BGB (Übernahme von Arbeitsverhältnissen) und gegen die steuerliche Haftung des Erwerbers nach § 75 AO. Beteiligt sich die sanierungsbedürftige Gesellschaft selbst an der Auffanggesellschaft, so muss nach dem „Rheinmöve“-Urteil des BGH vom 18.2.2008 sogar mit der Beurteilung der diesen Vorgang finanzierenden Kapitalerhöhung 1 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 7 Rz. 110; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 141 ff.; Karsten Schmidt in Leipold, Insolvenzrecht im Umbruch, S. 67 ff. 2 Ablehnend etwa Stürner, ZIP 1982, 769 f.; Canaris, ZIP 1989, 1163. 3 Eingehend Bitter/Laspeyres, ZIP 2011, 467 ff. 4 BGH v. 28.11.2005 – II ZR 355/03, ZIP 2006, 367 = DB 2006, 444. 5 Statt vieler Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas, § 25 HGB Rz. 16 ff.; dagegen aber Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 8 Rz. 32; Karsten Schmidt, ZGR 2014, 844 ff. 6 Gesetz zur Neuregelung des Kaufmanns- und Firmenrechts (Handelsrechtsreformgesetz) v. 22.6.1998, BGBl. I 1998, 1474. 7 BGH v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, NJW 1992, 911 = ZIP 1992, 398; dazu Karsten Schmidt, ZGR 1992, 621 ff. 8 Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 8 Rz. 32.

236 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.225 § 6

als gemischte verdeckte Sacheinlage gerechnet werden1. Mit Recht wird also gegenüber der übertragenden Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens zur Vorsicht ermahnt2.

bb) Auch spezifisch insolvenzrechtliche Risiken im Fall einer Insolvenzverfahrenseröffnung dürfen nicht vernachlässigt werden. Hingewiesen wird vor allem auf die Möglichkeit einer Anfechtung der Unternehmensübertragung durch den Insolvenzverwalter als eines die Gläubiger benachteiligenden Geschäfts nach §§ 129 ff., § 132 Abs. 1 Nr. 2, § 143 InsO3. Die Anfechtung würde zur Rückführung des übertragenen Unternehmens oder Unternehmensteils als Gesamtheit in die Insolvenzmasse führen4. Dass damit in der Realität zu rechnen wäre, ist zwar unwahrscheinlich. Aber schon der Lästigkeitswert einer vom Verwalter drohenden Klage und die im Raum stehende Möglichkeit einer Geldkompensation in Gestalt eines Vergleichs ist für den Unternehmenserwerber eine fragwürdige Perspektive.

6.223

cc) Nicht zu vernachlässigen ist schließlich die Gefahr einer Altlasten-Erwerberhaftung. Soweit nach § 4 Abs. 3 BBodSchG der Inhaber der tatsächlichen Gewalt oder nach dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz der Abfallbenutzer verantwortlich ist, kann die Übernahme von Betriebsgrundstücken bzw. von nicht entsorgtem Umlaufvermögen den Erwerber der ordnungsrechtlichen Verantwortung unterwerfen5.

6.224

b) Mitwirkung der Gesellschafter Alle Maßnahmen der übertragenden Sanierung setzen außerhalb eines Insolvenzverfahrens eine Mitwirkung der Gesellschafter voraus. Es handelt sich um Grundlagengeschäfte. Für Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung sowie für Umwandlungsmaßnahmen (§ 53 GmbHG, §§ 13, 125 UmwG) ist die Zuständigkeit der Gesellschafter als der Herren der Satzung gesetzlich vorgeschrieben. Aber auch darüber hinaus sind die Geschäftsführer verpflichtet, Grundlagenentscheidungen den Gesellschaftern zur Beschlussfassung vorzulegen6. Insbesondere gelten die Grundsätze der zum Aktienrecht ergangenen Urteile „Holzmüller“7 und „Gelatine“8 in wesentlich verschärfter Form für die weisungsgebundenen und deshalb vorlagepflichtigen Geschäftsführer einer GmbH bzw. GmbH & Co. KG (s. auch Rz. 6.254). Die übertragende Sanierung setzt i.d.R. einen gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG gefassten Auflösungsbeschluss (dazu Rz. 12.3) und einen Beschluss über die (Teil-)Betriebsveräußerung voraus (vgl. Rz. 12.16), der in einem mit der Auflösung beschlossenen Liquidationsplan (Rz. 12.3, 12.8) enthalten sein kann. Als allgemeiner, nicht nur aktienrechtlicher Grundsatz verdient vor allem der Gedanke des § 179a AktG Respekt9: Eine Gesamtvermögensveräußerung ist ohne 1 BGH v. 18.2.2008 – II ZR 132/06, BGHZ 175, 265 = BB 2008, 1026 m. Anm. Krause = AG 2008, 383; dazu Böttcher, NZG 2008, 416. 2 Zusammenfassend Hölzle, DStR 2004, 1433 ff. 3 Cavaillès in Dietmar Schulz, Restrukturierungspraxis, 2010, Kap. 6 Rz. 3.15 = S. 165 ff.; Henckel in Jaeger, § 129 InsO Rz. 71; Menke, BB 2003, 1133. 4 Dazu Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 5 Rz. 83 ff.; die entgegenstehende Entscheidung des BGH v. 27.11.1963 – VIII ZR 278/62, WM 1964, 114, gilt allgemein als überholt. 5 Vgl. nur BVerwG v. 22.7.2004 – 7 C 17.03, ZIP 2004, 1766, 1767. 6 BGH v. 25.2.1991 – II ZR 76/90, GmbHR 1991, 197 = ZIP 1991, 509; Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 37 GmbHG Rz. 34 ff.; Karsten Schmidt in Scholz, § 46 GmbHG Rz. 115; krit. Zitzmann, Die Vorlagepflichten des GmbH-Geschäftsführers, 1991, S. 35 ff., 85 ff. 7 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158 = ZIP 1982, 568. 8 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 3 = AG 2004, 384 = DStR 2004, 922 m. Anm. Goette. 9 BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, DB 1995, 621 = GmbHR 1995, 306; dazu Karsten Schmidt, ZGR 1995, 675 ff.; krit. Bredol/Natterer, ZIP 2015, 1419 ff.

Karsten Schmidt | 237

6.225

§ 6 Rz. 6.225 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Zustimmung der Gesellschafter nicht nur unzulässig, sondern das Fehlen dieser Zustimmung macht das Verpflichtungsgeschäft sogar unwirksam.

6.226–6.230

Einstweilen frei.

3. Management Buy-out a) Bedeutung als Sanierungsinstrument 6.231

In Deutschland haben die Buy-outs vor allem durch Unternehmensverkäufe der Treuhandanstalt bzw. Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) Bedeutung erlangt. In letzter Zeit gewinnen die Buy-out-Aktivitäten vor allem auch im Bereich von Private Equity zwecks Finanzierung innovativer Unternehmen wieder an Relevanz1. Bei einem Management Buy-out (MBO) erfolgt die Übernahme des Unternehmens durch seine Geschäftsführer bzw. sonstige (leitende) Mitarbeiter („Management“). Buy-out-Modelle bieten sich nicht zuletzt auch für die Sanierung von Krisenunternehmen an. Die Manager des Krisenunternehmens verfügen oftmals zwar über spezifische Unternehmens- und Sanierungskenntnisse über das notwendige Kapital für die Finanzierung des Kaufpreises des Übernahmeobjekts und/oder die sich anschließende neue Anschubfinanzierung („working capital“). Daher wird der MBO meist mit Hilfe von Investoren oder Kreditgebern fremdfinanziert2. Bei den Investoren handelt es sich oftmals um Beteiligungsgesellschaften, z.B. Private Equity-Gesellschaften, die sich in Form von Mezzanine-Darlehen oder Minderheitsbeteiligungen mit Sperrminorität engagieren. Die meisten MBO werden daher in Form eines Leveraged Buyout (LBO) durchgeführt3. Ein LBO liegt vor, wenn das übernehmende Management aufgrund des hohen Finanzierungsanteils weniger als 10 Prozent der Anteile hält4.

6.232

Ähnliches und häufig im Zusammenhang mit dem MBO genanntes Instrument ist das Management Buy-in (MBI), das den Unternehmenserwerb durch mehrere nicht unternehmenszugehörige Manager bezeichnet5. Demgegenüber liegt ein Spin-off vor, wenn das Management einer Konzerngesellschaft aus dem Konzern einen Betriebsteil herauskauft und ihn in eine von ihm gegründete und geführte Gesellschaft eingliedert6.

b) Durchführung 6.233

Gesellschaftsrechtlich unterscheidet man verschiedene Stufen des MBO. Beim einstufigen MBO erfolgt der unmittelbare Erwerb der Zielgesellschaft, ohne dass eine Übernahmegesellschaft eingeschaltet wird, die die Zielgesellschaft kauft7. Die Regel ist der zweistufige MBO. 1 Vgl. Weitnauer, Management Buy-Out, 2. Aufl. 2013, Teil A. II. Rz. 73 S. 28; Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rz. 514; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 4 Rz. 595 ff.; Hohaus, BB 1995, 1291; Schockenhoff, ZIP 2005, 1009; Jäckle/Strehle/Clauss, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 51 Rz. 11 ff. 2 Kühne in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Teil 3 Rz. 80; Schmidt-Hern, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 54 Rz. 2. 3 Schmidt-Hern, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 54 Rz. 2, 29 ff. 4 Lachmann in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 8 Rz. 125. 5 Vgl. Schmidt-Hern, Beck’sches M&A Handbuch, 2017, § 54 Rz. 1; Gabrysch in Kompendium Gesellschaftsrecht, 2010, § 2 Rz. 64; Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 14 Rz. 278. 6 Einzelheiten bei Weitnauer, Management Buy-Out, 2. Aufl. 2013, Teil A.I. Rz. 14 ff. S. 7 f. 7 Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 4 Rz. 608; Beisel in Beisel/Klump, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016, § 13 Rz. 5 f.

238 | Karsten Schmidt und Schluck-Amend

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.234 § 6

Hier erwirbt eine Übernahmegesellschaft, an der die Manager, Kreditgeber und/oder Investoren beteiligt sind, in der ersten Stufe die Gesellschaftsanteile des Zielunternehmens. Da es bei einem Share Deal grundsätzlich nicht möglich ist, die im Kaufpreis enthaltenen stillen Reserven der Zielgesellschaft in Abschreibungspotential zu verwandeln, wird in einer zweiten Stufe entweder das Gesellschaftsvermögen im Wege der Einzelübertragung auf die Übernahmegesellschaft transferiert (Asset Deal-Modell)1, oder die Zielgesellschaft wird in eine GmbH & Co. KG umgewandelt (Umwandlungsmodell)2. Bei Krisenunternehmen werden im Rahmen des MBO oftmals erhebliche Abschläge vom Kaufpreis vereinbart, möglicherweise sogar ein negativer Kaufpreis, z.B. zur Abdeckung von Sozialplanansprüchen der Arbeitnehmer oder anderer Sanierungskosten3. Im Regelfall wird bei einem MBO von der Erwerbergruppe eine GmbH gegründet, die ihrerseits als Käufer auftritt. Ist an dem MBO die oder ein Teil der Geschäftsführung des Insolvenzschuldners beteiligt, so bedarf die Veräußerung der Zustimmung der Gläubigerversammlung nach §§ 160, 162 Abs. 1 Nr. 1 InsO4.

c) Finanzierungsmodelle Für die Finanzierung des MBO sind in der Praxis unterschiedliche Finanzierungsmodelle entwickelt worden, das Darlehensmodell, das Sicherheitenmodell und das Verpfändungsmodell5. Handelt es sich bei der übernommenen Gesellschaft um eine GmbH, so hat das übernehmende Management die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 30 Abs. 1 GmbHG sowie das Kreditgewährungsverbot des § 43a GmbHG zu beachten. Dies bedeutet, dass eine Darlehens- und Sicherheitengewährung zu Lasten des GmbH-Vermögens eine unzulässige Auszahlung an die übernehmenden Gesellschafter darstellt, wenn dies zu einer Unterbilanz bei der GmbH führt6. Die Bestellung von Sicherheiten steht einer Auszahlung i.S. von § 30 Abs. 1 Satz 1 GmbHG gleich7. Ohne auf Einzelheiten der gesellschaftsrechtlichen Problematik näher einzugehen, ist festzustellen, dass der MBO für die Beteiligten zugleich auch strafrechtliche Risiken birgt. Kaufen z.B. die Geschäftsführer der zu übernehmenden GmbH deren Anteile von den Gesellschaftern und wird der Kaufpreis direkt von der übernommenen Gesellschaft beglichen, liegt ungeachtet der Zustimmung aller Gesellschafter der übernommenen GmbH der Untreuetatbestand des § 266 StGB vor, wenn durch die Zahlung aus dem GmbH-Vermögen eine Unterbilanz entsteht8. Erfolgt die Finanzierung aus dem GmbH-Vermögen dagegen darlehensweise unter Verbuchung einer entsprechenden Forderung gegen die Gesellschafter, so entscheidet die Werthaltigkeit des Rückforderungsanspruchs gegen die Gesellschafter darüber, ob die in der Darlehensgewährung liegende „Auszahlung“ zu einer Unterbilanz führt, vgl. § 30 Abs. 1 1 2 3 4 5 6

7

8

Dazu auch Beisel in Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016, § 13 Rz. 8. Beisel in Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016, § 13 Rz. 11 f. Vgl. Holzapfel/Pöllath, Unternehmenskauf in Recht und Praxis, Rz. 601. Kühne in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Teil 3 Rz. 81. Eingehend hierzu Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 4 Rz. 615 ff. Vgl. BGH v. 10.12.2001 – II ZR 30/00, GmbHR 2002, 329 = ZIP 2002, 436 f.; Weitnauer, ZIP 2005, 790, 792; Koppensteiner, ZHR 155 (1991), 97 ff.; Kerber, WM 1989, 473, 475 ff. u. 513 ff.; Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, § 4 Rz. 619; Beisel in Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 7. Aufl. 2016, § 13 Rz. 20. BGH v. 21.3.2017 – II ZR 93/16, ZIP 2017, 971 = GmbHR 2017, 643; Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 34 f.; Altmeppen, § 30 GmbHG Rz. 85. A.A. nach ist die Sicherheitenbestellung, sofern nicht die Inanspruchnahme der Sicherheit von vornherein droht, bilanzneutral: Heckschen in Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Gestaltungspraxis, 3. Aufl. 2022, § 4 Rz. 871. Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 11.

Schluck-Amend | 239

6.234

§ 6 Rz. 6.234 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Satz 2 GmbHG1. Aus strafrechtlicher Sicht soll es nicht darauf ankommen, ob im Einzelfall § 43a GmbHG anwendbar ist2.

d) Problem der Hinauskündigung 6.235

Ein besonderes Problem bei einer MBO ist die freie Hinauskündigung von Mitgesellschaftern. Grundsätzlich ist die Vereinbarung von Hinauskündigungsklauseln unzulässig und nach § 138 BGB nichtig3. Allerdings kann im Einzelfall eine vertragliche Hinauskündigungsklausel bei der MBO sachdienlich und gerechtfertigt sein. Allerdings kann ein Liquiditätsproblem entstehen, wenn die übernehmende Gesellschaft dem ausscheidenden Gesellschafter den wirtschaftlichen Wert (Verkehrswert) des Geschäftsanteils zu erstatten hat.

6.236–6.240

Einstweilen frei.

4. Aufnahme neuer Gesellschafter a) Kapitalmaßnahmen 6.241

Die Aufnahme neuer Gesellschafter im Zuge der Kapitalerhöhung stellt einen meist unentbehrlichen Bestandteil eines Sanierungskonzepts dar. Sie macht aus der „internen“ eine „externe“ Sanierung (vgl. Rz. 7.1). In der Regel besteht die Schwierigkeit darin, einen solchen Investor zu gewinnen, weniger darin, ihn zur Kapitalerhöhung zuzulassen. Es ist allerdings zu beachten, dass auch der GmbH-Gesellschafter bei einer Kapitalerhöhung ein Bezugsrecht hat, obwohl dieses im GmbH-Gesetz (anders als in § 186 AktG) nicht geregelt ist4. Die prinzipielle Geltung des Bezugsrechts bei der GmbH bedarf kaum noch der Diskussion. Auch der Bundesfinanzhof geht von einem solchen Bezugsrecht aus5, ebenso der österreichische OGH6. Anhaltende Diskussionen um das Bezugsrecht7 betreffen im Wesentlichen nur noch rechtstechnische Details8 und vor allem den Bezugsrechtsausschluss: Ist er entsprechend § 186 Abs. 3 AktG Teil des Kapitalerhöhungsbeschlusses und bedarf er dementsprechend der qualifizierten Mehrheit9 oder genügt hierfür der mit einfacher Mehrheit und keiner Form bedürftige Beschluss über die Zulassung zur Übernahme neuer Geschäftsanteile (§ 55 Abs. 2 GmbHG)10. 1 Durch die Einführung des § 30 Abs. 1 Satz 2 GmbHG hat der Gesetzgeber dem BGH auch die Grundlage für seine sog. November-Rechtsprechung entzogen. Der BGH bejahte damals einen Verstoß gegen § 30 GmbHG, wenn bei Unterbilanz eine Darlehensgewährung erfolgte, obwohl diese durch einen vollwertigen Rückzahlungsanspruch gesichert war, vgl. BGH v. 24.11.2003 – II ZR 171/01, WM 2004, 325 = GmbHR 2004, 302 m. Anm. Bähr/Hoos = ZIP 2004, 263. 2 Einzelheiten bei C. Schäfer, GmbHR 1993, 780, 795 f. 3 Vgl. BGH v. 19.9.2005 – II ZR 173/04, GmbHR 2005, 1558; BGH v. 14.3.2005 – II ZR 153/03, ZIP 2005, 706 = GmbHR 2005, 620; s. auch Benecke, ZIP 2005, 1437; Gehrlein, NJW 2005, 1969; Battke/Grünberg, GmbHR 2006, 225 ff. 4 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1170 f.; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 20; eingehend Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 42 ff.; im Ergebnis auch Altmeppen, § 55 GmbHG Rz. 27 ff. 5 BFH v. 8.4.1992 – I R 128/88, BStBl. II 1992, 761, 762 = GmbHR 1992, 697. 6 OGH Österreich v. 16.12.1980 – 5 Ob 649/80, GmbHR 1984, 235 m. Komm. Nowotny. 7 Überblick bei Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 20; Schnorbus in Rowedder/ Pentz, § 55 GmbHG Rz. 34 ff., wo das Bezugsrecht „dezidiert“ abgelehnt wird. 8 Vgl. insoweit auch Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 55 GmbHG Rz. 34. 9 So namentlich Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 20; Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 61 ff.; grundlegend Priester, DB 1980, 1925 ff. 10 Hierfür Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 55 GmbHG Rz. 35.

240 | Schluck-Amend und Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.243 § 6

So oder so könnte sich das Bezugsrecht als ein Sanierungshindernis erweisen. Als ein den Bezugsrechtsausschluss rechtfertigender Grund wird aber der Fall anerkannt, dass ein Gesellschafter oder ein Dritter im Gegensatz zu den übrigen Gesellschaftern bereit ist, über den Wert des neuen Anteils hinaus Sonderleistungen zu erbringen, z.B. in Gestalt von Zuschüssen oder Bürgschaften1. Auch die gebotene Schnelligkeit der Sanierung kann dafür sprechen, unter Hintanstellung der vorhandenen Gesellschafter einen liquiden Dritten zur Übernahme von Stammeinlagen zuzulassen. Ein zusätzlicher Gesellschafter als „Sanierungshelfer“ kann also nach Lage des Falls im Wege der Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss aufgenommen werden, wenn dies die Sanierungserwartung signifikant erhöht2. Die vorhandenen Gesellschafter können sich einem Bezugsrechtsausschluss nicht widersetzen, sofern sie nicht eine gleichwertige Sanierung finanzieren können. Zur Kapitalerhöhung vgl. im Übrigen Rz. 6.1 ff.

Bereits im Zusammenhang mit der „internen Sanierung“ besprochen ist auch die „Umwandlung“ von Geldforderungen in haftendes Kapital (vgl. zum Debt Equity Swap Rz. 7.41 ff.). Diese müsste im Wege der Sachkapitalerhöhung geschehen (§ 56 GmbHG) und ist mit dem Differenzhaftungsrisiko nach § 9 GmbHG i.V.m. § 56 Abs. 2 GmbHG verbunden. Forderungen gegen die sanierungsbedürftige Gesellschaft sind als Einlagegegenstände aber regelmäßig nur zu einem erheblich wertberichtigten Betrag geeignet. Kein Ausweg ist die Verrechnung im Wege der Barkapitalerhöhung, denn wiederum kommen die Grundsätze über sog. verdeckte Sacheinlagen, seit der Reform 2008 (MoMiG) insbesondere die Differenzhaftung nach § 19 Abs. 4 i.V.m. § 56 Abs. 2 GmbHG zum Zuge (zu dieser Regelung vgl. Rz. 6.24 f.). Die Erwartung eines Gesellschaftsgläubigers, durch Beteiligung an einer Barkapitalerhöhung zur Sanierung beizutragen und gleichzeitig durch Verrechnung seine gefährdete Forderung zum Nennwert zu verwerten, kann sich als schwerer Kunstfehler erweisen. Über § 24 GmbHG können sich aus einer fehlgehenden Kapitalerhöhung Haftungsrisiken auch für die Altgesellschafter ergeben (dazu Rz. 6.11). Gleichzeitig haftet nach der vorherrschenden Auffassung ein durch Kapitalerhöhung hinzugetretener Gesellschafter gemäß § 24 GmbHG seinerseits für ausstehende Alt-Stammeinlagen3. Dieses doppelseitige Haftungsrisiko darf bei der Sanierung nicht vernachlässigt werden. Ihm kommt man am sichersten durch Volleinzahlung aller Alt- und Neu-Stammeinlagen zuvor.

6.242

b) Stille Beteiligungen Nur von der Aufnahme neuer GmbH-Gesellschafter war bisher die Rede. Es ist aber auch an strategische Alternativen zu denken. Z.B. kann die Begründung stiller Beteiligungen zur Sanierung beitragen. Zu bemerken ist allerdings, dass die Zuführung typischer stiller Einlagen nach der gesetzgeberischen Wertung (vgl. § 236 HGB) Kreditzufuhr und nicht Zufuhr haftenden Kapitals ist. Die Aufnahme typischer stiller Gesellschafter beseitigt demgemäß allenfalls die Zahlungsunfähigkeit, nicht auch eine Überschuldung. Als zusätzliche Sanierungsmaßnahme kann sich deshalb auch hier ein Rangrücktritt mit Besserungsklausel empfehlen (vgl. zu diesen Maßnahmen Rz. 7.14 ff.). Handelt es sich bei dem stillen Gesellschafter nicht um einen Dritten, sondern um einen Gesellschafter der zu sanierenden GmbH, so kann die typische stille Einlage den Regeln über Gesellschafterdarlehen unterliegen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5, § 135 InsO)4. 1 Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 57. 2 Enger wohl Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 55 GmbHG Rz. 27: „wenn anders Sanierung nicht erreichbar“. 3 Priester/Tebben in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 16. 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 136 InsO Rz. 25; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 236 HGB Rz. 25 ff.; vgl. darüber hinaus BGH v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, GmbHR 1989, 152 = ZIP 1989, 95.

Karsten Schmidt | 241

6.243

§ 6 Rz. 6.243 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Auch in diesem Fall empfiehlt sich jedoch eine Rangrücktrittsvereinbarung, weil sie die Geschäftsführer der Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus enthebt (vgl. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO und dazu Rz. 6.106, 7.19).

6.244

Von der typischen stillen Beteiligung zu unterscheiden ist die „Umwandlung“ der sanierungsbedürftigen Gesellschaft in eine „GmbH & Still“1. Diese kann das Gesicht einer „Innen-KG“ erhalten, in der die GmbH nur noch im Außenverhältnis als Unternehmensträgerin erscheint, im Innenverhältnis dagegen für Rechnung einer „virtuellen Kommanditgesellschaft“, bestehend aus stillen Gesellschaftern als Mitunternehmern (§ 15 EStG) und der GmbH als treuhänderische Quasi-Komplementärin, agiert2. Die Maßnahme überführt das GmbH-Vermögen treuhänderisch in eine mit Eigenkapital ausgestattete nichtrechtsfähige Quasi-KG, setzt allerdings eine Zweckänderung bei der GmbH und die Konstituierung einer organisierten Innengesellschaft mit Kapitalkonten der stillen Gesellschafter voraus. Dann kann die GmbH als Treuhänderin Aufwendungsersatz zu Lasten des stillen Kapitals verlangen (vgl. sinngemäß § 670 BGB, § 110 HGB). Die stillen Einlagen sind bei dieser Gestaltung – auch noch nach der Einführung des § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG durch das MoMiG – analog § 30 GmbHG gebunden3.

c) Genussrechtsausgabe 6.245

Bei der GmbH wenig verbreitet4, aber als Sanierungsinstrument grundsätzlich tauglich5, ist die Einräumung von Genussrechten gegen Finanzierungsbeiträge. Es handelt sich hierbei, ähnlich den atypisch stillen Beteiligungen Rz. 6.244), um Mezzaninkapital, das Beteiligungsrechte auf der Grundlage einer schuldrechtlichen Vereinbarung zwischen dem Inhaber und der Gesellschaft gewährt6. Die Genussrechtseinräumung bedarf grundsätzlich der Zulassung durch den Gesellschaftsvertrag oder durch Beschluss der Gesellschafter7. Das gilt nur umso mehr für sog. Wandelgenussrechte, die dem Inhaber ein Recht zum Umtausch in Anteile bzw. ein Bezugsrecht auf erhöhtes Stammkapital verleihen8.

5. Restrukturierung, insbesondere Umwandlung/Verschmelzung/ Sanierungsfusion a) Rechtliche und betriebswirtschaftliche Fragen 6.246

Die Restrukturierung eines der Sanierung oder der Insolvenzprophylaxe bedürftigen Unternehmens ist in erster Linie ein betriebswirtschaftliches und erst in zweiter Linie ein juristisches Thema (vgl. deshalb Rz. 2.202 ff.). Was die rechtliche Seite der Restrukturierung anlangt, so ist sie zunächst Spiegelbild der betriebswirtschaftlichen Seite und weist deshalb eine 1 Vgl. zur GmbH & Still Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still, 7. Aufl. 2019. 2 Dazu eingehend Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2014, 1457; zur Anerkennung dieser Gestaltung vgl. BGH v. 19.11.2013 – II ZR 383/12, BGHZ 199, 104 = ZIP 2013, 2355 = AG 2014, 41; OLG Hamburg v. 31.10.2014 – 11 U 57/13, ZIP 2015, 688. 3 Vgl. BGH v. 7.11.1988 – II ZR 46/88, BGHZ 106, 7 = NJW 1989, 982 = GmbHR 1989, 152; BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531, 532 = ZIP 2006, 703, 706; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 230 HGB Rz. 172; Harbarth in Staub, § 236 HGB Rz. 24 ff.; Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10, 47. 4 Seibt in Scholz, § 14 GmbHG Rz. 135. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.1309 m.w.N. 6 Eingehend Seibt in Scholz, § 14 GmbHG Rz. 135 ff. 7 Differenzierend Seibt in Scholz, § 14 GmbHG Rz. 137. 8 Dazu Drukarczyk/Schöntag in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 3 Rz. 121 ff.

242 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.246 § 6

große Vielfalt auf: Betriebsführungsverträge, Unternehmensverträge, Umbauten im Konzern (z.B. das „Umhängen“ von Konzerntöchtern), Änderungen der Binnenorganisation (Beiratsverfassung), Austausch des Managements und arbeitsrechtliche Maßnahmen, all dies können Bausteine nicht nur einer Insolvenzprophylaxe, sondern auch einer Sanierung sein1. Die Umwandlung i.S. von § 1 UmwG erfasst nur einen Teilbereich der Restrukturierungsmöglichkeiten, und vor allem kann auch sie immer nur Teil eines umfassenden Sanierungskonzepts sein (zum Steuerrecht vgl. Rz. 8.171 ff.). Im Hinblick auf das Umwandlungsgesetz wird man feststellen dürfen2: – Der Formwechsel nach §§ 190 ff. UmwG spielte vor der Einführung der §§ 58a ff. GmbHG als Sanierungskonzept (vgl. Rz. 6.3) eine gewisse Rolle; nach wie vor kann er aber im Verein mit betrieblichen Umstrukturierungen eine Sanierungshilfe sein, z.B. in Gestalt der Beseitigung von Sonderrechten durch Umwandlung in eine AG (Suhrkamp), die freilich außerhalb des Insolvenzverfahrens nur mit Zustimmung möglich ist (§ 241 Abs. 2 UmwG). Im Mittelpunkt steht der Formwechsel nicht, weil er das Bild von Bilanz und Cashflow als solches nicht berührt. – Die Verschmelzung (§§ 2 ff. UmwG) kann ein Sanierungsinstrument sein, insbesondere bei der Verschmelzung durch Aufnahme seitens einer gesunden Gesellschaft (kartellrechtlich: Problem der Sanierungsfusion3, bei der es sich aber nicht um eine gesellschaftsrechtliche Verschmelzung handeln muss). Der Gläubigerschutz nach § 22 UmwG wird hingegen nicht selten ein faktisches Verschmelzungshindernis sein, so dass sich für einen Investor eher eine Übernahme von Anteilen oder eine Kapitalerhöhung empfehlen wird (Rz. 6.241). Erhöht die übernehmende Gesellschaft zur Durchführung einer Verschmelzung ihr Stammkapital, so wird nach § 57a i.V.m. § 9c Satz 2 GmbHG die Werthaltigkeit des durch Verschmelzung eingebrachten Unternehmens geprüft4. – Zu denken ist an die Spaltung, insbesondere an die Aufspaltung oder Ausgliederung als Sanierungsinstrument (§§ 123 ff. UmwG). Regelmäßig wird es aber nur mit Zustimmung der Großgläubiger gelingen, die Verbindlichkeiten der spaltungsbeteiligten Unternehmen auch rückwirkend zu entzerren. Überdies haften nach § 133 UmwG für die Verbindlichkeiten des übertragenden Rechtsträgers, die vor dem Wirksamwerden der Spaltung begründet worden sind, die an der Spaltung beteiligten Rechtsträger fünf Jahre lang als Gesamtschuldner. Hinzu kommt, dass im Umwandlungsgesetz die §§ 25 ff. HGB ausdrücklich als unberührt bezeichnet werden (§ 133 Abs. 1 Satz 2 UmwG), weshalb eine Trennung zusammengehöriger Aktiva und Passiva durch Spaltung des Unternehmens als Sanierungsstrategie ausscheiden sollte5. Als Instrument, um auf Dauer lebensunfähige, später zu liquidierende Unternehmensteile frühzeitig von nachhaltig erfolgreichen Unternehmensteilen zu lösen, ist dagegen die Spaltung tauglich. 1 Vgl. dazu etwa Brandstätter, Die Prüfung der Sanierungsfähigkeit notleidender Unternehmen, S. 249 ff. 2 Hermanns/Holtz in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 23 Rz. 33 ff.; s. auch Lütcke/Stenzel in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 41 Rz. 17 ff. 3 Vgl. nur BGH v. 12.12.1978 – KVR 6/77, BGHZ 73, 65, 78 f. = WuW/E BGH 1533, 1539 (Erdgas Schwaben); Thomas in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 3, 6. Aufl. 2020, § 36 GWB Rz. 532 ff., 636. 4 Zimmermann in Kallmeyer, 7. Aufl. 2020, § 53 UmwG Rz. 11; J. Vetter in Lutter, 6. Aufl. 2019, § 55 UmwG Rz. 26 ff. 5 Gegen ein Trennungsverbot allerdings M. F. Schwab in Lutter, 6. Aufl. 2019, § 133 UmwG Rz. 15 (in kritischer Auseinandersetzung mit Karsten Schmidt, ZGR 1993, 386, 391 ff.).

Karsten Schmidt | 243

§ 6 Rz. 6.247 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

6.247

Das Umwandlungsrecht mit dem durch dieses Gesetz vermittelten Gläubigerschutz1 lässt es nicht zu, Altverbindlichkeiten auf Kosten der Gläubiger abzuschütteln, sucht dies vielmehr sogar zu verhindern. Die im Umwandlungsrecht vorgesehenen Umstrukturierungen taugen deshalb eher als Maßnahmen der Insolvenzprophylaxe für die künftige Wirtschaftstätigkeit eines Unternehmens oder Unternehmensteils und als Wege zur langfristigen Segmentierung von Risiken denn als echte Sanierungsinstrumente. Immerhin können sie Bestandteile eines umfassenden Umstrukturierungskonzepts auch im Sanierungsfall sein.

b) Rechtstechnische Varianten 6.248

Soweit ein Sanierungskonzept auf Umwandlungsmaßnahmen hinausläuft, bedarf stets der Prüfung, ob die Umwandlung – nach dem Umwandlungsgesetz oder – durch Verschmelzung von Personengesellschaften außerhalb dieses Gesetzes oder schließlich

– durch Einzelübertragung stattfinden soll. Verschmelzungsvorgänge lassen die Verbindlichkeiten allerdings auf den Ziel-Rechtsträger übergehen. Die Verschmelzung einer Personengesellschaft durch Übertragung aller Anteile auf eine andere Gesellschaft hat gegenüber dem Umwandlungsgesetz den Vorteil, dass die Beteiligten den Zeitpunkt einer Verschmelzung exakt bestimmen können (die Registereintragung wirkt hier nur deklaratorisch). Die Verschmelzung nach §§ 2 ff. UmwG ist in dieser Hinsicht schwerfälliger: Sie wird erst mit der Eintragung wirksam (§ 20 UmwG). Hieraus kann sich aber auch die Chance einer „Notbremsung“ ergeben: Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1995 entschieden, dass die aufnehmende Gesellschaft, wenn der Eintragungsantrag zurückgenommen oder zurückgewiesen und auf diese Weise die Eintragung vermieden wird, bei einer solchen steckengebliebenen Verschmelzung weder nach den Grundsätzen über die fehlerhafte Gesellschaft noch nach dem vormaligen Recht gemäß § 419 BGB a.F. (Vermögensübernahme) haftet2. Von der Verschmelzung zu unterscheiden ist die Einzelübertragung des Betriebsvermögens oder von Betriebsteilen durch Asset Deal, die einen automatischen Übergang aller Verbindlichkeiten auf den übernehmenden Rechtsträger vermeidet, jedoch die schon besprochenen Haftungsprobleme nach § 25 HGB, § 613a BGB, § 75 AO aufwirft (Rz. 6.222).

6. Sanierung von Konzernunternehmen 6.249

Die Sanierung im Konzern kann unterschiedlich ansetzen. Das beginnt mit der Frage, ob sich die Unternehmensgruppe insgesamt in einer Krise befindet, oder ob einzelne Krisenherde innerhalb der Unternehmensgruppe noch eingegrenzt bleiben können. Im ersten Fall entziehen sich die Sanierungsvarianten in ihrer Vielfalt der Beschreibung. Dagegen kann die Konzernstruktur eine große Hilfe sein, wenn die Krisenherde segmentiert, also auch die Sanierungseingriffe segmentierbar sind.

1 Dazu Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001; Ihrig, GmbHR 1995, 623; Karsten Schmidt, ZGR 1993, 366 ff.; die Verweisung des § 133 Abs. 1 Satz 2 UmwG auf §§ 25 ff. HGB geht auf den Vorschlag des Verf. in ZGR 1990, 598 ff. zurück. 2 BGH v. 18.12.1995 – II ZR 294/93, AG 1996, 713 = GmbHR 1996, 125; dazu Karsten Schmidt, DB 1996, 1859 ff.

244 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.253 § 6

a) Sanierung von Tochtergesellschaften Charakteristische Mittel der Sanierung von Tochtergesellschaften sind etwa:

6.250

– strategische Maßnahmen der Muttergesellschaft (dazu allgemein Rz. 6.253 ff.), – organisatorische Umstrukturierungen und Neubesetzung des Managements (dazu Rz. 6.181 ff.), – Kapitalerhöhungen (Rz. 6.1 ff.) mit Einlagen der Muttergesellschaft oder mit Hilfe von Drittinvestoren, – im letzteren Fall auch die Beteiligung einer weiteren Muttergesellschaft (Umgestaltung der Tochtergesellschaft zu einem Joint Venture), – Gesellschafterdarlehen oder Bereitstellung von Sicherheiten (Rz. 6.84 ff.), – Patronatserklärungen und Liquiditätszusagen (Rz. 6.251). Patronatserklärungen können reine Liquiditätsgarantien sein, vermögen aber nicht nur die Zahlungsunfähigkeit, sondern aufgrund ihrer Prognosewirkung auch die Überschuldung zu beheben (dazu Rz. 14.152)1. Im Zusammenhang mit Patronatserklärungen stellt sich nicht selten die Frage eines Ausstiegs der Muttergesellschaft aus dem Sanierungsengagement. Ein solcher Ausstieg ist grundsätzlich nur mit Wirkung für die Zukunft und nur im Einklang mit konzernrechtlichen Regeln sowie mit der Treupflicht als Mehrheitsgesellschafterin zulässig2. Der Bundesgerichtshof hat in dem Urteil „STAR 21“ entschieden3: „Verspricht eine Muttergesellschaft in einer (Patronats-)Erklärung gegenüber ihrer bereits in der Krise befindlichen Tochtergesellschaft, während eines Zeitraums, der zur Prüfung der Sanierungsfähigkeit erforderlich ist, auf Anforderung zur Vermeidung von deren Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung deren fällige Verbindlichkeiten zu erfüllen, kann diese Erklärung mit Wirkung für die Zukunft gekündigt werden, wenn die Parteien nach den Umständen des Einzelfalles ein entsprechendes Kündigungsrecht vereinbart haben.“

6.251

Die Sanierung einer Tochtergesellschaft im Konzern kann aber nicht nur durch organisatorische oder finanzielle Hilfen der Mutter bewerkstelligt werden, sondern auch durch Herauslösung aus dem Konzern, also durch Verkauf der Anteile (share deal) bzw. – sofern dies haftungsrechtlich vertretbar ist – durch Unternehmensverkauf (asset deal). Eine solche Sanierungsmaßnahme vermeidet, ähnlich wie die Kapitalerhöhung mit Hilfe von Drittinvestoren, zugleich eine Gefährdung der Muttergesellschaft.

6.252

b) Sanierung der Muttergesellschaft 6.253

Eine Sanierung der Muttergesellschaft ist u.a. möglich durch – Organisations- und Kapitalmaßnahmen bei der Muttergesellschaft (insbesondere Kapitalerhöhung), 1 Eingehend Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015, S. 57 ff. 2 Vgl. dazu Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 10. Aufl. 2022, § 302 AktG Rz. 14. 3 BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 169 = NJW 2010, 3442 = ZIP 2010, 2092; dazu Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015, S. 66 ff.; Andreas Schmidt, BB 2010, 2752.

Karsten Schmidt | 245

§ 6 Rz. 6.253 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

– Teilveräußerungen von Anteilen an Tochtergesellschaften, – Teilliquidation im Konzern.

6.254

c) Alle Maßnahmen der vorstehenden Art setzen eine Mitwirkung der Gesellschafter voraus, auch wo das Gesetz dies nicht, wie bei Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung oder bei Umwandlungsmaßnahmen (§ 53 GmbHG, §§ 13, 125 UmwG), vorschreibt. Die Geschäftsführer sind verpflichtet, Grundlagenentscheidungen den Gesellschaftern zur Beschlussfassung vorzulegen1. Insbesondere gelten Grundsätze der zum Aktienrecht ergangenen Urteile „Holzmüller“ und „Gelatine“ – Vorlagepflicht bei elementaren Eingriffen in Gesellschafterrechte2 – nur noch mehr auch für die Geschäftsführer einer GmbH (vgl. schon Rz. 6.225). Die früher umstrittene Frage nach der erforderlichen Mehrheit3 ist für Maßnahmen der Umstrukturierung durch das aktienrechtliche „Gelatine“-Urteil geklärt4: Hier bedarf es einer qualifizierten (3/4) Mehrheit5. Dieses Erfordernis betrifft nicht den Konzern insgesamt, sondern nur die jeweils von der Maßnahme betroffene Gesellschaft. Die Pflicht der Geschäftsführer zur Befragung der Gesellschafter beginnt schon im Vorfeld der („Gelatine“-)Zone der „faktischen Satzungsänderungen“. Ungewöhnliche, insbesondere strategische Maßnahmen gehören generell in die Gesellschafterversammlung, die dann allerdings mit einfacher Mehrheit entscheiden kann6. Diese Mitwirkungsrechte der Gesellschafter bestehen auch in einer Gesellschaft (z.B. Holdinggesellschaft), die nicht unmittelbar Gegenstand der zu beschließenden Maßnahme, von dieser aber schwerwiegend betroffen ist. Dass von den Stimmrechten nur in den Grenzen der Treupflicht Gebrauch gemacht werden darf und dass die Treupflicht auch in Sanierungsrichtung gehen kann, versteht sich, nachdem der Bundesgerichtshof im „Girmes“-Urteil7 sogar Minderheitsaktionären und im Urteil „Sanieren oder Ausscheiden“8 sogar unbeschränkt haftenden Personengesellschaften ein Obstruktionsverbot bei der Beschlussfassung über sachgerechte Sanierungsmaßnahmen auferlegt hat (zum Obstruktionsverbot beim Insolvenzplan vgl. Rz. 31.39 ff.). Mit den Mitwirkungsrechten gehen also Treupflichten einher, bis hin zu der den Gesellschaftern im Urteil „Sanieren oder Ausscheiden“ angesonnenen Wahl zwischen zwei Übeln, sofern ein konsistent angelegter Kapitalschnitt Sanierung verspricht (Rz. 6.7). Grundsätzlich zu verneinen sind dagegen Leistungspflichten, insbesondere Nachschusspflichten der Gesellschafter (Rz. 2.34).

6.255–6.260

Einstweilen frei.

1 BGH v. 25.2.1991 – II ZR 76/90, GmbHR 1991, 197 = ZIP 1991, 509; Karsten Schmidt in Scholz, § 46 GmbHG Rz. 115; krit. Zitzmann, Die Vorlagepflichten des GmbH-Geschäftsführers, 1991, S. 35 ff., 85 ff. 2 BGH v. 25.2.1982 – II ZR 174/80 – „Holzmüller“, BGHZ 83, 122 = AG 1982, 158; BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, BGHZ 159, 30 = AG 2004, 384 = DStR 2004, 922 m. Anm. Goette. 3 Ausführlich noch in der 3. Aufl., Rz. 383. 4 BGH v. 26.4.2004 – II ZR 155/02 – „Gelatine“, BGHZ 159, 30 = AG 2004, 384 = DStR 2004, 922 m. Anm. Goette. 5 So hier schon 3. Aufl., Rz. 383. 6 Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 37 GmbHG Rz. 34 ff.; Karsten Schmidt in Scholz, § 46 GmbHG Rz. 115. 7 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136 = NJW 1995, 1739 m. Anm. Altmeppen = GmbHR 1995, 665; zust. Lutter, JZ 1995, 1053 ff.; Marsch-Barner, ZIP 1996, 853 ff.; Häsemeyer, ZHR 160 (1996), 109 ff.; scharf abl. Flume, ZIP 1996, 161 ff. 8 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, BGHZ 183, 1 = GmbHR 2010, 32 = NZG 2009, 1347 = ZIP 2009, 2289.

246 | Karsten Schmidt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.264 § 6

V. Arbeitsrechtliche Aspekte der Sanierung: Personalabbau 1. Ausgangspunkt und Regelungskomplexe Arbeitsrechtliche Aspekte der Sanierung ergeben sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen kann eine Reduzierung von Leistungen an die Arbeitnehmer erforderlich werden. Dazu sind individual- und kollektivrechtliche Gestaltungsmittel denkbar: Individualrechtlich können zunächst einmal vertragliche Flexibilisierungselemente wie Widerrufsvorbehalte, Freiwilligkeitsvorbehalte, Anrechnungsvorbehalte, Reduzierung von Sonderleistungen, und die Abgeltung von Überstunden genutzt werden. Änderungskündigungen zur sanierungsbedingten Veränderung von Arbeitsbedingungen, insbesondere zur Entgeltsenkung, sind zwar in der Theorie denkbar, in der Praxis aber in aller Regel ungeeignet. Zielführender sind dann Änderungsvereinbarungen mit dem jeweiligen Arbeitnehmer.

6.261

Effektiver als individualrechtliche Gestaltungsmittel sind nicht nur mit Blick auf ihre Breitenwirkung kollektivrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten1, d.h. die Änderung bzw. Ablösung oder Beendigung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen und der Abschluss von (betriebsvereinbarungsoffene Arbeitsverträge ändernden2) Sanierungsbetriebsvereinbarungen bzw. Sanierungstarifverträgen, ggf. auch im Zusammenhang mit „Bündnissen für Arbeit“3.

6.262

Zum anderen ist die Sanierung regelmäßig mit Rationalisierungen und Umstrukturierungen verbunden, die sich auf den Bestand und den Inhalt von Arbeitsverhältnissen auswirken. Soweit Sanierungen – wie zumeist – mit einem Personalabbau verbunden sind, der auch Bestandteil von Standortentwicklungsvereinbarungen sein kann, werden die hierzu genutzten Mittel zumeist aufgrund operativer und kostenbezogener Überlegungen ausgewählt. Personalpolitische Auswirkungen und die öffentliche Wahrnehmung des Veränderungsprozesses müssen aber ebenfalls im Blick behalten werden, um nachhaltige Sanierungseffekte zu erzielen4.

6.263

Es kommt regelmäßig zu Beendigungskündigungen sowie zu – aufgrund des ultima-ratioPrinzips erforderlichen – Änderungskündigungen. Ein Personalabbau erfordert die Beachtung von vier Regelungskomplexen:

6.264

– Die das jeweilige Arbeitsverhältnis betreffende Maßnahme muss den Anforderungen des Individualarbeits- bzw. Kündigungsschutzrechts genügen, d.h. eine Versetzung muss vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt, etwaige Änderungs- und Beendigungskündigungen müssen aus betriebsbedingten Gründen nach den Maßgaben des Kündigungsschutzgesetzes sozial gerechtfertigt sein, soweit dieses nach seinem persönlichen und sachlichen Geltungsbereich anwendbar ist (§ 1 Abs. 1 KSchG und § 23 KSchG). – Rationalisierungen und Umstrukturierungen können Betriebsänderungen i.S. der §§ 111 ff. BetrVG darstellen, so dass die diesbezüglichen Beteiligungsrechte des Betriebsrats zu beachten sind. 1 Ausführlich Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 64 ff.; Schweibert in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. I 61 ff.; Gaul/Mengel/Beck in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 21.1 ff.; Steffan in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 22.1 ff. 2 Vgl. z.B. Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 18.27 ff. 3 Dazu Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 162 ff. 4 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 379.

Mückl | 247

§ 6 Rz. 6.264 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

– Die Häufung arbeitsrechtlicher Entlassungsmaßnahmen kann dazu führen, dass es sich im Einzelfall um eine Massenentlassung i.S. der §§ 17 ff. KSchG handelt, so dass Anzeigepflichten sowie Unterrichtungs- und Beratungspflichten zu erfüllen sind. – Die Durchführung der einzelnen personellen Maßnahmen bedarf der Beteiligung des Betriebsrats nach den §§ 99 ff. BetrVG. Dies gilt insbesondere für die Zustimmung zu Versetzungen und für die Anhörung bei Kündigungen.

6.265

Schwerpunkt der folgenden Ausführungen sind die Voraussetzungen des Kündigungsschutzgesetzes für den Ausspruch und die Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen im Rahmen einer Sanierung. Die unter dem Gesichtspunkt der Betriebsänderung zu beachtenden betriebsverfassungsrechtlichen Vorgaben werden nachfolgend dargestellt (Rz. 12.109 ff.). Bezüglich der Kündigungserklärung, der Kündigungsfristen, der Anhörung des Betriebsrats und des jeweils zu beachtenden allgemeinen (KSchG) und besonderen Kündigungsschutzes (z.B. für werdende Mütter, Arbeitnehmer in Elternzeit, schwerbehinderte Menschen, aber auch Betriebsratsmitglieder) sowie des individual- und kollektivrechtlichen Verzichts1 auf das Kündigungsrecht, wird auf das allgemeine Schrifttum2 verwiesen. Unterstellt wird im Folgenden, dass das KSchG auf den zu sanierenden Betrieb anwendbar ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG)3. Im Vordergrund steht – entsprechend ihrer praktischen Bedeutung – die betriebsbedingte ordentliche Beendigungskündigung. Die außerordentlich fristlose betriebsbedingte Beendigungskündigung ist gegenüber einem ordentlich kündbaren Arbeitnehmer grundsätzlich unzulässig4. Sie spielt für Sanierungen – allerdings mit einer der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist5 – daher nur eine Rolle, wenn die ordentliche Kündigung wegen gesetzlichen oder vertraglichen Sonderkündigungsschutzes ausgeschlossen ist, sodass der Arbeitnehmer – trotz Wegfalls des Beschäftigungsbedarfs – noch für Jahre vergütet werden müssten, ohne eine Gegenleistung dafür zu erbringen6.

2. Betriebsbedingte Kündigung a) Vorüberlegungen 6.266

Die betriebsbedingte Kündigung setzt gemäß § 1 KSchG voraus, dass (i) die Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitnehmer auf Grund dringender betrieblicher Erfordernisse entfallen (Rz. 6.272 ff.) und dass (ii) soziale Gesichtspunkte bei der Auswahl des von der Kündigung betroffenen Arbeitnehmers ausreichend berücksichtigt worden sind (Rz. 6.306 ff.). Diese Vorgaben sind „aus sich heraus nicht handhabbar“7. Rechtssichere Orientierung bietet der Praxis – wenn überhaupt – nur die umfangreiche Rechtsprechung. Der Sanierungserfolg hängt in 1 Zum konkludenten Verzicht vgl. LAG Hamburg v. 21.9.2010 – 2 Sa 6/10, BeckRS 2021, 76069. 2 Vgl. z.B. die Kommentierungen von Bader/Fischermeier/Gallner u.a., KR-Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 12. Aufl. 2019; Linck/Krause/Bayreuther, KSchG, 16. Aufl. 2019; Däubler/Deinert/Zwanziger, Kündigungsschutzrecht, 11. Aufl. 2020 und monographisch Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015. 3 Zur Kündigung in Kleinbetrieben vgl. z.B. Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 50a f. 4 Sie kommt allenfalls in „Extremfällen“ in Betracht vgl. LAG Niedersachsen v. 1.9.2006 – 16 Sa 20/ 06, NZA-RR 2007, 131. 5 BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 379/12, NZA 2014, 139 Rz. 36 = DB 2014, 63. 6 BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 562/14, NZA 2016, 366 Rz. 29 = ZIP 2016, 488. 7 Zutreffend Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 2.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.269 § 6

diesem Kontext zumeist davon ab, dass neben eine korrekte Makroplanung auch eine entsprechend korrekte Mikroplanung der beabsichtigten betriebsbedingten Kündigungen tritt, die vorhandene Gestaltungsmittel zielführend einsetzt. Denn durch eine konsistente rechtliche und personalpolitische Vorbereitung kann erfahrungsgemäß nicht nur die Zahl der zu führenden Kündigungsschutzverfahren erheblich reduziert, sondern auch die Erfolgswahrscheinlichkeit im unvermeidbaren Kündigungsschutzprozess selbst stark erhöht werden, was nicht zuletzt für die – in der Praxis extrem häufige – Beendigung durch Vergleich eine maßgebliche Rolle spielt.

Sollen komplexe rechtliche Risiken – z.B. im Rahmen einer komplexen Sozialauswahl – vermieden werden oder sind ordentliche Kündigungen – z.B. aufgrund tariflichen Sonderkündigungsschutzes – weitgehend ausgeschlossen, kommen häufig sog. „Freiwilligenprogramme“1 ins Spiel, bei denen keine Kündigungen ausgesprochen werden, sondern im Rahmen eines – zumeist mit den Arbeitnehmervertretungen abgestimmten – Programms arbeitgeberseitig die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindungen u.Ä. angeboten wird2.

6.267

b) Dringende betriebliche Erfordernisse (§ 1 Abs. 2 KSchG) Die Prüfung dringender betrieblicher Erfordernisse vollzieht sich nach folgendem Darlegungs- und Prüfungsschema3:

6.268

– Liegt überhaupt ein „an sich“ betriebsbedingter Kündigungsgrund vor? – Liegt der Kündigung eine unternehmerische Entscheidung zugrunde? – Liegen die angeführten inner- und außerbetrieblichen Ursachen, die zur unternehmerischen Entscheidung geführt haben, vor? – Bedingt die unternehmerische Entscheidung den verringerten Personalbedarf (wirkt sie sich auf den Arbeitsplatz des gekündigten Arbeitnehmers aus)? – Fällt der Arbeitsplatz spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist weg bzw. besteht der verringerte Personalbedarf mindestens bis dahin (Prognose)? – Ist die Kündigung erforderlich oder ist ein geeignetes milderes Mittel vorhanden? – Ist das betriebliche Erfordernis auch „dringend“ i.S. des § 1 Abs. 2 KSchG? aa) Unternehmerische Entscheidung Dringende betriebliche Erfordernisse für eine Kündigung i.S. des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG liegen vor, wenn sich der Arbeitgeber zu einer organisatorischen Maßnahme entschließt, bei deren innerbetrieblicher Umsetzung das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer entfällt4. Jeder betriebsbedingten Kündigung liegt eine dementsprechend unternehmerische Entscheidung zugrunde. Ausgangspunkt für die Begründung der betriebsbedingten Kündigung ist damit, dass nach den konzeptionellen, strukturellen Entscheidungen 1 Vgl. dazu z.B. Meyer/Röger, NZA-RR 2011, 393 ff.; Pauken, ArbRAktuell 2016, 400 ff. 2 Wobei das BAG allerdings in seinem Urteil vom 7.2.2019 – 6 AZR 75/18, NJW 2019, 1966 = ZIP 2019, 983 das „Gebot fairen Verhandelns bei Aufhebungsverträgen“ entwickelt und dadurch die Rechtssicherheit nicht weiter befördert hat. 3 Vgl. U. Preis, NZA 1995, 241, 244; J. Vetter, NZA 2005, Beilage 1, 64, 72. 4 BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, NZA 2003, 605 = DB 2003, 158. Zu Besonderheiten bei der Kündigung von Leiharbeitnehmern vgl. Fuhlrott/Fabritius, NZA 2014, 122.

Mückl | 249

6.269

§ 6 Rz. 6.269 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

des Arbeitgebers keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr gegeben sind1. Die unternehmerische Entscheidung kann durch außer- oder innerbetriebliche Gründe veranlasst sein2.

6.270

Bereits dies wird von zu sanierenden Unternehmen oft übersehen und im Kündigungsschutzprozess dann lediglich pauschal dargestellt, es gehe dem Unternehmen oder der gesamten Branche schlecht, sodass zum Zwecke der Kostenreduktion Entlassungen unumgänglich seien. Das ist als unternehmerische Entscheidung nicht ausreichend, wie nicht zuletzt die Wirtschaftskrise infolge der Corona-Pandemie noch einmal deutlich gemacht hat: Sofern der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass infolge einer konkreten Entscheidung ein konkreter Arbeitsplatz entfallen ist, führt auch eine weltweite Wirtschaftskrise für sich genommen nicht zur Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung. bb) Kontrollmaßstab

6.271

Von den Arbeitsgerichten nachzuprüfen ist, ob eine derartige unternehmerische Entscheidung tatsächlich vorliegt und durch ihre Umsetzung das Beschäftigungsbedürfnis für die gekündigten Arbeitnehmer entfallen ist3. Dagegen ist die unternehmerische Entscheidung nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfen, sondern nur darauf, ob sie offenbar unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist4. Sie muss aber endgültig und ernsthaft sein. Im Rahmen des auf eine Missbrauchskontrolle beschränkten Prüfungsmaßstabs muss die Missbräuchlichkeit der Arbeitnehmer darlegen5. Für eine beschlossene und tatsächlich durchgeführte unternehmerische Organisationsentscheidung spricht dabei die Vermutung, dass sie aus sachlichen – nicht zuletzt wirtschaftlichen – Gründen getroffen wurde und nicht auf Rechtsmissbrauch beruht6. cc) Beispiele für den Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten

6.272

Es gehört zum Kern der unternehmerischen Freiheit, die betriebliche Organisation zu gestalten und festzulegen, an welchem Standort welche arbeitstechnischen Zwecke und Ziele verfolgt werden sollen. Der gesetzliche Kündigungsschutz verpflichtet den Arbeitgeber nicht, eine bestimmte betriebliche Organisationsstruktur beizubehalten7.

6.273

Sie umfasst nach ständiger Rechtsprechung auch die Festlegung, an welchem Standort welche arbeitstechnischen Ziele verfolgt werden8. Es ist – wie die ständige Rechtsprechung zu Recht 1 Vgl. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 456/98, DB 1999, 2117; BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 522/98, DB 1999, 1910 = ZIP 1999, 1729; BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 141/99, DB 1999, 1909 = ZIP 1999, 1721 (für die Ausdünnungs- und Stellenabbauentscheidung als unternehmerische Maßnahme grundlegend). 2 Vgl. BAG v. 26.6.1975 – 2 AZR 499/74, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG v. 7.12.1978 – 2 AZR 155/77, DB 1979, 650. 3 BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, NZA 2003, 605 = DB 2003, 158. 4 BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, NZA 2003, 605 = DB 2003, 158. Vgl. auch BAG v. 30.4.1987 – 2 AZR 184/86, DB 1987, 2207 = ZIP 1987, 1274; BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 183/89, DB 1990, 1773; BAG v. 26.9.2002 – 2 AZR 636/01, ZIP 2003, 733 (Ausgliederungsfall bei finanziell, organisatorisch und wirtschaftlich eingegliederter Tochtergesellschaft zur Verselbständigung von Serviceleistungen). 5 Vgl. BAG v. 23.4.2008 – 2 AZR 1110/06, DB 2008, 1631 = ZIP 2009, 47. 6 BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105, Rz. 15. 7 Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 163/11, NZA-RR 2013, 74. 8 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, Rz. 24; Hessisches LAG v. 10.6.2015 – 6 Sa 451/14, Rz. 46; LAG München v. 29.7.2009 – 11 Sa 230/09, Rz. 42.

250 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.276 § 6

annimmt – nicht Sache der Arbeitsgerichte, dem Arbeitgeber eine „bessere“ Betriebs- oder Unternehmensstruktur vorzuschreiben1. Denn der Arbeitgeber trägt das wirtschaftliche Risiko für die zweckmäßige Einrichtung und Gestaltung des Betriebes2. Die vom Arbeitgeber beabsichtigte unternehmerische Organisationsentscheidung muss daher nach der Rechtsprechung des BAG „als Fixpunkt hingenommen werden“3. Hiervon ausgehend wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung – soweit ersichtlich – konsequent zu Recht angenommen, es sei Teil der freien Unternehmerentscheidung des Arbeitgebers, ob der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers sich im Home-Office befinden soll4. So hat das Hessische LAG entschieden, der Arbeitgeber sei daher nicht gehalten, dem Kläger statt einer Verlagerung des Arbeitsplatzes von Eschborn nach Düsseldorf einen Home-Office-Arbeitsplatz anzubieten5. Auch insoweit unterliege es der „freien Unternehmerentscheidung, keinen Home-Office-Arbeitsplatz zu begründen“6. Im selben Sinne hatten zuvor bereits das LAG München7 und das LAG Hamm8 entschieden. Das LAG Hamm hat in diesem Zusammenhang zu Recht betont, ein Arbeitgeber könne nicht dazu gezwungen werden, einen anderen Arbeitsplatz zu schaffen9. Ebenso wenig könne ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber über diesen Weg dazu veranlassen, eine unternehmerische Betätigung zu ändern10. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Entscheidung des BAG vom 2.3.200611, in der das BAG im Fall einer außerordentlichen betriebsbedingten Änderungskündigung festgestellt hatte, die Einrichtung eines Heimarbeitsplatzes könne unter bestimmten Voraussetzungen mit dem unternehmerischen Konzept des Arbeitgebers vereinbar sein und als Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in Betracht kommen12.

6.274

Die Rechtsprechung hat allerdings Rechtsmissbräuchlichkeit angenommen, wenn ein Arbeitnehmer durch die Bildung separater betrieblicher Organisationsstrukturen bei unverändertem Beschäftigungsbedarf aus dem Betrieb gedrängt wird, indem die tatsächlichen Arbeitsabläufe unangetastet bleiben und nur pro forma in ein zu diesem Zweck erdachtes rechtliches Gefüge eingepasst werden13.

6.275

Es wird vermutet, dass eine beschlossene und durchgeführte Outsourcing-Maßnahme nicht rechtsmissbräuchlich ist, auch wenn nur der Arbeitsplatz eines einzelnen, ordentlich unkündbaren Arbeitsnehmers betroffen ist14. Es kann Fälle einer betriebsbedingten Kündigung geben,

6.276

1 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, NZA 2002, 696; LAG München v. 29.7.2009 – 11 Sa 230/09, Rz. 42. 2 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, NZA 2002, 696; LAG München v. 29.7.2009 – 11 Sa 230/09, Rz. 42. 3 BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, Rz. 24. 4 Hessisches LAG v. 10.6.2015 – 6 Sa 451/14, Rz. 46. 5 Hessisches LAG v. 10.6.2015 – 6 Sa 451/14, Rz. 46; zustimmend LAG Berlin-Brandenburg v. 24.3.2021 – 4 Sa 1243/20, Rz. 60. 6 Hessisches LAG v. 10.6.2015 – 6 Sa 451/14, Rz. 46. 7 LAG München v. 29.7.2009 – 11 Sa 230/09, Rz. 46 f. 8 LAG Hamm v. 22.7.2009 – 3 Sa 1630/08, Rz. 139–142. 9 LAG Hamm v. 22.7.2009 – 3 Sa 1630/08, Rz. 139–142. 10 LAG Hamm v. 22.7.2009 – 3 Sa 1630/08, Rz. 139–142; BAG v. 8.5.1996 – 5 AZR 971/94, EzA BGB § 618 Nr. 11. 11 BAG v. 2.3.2006 – 2 AZR 64/05, NZA 2006, 985. 12 Näher Mückl/Merget, DB 2021, 1013 ff. 13 Vgl. BAG v. 23.4.2008 – 2 AZR 1110/06, DB 2008, 1631 = ZIP 2009, 47. 14 Vgl. BAG v. 18.6.2015 – 2 AZR 480/14, DB 2015, 2092.

Mückl | 251

§ 6 Rz. 6.276 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

in denen die Organisationsentscheidung des Arbeitgebers und sein Kündigungsentschluss praktisch deckungsgleich sind. Die ansonsten berechtigte Vermutung, die fragliche Entscheidung sei aus sachlichen Gründen erfolgt, kann in diesen Fällen nicht unbesehen greifen. Da die Kündigung nach dem Gesetz an das Vorliegen von Gründen gebunden ist, die außerhalb ihrer selbst liegen, muss der Arbeitgeber in solchen Fällen seine Entscheidung hinsichtlich ihrer organisatorischen Durchführbarkeit und zeitlichen Nachhaltigkeit verdeutlichen. Daran fehlt es, wenn die Kündigung zu einer rechtswidrigen Überforderung oder Benachteiligung des im Betrieb verbleibenden Personals führen würde oder die zugrunde liegende unternehmerische Entscheidung lediglich Vorwand dafür wäre, bestimmte Arbeitnehmer aus dem Betrieb zu drängen, obwohl Beschäftigungsbedarf und Beschäftigungsmöglichkeiten objektiv fortbestehen und etwa nur der Inhalt des Arbeitsvertrags als zu belastend angesehen wird1.

6.277

Das Vorliegen von nur kurzfristigen Produktions- oder Auftragsschwankungen muss nach dem Vortrag des Arbeitgebers ausgeschlossen sein. Es ist vielmehr der dauerhafte Rückgang des Arbeitsvolumens nachvollziehbar darzustellen, in dem der Arbeitgeber die einschlägigen Daten aus repräsentativen Referenzperioden miteinander vergleicht. Denn ein nur vorübergehender Arbeitsmangel kann eine betriebsbedingte Kündigung nicht rechtfertigen2.

6.278

Jegliche Beschäftigungsmöglichkeit entfällt allerdings evident mit einer Betriebsstilllegung3. Erforderlich ist insoweit, dass der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen4. Das bloße Auslaufen eines Auftrags rechtfertigt eine betriebsbedingte Kündigung demgegenüber nicht ohne Weiteres, es sei denn, es liegen objektive Anhaltspunkte dafür vor, dass zwingend mit keiner Auftragsvergabe durch einen Dritten gerechnet werden muss5. Der Entschluss des Arbeitgebers, ab sofort keine neuen Aufträge mehr anzunehmen, allen Arbeitnehmern zum nächstmöglichen Kündigungstermin zu kündigen, zur Abarbeitung der vorhandenen Aufträge eigene Arbeitnehmer während der jeweiligen Kündigungsfristen einzusetzen und so den Betrieb schnellstmöglich stillzulegen, ist als unternehmerische Entscheidung grundsätzlich zur Rechtfertigung betriebsbedingter Kündigungen geeignet. Das gleiche gilt selbst dann, wenn zunächst eine kleinere Betriebsabteilung fortgeführt werden soll. Es kommt für die Frage nach dem Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung maßgeblich auf das Schließungskonzept des Arbeitgebers an. Entschließt sich der Arbeitgeber zur schnellstmöglichen, dauerhaften Aufhebung der Betriebsund Produktionsgemeinschaft, entfällt die Beschäftigungsmöglichkeit mit dem Ablauf der individuellen Kündigungsfrist.

6.279

Die Unternehmerentscheidung kann (außerbetrieblich) an Absatzschwierigkeiten oder Auftragsmangel anknüpfen. Der Arbeitgeber kann feststellen, dass angesichts des Arbeitsanfalls die Belegschaft überbesetzt ist. Ertragsverschlechterung oder Kostenerhöhungen können für den Arbeitgeber Anlass sein, betriebliche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation zu er1 Vgl. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 522/98, BAGE 92, 61 = AP KSchG 1969 § 1 Nr. 102 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 1999, 1729; BAG v. 16.12.2010 – 2 AZR 770/09, DB 2011, 879; BAG v. 23.2.2012 – 2 AZR 548/10, NZA 2012, 852; BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, DB 2012, 2402 = NZA 2012, 1223; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 5.3.2013 – 5 Sa 106/12, LAGE § 626 BGB 2002 Nr. 40. 2 Vgl. BAG v. 23.2.2012 – 2 AZR 548/10, DB 2012, 1630. 3 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, DB 2001, 1370 = ZIP 2001, 1022; BAG v. 7.7.2005 – 2 AZR 447/04, DB 2005, 2474; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, DB 2006, 846. 4 Vgl. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465. 5 Vgl. BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 543/06, NZA 2008, 821 = ZIP 2008, 2091.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.280 § 6

greifen, etwa Produktionsbereiche aufzugeben oder einzuschränken, Hierarchieebenen zu bereinigen oder Personal- und Stellenstrukturen zu straffen. Witterungsgründe können ebenfalls Ausgangspunkt für eine unternehmerische Entscheidung über einen Stellenabbau sein1. Macht der Arbeitgeber einen Umsatzrückgang geltend, der die Einschränkung eines Produktionsbereichs oder eine Herabsetzung der Belegschaft erfordert, so wird er die Umsatzentwicklung aufzeigen und darstellen, wie er im Einzelnen auf diesen Umsatzrückgang reagiert hat, d.h. wie sich aus den von ihm getroffenen Dispositionen der Arbeitsplatzwegfall ergibt2. Der Arbeitgeber, der sich zur Rechtfertigung einer ordentlichen Kündigung auf einen Rückgang des Beschäftigungsvolumens infolge eines verringerten Auftragsbestands beruft, muss darlegen, dass nicht nur eine kurzfristige Abwärtsbewegung vorliegt, sondern eine dauerhafte Auftragseinbuße zu erwarten ist. Die Möglichkeit einer „normalen“, im Rahmen des Üblichen liegenden Auftragsschwankung muss prognostisch ausgeschlossen sein; dazu bedarf es regelmäßig eines Vergleichs der maßgebenden Daten aus repräsentativen Referenzperioden3. Personalabbau und Stellenreduzierung können auch ohne äußere Anlässe die betriebsbedingte Kündigung begründen. Der Entschluss des Arbeitgebers zur Stellenreduzierung führt zu dem für die betriebsbedingte Kündigung maßgeblichen Stellenwegfall4. Es gehört zum Kern der unternehmerischen Freiheit, die betriebliche Organisation zu gestalten und festzulegen, an welchem Standort welche arbeitstechnischen Zwecke und Ziele verfolgt werden sollen5. Der gesetzliche Kündigungsschutz verpflichtet den Arbeitgeber nicht, eine bestimmte Organisationsstruktur beizubehalten. Dies gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber entscheidet, die Belegschaft generell um eine bestimmte Anzahl zu verkleinern6. Der Arbeitgeber ist bei Abnahme des Arbeitsvolumens nicht gehalten, nur solche Folgerungen zu ziehen, die lediglich auf eine proportionale Stellenreduzierung hinauslaufen. Eine Stellenreduzierung kommt auch dann in Betracht und ist als unternehmerische Maßnahme zu respektieren, wenn damit eine „Leistungsverdichtung“ einhergeht7. Ein bloßer Einsparungs- oder Kostenreduzierungsbeschluss genügt nicht8. Die Entscheidung muss in eine betrieblich-organisatorische Maßnahme münden. Beispiele: – Einführung eines rollierenden Einsatzsystems9, – Einführung einer Halbtagsstelle statt einer Vollzeitstelle10,

1 Vgl. BAG v. 7.3.1996 – 2 AZR 180/95, DB 1996, 1523. 2 Vgl. BAG v. 30.5.1985 – 2 AZR 321/84, AP Nr. 24 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG v. 11.9.1986 – 2 AZR 564/85, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 54; ArbG Bielefeld v. 13.8.2012 – 4 Ca 2374/10. 3 Vgl. BAG v. 23.2.2012 – 2 AZR 482/11. 4 Vgl. LAG Köln v. 10.2.1995 – 13 Sa 708/94, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 30; LAG Köln v. 12.5.1995 – 13 Sa 1184/94, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 32; LAG Köln v. 9.8.1996 –11 Sa 271/96, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 41; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 487. S. aber kritisch U. Preis, NZA 1997, 1073, 1079. 5 Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 163/11, NZA-RR 2013, 74. 6 Vgl. LAG Köln v. 8.5.1996 – 7 Sa 764/95, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 38. 7 Vgl. BAG v. 24.4.1997 – 2 AZR 352/96, AP Nr. 42 zu § 2 KSchG = DB 1997, 1776; LAG Düsseldorf v. 11.10.2001 – 13 (14) Sa 997/01, NZA-RR 2002, 353; LAG Baden-Württemberg v. 12.8.2004 – 22 Sa 99/03; Hümmerich/Spirolke, NZA 1998, 797 ff. 8 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 24.4.1995 – 15 Sa 162/94, LAGE § 2 KSchG Nr. 18. 9 Vgl. LAG Düsseldorf v. 26.5.1999 – 9 Sa 335/99, DB 2000, 1029. 10 Vgl. BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 617/99, AP Nr. 63 zu § 2 KSchG 1969 = NZA 2001, 500.

Mückl | 253

6.280

§ 6 Rz. 6.280 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

– Entfallen einer Hierarchiestufe und Umgestaltung von Führungsstrukturen1, – Einführung eines rollierenden Einsatzsystems2, – Ausgliederung/Fremdvergabe3, – Produktionsverlagerung z.B. ins Ausland4, – Ersetzung abhängiger Arbeitnehmer durch selbständige Unternehmer oder freie Mitarbeiter5,

– Betriebsstilllegung6, – Druckkündigung7. Dem Arbeitgeber ist überlassen, wie er sein Unternehmensziel kostengünstig und zweckmäßig am Markt verfolgt, und er kann unter diesem Gesichtspunkt auch das System und die Vertragsformen für Mitarbeiter im Außendienst umorganisieren8. Die Unternehmensentscheidung muss allerdings konkrete organisatorische Auswirkungen haben. Eine bloß etikettenmäßige, formale Umbenennung genügt nicht9. Eine unternehmerische Entscheidung zur Reorganisation kann auch ein Gesamtkonzept beinhalten, das sowohl die Umgestaltung aller bisherigen Arbeitsplätze als auch die Reduzierung des bisherigen Arbeitsvolumens zum Gegenstand hat. Ein solches Gesamtkonzept ist nicht zu beanstanden und nimmt an der nur auf Missbrauch beschränkten gerichtlichen Kontrolle teil10. dd) Maßgeblicher Zeitpunkt (Prognoseprinzip)

6.281

Hängt der Wegfall des Beschäftigungsbedarfs von einer solchen unternehmerisch-organisatorischen Maßnahme des Arbeitgebers ab, braucht diese bei Kündigungszugang noch nicht tatsächlich umgesetzt zu sein. Es genügt, dass sie sich konkret und greifbar abzeichnet. Dazu müssen – soweit die Kündigung ihren Grund in einer Änderung der betrieblichen Organisation hat – zumindest die Absicht und der Wille des Arbeitgebers, die fraglichen Maßnahmen vorzunehmen, schon vorhanden und abschließend gebildet worden sein. Andernfalls lässt 1 Vgl. BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 176/00, DB 2002, 1163. 2 Vgl. LAG Düsseldorf v. 26.5.1999 – 9 Sa 335/99, DB 2000, 500. 3 Vgl. BAG v. 21.2.2002 – 2 AZR 556/00, DB 2002, 2276 (Übertragung der Aufgaben von „FieldKoordinatoren“ von einem Pharmaunternehmen auf ein Drittunternehmen); BAG v. 12.4.2002 – 2 AZR 740/00, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 117; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 489/01, NZA 2002, 1304 (Fremdvergabe von Laborleistungen); BAG v. 16.12.2004 – 2 AZR 66/04, NZA 2005, 761 (Übertragung der Aufgaben von Produktionsleitern einer Zeitung auf „Team-Dispatcher“ eines Drittunternehmens); BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105 (Fremdvergabe von Hausmeisterdiensten); LAG Rheinland-Pfalz v. 23.2.2012 – 10 Sa 503/11 (Auflösung des internen Reinigungsdienstes). 4 Vgl. BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 809/12, DB 2014, 663 = ZIP 2014, 594. 5 Vgl. BAG v. 13.3.2008 – 2 AZR 1037/06, DB 2008, 1575. 6 Vgl. BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687 (Beschlussfassung kündigungsrechtlich durch Geschäftsführer möglich auch ohne Gesellschafterbeschluss). 7 Vgl. BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 420/12, DB 2013, 2934 = ZIP 2014, 391. 8 Vgl. BAG v. 9.5.1996 – 2 AZR 438/95, AP Nr. 79 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung = DB 1996, 2033 = ZIP 1996, 1879 (Umstellung von Arbeitsverträgen auf „Partnerverträge“). 9 Vgl. BAG v. 26.9.1996 – 2 AZR 200/96, AP Nr. 80 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1997, 178 = ZIP 1997, 249 („Austauschkündigung“); BAG v. 16.12.2004 – 2 AZR 66/ 04, NZG 2005, 761. 10 Vgl. BAG v. 22.9.2005 – 2 AZR 208/05, AP Nr. 141 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2006, 1118.

254 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.284 § 6

sich im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung – auf den es dafür unverzichtbar ankommt – nicht hinreichend sicher prognostizieren, es werde bis zum Ablauf der Kündigungsfrist tatsächlich zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs kommen1. Im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung muss die auf Tatsachen gestützte, vernünftige betriebswirtschaftliche Prognose gerechtfertigt sein, dass zum Kündigungstermin mit einiger Sicherheit der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes vorliegen wird2. Erforderlich ist im Fall einer Betriebsstilllegung z.B., dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen3. Der Ernsthaftigkeit der Stilllegungsabsicht steht dabei nicht entgegen, dass sich der Arbeitgeber entschlossen hat, die gekündigten Arbeitnehmer in der jeweiligen Kündigungsfrist noch für die Abarbeitung vorhandener Aufträge einzusetzen. Der Arbeitgeber erfüllt damit gegenüber den tatsächlich eingesetzten Arbeitnehmern lediglich seine auch im gekündigten Arbeitsverhältnis bestehende Beschäftigungspflicht4. An einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehlt es aber, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in ernsthaften Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs steht oder sich noch um neue Aufträge bemüht5.

6.282

Bei einer Betriebsstilllegung ist ferner erforderlich, dass die geplanten Maßnahmen zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits „greifbare Formen“ angenommen haben6. Von einer Stilllegung kann jedenfalls dann ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissverständlich äußert, allen Arbeitnehmern kündigt, etwaige Miet- oder Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt auflöst, die Betriebsmittel, über die er verfügen darf, veräußert und die Betriebstätigkeit vollständig einstellt7. Für die Stilllegung von Betriebsteilen gilt dies, begrenzt auf die entsprechende Einheit, entsprechend8.

6.283

ee) Darlegungs- und Beweislast Die außer- oder innerbetrieblichen Umstände müssen dauerhaft zur Reduzierung des betrieblichen Arbeitskräftebedarfs führen. Da der Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Tatsachen zu beweisen hat, die die Kündigung bedingen, hat er die tatsächlichen Grundlagen für die Berechtigung der Prognose, bis spätestens zum Ablauf der Kündigungsfrist werde ein Beschäftigungsbedarf entfallen sein, von sich aus schlüssig vorzutragen9. Zu diesen Tatsachen gehört der schon bei Kündigungszugang getroffene endgültige Entschluss zur Vornahme einer Maßnahme, die zu einem solchen Wegfall führen werde10. Wie substantiiert der Vortrag zu erfolgen hat, hängt von der Einlassung des Arbeitnehmers ab11. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105, Rz. 16. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 52. Vgl. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, Rz. 37. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 52. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 52. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 53; BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, Rz. 40, ZIP 2012, 2080. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 53; BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, Rz. 26, ZIP 2011, 2023. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, AP Nr. 462 zu § 613a BGB Rz. 53; BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, Rz. 26, ZIP 2011, 2023. BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105, Rz. 17. BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105, Rz. 17. BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, DB 2015, 1105, Rz. 17.

Mückl | 255

6.284

§ 6 Rz. 6.285 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

6.285

Mit Blick auf das Vorliegen einer entsprechenden unternehmerischen Entscheidung genügt es zunächst, wenn der Arbeitgeber – zumindest konkludent – behauptet, er habe seine entsprechende Entscheidung schon vor Zugang der Kündigung getroffen. Wenn der Arbeitnehmer dies mit – in der Regel zunächst ausreichendem – Nichtwissen bestreitet, wird der Arbeitgeber nähere tatsächliche Einzelheiten darlegen müssen, aus denen unmittelbar oder mittelbar geschlossen werden kann, er habe die entsprechende Absicht bereits im Kündigungszeitpunkt endgültig gehabt.

6.286

Der Arbeitgeber muss bei der Geltendmachung eines Arbeitskräfteüberhangs darlegen, dass und wie er eine bestimmte Arbeitsmenge nunmehr auf eine geringere Anzahl von Arbeitnehmern verteilt. Der Arbeitgeber kann sich dabei arbeitswissenschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse bedienen. Er kann auf Messziffernsysteme Bezug nehmen; je differenzierter und fallbezogener ein derartiges Messziffernsystem ist, desto plausibler kann dem Arbeitsgericht ein Arbeitskräfteüberhang dargetan werden1. Der Arbeitgeber kann auch Vergleichsrechnungen zwischen der früheren und der jetzigen Arbeitsmenge aufzeigen, um darzutun, dass die bisherige Belegschaft gegenüber der verbliebenen Arbeitsmenge überdimensioniert ist. Es geht letztlich um eine Plausibilitätskontrolle2.

6.287

Macht der Arbeitgeber geltend, dass er zur Kostenersparnis und Verbesserung der Wirtschaftlichkeit eine Hierarchiestraffung konzipiert hat, so muss er dartun, dass er die Entscheidung getroffen hat, die Arbeit und Funktionen auf beispielsweise drei anstatt fünf Ebenen zu verteilen, und er muss nachvollziehbar machen, dass es sich dabei nicht nur um eine fiktive, irreale Überlegung handelt, sondern um eine solche, die zu einem anderen (möglichen) Betriebsablauf und Organisationsplan führt, so dass Beschäftigungsmöglichkeiten in der bisherigen Form nicht mehr gegeben sind3. Der Arbeitgeber muss etwa bei Abbau einer Hierarchieebene oder bei Streichung einzelner Arbeitsplätze in Verbindung mit einer Umverteilung der Aufgaben konkret erläutern, in welchem Umfang und aufgrund welcher Maßnahmen die bisher vom gekündigten Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeiten künftig entfallen4.

6.288

Läuft die unternehmerische Entscheidung nur auf den Abbau von Arbeitsplätzen oder gar die Entlassung eines Arbeitnehmers hinaus und wird dies verbunden mit einer Neuverteilung der den betroffenen Arbeitnehmern bisher zugewiesenen Arbeitsaufgaben, so hat der Arbeitgeber zur Begründung einer betriebsbedingten Kündigung darzulegen, welche konkreten Arbeitsaufgaben mit welchem Arbeitsvolumen auf andere Arbeitnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt übertragen werden. Er hat im Rahmen einer abgestuften Darlegungslast die Auswirkungen seiner unternehmerischen Planungen und Vorgaben auf das zu erwartende Arbeitsvolumen anhand einer schlüssigen Prognose im Einzelnen darzustellen und anzugeben, wie die anfallenden Arbeiten erledigt werden können5. Der Arbeitgeber hat darzulegen, welche Arbeitsaufgaben mit welchen Arbeitszeitvolumina bisher die Arbeitnehmer durchgeführt haben, auf die durch die Neuverteilung neue Arbeitsaufgaben übertragen werden, damit die bisherige und zukünftige Entwicklung der Arbeitsmenge ohne überobligationsmäßige Leistungen des verbliebenen Personals festgestellt werden kann6. In welcher Weise ein Arbeitgeber darlegt, dass die Umvertei1 2 3 4 5 6

Vgl. BAG v. 26.6.1975 – 2 AZR 499/74, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. Vgl. LAG Düsseldorf v. 11.10.2001 – 13 (14) Sa 997/01, NZA-RR 2001, 187. Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 522. Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, DB 2012, 2402. Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, DB 2012, 2402. Vgl. BAG v. 13.2.2008 – 2 AZR 1041/06, DB 2008, 1689; LAG Berlin v. 22.8.2003 – 2 Sa 810/03, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung; LAG Köln v. 2.2.2005 – 3 Sa 1045/04, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 73.

256 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.290 § 6

lung von Arbeitsaufgaben nicht zu einer überobligatorischen Beanspruchung im Betrieb verbliebener Arbeitnehmer führt, bleibt ihm überlassen. Handelt es sich um nicht taktgebundene Arbeiten, muss nicht in jedem Fall und minutiös dargelegt werden, welche einzelnen Tätigkeiten die fraglichen Mitarbeiter künftig mit welchen Zeitanteilen täglich zu verrichten haben. Es kann je nach Einlassung des Arbeitnehmers ausreichend sein, wenn der Arbeitgeber die getroffenen Vereinbarungen zu Umfang und Verteilung der Arbeitszeit darstellt und Anhaltspunkte dafür darlegt, dass Freiräume für die Übernahme zusätzlicher Aufgaben vorhanden sind1. Praxistipp: Da die Arbeitsgerichte mitunter dazu neigen, an den Arbeitgebervortrag überzogene Anforderungen zu stellen, ist die Personalreduktion häufig mit schwer kalkulierbaren prozessualen Risiken verbunden. Für Restrukturierungskonzepte sollte daher beachtet werden, dass die Stilllegung ganzer Betriebe oder Betriebsabteilungen zwar der „radikalere“ Schritt sein mag, sich kündigungsrechtlich aber wesentlich leichter umsetzen lässt als „ein schonender, den Betrieb (und die verbleibenden Arbeitsplätze) erhaltender bloßer Personalabbau“2.

6.289

c) Ultima-Ratio-Prinzip Die Beendigungskündigung ist das äußerste und letzte Mittel: ultima ratio. Ein betriebliches Erfordernis bedingt die Entlassung nur dann, wenn es dem Arbeitgeber nicht möglich ist, entweder durch eine andere Beschäftigung den betroffenen Arbeitnehmer unterzubringen oder durch eine andere Maßnahme dem betrieblichen Erfordernis Rechnung zu tragen, um so die Entlassung zu vermeiden; nur wenn derartige andere Mittel nicht zur Verfügung stehen, ist der betriebliche Grund so dringend, dass er die Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt3. Eine Kündigung ist nur dann i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt, wenn es dem Arbeitgeber nicht möglich ist, dem bei Ausspruch der Kündigung absehbaren Wegfall des Beschäftigungsbedarfs durch andere Maßnahmen als durch eine Beendigungskündigung zu entsprechen. Das Merkmal der „Dringlichkeit“ der betrieblichen Erfordernisse ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Aus ihm folgt, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vor jeder ordentlichen Beendigungskündigung von sich aus eine sowohl diesem als auch ihm selbst objektiv mögliche anderweitige Beschäftigung auf einem freien gleich- oder geringerwertigen Arbeitsplatz – ggf. im Wege der Änderungskündigung – anbieten muss. Dieses in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b Satz 3 KSchG konkretisierte Erfordernis gilt unabhängig davon, ob in dem Beschäftigungsbetrieb ein Betriebsrat besteht und dieser der Kündigung widersprochen hat4. Die Weiterbeschäftigung muss, damit die Dringlichkeit ausgeschlossen wird, sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer objektiv möglich sein. Dies setzt voraus, dass ein freier Arbeitsplatz zu gleichwertigen/vergleichbaren oder zu geänderten/schlechteren Bedingungen zur Verfügung steht5. Dies ist bei einem dauerhaft arbeitsunfähigen Arbeitnehmer fraglich6. 1 Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, DB 2012, 2402. 2 Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 4b. 3 Vgl. BAG v. 15.6.1989 –2 AZR 600/88, AP Nr. 45 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1989, 2384 = ZIP 1989, 1605; BAG v. 19.5.1993 – 2 AZR 584/92, NZA 1993, 1075. S. zum Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der betriebsbedingten Kündigung eingehend Wank, RdA 2012, 139 ff. 4 Vgl. BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 809/12, DB 2014, 663 = ZIP 2014, 594. 5 Vgl. BAG v. 25.10.2012 – 2 AZR 552/11, NZA-RR 2013, 632. 6 Vgl. BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 440/99, AP Nr. 112 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; LAG Berlin v. 14.1.2000 – 6 Sa 1547/98, NZA-RR 2001, 187. Zu den Grenzen der Verpflichtung zum Angebot eines leidensgerechten Arbeitsplatzes vgl. Mückl/Hiebert, NZA 2010, 1259 ff.

Mückl | 257

6.290

§ 6 Rz. 6.291 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

aa) Freier, gleichwertiger Arbeitsplatz

6.291

Die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung auf einem anderen, freien und gleichwertigen Arbeitsplatz steht einer betriebsbedingten Kündigung entgegen (§ 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b KSchG). Es ist zu prüfen, ob ein freier Arbeitsplatz im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens vorhanden ist. Eine Beschäftigung auf einem freien Arbeitsplatz eines anderen Unternehmens ist nur dann zu berücksichtigen, wenn dieser sich in einem Gemeinschaftsbetrieb des kündigenden und des anderen Unternehmens befindet1. Da das Kündigungsschutzgesetz nicht konzernbezogen ist, besteht eine konzernbezogene Weiterbeschäftigungspflicht nur ausnahmsweise unter besonderen Voraussetzungen2: Zum einen muss sich ein anderes Konzernunternehmen ausdrücklich zur Übernahme des Arbeitnehmers bereit erklären oder eine Unterbringungsverpflichtung unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag, einer sonstigen vertraglichen Absprache oder der in der Vergangenheit geübten Praxis folgen. Zum anderen muss ein bestimmender Einfluss des vertragsschließenden Unternehmens auf die „Versetzung“ bestehen.

6.292

Besondere Konkurrenzprobleme treten auf, wenn zwar freie gleichwertige Arbeitsplätze im Unternehmen bestehen, ihre Zahl aber nicht ausreicht, um allen vom Wegfall ihres Arbeitsplatzes betroffenen Arbeitnehmern eine Weiterbeschäftigung zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des BAG ist das Angebot freier Arbeitsplätze dann mit einer echten Sozialauswahl zu kombinieren3. Nicht ausreichend ist, lediglich soziale Belange zu berücksichtigen4. Die Sozialauswahl im Rahmen der Vergabe freier Arbeitsplätze ist zunächst weiterhin auf den Betrieb, hier allerdings den Zielbetrieb, beschränkt: Die Arbeitnehmer des vom Wegfall von Arbeitsplätzen betroffenen Betriebs (Ausgangsbetrieb) konkurrieren um freie Arbeitsplätze in einem anderen Betrieb (Zielbetrieb) desselben Unternehmens. Das Erfordernis einer Sozialauswahl besteht nach der Rechtsprechung des BAG tendenziell auch dann, wenn Arbeitnehmer mehrerer vom Wegfall von Arbeitsplätzen betroffener Betriebe um Arbeitsplätze in einem nicht vom Wegfall von Arbeitsplätzen betroffenen Zielbetrieb konkurrieren5. Die Sanierungspraxis sollte eine Sozialauswahl daher auch in der beschriebenen Fallkonstellation durchführen.

6.293

Freie Arbeitsplätze im Ausland sind nach zutreffender Rechtsprechung des BAG6 i.d.R. keine freien Arbeitsplätze i.S. des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. Satz 3 KSchG. Lediglich Sonderkonstellationen hat das BAG7 bislang offen gelassen.

1 Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, NZA 2013, 277 = ZIP 2013, 330; BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, DB 2013, 586. 2 S. dazu näher etwa BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, NZA 2017, 175 = ZIP 2017, 193; BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, NZA 2013, 277 = ZIP 2013, 330; BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, DB 2013, 586 sowie die Fallgruppenbildung zu Ausnahmefällen bei Willemsen/Sittard in Willemsen/ Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 38. 3 Vgl. BAG v. 10.11.1994 – 2 AZR 242/94, NZA 1995, 566 = DB 1995, 1285; BAG v. 5.10.1995 – 2 AZR 269/95, NZA 1996, 524 = DB 1996, 281; BAG v. 12.8.2010 – 2 AZR 945/08, NZA 2011, 460 = DB 2011, 597. 4 BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 476/16, NZA 2018, 234. 5 BAG v. 21.9.2000 – 2 AZR 385/99, NZA 2001, 535 = ZIP 2001, 388; vgl. auch BAG v. 22.9.2005 – 2 AZR 544/04, NZA 2006, 558; BAG v. 27.7.2017 – 2 AZR 476/16, NZA 2018, 234; vgl. dazu Hertzfeld/Steffens, NZA 2020, 1063 ff. 6 BAG v. 29.8.2013 – 2 AZR 809/12, NZA 2014, 730 = ZIP 2014, 594. 7 Vgl. zu ihnen BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 3/14, NZA 2015, 1457; vgl. ferner Fuhlrott, DB 2014, 1198 ff.

258 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.297 § 6

Die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung auf einem anderen, freien und gleichwertigen Arbeitsplatz ist auch dann gegenüber der Entlassung vorrangig, wenn dies erst nach zumutbaren Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen möglich ist (§ 1 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 KSchG). Der Fortbildungs- oder Umschulungsaspekt bezieht sich allerdings nur auf das Leistungsprofil des Arbeitnehmers in der Breite. Die Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer zumutbare Umschulungs- oder Fortbildungsmöglichkeiten anzubieten, besteht nur, wenn im Kündigungszeitpunkt feststeht, dass spätestens nach Durchführung der Qualifizierungsmaßnahme ein geeigneter Arbeitsplatz im Unternehmen vorhanden und frei ist. Der Arbeitgeber ist von Gesetzes wegen nicht verpflichtet, den Arbeitnehmer allein zum Zwecke der Qualifikation weiter zu beschäftigen1.

6.294

bb) Freier, geringerwertiger Arbeitsplatz Vorrang vor der Entlassung hat schließlich die Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung auf einem anderen, freien Arbeitsplatz zu geänderten Arbeitsbedingungen (§ 1 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 KSchG). Der Arbeitgeber hat, soweit rechtlich möglich, dem Arbeitnehmer eine entsprechende Beschäftigung kraft des Direktionsrechts zuzuweisen oder, soweit die Maßnahme vom Direktionsrecht nicht gedeckt ist, ein Änderungsangebot zu unterbreiten2. Es gilt in allen Fällen der Grundsatz des Vorrangs der Änderungskündigung vor der Beendigungskündigung als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

6.295

Die anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit ist auch dann zu beachten, wenn nach dem unternehmerischen Konzept nur eine vorübergehende Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz in Betracht kommt3.

6.296

cc) Wann ist ein Arbeitsplatz „frei“? Arbeitsplätze sind frei, wenn sie zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unbesetzt sind4. Der Arbeitgeber kann sich allerdings nach dem Rechtsgedanken des § 162 BGB nicht auf einen von ihm selbst treuwidrig durch eine vorgezogene Stellenbesetzung verursachten Wegfall freier Arbeitsplätze im Kündigungszeitpunkt berufen5. Ein freier vergleichbarer (gleichwertiger) Arbeitsplatz oder ein freier Arbeitsplatz zu geänderten (schlechteren) Arbeitsbedingungen ist nur dann in die Betrachtung einzubeziehen, wenn der Arbeitnehmer über die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt. Das Anforderungsprofil bestimmt der Arbeitgeber bis zur Grenze der offensichtlichen Unsachlichkeit (Beispiel: Berufserfahrung)6. Etwas anderes gilt für rein persönliche Merkmale ohne Bezug zur konkreten Arbeitsaufgabe. Ein Arbeitsplatz ist nicht als frei zu qualifizieren, solange ein zur Erledigung der dort anfallenden Arbeit dem Arbeitgeber arbeitsvertraglich verpflichteter Arbeitnehmer vorhanden ist. Daran ändert auch eine Krankheit bzw. vorübergehende Arbeitsunfähigkeit nichts. Selbst wenn wahrscheinlich ist oder feststeht, dass der erkrankte Arbeitnehmer nicht zurückkehren 1 Vgl. BAG v. 8.5.2014 – 2 AZR 1001/12. 2 Vgl. BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 3 Vgl. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 417/14, NZA 2015, 1083. 4 Vgl. BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, NZA 2007, 352. 5 Vgl. BAG v. 25.4.2002 – 2 AZR 260/01, DB 2003, 158. 6 Vgl. BAG v. 2.3.2017 – 2 AZR 546/16, NZA 2017, 905, Rz. 23; BAG v. 24.6.2004 – 2 AZR 326/03, DB 2004, 2431; BAG v. 7.7.2005 – 2 AZR 399/04, DB 2006, 341; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 107/07, NZA 2008, 1180.

Mückl | 259

6.297

§ 6 Rz. 6.297 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

wird, ist allein dadurch der betreffende Arbeitsplatz nicht als frei anzusehen, solange der Arbeitsvertrag mit dem Erkrankten besteht. Es ist bis zur Grenze des Missbrauchs Sache des Arbeitgebers, darüber zu bestimmen, ob und ggf. wie lange er eine Krankheitsvakanz auf einen bestimmten Arbeitsplatz hinnimmt und ob und wie er sie überbrückt1.

6.298

Dem Arbeitnehmer muss keine Stelle mit einer höherwertigen Qualifikation oder auf einer höherwertigen Funktionsebene eingeräumt werden, auch wenn diese frei ist. Einen Anspruch auf Beförderung gibt es nicht2. Ein Anspruch auf Beförderung und damit auf Qualifizierung für höherwertige Aufgaben wird insbesondere auch durch § 1 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 KSchG nicht begründet3. Der Arbeitgeber kann anlässlich einer Umgestaltung des Arbeitsablaufs und einer Verlagerung von Arbeiten in andere Betriebe oder Betriebsabteilungen nur dann geltend machen, dass eine Besetzung der insoweit neu geschaffenen Stellen mit den früheren Arbeitsplatzinhabern nicht in Betracht komme, weil es sich um „Beförderungsstellen“ handele, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit andere, neue Tätigkeiten beinhaltet und nicht letztlich die alten Verrichtungen fortgesetzt werden; im letztgenannten Fall handelt es sich um gleichartige, vergleichbare Arbeitsplätze4. Wenn der Arbeitgeber Beschäftigungsmöglichkeiten von einem Betrieb oder Betriebsteil in einen anderen verlegt, so folgt aus einer höheren Vergütung für die neuen Positionen nicht, dass es sich um Beförderungsstellen handelt, wenn die Tätigkeit ganz überwiegend gleich geblieben ist5.

6.299

Der Abbau von Leiharbeitnehmern ist jedenfalls dann nicht vorrangig, wenn diese (nur) zum Auffangen von Arbeitsspitzen oder zu Vertretungszwecken eingesetzt werden6. Arbeitsplätze sind allerdings dann als frei anzusehen, wenn auf ihnen Leiharbeitnehmer tätig sind, die nicht zur Abdeckung von Vertretungsbedarf („Personalreserve“) oder von Auftragsspitzen tätig sind, sondern wenn es sich um (sonstige) dauerhafte Arbeitsplätze handelt, die der Arbeitgeber mit Leiharbeitnehmern besetzt hat7.

6.300

Der Abbau von Überstunden kann im Einzelfall eine Erwägung im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sein8. Die Verteilung der durch die Überstunden erledigten Arbeit auf die zu entlassenden Arbeitnehmer muss aber tatsächlich und rechtlich möglich sein. Dies ist nicht möglich, wenn der zu entlassende Arbeitnehmer nicht in dem Bereich beschäftigt werden kann, in dem Überstunden geleistet werden. Es ist auch nicht möglich, wenn die Arbeitsmenge deshalb nicht anders verteilt werden kann, weil es allein um die Einhaltung bestimmter Liefertermine geht, ohne dass ansonsten das Arbeitsvolumen für mehr Arbeitnehmer ausreichend ist. Betriebsbedingte Kündigungen in einem Bereich eines Unternehmens sind also durchaus unabhängig davon möglich, ob in einem anderen Bereich des Unternehmens Überstunden geleistet werden.

1 Vgl. BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, AP Nr. 142 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 2 Vgl. BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, DB 1991, 173. 3 Vgl. BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, DB 1991, 173; BAG v. 7.2.1991 – 2 AZR 205/90, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Umschulung. 4 Vgl. BAG v. 10.11.1994 – 2 AZR 242/94, DB 1995, 1285. 5 Vgl. BAG v. 5.10.1995 – 2 AZR 269/95, DB 1996, 281. 6 Vgl. BAG v. 17.3.2005 – 2 AZR 4/04, AP Nr. 71 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; LAG Hamm v. 5.3.2007 – 11 Sa 1338/06, DB 2007, 1701; LAG Hamm v. 24.7.2007 – 12 Sa 320/07, NZA-RR 2008, 239. S. dazu ausf. Moll/Ittmann, RdA 2008, 321 ff. 7 Vgl. BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, NZA-RR 2013, 68 = ZIP 2013, 184; BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623; Hessisches LAG v. 6.3.2012 – 19 Sa 1342/11. 8 Vgl. Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 6. Aufl. 2008, § 6 Rz. 193 f.

260 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.302 § 6

Die Einführung von Kurzarbeit als Mittel zur Vermeidung von betriebsbedingten Kündigungen ist umstritten1. Das Bundesarbeitsgericht hat früher angenommen, dass eine umfassende Interessenabwägung auch die Prüfung erfordere, ob der Arbeitgeber betriebsbedingte Kündigungen durch die Einführung von Kurzarbeit abwenden könne2. Es hat dies später jedoch abgeschwächt3. Die Einführung von Kurzarbeit als Mittel zur Vermeidung von Entlassungen ist aus zwei Gründen abzulehnen. Zum einen stellt Kurzarbeit eine vorübergehende Maßnahme dar, während die unternehmerische Entscheidung des Arbeitgebers mit der Folge des Wegfalls von Beschäftigungsmöglichkeiten eine Neu- und Umstrukturierung zum Inhalt hat, die auf Dauer angelegt ist, so dass Kurzarbeit eine entsprechend begründete betriebsbedingte Kündigung nicht erübrigen kann. Zum anderen entsteht bei einer Einbeziehung von Kurzarbeit in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ein unauflösbarer Widerspruch zur grundsätzlich anerkannten Gerichtsfreiheit der unternehmerischen Maßnahme, aus der sich ergibt, dass das Bedürfnis für die Beschäftigung von Arbeitnehmern entfällt. Es gehört im Kern zur unternehmerischen Prärogative zu entscheiden, ob innerbetriebliche Anpassungsmaßnahmen erfolgen oder ob diese nicht erfolgen und die Folgen einer Nichtanpassung bzw. eines Nichtstrukturwandels lediglich durch Kurzarbeit (vorübergehend) wirtschaftlich abgemildert werden.

6.301

Mit Blick auf den infolge der Corona-Pandemie stark verbreiteten Einsatz von Kurzarbeit unter erleichtertem Zugang zu Kurzarbeitergeld nach §§ 95 ff. SGB III werden viele mit einem Personalabbau verbundene Sanierungen stattfinden, nachdem Kurzarbeitergeld in Anspruch genommen wurde. Auch wenn – entgegen vereinzelter instanzgerichtlicher Entscheidungen4 – Kurzarbeit wie bereits dargelegt nicht generell ein im Vergleich zur betriebsbedingten Kündigung milderes Mittel darstellt, zumal sie – anders als die betriebsbedingte Kündigung – einen nur vorübergehenden Arbeitsausfall zur Grundlage hat, wird die Sanierungspraxis für den arbeitgeberseitigen Vortrag die Grundsätze berücksichtigen müssen, die das BAG in seinem Urteil vom 23.2.20125 entwickelt hat6:

6.302

– Wird Kurzarbeit geleistet, so spricht dies dafür, dass die Betriebsparteien nur von einem vorübergehenden Arbeitsmangel und nicht von einem dauerhaft gesunkenen Beschäftigungsbedarf ausgehen. Ein nur vorübergehender Arbeitsmangel wiederum kann eine betriebsbedingte Kündigung nicht rechtfertigen. Dieses aus der Kurzarbeit folgende Indiz kann der Arbeitgeber durch konkreten Sachvortrag entkräften. – Entfällt die Beschäftigungsmöglichkeit für einzelne von der Kurzarbeit betroffene Arbeitnehmer aufgrund später eingetretener weiterer Umstände oder veränderter wirtschaftlicher und/oder organisatorischer Rahmenbedingungen auf Dauer, so kann trotz der Kurzarbeit ein dringendes betriebliches Erfordernis für eine Kündigung bestehen. – Da die betrieblichen Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers entgegenstehen, dringend sein müssen, die Kündigung im Interesse des Betriebs also unvermeidbar sein muss, hat der Arbeitgeber zuvor alle Möglichkeiten auszuschöpfen, 1 Ablehnend wie hier Seidler/Josephs, NZA 2020, 1227, 1228 m.w.N. zum Streitstand. 2 Vgl. BAG v. 25.6.1964 – 2 AZR 382/63, DB 1964, 958. 3 Vgl. BAG v. 7.2.1985 – 2 AZR 91/84, DB 1986, 436; BAG v. 4.3.1986 – 1 ABR 15/84, DB 1986, 1395; BAG v. 11.9.1986 – 2 AZR 564/85, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 54. 4 LAG Schleswig-Holstein v. 29.9.1988 – 4 Sa 367/88, NZA 1989, 275; ArbG Dessau-Roßlau v. 18.6.2009 – 10 Ca 77/09, BeckRS 2009, 73232. 5 BAG v. 23.2.2012 – 2 AZR 548/10, NZA 2012, 852 = DB 2012, 1630. 6 Näher zu Wechselwirkungen zwischen Kurzarbeit und betriebsbedingten Kündigungen Schmädicke/Stark, ArbRAktuell 2020, 278 ff.

Mückl | 261

§ 6 Rz. 6.302 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

die mit dem Ziel geschaffen worden sind und bestehen, durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit betriebsbedingte Kündigungen in Zeiten geringeren Arbeitsanfalls zu vermeiden. Haben die Betriebsparteien durch die Einführung von Kurzarbeit den Umfang der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit auf ein Niveau abgesenkt, dass den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen gerade überflüssig macht, so kann ein dringendes betriebliches Kündigungserfordernis regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit zur Arbeitszeitreduzierung voll ausgeschöpft hat und gleichwohl noch ein Beschäftigungsüberhang besteht.

6.303

Hiervon ausgehend wird es für zu sanierende Unternehmen in der Regel sicherer und effizienter sein, den beabsichtigten Personalabbau nach Inanspruchnahme von Kurzarbeit auf innerbetriebliche Gründe zu stützen1, die sorgfältig dokumentieren, wann und warum in welchem Umfang aus einem vorübergehenden Beschäftigungsentfall ein dauerhafter Beschäftigungsentfall geworden ist2. Das wird schon mit Blick darauf erforderlich werden, dass die Berechtigung zum Bezug von Kurzarbeitergeld nach §§ 95 ff. SGB III in Bezug auf die von einem dauerhaften Arbeitsausfall betroffenen Arbeitnehmer nicht mehr besteht. Wann die Unternehmerentscheidung einen vorübergehenden Arbeitsausfall i.S. des § 96 Abs. 1 Nr. 2 SGB III entfallen lässt, ist allerdings im Ergebnis eine Frage des Einzelfalls3.

6.304

Der Arbeitgeber ist nicht gehalten, eine Politik der Arbeitsstreckung zu betreiben, um Arbeitsplätze zu erhalten, für die auf der Grundlage seiner konzeptionellen und strukturellen Unternehmerentscheidung kein Bedürfnis besteht4. Das Bundesarbeitsgericht hat es dem Arbeitgeber überlassen (und ihn insoweit nicht nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beschränkt), ob er im Falle des Wegfalls von Beschäftigungsmöglichkeiten entweder eine geringere Anzahl von Beendigungskündigungen oder eine größere Anzahl von Änderungskündigungen ausspricht, um Arbeitskapazität/Arbeitszeit an die Veränderungen bei Art und Volumen der zu verrichtenden Aufgaben anzupassen5.

d) Interessenabwägung 6.305

Es ist umstritten, ob dann, wenn das Bedürfnis für die Tätigkeit eines Arbeitnehmers auf Grund dringender betrieblicher Gründe entfallen ist, noch zusätzlich eine Interessenabwägung stattfinden kann oder muss, um endgültig zu bestimmen, ob die Entlassung als sozial (un)gerechtfertigt anzusehen ist. In seinem Urteil vom 30.4.19876 hat das Bundesarbeitsgericht noch angenommen, dass eine betriebsbedingte Kündigung sozial ungerechtfertigt sei, wenn die für den Arbeitgeber von der Kündigung zu erwartenden Vorteile in keinem vernünftigen Verhältnis zu den Nachteilen stehen, die sich für den Arbeitnehmer aus der Kündigung ergeben. Eine „an sich“ begründete betriebsbedingte Kündigung kann danach nur in Ausnah1 Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 4d. 2 Ebenso Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 4d. 3 Ebenso Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 4d; näher Schmädicke/Stark, ArbRAktuell 2020, 278 ff. 4 S. dazu etwa Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 6. Aufl. 2008, § 6 Rz. 191 ff. 5 Vgl. BAG v. 19.5.1993 – 2 AZR 584/92, AP Nr. 31 zu § 2 KSchG 1969 = DB 1993, 1879; BAG v. 26.11.2009 – 2 AZR 658/08, EzA § 2 KSchG Nr. 76, Rz. 19. 6 Vgl. BAG v. 30.4.1987 – 2 AZR 184/86, AP Nr. 42 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung = DB 1987, 2207 = ZIP 1987, 1274.

262 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.307 § 6

mefällen auf Grund der Interessenabwägung unwirksam sein. Diese zusätzliche Interessenabwägung ist abzulehnen1. Das dringende betriebliche Erfordernis führt nur zur Kündigung, wenn die Beschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer entfallen ist und keine andere, mildere Maßnahme zur Verfügung steht (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Es verbleibt bei der Ableitung der betriebsbedingten Kündigung aus der gerichtsfreien unternehmerischen Entscheidung des Arbeitgebers einerseits und dem sich unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergebenden Fehlen der Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den betroffenen Arbeitnehmer andererseits kein Raum für eine allgemeine, darüber hinausgehende Interessenabwägung.

e) Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG) Steht auf Grund der dringenden betrieblichen Erfordernisse fest, dass Beschäftigungsmöglichkeiten entfallen sind und dass für eine Anzahl von Arbeitnehmern kein Bedürfnis einer Weiterbeschäftigung mehr besteht, so ist auf Grund der sozialen Auswahl zu entscheiden, welcher von mehreren Mitarbeitern zu entlassen ist2. Ist die Sanierung mit einem Personalabbau verbunden, ist stets eine Sozialauswahl i.S. des § 1 KSchG erforderlich, wenn lediglich ein Teil der vergleichbaren Mitarbeiter desselben Betriebs vom Verlust des Arbeitsplatzes betroffen ist. Etwas anderes gilt nur, falls der gesamte Betrieb stillgelegt wird. Die Sozialauswahl erfolgt aber kraft Gesetzes zwingend anhand der Faktoren3

6.306

– Alter, – Betriebszugehörigkeit, – Unterhaltspflichten und – Schwerbehinderung.

Lediglich in Insolvenzsituationen kann die Schwerbehinderung ggf. unberücksichtigt bleiben (vgl. §§ 125 f. InsO). Die Faktoren Alter und Betriebszugehörigkeit (ggf. aber auch die übrigen) bevorzugen indes tendenziell ältere Mitarbeiter. Konsequenz daraus ist, dass eine – nicht optimierte – Sozialauswahl im Zweifel stets zur Kündigung jüngerer, ggf. leistungsfähigerer und mit geringeren Personalkosten verbundener Mitarbeiter führt. Folge sind überalterte und durchschnittlich teurere Mitarbeiterstrukturen, die bereits kurzfristig den Sanierungserfolg gefährden. Erfahrungsgemäß wird häufig aber aus Unsicherheit über juristische und operative Fallstricke zu wenig und zu spät über Gestaltungsmöglichkeiten zur Optimierung der Sozialauswahl nachgedacht. In vielen Unternehmen führt diese Passivität nach kurzer Zeit zu einer weiteren Restrukturierungswelle und sorgt bei Mitarbeitern und Kunden für eine erhebliche Verunsicherung. Nachhaltige Sanierungen können so zumeist nicht erreicht werden. Die strategische Planung einer optimierten Sozialauswahl ist daher – im Rahmen eines detaillierten Ablaufund Kommunikationsplans – für Sanierungsprozesse ein ganz entscheidender Erfolgsfaktor. Dazu ist ein ganzheitliches Umsetzungskonzept erforderlich, das strategische, juristische und fachliche Anforderungen bündelt und ein ganzheitliches Zielbild definiert. Dieses Konzept 1 Vgl. BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 183/89, AP Nr. 27 zu § 2 KSchG 1969 (B I 2c der Gründe) = DB 1990, 1773; U. Preis, NZA 1997, 1073, 1078. 2 S. dazu etwa Bröhl, BB 2006, 1050 ff.; Lunk, NZA 2005, Beilage 1, 41 ff.; Müller, MDR 2002, 491 ff.; Schiefer, NZA-RR 2002, 169 ff. 3 Zu deren Gewichtung vgl. BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, NZA 2015, 426 = ZIP 2015, 1948; bestätigt in BAG v. 24.9.2015 – 2 AZR 680/14, MDR 2016, 398.

Mückl | 263

6.307

§ 6 Rz. 6.307 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

(z.B. in Form eines „White Book“)1 muss die Rahmenparameter definieren, mit denen eine Sozialauswahl aktiv gestaltet werden kann. aa) Strukturveränderungen zur Optimierung der Sozialauswahl

6.308

Wichtig sind strategische Überlegungen bereits im Vorfeld, weil die zur Optimierung der Sozialauswahl vorgesehenen gesetzlichen Regelungen – wie gleich näher erläutert wird – in ihrer Ausformung durch die Rechtsprechung lediglich begrenzte Handlungsspielräume bieten (vgl. nachfolgend Rz. 6.309 ff.), die nur durch im Vorfeld getroffene strategische Weichenstellungen erweitert werden können. Angeknüpft werden muss dazu an grundlegende Organisationsstrukturen. Denn die Sozialauswahl erfolgt gemäß § 1 KSchG im jeweiligen Betrieb des Unternehmens. Sie erfolgt weder unternehmens- noch betriebsübergreifend2. Optimierungen sind daher durch – Strukturveränderungen in Form von Änderungen des Betriebszuschnitts (d.h. der Spaltung, Zusammenfassung oder Neugründung von Betrieben)3 bzw. – die Übertragung von Personal auf andere Unternehmen möglich4. Dadurch scheiden die gewünschten Mitarbeiter aus dem von Personalabbau betroffenen Betrieb bzw. Unternehmen und der dort erforderlichen Sozialauswahl aus. bb) Nutzung gesetzlicher Optimierungsmöglichkeiten

6.309

Die mit der Sanierung verfolgte Zielstruktur wird durch die Fachbereiche definiert, die dazu nicht nur auf die Aufbereitung der für die Sozialauswahl relevanten Daten durch die Personalabteilung angewiesen sind. Durch den Planungsprozess der Fachbereiche entsteht in der betrieblichen Praxis erfahrungsgemäß unvermeidlich eine Mitarbeiter-Wunschliste, welche die Leistungsfähigkeit des Unternehmens sicherstellen und typischerweise eine Verbesserung der Abteilungsstruktur bewirken soll. Diese durchaus berechtigte Erwartung der Fachbereiche löst verglichen mit den Ergebnissen einer starren Sozialauswahl indes rechtlich massive Umsetzungsprobleme aus5. Es liegt auf der Hand, dass ein reines „Mitarbeiter-Ranking“ nach starren sozialen Kriterien bzw. Vergleichbarkeitsgruppen nicht mit dem fachlichen Zielbild übereinstimmen kann, da in der Regel keine ausreichend hohe Korrelation zwischen Performance und sozialen Auswahlkriterien besteht. Um diesem Zielbild so nahe wie möglich zu kommen, muss – über die Nutzung spezifischer gesetzlicher Optimierungsmöglichkeiten hinaus – strategisch so früh wie möglich über folgende ergänzende Maßnahmen nachgedacht werden: – genaue Planung von Abbauzielen in den fachlichen Bereichen; – Identifikation der Schlüsselmitarbeiter, die von der Sozialauswahl ausgenommen werden sollen; – Übertragung ausgewählter Mitarbeiter/Funktionen oder Betriebsteile auf andere Gesellschaften bzw. in andere Betriebe; – Veränderung von Betriebsstrukturen. 1 Vgl. dazu Scholz/Gellrich/Rohrmoser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 2 Rz. 60 ff. 2 BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 582/14, NZA 2016, 33. 3 Vgl. dazu Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 15.17 ff. 4 Vgl. dazu Mückl in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 10.19 ff. 5 Vgl. hierzu bereits Mückl/Scholz, Personalmagazin 2015, Heft 5, 72 ff.

264 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.311 § 6

Darauf muss (z.B. durch die Personalabteilung) so früh wie möglich hingewiesen werden. Denn der Gestaltungsspielraum ist rechtlich umso größer, je frühzeitiger entsprechende Maßnahmen umgesetzt werden. Werden sie im zeitlichen Zusammenhang mit einem Personalabbau vorgenommen, ist die Gefahr groß, dass sie als Umgehungskonstruktionen qualifiziert werden. Bereits Diskussionen hierüber – typischerweise im Rahmen von Kündigungsschutzklagen – führen zu hohen Kosten, die den Sanierungserfolg gefährden können. Erfolgskritisch ist daher ein möglichst großer zeitlicher Abstand, der mindestens mehrere Monate betragen sollte1.

Optimierungsmöglichkeiten, die das Gesetz ausdrücklich einräumt, sollten losgelöst davon selbstverständlich – im Idealfall: ergänzend – genutzt werden. Vorgesehen sind:

6.310

– Herausnahme von Leistungs- und Know-how-Trägern (§ 1 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 KSchG); – eine Sozialauswahl nach Altersgruppen (§ 1 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 KSchG); – eine Sozialauswahl auf der Grundlage einer Personalauswahlrichtlinie (sog. „Punkteschema“, § 1 Abs. 4 KSchG, § 95 BetrVG) und – eine in einem Interessenausgleich mit Namensliste vereinbarte Sozialauswahl (§ 1 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO) sowie – nur im Insolvenzverfahren – ein Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz (§ 126 InsO). Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind die Anforderungen an eine Sozialauswahl, die das BAG in seinem Urteil vom 19.12.20132 im Rahmen der Prüfung einer Sozialauswahl auf der Grundlage eines Interessenausgleichs nach § 125 InsO noch einmal zusammengefasst und dabei wichtige Klarstellungen zur groben Fehlerhaftigkeit einer Sozialauswahl vorgenommen hat. Eine Kündigung ist, auch wenn dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen, sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des zu entlassenden Arbeitnehmers die Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG). Grundlage der Prüfung ist, welcher Arbeitnehmer durch die Kündigung am wenigsten hart betroffen wird, d.h. welcher Arbeitnehmer auf seinen Arbeitsplatz am wenigsten angewiesen ist3. Dem können im Einzelfall berechtigte betriebliche Interessen entgegenzuhalten sein (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG). Die Feststellung des auf Grund der sozialen Auswahl zu entlassenden Arbeitnehmers vollzieht sich in mehreren Schritten. Als Erstes ist der in die Auswahl einzubeziehende Arbeitnehmerkreis festzulegen. Als nächstes geht es darum, die Auswahl unter den betriebsangehörigen vergleichbaren Arbeitnehmern zu treffen. Diese Auswahl betrifft zwei Fragen: die Bestimmung der Schutzwürdigkeit und die Berücksichtigung betrieblicher Interessen. Die „betriebswichtigen“ Arbeitnehmer sind nicht in die Sozialauswahl einzubeziehen, wenn berechtigte betriebliche Interessen gegeben sind, die gewichtig genug sind, um Schutzwürdigkeitspräferenzen außer Kraft zu setzen4.

1 2 3 4

Vgl. hierzu bereits Mückl/Scholz, Personalmagazin 2015, Heft 5, 72 ff. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781 = ZIP 2014, 536. Vgl. BAG v. 4.5.2006 – 8 AZR 299/05, NZA 2006, 1096 = ZIP 2006, 1545. S. dazu näher Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 666 ff.; Bader, NZA 1996, 1125, 1129; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, 1997, Rz. 107 ff.; Leinemann, BB 1996, 1381, 1383; Löwisch, NZA 1996, 1009, 1010; B. Preis, DB 1998, 1761, 1766; U. Preis, NJW 1996, 3369, 3371.

Mückl | 265

6.311

§ 6 Rz. 6.312 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

cc) Bezugspunkt Betrieb

6.312

Die Sozialauswahl erfolgt nach der Rechtsprechung betriebsweit1. Sie ist nicht, wie von Wank sinnvoll vorgeschlagen worden ist2, auf den Bereich beschränkt, in dem jeweils die Ursache für den Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit gesetzt worden ist. Bezugspunkt der Sozialauswahl ist der Betrieb im kündigungsrechtlichen Sinne3. Fiktive Betriebsstrukturen nach § 3 BetrVG sind für die Sozialauswahl nicht maßgeblich4. Eine Beschränkung der Sozialauswahl auf Abteilungen oder Bereiche findet nicht statt. Dies gilt auch bei räumlich weit entfernt liegenden Betriebsteilen5. Die Sozialauswahl ist nur dann auf einen Betriebsteil beschränkt, wenn der Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag nicht im Wege des Direktionsrechts in andere Betriebsteile versetzt werden kann6. Die Sozialauswahl ist nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts auch auf solche Betriebsteile zu erstrecken, die veräußert werden, so dass Arbeitnehmer einzubeziehen sind, die im Zeitpunkt der Kündigungserklärung dem zur Veräußerung vorgesehenen Betriebsteil angehören7. Die Rechtsprechung hat bei Filialen angenommen, dass die Gesamtheit aller Verkaufsstellen zusammen mit der Zentrale einen Betrieb i.S. des Kündigungsschutzgesetzes bilde8. Maßgeblich sind aber die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Führungsstrukturen. Selbst wenn von einem filialübergreifenden Betrieb ausgegangen werden muss, ist die Sozialauswahl nur dann über die Gesamtheit der Filialen hinweg durchzuführen, wenn der Einsatzbereich des Arbeitnehmers auf Grund des Arbeitsvertrags nicht auf eine konkrete Filiale beschränkt ist (denn dann fehlt es an einer Vergleichbarkeit mit den Mitarbeitern anderer Filialen). Die Betriebsbezogenheit der Sozialauswahl ist auch für den Gemeinschaftsbetrieb maßgeblich9, und zwar unabhängig davon, wie viele Arbeitgeber den Gemeinschaftsbetrieb bilden10. Die unternehmensübergreifende Sozialauswahl im Gemeinschaftsbetrieb entfällt allerdings, wenn eines der Unternehmen seinen Teil stilllegt oder wenn der Gemeinschaftsbetrieb aufgelöst wird11. Dies gilt dann und deshalb, wenn und weil die einheitliche Leitung entfällt. Leiharbeitnehmer gehören dem Betrieb des Verleiharbeitgebers an, so dass die Sozialauswahl alle (vergleichbaren) Arbeitnehmer des Verleiharbeitgebers erfasst (jedenfalls dann, wenn ein Austausch im Verhältnis zum Entleiher nicht ausgeschlossen ist)12.

6.313

Ob eine betriebsüberschreitende Sozialauswahl stattfinden kann und muss, wenn der Arbeitnehmer betriebsüberschreitend einsetzbar ist oder eingesetzt worden ist, d.h. insbesondere, wenn der Arbeitgeber sich das Direktionsrecht vorbehalten hat, den Arbeitnehmer auch in anderen Betrieben einzusetzen, ist problematisch. Die Beschränkung der Sozialauswahl auf den Betrieb besteht richtigerweise auch dann, wenn der Arbeitgeber sich kraft Direktions1 Vgl. BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, DB 2004, 604 = ZIP 2004, 1271. 2 Vgl. Wank, Anm. zu BAG v. 15.6.1989, AR-Blattei D, Kündigungsschutz, Entscheidung 304. 3 Vgl. BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 85/19, Rz. 24; BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687; zur Kennzeichnung des kündigungsrechtlichen Betriebs vgl. Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, Rz. 15.9 ff. m.w.N. 4 Vgl. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, NZA 2008, 33, Rz. 18 = ZIP 2007, 2433; Mückl, DB 2010, 2615, 2618. 5 Vgl. BAG v. 3.6.2004 – 2 AZR 577/03, DB 2005, 231. 6 Vgl. BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 333/04, DB 2005, 2696 = ZIP 2006, 46. 7 Vgl. BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, DB 2005, 673 = ZIP 2005, 412. 8 Vgl. BAG v. 26.8.1971 – 2 AZR 233/70, AP Nr. 1 zu § 23 KSchG 1969 = DB 1971, 2319. 9 BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 85/19, Rz. 24. 10 Vgl. z.B. BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 48/03, DB 2004, 2759 = ZIP 2004, 966; BAG v. 24.2.2005 – 2 AZR 214/04, DB 2005, 1523 = ZIP 2005, 1189. 11 Vgl. BAG v. 29.11.2007 – 2 AZR 763/06, ZIP 2008, 1598. 12 Vgl. BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674 = ZIP 2014, 145.

266 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.317 § 6

rechts einen betriebsüberschreitenden Einsatz vorbehalten hat1. Etwas anderes kann gelten, wenn der Einsatz tatsächlich in mehreren Betrieben erfolgt. dd) Einzubeziehende Arbeitnehmer Die Sozialauswahl kann in keinem Falle weiter reichen als der Bereich der Arbeitspflicht des Arbeitnehmers. Der Arbeitsvertragsinhalt der einzelnen Arbeitnehmer beschränkt die für die Sozialauswahl relevante Vergleichbarkeit2. Eine Sozialauswahl kommt daher nur insoweit in Betracht, wie ein Arbeitnehmer auf Grund seines Arbeitsvertrags ohne Änderungskündigung eingesetzt werden kann.

6.314

Ausgangspunkt für die Feststellung der Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern ist der Arbeitsplatz. Es ist festzustellen, welche Arbeitsplätze entfallen und welche in Anbetracht des für die Arbeitsplätze geltenden Anforderungsprofils vergleichbaren Arbeitsplätze vorhanden sind3. Die Vergleichbarkeit wird dadurch begründet, dass Arbeitnehmer auf Grund arbeitsplatzbezogener Merkmale austauschbar sind4. Dies richtet sich sowohl nach dem Arbeitsplatz als auch nach dem Arbeitsvertrag des jeweiligen Arbeitnehmers. Die in eine Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer müssen nämlich horizontal, fachlich und rechtlich vergleichbar sein5.

6.315

Eine rechtliche Vergleichbarkeit besteht nicht, wenn die andere Tätigkeit nicht kraft Direktionsrecht angewiesen werden kann, weil die bisherige Tätigkeit arbeitsvertraglich festgeschrieben ist6. Es fehlt an der rechtlichen Austauschbarkeit.

6.316

Arbeitnehmer und Arbeitsplätze sind demgegenüber als fachlich vergleichbar anzusehen, wenn Arbeitnehmer die Arbeitsaufgabe ohne Weiteres übernehmen können, wobei völlige Identität nicht erforderlich ist. Der betroffene Arbeitnehmer muss in der Lage sein, ohne eine erhebliche Einarbeitungszeit den anderen Arbeitsplatz auszufüllen7. Es kommt darauf an, ob diese Arbeitnehmer aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation sowie aufgrund ihrer gleichwertigen Tätigkeiten im Betrieb in der Lage sind, eine andersartige, aber gleichwertige Arbeit von anderen Arbeitnehmern nach einer (relativ) kurzen Einarbeitungszeit auszuüben8. Mit Blick auf die fachliche Austauschbarkeit kann nach den Feststellungen des BAG einem aktuellen Stand von Kenntnissen und Fähigkeiten erhebliche Bedeutung zukommen. Ein arbeitsplatzbezogener „Routinevorsprung“ habe bei der Frage der Vergleichbarkeit aber außer Betracht zu bleiben9. Das ist rechtlichen Laien häufig nur schwer zu vermitteln. Hierauf muss in der

6.317

1 Vgl. BAG v. 2.6.2005 – 2 AZR 158/04, DB 2005, 2196 = ZIP 2005, 2077; BAG v. 15.12.2005 – 6 AZR 199/05, DB 2006, 1326 = ZIP 2006, 2008. 2 Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 610. 3 Vgl. BAG v. 15.6.1989 – 2 AZR 580/88, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1990, 380 = ZIP 1990, 1223; BAG v. 29.3.1990 – 2 AZR 369/89, AP Nr. 50 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1991, 173; BAG v. 3.6.2004 – 2 AZR 577/03, DB 2005, 231; BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, AP Nr. 142 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. 4 Vgl. BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674 = ZIP 2014, 145. 5 Vgl. nur Quecke in Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht-Kommentar, 10. Aufl. 2022, § 1 KSchG Rz. 354 ff. m.w.N. 6 Vgl. BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, NZA 2002, 696; BAG v. 23.11.2004 – 2 AZR 38/04, DB 2005, 1225; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, DB 2008, 2143. 7 Vgl. BAG v. 5.5.1994 – 2 AZR 917/93, AP Nr. 23 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1994, 1827 = ZIP 1994, 1716; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, DB 2008, 2143. 8 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781 = ZIP 2014, 536. 9 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781 = ZIP 2014, 536.

Mückl | 267

§ 6 Rz. 6.317 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Beratungspraxis besonderer Wert gelegt werden. Ggf. sollte, um „Überraschungen“ zu vermeiden, mehrfach nachgefragt und der Mandant gebeten werden, zu umschreiben, warum der eine Mitarbeiter nicht „nur“ besser arbeitet als ein anderer. Es kommt nicht auf eine wechselseitige Austauschbarkeit an, sondern allein darauf, welche Tätigkeit der Arbeitnehmer wahrnehmen kann, dessen Arbeitsplatz entfallen ist. Berufsausbildung und Eingruppierung sind in aller Regel taugliche Anknüpfungspunkte1. Erfahrungen und Tätigkeitsinhalte im Laufe der Berufsentwicklung können jedoch die Ausbildung insbesondere angesichts einer Spezialisierung in den Hintergrund treten lassen, so dass eine Vergleichbarkeit nicht (mehr) besteht. Der Arbeitgeber muss jedoch bei gleichen Ausbildungsstufen oder Studienabschlüssen im Einzelnen dartun, welche Anforderungen oder Entwicklungen den Mangel an Vergleichbarkeit begründen2. Welcher Einarbeitungszeitraum dem Arbeitgeber zugemutet werden kann, hängt nach der Rechtsprechung des BAG von den Umständen des Einzelfalls ab3. Als „Faustformel“ hat sich in der Praxis eine Einarbeitungszeit von sechs Wochen, im Einzelfall aber höchstens von drei Monaten herausgebildet.

6.318

Die horizontale Austauschbarkeit meint, dass sich die in die Vergleichsgruppe einzubeziehenden Arbeitnehmer auf derselben Ebene der Betriebshierarchie befinden müssen4. Eine vertikale Verdrängung von oben nach unten findet nicht statt. Erst recht kann ein betroffener Arbeitnehmer nicht eine soziale Auswahl im Hinblick auf besser gestellte bzw. qualifizierte Arbeitnehmer geltend machen.

6.319

Ob Vergleichbarkeit zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten oder zwischen Teilzeitbeschäftigten mit unterschiedlichen Wochenarbeitszeiten besteht, ist von der unternehmerischen Konzeption abhängig5.

6.320

Arbeitnehmer, die gesetzlich „unkündbar“ sind, sind mit Arbeitnehmern ohne solchen Sonderkündigungsschutz nicht vergleichbar6. Die Behandlung von arbeitsvertraglich oder kollektivvertraglich „unkündbaren“ Arbeitnehmern wird ausführlich diskutiert7. Eine Sozialauswahl 1 Vgl. BAG v. 2.2.2006 – 2 AZR 38/05, AP Nr. 142 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. 2 Vgl. BAG v. 5.5.1994 – 2 AZR 917/93, AP Nr. 23 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1994, 1827 = ZIP 1994, 1716. 3 BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, DB 2005, 2472 = ZIP 2005, 1978; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, BB 2009, 447. 4 BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139, Rz. 49; Oetker in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 1 KSchG Rz. 328 m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 3.12.1998 – 2 AZR 341/98, AP Nr. 39 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1999, 487; BAG v. 12.8.1999 – 2 AZR 12/99, AP Nr. 44 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 2000, 228; BAG v. 15.7.2004 – 2 AZR 376/03, DB 2004, 2375. 6 Vgl. BAG v. 8.8.1985 – 2 AZR 464/84, AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 622 ff. 7 Vgl. BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, AP Nr. 143 zu § 626 BGB; BAG v. 17.9.1998 – 2 AZR 419/ 97, AP Nr. 148 zu § 626 BGB; BAG v. 13.4.2000 – 2 AZR 259/99, AP Nr. 162 zu § 626 BGB; BAG v. 7.3.2002 – 2 AZR 173/01, DB 2002, 1724; BAG v. 13.6.2002 – 2 AZR 391/01, DB 2003, 210; BAG v. 27.6.2002 – 2 AZR 367/01, AP Nr. 3 zu § 55 BAT; BAG v. 8.4.2003 – 2 AZR 355/02, AP Nr. 181 zu § 626 BGB = NZA 2003, 856; BAG v. 25.3.2004 – 2 AZR 153/03, BB 2004, 2303; BAG v. 6.10.2005 – 2 AZR 362/04, DB 2006, 1278; BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, DB 2006, 1851; BAG v. 22.11.2012 – 2 AZR 673/11, AP Nr. 2 zu § 626 BGB Unkündbarkeit; BAG v. 24.1.2013 – 2 AZR 453/11, AP Nr. 242 zu § 626 BGB; BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 379/12, AP Nr. 4 zu § 626 BGB Unkündbarkeit; BAG v. 23.1.2014 – 2 AZR 372/13, AP Nr. 6 zu § 626 BGB Unkündbarkeit; BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 783/13; ArbG Cottbus v. 17.5.2000 – 6 Ca 38/00, DB 2000, 1817; Bröhl, Die außerordentliche Kündigung mit notwendiger Auslauffrist, 2005; Kiel, NZA 2005, Beilage 1,

268 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.321 § 6

findet jedenfalls innerhalb der Gruppe derartig „unkündbarer“ Arbeitnehmer statt1. Die tarifliche „Unkündbarkeits“-Regelungen haben die Diskriminierungsverbote des AGG zu beachten und setzen sich gegenüber ansonsten vergleichbaren Arbeitnehmern nur insoweit durch, wie die dadurch herbeigeführte Abgrenzung der Arbeitnehmer bei der Sozialauswahl nicht zu einer grob fehlerhaften Auswahl führt (§ 10 Satz 1 AGG, § 1 Abs. 3 und 4 KSchG)2. ee) Soziale Schutzbedürftigkeit Die Bestimmung der konkreten Rangfolge bei der sozialen Schutzbedürftigkeit hat bestimmte Grunddaten zu berücksichtigen: Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG)3. Die Rechtsprechung lehnt abstrakte Vorgaben für die Gewichtung ab und betont, dass die Einzelfallumstände maßgeblich sind und keinem Kriterium ein genereller Vorrang zukommt4. Dem Arbeitgeber steht ein Beurteilungsspielraum im Rahmen einer Gesamtabwägung zu5. Die Betriebszugehörigkeit hat nach den Grundwertungen des Kündigungsschutzgesetzes allerdings nennenswertes Gewicht. Ihr kommt Bedeutung im Auswahlvorgang zu6. Das Lebensalter versteht der Gesetzgeber als abstrakten Maßstab für die Vermittlungschancen eines Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt nach einer Kündigung7. Mit der Berücksichtigung der Regelaltersrentenberechtigung verfolgt der deutsche Gesetzgeber ein rechtmäßiges Ziel i.S. von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Richtlinie 2000/78/EG8. Eine Anrechnung von Beschäftigungszeiten ist bis zur Missbrauchsgrenze möglich9. Die Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit hat allerdings den Gleichranggrundsatz zu wahren, so dass z.B. 3 Jahre längere Betriebszugehörigkeit nicht 3 Unterhaltspflichten aufwiegen10. Die Gewichtung des Lebensalters steht demgegenüber regelmäßig zurück11. Das Verbot der Altersdiskriminierung gilt indes auch im Kündigungsschutzgesetz. Es steht der Berücksichtigung des Lebensalters in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG allerdings nicht entgegen12. Das Alterskriterium wird bei angemessener Handhabung den Anforderungen des § 10 Satz 1 und 2 AGG gerecht. Dies gilt insbesondere dann, wenn Raum für Besonderheiten des Einzelfalles insbesondere im Hinblick auf die Arbeitsmarktchancen bleibt. Es ist dabei wichtig, dass im

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

12

18 ff.; Moll in FS Wiedemann, 2002, S. 333, 355 ff.; Oetker, ZfA 2001, 287, 311 ff.; Preis/Hamacher in FS 50 Jahre Arbeitsgerichtsbarkeit Rheinland-Pfalz, 1999, S. 245 ff. Vgl. BAG v. 17.9.1998 – 2 AZR 725/97, AP Nr. 36 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. Vgl. BAG v. 20.6.2013 – 2 AZR 295/12, DB 2014, 186; Sprenger, BB 2014, 1781 ff. = ZIP 2014, 896. S. zur Kanalisierung der Sozialdaten z.B. Löwisch, BB 2004, 154, 155; Richardi, DB 2004, 486, 487. Vgl. BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791; BAG v. 17.3.2005 – 2 AZR 4/04, DB 2005, 1390. Vgl. BAG v. 18.10.1984 – 2 AZR 543/83, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1985, 1083 = ZIP 1985, 953; BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1990, 1335. Vgl. BAG v. 12.10.1979 – 7 AZR 959/77, AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1980, 502. BAG v. 27.4.2017 – 2 AZR 67/16, NZA 2017, 902, Rz. 15 f. = ZIP 2017, 1922. BAG v. 27.4.2017 – 2 AZR 67/16, NZA 2017, 902, Rz. 23 = ZIP 2017, 1922. Vgl. BAG v. 2.6.2005 – 2 AZR 480/04, DB 2006, 110. Vgl. BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, DB 2015, 812 = ZIP 2015, 1948. Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1983, 830 = ZIP 1983, 1105; BAG v. 20.10.1983 – 2 AZR 211/82, AP Nr. 13 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1984, 563; BAG v. 8.8.1985 – 2 AZR 464/84, AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1986, 1577. Vgl. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, DB 2009, 626 = ZIP 2009, 1339; BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623.

Mückl | 269

6.321

§ 6 Rz. 6.321 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Zusammenspiel mit anderen Kriterien keine Überbewertung des Lebensalters stattfindet1. Die Unterhaltsverpflichtungen spielen eine erhebliche Rolle. Die betriebliche Praxis bringt für Personen mit Unterhaltspflichten („Familienväter“) regelmäßig Verständnis auf. Unterhaltspflichten sind nach dem Prognoseprinzip für den Ablauf der Kündigungsfrist zu beurteilen2. Ein Doppelverdienst ist richtigerweise zu berücksichtigen3. Die Berücksichtigung des Doppelverdiensts bei der Sozialauswahl ist sachlich gerechtfertigt, da dieser Gesichtspunkt in einem Zusammenhang mit den zu beachtenden Unterhaltsverpflichtungen steht, die sich nach familienrechtlichen Bestimmungen der §§ 1360 ff., §§ 1569 ff., §§ 1601 ff. BGB richten. Berücksichtigt man bei der Sozialauswahl zugunsten eines Arbeitnehmers Unterhaltspflichten, muss man auch mögliche Unterhaltsansprüche aus § 1360 BGB gegenüber dem mitverdienenden Ehegatten beachten. Dies ist kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG4. Ob und im Hinblick auf welche Gesichtspunkte der Arbeitgeber sich auf Eintragungen in der Lohnsteuerkarte verlassen darf oder ob ihn eine Erkundigungspflicht trifft, ist umstritten5. Das BAG geht davon aus, dass der Arbeitgeber auf die ihm bekannten Daten vertrauen kann, wenn er keinen Anlass zu der Annahme hat, sie könnten nicht zutreffen6. Die Rechtsprechung geht insgesamt davon aus, dass die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Sozialkriterien im Grundsatz gleiches Gewicht haben und keinem eine Priorität gegenüber dem anderen zukommt7.

6.322

Der Sozialauswahl braucht nicht Rechnung getragen zu werden, soweit der Arbeitgeber bei einer Betriebsschließung die Belegschaftsangehörigen auf der Grundlage der von ihm getroffenen Stilllegungsentscheidung gemäß den jeweiligen Kündigungsfristen entlässt8. Eine Stilllegungsentscheidung mit dem Inhalt der Einstellung der werbenden Tätigkeit und Entlassung aller Arbeitnehmer mit der für sie geltenden Kündigungsfrist lässt für die Sozialauswahl keinen Raum. ff) Betriebliche Interessen

6.323

Dass eine Bestimmung der zu entlassenden Arbeitnehmer allein nach Gesichtspunkten der sozialen Schutzbedürftigkeit die Funktionsfähigkeit eines intakten Betriebs beeinträchtigt und die Sanierung eines angeschlagenen Betriebs erschwert, wenn nicht vereitelt, liegt auf der Hand. Eine alte, kranke und unqualifizierte Arbeitnehmerschaft wird die geretteten Arbeitsplätze nicht erhalten können. Das Gesetz lässt daher zu, dass Arbeitnehmer nicht in die soziale Auswahl einbezogen werden, wenn ihre Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, insbesondere wegen ihrer Fähigkeiten, Kenntnisse und Leistungen oder zur Si1 Vgl. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, DB 2009, 626 = ZIP 2009, 1339; BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623. 2 Vgl. ArbG Berlin v. 16.2.2005 – 9 Ca 27525/04, BB 2006, 1455; Moll/Steinbach, MDR 1997, 711 ff. 3 Vgl. BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 549/01, NZA 2003, 791; LAG Düsseldorf v. 4.11.2004 – 11 Sa 957/ 04, DB 2005, 454 (§§ 1360 ff., 1569 ff., 1601 ff. BGB: Erkundigungspflicht!). 4 Vgl. LAG Düsseldorf v. 4.11.2004 – 11 Sa 957/04, DB 2005, 454. 5 Vgl. LAG Hamm v. 6.7.2000 – 4 Sa 233/00, ZInsO 2001, 336 (u.U. sind fehlende Punkte auf Grund fehlender Angaben nachzutragen); LAG Schleswig-Holstein v. 10.8.2004 – 5 Sa 93/04, NZA-RR 2004, 582; LAG Köln v. 29.7.2004 – 5 Sa 63/04, LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 45a; LAG Düsseldorf v. 4.11.2004 – 11 Sa 957/04, DB 2005, 454; LAG Hamm v. 29.3.1985 – 2 Sa 560/85, LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 1; ArbG Darmstadt v. 6.4.2004 – 4 Ca 669/03; Kleinebrink, DB 2005, 2522 ff. 6 Vgl. BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 405/06, DB 2008, 1688. 7 Vgl. BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, DB 2015, 812 = ZIP 2015, 1948. 8 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, AP Nr. 115 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2001, 1370 = ZIP 2001, 1022.

270 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.325 § 6

cherung einer ausgewogenen Personalstruktur (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG). Es ist unsicher, welches Gewicht die betrieblichen Belange haben müssen, die einer Sozialauswahl entgegenstehen. Ein bloßer Nützlichkeitsaspekt oder Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt reicht nicht aus. Es ist aber nicht erforderlich, dass der Betrieb ohne den Arbeitnehmer in eine Zwangslage kommt, dass also das „Wohl und Wehe“ des Betriebs von der Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers abhängt. Das Bundesarbeitsgericht hat in der Vergangenheit darauf abgestellt, ob die Weiterbeschäftigung eines bestimmten Arbeitnehmers erforderlich ist1. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG ist eine im Interesse des Arbeitgebers und der Allgemeinheit liegende Regelung2. Ein Arbeitnehmer kann weder gegenüber dem Arbeitgeber noch gegenüber einem Arbeitskollegen geltend machen, dass er aus der Sozialauswahl herauszunehmen sei, weil seine Weiterbeschäftigung im berechtigten betrieblichen Interesse liege. Ob ein Arbeitnehmer aus diesem Grunde aus der Sozialauswahl herausgenommen wird, beurteilt und entscheidet der Arbeitgeber3. Entsprechendes muss richtigerweise gelten, wenn es mehrere Arbeitnehmer gibt, die – möglicherweise – aus der Sozialauswahl ausgeklammert werden könnten, weil sie vergleichbare Fertigkeiten und Vorzüge haben; weder können diese Arbeitnehmer geltend machen, dass sie im Verhältnis zu anderen Arbeitnehmern nicht in die Sozialauswahl einbezogen werden, noch kann ein Einzelner dieser Arbeitnehmer geltend machen, dass er und nicht ein anderer, entsprechender Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl herauszunehmen ist. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG nimmt solche Arbeitnehmer von der Sozialauswahl aus, deren Beschäftigung „im berechtigten betrieblichen Interesse liegt“. Die diesbezüglichen Tatsachen muss der Arbeitgeber konkret und substantiiert vortragen. Der Arbeitgeber muss das betriebliche Interesse an dem bevorzugten Leistungsträger mit den sozialen Belangen des schwächeren Arbeitnehmers abwägen. Je schwerer das soziale Interesse wiegt, um so gewichtiger müssen die Gründe für die Ausklammerung des Leistungsträgers sein4. Die generelle Herausnahme von so genannten Leistungsträgern aus der Sozialauswahl verstößt gegen die in § 1 Abs. 3 KSchG enthaltenen Grundsätze, weil eine einzelfallbezogene Interessenabwägung stattzufinden hat5.

6.324

Die folgenden Gesichtspunkte können im Rahmen von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG erheblich sein6:

6.325

– Abkehrwille. – Erforderlichkeit der Qualifikation eines Arbeitnehmers für bestimmte technische Arbeitsabläufe oder für selten vorkommende Arbeiten. – Erforderlichkeit eines Arbeitnehmers für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben. – Fähigkeiten beim Umgang mit Mitarbeitern. 1 Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung = DB 1983, 830 = ZIP 1983, 1105; BAG v. 27.9.2001 – 2 AZR 246/00, EzA § 2 KSchG Nr. 41. 2 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623. 3 Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 668; Bader, NZA 2004, 65, 74; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, 1997, Rz. 131; Thüsing/Wege, RdA 2009, 12, 13. 4 Vgl. BAG v. 12.4.2002 – 2 AZR 706/00, DB 2002, 2277; BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040. 5 Vgl. LAG Köln v. 24.3.2005 – 6 Sa 1364/04, NZA-RR 2006, 20 = ZIP 2005, 1983. 6 S. dazu näher Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 670 ff.; Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 6. Aufl. 2008, § 7 Rz. 302 ff.; Berscheid, Anwaltsblatt 1995, 8, 13 ff.

Mückl | 271

§ 6 Rz. 6.325 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

– Beziehungen zu Kunden und Lieferanten auf Grund besonderer, spezieller Fähigkeiten oder Kontakte. – Fähigkeiten, Kenntnisse, Leistungsschwäche, Leistungsstärke, Qualifikationsunterschiede, Schlechtarbeit, Zuspätkommen1. – Eine Verbesserung der Ertragslage und Stärkung der Leistungsfähigkeit des Betriebs kann es insbesondere in Krisensituationen erforderlich machen, dass ein eingearbeiteter Stamm an leistungsfähigen Arbeitnehmern als unentbehrlich erhalten bleibt2. – Ein berechtigter betrieblicher Belang liegt bei Massenentlassungen darin, dass das Ausmaß der auf Grund von Sozialauswahlerwägungen erwogenen Austauschmaßnahmen innerhalb der Belegschaft nicht über das hinausgeht, was in einzelnen Abteilungen bzw. Untereinheiten möglich ist, ohne deren Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Betriebliche Ablaufstörungen können eine Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten entwickeln. Der Arbeitgeber kann von einem innerbetrieblichen Austausch auf Grund der Sozialauswahl absehen, soweit entweder durch die Sprengung notwendiger personeller Einheiten oder durch das Gesamtausmaß der einzeln jeweils unerheblichen Einarbeitungszeiten ein ordnungsgemäßer Betriebsablauf beeinträchtigt oder gefährdet wird3. Der Arbeitgeber hat darzulegen, wie viele Arbeitnehmer der unterschiedlichen Qualifikationsstufen in einer Abteilung oder Untereinheit bei Durchführung einer betriebsweiten sozialen Auswahl ausgetauscht werden können, ohne dass der Arbeitsprozess in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Sozialauswahl beschränkt sich dann auf diese Arbeitnehmer. Die mit jeder sozialen Auswahl bei einer Massenkündigung im Rahmen der Stilllegung eines Betriebsteils verbundenen Schwierigkeiten können zwar berechtigte betriebliche Interessen i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG begründen; diese Schwierigkeiten erlauben es dem Arbeitgeber aber nicht, völlig von einer Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten abzusehen. Er muss vielmehr darlegen und ggf. unter Beweis stellen, wie viele vergleichbare Arbeitnehmer zwischen den verschiedenen Betriebsteilen ausgetauscht werden können, ohne dass der ordnungsgemäße Ablauf des Betriebs gestört wird. Auf diese Zahl von Arbeitnehmern beschränkt sich die soziale Auswahl. Eine Herausnahme von 70 % der Belegschaft aus der Sozialauswahl begründet eine Vermutung der Fehlerhaftigkeit eines solchen Vorgehens4.

– Arbeitsunfähigkeitszeiten und Gesundheitsprobleme sind von der Rechtsprechung früher als relevant angesehen worden, wenn sie ein Ausmaß erreichen, welches für den Ausspruch einer darauf gestützten personenbedingten Kündigung ausreicht5. Im Schrifttum ist teilweise sogar vertreten worden, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten des sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers in die Prüfung des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG selbst dann einbezogen werden könnten, wenn sie nicht die Bedeutung eines Kündigungsgrundes haben, da es bei der Prüfung berechtigter betrieblicher Bedürfnisse nicht darum gehe, ob diese Gründe die Kündigung bedingten und deshalb ihrerseits eine Kündigung rechtfertigen könnten6. Dem1 S. dazu etwa BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, ZIP 1983, 1105, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung. 2 Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung = DB 1983, 830 = ZIP 1983, 1105. 3 Vgl. BAG v. 25.4.1985 – 2 AZR 140/84, AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1985, 2205 = ZIP 1985, 1410; BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, DB 2008, 1106; B. Preis, DB 1994, 2244 ff. = ZIP 2007, 2433. 4 Vgl. BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 697/01, DB 2003, 1909 = ZIP 2003, 1766 (Plausibilisierung). 5 Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 1983, 1105. 6 Vgl. Bütefisch, Die Sozialauswahl, 2000, S. 301, 308 f.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.325 § 6

gegenüber betont das Bundesarbeitsgericht heute zutreffend, dass der Arbeitgeber sich zur Begründung seines berechtigten betrieblichen Interesses nicht auf die „Nachteile“ des zu kündigenden und sozial schutzwürdigen Arbeitnehmers berufen kann. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG fördert keine Negativauswahl1. Eine solche widerspräche Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung. Etwaige negative Eigenschaften des sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers sind ggf. nach den Grundsätzen der personen- oder verhaltensbedingten Kündigung zu würdigen2. Im Rahmen von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG kann allenfalls die Krankheitsunanfälligkeit des eigentlich zur Kündigung anstehenden Arbeitnehmers relevant sein, wenn sie nach Abwägung mit den Interessen des sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmers zur Annahme berechtigter betrieblicher Interessen führt3. Davon kann beispielsweise auszugehen sein, wenn die Arbeit aufgrund ihrer Komplexität oder notwendiger Kenntnisse und Erfahrungen im Krankheitsfall nicht kurzfristig von einem anderen Arbeitnehmer übernommen werden kann. Gleiches gilt im Beratungs- und Dienstleistungssektor, wo Kunden einen festen Ansprechpartner erwarten, so dass bei dessen häufiger unvorhergesehener Abwesenheit ernsthaft zu befürchten ist, dass sie zur Konkurrenz abwandern4. – Ein berechtigter betrieblicher Belang ist auch in der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur zu sehen5. Der Gesichtspunkt der Personalstruktur ist nicht auf den Altersaspekt begrenzt, wird für diesen jedoch besonders nachhaltig diskutiert. Es ist allerdings nicht geklärt, was als ausgewogene Personalstruktur anzusehen ist: Vermeidung einer Vergreisung, Nutzbarmachung langjähriger und verlässlicher Erfahrung sowie Heranbildung eines guten Nachwuchses sind ins Verhältnis zu setzende Gesichtspunkte6. Begrifflich kommen weitere Gesichtspunkte in Betracht, etwa befristete und unbefristete Arbeitsverhältnisse, Voll- und Teilzeitarbeitsverhältnisse oder die Geschlechterquote7. Die Anforderungen werden teilweise dahin gehend umschrieben, dass dargetan werden müsse, dass ohne die Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur der Betrieb keine „Überlebenschancen“ habe8. Dieser Maßstab erscheint unter Zugrundelegung der allgemeinen Grundsätze des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG als zu streng. Es ist nicht zu verlangen, dass „Wohl und Wehe“ des Betriebs in Rede stehen. Es muss genügen, dass die Entwicklung des Betriebs sowohl im Hinblick auf Effektivität als auch im Hinblick auf Nachwuchsplanung ohne die Sicherung der Personalstruktur Schaden nimmt. – Ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Erhaltung einer ausgewogenen Altersstruktur als Unterfall der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur ist zu bejahen, wenn die Gefahr besteht, dass es zu erheblichen negativen Verschiebungen in der Alters1 Vgl. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 306/06, AP Nr. 93 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl. 2 Vgl. Griebeling in Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 10. Aufl. 2013, § 1 KSchG Rz. 636; Moll, hier 5. Aufl., Rz. 2.305. 3 Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 674. 4 Vgl. Preis in Stahlhacke/Preis/Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1113. 5 S. zu diesem Gesichtspunkt BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 533/99, AP Nr. 114 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG v. 20.4.2005 – 2 AZR 201/04, DB 2005, 1691; BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139; BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12; BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13; Göpfert/Stark, ZIP 2015, 155 ff.; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 681. 6 Vgl. Berscheid, Anwaltsblatt 1995, 8, 14. 7 Vgl. Thüsing/Wege, RdA 2005, 12, 23. 8 Vgl. Warrikoff, BB 1994, 2338, 2343.

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§ 6 Rz. 6.325 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

struktur kommt, die im betrieblichen Interesse nicht hinnehmbar sind1. Die Altersstruktur darf – außerhalb der Insolvenz (vgl. § 125 InsO und dazu unter Rz. 26.96 ff.) – nicht „verbessert“ werden, und es muss möglich sein, die Kündigungen auf die Altersgruppen proportional zu verteilen2. Die im konkreten Fall vorgenommene Altersgruppenbildung muss geeignet sein, eine ausgewogene Personalstruktur zu sichern, damit das berechtigte betriebliche Interesse i.S. des § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG bejaht werden kann3. Anhaltspunkte mögen von den Verhältnissen anderer Unternehmen in der Branche oder aus etwaigen Grundsätzen der Personalpolitik abzuleiten sein. Die Ausgewogenheit ist im Hinblick auf die jeweiligen Arbeitnehmergruppen herzustellen. Es kommt dabei auf die Beibehaltung der bisherigen Verhältnisse an. Die Erhaltung der Altersstruktur erfolgt durch die Bildung von Altersgruppen4. Die Kündigungen werden verhältnismäßig auf die Altersgruppen verteilt. Die Sozialauswahl kann dann innerhalb der Altersgruppen vorgenommen werden. Der Arbeitgeber kann innerhalb des zur Auswahl anstehenden Personenkreises nach sachlichen Kriterien Altersgruppen bilden und die Gesamtzahl der Kündigungen anteilig verhältnismäßig auf die Gruppen verteilen5. Die Altersgruppen müssen nach sachlichen Kriterien innerhalb einer Vergleichsgruppe gebildet und die Kündigung prozentual auf die Altersgruppen verteilt werden6.

Handlungsschritte: – Ermittlung der vergleichbaren Mitarbeiter i.S. des § 1 Abs. 3 KSchG (Vergleichsgruppe); – Bildung von Altersgruppen innerhalb der Vergleichsgruppe aufgrund eines plausiblen Systems; – Bestimmung des Mitarbeiteranteils der jeweiligen Altersgruppe an der Vergleichsgruppe; – Verteilung der betriebsbedingten Kündigungen anhand des aus Ziff. (3) folgenden Verhältnisses; – Ergebniskontrolle bezüglich der Altersstruktur: proportionale Betroffenheit aller Altersgruppen; – „Normale“ Sozialauswahl innerhalb der jeweiligen Altersgruppe. Allerdings muss der Arbeitgeber, um diese Möglichkeit nutzen zu können, zu den Auswirkungen und möglichen Nachteilen, die er durch eine Sozialauswahl nach Altersgruppen vermeiden will, in Kündigungsschutzprozessen konkret vortragen. Nur wenn die Anzahl der Entlassungen innerhalb der Vergleichsgruppe die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, ist ein berechtigtes betriebliches Interesse an der Beibehaltung der Altersstruktur – widerlegbar – indiziert7. 1 Vgl. BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139. 2 Vgl. BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040; BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234; BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, NZA 2014, 46. S. dazu Lunk/Seidler, NZA 2014, 455 ff. 3 Vgl. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, NZA 2014, 46 = ZIP 2013, 2476. 4 Vgl. BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139; BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 387/06, NZA 2008, 405. 5 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, AP Nr. 21 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste = DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623; BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, AP Nr. 182 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 2009, 1339; BAG v. 18.3.2010 – 2 AZR 468/08, AP Nr. 184 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2010, 2230 = ZIP 2010, 2114; BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 533/99, AP Nr. 114 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 2001, 1042. 6 Vgl. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13. 7 BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.326 § 6

Eine entsprechende Altersgruppenbildung ist nach § 10 Satz 1 und 2 AGG gerechtfertigt. Die konkrete Altersgruppenbildung muss zur Sicherung der bestehenden Altersstruktur der Belegschaft geeignet sein. Sind mehrere Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer von den Entlassungen betroffen, muss auch innerhalb der jeweiligen Vergleichsgruppe eine proportionale Berücksichtigung der Altersgruppen an den Entlassungen möglich sein (fünfter Bullet Point). Die betriebsweite Sicherung der bestehenden Altersstruktur muss die Folge der proportionalen Beteiligung der Altersgruppen an den Entlassungen innerhalb der einzelnen Vergleichsgruppen sein1. Beispiel: Sollen innerhalb der Vergleichsgruppe fünf Kündigungen erfolgen und werden fünf Altersgruppen (AG) gebildet (AG 1 = 18–25, AG 3 = 26–35, AG 3 = 36–45, AG 4 = 46–55, AG 5 = 56–67) und führt die proportionale Verteilung rechnerisch dazu, dass in den AG 2–4 insgesamt vier Kündigungen auszusprechen wären, während die AG 1 und 5 jeweils zu 0,45 betroffen sind, scheidet eine Sozialauswahl nach Altersgruppen mangels proportionaler Umsetzbarkeit aus2. Es wird abzuwarten sein, welche Altersgruppeneinteilung und welche Gewichtung sich letztlich in der Praxis unter dem Gesichtspunkt der Ausgewogenheit herausbilden werden. Unter dem Gesichtspunkt der Leistungsstärke der Belegschaft wird eine Einteilung in fünf Gruppen erwogen3: Altersgruppe unter 25 Jahren, Altersgruppe 25–35 Jahre, Altersgruppe 35–45 Jahre, Altersgruppe 45–55 Jahre, Altersgruppe über 55 Jahre. Unter dem Gesichtspunkt effektiver Führungsstrukturen wird für die Leitungsebene eine Dreiteilung der Altersgruppen vorgeschlagen4: Altersgruppe unter 35 Jahren, Altersgruppe 35–50 Jahre, Altersgruppe über 50 Jahre. Andere Altersgruppeneinteilungen sind denkbar. Die Kontrollmöglichkeit der Arbeitsgerichte im Hinblick darauf, was eine ausgewogene Altersstruktur sei, ist ungeklärt. Dem Arbeitgeber wird man insoweit eine entsprechende Entscheidungskompetenz einräumen müssen, wie sie im Falle der Betriebsorganisation und der Stellenstruktur besteht5. Die Entscheidung des Arbeitgebers unterliegt der Missbrauchskontrolle. Die Herausnahme einzelner Beschäftigter aus der Sozialauswahl ohne eine abstrakte starre Gruppeneinteilung erscheint auch möglich. Die Personalstruktur wird bei Einzelkündigungen nicht berührt, so dass der Gesichtspunkt der ausgewogenen Personalstruktur nur bei einer Mehrheit von Kündigungen anwendbar ist6, auch wenn man nicht das Erfordernis des Vorliegens einer Massenentlassung aufstellen kann. Die Berücksichtigung der Altersstruktur im Rahmen von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG ist von der Rechtsprechung davon abhängig gemacht worden, es sei in jedem Einzelfall eine konkrete Darlegung dazu erforderlich, dass und warum die Personalstruktur im berechtigten betrieblichen Interesse liegt, d.h. welchen Nachteil der Betrieb erleidet, wenn sich die Personalstruktur ändert7. Dies ist – über die allgemeinen Gesichtspunkte zu dieser Problematik hinaus – praktisch kaum zu leisten, so dass der Personalstrukturaspekt zu § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG damit letztlich leerzulaufen droht8. Die Rechtsprechung dürfte sich an Plausibilität ausrichten9: Es 1 2 3 4 5 6

Vgl. BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040. BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040. Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 686. Vgl. Berscheid, Anwaltsblatt 1995, 8, 14. Vgl. Moll in Kübler/Prütting/Bork, § 125 InsO Rz. 71. Vgl. Bader, NZA 1996, 1125, 1129; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, 1997, Rz. 142; Wlotzke, BB 1997, 414, 418. 7 Vgl. BAG v. 20.4.2005 – 2 AZR 201/04, DB 2005, 1691 = ZIP 2005, 1803; BAG v. 18.3.2010 – 2 AZR 468/08, DB 2010, 2230 = ZIP 2010, 2114. 8 S. kritisch zutreffend Wank, RdA 2006, 239 ff. 9 Vgl. BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 442/05, NZA 2007, 139; BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 387/06, NZA 2008, 405.

Mückl | 275

6.326

§ 6 Rz. 6.326 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

genügt, wenn erkennbar wird, dass ganz überwiegend jüngeren Beschäftigten gekündigt werden müsste und das Durchschnittsalter etwa auf über 50 Jahre anstiege oder dass der jüngste Arbeitnehmer 41 Jahre alt gewesen und das Durchschnittsalter erheblich gestiegen wäre. Ebenso: Ohne die Altersgruppenbildung würden kaum noch unter 30-jährige im Betrieb verbleiben und die Hälfte der etwa 35-jährigen entlassen1. Dem Arbeitgeber kommen, wenn die Anzahl der Entlassungen innerhalb der Gruppe der vergleichbaren Arbeitnehmer die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, Erleichterungen zugute: Das berechtigte betriebliche Interesse wird dann (widerlegbar) indiziert2. Das Bundesarbeitsgericht hat bislang offengelassen, ob für den Fall, dass sich die Massenkündigungen auf mehrere Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer verteilen, die Erleichterung bei der Darlegung des berechtigten betrieblichen Interesses auch dann berechtigt ist, wenn zwar die Anzahl der insgesamt zu entlassenden Arbeitnehmer die Schwellenwerte des § 17 KSchG erreicht, nicht aber die der Entlassungen innerhalb einer Gruppe vergleichbarer Arbeitnehmer3. gg) Gesamtwürdigung

6.327

Der Arbeitgeber hat eine Gesamtwürdigung vorzunehmen. Die Rechtsprechung räumt dem Arbeitgeber bei der Gewichtung der Sozialkriterien einen Wertungsspielraum ein4. Dies wird damit begründet, dass das Gesetz (nur) eine ausreichende Berücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte vorschreibt5. Die Auswahl muss lediglich sozial vertretbar sein; nur deutlich schutzwürdige Arbeitnehmer können mit Erfolg die Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl rügen. Die Rechtsprechung hat es dementsprechend zu Recht abgelehnt, dass die Arbeitsgerichte die Überprüfung der Sozialauswahl nach von ihnen konzipierten Auswahlschemata oder Punktetabellen vornehmen6. Dies ist konsequent, weil anderenfalls der Beurteilungsspielraum des Arbeitgebers im Rahmen von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG gegenstandslos würde. Geringfügige Unterschiede führen nicht ohne weiteres dazu, dass soziale Gesichtspunkte „nicht oder nicht ausreichend“ berücksichtigt sind.

f) Auswahlrichtlinien (§ 1 Abs. 4 KSchG) 6.328

Die im Rahmen der Sozialauswahl gebotene Gesamtwürdigung wird in der Praxis vielfach mit Hilfe von Punkteschemata vorgenommen7.

6.329

Punkteschemata sind Richtlinien über die personelle Auswahl i.S. von § 95 Abs. 1 BetrVG. Die Aufstellung einer Auswahlrichtlinie ist nach § 95 Abs. 1 BetrVG nur mit Zustimmung des Betriebsrats möglich. Dies gilt auch dann, wenn sich die Aufstellung (nur) auf konkrete 1 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623. 2 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, DB 2012, 1445 = ZIP 2012, 1623; BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040. 3 Vgl. BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040. 4 Vgl. BAG v. 18.10.1984 – 2 AZR 543/83, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1985, 1083 = ZIP 1985, 953; BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1990, 1335; BAG v. 22.3.2012 – 2 AZR 167/11, NZA 2012, 1040; U. Preis, DB 1998, 1761, 1763. 5 Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 658 ff. m.w.N. 6 Vgl. BAG v. 24.3.1983 – 2 AZR 21/82, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1983, 830 = ZIP 1983, 1105. 7 S. dazu ausführlich Moll in Henssler/Moll, Kündigung und Kündigungsschutz in der betrieblichen Praxis, 2000, S. 141, 150 ff.

276 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.334 § 6

bevorstehende Kündigungen bezieht1. Der Betriebsrat kann nach § 95 Abs. 2 BetrVG in Betrieben mit mehr als 500 Arbeitnehmern die Aufstellung von Auswahlrichtlinien kraft eigenen Initiativrechts verlangen. Ein Verstoß gegen das insoweit bestehende Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats begründet zwar für den Betriebsrat einen Unterlassungsanspruch2, führt aber nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung3. Die Auswahlrichtlinien können nicht von den Vorgaben des § 1 Abs. 3 KSchG abweichen und nicht die Rechtsprechungsgrundsätze zur Sozialauswahl durchbrechen4.

6.330

§ 1 Abs. 4 KSchG bestimmt, dass die soziale Auswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann, wenn in einer Betriebsvereinbarung einer Personalvertretungsrichtlinie oder in einem Tarifvertrag geregelt wird, wie die sozialen Gesichtspunkte i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG im Verhältnis zueinander bewertet werden. Die Begründung des Gesetzentwurfs führt dazu aus, dass dadurch eine bessere Berechenbarkeit der Zulässigkeit von Kündigungen zu erzielen sei5. § 1 Abs. 4 KSchG bestätigt damit, dass in kollektiven Regelungen die Gewichtung der sozialen Gesichtspunkte zur Durchführung der Sozialauswahl generell erfolgen kann.

6.331

Die Beschränkung der Überprüfung der sozialen Auswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit bedeutet, dass zu fragen ist, ob die Gewichtung der Sozialdaten jede Ausgewogenheit vermissen lässt6. Der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit eröffnet einen über den im Rahmen von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG bestehenden Wertungsspielraum des Arbeitgebers hinausgehenden Spielraum. Die Grenze der groben Fehlerhaftigkeit ist überschritten, wenn eines der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien gänzlich vernachlässigt wird. Entscheidend ist in § 1 Abs. 4 KSchG mithin, ob bei Berücksichtigung aller Sozialerwägungen die Gesichtspunkte des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG in einer Weise beachtet sind, die erkennen lässt, dass keiner von ihnen gänzlich vernachlässigt worden ist.

6.332

Die kollektive Regelung i.S. von § 1 Abs. 4 KSchG hat die Gesichtspunkte nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG zu bestimmen und zu bewerten, stellt also auf Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderungen ab. Sie kann darüber hinausgehende Gesichtspunkte nicht ohne weiteres berücksichtigen, sondern nur insoweit, wie sie in einem engen Zusammenhang mit den Kriterien des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG stehen, d.h. diese letztlich ausgestalten. § 1 Abs. 4 KSchG eröffnet zu Gunsten von Kollektivregelungen zwar einen weiter gehenden Spielraum, ändert aber nichts am Ausgangspunkt des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG.

6.333

Die Privilegierung der Auswahlrichtlinie durch § 1 Abs. 4 KSchG bezieht sich auf die soziale Auswahl. Dass damit auch die Feststellung des Kreises der vergleichbaren Arbeitnehmer erfasst ist, wird von der Rechtsprechung verneint7. Die Privilegierung ist auch nicht im Hinblick

6.334

1 2 3 4

Vgl. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, DB 2014, 66 = ZIP 2013, 2476. BAG v. 26.7.2005 – 1 ABR 29/04, BB 2005, 2819 = ZIP 2005, 2080. BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, DB 2007, 1087. Vgl. BAG v. 11.3.1976 – 2 AZR 43/75, AP Nr. 1 zu § 95 BetrVG 1972; BAG v. 15.6.1989 – 2 AZR 580/88, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = ZIP 1990, 1223; BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1990, 1335. 5 Vgl. BT-Drucks. 13/4612, S. 9. S. auch BT-Drucks. 13/5107, S. 30. 6 Vgl. BAG v. 18.3.2010 – 2 AZR 468/08, NZA 2010, 1059, Rz. 13 = ZIP 2010, 2114; BAG v. 5.12.2002 – 2 AZR 697/01, DB 2003, 1909; BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 405/06, AP Nr. 96 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; BT-Drucks. 13/4012, S. 9; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 719 ff. m.w.N. 7 Vgl. BAG v. 27.6.2019 – 2 AZR 50/19, NZA 2019, 1345, Rz. 24 = ZIP 2020, 44; BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, DB 2008, 2143.

Mückl | 277

§ 6 Rz. 6.334 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

auf die Feststellung und Würdigung berechtigter betrieblicher Interessen i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG anwendbar1.

6.335

Der Arbeitgeber hat die Auswahlrichtlinie korrekt anzuwenden. Eine abschließende Abwägung der Einzelfallumstände ist im Anschluss an die Neufassung des § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG seit dem 1.1.2004 bei der Anwendung einer Punktetabelle nach § 1 Abs. 4 KSchG nicht mehr erforderlich2. Das Punktesystem einer Auswahlrichtlinie muss keine individuelle Abschlussprüfung des Arbeitgebers vorsehen und der Arbeitgeber braucht neben den in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG ausdrücklich bezeichneten Grunddaten keine weiteren Gesichtspunkte zu berücksichtigen3. Der Arbeitgeber kann bei Anwendung der Auswahlrichtlinie auch nicht durch abschließende Bewertung einseitig von den sich aus dieser ergebenden Auswahlresultaten abweichen. Eine andere Frage ist, ob die Auswahlrichtlinie eine Abweichung von der mathematischen Berechnung der Punkte gestatten kann; dies wird man in engen Grenzen (nur) für einige Ausnahme- und Härtefälle annehmen können (Bsp.: Arbeitsunfall, Berufskrankheit)4. Dem Arbeitgeber wird man dies wegen der damit verbundenen Risiken und Unsicherheiten – Abweichung von § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG – allerdings kaum raten!

6.336

Das Arbeitsgericht prüft nach, ob der Arbeitgeber die Auswahlrichtlinie richtig angewandt hat. Weicht der Arbeitgeber von der Auswahlrichtlinie ab, ist die Kündigung unwirksam; die Sozialauswahl ist bei Verstoß gegen eine Auswahlrichtlinie fehlerhaft5. Die Auswahlrichtlinie kann unwirksam sein. Dies besagt allerdings noch nichts zwingend für das Ergebnis des Sozialauswahlvorgangs. Die Ergebnisse des Sozialauswahlvorgangs sind ohne Anwendung der Auswahlrichtlinie auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Der Privilegierungseffekt des § 1 Abs. 4 KSchG kommt nicht zum Tragen. Ob die tatsächlich getroffene Sozialauswahl rechtmäßig ist oder nicht, ist in jedem Einzelfall unter Zugrundelegung des § 1 Abs. 3 KSchG zu überprüfen. Die Unwirksamkeit der Auswahlrichtlinie beseitigt nur die Privilegierungswirkungen des § 1 Abs. 4 KSchG. Die Sozialauswahl kann gleichwohl nach § 1 Abs. 3 KSchG rechtmäßig sein. Entsprechendes gilt, wenn die Auswahlkriterien und deren Gewichtung die Grenze zur groben Fehlerhaftigkeit überschreiten6.

6.337

Arbeitgeber und Betriebsrat können Auswahlrichtlinien i.S. von § 1 Abs. 4 KSchG später oder zeitgleich etwa bei Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste ändern. Setzen sich die Betriebsparteien in einem bestimmten Punkt gemeinsam über die Auswahlrichtlinie hinweg, gilt die Namensliste7. 1 Vgl. BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, DB 2008, 2143; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, 1997, Rz. 244; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 691. S. aber demgegenüber U. Preis, NJW 1996, 3369, 3372. 2 Vgl. BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, AP Nr. 87 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl = DB 2007, 1087. 3 Vgl. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, DB 2014, 66 = ZIP 2013, 2476. Anders früher BAG v. 18.1.1990 – 2 AZR 357/89, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1990, 1335. Beispiele für Punkteschemata finden sich u.a. bei Willemsen/Sittard in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Rz. H 29a ff.; Berkowsky, Die betriebsbedingte Kündigung, 6. Aufl. 2008, § 7 Rz. 238. 4 Vgl. Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 699; Gaul/ Lunk, NZA 2004, 184, 188; Preis, RdA 1999, 311, 320. 5 Vgl. LAG Sachsen v. 21.9.2000 – 6 Sa 153/00, NZA-RR 2001, 586; Moll in Henssler/Moll, Kündigung und Kündigungsschutz in der betrieblichen Praxis, 2000, S. 141, 164. 6 Vgl. BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 473/05, DB 2007, 922. 7 Vgl. BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, DB 2014, 66 = ZIP 2013, 2476.

278 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.341 § 6

Eine Sozialauswahl auf der Grundlage eines Punkteschemas, nach dem jedem Sozialauswahlfaktor ein bestimmter Punktewert zugewiesen, der dann addiert und mit dem Wert vergleichbarer Arbeitnehmer verglichen wird, hat den Vorteil, dass die Sozialauswahl selbst gerichtlich nur auf grobe Fehler überprüfbar und eine Einzelfallabwägung entbehrlich ist1. Sie ist umgekehrt aber sehr transparent und unflexibel. Zudem bleibt die Vergleichsgruppenbildung selbst gerichtlich voll überprüfbar2.

6.338

g) Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG) Wesentlich effektiver ist ein mit dem zuständigen Betriebsrat abgeschlossener Interessenausgleich mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG bzw. § 125 InsO). In ihm werden die von betriebsbedingten Kündigungen betroffenen Arbeitnehmer auf einer Liste namentlich benannt und damit das Ergebnis der Sozialauswahl vereinbart. Auf dieser Basis ist die gesamte Sozialauswahl – inklusive Vergleichsgruppenbildung – gerichtlich nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüfbar. Zudem wird kraft Gesetzes vermutet, dass die Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Dadurch eröffnen sich erhebliche Gestaltungsspielräume. Denn die Sozialauswahl ist nur grob fehlerhaft, wenn eine evidente, ins Auge springende erhebliche Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt (vgl. Rz. 26.118 ff.). Wegen der Einzelheiten kann auf die Ausführungen zu § 125 InsO verwiesen werden (Rz. 26.118 ff.). Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nur die Erhaltung der bisherigen Personalstruktur privilegiert, während § 125 InsO die Prüfung auch auf die Schaffung einer neuen Personalstruktur erstreckt. Die Beteiligung der einzelnen Altersgruppen am Personalabbau hat im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG streng proportional zu erfolgen3. Wenn der Personalabbau in mehreren „Wellen“ erfolgt und die Betriebsparteien für jeden Abschnitt eine abschließende Einigung über sämtliche in diesem zu kündigenden Arbeitnehmer herbeigeführt haben, sind auch „Teilnamenslisten“ eine ausreichende Basis für die Wirkungen des § 1 Abs. 5 KSchG4.

6.339

Aufgrund der vorstehend beschriebenen – aus Sicht der betroffenen Arbeitnehmer nachteiligen – Folgen, sind Betriebsräte allerdings erfahrungsgemäß nur in Insolvenzsituationen ohne erhebliche finanzielle Gegenleistung in Form eines üppig dotierten Sozialplans bereit, einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen. Erzwingen kann das Unternehmen eine derartige Vereinbarung nicht. Vor allem bei großen Sanierungsprojekten ist deshalb ganz wichtig, dem Betriebsrat eine geeignete Plattform zur Verfügung zu stellen, welche die Umsetzung der Maßnahmen in der Außendarstellung unterstützt. Schneller und geräuschloser kann ein Personalabbau insbesondere durch einen gezielten Einsatz der Einigungsstelle erreicht werden. Die Verhandlungen werden dann durch einen neutralen Vorsitzenden (zumeist einen Arbeitsrichter) moderiert. Vor allem, wenn am Ende des Verhandlungsprozesses Namenslisten als Ergebnis der Sozialauswahl erstellt und unterschrieben werden sollen, ist es für den Betriebsrat wertvoll, auf eine neutrale, beratende (und ggf. drohende) Instanz verweisen zu können.

6.340

h) Zwischenfazit: Vorsorge ist besser als Nachsorge Die aufgezeigten Grenzen der gesetzlichen Optimierungsmöglichkeiten der Sozialauswahl machen noch einmal deutlich, wie wichtig die Nutzung weiterer – strukturbezogener – Gestal1 2 3 4

BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, DB 2014, 66 = ZIP 2013, 2476. BAG v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120. Vgl. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13. BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, DB 2009, 1882.

Mückl | 279

6.341

§ 6 Rz. 6.341 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

tungsmöglichkeiten (vgl. Rz. 6.308) sein kann, um ein nachteiliges Ergebnis der Sozialauswahl zu vermeiden. Durch Nutzung entsprechender Tools und Modelle sowie einer engen Abstimmung mit den Fachbereichen, kann – je nach Gestaltungsspielraum – die anfängliche „Trefferquote“ ganz erheblich verbessert werden.

i) Rechtsfolge einer fehlerhaften Sozialauswahl 6.342

Die Rechtsprechung hat früher angenommen, dass dann, wenn auch nur einem Arbeitnehmer nicht gekündigt worden ist, den unter Heranziehung der Grundsätze des § 1 Abs. 3 KSchG die Kündigung treffen müsste, sich alle (anderen) betroffenen Arbeitnehmer auf diese fehlerhafte soziale Auswahl berufen können1. Dies hat bedeutet, dass unter Umständen eine große Anzahl von Kündigungen unwirksam ist, nur weil in einem einzigen Fall der „falsche“ Arbeitnehmer die Kündigung erhalten hat. Die Rechtsprechung hat teilweise mit einzelfallbezogenen Lösungen „geholfen“2. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Rechtsprechung jedenfalls bei der Sozialauswahl mittels Auswahlrichtlinie (Punkteschema) aufgegeben3. Es ist daher bei jedem einzelnen Arbeitnehmer, der eine fehlerhafte soziale Auswahl geltend macht, zu prüfen, ob er bei ordnungsgemäßer Sozialauswahl tatsächlich den Vorrang erhalten und (deshalb) mit seiner Kündigungsschutzklage obsiegt hätte; ist dies nicht der Fall, „nützt“ ihm der Sozialauswahlfehler des Arbeitgebers nichts.

j) Besonderheiten der sozialen Auswahl bei der Änderungskündigung 6.343

Die soziale Auswahl bei der Änderungskündigung hat darauf abzustellen, für welchen Arbeitnehmer die Änderung der Arbeitsbedingungen in sozialer Hinsicht am ehesten zumutbar ist4. Ausgangspunkt für die Vergleichsgruppenbildung sind zwar die klassischen Kriterien. Die Sozialauswahl hat dabei aber nicht nur darauf abzustellen, ob die Arbeitnehmer auf ihren bisherigen Arbeitsplätzen miteinander vergleichbar sind. Es muss vielmehr hinzukommen, dass die Arbeitnehmer auch im Hinblick auf die den Gegenstand des Änderungsangebots bildende Tätigkeit wenigstens annähernd gleich geeignet sind; die Austauschbarkeit muss sich auf den mit der Änderungskündigung angebotenen Arbeitsplatz beziehen5.

6.344

Bei einer Änderungskündigung ist die Sozialauswahl zudem nicht allein daran auszurichten, welcher von mehreren vergleichbaren Arbeitnehmern durch den Verlust des Arbeitsplatzes am wenigsten hart getroffen würde. Da es bei der ordentlichen Änderungskündigung – unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer sie unter Vorbehalt angenommen hat oder nicht – um die soziale Rechtfertigung des Änderungsangebots geht, ist darauf Bedacht zu nehmen, wie sich die vorgeschlagene Vertragsänderung auf den sozialen Status vergleichbarer Arbeitnehmer auswirkt6. Es ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber, statt die Arbeitsbedingungen des gekündigten Arbeitnehmers zu ändern, diese Änderung einem vergleichbaren Arbeitnehmer hätte 1 Vgl. BAG v. 18.10.1984 – 2 AZR 543/83, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1985, 1083 = ZIP 1985, 953. 2 Vgl. BAG v. 7.12.1995 – 2 AZR 1008/94, AP Nr. 29 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1996, 783. 3 Vgl. BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, DB 2007, 1087. 4 Vgl. Hromadka, NZA 1996, 1, 8 m.w.N.; Gallner/Mestwerdt/Nägele, Kündigungsschutzrecht, 7. Aufl. 2021, § 2 KSchG Rz. 51 f. m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 13.6.1986 – 7 AZR 623/84, AP Nr. 13 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = DB 1987, 335 = ZIP 1987, 312. 6 BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, NZA 2015, 426, Rz. 12 = ZIP 2015, 1948.

280 | Mückl

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.372 § 6

anbieten können, dem sie eher zumutbar gewesen wäre1. Auch hierfür sind allein die Kriterien Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten, Lebensalter und Schwerbehinderung maßgebend. Eine Heranziehung zusätzlicher Faktoren und Kriterien muss wegen der klaren gesetzlichen Regelung unterbleiben. Es kommt allenfalls eine Ergänzung im Rahmen der Gewichtung der Grunddaten aus § 1 Abs. 3 KSchG in Betracht, soweit die ergänzenden Faktoren einen unmittelbaren Bezug zu diesen Daten haben2. Konkurrieren mehrere vergleichbare, von einem Arbeitsplatzwegfall betroffene Arbeitnehmer um Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten auf anderen – freien – Arbeitsplätzen, die teils mehr und teils weniger einschneidende Änderungen der bisherigen Vertragsbedingungen erfordern, ist im Rahmen einer sozialen Auswahl analog § 1 Abs. 3 KSchG zu entscheiden, welchem Arbeitnehmer das günstigere und welchem das weniger günstige Änderungsgebot zu unterbreiten ist3.

6.345

6.346–6.370

Einstweilen frei.

3. Eingriffe in die Vergütung und Ruhegehaltsansprüche von Geschäftsführern In jeder Krise einer GmbH bzw. GmbH & Co. KG stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang der Geschäftsführer (auch Gesellschafter-Geschäftsführer) Eingriffe in seine Bezüge und Ruhegehaltsansprüche im Interesse einer nachhaltigen Sanierung der in der Krise befindlichen Gesellschaft hinzunehmen hat4.

6.371

Bei den Versorgungsberechtigten ist zu unterscheiden,

6.372

– ob es sich um einen Arbeitnehmer-Geschäftsführer5 handelt, für den die Vorschriften des Betriebsrentengesetzes eingreifen, oder – ob der Geschäftsführer, dem gegenüber die Versorgungszusage abgegeben wurde, statt des Versorgungsanspruchs nur eine Anwartschaft auf die Versorgungsleistungen besitzt, die entweder verfallbar oder unverfallbar ist6. Im Folgenden wird vom Fall eines Geschäftsführers ohne oder mit einer geringen Kapitalbeteiligung (unter 50 %) ausgegangen, der dem Arbeitnehmerbegriff i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1, 1 2 3 4

BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, NZA 2015, 426, Rz. 12 = ZIP 2015, 1948. BAG v. 29.1.2015 – 2 AZR 164/14, NZA 2015, 426, Rz. 12 = ZIP 2015, 1948. Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 163/11, NZA-RR 2013, 74. Dieser Eingriffsgrund ist nicht zu verwechseln mit der Anpassung der laufenden Leistungen einer betrieblichen Altersversorgung und der dabei zu berücksichtigenden wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers nach § 16 BetrAVG. Vgl. Huber in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 16 BetrAVG Rz. 68–82. 5 Zum Begriff des Geschäftsführers als Arbeitnehmer vgl. BAG v. 27.4.2021 – 2 AZR 540/20, NJW 2021, 2059 = ZIP 2021, 1916 = GmbHR 2021, 875 m. Anm. Frank; Huber in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 17 BetrAVG Rz. 6 f.; Kemper in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 1 BetrAVG Rz. 41 ff.; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 17 BetrAVG Rz. 4 ff., 79 ff.; Höfer, § 17 BetrAVG Rz. 71 ff., 87 ff. 6 Vgl. Bitter in Münchener Kommentar zur InsO, § 45 InsO Rz. 12 ff.; Thonfeld in Karsten Schmidt, § 45 InsO Rz. 9; Künzl/Bertram in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 107 Rz. 87 ff.; Ganter, NZI 2013, 769 ff.; Pape/Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, Kap. 9, Rz. 26 ff.; Hess, Sanierungshandbuch, § 34 Rz. 66 ff.; Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch der Insolvenzverwaltung, § 30 Rz. 23 ff.; Pluta/Heidrich in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 30, S. 1096 ff.; Höfer/Kemper, BB 1973, 731, 732.

Mückl und Spliedt | 281

§ 6 Rz. 6.372 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

2 BetrAVG unterfällt und die Anwartschaft auf die Versorgungsbezüge unverfallbar ist1. Alleingesellschafter, Mehrheitsgesellschafter oder Geschäftsführer, die über eine Minderheitsbeteiligung verfügen, jedoch über einen Stimmbindungsvertrag insgesamt mehr als 50 % der Anteile präsentieren, unterfallen nicht dem Arbeitnehmerbegriff, weil die betriebliche Altersversorgung in diesen Fällen nicht durch ein Arbeitsverhältnis veranlasst ist2. Nicht behandelt wird die Frage, ob im Rahmen der Ruhegehaltsansprüche ähnlich den Vorstandsgehältern bei einer AG die Ansprüche eines GmbH-Geschäftsführers entsprechend § 18 SGB IV in der Krise der GmbH durch eine Höchstgrenze des Dreifachen der Bezugsgröße gedeckelt werden können.

a) Herabsetzung der Geschäftsführervergütung 6.373

Bei einer existenzbedrohenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft kann der Geschäftsführer aufgrund seiner Treuepflicht ausnahmsweise verpflichtet sein, einer zeitweisen Herabsetzung seiner festen Bezüge zuzustimmen3. Das gilt insbesondere, wenn durch die Fortzahlung der Bezüge in bisheriger Höhe der Gesellschaft Mittel entzogen würden, auf die sie zum Überleben dringend angewiesen ist4. Zwar ist umstritten, ob die Vorschrift des § 87 Abs. 2 AktG für die GmbH entsprechende Anwendung findet5, doch lässt sich aus der Bestimmung jedenfalls das „allgemeine Rechtsprinzip entnehmen, dass die Bezüge der organschaftlichen Vertreter bei einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse entsprechend anzupassen sind“6. Nach Auffassung des OLG Naumburg7 kommt eine Zustimmungspflicht nur in Betracht, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft in so wesentlichem Maße verschlechtert haben, dass die Herabsetzung der Bezüge für die Gesellschaft wegen der existenzgefährdenden Notlage objektiv erforderlich und für den Geschäfts1 Zur Verfallbarkeit der Anwartschaft Höfer/Kemper, BB 1973, 731, 732; Ganter, NZI 2013, 769 ff.; Pluta/Heidrich in Beck/Depré, Praxis in der Insolvenz, § 30 S. 1111 ff.; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 12. Aufl. 2018, § 9 Rz. 45 ff.; vgl. auch PSV-Merkblatt 300/M 1/3.10 Ziff. 3.2.4.1.a sowie PSV-Merkblatt 300/M 1/3.10.3.3.1.3, b bb. 2 Vgl. Uwe H. Schneider/Sven H. Schneider in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 406; Kemper in Kemper/ Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 1 BetrAVG Rz. 41 ff.; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 108 f.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 37 f. 3 Vgl. BGH v. 15.6.1992 – II ZR 88/91, GmbHR 1992, 605; OLG Düsseldorf v. 7.12.2011 – 16 U 19/ 10, GmbHR 2012, 332, 335 m. Anm. Blöse; OLG Köln v. 6.11.2007 – 18 U 131/07, ZIP 2009, 36 = GmbHR 2008, 1216; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 102; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 34a; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 389 ff.; Lindemann, GmbHR 2009, 737 ff.; Brete/Thomson, NZI 2020, 1028, 1030 f. 4 BGH v. 15.6.1992 – II ZR 88/91, GmbHR 1992, 605 = NJW 1992, 2894 = ZIP 1992, 1152; OLG Naumburg v. 16.4.2003 – 5 U 12/03, GmbHR 2004, 423; OLG Köln v. 6.11.2007 – 18 U 131/07, AG 2008, 828 = GmbHR 2008, 1216 = ZIP 2009, 36; OLG Düsseldorf v. 7.12.2011 – 16 U 19/10, GmbHR 2012, 332 m. Anm. Blöse; Goette, DStR 1998, 1138; Bauder, BB 1993, 369 ff.; H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 84 f.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 34a; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 102; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 391 f.; Fleck in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 197, 219. 5 Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 392; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 102; Kleindiek in Lutter/ Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 34a; Gaul/Jantz, GmbHR 2009, 959, 961. 6 BGH v. 15.6.1992 – II ZR 88/91, GmbHR 1992, 605 = NJW 1992, 2894 = ZIP 1992, 1152; H.F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 84; Gaul/Janz, GmbHR 2009, 959 ff.; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 37 GmbHG Rz. 130; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 34a; Kruse/Busold, DStR 2017, 1608, 1609 f. 7 OLG Naumburg v. 16.4.2003 – 5 U 12/03, GmbHR 2004, 423; Bauder, BB 1993, 369, 370.

282 | Spliedt

§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.375 § 6

führer zumutbar ist1. Die Treue- und Loyalitätspflicht (§ 242 BGB) verpflichtet einen Geschäftsführer in der Krise der GmbH nicht nur, einer Herabsetzung seiner Vergütung zuzustimmen, sondern u.U. selbst die Initiative zur Herabsetzung zu ergreifen2. Zwingende weitere Voraussetzung ist jedoch, dass die Herabsetzung zur Herbeiführung einer nachhaltigen Sanierung der Gesellschaft beizutragen geeignet ist. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür hat die Gesellschaft3. Fremdgeschäftsführer unterliegen der Anpassung ihrer Vergütung ohne entsprechenden Vorbehalt nur bei langfristig und fest abgeschlossenen Anstellungsverträgen4. Auch in der Eigenverwaltung kann die eigenverwaltende Geschäftsführung verpflichtet sein, eine Schmälerung der Bezüge zum Zwecke der Sanierung des Unternehmens hinzunehmen. Zur Vermeidung des Moral-Hazard-Problems liegt es nahe, den Sachwalter analog § 280 InsO mit dieser Aufgabe zu betrauen5. Der BGH hält bei einer AG die Herabsetzung der Bezüge bei einer Insolvenzreife der Gesellschaft dann für erforderlich, wenn dem Vorstand die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zurechenbar ist, ohne dass er pflichtwidrig gehandelt haben muss6.

Der Umfang der Herabsetzung ist eine im Einzelfall zu beurteilende Tatfrage. Die Höhe der Bezüge darf angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht mehr als unbillig angesehen werden7. Handelt es sich um einen Gesellschafter-Geschäftsführer, so sind nach Auffassung des OLG Naumburg8 die diesem gewährten Leistungen mit dem Gehalt zu vergleichen, das ein Fremdgeschäftsführer unter denselben Umständen für die gleiche Tätigkeit erhalten hätte9. Bei der Herabsetzung ist zu berücksichtigen, dass der Geschäftsführer ohnehin seine gesamte variable Vergütung in der Krise einbüßt, so dass sich die Herabsetzung auf das Festgehalt bezieht. Insoweit sind strenge Maßstäbe anzulegen. Ist die Vergütung unter Berücksichtigung aller Umstände als Entgelt für die Geschäftsführertätigkeit angemessen, so liegt kein Verstoß gegen § 30 Abs. 1 GmbHG vor10.

6.374

Die Herabsetzung der Vergütung ist grundsätzlich auf die notwendige Dauer zu befristen11. Eine unbefristete Herabsetzung ist nur angemessen, wenn sich die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Gesellschaft nicht absehen lässt12. Gelingt die Sanierung oder scheitert sie, lebt der ursprüngliche Vergütungsanspruch in voller Höhe wieder auf und genießt, wenn es sich um einen abhängigen Geschäftsführer handelt, den Insolvenzschutz nach dem BetrAVG13.

6.375

1 Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 392; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, 2014, Rz. 173 ff. 2 Vgl. OLG Köln v. 6.11.2007 – 18 U 131/07, ZIP 2009, 36; Lindemann, GmbHR 2009, 737, 741. Zur Herabsetzung der Vergütung im eröffneten Verfahren s. Uhlenbruck, BB 2003, 1185, 1189 ff. 3 So Fleck in FS Hilger/Stumpf, 1983, S. 219; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 34a. 4 So Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 391. 5 Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 176. 6 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236 = ZIP 2016, 310. 7 BGH v. 27.10.2015 – II ZR 296/14, NJW 2016, 1236; Kruse/Busold, DStR 2017, 1608, 1610 f. = ZIP 2016, 310. 8 OLG Naumburg v. 16.4.2003 – 5 U 12/03, GmbHR 2004, 423; OLG Düsseldorf v. 7.12.2011 – 16 U 19/10, GmbHR 2012, 332 m. Anm. Blöse. 9 Vgl. auch BGH v. 14.5.1990 – II ZR 126/89, BGHZ 111, 224, 227; OLG Düsseldorf v. 7.12.2011 – 16 U 19/10, GmbHR 2012, 332 m. Anm. Blöse. 10 BGH v. 15.6.1992 – II ZR 88/91, GmbHR 1992, 605; OLG Naumburg v. 16.4.2003 – 5 U 12/03, GmbHR 2004, 423, 424 = ZIP 1992, 1152. 11 Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 392. 12 OLG Naumburg v. 16.4.2003 – 5 U 12/03, GmbHR 2004, 423, 424. 13 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 39 a.E.; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 110.

Spliedt | 283

§ 6 Rz. 6.376 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

6.376

Die Grundsätze über die Herabsetzung der Vergütung eines Geschäftsführers gelten nicht für den Sanierungsgeschäftsführer. Bei den vor Verfahrenseröffnung eingewechselten Sanierungsgeschäftsführern kann sogar eine „Gefahrenzulage“ angezeigt sein, denn von ihnen wird verlangt, aus der Organstellung heraus den Sanierungsprozess zu begleiten und das Unternehmen eigenverantwortlich fortzuführen1.

b) Kürzung oder Widerruf von Ruhegehaltsansprüchen 6.377

Die Kürzung von Ruhegehaltsansprüchen eines Geschäftsführers, auch Gesellschafter-Geschäftsführers, bedarf grundsätzlich der Zustimmung des Betroffenen. Bei Gesellschafter-Geschäftsführern sind diese Ansprüche keine darlehensgleichen Forderungen und deshalb in einem Insolvenzverfahren weder nachrangig (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) noch hinsichtlich der schon bewirkten Zahlung gemäß § 135 Abs. 1 InsO anfechtbar2. Die Zahlung von Ruhegeld kann nicht einseitig von der Gesellschaft eingestellt oder gekürzt werden3. Zuständig für die Änderung einer Ruhegeldzulage der GmbH ist die Gesellschafterversammlung4. Die Anpassung erfordert eine Vertragsänderung (Anpassungsvertrag). Nur in Ausnahmefällen des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ und der „unzulässigen Rechtsausübung“ kommt entsprechend § 313 BGB bzw. § 242 BGB ein einseitiger Widerruf in Betracht (dazu aber Rz. 6.335)5.

6.378

Hält man die Vorschrift des § 87 Abs. 2 AktG für GmbH-Geschäftsführer für entsprechend anwendbar (Rz. 6.373), so können Ruhegehalt, Hinterbliebenenbezüge und Leistungen verwandter Art nur in den ersten drei Jahren nach dem Ausscheiden aus der Gesellschaft herabgesetzt werden. § 87 Abs. 2 AktG wirft schon für die Ruhegehälter von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft erhebliche Zweifelsfragen auf6. Das gilt in besonderem Maße für den Geschäftsführer einer GmbH7.

c) Wegfall der „wirtschaftlichen Notlage“ als Sicherungsfall 6.379

Die ältere Praxis, wonach eine existenzbedrohende Notlage der Gesellschaft den Geschäftsführer nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) verpflichten kann, in die Herabsetzung des Ruhegehaltsanspruchs einzuwilligen8, kann in dieser Allgemein1 So Bauder, BB 1993, 369, 372; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, Rz. 174; Hofmann, Eigenverwaltung, Rz. 570; Thiele, ZInsO 2015, 877 ff., 979 ff. 2 BGH v. 22.10.2020 – IX ZR 231/19, NZI 2020, 90 = ZIP 2020, 2409. 3 So z.B. Kemper in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 1 BetrAVG Rz. 378 ff. Zur Abfindung von Betriebsrenten in der Insolvenz s. Hinrichs/Plitt, ZInsO, 2011, 2109 ff. 4 Vgl. Samwer, Zur Zuständigkeit der Gesellschafter(versammlung) der GmbH bei Erteilung und Änderung von Ruhegeldzusagen an Geschäftsführer, in FS H.-J. Lüer, 2008, S. 295 ff. 5 Vgl. Blomeyer/Otto/Rolfs, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 486. Zu steuerlich wirksamen Verfahren zur befreienden Umstrukturierung von Pensionszusagen beherrschender Gesellschafter-Geschäftsführer, Siebert, GmbHR 2013, 1130 ff. 6 Vgl. Kemper in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 1 BetrAVG Rz. 388 ff.; Göcke/Greubel, ZIP 2009, 2086 ff.; Uhlenbruck, BB 2003, 1185, 1190; Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 1586 ff. 7 Brete/Thomsen, NZI 2020, 1028, 1031 f. 8 BGH v. 8.12.1960 – II ZR 107/59, WM 1961, 299, 300; BGH v. 19.10.1978 – II ZR 42/77, WM 1979, 250, 251; BGH v. 11.2.1985 – II ZR 194/84, ZIP 1985, 760, 762; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 110; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 39, leitet die Pflicht zur einstweiligen Einstellung oder Kürzung von Versorgungsleistungen aus der den Geschäftsführer bindenden Treuepflicht her.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.380 § 6

heit nicht mehr aufrechterhalten werden. Durch Art. 8 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung v. 16.12.1997 (BGBl. I 1997, 2998) hat der Gesetzgeber in § 7 BetrAVG den Sicherungsfall der wirtschaftlichen Notlage des Arbeitgebers ersatzlos gestrichen1. Nach einem Urteil des BAG vom 17.6.20032 besteht seither kein aus den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage entwickeltes Recht zum Widerruf insolvenzgeschützter betrieblicher Versorgungsrechte wegen wirtschaftlicher Notlage mehr3. Diese Entscheidung bezieht sich nur auf laufende Betriebsrenten und – gesetzlich – unverfallbare Anwartschaften, nicht jedoch auf künftige Zuwächse4. Die Bundesregierung hat im Gesetzgebungsverfahren (BT-Drucks. 12/3803, S. 109, 110) die Auffassung vertreten, dass der Tatbestand der wirtschaftlichen Notlage neben dem des außergerichtlichen Vergleichs als gesonderter Sicherungsfall entbehrlich sei. Aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs zwischen der Berechtigung zum Widerruf einer Anwartschaft und der Eintrittspflicht des PSVaG sei ein einseitiger Widerruf auch arbeitsrechtlich nicht mehr zulässig. Nach der Gesetzesbegründung verbietet sich auch die Annahme, der Arbeitgeber dürfe zumindest dann wegen wirtschaftlicher Notlage widerrufen, wenn seine Bemühungen um einen außergerichtlichen Vergleich unter Einschaltung des PSVaG gescheitert seien5. Das Gesetz habe für wirtschaftliche Notlagen die Möglichkeit eines außergerichtlichen Vergleichs unter Einschaltung des Trägers der Insolvenzsicherung offen gelassen und verweise den Arbeitgeber ansonsten auf den Weg eines Insolvenzverfahrens6. Gleichwohl wird noch die Auffassung vertreten, eine Kürzungsmöglichkeit wegen wirtschaftlicher Notlage bleibe zulässig, wenn mit einer erfolgreichen Sanierung des Unternehmens gerechnet werden könne7. Dem ist insoweit zuzustimmen, als dass bei nicht dem gesetzlichen Insolvenzschutz unterfallenden Versorgungsrechten auch weiterhin ein Widerruf zulässig ist, wenn eine wirtschaftliche Notlage beim Arbeitgeber vorliegt8. Das ergibt ein Umkehrschluss aus der vom Gesetzgeber gewollten zwingenden Verknüpfung von Widerrufsrecht 1 Art. 91 des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung v. 5.10.1994, BGBl. I 1994, 2911, 2947. 2 BAG v. 17.6.2003 – 3 AZR 396/02, EzA BetrAVG § 7 Nr. 69. 3 S. auch BAG v. 31.7.2007 – 3 AZR 372/06, NZA 2008, 320; LAG Hessen v. 4.3.2009 – 8 Sa 968/08, ZInsO 2009, 2063, 2064. Bestätigt durch BAG v. 23.6.2020 – 3 AZN 442/20, NJW 2020, 3265. Vgl. Schwerdtner, Die Kürzung oder Einstellung betrieblicher Versorgungsleistungen wegen wirtschaftlicher Notlage des Arbeitgebers, in FS Uhlenbruck, 2000, S. 799 ff.; Berenz, ebd., § 7 BetrAVG Rz. 22; Blomeyer, NZA 1998, 911; Wohlleben, Die Insolvenzsicherung von Betriebsrenten, in Höfer, Die Novellierung des Betriebsrentengesetzes, 1998, S. 130; Uhlenbruck, KSI 2006, 121 ff.; Heß, Sanierungshandbuch, Kap. 34 Rz. 215 ff. 4 BAG v. 23.6.2020 – 3 AZN 442/20, NJW 2020, 3265. 5 So aber Diller, ZIP 1997, 765, 772; Boemke, NJW 2009, 2491. 6 Dies entspricht im Ergebnis auch dem Vorschlag von Höfer (§ 7 BetrAVG Rz. 4388), wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, sich um einen außergerichtlichen Vergleich mit dem PSVaG zu bemühen, wenn er sich auf sein Leistungsverweigerungsrecht wegen wirtschaftlicher Notlage berufen wolle. Lehne der PSVaG den außergerichtlichen Vergleich ab, wäre der Arbeitgeber verpflichtet, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, denn das Berufen auf die wirtschaftliche Notlage lasse erkennen, dass ein Eröffnungsgrund i.S. der §§ 17–19 InsO vorliege. Vgl. auch Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 25; Künzl/Bertram in Gottwald/ Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 109 Rz. 36. 7 So z.B. H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 83; Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 134, 136; Drukarczyk, ZGR 1979, 571; Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4386 ff.; a.A. Pluta/Heidrich in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 30 Rz. 48. 8 BAG v. 23.6.2020 – 3 AZN 442/20, NJW 2020, 3265; Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4389.4. Vgl. demgegenüber aber Goette in FS Wiedemann, 2002, S. 879, 882 f.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 38; Blomeyer/Rolfs/Otto, Anh. zu § 1 BetrAVG Rz. 486; Boemke, NJW 2009, 2491.

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6.380

§ 6 Rz. 6.380 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

und gesetzlichem Insolvenzschutz. Bei ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Arbeitgebers sei es gerechtfertigt, zu seinen Gunsten auch weiterhin die Grundsätze über die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) anzuwenden. Doch kann seit der Streichung des Sicherungsfalls der wirtschaftlichen Notlage (§ 7 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 BetrAVG a.F.) ein Recht zum Widerruf insolvenzgeschützter betrieblicher Versorgungsrechte wegen wirtschaftlicher Notlage nicht mehr anerkannt werden. Auch R. Höfer1 und K. Heubeck2 gehen davon aus, dass die Lösung der Problematik über einen außergerichtlichen Vergleich zu suchen ist. Der außergerichtliche Vergleich stellt einen Sicherungsfall i.S. von § 7 Abs. 4 Satz 4 BetrAVG dar. Der PSVaG wird dem außergerichtlichen Vergleich (Stundungs-, Quoten- oder Liquidationsvergleich) aber nur zustimmen, wenn der Arbeitgeber in seinem Antrag auf Zustimmung substantiiert darlegt, dass Art und Ausmaß der geplanten Maßnahmen in Form einer Stundung, Kürzung oder Einstellung laufender Leistungen zur Fortführung des Betriebes unumgänglich notwendig sind und dass realistische Erfolgsaussichten auf eine nachhaltige Sanierung und damit zur Vermeidung eines Insolvenzverfahrens bestehen3. Einem Arbeitnehmer-Geschäftsführer ist ebenso wie jedem anderen Arbeitnehmer nicht zuzumuten, ohne ein Opfer auch der übrigen Gläubiger ein Sonderopfer zu bringen.

d) Außergerichtlicher Vergleich als Sicherungsfall 6.381

Der außergerichtliche Vergleich des Arbeitgebers mit seinen Gläubigern ist ein Sicherungsfall i.S. von § 7 BetrAVG, wenn der PSVaG dem Vergleich zustimmt4. Der PSVaG ist nicht verpflichtet, dem außergerichtlichen Vergleich des Schuldnerunternehmens zuzustimmen5. Der PSVaG wird einem außergerichtlichen Vergleich nur zustimmen, wenn „eine die wirtschaftliche Lage und geeignete Abhilfemöglichkeiten feststellende sachverständige betriebswirtschaftliche Analyse“ vorgelegt wird, der Widerruf also Teil eines „ausgewogenen Sanierungskonzepts“ ist6.

6.382

Der PSVaG ist nicht verpflichtet, einem außergerichtlichen Vergleich zuzustimmen. Wenn er nicht zustimmt, bestehen die Versorgungsansprüche der Begünstigten unverändert gegenüber dem Arbeitgeber7. Stimmt der PSVaG einem außergerichtlichen Fortführungsvergleich zu, so endet nicht ohne weiteres das Versorgungsverhältnis zwischen dem Versorgungsberechtigten und dem Schuldnerunternehmen als Arbeitgeber. Es bleibt vielmehr in dem Umfang bestehen, in dem der PSVaG die betriebliche Altersversorgung nicht übernimmt. Werden Ansprüche von Versorgungsberechtigten vom Arbeitgeber nicht erfüllt, so können die Versorgungsberechtigten 1 Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4385 ff. 2 K. Heubeck in Picot, Unternehmenskauf und Restrukturierung, Teil IV/II Rz. 56 S. 634 f. Vgl. auch Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 34 Rz. 215 ff. 3 So zutr. Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 52. 4 Vgl. Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 52; Merkblatt 110; M1 des PSVaG. Zur Rechtsstellung des PSVaG im außergerichtlichen Vergleich vgl. Uhlenbruck, KSI 2006, 121. 5 Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 55; Blomeyer/Rolfs/Otto, § 7 BetrAVG Rz. 102 ff.; Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4356. 6 So BAG v. 17.6.2003 – 3 AZR 396/02, EzA BetrAVG § 7 Nr. 69. Instruktiv auch Prütting, Der rechtliche Hintergrund des IDW S 6 zur Erstellung von Sanierungskonzepten, KSI 2013, 101 ff.; Groß, WPg 2011, Sonderheft S. 1; Groß in FS Wellensiek, 2011, S. 23; Wohlleben in Mönning, Betriebsfortführung in der Insolvenz, § 32 Rz. 23; Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berens/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 50 ff. 7 BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, ZIP 1992, 1991; Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4352; Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 55.

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§ 6 Interne Sanierung | Rz. 6.385 § 6

den PSVaG nur dadurch zur Leistung verpflichten, dass sie einen Insolvenzantrag gegen ihren Arbeitgeber stellen und das Insolvenzverfahren von dem zuständigen Gericht eröffnet oder die Eröffnung mangels Masse abgewiesen wird1. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG gehen Ansprüche oder Anwartschaften des Berechtigten gegen den Arbeitgeber auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung, die den Anspruch gegen den Träger der Insolvenzsicherung begründen, im Fall eines Insolvenzverfahrens mit dessen Eröffnung, in den übrigen Sicherungsfällen dann auf den Träger der Insolvenzsicherung über, wenn dieser nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BetrAVG dem Berechtigten die ihm zustehenden Ansprüche oder Anwartschaften mitteilt. Wird eine Pensionszusage durch eine Rückdeckungsversicherung vom Unternehmen finanziert und wird diese Versicherung zur Sicherung der Versorgungsansprüche an den Gesellschafter-Geschäftsführer verpfändet (sog. Verpfändungsmodell), so sind diese Ansprüche „insolvenzfest“2. Keine Insolvenzfestigkeit besteht dagegen bei einem widerruflichen Bezugsrecht3. Ist die Pfandreife zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung noch nicht eingetreten, ist der Insolvenzverwalter berechtigt, die Versicherung zu kündigen4.

6.383

Hinsichtlich der nicht insolvenzgeschützten Versorgungsrechte eines Geschäftsführers ist ein ausdrücklicher Widerrufsvorbehalt zulässig und beachtlich5. Ein Widerruf wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten ist bei einer Unterstützungskassenversorgung nur so lange zulässig, wie eine Sanierung beabsichtigt ist6. Im Insolvenzfall brauchen die Versorgungsberechtigten nicht zur Befriedigung von Insolvenzgläubigern beizutragen7. Soweit ein Widerruf von durch das Betriebsrentengesetz geschützten Ruhegeldansprüchen und unverfallbaren Anwartschaften der abhängigen Geschäftsführer wegen existenzbedrohender wirtschaftlicher Notlage des Unternehmens ausgeschlossen ist, bleibt der GmbH nichts anderes übrig, als sich um einen außergerichtlichen Vergleich zu bemühen und den PSVaG rechtzeitig einzuschalten (§ 7 Abs. 4 Nr. 2 BetrAVG).

6.384

e) Die Rolle des PSVaG im Besonderen Vorinsolvenzlich sind die Ansprüche des PSVaG nicht selten ein erhebliches Sanierungshindernis oder sogar ein Grund für die Insolvenzantragsstellung. Deshalb gilt es, den PSVaG rechtzeitig in die Verhandlungen mit den Großgläubigern einzubinden und die Zustimmung für den Insolvenzplan frühzeitig einzuwerben8. Dies ist für den Sanierungserfolg meist unver1 Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 55. 2 S. BGH v. 10.7.1997 – IX ZR 161/96, BGHZ 136, 220, 224 ff. = GmbHR 1997, 936, 938; Pape/ Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, Kap. 9 Rz. 37; Ganter, VersR 2013, 1078 ff.; Ganter, NZI 2013, 769, 771 f.; Flitsch/Herbst, BB 2003, 317 ff.; Brinkmann in Uhlenbruck, § 47 InsO Rz. 90; Elfring, BB 2004, 617 ff.; Jenal, KSI 2012, 167 ff.; Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 560 f.; Arteaga, ZIP 1998, 276, 277 f.; Ganter, NZI 2013, 769, 772 m. Ausführungen zum Contractual Trust Arrangement (CTA). Zum CTA s. Rolfs/Schmid, ZIP 2010, 701 ff. 3 Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 109. 4 Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 109 unter Berufung auf BGH v. 7.4.2005 – IX ZR 138/04, NJW 2005, 2231; Ellring, NJW 2005, 2192. 5 Höfer, § 7 BetrAVG Rz. 4389.6; Blomeyer/Rolfs/Otto, Anh. § 1 BetrAVG Rz. 486; Langohr-Plato, Betriebliche Versorgungszusagen ZAP Nr. 7 Fach 17 S. 1115, 1126. 6 Langohr-Plato, ZAP Fach 17 S. 1127. 7 BAG v. 10.11.1981 – 3 AZR 1134/78, AP BetrAVG § 7 Widerruf Nr. 1 = ZIP 1982, 733; BAG v. 29.9.2010 – 3 AZR 107/08, NZA-RR 2011, 208 = ZIP 2011, 347. 8 Vgl. Haarmeyer/Buchalik, Sanieren statt Liquidieren, 2012, 17.6, S. 129. Fehlt in einem Insolvenzplan die Berücksichtigung des PSVaG, führt dies von Amts wegen zur Zurückweisung des Plans nach § 231 Abs. 1 Nr. 1 InsO.

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6.385

§ 6 Rz. 6.385 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

zichtbar1. Zu beachten ist aber der Hinweis von Berenz2, dass sich der PSVaG erst nach dem Eintritt der Insolvenz eines Arbeitgebers mit der konkret bestehenden betrieblichen Altersversorgung unter Berücksichtigung der dann gegebenen Rechtslage im Einzelnen befasst. Wie bei einem außergerichtlichen Vergleich hat das Schuldnerunternehmen gegenüber dem PSVaG substantiiert darzulegen, dass Art und Ausmaß der geplanten Maßnahmen in Form einer Stundung, Kürzung oder Einstellung laufender Leistungen zur Fortführung des Betriebs unumgänglich notwendig sind und dass realistische Erfolgsaussichten auf Vermeidung des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und auf Wiederherstellung der Ertragskraft (Sanierung) bestehen3.

6.386

Der PSVaG ist nicht verpflichtet, der notleidenden GmbH die Versorgungslast auf Dauer abzunehmen. Deshalb soll z.B. in einem Insolvenzplan vorgesehen werden, dass bei einer nachhaltigen Besserung der wirtschaftlichen Lage des Arbeitgebers die vom PSVaG zu erbringenden Leistungen ganz oder teilweise vom Arbeitgeber oder sonstigen Träger der Versorgung wieder übernommen werden (§ 7 Abs. 4 Satz 5 BetrAVG)4. Ob eine solche Regelung angesichts der damit verbundenen Ungleichbehandlung dem Obstruktions- und Minderheitenschutz (§§ 245, 251, 253 InsO) stand hält, ist allerdings zweifelhaft5. Die Höhe der Sanierungsbeiträge und der Zeitraum, in dem der PSVaG Sanierungsbeiträge zu leisten hat, hängen von den Umständen des Einzelfalls ab6.

6.387

Die Umwandlung einer Rentenversicherung in eine pfändungsgeschützte Versicherung ist anfechtbar, wenn die Umwandlung nach dem Antrag auf Insolvenzeröffnung vorgenommen wurde und die Versicherungs-Gesellschaft Kenntnis von dem Insolvenzantrag hatte7.

6.388

Entgeltumwandlungszusagen genießen nach dem BetrAVG grundsätzlich den gleichen Rechtsschutz wie arbeitgeberfinanzierte Zusagen8.

1 Vgl. auch Paulsdorff/Wohlleben in Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2000, S. 1660 ff. Rz. 21 ff.; Pape/Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, Kap. 9 Rz. 26 ff.; Rendels/Zabel, Insolvenzplan, 2. Aufl. 2015, Rz. 229. 2 Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 14 BetrAVG Rz. 15. 3 Wörtlich Berenz in Kemper/Kisters-Kölkes/Berenz/Huber, § 7 BetrAVG Rz. 52. 4 Vgl. Rieger, NZI 2013, 671 ff.; Rendels/Zabel, Insolvenzplan, 2. Aufl. 2015, Rz 227, 230; Schöne in Kübler, HRI, § 29 Rz. 17. 5 Bejahend: Holthusen, NZI 2020, 705; Uhlenbruck, NZI 2020, 878. 6 Vgl. BAG v. 16.3.1993 – 3 AZR 299/92, ZIP 1993, 1330, 1332 = AG 1994, 371; Hess, Sanierungshandbuch, Kap. 34 Rz. 225, 289 ff. u. Rz. 309 ff.; Berenz, BetrAV 1999, 149, 151 f.; Langohr-Plato, Betriebliche Altersversorgung, 2010, Rz. 845 ff.; Hess, Insolvenzrecht, Band III, Anh. E § 7 BetrAVG Rz. 243. Zu den Aufteilungsmöglichkeiten der Versorgungslasten in einem Insolvenzplan s. Wohlleben in Mönning, Betriebsfortführung in der Insolvenz, 2. Aufl. 2015, § 32 Rz. 73 ff.; Pluta/ Heidrich in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 2. Aufl. 2010, § 30 Rz. 119 ff. 7 AG Köln v. 31.5.2012 – 130 C 25/12, ZVI 2012, 385 = ZIP 2012, 1976. 8 Zu den Differenzierungen hinsichtlich der Alt- und Neuzusagen (ab 31.12.2001) s. Langohr-Plato, ZAP Fach 17 S. 1099, 1106 f.

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§7 Externe Sanierung I. Sanierungsbeiträge der Gesellschaftsgläubiger 1. Gläubigerhilfen als externe Sanierungsmaßnahmen Im Rahmen der freien Sanierung wird unterschieden zwischen interner (autonomer) Sanierung und externer Sanierung (dazu Rz. 5.7). Bei der externen Sanierung1 werden Dritte, vor allem Gläubiger der GmbH, in das Sanierungskonzept einbezogen. Besser ist von externen Sanierungsmaßnahmen zu sprechen, denn die typische „externe Sanierung“ ist eine kombinierte Sanierung, die sich aus internen und externen Elementen zusammensetzt. Wirtschaftlich sind Gläubigerhilfen i.d.R. nur sinnvoll, wenn sie im Zusammenhang mit anderen Sanierungsmaßnahmen vorgenommen werden.

7.1

Gläubigerhilfen können individuell oder kollektiv vereinbart werden. Im letzteren Fall kann von einem außergerichtlichen Vergleich gesprochen werden2.

7.2

Rechtlich ist im Grundsatz kein Gläubiger verpflichtet, einem Unternehmen Forderungen oder Zinsen zu stunden. Es gibt außerhalb des Insolvenzverfahrens kein Obstruktionsverbot, auch nicht bei einem außergerichtlichen Vergleich, dem alle übrigen Gläubiger dem Vergleich zustimmen (vgl. zum Akkordstörerproblem auch Rz. 7.11)3. Hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zur Sanierung im Insolvenzplanverfahren.

7.3

2. Forderungsstundung (Moratorium) a) Das echte Moratorium ist eine vertragliche Forderungsstundung4. Das Schuldnerunternehmen vereinbart mit einem oder mehreren Gläubigern, dass die Fälligkeit der Rückzahlung aufgeschoben wird. Üblicherweise wird als Moratorium die kollektive Forderungsstundung in Gestalt eines außergerichtlichen Vergleichs bezeichnet5. Der sachliche Unterschied ist zwingend, der terminologische nicht. Eine Stundungsvariante ist der so genannte Ratenvergleich. Dieser stellt ebenfalls eine Stundung dar, jedoch erfolgt die Bezahlung in vertraglich bestimmten Raten zu aufeinander folgenden Terminen.

7.4

b) Wirtschaftlich gesehen verwandelt die Forderungsstundung (das Moratorium) kurzfristig fällige Verbindlichkeiten in langfristige Schulden. Die Forderungsstundung verschafft Spielraum für das Liquiditätsmanagement. Rechtlich kann es zu einer Aufschiebung oder Auf-

7.5

1 Von „heterogener Sanierung“ spricht Hess, Sanierungshandbuch, 6. Aufl. 2013, Kap. 4 Rz. 19. 2 Dazu etwa Nerlich/Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 171 ff., 356 ff.; grundlegend Künne, Außergerichtliche Vergleichsordnung, 7. Aufl. 1968. 3 Vgl. BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, BGHZ 116, 319 = ZIP 1992, 191; h.M.; anders Eidenmüller, ZHR 160 (1996), 343, 354 ff. 4 Drukarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 3 Rz. 100; Kohler-Gehrig, Außergerichtlicher Vergleich, 1987, S. 11; Künne, Außergerichtliche Vergleichsordnung, 7. Aufl. 1968, S. 56; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.214 ff.; Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 155 ff. 5 Vgl. nur Drukarczyk/Schöntag in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 3 Rz. 100; Nerlich/ Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 353 ff.

Karsten Schmidt | 289

§ 7 Rz. 7.5 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

hebung der Insolvenzantragspflicht (Rz. 38.1 ff.) beitragen. Insofern führt der Stundungsoder Ratenvergleich zum Aufschub oder zur zeitweiligen Beseitigung einer eingetretenen Zahlungsunfähigkeit i.S. von § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO. Gleiches gilt für ein so genanntes Stillhalteabkommen (Rz. 7.72 ff.) zwischen dem Schuldnerunternehmen und seinen Gläubigern bzw. einem Hauptgläubiger, dessen Forderung mehr als 10 % der Gesamtverbindlichkeiten ausmacht. Ein erst nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vereinbartes Moratorium beseitigt nicht die Zahlungsunfähigkeit, solange das Schuldnerunternehmen nicht die Zahlungen im Allgemeinen wieder aufnimmt1. Bezogen auf eine Überschuldungslage kann die Stundung zwar nicht die bilanzielle Überschuldung beheben, wohl allerdings die Liquiditätsprognose (Rz. 14.121) verbessern und damit zur Behebung einer Überschuldung i.S. von § 19 Abs. 2 InsO beitragen.

7.6

c) Die Stundung ist ein Vertrag, der von Rechts wegen formlos, eventuell sogar konkludent, geschlossen werden kann. Eine verlässliche Sanierungshilfe kann die aufgeschobene Fälligkeit einer Forderung im Rahmen der Zahlungsunfähigkeitsprüfung allerdings nur gewährleisten, wenn die Stundung ausdrücklich vereinbart worden ist2. Geduldete Nichtzahlung bzw. geduldete verspätete Zahlung genügt nicht. Durch bloßes Versteckspiel kann das Schuldnerunternehmen eine Stundung nicht erzwingen, auch nicht im Lichte von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Ebenso wenig reicht es aus, dass Gläubiger von fruchtlosen Klagen und aussichtslosen Vollstreckungsmaßnahmen absehen (sog. erzwungene Stundung)3. Das so genannte Stillhalten von Banken, also das stillschweigende Stehenlassen von bereits gewährten Krediten ohne deren Kündigung lässt nicht ohne weiteres eine bestehende Zahlungsunfähigkeit des Schuldnerunternehmens entfallen (vgl. auch Rz. 14.19). Einem regelrechten Stillhalteabkommen kann dagegen Stundungswirkung zukommen (Rz. 7.80 ff.), doch besteht in diesem Fall die Gefahr, dass andere Gläubiger die Zeit nutzen, sich wegen ihrer Forderung vorzugsweise Sicherheiten oder eine Befriedigung zu verschaffen. Teilweise bleiben im Rahmen der Zahlungsfähigkeitprüfung solche Verbindlichkeiten außer Betracht, bezüglich derer ein Gläubiger sich von vornherein und unbeanstandet mit Teilzahlungen zufrieden gibt. Gleiches gilt, wenn Gläubigerbanken die eingeräumten Kreditlinien unbeanstandet überziehen lassen4. Die Unternehmensleitung ist jedoch i.d.R. schlecht beraten, wenn sie die Grauzone zwischen Stundungsvereinbarung und bloßer Gläubigerapathie bei der Liquiditätsprüfung zu nutzen versucht (vgl. diesbezüglich zum Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit Rz. 14.18 f.). Ihre Aufgabe ist es, den schlagartigen Wechsel aus der nur drohenden (§ 18 Abs. 2 InsO) in die akute Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 2 InsO) abzuwenden.

7.7

d) Ein vereinbartes Moratorium wird zweckmäßigerweise zeitlich befristet5. Gewährt allein die kreditgebende Hausbank zwecks Überwindung der Unternehmenskrise einen Zahlungsaufschub bzw. ein Moratorium, so handelt es sich ebenso wie bei der Stundung von Zinsraten, um einen Teilvergleich. Über die Prolongation von Bankkrediten sowie die Stundung von Zins- und/oder Tilgungsraten durch die kreditgebende Bank vgl. näher Rz. 7.80 ff. Bezogen 1 BGH v. 25.10.2001 – IX ZR 17/01, BGHZ 149, 101, 109; BGH v. 20.11.2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178, 188; BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36, 37 m. Anm. Gundlach/Frenzel = ZIP 2007, 2222, 2224; Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 10, 44; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 45. 2 So Uhlenbruck, 13. Aufl., § 17 InsO Rz. 8; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 17 InsO Rz. 19. 3 Vgl. Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 17 InsO Rz. 10 mit Hinweis auf BGH v. 20.12.2007 – IX ZR 93/06, ZInsO 2008, 273 = ZIP 2008, 420. 4 Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 42; Harz, ZInsO 2001, 194 f. 5 Nerlich/Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 253.

290 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.10 § 7

auf den Zins ist vertragliche Klarheit geboten. Wird für die Zeit der Stundung ein Verzicht auf Zinszahlungen vereinbart, so ist zwischen einer bloßen Stundung, die den Zinslauf unberührt lässt, und einem Verzicht auf die während der Dauer der Stundung anfallenden Zinsen zu unterscheiden. Im letzten Fall handelt es sich insoweit um einen echten Forderungserlass. Vor einem völligen Zinsstopp über längere Zeit wird mit Recht gewarnt1. Er entspricht im Zweifel auch nicht dem Willen beider Vertragspartner. e) Wie immer bei finanzierungsbezogenen Sanierungsmaßnahmen ist auf Anfechtungsrisiken zu achten. Eine Forderungsstundung ist zwar als solche nicht gläubigerbenachteiligend2. Aber Gegenleistungen im Rahmen einer Stundungsvereinbarung können anfechtbare Gläubigerbenachteiligungen mit sich bringen3. So kann die Stundung von Steuerforderungen gegen Abtretung einer Forderung der Gesellschafter nach Auffassung des BGH4 auch dann eine inkongruente Deckung bewirken, wenn sich die Forderung der Gesellschaft des Schuldners ebenfalls gegen einen Träger hoheitlicher Gewalt richtet.

7.8

f) Charakteristisch für das Moratorium ist der Fortbestand der Verbindlichkeit und damit

7.9

– die fortbestehende Passivierungspflicht im Überschuldungsstatus (dazu näher Rz. 14.145 ff.) und – das Fortbestehen akzessorischer Sicherheiten (dazu Rz. 7.84) und – die Anmeldung als Insolvenzforderung im eröffneten Verfahren (§ 41 InsO). Steuerrechtlich generiert die Stundungsabrede keinen Sanierungsertrag nach § 3a EStG (dazu Rz. 8.38).

3. Forderungsverzicht und Besserungsschein a) Im Gegensatz zur bloß liquiditätswirksamen Forderungsstundung (Moratorium) ist der Forderungsverzicht ein geeignetes Mittel, eine bilanzielle Überschuldung der Gesellschaft zu verringern oder zu beseitigen5. Der vollständige oder teilweise Forderungsverzicht einzelner oder sämtlicher Gläubiger des Krisenunternehmens stellt einen Erlassvertrag zwischen Gläubigern und dem Schuldnerunternehmen gemäß § 397 Abs. 1 BGB dar. Es kann sich bei dem Gläubiger selbstverständlich auch um einen Gesellschafter, bei der erlassenen Forderung um eine Gesellschafterforderung handeln. Bilanziell führt der Forderungsverzicht zu einem Wegfall der betroffenen Verbindlichkeiten im Überschuldungsstatus mit der Folge, dass die Passivseite entlastet und eine drohende oder schon eingetretene bilanzielle Überschuldung verringert, verhindert oder beseitigt wird. Schon aus Beweisgründen sollte der Erlassvertrag, auch wenn er zwischen dem Schuldnerunternehmen und nur einzelnen Gläubigern zustande 1 S. Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 156. 2 BGH v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, BGHZ 170, 276, 279 Rz. 10 = ZIP 2007, 435, 436; Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Rz. B 617. 3 Vgl. statt vieler Kayser in Münchener Kommentar zur InsO, § 129 InsO Rz. 163 ff. 4 BGH v. 29.9.2005 – IX ZR 184/04, ZIP 2005, 2025; dazu Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Rz. D 29. 5 Vgl. BGH v. 14.2.1995 – XI ZR 65/94, WM 1995, 695 = ZIP 1995, 574; Herlinghaus, Forderungsverzichte und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, 1994; Buth/ Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 48; Nerlich in Münchener Anwaltshandbuch Sanierung und Insolvenz, § 4 Rz. 337 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.218 ff.; Wittig, NZI 2001, 169, 170.

Karsten Schmidt | 291

7.10

§ 7 Rz. 7.10 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

kommt, schriftlich abgeschlossen werden1. Ein Erlassvertrag kann auch unter einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung vereinbart werden (vgl. zur Besserungsabrede sogleich Rz. 7.12). Zur steuerlichen Behandlung des sich aus dem Forderungsverzicht ergebenden bilanziellen Sanierungsgewinns s. Rz. 8.31 ff.

7.11

b) Seinem Ziel nach lässt sich der individuelle und der kollektive Forderungsverzicht unterscheiden (vgl. schon Rz. 7.2). Der individuelle Forderungsverzicht ist Sache eines (Groß-) Gläubigers oder einzelner Gläubiger, der kollektive Forderungsverzicht betrifft die Gläubigergesamtheit oder eine bestimmte Gläubigergruppe (z.B. Gesellschafter oder Lieferanten oder eine Gruppe von Finanzinstituten). Eine Gläubigergruppe kann in einem solchen Fall – muss dies aber nicht – ein Konsortium bilden2. Das Akkordstörerproblem (Rz. 7.3) tritt auch hier in Erscheinung, hat aber u.U. andere Folgen als sonst. Soll der Forderungserlass sämtlicher Gläubiger im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs vereinbart werden, kommt der Erlassvertrag im Zweifel nur zustande, wenn sämtliche Gläubiger dem Vergleich zustimmen. Scheitert dies an einem „Akkordstörer“, so muss der Vergleich ggf. auch unter den Zustimmenden neu ausgehandelt werden.

7.12

c) Da sich die Gläubiger die Chance einer späteren Befriedigung ihrer Forderungen erhalten und die erhoffte Sanierung nur vorfinanzieren wollen, wird der Forderungsverzicht zweckmäßigerweise mit einer Besserungsvereinbarung verknüpft3. Als Bedingung der Besserungsabrede wird regelmäßig vereinbart, dass sich die Vermögensverhältnisse des Schuldnerunternehmens in einer vertraglich bestimmten Weise bessern, insbesondere aus durch zukünftige Gewinne frei werdendem Vermögen oder aus einem etwaigen Liquidationserlös4. Der Erlassvertrag steht dann unter der auflösenden Bedingung, dass bei Eintritt der vereinbarten Besserung der Vermögensverhältnisse die Erlasswirkung wieder entfällt5. Mit Eintritt der Vermögensverbesserung lebt also die Gläubigerforderung – je nach Vereinbarung ganz oder teilweise – wieder auf6.

7.13

d) Da die erlassenen Forderungen erloschen sind, werden auch bei Vereinbarung eines Besserungsscheins akzessorische Sicherheiten frei7. Nicht-akzessorische Sicherheiten sind freizugeben8. Da erst mit der vertraglich bestimmten Besserung der Vermögensumstände die er1 Vgl. Herlinghaus, Forderungsverzichte und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, 1994, S. 6; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.219. 2 Vgl. Schäfer in Münchener Kommentar zum BGB, vor § 705 BGB Rz. 61: Sanierungskonsortium, Stillhaltekonsortium. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 1.1333. 4 Formulierungsvorschläge bei Nerlich/Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 342. 5 Einzelheiten bei Herlinghaus, Forderungsverzichte und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, 1994, S. 83 ff.; Schrader, Die Besserungsabrede, 1995; Wittig, NZI 2001, 169, 170; Nerlich/Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 341 f.; Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung und Insolvenz, § 21 Rz. 34, 48. 6 Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, § 21 Rz. 34; Nerlich/Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 4 Rz. 341; Wittig, NZI 2001, 169, 170; nach Auffassung von Herlinghaus (Forderungsverzicht und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, 1994, S. 83 ff.) stellt die Besserungsvereinbarung ein abstraktes Schuldanerkenntnis dar, „dessen Fälligkeit durch die Besserungsabrede aufgeschoben wird, so dass im Ergebnis von einer Stundungsvereinbarung auszugehen ist“ (S. 182); für eine Einordnung als pactum de non petendo Schrader, Die Besserungsabrede, 1995, S. 37 ff. 7 Wittig, NZI 2001, 169, 170. 8 Karsten Schmidt, GmbHR 1999, 9, 11; Wittig, NZI 2001, 169.

292 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.15 § 7

lassenen Forderungen wieder aufleben, sind sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu verzinsen, es sei denn, dass die Parteien ausdrücklich eine andere Abrede treffen1. Wird die Freigabe vertraglich ausgeschlossen, so kann es sich nur um ein pactum de non petendo handeln, also um die Vereinbarung einer aufschiebenden Zahlungsbedingung. Im eröffneten Insolvenzverfahren begründen erlassene Forderungen keine Anmeldungsfähigkeit. Das Scheitern der mit dem Forderungsverzicht verbundenen Sanierungserwartungen lässt sie nicht kraft Gesetzes als Insolvenzforderungen aufleben, denn § 41 InsO ist nicht anwendbar. Eine ausdrückliche Abrede, nach der die Forderung im Fall eines Insolvenzantrags oder im Fall der Verfahrenseröffnung ebenso wie im Fall der Besserung auflebt, wäre als Teil eines Sanierungskonzepts unbrauchbar, weil sie die bilanzielle Überschuldung nicht beheben könnte.

4. Rangrücktritt a) Als eine Rechtsfigur zwischen dem Erlassvertrag (Rz. 7.10) und der bloßen Stundung (Rz. 7.6) hat sich der Rangrücktritt etabliert2. Ziel der Rangrücktrittsvereinbarung ist typischerweise die Abwehr oder Beseitigung von Eröffnungsgründen und Insolvenzantragspflichten (§§ 19, 17, 15a InsO) (zu den steuerlichen Folgen Rz. 8.40).

7.14

Aus diesen Hauptaufgaben des Rangrücktritts ergibt sich die Hauptschwierigkeit seiner richtigen Formulierung, nämlich die Tiefe des Rangrücktritts3. Dieser – muss einerseits eine ausreichende Tiefe haben, um die bilanzielle Überschuldung der Gesellschaft zu vermeiden, also die Nicht-Passivierung der Verbindlichkeit im Überschuldungsstatus zu erlauben, – darf aber anderseits nicht durch seine Tiefe die Passivierung in der Steuerbilanz ausschließen, darf also m.a.W. keinen Buchgewinn generieren. Die erste Frage ist eine solche des § 19 Abs. 2 InsO, die zweite eine solche des § 5 Abs. 2a EStG (dazu Rz. 8.205 ff.). Zu beiden Fragen gibt es eine umfangreiche, nicht immer vollständig konsistente Rechtsprechung der Zivil- und Finanzgerichte4, auf die die Handbücher mit immer neuen Formulierungsempfehlungen reagiert haben5. Die Befolgung solcher Empfehlungen kann im Optimierungsinteresse, insbesondere zur Ausschöpfung steuerrechtlicher Optionen von Nutzen sein. Sie bindet aber Kraft und Arbeitszeit, ohne doch letzte und dauernde Sicherheit zu versprechen. Oberstes Ziel der Rechtsprechung sollte deshalb das Bestreben sein, den im auf Rechtstreue gerichteten Interessen der Beteiligten durch Auslegung unspezifizierter Rangrücktrittserklärungen einen Sinn beizugeben, der die Passivierung im Überschuldungsstatus ohne steuerrechtlich nachteilige Rechtsfolgen ohne übermäßigen Gestaltungsauf1 Einzelheiten bei Herlinghaus, Forderungsverzicht und Besserungsvereinbarungen zur Sanierung von Kapitalgesellschaften, 1994, S. 136 f. mit Nachweisen von Rechtsprechung und Literatur. 2 Dazu umfassend Fleischer, Finanzplankredite und Eigenkapitalersatz im Gesellschaftsrecht, 1995; Chr. Mayer, Der vertragliche Nachrang von Forderungen, 2007; Röhricht in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion, 2001, S. 16 ff.; Teller/Steffan, Rangrücktrittsvereinbarungen zur Vermeidung der Überschuldung bei der GmbH, 3. Aufl. 2003; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 63; Bitter, ZIP 2015, 345; Kahlert/Gehrke, DStR 2007, 227; Karsten Schmidt in FS Frotscher, 2013, S. 36; Karsten Schmidt, DB 2015, 600; Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901 ff. 3 Zusammenfassend Karsten Schmidt, DB 2015, 600 ff. 4 Vgl. namentlich BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264 = GmbHR 2001, 190 m. Anm. Felleisen; BFH v. 10.11.2005 – IV R 13/04, BStBl. 2006, 2037 = GmbHR 2006, 158 m. Anm. Hoffmann = ZIP 2006, 249 m. Anm. Kahlert; BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 232 = ZIP 2012, 570; dazu Berg/J. Schmidt, GmbHR 2012, 408; Weitemeyer, GmbHR 2006, 270. 5 Vgl. nur Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 186 ff.

Karsten Schmidt | 293

7.15

§ 7 Rz. 7.15 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

wand vermeidet1, denn die Sorgfalt der Geschäftsführungsorgane ist in der Krise typischerweise auf andere Ziele gerichtet als auf die Wahl zwischen streitenden Formulierungsvorschlägen. Das sogleich zu behandelnde BGH-Urteil vom 5.3.20152 ebnet zusammen mit der BFH Entscheidung vom 19.8.20203 den Weg zu einer interessengerechten Auslegung. Ein ohne akademischen Gestaltungsaufwand formulierter Rangrücktritt unterliegt einer interessengerechten Auslegung, und für diese hilft überdies § 39 Abs. 2 InsO. Die funktionsgerechte Auslegung auch unspezifizierter Rangrücktrittserklärungen ist als eine „Bringschuld“ der Gerichtspraxis gegenüber der Geschäftsführungs- und Sanierungspraxis bezeichnet worden4.

7.16

b) Abgesehen von diesem Balanceakt hat die Rangrücktrittsvereinbarung trotz ihrer vielfältigen Verwendung in der Praxis eine Reihe bis heute umstrittener Rechtsfragen aufgeworfen5: – 1. Frage: Um welche Art Rechtsgeschäft handelt es sich? (Rz. 7.17) – 2. Frage: Besteht Vertragsfreiheit über den Inhalt des Rangrücktritts? (Rz. 7.18) – 3. Frage: Ist der Rangrücktritt für die Vermeidung einer bilanziellen Überschuldung notwendig? (Rz. 7.19) – 4. Frage: Welches ist die hierfür gebotene Rangtiefe? (Rz. 7.20) – 5. Frage: Genügt die dem Rangrücktritt nach § 39 Abs. 2 InsO beigegebene Wirkung im eröffneten Insolvenzverfahren, oder muss dem Rangrücktritt darüber hinaus eine vorinsolvenzliche Wirkung zukommen? (Rz. 7.21) – 6. Frage: Wie lange hält der Rangrücktritt an? (Rz. 7.22) – 7. Frage: Unterliegt der Rangrücktritt der freien Aufhebung durch die Vertragsparteien (Gläubiger und Gesellschaft) und lässt er vielleicht sogar eine dem Rangrücktritt zuwiderlaufende Zahlung an den Gläubiger ohne Aufhebung der Rangrücktrittsabrede zu? (Rz. 7.23)

– 8. Frage: Welche Folgen hat eine vor der Zeit erfolgte Zahlung auf die zurückgetretene Verbindlichkeit? (Rz. 7.24 f.)

7.17

aa) Die erste Frage nach der rechtlichen Einordnung der Rangrücktrittsvereinbarung ist umstritten. Sicher ist, dass es um einen Vertrag und nicht nur um eine einseitige Erklärung des Gläubigers handelt6. Doch kann der Vertrag nach § 151 BGB durch schlichte Billigung einer Rangrücktrittserklärung des Gläubigers seitens der Geschäftsführung zustande kommen. Das Meinungsbild über die Rechtsnatur des Vertrags reicht von einem bloßen pactum de non petendo7 bis hin zu einem die Forderung „dinglich“ ändernden Schuldabänderungsvertrag als Verfügungsgeschäft8, während eine Einordnung als auflösend bedingter Erlassver1 Karsten Schmidt in FS Frotscher, 2013, S. 535 ff.; Karsten Schmidt, DB 2015, 600 ff. 2 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim; eingehend dazu Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901 ff. 3 BFH v. 19.8.2020 – XI R 32/18, GmbHR 2021, 211 = ZIP 2020, 2566. 4 Karsten Schmidt, DB 2015, 600 ff. 5 Ausführlich Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901 ff. 6 Hirte in Uhlenbruck, § 39 InsO Rz. 54. 7 Vgl. Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 35; zusammenfassend Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 907, 909 m.w.N.; s. auch Hirte in Uhlenbruck, § 39 InsO Rz. 53; Martinek/Omlor, WM 2008, 617, 620. 8 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim, mit Angaben zur h.M. in Rz. 2.32; so statt vieler auch Altmeppen, § 42 GmbHG

294 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.19 § 7

trag1 nicht mehr vertreten wird. Der Bundesgerichtshof2 und mit ihm die h.M.3 lehnt die Einordnung als bloßes pactum de non petendo ab, weil diese Rechtskonstruktion dem nötigen und auch von den Parteien intendierten Gläubigerschutz nicht gerecht werde. Für die Praxis ist die rechtsdogmatische Einordnung des Vertrags weniger wichtig als das daraus sprechende Verständnis der eintretenden Wirkungen. Beides steht aber in engem Zusammenhang, und dieser legt die Annahme eines pactum de non petendo nahe (vgl. Rz. 7.21). bb) Der Inhalt der Rangrücktrittsvereinbarung (Frage Nr. 2, Rz. 7.16) ist ganz dem Parteiwillen überlassen, aber er ist, wie das Grundlagenurteil des Bundesgerichtshofs vom 5.3.20154 zeigt, durch gesetzliche Mindestanforderungen an einen insolvenzvermeidenden Rangrücktritt geprägt5. Dieser sich aus zwingendem Recht ergebende Hintergrund ist für die Auslegung einer Rangrücktrittsabrede von höchster Bedeutung, weil ein für die mit ihm verbundenen Ziele nicht erreichender Rangrücktritt, wenn auch nicht unwirksam, so doch wertlos ist. Dies ändert aber nichts am Primat der Vertragsfreiheit. Das gilt z.B. auch für die Frage nach Zinslauf und Zinsleistungen unter dem Rangrücktritt. Der Zinslauf wird, weil die Verbindlichkeit als solche vom Rangrücktritt unberührt bleibt, vorbehaltlich anderer Vereinbarung weder unterbrochen noch aufgeschoben. Die sich hieraus ergebenden Zinsforderungen sind aber im Zweifel vom Rangrücktritt mit erfasst6. Es empfiehlt sich allerdings, dies – wie im Fall des BGH-Urteils vom 5.3.20157 – ausdrücklich klarzustellen, denn zwingend ist auch diese durchaus sinnvolle Rechtsfolge in Anbetracht der Vertragspraxis nicht.

7.18

cc) Die dritte Frage (Rz. 7.16), gerichtet auf die Notwendigkeit des Rangrücktritts für die Nicht-Passivierung der Verbindlichkeit im Überschuldungsstatus, ist leicht zu beantworten (vgl. Rz. 14.154). Sie war ehedem für (kapitalersetzende) Gesellschafterdarlehen, die nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO schon vor dem MoMiG kraft Gesetzes als Insolvenzforderungen nachrangig waren, umstritten8. Noch unter dem damals geltenden Recht hatte aber das Urteil BGHZ 146, 264 = ZIP 2001, 235 vom 8.1.2001 treffend entschieden9, dass für die Eliminierung der Verbindlichkeit aus dem Insolvenzstatus auf den Rangrücktritt nicht verzichtet, die Verbindlichkeit also nicht einfach unter Hinweis auf den gesetzlichen Nachrang auf der Passivseite weggelassen werden kann10. Das gilt nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ausdrücklich auch nach dem In-

7.19

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Rz. 48; Knobbe-Keuk, ZIP 1983, 127, 129; Peters, WM 1988, 685, 689; Habersack, ZGR 2000, 384, 403; Wittig, NZI 2001, 169, 170; Hoos/Köhler, GmbHR 2015, 729, 731. So noch Priester, DB 1977, 2429, 2432 ff. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim. Zusammenfassend Hoos/Köhler, GmbHR 2015, 729, 731. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim. Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 903 ff. Vgl. m.w.N. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 17, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638, 639 f. m. Anm. Bitter/Heim, insbes. S. 647. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 17, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638, 639 f. m. Anm. Bitter/Heim, insbes. S. 647; insofern war hier, anders als vom BGH dargestellt, nichts auszulegen; vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 905. Gegen die Notwendigkeit eines Rangrücktritts OLG München v. 8.7.1994 – 3 Ws 87/94, NJW 1994, 3112 = GmbHR 1995, 458; Fleischer, Finanzplankredite, S. 335 ff.; Lutter, ZIP 1999, 641, 645. Dazu auch Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 18 III 2, S. 528. BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264 = ZIP 2001, 235 = GmbHR 2001, 190 m. Anm. Felleisen.

Karsten Schmidt | 295

§ 7 Rz. 7.19 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

krafttreten des MoMiG1. Ob dasselbe für Drittgläubiger gilt, die nicht Gesellschafter sind, war vor dem Urteil vom 5.3.2015 Gegenstand einer überflüssigen Diskussion2. Die Frage ist ohne gesetzliche Klarstellung eindeutig zu bejahen. Ein Gegenschluss aus § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ist von vornherein nicht möglich, weil sich diese Bestimmung nur mit Verbindlichkeiten befasst, die kraft Gesetzes nachrangig sind und deshalb die Frage aufwerfen, ob sie auch unter den Passiva im Überschuldungsstatus nichts zu suchen haben. Diese vor dem MoMiG den Gerichten überlassene Frage ist in der Vorschrift geklärt. Für Drittforderungen ist selbstverständlich, dass sie, soweit nicht erlassen, nur durch Rangrücktritt aus dem Überschuldungsstatus eliminiert werden können3. Es bedarf hierfür keiner analogen Anwendung des § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO4. Der Rangrücktritt ist und bleibt unentbehrlich.

7.20

dd) Die auf die gebotene Rangtiefe zielende vierte Frage (Rz. 7.16) ist de lege lata gleichfalls leicht zu beantworten. Der BGH hatte vor dem MoMiG – zu weitgehend5 – einen „qualifizierten“ Rangrücktritt in den Rang statutarischen Eigenkapitals verlangt6. Heute lässt § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO den in § 39 Abs. 2 InsO beschriebenen Nachrang nach den gesetzlich nachrangigen Insolvenzverbindlichkeiten genügen, um die Passivierung der Verbindlichkeit im Überschuldungsstatus zu vermeiden. Das ist eine entschiedene Entlastung der Vertrags- und Sanierungspraxis, denn ausweislich der in § 39 Abs. 2 InsO enthaltenen Auslegungsregel ist eine Präzisierung im Vertrag nicht einmal mehr erforderlich (vgl. über den unspezifizierten Rangrücktritt schon Rz. 7.15). Eine vertragliche Gleichstellung mit den Verbindlichkeiten nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, was durchaus plausibel wäre, genügt nach dem klaren Gesetzeswortlaut dagegen nicht.

7.21

ee) Gleichfalls leicht zu beantworten ist die fünfte Frage (Rz. 7.16) nach den vorinsolvenzlichen Wirkungen des Rangrücktritts. Sie war verwunderlicherweise vor dem BGH-Urteil vom 5.3.20157 umstritten8. Aber die Notwendigkeit einer vorinsolvenzlichen Wirkung ergibt sich vernünftigerweise von selbst, wenn die Passivseite des Überschuldungsstatus entlastet werden soll9. Eine auf den Rang der Forderung im Insolvenzverfahren beschränkte Rangrücktrittsvereinbarung bewirkt als solche zunächst nicht mehr, als dass die von ihr betroffene Forderung im Insolvenzfall ohne besondere Aufforderung nicht als Insolvenzforderung angemeldet (§ 174 Abs. 3 InsO) und im Rang sogar noch nach den Forderungen nach § 39 Abs. 1 InsO berücksichtigt wird (§ 39 Abs. 2 InsO). Aber ein Rangrücktritt, der nicht schon vor der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wirkt, kann eine überschuldungsfreie Fortführung des Unternehmens nicht gewährleisten, die Fortführung ohne Insolvenzantrag also nicht legalisieren. Ob diese praktisch unerlässliche Vereinbarung einen vom Rangrücktritt zu unterschei1 Der Regierungsentwurf des MoMiG hatte dies noch für überflüssig gehalten, indessen zu Unrecht; vgl. Karsten Schmidt, BB 2008, 461 gegen BR-Drucks. 354/07, S. 536, 544. 2 Meinungsbild bei Bitter in Scholz, 11. Aufl. 2015, vor § 64 GmbHG Rz. 69; Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1012 ff. 3 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 903. 4 A.M., jedoch im praktischen Ergebnis nicht anders als der Text, Bitter/Heim, ZIP 2015, 644, 645 m.w.N. 5 Zusammenfassend Karsten Schmidt, DB 2015, 600, 601 f. 6 BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 246 = ZIP 2001, 235 = GmbHR 2001, 190 m. Anm. Felleisen. 7 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim. 8 Verneinend z.B. Adolff in FS Hellwig, 2010, S. 433, 441; Kahlert/Gehrke, DStR 2010, 227, 229. 9 Vgl. Bitter in Scholz, 11. Aufl. 2015, vor § 64 GmbHG Rz. 65 f.; Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 39 InsO Rz. 22; Haas, DStR 2009, 326, 327.

296 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.23 § 7

denden separaten Vertrag bildet1, ist eine eher akademische Frage2. Jedenfalls ist die Vorwirkung des Rangrücktritts, wenn die Passivierung im Überschuldungsstatus vermieden werden soll, unerlässlich und deshalb konkludent miterklärt. Der Rangrücktritt begründet eine Durchsetzungssperre3, berechtigt also den Geschäftsführer, die Zahlung auf die im Rang zurückgetretene Schuld zu verweigern. Dazu passt die Einordnung der Vereinbarung als pactum de non petendo (zur Frage, ob auch ein Zahlungsverbot daraus folgt, vgl. Rz. 7.23, 14.147). ff) Die sechste Frage (Rz. 7.16), nämlich die nach der Dauer der Durchsetzungssperre, sollte im Rangrücktrittsvertrag möglichst genau geklärt werden. Fehlt es daran, so ergibt die Auslegung des Vertrags, dass die Durchsetzungssperre jedenfalls so lange anhält, wie dies zur Abwehr der Insolvenzantragspflicht erforderlich ist. Die Forderung wird, falls dies nicht genauer geregelt ist, erst wieder durchsetzbar, wenn die Gesellschaft weder bilanziell überschuldet ist noch durch die Zahlung in Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit geriete. Dies ist die Mindestwirkung, ohne die keine überschuldungsvermeidende Wirkung möglich ist (Rz. 7.21). Im Fall des BGH-Urteils vom 5.3.2015 hatten die Parteien die Sperrwirkung sogar andauern lassen, solange durch die Zahlung eine Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit „zu entstehen droht“. Zu einer solchen Erweiterung durch klarstellende Besserungsklausel ist entschieden zu raten. Sie erlaubt es der Geschäftsführung, sich bei andauernder Krise schützend vor die Gesellschaft und deren Gläubiger zu stellen.

7.22

gg) Abzulehnen ist dagegen – dies zur siebenten Frage (Rz. 7.16) – das vom BGH in dem Urteil vom 5.3.2015 aus dem Rangrücktritt abgeleitete Zahlungsverbot4. Der BGH leitet dies teils aus dem Verfügungscharakter des Rangrücktrittsvertrags her, teils folgert er dessen zwingende Wirkung zugunsten Dritter (§ 328 BGB), nämlich aller gegenwärtigen und künftigen Gesellschaftsgläubiger5. Gegen diese Annahme bestehen rechtsdogmatische Einwände, vor allem aber Einwände aus dem Grundverständnis des Rangrücktritts (Rz. 7.14, 14.147, 14.154). Mit diesem will das Management sich selbst vor dem Vorwurf der Insolvenzverschleppung und das Unternehmen vor einem vermeidbaren Insolvenzantrag schützen, aber nicht den Gläubigern unentziehbare Rechte einräumen6. Die Rangrücktrittsvereinbarung setzt die Geschäftsführung instand, sich gegenüber der Forderung schützend vor die Gesellschaft und ihre Gläubiger zu stellen, zwingt aber weder sie noch die Gesellschaft dazu. Dem Gläubigerschutz dient die Insolvenzantragspflicht gemäß § 15a InsO (Rz. 38.1 ff.). Geschäftsführer, die von dem sich aus dem Rangrücktritt ergebenden Leistungsverweigerungsrecht keinen Gebrauch machen und die Überschuldungsabwendung durchqueren, können diesen gesetzlichen (!) Schutz zu spüren bekommen7. Sie machen sich auch nach § 43 GmbHG schadensersatzpflichtig, wenn sie diese Abwehrmöglichkeit gegen den Willen der Gesellschafter missachten. Ein dem § 30 GmbHG entsprechendes Zahlungsverbot ergibt sich dagegen nicht aus der bloß zweiseitigen Rangrücktrittsvereinbarung zwischen der Gesellschaft und ihrem Gläubiger. Das gilt für Gesellschaftergläubiger ebenso wie für Drittgläubiger. Eine vom bloßen Rangrücktritt

7.23

1 So Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1013 ff.; Bitter, ZIP 2015, 345, 346. 2 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 904. 3 So mit unterschiedlichen Begründungen Bitter in Scholz, 11. Aufl. 2015, vor § 64 GmbHG Rz. 65; Bitter, ZIP 2015, 345, 346; Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 904. 4 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 907 ff.; wie der BGH aber Bitter/Heim, ZIP 2015, 644 ff.; Hoos/ Köhler, GmbHR 2015, 729, 731 f. (unter bloßer Wiederholung der Entscheidungsgründe). 5 Vgl. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 26 ff., BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638, 641 f. m. Anm. Bitter/Heim. 6 Eingehend Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 908 ff. 7 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 907 ff.

Karsten Schmidt | 297

§ 7 Rz. 7.23 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

zu unterscheidende Frage ist, ob durch Konsortialvereinbarungen unter den Gesellschaftern eine dem früheren Eigenkapitalersatzrecht und damit dem § 30 GmbHG entsprechende Finanzplanbindung von Mezzaninkapital herbeigeführt werden kann (vgl. Rz. 6.59 ff.).

7.24

hh) Auch die Rechtsfolgen einer vorzeitigen Zahlung (dies ist die achte Frage, Rz. 7.16) sind andere als vom BGH angenommen. Der BGH lässt den Empfänger einer vor dem Eintritt des Besserungsfalls geleisteten Zahlung – aus § 812 BGB als Empfänger einer nicht geschuldeten Leistung und – aus § 134 InsO aus Schenkungsanfechtung haften.

7.25

Diese harte Konsequenz einer „Verletzung“ des Rangrücktritts hat Zustimmung gefunden1, aber schwerlich mit Recht. Für beide Ansprüche fehlen die Grundlagen2. Die angebliche Rechtsgrundlosigkeit der Zahlung dient dem BGH im Wesentlichen zur Begründung einer anfechtungsrechtlichen Unentgeltlichkeit der Leistung. Die Annahme, es handle sich um die Zahlung auf eine Nichtschuld, widerspricht der durchaus richtigen Einschätzung, dass der Rangrücktritt die Gesellschaftsschuld als solche unberührt lässt, und lässt sich auch mit dem angeblichen Zahlungsverbot (Rz. 7.23) nicht begründen. Wer auf eine im Rang zurückgetretene Schuld zahlt, zahlt im Sinne von § 813 Abs. 2 BGB auf eine betagte Verbindlichkeit und deshalb nicht ohne Rechtsgrund. Die Behandlung des Vorgangs als unentgeltlich i.S. von § 134 InsO ist demgegenüber nicht a limine zurückzuweisen, doch bleibt die Annahme, dass eine in beiderseitiger Kenntnis des Sachverhalts vorgenommene inkongruente Deckung (§ 131 InsO) ohne Weiteres anfechtungsrechtlichen Schenkungscharakter erhält und nach § 134 InsO anfechtbar ist, schwer begründbar3. Den Vorzug verdient – auch im Vergleich mit dem gesetzlichen Rangrücktritt bei Gesellschafterdarlehen – eine analoge Anwendung des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO4. Die Frage hat praktische Bedeutung gerade auch für Gesellschafterdarlehen. Die vorzeitige Rückführung eines nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO durch Rangrücktritt zurückgetretenen (Gesellschafter-)Darlehens bzw. die Zahlung entsprechender Zinsen kann nach der BGH-Lösung noch angefochten werden, wenn vor Ablauf von vier Jahren das Insolvenzverfahren über das Gesellschaftsvermögen beantragt wird, während bei Anwendung des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO die Anfechtung binnen Jahresfrist verfristet. Man mag diese Frist rechtspolitisch als zu kurz ansehen5, aber sie ist geltendes Recht. Und wer zur Überschuldungsabwendung im Rang zurücktritt, hat nicht ohne Weiteres eine schlechtere Behandlung verdient als ein kraft Gesetzes nachrangiger Gesellschaftergläubiger, denn diese Gleichstellung ist – wenn man von dem nur akademisch relevanten Rangunterschied zwischen § 39 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 InsO absieht – Inhalt und Botschaft des Rangrücktritts.

5. Konsequenzen für Vertragsgestaltung und Liquiditätsmanagement 7.26

a) Im Wettbewerb der Gläubigerhilfen (Rz. 7.1 ff.) gebührt in den meisten Fällen dem bloßen Rangrücktritt der Vorzug. Weitergehende Vereinbarungen (Stundung und Erlass) können ihren Wert für sich haben, wollen aber genau überdacht sein. 1 Vgl. nur Bitter/Heim, ZIP 2015, 644, 645 f.; Bork, EWiR 2015, 219, 220; Farian, GmbHR 2015, 478, 479 f.; Hoos/Köhler, GmbHR 2015, 729, 734. 2 Vgl. neuerlich Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 907 ff. 3 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 910. 4 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 910 f. 5 Bitter in Scholz, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 GmbHG Rz. 130; Bitter/Heim, ZIP 2015, 644, 648.

298 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.41 § 7

b) Bei der Formulierung von Rangrücktrittsvereinbarungen sind Detailregelungen über die Tiefe des Rangrücktritts möglich, wollen aber wohl bedacht sein (auch hierzu Rz. 7.15). Sinnvoll ist dagegen die Klarstellung,

7.27

– dass Zinsen vom Rangrücktritt mit erfasst sind, – dass der Rangrücktritt mit einer Durchsetzungssperre einhergeht, – dass der Rangrücktritt im Besserungsfall erst endet, wenn Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit eindeutig und nachhaltig ausgeschlossen sind. c) Von Vertragsempfehlungen zu unterscheiden sind Handlungsempfehlungen. Für das Liquiditätsmanagement ist unbedingt dazu zu raten, den Rangrücktritt wie ein Zahlungsverbot zu behandeln, solange die Gefahr von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung nicht überwunden ist. Dies empfiehlt sich

7.28

– im Hinblick darauf, dass nach der Rechtsprechung ein Zahlungsverbot sogar objektiv und zwingend vorliegt (Kritik dazu in Rz. 7.23), – auch unabhängig von der Überzeugungskraft des Urteils im Hinblick auf eine drohende Haftung der Gesellschaftsorgane (§ 43, § 15b InsO). Strategisch kann hierbei das problematische Urteil vom 5.3.20151 sogar nützlich sein. Wer als Geschäftsführer von dem im Rang zurückgetretenen Gläubiger gedrängt wird, trotz fortbestehender Krise Teilzahlungen oder Zinszahlungen zu leisten, kann solche Forderungen nicht nur unter Berufung auf die Vereinbarung und auf eigene Geschäftsführerpflichten, sondern auch unter Berufung auf ein beide Teile treffendes vom BGH aus dem Rangrücktritt abgeleitetes Zahlungsverbot zurückweisen. An den gegen das Urteil bestehenden Bedenken ändert dieser eigentlich nur taktische Vorteil nichts. Einstweilen frei.

7.29

7.30–7.40

II. Debt Equity Swap im Besonderen 1. Der Tatbestand a) Der Debt Equity Swap – auch: Debt to Equity Swap – besteht in der Verwendung von Forderungen gegen die Gesellschaft als Sacheinlagen zur Deckung erhöhten Stammkapitals2. Der Debt Equity Swap ist eine das Aktivvermögen unberührt lassende atypische Sachkapitalerhöhung. Bilanziell handelt es sich nicht um die Zuführung neuer Aktiva, sondern um einen Umtausch (Swap) von Verbindlichkeiten (Debts) in gezeichnetes Kapital (Equity). Diese Verringerung der Verbindlichkeiten wird dem Zufluss von Aktiven kapitalaufbringungsrechtlich gleichgestellt, und zwar juristisch ebenso wie wirtschaftlich3. Schuldrechtlich wird die Erbringung der Sacheinlage vollzogen durch Abtretung der Forderung an die Gesellschaft (Erlö1 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim. 2 Vgl. zusammenfassend Krumbholz in Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, Kap. 5 Rz. 5/29 ff.; Schlitt/Ries in Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, 4. Aufl. 2020, Kap. 9 Rz. 7 ff. 3 Lieder in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 56 GmbHG Rz. 7; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13.

Karsten Schmidt | 299

7.41

§ 7 Rz. 7.41 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

schen der Forderungen durch Konfusion), durch Forderungserlass oder durch Verrechnung mit dem Einlageanspruch der Gesellschaft1. In jedem Fall handelt es sich um eine Sacheinlage, die auch als eine solche im Kapitalerhöhungsbeschluss ausgewiesen sein muss. Die Einhaltung der Sacheinlagevorschriften ist essentiell. Werden sie nicht eingehalten, so kann es sich im Verrechnungsfall um eine unzulässige Aufrechnung (§ 19 Abs. 2 Satz 2 GmbHG), sonst je nach Lage des Falls um eine verdeckte Sacheinlage (§ 19 Abs. 4 GmbHG und dazu Rz. 6.20 ff.) oder um ein Hin- und Herzahlen handeln (§ 19 Abs. 5 GmbHG und dazu Rz. 6.20 ff.)2.

7.42

b) Der Debt Equity Swap geht nicht selten mit der Strategie des sog. Distressed Debt Purchase einher3: Ein finanzkräftiger Investor (Gesellschafter oder Nichtgesellschafter) erwirbt einen wesentlichen Teil der gegen die Gesellschaft gerichteten, vielleicht von den Gläubigern schon weitgehend abgeschriebenen Forderungen und bietet der Gesellschaft einen Umtausch der Forderungen in Beteiligungen an. Basis dieses Umtauschs ist auch dann eine Sachkapitalerhöhung mit Zulassung des Investors zur Übernahme neuer Geschäftsanteile durch Einbringung des hinreichend genau beschriebenen Forderungspakets. Die Bedeutung dieser in den Vorauflagen beschriebenen Praxis4 hat offenbar abgenommen.

7.43

c) Der Debt Equity Swap geht typischerweise mit einer nominellen Kapitalherabsetzung einher5. Die Bilanzbereinigung trifft in der Regel nicht nur die den Umtausch vornehmenden Gläubiger (Beteiligung unter dem Nominalwert ihrer Forderungen), sondern auch die Altgesellschafter. Handelt es sich um die Umwandlung von Gesellschafterforderungen, so kann auch das Konzept „Sanieren oder Ausscheiden“ (dazu Rz. 6.7) zum Zuge kommen, wenn nicht alle Gesellschafter zur Übernahme neuer Geschäftsanteile bereit sind.

7.44

d) Dem Debt Equity Swap lediglich verwandt ist der sog. Debt Mezzanine Swap6. Hier werden Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht in Eigenkapital umgewandelt, sondern lediglich in Quasi-Eigenkapital: in Genussrechte, atypische stille Einlagen etc. Eine Kapitalerhöhung ist hierfür nicht erforderlich, wie auch schon der erste Schritt in Richtung auf Mezzaninekapital – der Rangrücktritt des Gläubigers – zeigt (vgl. zum Rangrücktritt Rz. 7.14 ff.).

7.45

e) Kein Debt Equity Swap ist die Abtretung der Forderung gegen einen Dritten als Sacheinlage. Hier gelten die allgemeinen Sacheinlageregeln. Durch die Abtretung wird der Gesellschaft aktivierbares und verwertbares Umlaufvermögen zugeführt. In anderer Richtung vom Debt Equity Swap zu unterscheiden ist der sog. Debt Asset Swap, bei dem der Gläubiger gegen Forderungsverzicht Gegenstände des Anlage- oder Umlaufvermögens erhält7. Regelmäßig 1 BGH v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, BGHZ 110, 47, 60 = NJW 1990, 982, 985 = AG 1990, 298 = ZIP 1990, 156; BGH v. 4.3.1996 – II ZB 8/95, BGHZ 132, 155 = GmbHR 1996 = ZIP 1996, 668; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 14. 2 Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 15. 3 Dazu etwa Kestler/Striegel/Jesch, Distressed Debt Investments, 2006; Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561, 562; Redeker, BB 2007, 673, 676; Brinkmann, WM 2017, 1033; zur Übernahme der Gesellschaft im Insolvenzplanverfahren nach einem Distressed Debt Purchase vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2012, 2085. 4 Vgl. 4. Aufl., Rz. 2.225; Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561, 562; Redeker, BB 2007, 673, 676. 5 Vgl. Undritz in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 29 Rz. 105 ff.; J. Vetter in Münchener Kommentar zum GmbHG, vor § 58 GmbHG Rz. 86 ff.; Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566, 571. 6 Vgl. dazu Schlitt/Ries in Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, 4. Aufl. 2020, Kap. 9 Rz. 17 ff., 56 ff.; s. auch bezogen auf Genussrechte Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 228. 7 Dazu Schlitt/Ries in Theiselmann, Praxishandbuch des Restrukturierungsrechts, 4. Aufl. 2020, Kap. 9 Rz. 13, 52 ff.

300 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.47 § 7

ist dies eine Verwertungsmaßnahme, die als eine die Gesamtgläubigerschaft beeinträchtigende Maßnahme Anfechtungsrisiken nach §§ 129 ff. InsO ausgesetzt ist. Wird das lebende Unternehmen erworben, so kann es sich allerdings um eine übertragende Sanierung handeln, die jedoch ihrerseits keine Sanierung der Gesellschaft darstellt (dazu Rz. 6.221).

2. Rechtliche Grundlagen a) Der Debt Equity Swap ist durch das seit März 2012 geltende Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vor allem ein Thema der Sanierung im Insolvenzplanverfahren geworden (Rz. 31.31 ff.). Nach wie vor zulässig ist aber auch der Debt Equity Swap als Technik der Sanierung außerhalb eines Insolvenzplans. Er basiert auf folgenden Elementen:

7.46

– Kapitalerhöhungsbeschluss in notarieller Form mit Festlegung des Sacheinlagegegenstands (§§ 55, 56 GmbHG), ggf. auch mit Bezugsrechtsausschluss (vgl. Rz. 6.241) und Zulassung des (der) Inferenten zur Übernahme (§ 55 Abs. 2 GmbHG), – Übernahmeerklärung(en) des (der) Sacheinleger(s) in notarieller oder notariell beglaubigter Form mit Festsetzung des Sacheinlagegegenstands (§§ 55 Abs. 1, 56 Abs. 1 Satz 2 GmbHG), – Einbringungsvertrag (Forderungsabtretung bzw. Erlass), – Registeranmeldung mit den durch § 57 GmbHG geforderten Versicherungen und Unterlagen, – Sachkapitalerhöhungsbericht analog § 5 Abs. 4 Satz 2 GmbHG (str.)1, – Eintragung in das Handelsregister. b) Rechtliche Grundlage des Debt Equity Swap ist die Anerkennung aller werthaltigen Gegenstände – unter Einschluss von Forderungen eines Gesellschafters und vor allem von Forderungen gegen die Gesellschaft – als taugliche Sacheinlagen2. Auch nachrangige Forderungen – z.B. solche aus Gesellschafterdarlehen und Forderungen mit Rangrücktritt (vgl. § 39 InsO) – können als Sacheinlagen dienen3. Hier lag nach der vor dem MoMiG (also bis 2008) bestehenden Rechtslage wegen des Eigenkapitalersatzrechts ein großes Problem, und zwar sowohl bei der Umwandlung von Gesellschafterdarlehen in haftendes Kapital als auch in Fällen des sog. Distressed Debt Purchase (zu diesem vgl. Rz. 7.42). Nach der BGH-Praxis waren eigenkapitalersetzende Gesellschafterforderungen als Sacheinlagen ungeeignet, weil sie in sinngemäßer Anwendung des § 30 GmbHG während der Krise nicht durch Rückzahlung beglichen4, also auch nicht für eine Sachkapitalerhöhung verwendet werden konnten5. Das be1 Meinungsstand bei Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 38 f. 2 BGH v. 13.10.1954 – II ZR 182/53, BGHZ 15, 52 = NJW 1954, 1842; BGH v. 26.3.1984 – II ZR 14/ 84, BGHZ 90, 374 = GmbHR 1984, 313 = ZIP 1984, 698; BGH v. 15.1.1990 – II ZR 164/88, BGHZ 110, 47, 60 = NJW 1990, 982 = AG 1990, 298 = ZIP 1990, 156; BGH v. 18.2.1991 – II ZR 104/90, BGHZ 113, 335, 341 = GmbHR 1991, 255; OLG Brandenburg v. 1.7.1998 – 7 U 17/98, GmbHR 1998, 1033 = ZIP 1998, 1838; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 56 GmbHG Rz. 3; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13. 3 Vgl. nur Altmeppen, § 56 GmbHG Rz. 7; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 56 GmbHG Rz. 7; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13; a.M. Hölzle in Kübler, HRI, § 31 Rz. 61. 4 Grundlegend BGH v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 272 f. = GmbHR 1960, 43. 5 BGH v. 26.3.1984 – II ZR 14/84, BGHZ 90, 370, 376 = GmbHR 1984, 313 = ZIP 1984, 698; BGH v. 8.7.1985 – II ZR 269/84, BGHZ 95, 188, 191 = GmbHR 1986, 21 zur GmbH & Co. KG; OLG Schleswig v. 14.12.2000 – 5 U 182/98, NZG 2001, 566, 567 = ZIP 1985, 1198.

Karsten Schmidt | 301

7.47

§ 7 Rz. 7.47 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

deutete: Ein Gesellschafter, der bereits mit mehr als 10 % am Stammkapital beteiligt war oder Geschäftsführungsbefugnisse hatte (vgl. § 39 Abs. 5 InsO: Kleinbeteiligungsprivileg), konnte die Kredite nicht für die Kapitalerhöhung verwenden1. Durch das Sanierungsprivileg (§ 39 Abs. 4 Satz 2 InsO) bevorzugt war ein Gläubiger, der erst im Zuge der Sanierung Gesellschafter wurde, denn das Privileg befreite auch von der analogen Anwendung des § 30 GmbHG2. Wer als Drittinvestor durch Debt Equity Swap einstieg, war in dieser Hinsicht im Vorteil3.

7.48

c) Seit dem MoMiG von 2008 hat sich diese Einschränkung erledigt (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG)4. Das Recht der Gesellschafterdarlehen ist kein Hindernis mehr für den Debt Equity Swap. Sie sind von der Umwandlung in haftendes Kapital ebenso wenig ausgeschlossen wie andere nach § 39 Abs. 1 InsO nachrangige Forderungen.

7.49

Zweifelhaft ist dies bei Forderungen mit vereinbartem Rangrücktritt (vgl. § 39 Abs. 2, § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO), namentlich im Fall einer Unterbilanz. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Grundlagenurteil vom 5.3.20155 entschieden, dass eine mit Rangrücktrittsvereinbarung belegte Forderung gegen die Gesellschafter im Stadium der materiellen Insolvenz einem zwar nur auf Vereinbarung beruhenden, jedoch gleichwohl zwingenden Rückzahlungsverbot unterliegt (dazu auch Rz. 7.23 ff.). Daraus müsste gefolgert werden, dass eine im Rang zurückgetretene Forderung von einem Debt Equity Swap von vornherein ausgeschlossen ist, sobald und solange eine Überschuldung vorliegt. Die Überschuldung könnte durch eine solche Umwandlung nicht behoben werden. Doch sollte die Gesellschaftsrechtspraxis, da die Grundannahme des IX. Zivilsenats schwerwiegenden Bedenken ausgesetzt ist (Rz. 7.23)6, dem nicht folgen. Auch die im Rang durch Vereinbarung zurückgetretene Forderung kann jederzeit aus dem Rangrücktritt freigegeben, also auch wirksam beglichen werden und ist demnach nicht a limine untauglich für die Umwandlung in gezeichnetes Kapital. Anderes kann nur für Mezzaninkapital gelten, das – z.B. als atypisch stille Einlage in einer „GmbH & Still“7 oder Quasi-Einlage in einer „Innen-KG“8 – bereits wie gezeichnetes Kapital einer virtuellen Kommanditgesellschaft, also nicht als Gesellschaftsverbindlichkeit behandelt wird9. Diese Forderungen unterliegen, den Kommanditeinlagen in einer GmbH & Co. KG ähnlich (dazu Rz. 2.42), auch nach dem MoMiG der Kapitalbindung nach § 30 GmbHG10 und taugen insoweit nicht als Sacheinlagen. Für einfache Verbindlichkeiten der GmbH, auch aus Gesellschafterdarlehen und auch im Fall eines vereinbarten Rangrücktritts, gilt diese Besonderheit nicht. Sie sind allesamt tauglich für die Umwandlung in haftendes Kapital, was zu 1 BGH v. 26.3.1984 – II ZR 269/84, BGHZ 95, 188, 191 = GmbHR 1986, 21 zur KG; OLG Schleswig v. 14.12.2000 – 5 U 182/98, NZG 2001, 567, 568; Redeker, BB 2007, 673, 676. 2 BGH v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, BGHZ 165, 106 = GmbHR 2006, 311 = ZIP 2006, 279. 3 Eingehend Himmelsbach/Achsnick, NZI 2006, 561 ff.; Redeker, BB 2007, 673, 676 f.; Redeker, BB 2007, 673, 677. 4 Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13; a.M. Hölzle in Kübler, HRI, § 31 Rz. 61. 5 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim; dazu Bork, EWiR 2015, 219; Kahlert, DStR 2015, 734; Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901 ff. 6 Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 905 ff. 7 Vgl. zu dieser Levedag in Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft, 9. Aufl. 2020, Rz. 21.76 ff.; Schulze zur Wiesche, Die GmbH & Still, 7. Aufl. 2019, Rz. 8 ff. 8 Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2014, 1457 ff. 9 Dazu etwa Fleischer, Finanzplankredite und Eigenkapitalersatz im Gesellschaftsrecht, 1995, S. 208 ff.; Bitter in Scholz, Anh. § 64 GmbHG Rz. 37 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 1999, 1241, 1249 f. 10 BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, GmbHR 2006, 531, 532 = ZIP 2006, 703, 705; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 230 HGB Rz. 172; Karsten Schmidt, ZHR 177 (2014), 10, 47.

302 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.53 § 7

einer kapitalmäßigen Bindung führt. Gegen ihre Verwendung für einen Debt Equity Swap kann allerdings neben der geschilderten Rechtsunsicherheit die Vollwertigkeitsfrage sprechen (Rz. 7.51 ff.). d) Erheblich ist schließlich der Einfluss des ESUG auf das Recht des Debt Equity Swap. Nach § 225a Abs. 2 Satz 1 InsO kann seit 2012 im gestaltenden Teil des Insolvenzplans vorgesehen werden, dass Forderungen in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte an der Schuldnergesellschaft umgewandelt werden, und nach § 254 Abs. 4 InsO können dann aus einer Überbewertung von Forderungen keine Ansprüche geltend gemacht werden (dazu Rz. 7.56). Klarheit muss darüber bestehen, dass diese Gesetzesänderungen ohne direkten Einfluss auf das Recht des Debt to Equity Swap außerhalb eines Insolvenzverfahrens sind, wohl aber Bedeutung für die strategische Wahl zwischen der freien Sanierung und dem Insolvenzplanverfahren haben (dazu sogleich Rz. 7.57).

7.50

3. Die Vollwertigkeitsfrage a) Für den Debt Equity Swap als Variante der Sachkapitalerhöhung gelten die allgemeinen Regeln. Das gilt insbesondere für das Gebot der Vollwertigkeit des Sacheinlagegegenstands. Dieses Gebot gilt entgegen einer von namhaften Autoren vertretenen Auffassung1 auch für den Debt Equity Swap, der m.a.W. keine Einbringung jeder Forderung zum Nennwert gestattet2. Das Kapitalgesellschaftsrecht erlaubt nicht die Ausgabe neuer Geschäftsanteile im Tausch gegen eine ihren Wert nicht deckende Sacheinlage. Die erforderliche Vollwertigkeit bezieht sich nicht auf den Nominalwert der Forderung, sondern auf die Höhe der gegen die Forderung eingetauschten Geschäftsanteile (vgl. § 8 Abs. 1 Nr. 5, § 56 Abs. 1 Satz 1 GmbHG): Der Einbringungswert, nicht der Forderungsnennwert, muss gedeckt sein.

7.51

b) Im Registerverfahren findet eine Werthaltigkeitsprüfung statt, die nach §§ 57a, 9c Abs. 1 Satz 2 GmbHG zur Ablehnung der Eintragung führen kann. Aus diesem Grund scheint, obgleich im Gesetz nicht geregelt, analog § 5 Abs. 4 Satz 2 GmbHG ein Sachkapitalerhöhungsbericht geboten (str.)3. Hierauf sollte sich die Praxis einrichten.

7.52

c) Eine unentdeckt gebliebene Überbewertung der Forderung macht die eingetragene Kapitalerhöhung nicht unwirksam. Aber die Differenzhaftung nach §§ 9, 56 GmbHG im Fall der Überbewertung der eingelegten Forderung findet Anwendung (anders nur im Insolvenzplanverfahren nach § 254 Abs. 4 InsO)4. Sie kann nach Maßgabe des bei Rz. 6.11 Ausgeführten über § 24 GmbHG auch die Mitgesellschafter als Ausfallschuldner treffen.

7.53

1 Cahn/Simon/Theiselmann, DB 2010, 1629; Maier-Reimer in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2011, 2012, S. 107, 122 ff.; Welf Müller in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 835, 843 ff. 2 Vgl. nur Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 56 GmbHG Rz. 9; Arnold in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 29 ff.; Ekkenga, DB 2012, 331 ff.; Kleindiek in FS Hommelhoff, 2012, S. 543, 551 ff.; Koppensteiner in FS Torggler, 2013, S. 636 ff.; Priester, BB 1987, 208, 209. 3 Vgl. die Angaben bei Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 38; anders die wohl h.M.; vgl. Gummert in Henssler/Strohn, § 56 GmbHG Rz. 5; Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 56 GmbHG Rz. 30. 4 Vgl. nur Patrick Schulz, Der Debt Equity Swap in der Insolvenz, 2015, S. 64 f., 88; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 15; J. Vetter in Münchener Kommentar zum GmbHG, vor § 58 GmbHG Rz. 88.

Karsten Schmidt | 303

§ 7 Rz. 7.54 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

4. Bewertungen und strategische Optionen 7.54

a) Jedes Debt-Equity-Swap-Szenario – nicht nur in Fällen des Distressed Debt Purchase – ist zugleich Ursache und Resultat schwieriger Bewertungsaufgaben (vgl. schon Rz. 6.31). Um ein gerechtes Gleichgewicht zwischen den Altanteilen und den Neuanteilen ohne Verwässerungs- und Trittbrettfahrereffekte zu erzielen, bedarf es einer – Bewertung des Unternehmens und damit der vorhandenen Anteile und einer – Bewertung der einzubringenden Forderungen, zusätzlich belastet durch die Frage, ob diese Bewertung going concern oder zu Liquidationswerten stattfinden soll. Einem natürlichen Interesse der Gesellschafter, das Unternehmen selbst noch bei Sanierungsbedarf hoch zu bewerten, steht ein ebenso natürliches Interesse der Inferenten gegenüber, den Wert des auf den Debt Equity Swap angewiesenen Unternehmens gering anzusetzen, die Werthaltigkeit ihrer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderungen jedoch möglichst nah am Nennwert zu belassen. Hier kann sich das Angewiesensein der Gesellschaft auf die Bilanzbereinigung auf der einen und das Differenzhaftungsrisiko der Gläubiger auf der anderen Seite als ein strategisch ausgleichender Faktor erweisen, der auf einen wirtschaftlich beiderseits akzeptablen und damit objektiv belastbaren Kompromiss hinwirkt.

7.55

b) Unabhängig von den Stakeholderstrategien leidet die Bewertung unter dem krassen Gegensatz der relevanten Bewertungsprämissen, denn das Ergebnis ist offen: Erfolg oder Scheitern? Und je nachdem, welches dieser Ergebnisse sich am Ende verwirklicht, tritt die eine wie die andere Prognose ex post überdeutlich hervor1: – Ist die Sanierung erfolgreich, fällt der Blick auf mögliche Fehlbewertungen im nunmehr veränderten Gesellschafterkreis. Selbst unter der Prämisse eines Sanierungserfolgs ist ja – wenn man nicht die Anteile der Altgesellschafter auf null herunterbewertet2 – das Wertverhältnis zwischen ihren Anteilen und den durch Forderungsverrechnung von den Gläubigern geleisteten Einlagen nur in Grenzen berechenbar. – Im Fall eines Scheiterns der Sanierung steht eine persönliche Haftung der vormaligen Gläubiger als Sacheinleger im Raum, weil ihre Forderungen als Sacheinlagen regelmäßig unter der Annahme eines Sanierungserfolgs kalkuliert, aus der rückschauenden Sicht also potentiell überbewertet worden sind. – In beiden Fällen ist die ex post maßgebliche ex-ante-Prognose, also der im Zeitpunkt der Verrechnung „richtige“ Forderungswert, nur unter Schwierigkeiten feststellbar, die Feststellung deshalb durch Rückschaufehler belastet.

7.56

c) Die durch das ESUG geschaffene Sondersituation im Insolvenzplan (Rz. 31.31) besteht im Wesentlichen – erstens in der Bildung neuer Allianzen für die Beschlussfassung (§ 244 InsO), – zweitens im Wirkungsmechanismus des Obstruktionsverbots (§ 245 InsO) und – drittens im Wegfall des gesellschaftsrechtlichen Überbewertungsrisikos der durch Debt Equity Swap beitretenden Gläubiger (§ 254 Abs. 4 InsO). 1 Zum Folgenden vgl. Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566, 574. 2 Dafür z.B. Eidenmüller/Engert, ZIP 2009, 541, 544 f.; Bitter, ZGR 2010, 147, 186 ff.; Eidenmüller, ZIP 2010, 649, 657; Verse, ZGR 2010, 299, 319; dagegen aber Madaus, ZGR 2011, 749, 756.

304 | Karsten Schmidt

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.59 § 7

Es liegt hiernach auf der Hand, dass die Anreize sowohl bezüglich des Ob als auch des Wie eines Debt Equity Swaps in der freien Sanierung und im Insolvenzplanverfahren durchaus unterschiedlich sind, denn – erstens tritt an die Stelle der qualifizierten Gesellschaftermehrheit (§ 54 Abs. 2 GmbHG) die in § 244 InsO bestimmte Mehrheit in den beteiligten Stakeholdergruppen, – zweitens hilft im Obstruktionsfall der implizit in das Verfahren der Planbestätigung eingehende Cram-Down-Effekt des § 245 InsO, der tendenziell zu Lasten opponierender Anteilseigner wirkt, – drittens ist das bei Rz. 7.54 geschilderte Gleichgewicht der Interessen durch § 254 Abs. 4 InsO zum Vorteil der Gläubiger gestört. Sie können ihr Interesse an einer hohen Bewertung der einzubringenden Forderungen, soweit diese gegenüber den Abstimmungsgruppen und im gerichtlichen Planbestätigungsverfahren durchsetzbar ist, verfolgen, ohne durch Haftungsrisiken eingeschüchtert oder gemäßigt zu werden. d) Die mit dem ESUG begonnene Praxis wird offenbaren, inwieweit sich unter diesen vollständig veränderten Spielregeln der sanierende Debt Equity Swap außerhalb des Insolvenzverfahrens weiter behauptet. Möglicherweise wird sein Hauptanwendungsbereich in der Umwandlung von Gesellschafterdarlehen in haftendes Kapital bestehen, während eine Einbeziehung dritter Investoren eher auf das Insolvenzplanverfahren verweist, das ihre Risiken kalkulierbar macht.

7.57

5. Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG a) Bei der GmbH & Co. KG geht es um einen Debt Equity Swap in der Kommanditgesellschaft1, vollzogen durch2

7.58

– Herabsetzung der Festkapitalkonten der Altgesellschafter (nicht zwingend geboten, aber regelmäßig für die Neuverteilung der Kapitalanteile erforderlich), – Schaffung neuer bzw. Aufstockung vorhandener Kapitalanteile (Festkapitalkonten) und – Zulassung von Gesellschaftsgläubigern zur Zeichnung junger Kapitalanteile und Leistung von Sacheinlagen durch Forderungseinbringung. b) Ob hierfür eine einverständliche Änderung des Gesellschaftsvertrags erforderlich ist oder ob ein Mehrheitsbeschluss ausreicht, richtet sich nach dem Gesellschaftsvertrag und ist ggf. durch Auslegung einer etwa vorhandenen Mehrheitsklausel zu ermitteln3. Das vom BGH für die OHG auf der Grundlage der Treupflicht entwickelte Konzept „Sanieren oder Ausscheiden“ (Rz. 6.7)4 kann auch hier zur Anwendung kommen (Rz. 6.8). 1 Dazu Priester/Tebben in Scholz, § 58 GmbHG Rz. 95 ff.; ausf. Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566 ff. 2 Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566, 573. 3 Vgl. dazu BGH v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, BGHZ 203, 77 = GmbHR 2014, 1303 m. Anm. Ulrich = EWIR 2015, 71 (Priester); dazu etwa Wertenbruch, DB 2014, 2875; Ulmer, ZIP 2015, 657; Schäfer, NZG 2014, 1401. 4 BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, BGHZ 183, 1 = GmbHR 2010, 32 = NJW 2010, 65 = ZIP 2009, 2289; bestätigend BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, ZIP 2015, 1626; dazu Stephan Schneider, Gesellschafter-Stimmpflichten bei Sanierungen, 2014, S. 282 ff.; Schäfer in Münchener Kommentar zum BGB, § 707 BGB Rz. 11; Grunewald in FS Roth, 2011, S. 187 ff.; Haas, NJW 2010, 984; Karsten Schmidt, JZ 2010, 125 ff.; Schöne, ZIP 2015, 501 (krit.).

Karsten Schmidt | 305

7.59

§ 7 Rz. 7.60 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

7.60

c) Die Bewertungsschwierigkeiten und Bewertungsstrategien bezüglich des Unternehmenserwerbs und des Werts eingebrachter Forderungen entsprechen denjenigen bei der Sanierung einer GmbH (dazu Rz. 7.55). Ein Unterschied liegt in dem Haftungsrisiko der Gläubiger als Sacheinleger. Eine Differenzhaftung bei Einbringung überbewerteter Forderungen als Sacheinleger gibt es auch für den Kommanditisten1. Da aber das Kommanditgesellschaftsrecht nur ein Haftungsrisiko, nicht dagegen eine Kapitaldeckungspflicht kennt (§ 171 Abs. 1 HGB) und die Haftsumme nicht mit dem Kapitalanteil übereinstimmen muss2, besteht eine einfache Abwehr des Haftungsrisikos darin, dass bei der Festlegung der Haftsumme für einen als Kommanditisten beitretenden Gläubiger eine pessimistische Bewertung der einzubringenden Forderungen zugrunde gelegt wird. Denn bei der Kommanditgesellschaft muss die Sacheinlage nur die eingetragene Haftsumme decken. Die Deckung des eingetauschten Kapitalanteils ist nur eine Frage des Innenverhältnisses. Wird gleichzeitig nach Art eines Kapitalschnitts mit den Kapitalanteilen der Altkommanditisten auch deren Haftsumme herabgesetzt, so wirkt diese Haftungsbeschränkung vorbehaltlich der Enthaftungsregel des § 160 HGB nur gegenüber Neugläubigern3.

7.61–7.70

Einstweilen frei.

III. Die Rolle der Kreditinstitute 7.71

Bei nahezu jeder Sanierung sind die Kreditinstitute Gläubiger, deren Beiträge für das Gelingen des Sanierungskonzepts wesentlich sind. Wie bei jedem anderen Gläubiger kann der Sanierungsbeitrag der Kreditinstitute in der Stundung von Zins- und Tilgungsraten (dazu Rz. 24.4 ff.), dem Verzicht auf Forderungen – ggf. mit Vereinbarung eines Besserungsscheins – (dazu Rz. 24.21 ff.), der Vereinbarung eines Rangrücktritts (dazu Rz. 24.25 ff.) oder der Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital (Debt Equity Swap) (s. ausführlich Rz. 6.27 ff., 24.59 ff., 31.31 ff.) bestehen. Weitere typische Sanierungsbeiträge von Kreditinstituten sind daneben das „Stillhalten“ (dazu nachstehend bei Rz. 24.92 ff.), die Gewährung zusätzlicher Kredite (dazu nachstehend bei Rz. 24.106 ff.) sowie das Poolen von Kreditsicherheiten (dazu nachstehend bei Rz. 7.102 ff.).

1. Stillhalten a) Fallgestaltungen des Stillhaltens 7.72

Wenn von „Stillhalten“ die Rede ist, ist es immer ratsam zu hinterfragen, was genau damit gemeint ist. Unter den Begriff des Stillhaltens werden nämlich sehr unterschiedliche Dinge gefasst: aa) Verzicht auf die Ausübung eines Kündigungsrechts

7.73

Häufig wird mit Stillhalten gemeint sein, dass ein Kreditinstitut ausdrücklich oder stillschweigend darauf verzichtet, ein bestehendes gesetzliches oder vertraglich vereinbartes Recht zur 1 BGH v. 25.6.1973 – II ZR 133/70, BGHZ 61, 59, 62 = NJW 1973, 1691; dazu Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566, 575 f. 2 KG v. 15.12.2008 – 23 U 132/08, WM 2009, 2177; Roth in Hopt, § 171 HGB Rz. 1; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, §§ 171/172 HGB Rz. 23. 3 Vgl. Priester/Tebben in Scholz, § 58 GmbHG Rz. 97.

306 | Karsten Schmidt und Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.77 § 7

ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung der von ihm gewährten Kredite mit noch nicht beendeter Laufzeit zu verzichten1. Dies kann insbesondere auch die Aufrechterhaltung einer unbefristet zugesagten Betriebsmittelkreditlinie2 oder einer befristeten Betriebsmittelkreditlinie, deren Laufzeit aber noch nicht beendet ist, bedeuten. Die Nichtausübung eines Kündigungsrechts ist auch ohne Weiteres zulässig, da das Kreditinstitut auch in der Krise des Kreditnehmers nicht zu einer Kündigung verpflichtet ist. Vielmehr ist das Kreditinstitut auf Grund des bestehenden Vertrages umgekehrt dazu verpflichtet, den Kreditnehmer weiterhin in voller Höhe über den zugesagten Kreditbetrag verfügen zu lassen3. Etwas anderes kann nur gelten, wenn vertraglich bestimmte Inanspruchnahmevoraussetzungen vereinbart sind, die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr sämtlich erfüllt sind. Dann hat das Kreditinstitut das Recht, weitere Inanspruchnahmen der Kreditlinie zu verweigern; man spricht dann auch von einem „Einfrieren“ oder „Sistieren“ der Linie. Beruft sich das Kreditinstitut nicht darauf, dass die vereinbarten Inanspruchnahmevoraussetzungen nicht mehr vollständig erfüllt sind, ist das nicht als Gewährung eines neuen Kredits, sondern wie der Verzicht auf die Ausübung eines Kündigungsrechts zu werten4.

7.74

bb) Nicht ernsthaftes Einfordern einer fälligen Forderung

Als Stillhalten wird auch verstanden, wenn ein Gläubiger eine zur Rückzahlung fällige Forderung nicht ernsthaft bei dem Schuldner einfordert. Dies hilft der GmbH insofern, als solche Forderungen bei der Prüfung, ob eine Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 17 InsO vorliegt, nicht zu berücksichtigen sind5. Besteht die Geschäftsführung der GmbH aber im Hinblick auf ihre Insolvenzantragspflichten auf einer ausdrücklichen Erklärung des Gläubigers, wird diese Erklärung in der Regel als eine Stundung der Forderungen zu verstehen sein (hierzu nachstehend Rz. 7.80).

7.75

cc) Prolongation von Krediten Hinter dem Begriff der Prolongation eines Kredits verbergen sich vor allem zwei Fallgestaltungen: Zum einen die erneute Ziehung eines Roll-over-Kredits, zum anderen die Verlängerung der Laufzeit eines befristeten Kredits.

7.76

Bei einem Roll-over-Kredit6 kann der Kreditnehmer nach Ablauf der vertraglich vereinbarten Zinsperiode den Kredit zurückführen oder bei Vorliegen der Ziehungsvoraussetzungen eine erneute Ziehung in gleicher Währung zur Refinanzierung der ausstehenden Ziehung tätigen. Bei der erneuten Ziehung handelt es sich nicht um einen neuen Kredit, für den die Voraussetzungen eines Sanierungskredits gelten7. Vielmehr bleibt auch bei der Prolongation eines Rollover-Kredits der Kreditvertrag mit der vereinbarten Laufzeit und mit dem vereinbarten Rückzahlungstermin unverändert bestehen; es wird bei der Prolongation am Roll-over-Termin le-

7.77

1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.200 f. 2 Zu Betriebsmittelkrediten vgl. Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.36 ff. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.202. 4 Stohrer, CRP 2014, 234; Hess in Hess, Sanierungshandbuch, 6. Aufl. 2013, Kap. 11 Rz. 89; Rusch, GWR 2011, 151, 153. 5 Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 17 InsO Rz. 7a. 6 Zum Roll-over-Kredit vgl. Kropf in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 6.54. 7 Stohrer, CRP 2014, 234; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.205.

Kuder/Unverdorben | 307

§ 7 Rz. 7.77 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

diglich die Bestimmung der neuen Zinsperiode zu dem dann gültigen vertraglich vereinbarten Zinssatz vorgenommen1. Häufig wird in einem entsprechenden Kreditvertrag vereinbart sein, dass an jedem Roll-over-Termin bestimmte Ziehungsvoraussetzungen vorliegen müssen. Sind diese wegen der Krise der GmbH an einem Roll-over-Termin nicht mehr gegeben, hat das Kreditinstitut das Recht, eine erneute Ziehung des Kredits zu verweigern. Verzichtet das Kreditinstitut hingegen darauf, dass sämtliche Ziehungsvoraussetzungen erfüllt sind (sog. „waiver“), gilt dasselbe wie bei dem Verzicht auf die Ausübung des Kündigungsrechts: Auch wenn nicht mehr sämtliche vertraglich vereinbarten Ziehungsvoraussetzungen erfüllt sind, darf das Kreditinstitut weitere Ziehungen des Roll-over-Kredits zulassen, ohne dass es sich damit um einen neuen Kredit handelt. Ob es sich bei der Verlängerung eines befristeten Kreditvertrages vor Ablauf des vertraglich vereinbarten Laufzeitendes noch um ein Stillhalten oder bereits um die Gewährung eines Neukredits handelt, ist hingegen strittig und höchstrichterlich nicht entschieden2. Die Prolongation führt in dieser Fallgestaltung zu einer echten Erweiterung des Kapitalnutzungsrechts. Für eine Einordnung als Neukredit spricht das Argument, dass es keinen Unterschied machen könne, ob das Kreditinstitut die Verlängerung ablehne und einen unzweifelhaft dem Rechtsprechungsregime für Sanierungskredite unterfallenden neuen Kredit schließe oder den auslaufenden Kredit verlängere3. Bei einem bereits vollständig oder zu beträchtlichen Teilen ausgezahlten Kredit erlangt der Kreditnehmer allerdings kein neues Kapitalnutzungsrecht. Es wird nur das ihm bereits eingeräumte Kapitalnutzungsrecht zeitlich in einer Situation verlängert, in der das Kreditinstitut wegen der Krise des Kreditnehmers eine Rückzahlung des Kapitals am ursprünglich vereinbarten Fälligkeitstermin nicht erwarten konnte4. Aus diesem Grund handelt es sich auch bei der Verlängerung der Laufzeit eines befristeten Kreditvertrages vor dem Ablauf der ursprünglich vereinbarten Kreditlaufzeit um keinen Sanierungskredit, sondern um das Stehenlassen eines bereits vor der Krise gewährten Kredits5.

b) Ausnahmen 7.78

Zum Stillhalten berechtigt ist das Kreditinstitut in jedem Fall dann, wenn es dritte Gläubiger nicht zu einer Kreditgewährung an die GmbH veranlasst und auf die Entscheidungen der GmbH und ihrer Geschäftsführung keine erhebliche Einflussnahme ausübt6. Lässt sich das Kreditinstitut für einen nicht oder nicht ausreichend gesicherten Kredit als „Gegenleistung“ noch (neue) Sicherheiten bestellen, so sind diese möglicherweise in einem nachfolgenden Insolvenzverfahren anfechtbar. Unter bestimmten Voraussetzungen handelt das Kreditinstitut hierbei sogar sittenwidrig (hierzu ausführlich Rz. 4.153 ff.).

c) Stillhaltevereinbarung 7.79

In der Grundkonstellation ist das Stillhalten ein tatsächliches Verhalten des Gläubigers, das sich auch jederzeit ändern kann. Im Hinblick auf die Insolvenzantragspflichten wird die Ge1 BGH v. 22.3.1979 – III ZR 22/78, WM 1979, 455; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.204. 2 Zur Rechtsprechung Urlaub/Kamps, ZIP 2014, 1465, 1467. 3 Einen Sanierungskredit bejahen Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 13; Bitter/Alles, WM 2013, 537, 540. 4 Stohrer, CRP 2014, 234; OLG Stuttgart v. 26.9.2012 – 9 U 65/12, ZInsO 2012, 2051; OLG Köln v. 3.4.2009 – 6 U 80/08, BeckRS 2010, 03013. 5 So auch Huber, NZI 2015, 489, 493 f. 6 Zu den Grenzen der Einflussnahme auf Dritte und der Eingriffe in die Geschäftsführung der GmbH s. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.212 ff.

308 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.84 § 7

schäftsführung der GmbH in der Krise aber in der Regel Wert darauf legen, dass sich der Gläubiger gegenüber der GmbH verbindlich zum Stillhalten verpflichtet; hierbei handelt es sich dann um eine Stillhaltevereinbarung. Aber auch der Gläubiger wird sein Stillhalten seinerseits häufig davon abhängig machen wollen, dass auch die anderen wesentlichen Gläubiger der GmbH stillhalten. Dies kann dadurch geschehen, dass der Gläubiger entweder seine Stillhalteerklärung unter der aufschiebenden Bedingung erklärt, dass auch bestimmte weitere Gläubiger ihrerseits entsprechende Erklärungen abgegeben haben, oder dass eine Vereinbarung zwischen allen wesentlichen Gläubigern und der GmbH geschlossen wird, in der sich die Gläubiger gegenseitig und gegenüber der GmbH zum Stillhalten verpflichten1. Für Kreditinstitute, deren Forderungen durch Dritte besichert sind, kann es in bestimmten Konstellationen erforderlich sein, auch von diesen Dritten die Zustimmung zum Stillhalten einzuholen2.

2. Stundung Ein wirksamer Beitrag zur Überwindung einer (drohenden) Zahlungsunfähigkeit der GmbH ist die Stundung von Zins- und/oder Tilgungsraten durch die kreditgebenden Kreditinstitute (zum Begriff und zu den Wirkungen der Forderungsstundung s. ausführlich Rz. 7.4 ff.). Für die Kreditinstitute stellt die Stundung einen Sanierungsbeitrag dar, der ihnen ein nur geringes wirtschaftliches Opfer abverlangt und insbesondere auch nicht den Ertrag des Kreditinstituts belastet, sofern sich der Verzicht auf Wertberichtigungen für die gestundeten Forderungen rechtfertigen lässt.

7.80

Da die Stundung ausschließlich liquiditätsmäßige Wirkung hat, ist sie als Sanierungsbeitrag für eine überschuldete GmbH aber weitgehend ungeeignet.

7.81

Sinnvoll kann es sein, für die Zeit der Stundung zusätzlich einen Verzicht auf Zinszahlungen zu vereinbaren. Wird die Stundung mit einem Verzicht auf die während der Dauer der Stundung fällig werdenden Zinsen verbunden, handelt es sich insoweit um einen echten Forderungserlass.

7.82

Festzustellen ist, dass kein Gläubiger gezwungen ist, einem Krisenunternehmen Forderungen oder Zinsen zu stunden. Auch Kreditinstitute sind aus den bereits (Rz. 7.3) genannten Gründen selbst dann nicht verpflichtet, Tilgungs- oder Zinsstundungen zu gewähren, wenn ein langjähriges Kreditverhältnis zu dem insolventen Unternehmen bestand und die zu überbrückende Zahlungsunfähigkeit möglicherweise nur vorübergehend ist3.

7.83

Problematisch kann die Stundung für ein Kreditinstitut sein, wenn für die gestundeten Kreditforderungen Drittsicherheiten gestellt sind, beispielsweise Bürgschaften, Pfandrechte oder Grundschulden Dritter. Da bei einer Stundung die Forderung bestehen bleibt, haften die für diese Forderung gestellten Sicherheiten trotz Stundung weiter. Zwar hat der BGH entschieden4, dass der prolongierte Kredit nicht mehr durch eine für den ursprünglichen Kredit übernommene Bürgschaft abgesichert ist, sofern es sich bei der Prolongationsvereinbarung um einen neuen, selbständigen Vertrag handelt. Der Bürge oder ein anderer Sicherungsgeber wird dadurch aber nicht aus seiner Haftung vollkommen frei, sondern die Haftung besteht für den ursprünglich besicherten Kredit in Höhe der Forderungen des Kreditinstituts zum Zeitpunkt

7.84

1 2 3 4

Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.229 ff. Vgl. hierzu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.230. OLG Karlsruhe v. 3.8.1990 – 10 U 168/89, WM 1990, 1332. BGH v. 15.7.1999 – IX ZR 243/98, WM 1999, 1761 = GmbHR 1999, 975 m. Anm. Bärwaldt.

Kuder/Unverdorben | 309

§ 7 Rz. 7.84 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

der Prolongation fort1. Nur für Forderungen, die den Kreditbetrag erst nach dem ursprünglich vereinbarten Schlusstag des Kredites erhöhen, also vor allem für die danach entstehenden Zinsen, aber auch für nachträgliche Ausnutzungen freier Linien, haftet der Bürge nicht2. Wird ein Kontokorrentkredit in einen Tilgungskredit „bankintern umgeschuldet“, was zur Ausnutzung günstigerer Zinsen gerade bei der Stundung häufig geschieht, ist darin regelmäßig keine Schuldumschaffung, sondern nur die Änderung des bestehenden Vertragsverhältnisses zu sehen, selbst wenn der umgeschuldete Kredit unter einer anderen Kontonummer verbucht wird, so dass die Bürgenhaftung in dem Umfang bestehen bleibt, wie sie begründet war3.

7.85

Wird aber ein Kontokorrentkredit „gestundet“, indem er in gleicher Höhe als Kreditlinie verlängert wird, bleibt das Risiko, dass jeder Zahlungseingang nach Prolongation die Bürgenhaftung ermäßigt, ohne dass erneute Verfügungen des Kreditnehmers dagegen gerechnet werden können. Auch dann, wenn ein Tilgungskredit oder ein endfälliger Kredit gestundet wird, haftet der Sicherungsgeber nicht mehr für die nach der Stundungsvereinbarung anfallenden Zinsen. Um bei einer Stundung die Drittsicherheiten für diese Ansprüche nicht zu verlieren, sollten Kreditinstitute daher möglichst darauf bestehen, dass Drittsicherheiten für den gestundeten Kredit neu bestellt bzw. darauf ausdrücklich erstreckt werden. Letzteres kann wohl nicht von vornherein formularmäßig vereinbart werden4. Eine solche Erneuerung der Drittsicherheiten kann aber unterbleiben, falls ein weiter Sicherungszweck, der alle Verbindlichkeiten des Kreditnehmers aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung erfasst, bereits bei der Bestellung der Drittsicherheiten wirksam vereinbart worden ist. Denn der Drittsicherungsgeber als Geschäftsführer und/oder Mehrheitsgesellschafter war in der Lage, eine Erweiterung der besicherten Verbindlichkeiten durch den Kreditnehmer zu verhindern5.

3. Gewährung zusätzlicher Kredite a) Konzept des Sanierungsbeitrags 7.86

Die existenzbedrohende Krise eines Unternehmens reduziert sich im Endstadium stets auf die Frage der Zahlungsfähigkeit. Kann diese nicht aufrechterhalten werden, so muss die Geschäftsführung nach den gesetzlichen Regelungen, wie im Folgenden dargestellt (s. Rz. 14.42), den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens stellen. Daraus ergibt sich, dass die Zuführung neuer Liquidität durch Gewährung zusätzlicher Kredite als Sanierungsbeitrag der Kreditinstitute in der Krise der GmbH oder eines anderen Unternehmens regelmäßig von zentraler Bedeutung 1 BGH v. 15.7.1999 – IX ZR 243/98, WM 1999, 1761 = GmbHR 1999, 975 m. Anm. Bärwaldt; BGH v. 30.9.1999 – IX ZR 287/98, WM 1999, 2251 = ZIP 1999, 1881. Zuvor aber missverständlich BGH v. 18.5.1995 – IX ZR 108/94, WM 1995, 1397 = ZIP 1995, 1244; BGH v. 7.11.1995 – XI ZR 235/ 94, WM 1995, 2180 = ZIP 1995, 1976. Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.46a. 2 Und erst recht haftet der Bürge nicht für nachträgliche Kreditaufstockungen, selbst wenn die Haftung für den ursprünglichen Kreditbetrag bestehen bleibt, LG München I v. 24.11.1998 – 29 O 7360/98, WM 1999, 1971. 3 BGH v. 30.9.1999 – IX ZR 287/98, WM 1999, 2251 = ZIP 1999, 1881. 4 BGH v. 15.7.1999 – IX ZR 243/98, WM 1999, 1761, 1762 = GmbHR 1999, 975 m. Anm. Bärwaldt verlangt vom Bürgen „eine entsprechend konkretisierte Ergänzung seiner Willenserklärung“. 5 So im Grunde auch BGH v. 15.7.1999 – IX ZR 243/98, WM 1999, 1761 = GmbHR 1999, 975 m. Anm. Bärwaldt; BGH v. 30.9.1999 – IX ZR 287/98, WM 1999, 2251. Zu den Ausnahmefällen, in denen für Drittsicherheiten ein weiter Sicherungszweck formularmäßig wirksam vereinbart werden kann: BGH v. 18.1.1996 – IX ZR 69/95, WM 1996, 436; BGH v. 18.5.1995 – IX ZR 108/94, WM 1995, 1397 = ZIP 1995, 1244; BGH v. 27.6.1995 – XI ZR 213/94, WM 1995, 1663 = ZIP 1995, 1404.

310 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.89 § 7

ist und damit die Kreditinstitute in zahlreichen Fällen über Sein oder Nichtsein eines Unternehmens entscheiden, indem sie ihre Kredite offen halten und ausweiten oder kündigen1. Die Bereitstellung zusätzlicher Kreditmittel kann in der technischen Abwicklung durch schlichte Duldung von Überziehungen, durch förmliche Zusage neuer Kreditlinien oder im Rahmen eines Sanierungskonzepts durch Konsortialkredite aller kreditgebenden Banken erfolgen. Mit diesem Sanierungsbeitrag kann in kürzester Zeit der erforderliche schnelle Erfolg erzielt, nämlich die Zahlungsfähigkeit des insolvenzbedrohten Kreditnehmers wieder hergestellt werden. Selbst eine Besicherung des neugewährten Sanierungskredites aus dem Vermögen des Kreditnehmers ist möglich, da die Bestellung solcher Sicherheiten als Bargeschäft nach § 142 InsO zu qualifizieren ist und allenfalls unter den Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO angefochten werden kann2 (s. dazu bei Rz. 4.108, 4.130 ff.).

7.87

Allerdings kann durch die Zufuhr neuer Liquidität mit der Gewährung neuer oder zusätzlicher Kredite lediglich die Zahlungsunfähigkeit vermieden oder beseitigt werden. Die Einräumung der neuen Kredite beseitigt nicht die drohende oder eingetretene Überschuldung, da dem durch die Zuführung der liquiden Mittel entstehenden Aktivposten auf der Passivseite der Bilanz bzw. des Überschuldungsstatus eine entsprechende Verbindlichkeit gegenübersteht. Darüber hinaus führt die Einräumung neuer Kredite auch langfristig nicht zu einer Überwindung der Krise, da mit dem Zinsaufwand für die zusätzlichen Kredite auch die Kosten des sanierungsbedürftigen Unternehmens für seine Fremdfinanzierung steigen. Darum wird in aller Regel die Zuführung neuer Liquidität durch Kreditvergabe nur Bestandteil eines umfassenderen Sanierungskonzeptes sein können.

7.88

b) Insolvenzverschleppung durch das Kreditinstitut? Kreditinstitute werden darüber hinaus auf die Einbettung der neuen Kreditvergabe in ein Gesamtkonzept zur Sanierung der krisenbedrohten GmbH bestehen, um sich nicht Schadensersatzansprüchen anderer Gläubiger aus § 826 BGB wegen sittenwidriger Insolvenzverschleppung auszusetzen. Denn bei der Gewährung neuer Kredite besteht grundsätzlich das Risiko, dass die Sanierung des Kreditnehmers misslingt. Dies kann zu einer Schädigung anderer Gläubiger führen, die auf Grund der Kreditgewährung und der damit verbundenen Liquiditätszufuhr die Lage des Kreditnehmers zu günstig beurteilt haben und deshalb ihre bestehenden Forderungen nicht rechtzeitig eingezogen oder gesichert haben bzw. noch neue Geschäfte eingegangen sind. Deshalb hat die Rechtsprechung Grundsätze entwickelt, die Kreditinstitute wegen Insolvenzverschleppung aus § 826 BGB in die Haftung nehmen, wenn sie den Betrieb des an sich insolvenzreifen Kreditnehmers mit der Gewährung neuer Kredite ohne Sanierungsaussichten noch eine Zeit lang aufrechterhalten, um sittenwidrige eigennützige Ziele zu verfolgen, z.B. um bereits früher gewährte Kredite noch zurückzuführen, Sicherheiten hereinzunehmen, Anfechtungsfristen zu überwinden oder Sicherheiten ungestört zu verwerten3. 1 Zum Sanierungskredit im Überblick auch Huber, ZInsO 2018, 1761; Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 1 ff.; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553; Schäffler, BB 2006, 56; Wittig, NZI 1998, 49. 2 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 151, 168; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.70. 3 Dazu Gehrlein, WM 2021, 1, 4 f.; Huber, ZInsO 2018, 1761 f.; Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 148 ff.; Groß, Sanierung durch Fortführungsgesellschaften, Rz. 235; Neuhof, NJW 1998, 3225, 3228 ff.; Wenzel, NZI 1999, 294 ff.; Ahnert, BKR 2002, 254, 256 ff.

Kuder/Unverdorben | 311

7.89

§ 7 Rz. 7.90 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

aa) Abgrenzung zwischen Sanierungskredit und Insolvenzverschleppung

7.90

Allerdings fällt dem Kreditinstitut nicht bei jeder Kreditgewährung in der Krise der Vorwurf sittenwidrigen Handelns zur Last, bloß weil die Möglichkeit des Misslingens der Sanierung und damit einer Schädigung der anderen Gläubiger besteht. Denn grundsätzlich kann ein Kreditinstitut seine eigenen Interessen wahrnehmen und darf davon ausgehen, dass andere Gläubiger sich selbst vergewissern, ob sie noch auf Kredit liefern wollen, ohne auf Sicherheiten zu bestehen1. Ebenso ist ein Kreditinstitut auch dann noch zur Vergabe neuer Kredite berechtigt, wenn ein Unternehmen sich in der Krise befindet oder sogar schon insolvenzreif ist2. Die Kreditgewährung in einer solchen Situation kann nur dann als sittenwidrige Schädigung anderer Gläubiger i.S. von § 826 BGB angesehen werden, die zu einer Schadensersatzpflicht führt, wenn absehbar ist, dass mit der Vergabe neuer Kredite der Zusammenbruch des Kreditnehmers nicht auf Dauer verhindert werden kann, sondern das Kreditinstitut die Insolvenz des krisenbedrohten Kreditnehmers nur hinausschieben will, um sich dadurch eigennützig die Gelegenheit zu verschaffen, die eigene Stellung gegenüber anderen Gläubigern zu verbessern3.

7.91

Demgegenüber handelt es sich bei der Vergabe neuer Kredite an sanierungsbedürftige Unternehmen dann um keine Insolvenzverschleppung, sondern um einen ernsthaften Sanierungsversuch, wenn der Zweck der Kreditvergabe die Sanierung des Unternehmens ist und die Kreditvergabe zur Sanierung objektiv geeignet und ausreichend ist. Denn der Vorwurf sittenwidrigen Verhaltens ist unbegründet, wenn Kreditgeber und Kreditnehmer auf Grund einer sachkundigen und sorgfältigen Prüfung der Lage des Schuldners und besonders der Geschäftsaussichten davon überzeugt sein durften, dass das Sanierungsvorhaben Erfolg haben und damit eine Schädigung dritter Gläubiger letztlich nicht eintreten wird4. Dabei ist nicht erforderlich, dass die Möglichkeit des Fehlschlagens der Sanierung von vornherein auszuschließen war. Vom Erfolg der Sanierung darf das Kreditinstitut vielmehr schon dann überzeugt sein, wenn keine ernsthaften Zweifel am Gelingen des Sanierungsversuches bestehen5. bb) Anforderungen an eine Sanierungsprüfung

7.92

Voraussetzung für einen ernsthaften Sanierungsversuch ist aber mindestens ein in sich schlüssiges Konzept, das von den erkannten und erkennbaren tatsächlichen Gegebenheiten ausgeht und das mindestens in den Anfängen schon in die Tat umgesetzt worden ist und beim Schuldner die ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg rechtfertigt6. Entscheidend für einen Kreditgeber ist, ob das Sanierungskonzept, auf dessen Grundlage er der GmbH ei1 Huber, ZInsO 2018, 1761, 1762. 2 BGH v. 3.3.1956 – IV ZR 334/55, WM 1956, 527; BGH v. 21.6.1961 – VIII ZR 139/60, WM 1961, 1106; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.30. 3 S. dazu die Ausgangsentscheidung BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228. Aus der Rechtsprechung auch BGH v. 24.5.1965 – VII ZR 46/63, WM 1965, 918; BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671, 673. Zusammenfassende Überblicke zur Rechtslage bei Huber, ZInsO 2018, 1761 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.30 ff. 4 BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228; BGH v. 24.5.1965 – VII ZR 46/63, WM 1965, 918; OLG Düsseldorf v. 30.6.1983 – 6 U 120/81, WM 1983, 873; Gehrlein, WM 2021, 1, 5 f. 5 BGH v. 10.11.1978 – V ZR 181/76, WM 1979, 253; BGH v. 9.7.1979 – II ZR 118/77, WM 1979, 878; OLG Düsseldorf v. 30.6.1983 – 6 U 120/81, WM 1983, 873. 6 BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12 ZInsO 2013, 179 Rz. 14 = ZIP 2013, 174; OLG Düsseldorf v. 25.4.2013 – I-12 U 45/12, ZInsO 2013, 1195; BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, WM 1998, 248 = ZIP 1998, 248. Übersicht bei Huber, ZInsO 2018, 1761, 1766 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.49 ff.; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553. Zu den Anforderungen der höchst-

312 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.93 § 7

nen Sanierungskredit zur Verfügung stellt, den folgenden Anforderungen der Rechtsprechung an den Inhalt von Sanierungskonzepten entspricht1: – Das Sanierungskonzept muss auf der Grundlage vorgeschriebener oder üblicher Buchhaltungsunterlagen erstellt werden, die zeitnah vorliegen. – Sowohl für die Frage der Erkennbarkeit der Ausgangslage als auch für die Prognose der Durchführbarkeit ist dabei auf die Beurteilung eines unvoreingenommenen – nicht notwendigerweise unbeteiligten – branchenkundigen Fachmanns (in der Regel eines Unternehmensberaters und/oder Wirtschaftsprüfers) abzustellen. – Das Konzept analysiert die wirtschaftliche Lage des Schuldners im Rahmen seiner Wirtschaftsbranche und die Krisenursachen. – Die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens sind zu erfassen2. – Das Konzept muss objektiv dazu geeignet sein, das Unternehmen zu sanieren und das Unternehmen muss sanierungsfähig sein3. Es enthält das Leitbild des sanierten Unternehmens, das auf der Grundlage produktbezogener, marktbezogener oder funktionaler Ertragspotenziale entwickelt wurde4. – Finanzierungsbeiträge Dritter dürfen auch dann in die für die Fortbestehensprognose erforderliche Liquiditätsrechnung einbezogen werden, wenn diese nicht rechtlich gesichert und einklagbar sind. Es kommt vielmehr darauf an, ob mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit den Beiträgen gerechnet werden und ob die Sanierung unter Berücksichtigung dieser Finanzierungsbeiträge auch gelingen kann. Zu leistende Finanzierungsbeiträge der Gesellschafter der GmbH müssen allerdings rechtlich verbindlich vereinbart sein5. Erforderlich ist also, dass ein objektiver Dritter bei der Prüfung nach seiner pflichtgemäßen Einschätzung auf Grund einer ex-ante-Betrachtung zu dem Ergebnis kommt, dass die Gesellschaft objektiv sanierungsfähig ist und die für ihre Sanierung konkret in Angriff genommenen Maßnahmen zusammen objektiv geeignet sind, die Gesellschaft in überschaubarer Zeit durchgreifend zu sanieren6. Für die Erstellung und Überprüfung eines solchen Sanierungskonzepts gibt es Standards und Handlungsempfehlungen, etwa des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW)7 oder des Instituts für die Standarisierung von Unternehmenssanierungen (ISU)8. Nach der Rechtsprechung

1 2 3 4 5 6 7

8

richterlichen Rechtsprechung an eine zuverlässige Fortführungsprognose Huber, NZI 2015, 447; Huber, NZI 2015, 489; Ganter, NZI 2014, 673; Weber, ZInsO 2011, 904. Huber, NZI 2015, 489; Ganter, NZI 2014, 673; Weber, ZInsO 2011, 904; Pohl, ZInsO 2011, 207. BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, WM 1998, 248 = ZIP 1998, 248. BGH v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, NJW 2006, 1283, 1284 = GmbHR 2006, 311 m. Anm. Bormann = ZIP 2006, 279. OLG Köln v. 24.9.2009 – 18 U 134/05, ZInsO 2010, 238 = GmbHR 2010, 251 m. Anm. Blöse. BGH v. 13.7.2021 – II ZR 84/20, NZI 2021, 872 Rz. 77 ff. So BGH v. 21.11.2005 – II ZR 277/03, WM 2006, 399 = GmbHR 2006, 311 m. Anm. Bormann = ZIP 2006, 279 zu den Voraussetzungen des früheren Sanierungsprivilegs aus § 32a Abs. 3 GmbHG für kapitalersetzende Darlehen. IDW S6 „Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten“, www.idw.de; zur Frage, ob der IDW S 6 über die Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung hinausgeht oder dahinter zurückbleibt vgl. Huber, NZI 2015, 489, 490; Ganter, NZI 2014, 673; Hagemann, NZI 2014, 210; Pohl, ZInsO 2011, 207. Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmenssanierungen, www.isu-institut.com.

Kuder/Unverdorben | 313

7.93

§ 7 Rz. 7.93 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

muss das Sanierungskonzept aber nicht den formalen Erfordernissen dieser Standards entsprechen1. Auch wenn diese Standards praktisch vollständig die Vorgaben der Rechtsprechung umsetzen, ist ihre Einhaltung für sich genommen auch nicht ausreichend, da es sich lediglich um Handlungsanweisungen für die betreffenden Berufsträger handelt und ihnen keine Rechtsqualität zukommt2. Vielmehr muss ein Sanierungskonzept in jedem Fall den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung entsprechen.

7.94

Aus Sicht des Kreditgebers dürfen im Zeitpunkt der Gewährung des Sanierungskredits keine ernsthaften Zweifel am Gelingen des Sanierungsversuchs bestehen. Hier ist es erforderlich, dass der Kreditgeber das Sanierungskonzept auf dessen Plausibilität positiv geprüft und diese Prüfung dokumentiert hat und dass der Sanierungsbeitrag des Kreditgebers den Vorgaben des Sanierungskonzepts nicht zuwider läuft3.

7.95

Diese Anforderungen gelten grundsätzlich für Sanierungsversuche bei allen Unternehmen. Denn auch bei der Gewährung eines Sanierungskredits an eine kleine GmbH können Gläubiger in für sie beträchtlichem Umfang geschädigt werden. Selbstverständlich sind aber das Ausmaß der Prüfung und die Ausführlichkeit des Sanierungskonzepts an die Größe und die Komplexität des Unternehmens anzupassen4.

c) Überbrückungskredit 7.96

Eine solche Prüfung des Sanierungskonzepts durch unvoreingenommene, branchenkundige Experten ist allerdings nicht nur wegen der damit verbundenen Kostenbelastung für das ohnehin liquiditätsschwache Krisenunternehmen in einem Sanierungsfall problematisch, sondern erfordert in aller Regel auch mehr Zeit als die drei Wochen, die gemäß § 15a Abs. 1 InsO nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bei der GmbH dafür zur Verfügung stehen5. Weil aber auch eine Ablehnung des dringend erforderlichen Sanierungskredites in einem solchen Fall angesichts des drohenden Zusammenbruchs des Unternehmens mit der Zerschlagung seiner Vermögenswerte und dem Verlust von Arbeitsplätzen nicht leichtfertig erfolgen darf, ist es nicht als sittenwidrige Insolvenzverschleppung anzusehen, wenn das Kreditinstitut bei einer bereits eingeleiteten Prüfung der Sanierungsaussichten zusätzliche Kredite in einem solchen Umfang gewährt, wie sie zur Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit der GmbH während des Zeitraums bis zum Abschluss der Prüfung erforderlich sind, selbst wenn das Kreditinstitut dabei – wie immer – auch eigennützige Motive, nämlich die Rettung seiner bereits gewährten Kredite, mitverfolgt6. Voraussetzung dafür, dass bei solchen Überbrückungskrediten der Vorsatz der Gläubigerschädigung verneint und subjektiv redliches Handeln bejaht werden kann, ist aber, dass die Beteiligten ernsthaft und mit aus ihrer Sicht tauglichen Mitteln die Sanierung anstreben7. 1 BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZInsO 2016, 1251 LS 5 und Rz. 19 = ZIP 2016, 1235; Huber, ZInsO 2018, 1761, 1766 f. 2 Huber, ZInsO 2018, 1761, 1767. 3 Huber, ZInsO 2018, 1761, 1676 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.62; Huber, NZI 2015, 489, 492. 4 BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, WM 1998, 248 m.w.N. = ZIP 1998, 248. 5 Dies hat der 24. Zivilsenat des Kammergerichts in seiner Entscheidung vom 4.11.2015 – 24 U 112/14, ZInsO 2016, 37, verkannt und in einem Leitsatz als Laufzeit für einen Überbrückungskredit „längstens drei Wochen“ bestimmt. 6 OLG Schleswig v. 2.10.1981 – 11 U 160/80, WM 1982, 25; Huber, ZInsO 2018, 1761, 1765 f.; Huber, NZI 2015, 447, 449; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.68 f. 7 BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, WM 1998, 248 = ZIP 1998, 248.

314 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.99 § 7

Der Überbrückungskredit darf nur befristet für den Zeitraum gewährt werden, der für die Erstellung des Sanierungsgutachtens im konkreten Fall benötigt wird. Dies sind in der Praxis in der Regel ein bis drei Monate, kann aber bei der umfangreichen Prüfung eines großen Unternehmens auch einen längeren Zeitraum umfassen1, Die Rechtsprechung des BGH gibt hier aber ausdrücklich keine starren Fristen für die Laufzeit eines Überbrückungskredits vor2. Eine sittenwidrige Laufzeit des Überbrückungskredits könne nur auf Grundlage einer umfassenden Gesamtwürdigung des Kreditvertrages und aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände beurteilt werden3. Damit ist es auch zulässig, die ursprüngliche Laufzeit des Überbrückungskredits zu verlängern, wenn sich im Laufe der Prüfung und der Erstellung des Sanierungskonzepts herausstellt, dass dafür mehr Zeit benötigt wird.

7.97

d) Insolvenzverschleppung durch Bankkredite Als Rechtsfolge der Insolvenzverschleppung4 durch Gewährung zusätzlicher Kredite drohen dem Kreditinstitut Schadensersatzansprüche dritter Gläubiger aus § 826 BGB. Dabei können die Altgläubiger, die schon vor der Gewährung des Kredites Forderungen gegen die zusammengebrochene GmbH besaßen, als Schaden nur den Unterschiedsbetrag geltend machen zwischen der Insolvenzquote, die sie bei früherer Verfahrenseröffnung ohne die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit erzielt hätten, und der tatsächlich gezahlten Quote. Neugläubiger, die erst nach Gewährung des Kredites im Vertrauen auf die Kreditwürdigkeit der tatsächlich nicht zu rettenden GmbH Forderungen durch ihre Leistungen erworben haben, können dagegen Ersatz ihres gesamten negativen Interesses – abzüglich der Insolvenzquote – verlangen5. Sie haben also einen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als ob sie wegen des ohne die Insolvenzverschleppung früher eröffneten Insolvenzverfahrens das betreffende Geschäft mit der GmbH nicht vorgenommen hätten. Auch der Insolvenzverwalter kann Schadensersatzansprüche geltend machen, jedoch nur insoweit, wie die Insolvenzmasse insgesamt verkürzt worden ist. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die durch den sittenwidrigen Neukredit gewonnene Zeit von dem Kreditinstitut dazu genutzt worden ist, zu Lasten der Insolvenzmasse früher gewährte Kredite zurückzuführen. Darüber hinaus kann der Insolvenzverwalter die für den Neukredit bestellten Sicherheiten zurückverlangen, da im Falle der Insolvenzverschleppung nicht nur der Kreditvertrag, sondern auch die dafür erfolgte Sicherheitenbestellung nach § 138 BGB wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist.

7.98

e) Kündigung des Sanierungskredits Wird ein Sanierungskredit einmal gewährt, ist seine Kündigung nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen möglich (s. dazu auch bei Rz. 4.221), als sie für die Kündigung sonstiger 1 Huber, ZInsO 2018, 1761, 1765. 2 BGH v. 7.3.2017 – XI ZR 571/15, NZI 2017, 507 = ZIP 2017, 809. 3 BGH v. 7.3.2017 – XI ZR 571/15, NZI 2017, 507 = ZIP 2017, 809. Der 24. Zivilsenat des Kammergerichts hatte zuvor in seiner Entscheidung vom 4.11.2015 – 24 U 112/14, ZInsO 2016, 37, als Laufzeit für einen Überbrückungskredit „längstens drei Wochen“ bestimmt, während der 14. Zivilsenat des Kammergerichts nur einen Monat nach dieser Entscheidung davon spricht, dass die Laufzeit eines Überbrückungskredits in der Regel zwischen einem und drei Monaten liegt: KG v. 15.12.2015 – 14 U 79/14, ZInsO 2016, 1437. 4 Im Überblick dazu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.72 ff.; Gehrlein, WM 2021, 1; Huber, NZI 2015, 447, 450 f.; Wenzel, NZI 1999, 294, 298 f.; Wittig, NZI 1998, 49, 51 f. jeweils mit Nachweisen der Rechtsprechung. 5 BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, WM 1998, 944 = GmbHR 1998, 594 = ZIP 1998, 776.

Kuder/Unverdorben | 315

7.99

§ 7 Rz. 7.99 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Kredite gelten (dazu bei Rz. 4.201 ff.)1. Grundsätzlich gilt, dass bei einem Sanierungskredit durch den von den Vertragspartnern vereinbarten Sanierungszweck die ordentliche Kündigung zumindest konkludent ausgeschlossen ist2.

7.100

Dagegen bleibt eine außerordentliche, fristlose Kündigung möglich, wenn in den Vermögensverhältnissen des Darlehensnehmers seit dem Zeitpunkt, in dem das Kreditinstitut seine Mitwirkung an der Sanierung zugesagt hat, eine wesentliche Verschlechterung eingetreten ist, die die Sanierung als nicht mehr aussichtsreich erscheinen lässt3. Einer Verschlechterung steht es gleich, wenn sich erst nach Gewährung des Sanierungskredits herausstellt, dass die Sanierungsaussichten bei Einräumung des Kredits falsch eingeschätzt wurden und die Voraussetzungen für eine Sanierung von Anfang objektiv nicht gegeben waren4. Ebenso ist das Kreditinstitut auch dann zur Kündigung eines Sanierungskredits berechtigt, wenn das sanierungsbedürftige Unternehmen von dem Sanierungsplan abweicht und deshalb die Sanierung zu scheitern droht5.

7.101

Einstweilen frei.

4. Poolen von Sicherheiten a) Konzept des Sanierungsbeitrags 7.102

In einem Sicherheitenpoolvertrag schließen sich Kreditinstitute (oder andere Gläubiger, zumeist Warenlieferanten) zusammen, um mit Einverständnis des Kreditnehmers Sicherheiten zu poolen, um also die Gesamtheit der einbezogenen Sicherheiten (Sicherheitenpool) quotal zur Sicherung aller einbezogenen Kreditforderungen zu nutzen, ohne dass es darauf ankommen soll, welche Sicherheit für welches Kreditinstitut bestellt ist6. Dabei können neben bereits bestellten auch bei Abschluss des Sicherheitenpoolvertrags neu bestellte oder künftige Sicherheiten in den Poolvertrag einbezogen sein, und der Sicherheitenpoolvertrag kann außer bereits vereinbarten auch zusätzliche, neu zu gewährende Kredite besichern.

7.103

Sicherheitenpoolverträge zwischen und mit Kreditinstituten werden meist in einer der beiden folgenden Situationen abgeschlossen: – Hat ein Unternehmen einen außergewöhnlich großen Kreditbedarf, etwa für Investitionszwecke, so werden üblicherweise solche Kredite syndiziert beziehungsweise als Konsortialkredit zur Verfügung gestellt, d.h. in Teilbeträgen von mehreren Kreditinstituten ge1 Dazu auch Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 64 ff.; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553. 2 BGH v. 6.7.2004 – XI ZR 254/02, WM 2004, 1676 = ZIP 2004, 1589; BGH v. 14.9.2004 – XI ZR 184/03, WM 2004, 220 = ZIP 2004, 2131. Im Detail dazu Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 78 ff. 3 BGH v. 14.9.2004 – XI ZR 184/03, WM 2004, 220; BGH v. 20.12.1955 – I ZR 171/53, WM 1956, 217; Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 83 ff. 4 Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 90; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553. 5 Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 91. 6 Zum Sicherheitenpoolvertrag auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.180 ff.; Omlor in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 76 Rz. 1 ff.; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284a ff.; Gundlach/Frenzel/Schmidt, NZI 2003, 142; Wenzel, WM 1996, 561; Serick, KTS 1989, 743. Aus der Rechtsprechung zur grds. Zulässigkeit des Sicherheitenpoolvertrags BGH v. 2.6.2005 – IX ZR 181/03, ZInsO 2005, 932 = ZIP 2005, 1651; BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793; BGH v. 3.11.1988 – IX ZR 213/87, WM 1988, 1784 = ZIP 1988, 1534.

316 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.105 § 7

währt, um damit für jedes beteiligte Kreditinstitut das Kreditrisiko zu verringern1. Bei einer solchen Kreditsyndizierung wird zur Vereinfachung der Verwaltung und ggf. der Verwertung der Sicherheiten häufig in einem Sicherheitenpoolvertrag („Finanzierungspoolvertrag“) vereinbart, dass die für den Gesamtkredit bestellten Sicherheiten allen beteiligten Kreditgebern wirtschaftlich gleichrangig haften sollen, aber technisch nur einem einzigen Kreditinstitut, dem Poolführer oder Sicherheitentreuhänder („Collateral Agent“), bestellt werden, das die Poolsicherheiten für die übrigen Kreditgeber treuhänderisch mitverwaltet2. – Daneben werden Sicherheitenpoolverträge für Unternehmen zwischen den finanzierenden Kreditinstituten häufig dann abgeschlossen, wenn sich in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Kreditnehmers eine Krise abzeichnet (Sanierungspoolvertrag). Der Sanierungspoolvertrag stellt einen Beitrag zur Sanierung des Unternehmens dar, weil er zur Aufrechterhaltung bestehender Kredite beiträgt und die Grundlage für die Ausreichung neuer Kredite in der Krise schaffen kann3. Dies wird mit dem Sicherheitenpoolvertrag zum einen deshalb erreicht, weil er tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der verschiedenen Sicherheiten (z.B. Sicherungsübereignungen, Eigentumsvorbehalte) zwischen den Kreditinstituten beseitigt, für die Kreditinstitute damit die Durchsetzung und Verwertung der Sicherheiten erleichtert und so das Vertrauen der Kreditinstitute stärkt, dass bestehende und neue Kredite auf der Grundlage wirksamer und ggf. durchsetzbarer Sicherheiten ausgereicht sind. Zum anderen hat der Sicherheitenpoolvertrag den Vorteil, dass nicht jedes Kreditinstitut gesondert den üblichen Abschlag in der Sicherheitenbewertung vornimmt und daran die Höhe seiner Kreditlinie bemisst. Damit erhöht sich der Beleihungswert vorhandener Sicherheiten, der dann als Grundlage zusätzlicher Kredite dienen kann. Schließlich erlaubt es der Sicherheitenpoolvertrag problemlos, freie Spitzen des Beleihungswerts einzelner Sicherheiten, die sonst nur sehr schwierig als Kreditgrundlage für zusätzliche Kredite mobilisiert werden könnten, z.B. durch nachrangige Verpfändung, unkompliziert zur Besicherung einer weiteren Finanzierung heranzuziehen. Der Sicherheitenpoolvertrag führt so durch die gleichrangige Teilhabe aller beteiligten Kreditinstitute an den gepoolten Sicherheiten dazu, dass das Unternehmen in der Krise alle bestehenden Möglichkeiten zur Mittelbeschaffung ausschöpfen und eine optimale Nutzung seiner Kreditsicherheiten erreichen kann4.

7.104

b) Inhalt des Sicherheitenpoolvertrags Der Sicherheitenpoolvertrag5 wird üblicherweise zwischen den finanzierenden Kreditinstituten und dem Kreditnehmer bzw. den Kreditnehmern abgeschlossen6. Die Kreditinstitute bilden zudem allein im Innenverhältnis untereinander eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts.7 1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.181; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284c. 2 Omlor in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 76 Rz. 3; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284c; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.181. 3 Dazu auch Omlor in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 76 Rz. 9 ff. 4 Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284c. 5 Zu den typischen Vertragsinhalten auch Omlor in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 76 Rz. 12 ff. Muster für Sicherheitenpoolverträge bei Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/287; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.192. 6 Ausführlich Omlor in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 76 Rz. 17 f.; Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284d; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.195. A.A. (Gemeinschaft) Stürner, ZZP 94 (1981), 263, 275 f. 7 Ganter, ZIP 2017, 2277, 2278.

Kuder/Unverdorben | 317

7.105

§ 7 Rz. 7.106 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

7.106

Sofern Sicherheiten von Dritten gestellt werden, unterzeichnen die Drittsicherungsgeber regelmäßig ebenfalls den Sicherheitenpoolvertrag. Sie werden aber nicht Vertragspartei, sondern willigen lediglich in die sie betreffenden Bestimmungen des Vertrages ein. Dabei handelt es sich insbesondere um die Erweiterung des Sicherungszwecks der von ihnen gestellten Kreditsicherheiten auf alle Poolkredite1.

7.107

Ausgangspunkt und Grundlage der im Sicherheitenpoolvertrag getroffenen Regelungen ist die Bezeichnung der einbezogenen Kreditforderungen mit den jeweiligen Kreditgebern sowie der einbezogenen Kreditsicherheiten. Dabei kann sich der Sicherheitenpoolvertrag als Sanierungsbeitrag sowohl nur auf bereits gewährte Kredite und bestellte Kreditsicherheiten beziehen als auch die Ausreichung neuer, zusätzlicher Kredite oder die Bestellung neuer, zusätzlicher Kreditsicherheiten vorsehen. Kennzeichen gerade des Sanierungspoolvertrages ist die Verpflichtung der Kreditinstitute untereinander, sämtliche einbezogenen Kredite zu gewähren, für die Dauer des Sicherheitenpoolvertrags aufrechtzuerhalten und Reduzierungen oder Streichungen der Kredite nur im gegenseitigen Einvernehmen vorzunehmen. Damit leistet der Sanierungspoolvertrag unmittelbar einen wesentlichen Beitrag zur Rettung des Unternehmens, indem er die Kreditversorgung sicherstellt. Denn regelmäßig kann die Sanierung angeschlagener Unternehmen nur gelingen, wenn alle wesentlichen Kreditgeber sich in ihrem Sanierungswillen einig sind und die Rettung gemeinsam versuchen2.

7.108

Grundsätzliche und wichtigste Regelung des Sicherheitenpoolvertrags ist die Festlegung und Erweiterung des Sicherungszwecks für alle einbezogenen Kreditsicherheiten. Dazu sieht der Sicherheitenpoolvertrag vor, dass sämtliche im Poolvertrag genannten, nicht-akzessorischen Sicherheiten zur Besicherung sämtlicher genannter, in den Poolvertrag einbezogenen Kredite der beteiligten Kreditinstitute dienen, unabhängig davon, welchem Kreditinstitut diese Kreditsicherheiten bestellt worden sind. Sollen auch akzessorische Sicherheiten, z.B. Pfandrechte an laufenden Kontoguthaben, einbezogen sein, müssen diese entweder zusätzlich zu Gunsten aller beteiligten Kreditinstitute neu vereinbart werden, damit gesicherte Forderung und Berechtigung aus dem jeweiligen Sicherungsvertrag in der Person des gesicherten Gläubigers zusammenfallen, oder, auch wenn dies in der Praxis weniger gebräuchlich ist, die Kreditforderungen der ungesicherten Gläubiger könnten an den durch ein akzessorisches Sicherungsrecht gesicherten Gläubiger bzw. Poolführer abgetreten werden. Insbesondere im Rahmen von Konsortialkrediten üblicher ist inzwischen allerdings die Vereinbarung einer sog. Parallel Debt, d.h. eines abstrakten Schuldversprechens gegenüber dem Sicherheitentreuhänder, für das die dem Sicherheitentreuhänder bestellten akzessorischen Sicherheiten haften3.

7.109

Für den Fall, dass auch eine Globalzession in den Poolvertrag einbezogen ist, ist im Sicherheiten-Poolvertrag eine Bestimmung enthalten, durch die dem Kreditinstitut, dem die Forderungen durch eine Globalzession dinglich abgetreten sind, auch die Ansprüche auf und aus Gutschriften abgetreten werden, soweit diese auf Zahlungseingänge auf die abgetretenen Forderungen erfolgen, die sog. „Mannheim“-Klausel“4. Dadurch soll erreicht werden, dass die Verrechnung von Zahlungseingängen auf die Globalzession, die nicht bei der Poolführerin, der 1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.195. 2 Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/284b; Berner, KTS 2006, 359. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.202; zur Parallel Debt Federlin in Kümpel/ Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.625b; Hoffmann, WM 2009, 1492; Danielewsky/Dettmar, WM 2008, 713. 4 Sie hat ihren Namen deshalb, weil sie von Gero Fischer, dem früheren Vorsitzenden des 9. Senats des BGH zum ersten Mal auf einer Tagung in Mannheim mündlich vorgestellt wurde.

318 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.112 § 7

die Forderung abgetreten ist, sondern bei einer anderen Poolbank eingehen, nicht angefochten werden kann (ausführlich zum rechtlichen Hintergrund dieser Klausel s. Rz. 7.117 f.)1. Den zweiten wesentlichen Kernbestandteil des Sicherheitenpoolvertrags bilden Regelungen, die dafür sorgen, dass die beteiligten Kreditinstitute quotal gleichmäßig im Verhältnis ihrer einbezogenen Kredite durch die Poolsicherheiten besichert sind. Dazu sehen Poolverträge im ersten Schritt vor, dass der Kreditnehmer möglichst alle einbezogenen Kredite gleichmäßig quotal bei den Kreditinstituten in Anspruch nehmen soll. Im Verwertungsfall erfolgt darüber hinaus ein Saldenausgleich, bei dem die Kreditinstitute untereinander im Auftrag des Kreditnehmers ihre Kreditforderungen so übertragen, dass bei sämtlichen Kreditinstituten die Kreditinanspruchnahme im Verhältnis der einbezogenen Kredite steht. Im zweiten Schritt erfolgt dann im Verwertungsfall eine Verteilung des Erlöses aus der Verwertung der Sicherheiten an die Kreditinstitute gleichrangig im Verhältnis der Kreditinanspruchnahmen nach Saldenausgleich.

7.110

Daneben finden sich zahlreiche mehr technische Regelungen, zum Beispiel zur Verwaltung und Verwertung der Sicherheiten durch ein als Poolführerin benanntes Kreditinstitut, zu den Kosten und Steuern, zur Information der beteiligten Kreditinstitute untereinander, zu Befristung und Kündigung sowie zu Gerichtsstand und anzuwendendem Recht2.

7.111

c) Bestandskraft des Sicherheitenpoolvertrags bei Insolvenz des Kreditnehmers Die Vereinbarung des Sicherheitenpoolvertrags und der Saldenausgleich verstoßen nicht gegen das Verbot des „Unter-Deckung-Nehmen“ von ungesicherten Forderungen. Grundsätzlich steht zwar der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nach § 242 BGB Konstruktionen entgegen, bei denen sich ein gesicherter Gläubiger mit einer wertmäßig nicht ausgeschöpften Sicherheit die Forderungen eines ungesicherten Gläubigers abtreten lässt, um sie unter die Deckung der Sicherheiten zu nehmen3. Mit dem Abschluss des Sicherheitenpoolvertrags wird aber zum einen durch den Kreditnehmer der Sicherungszweck der Kreditsicherheiten gerade zu Gunsten aller beteiligten Kreditinstitute erweitert, so dass keine ungesicherten Forderungen bestehen. Eine solche Aufnahme von Ansprüchen dritter, bisher ungesicherter Gläubiger in den Sicherungszweck einer nicht-akzessorischen Sicherheit ist aber rechtlich möglich und allenfalls anfechtbar4. Zum anderen stellen mit der wirksamen Erweiterung des Sicherungszwecks alle am Pool beteiligten Kreditinstitute eine geschlossene Fremdfinanzierung zur Verfügung, den der Schuldner durch die gestellten Sicherheiten insgesamt absichert. Beim Saldenausgleich wird deshalb lediglich eine gesicherte (Teil-)Forderung gegen eine andere gesicherte (Teil-)Forderung getauscht, und trotz Saldenausgleich nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden die Poolsicherheiten nicht in einem höheren Ausmaß in Anspruch genommen, als dies ohne Saldenausgleich der Fall wäre5. 1 Ganter, ZIP 2017, 2277, 2282 f. 2 Muster für Sicherheitenpoolverträge bei Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/287. 3 BGH v. 20.3.1991 – IV ZR 50/90, WM 1991, 846 = ZIP 1991, 573; BGH v. 31.1.1983 – II ZR 24/ 82, WM 1983, 537 = ZIP 1983, 667; BGH v. 27.2.1981 – V ZR 48/80, WM 1981, 518 = ZIP 1981, 486. Dazu auch Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/199 f. 4 BGH v. 21.2.2008 – IX ZR 255/06, WM 2008, 602 = ZIP 2008, 703. 5 Wenzel/Gratias in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/285l; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.230 ff.

Kuder/Unverdorben | 319

7.112

§ 7 Rz. 7.113 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

7.113

Die Bildung des Sicherheitenpools kann in der Insolvenz des Kreditnehmers anfechtbar nach §§ 129 ff. InsO sein, sofern damit andere, nicht beteiligte Gläubiger benachteiligt werden. Eine solche Benachteiligung liegt vor, wenn die in den Pool eingebrachten Sicherungsrechte im Falle ihrer individuellen Geltendmachung deshalb nicht durchsetzbar gewesen wären, weil es bis zur Einbringung in den Pool an den rechtlichen Voraussetzungen fehlte, unter denen sie als genügend bestimmbar angesehen werden konnten. Denn dann führt erst die Poolbildung, die die mangelnde Bestimmtheit beseitigt, zum Übergang des Sicherungsgutes von dem Kreditnehmer auf die im Pool zusammengeschlossenen Kreditgeber. Ebenso ist eine Benachteiligung anderer Gläubiger gegeben, wenn durch den Poolvertrag teilweise ungesicherte Forderungen einerseits mit nicht voll valutierten Sicherungsrechten andererseits verknüpft werden. Denn die Poolbildung unter Zustimmung des Kreditnehmers führt zu dessen Verzicht auf seinen schuldrechtlichen Anspruch, im Fall der Befriedigung eines der beteiligten Kreditinstitute von diesem die Rückgabe der gewährten Sicherheiten zu verlangen. Unanfechtbar bleibt dagegen eine bloße Beseitigung von Beweisproblemen, die sich ohne Poolvertrag ergeben könnten, weil unklar ist, für welches der finanzierenden Kreditinstitute die Sicherheit bestellt war. Darin liegt keine Benachteiligung anderer Gläubiger i.S. von § 129 InsO, da es lediglich zu einem Gleichlauf der materiellen Rechtslage mit der prozessualen Durchsetzbarkeit kommt1. Entscheidender Zeitpunkt für die Frage der Anfechtbarkeit ist der Zeitpunkt der den Pool begründenden Sitzung der Kreditinstitute mit dem Kreditnehmer bzw. den Kreditnehmern, da in dieser Sitzung der Abschluss des Sicherheitenpoolvertrages und die Einigung auf alle wesentlichen die Sicherheiten betreffenden Vertragsinhalte – in der Regel mündlich – erfolgt. Auf den (in der Regel späteren) Zeitpunkt der Unterzeichnung des schriftlichen Sicherheitenpoolvertrages kommt es hingegen nicht an.

7.114

Neben der Anfechtung der Poolbildung kommt auch die Anfechtung solcher Sicherheiten in Betracht, die bei Abschluss des Poolvertrages neu bestellt werden2. Voraussetzung der Insolvenzanfechtung des Sicherheitenpoolvertrags oder der einzelnen Sicherheit ist aber immer, dass auch die weiteren Umstände des jeweiligen Anfechtungstatbestands vorliegen, also zum Beispiel der Vorsatz der Gläubigerbenachteiligung beim Kreditnehmer für die Anfechtung nach § 133 InsO. Maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der Abschluss des Sicherheitenpoolvertrags bzw. die Bestellung der einzelnen Sicherheit. Im Übrigen wird die Anfechtung nicht schon nach § 142 InsO wegen des Vorliegens eines Bargeschäfts ausgeschlossen, falls mit dem Sicherheitenpoolvertrag auch die Gewährung neuer Kredite vereinbart wird. Denn wenn der Sicherheitenpoolvertrag gleichrangig auch die Erweiterung des Sicherungszwecks für alle einbezogenen Kreditsicherheiten auf die bereits gewährten Kredite vorsieht, handelt es sich um ein insgesamt inkongruentes, in vollem Umfang anfechtbares Deckungsgeschäft, wenn nicht festgestellt werden kann, ob und in welchem Umfang sich die Sicherungen auf bestimmte Ansprüche beziehen. Anders ist dagegen die Rechtshandlung zu beurteilen, sofern die Sicherheit vorrangig die Forderung aus den im Gegenzug neu gewährten Krediten abdecken soll3, was deshalb in der Praxis so vorgesehen wird.

7.115

Im Hinblick auf die Anfechtbarkeit der Verrechnung von Zahlungseingängen auf Sicherheiten eines Poolpartners gilt folgendes: Geht der Zahlungseingang auf dem Konto der GmbH bei der Poolbank ein, der auch die Forderung, auf die die Zahlung geleistet wird, zur Sicherung abgetreten ist (meist die Poolführerin), ist die Verrechnung des Zahlungseingangs mit 1 Obermüller in FS Lüer, 2008, S. 415, 420 f. 2 Zu einem solchen Fall BGH v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, WM 1998, 968 = GmbHR 1998, 935 = ZIP 1998, 793. 3 BGH v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, WM 1993, 270 = ZIP 1993, 276.

320 | Kuder/Unverdorben

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.118 § 7

Forderungen dieser Poolbank stets unanfechtbar. Insofern handelt es sich nämlich um einen unanfechtbaren Sicherheitentausch1. Die abgetretene Forderung erlischt auf Grund der Erfüllung durch die Zahlung; die Poolbank erwirbt aber gleichzeitig gemäß Nr. 14 AGB Banken ein Pfandrecht an dem Anspruch der GmbH auf und aus Gutschrift des Zahlungseingangs. Erfolgt der Zahlungseingang aber nicht bei der Poolführerin, der die Forderung abgetreten ist, ist nach der Rechtsprechung des BGH die Verrechnung des Zahlungseingangs als inkongruente Deckung anfechtbar, obwohl auch die Forderungen der kontoführenden Bank auf Grund der Sicherungszweckvereinbarung im Sicherheitenpoolvertrag durch diese Forderung besichert sein sollen2. Zur Begründung führt der BGH an, dass durch die Erweiterung des Sicherungszwecks den anderen Poolpartnern keine dingliche Mitberechtigung an der angetretenen Forderung zukommen könne. Aus diesem Grund komme es zu keinem unanfechtbaren Sicherheitentausch, da zum einen die an die Poolführerin abgetretene Forderung erlösche, zum anderen aber die kontoführende Bank ein (als inkongruente Deckung anfechtbares) Pfandrecht an dem Anspruch auf und aus Gutschrift erwerbe.

7.116

In einem neueren Urteil zur Insolvenzfestigkeit einer doppelnützigen Treuhandvereinbarung hat der BGH diese strikte Haltung, dass ein Sicherungsnehmer in jedem Fall selbst eine dingliche Rechtsposition an dem Sicherungsgegenstand benötigt, um von der Sicherheit profitieren zu können, aufgegeben3. In dem zu Grunde liegenden Fall waren Aktien an dem zu sanierenden Unternehmen von dem späteren Insolvenzschuldner an einen Treuhänder übertragen worden. Ein dingliches Recht an den Aktien hatte nur der Treuhänder; gesichert werden sollten aber für den Fall des Scheiterns der Sanierung Kreditgeber und sonstige Dritte, die einen Beitrag zu den Sanierungsmaßnahmen geleistet hatten. Der BGH befand in dieser Konstellation, dass eine Treuhandvereinbarung mit schützender Drittwirkung anzunehmen sei, wenn Kreditgeber oder sonstige Dritte ihren Beitrag zu Sanierungs- oder Restrukturierungsmaßnahmen von der Übertragung der Gesellschaftsanteile des Treugebers auf einen Treuhänder abhängig machten, damit eine vom Einfluss des Treugebers unabhängige Durchführung der Maßnahme gewährleistet sei4. Halte ein Dritter einen Vermögensgegenstand treuhänderisch sowohl für den späteren Insolvenzschuldner als auch für einen oder mehrere Drittbegünstigte, stünde einer vertraglich vorgesehenen Verwertung des Vermögensgegenstands durch den Treuhänder zugunsten des oder der Drittbegünstigten nichts entgegen5. Nichts anderes kann aber in der Konstellation des Sicherheitenpoolvertrages gelten. Auch hier wird der Poolführerin die dingliche Position an den Sicherungsgegenständen übertragen; sie hält sie aber nicht nur für sich, sondern treuhänderisch für sämtliche dem Sicherheitenpool beigetretenen Kreditgeber. Insofern hat der BGH mit seinem Urteil aus dem Jahr 2015 anerkannt, dass eine dingliche Rechtsposition keine zwingende Voraussetzung für eine Partizipation an Kreditsicherheiten darstellt6.

7.117

Nach dem Poolvertragsurteil7 aus dem Jahr 2005 hat sich die Praxis aber beholfen, indem sie der Poolführerin ein weiteres dingliches Recht bestellen lässt: Ein die Gläubigerbenachteiligung ausschließender Sicherheitentausch kommt nämlich auch unter der Berücksichtigung des

7.118

1 2 3 4 5 6 7

Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.245. BGH v. 2.6.2005 – IX ZR 181/03, ZInsO 2005, 932 = ZIP 2005, 1651. BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286; Ganter, ZIP 2017, 2277, 2282. BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286, Rz. 39. BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286, Rz. 43. Ebenso wie hier: Ganter, ZIP 2017, 2277, 2282. BGH v. 2.6.2005 – IX ZR 181/03, ZInsO 2005, 932 = ZIP 2005, 1651.

Kuder/Unverdorben | 321

§ 7 Rz. 7.118 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Poolvertragsurteils gleichwohl zustande, wenn der Poolführerin im Sicherheitenpoolvertrag der Anspruch auf und aus Gutschrift des Zahlungseingangs bei der kontoführenden Bank, der auf eine der Poolführerin abgetretene Forderung erfolgt, abgetreten oder verpfändet wurde, sog. „Mannheim-Klausel“ (s. Rz. 7.109). Dann entsteht nämlich wieder eine Kette unanfechtbarer Sicherungsrechte: Die an die Poolführerin abgetretene Forderung erlischt durch den Zahlungseingang bei der kontoführenden Bank; gleichzeitig erwirbt aber die Poolführerin durch die Abtretung oder Verpfändung des Anspruchs auf und aus der Gutschrift ein Recht an dem Zahlungseingang1. Aus diesem Grund sehen die Muster für Sicherheitenpoolverträge eine entsprechende Bestimmung vor, durch die der Bank, der die Forderungen durch eine Globalzession dinglich abgetreten sind, auch die Ansprüche auf und aus Gutschriften abgetreten werden, soweit diese auf Zahlungseingänge auf die abgetretenen Forderungen erfolgen2. Für die Anfechtung kommt es damit auf den Zeitpunkt des Entstehens und Werthaltigmachens der Forderung an. Im Übrigen erfüllt nach dem Globalzessionsurteil des BGH3 ein Globalzessionsvertrag auch hinsichtlich der künftigen, im Zeitpunkt des Abschlusses des Globalzessionsvertrags noch nicht individualisierbaren, Forderungen die Voraussetzungen einer kongruenten Deckung.

7.119–7.130

Einstweilen frei.

IV. Finanzierungshilfen der öffentlichen Hand (Beihilfen) 7.131

Gerät ein Unternehmen in die Krise, greift der Staat mitunter durch Beihilfen rettend ein, um unerwünschte soziale oder volkswirtschaftliche Konsequenzen einer sonst drohenden Insolvenz zu verhindern. Gerade bei Krisen, die systemrelevante Unternehmen betreffen (Finanzkrise) oder die große Teile einer Volkswirtschaft gefährden, interveniert der Staat als lender of last resort, wobei die so gewährten Hilfen keineswegs nur in Form von Darlehen, sondern auch in Form von verlorenen Zuschüssen, Bürgschaften, Stundungen, Steuererleichterungen bis hin zur Gewährung von Eigenkapital ausgereicht werden. In bis dato unbekanntem Umfang hat der Staat von solchen Instrumenten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Gebrauch gemacht. Im Dezember 2021 betrug die Summe der bewilligten Mittel 128,7 Mrd. Euro. Davon sind rund 55 Mrd. Euro über die KfW als Darlehen ausgereicht worden4.

7.132

So notwendig diese Interventionen aus (sozial-)politischen Gründen erscheinen mögen, sind sie doch stets sorgfältig auf ihre ordnungspolitische Vertretbarkeit zu prüfen. Die Intervention des Staates kann den Wettbewerb verzerren, wenn und weil sie den Beihilfeempfängern Vorteile bringen, die den Konkurrenten möglicherweise nicht zuteil werden5. Staatliche Interventionen müssen daher auch in einer sozialen Marktwirtschaft die ultima ratio zur Abwendung 1 Ganter, ZIP 2017, 2277, 2282 ff.; Ganter, NZI 2009, 265; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.248. 2 Vgl. § 2 Abs. 1 des bei Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.192, abgedruckten Mustervertrages. 3 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, ZInsO 2008, 91 = ZIP 2008, 183. 4 Einen Überblick über die in der ersten Phase der Pandemie getroffenen Maßnahmen gibt Bornemann, jurisPR-InsR 9/2020 Anm. 1. 5 Nationale Begünstigungen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens sind grundsätzlich beihilferechtskonform, es sei denn, dass der Staat das spezielle Regime des Insolvenzverfahrens nutzt, um ein Unternehmen über längere Zeit rechtsmissbräuchlich, insbesondere zu Lasten der Neugläubiger lebensfähig zu erhalten (vgl. EuGH v. 12.10.2000 – C-480/08, „Megafesa“, ZIP 2000, 1938; Wessely, EWiR 2000, 425 ff.).

322 | Kuder/Unverdorben und Brinkmann

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.135 § 7

eines Schadens für die Gesamtwirtschaft sein. Aus diesem Grund besteht unionsrechtlich ein grundsätzliches Verbot der Gewährung von Beihilfen an „Unternehmen in Schwierigkeiten“, von dem freilich im Zusammenhang mit der Corona-Krise insoweit Ausnahmen gemacht wurden, als eine Förderung nur ausgeschlossen ist, sofern sich das Unternehmen schon vor dem 31.12.2019 in der Krise befand1.

1. Der Begriff der Beihilfen nach Art. 107 AEUV Aus (unions-)rechtlicher Sicht handelt es sich bei solchen Subventionen um Beihilfen i.S. von Art. 107 AEUV. Dieser weit zu verstehende Begriff umfasst alle Maßnahmen des Staates, durch die die Belastungen verringert werden, die ein Unternehmen zu tragen hat2. Kennzeichnend ist somit, dass es sich um staatliche Zuwendungen handelt, die nicht von einer marktgerechten Gegenleistung abhängig gemacht werden3. Erfasst sind damit neben positiven Zuwendungen (direkten Subventionen, Leistungssubventionen), Realförderungen ebenso wie der staatliche Verzicht auf vom Beihilfenbegünstigten geschuldete Leistungen, wie etwa Abgaben (indirekte Subventionen, Verschonungssubventionen)4. Nicht erforderlich ist, dass die Zuwendung direkt vom Staat gewährt wird, eine Beihilfe liegt vielmehr auch dann vor, wenn die Zuwendung über private Rechtsträger abgewickelt wird, wie etwa im Fall von KfW-Krediten, die über die Hausbank ausgereicht werden. Schließlich können auch Austauschverträge, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, erfasst sein, wenn der Erwerbspreis nicht marktüblichen Konditionen entspricht oder marktunübliche Zahlungsmodalitäten vereinbart werden.

7.133

2. Unionsrechtliche Anforderungen an die Gewährung von Beihilfen Beihilfen seitens der Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sich am Unionsrecht messen lassen. Hierdurch sollen mögliche Wettbewerbsverzerrungen im Gemeinsamen Markt verhindert bzw. beseitigt werden5. Nach Art. 107 Abs. 1 AEUV sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, wenn sie durch Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Solche mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfen sind verboten. Sie dürfen von den Mitgliedstaaten nicht gewährt werden, soweit sie schon ausgezahlt sind, müssen sie zurückgefordert werden6.

7.134

Um das sich aus Art. 107 Abs. 1 AEUV ergebende Verbot beeinträchtigender Beihilfen präventiv durchzusetzen, müssen Beihilfen gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Buchst. a BeihilfenverfahrensVO 7 von dem betreffenden Mitgliedstaat bzw. für diesen

7.135

1 Befristeter Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19 (ABl. EU Nr. C 91 I/1 v. 20.3.2020). 2 EuGH v. 7.3.2002 – C-310/99 – Italien/Kommission, Slg. 2002, I-2289, Rz. 51; Cremer in Calliess/ Ruffert, 6. Aufl. 2022, Art. 107 AEUV Rz. 11. 3 Müller-Graff, ZHR 152 (1988), 403, 418. 4 Schluck-Amend, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen in ihren Auswirkungen auf das nationale Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2004, S. 65 m.w.N. 5 Schluck-Amend, Die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen in ihren Auswirkungen auf das nationale Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2004, S. 21; Cranshaw, Einflüsse des Europäischen Rechts auf das Beihilfeverfahren, 2006, S. 41 ff. 6 S. hierzu die Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. EU Nr. C 247/01 v. 23.7.2019. 7 VO (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Brinkmann | 323

§ 7 Rz. 7.135 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

von der Beihilfe gewährenden Stelle vorab bei der Europäischen Kommission notifiziert werden. Die Beihilfe darf dann erst gewährt werden, wenn die Europäische Kommission sie als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt hat oder wenn seit der Notifizierung zwei Monate verstrichen sind (Art. 4 Abs. 6 BeihilfenverfahrensVO). Das beihilferechtliche Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV ist zugunsten der Wettbewerber des Beihilfeempfängers Schutzgesetz i.S. des § 823 Abs. 2 BGB1. Die Notifizierungspflicht ist gewahrt, wenn bei der Bewilligung der Beihilfe deren Auszahlung von einer Genehmigung der Kommission abhängig gemacht wird und anschließend die Anmeldung erfolgt2.

7.136

Ausgenommen von der Notifizierungspflicht sind „geringfügige Beihilfen“. Freigestellte deminimis-Beihilfen liegen nur dann vor, wenn der einem Unternehmen innerhalb von drei Steuerjahren gewährte Betrag 200.000 Euro nicht übersteigt, für Unternehmen im Straßentransportsektor gilt ein Höchstbetrag von 100.000 Euro3. Dabei werden Unternehmen, die über Mutter- und Tochtergesellschaften verbunden sind, als ein Unternehmen im Hinblick auf den Schwellenwert angesehen, vgl. Art. 2 Abs. 2 VO (EU) 1407/2013.

7.137

Nicht gesondert notifiziert werden müssen auch Einzelbeihilfen, die im Rahmen eines von der Kommission nicht beanstandeten Beihilfeprogramms gewährt werden. So hat die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bei der Kommission auf der Grundlage des von dieser zuvor verabschiedeten „Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von COVID-19“4 eine Rahmenregelung angemeldet, mit der Bund und Länder von der Coronakrise betroffenen Unternehmen Kapitalhilfen gewähren können5.

7.138

Ist eine Beihilfe unter Verstoß gegen das Unionsrecht gewährt worden, so ist es die „logische Folge“, dass die Europäische Kommission den Mitgliedstaat zur Rückabwicklung auffordert6. Den Mitgliedstaat trifft dann eine Pflicht, die Beihilfe zurückzufordern und dadurch die Beeinträchtigung des Wettbewerbs zu beseitigen. Zur Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen insbesondere in Krise und Insolvenz s. Rz. 7.149 ff.

3. Überblick über die Fragen an der Schnittstelle zwischen Restrukturierungsbzw. Insolvenzrecht einerseits und Beihilferecht andererseits 7.139

Das Beihilferecht wirft vor dem Hintergrund von Krise und Insolvenz unter verschiedenen Gesichtspunkten Fragen auf, die sich in ganz unterschiedlichen Konstellationen stellen: – Bei der Gewährung einer Beihilfe an Unternehmen in der Krise muss sorgfältig geprüft werden, ob diese Maßnahme mit dem grundsätzlichen Verbot der Subvention von Unternehmen in Schwierigkeiten vereinbar ist7. 1 2 3 4 5

BGH v. 10.2.2011 – I ZR 136/09, ZIP 2011, 732. KomE v. 15.11.2000, Solar Tech, ABl. Nr. L 292 v. 9.11.2001, S. 45. De-minimis-VO (EU) 1407/2013, geändert durch VO (EU) 2020/972 v. 7.7.2020. ABl. EU Nr. C 91 I/1 v. 20.3.2020. Einzelheiten zu den unionsrechtlichen Voraussetzungen der Beihilfegewährung gerade im Zusammenhang mit Corona-Hilfen, Hölzle/Wendt, ZRI 2021, 953 ff. 6 S. hierzu die Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. EU Nr. C 247/01 v. 23.7.2019. 7 Zu Einzelheiten s. die Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten (ABl. EU Nr. C 249/1 v. 31.7.2014), Verlängerung der Leitlinien (ABl. EU Nr. C 224/2 v. 8.7.2020) sowie die VO (EU) 651/2014 der Kommission v.

324 | Brinkmann

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.142 § 7

– Hat das Unternehmen vor Einleitung eines Insolvenzverfahrens eine Beihilfe bewilligt oder ausgezahlt bekommen, so stellt sich die Frage, inwieweit der Anspruch bzw. die ausgereichten Mittel in einem späteren Insolvenzverfahren Teil der Masse sind und zur Befriedigung aller Gläubiger eingesetzt werden können (dazu unter Rz. 7.140 ff.)1. – Ist der Staat als Gläubiger mit „gewöhnlichen“ Forderungen (Steuerforderungen, rückständige Beiträge zu Sozialversicherungen etc.) an einem Restrukturierungs- oder Insolvenzverfahren beteiligt, ist zu prüfen, ob ein (Teil-)Verzicht oder eine Stundung in Bezug auf diese Forderungen beispielsweise im Rahmen von Restrukturierungs- oder Insolvenzplänen beihilferechtlich relevant ist (dazu unter Rz. 7.144 ff.). – Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn dem Schuldner vor Verfahrenseröffnung eine Beihilfe in unionsrechtswidriger Weise gewährt wurde und der Staat daher Gläubiger eines unionsrechtlich geprägten, beihilferechtlichen Rückgewähranspruchs ist. Insoweit stellt sich die Frage nach den Konsequenzen der beihilferechtlichen Fundierung des Rückgewähranspruchs für seine Behandlung in Krise und Insolvenz (hierzu unter Rz. 7.149 ff.).

4. Rechtmäßig gewährte Beihilfen als Teil der Insolvenzmasse Nach dem Beschluss des VII. Senats des BGH vom 10.3.2021 (VII ZB 24/20) handelt es sich bei Ansprüchen auf bewilligte Leistungen aus den „Corona-Soforthilfen für Kleinstunternehmen und Selbständige“ um eine nach § 851 ZPO nicht pfändbare Forderung. Soweit die Zahlungen bereits geleistet wurden, sind die Leistungen unpfändbar, wenn sie einem Pfändungsschutzkonto des Schuldners gutgeschrieben wurden. Der BGH leitete dies aus einer entsprechenden Anwendung von § 850k Abs. 4 ZPO her. Nach dem am 1.12.2021 in Kraft getretenen Pfändungsschutzkonto-Fortentwicklungsgesetz2 ergibt sich die Unpfändbarkeit aus § 902 Abs. 1 Nr. 6 ZPO oder aus § 906 Abs. 2 ZPO3.

7.140

In der Insolvenz einer juristischen Person stellt sich vor diesem Hintergrund zunächst die Frage, ob Ansprüche auf Auszahlung bewilligter Beihilfen über § 36 InsO i.V.m. § 851 Abs. 1 ZPO unpfändbar sind. Dies ist mit dem BGH grundsätzlich zu bejahen, sofern Beihilfen einer Zweckbindung unterliegen, etwa weil sie, wie beispielsweise die Flut- oder die CoronaGelder, der Abmilderung der Folgen konkreter Ereignisse oder der Erreichung bestimmter Ziele dienen4.

7.141

In diesem Sinn zweckgebundene Ansprüche können nur ausnahmsweise, nämlich wegen solcher Ansprüche gepfändet werden, die vom Förderungszweck umfasst sind, also zu Gunsten sog. „Anlassgläubiger“5. Zur Beurteilung der Zweckbindung einer Zuwendung sind der Be-

7.142

1 2 3 4 5

17.6.2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union – Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung, in der Fassung der VO (EU) 2017/ 1084 der Kommission v. 14.6.2017 und in Verbindung mit der VO (EU) 2020/972 der Kommission v. 2.7.2020. S. hierzu Thole, ZIP 2022, 97, 98 ff. G. v. 22.11.2020 BGBl. I 2020, 2466 (Nr. 54). Dazu Ahrens, ZInsO 2021, 1190, 1192. Kritisch Thole, ZIP 2022, 97, 99: Es passe alleine eine analoge Anwendung der Normen. BFH v. 9.7.2020 – VII S 23/20, BB 2020, 1750 Rz. 24; BGH v. 10.3.2021 – VII ZB 24/20, BGHZ 229, 94 = ZIP 2021, 814 Rz. 11. Allg. Würdinger in Stein/Jonas, 23. Aufl. 2017, § 815 ZPO Rz. 21. Thole, ZIP 2022, 97, 100, der zu Recht darauf hinweist, dass nicht bei jeder Beihilfe zwischen geschützten und nicht geschützten Gläubigern unterschieden werden kann.

Brinkmann | 325

§ 7 Rz. 7.142 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

willigungsbescheid und die Förderrichtlinien heranzuziehen. Für die Insolvenz des Beihilfeberechtigten folgt daraus, dass aus solchen zweckgebundenen Ansprüchen eine Sondermasse zu bilden ist, aus der nur diese Anlassgläubiger zu befriedigen sind. Auf die Sondermasse haben insbesondere die sonstigen Gläubiger keinen Zugriff.

7.143

Die Zweckbindung der Ansprüche lässt sich aber insolvenzrechtlich nur solange verwirklichen, wie die Beihilfen nicht ausgezahlt sind1. Weil eine treuhänderische Bindung der durch die Auszahlung erhöhten Kontoguthaben bei Unternehmensbeihilfen abzulehnen ist, fallen diese in die allgemeine Masse des Schuldners und stehen zur Befriedigung aller Gläubiger zur Verfügung2. Anfechtungsrechtlich folgt hieraus, dass eine vorinsolvenzliche Leistung an Anlassgläubiger auch dann benachteiligende Wirkung hat, wenn sie mit Mitteln bewirkt wurde, die dem Schuldner als (ursprünglich zweckgebundene) Beihilfe gewährt worden sind3.

5. Die Rolle des Staates als Gläubiger in und im Vorfeld von Sanierungsverhandlungen, im Restrukturierungs- und im Insolvenzplanverfahren 7.144

Ist der Staat als Gesellschafter an einer in der Krise befindlichen Gesellschaft beteiligt oder hat er Forderungen gegen ein in der Krise befindliches Unternehmen etwa in Form von rückständigen Steuer- oder Abgabeforderungen oder aus privatrechtlich strukturierten Rechtsgrundlagen, so stellt sich die Frage, inwieweit Sanierungsbeiträge des Staates in Form von Kapitalzuführungen, Forderungskürzungen oder Stundungen den Tatbestand einer Beihilfe i.S. von Art. 107 AEUV erfüllen und deshalb vorher angemeldet werden müssen.

7.145

Das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung ist die Frage, ob sich ein privater Gläubiger bzw. Anteilsinhaber ebenso verhalten hätte („Private Creditor/Investor Test“)4. Der EuGH formuliert hierzu wie folgt5: „Diese Beurteilung erfolgt grundsätzlich unter Anwendung des Kriteriums des privaten Gläubigers, wenn ein öffentlicher Gläubiger Zahlungserleichterungen für eine ihm von einem Unternehmen geschuldete Forderung gewährt. Dieses Kriterium gehört nämlich, wenn es anwendbar ist, zu den Merkmalen, die von der Kommission zu berücksichtigen sind, um das Vorliegen einer solchen Beihilfe festzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 1999, Spanien/Kommission, C-342/96, Slg. 1999, I-2459, Randnr. 46, vom 29. Juni 1999, DM Transport, C-256/97, Slg. 1999, I-3913, Randnr. 24, sowie Kommission/EDF, Randnrn. 78 und 103). Solche Zahlungserleichterungen stellen eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV dar, wenn das begünstigte Unternehmen in Anbetracht der Bedeutung des hiermit gewährten wirtschaftlichen Vorteils derartige Erleichterungen offenkundig nicht von einem privaten Gläubiger erhalten hätte, der sich in einer möglichst ähnlichen Lage befindet wie der öffentliche Gläubiger und von einem Schuldner, der sich in finanziellen Schwierigkeiten befindet, die Zahlung der ihm geschuldeten Beträge zu erlangen sucht (vgl. in diesem Sinne Urteile Spanien/Kommission, Randnr. 46, DM Transport, Randnr. 30, und Kommission/EDF, Randnr. 79).“

1 2 3 4

Thole, ZIP 2022, 97, 101. Thole, ZIP 2022, 97, 101. Thole, ZIP 2022, 97, 101 f. EuGH v. 20.9.2017 – C-300/16; EuGH v. 24.1.2013 – C-73/11 – Frucona Košice a.s./Kommission, ZInsO 2013, 1250 Rz. 70; EuGH v. 5.6.2012 – C-124/10 Rz. 78 – Kommission/EDF. Ausführlich zum Private Creditor Test Ludwigs in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 107 AEUV Rz. 271 ff. 5 EuGH v. 24.1.2013 – C-73/11 – Frucona Košice a.s./Kommission, ZInsO 2013, 1250 Rz. 71 f.

326 | Brinkmann

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.149 § 7

Dieser Private Creditor Test gilt für das Verhalten des Staates als Gläubiger außerhalb – also im Rahmen einer „freien Sanierung“ (Rz. 9.1 ff.) – wie innerhalb eines förmlichen Insolvenzoder Restrukturierungsverfahrens. Der Sache nach sind die entsprechenden Kriterien – dann als „Private Investor Test“ – auch auf die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens oder eines fakultativen Insolvenzverfahrens (§ 18 InsO) zu erstrecken, über die der Staat etwa als Gesellschafter einer in der Krise befindlichen GmbH zu entscheiden hat. Wenn sich die Anzeige der Restrukturierungssache als ein Verhalten darstellt, das auch aus der Sicht eines privaten Investors sinnvoll ist, weil es beispielweise dazu dient, voraussichtlich die Verluste des Staates – etwa im Hinblick auf parallel bestehende Forderungen aus (Gesellschafter-)Darlehen oder auf Abführung rückständiger Steuern oder Abgaben – zu minimieren, wird kein wirtschaftlicher Vorteil im Sinne von Art. 107 AEUV gewährt.

7.146

Innerhalb von Insolvenz- oder Sanierungsverfahren ist der Private Creditor Test insbesondere auf das Abstimmungsverhalten des Staates oder seiner Vertreter in Gläubigerausschüssen und -versammlungen anzuwenden. Bei der Prüfung, ob eine zu Sanierungszwecken gewährte Stundung oder eine Forderungskürzung dem Private Creditor Test genügt, muss man fragen, ob der auf Grundlage des geplanten Umschuldungsvorhabens zu erwartende Betrag den Betrag übersteigt, der zu erwarten ist, wenn die Maßnahme nicht durchgeführt wird, sodass das Unternehmen im Zweifel liquidiert werden muss. Strukturell unterscheidet sich die Prüfung nicht von der im Rahmen von § 245 InsO und § 26 StaRUG anzustellenden Prüfung: Immer dann, wenn eine theoretische Zustimmungsverweigerung seitens staatlicher Gläubiger durch § 245 InsO bzw. § 26 StaRUG hätte überwunden werden können, kann die tatsächlich erteilte Zustimmung nicht als Beihilfe eingeordnet werden. Unter diesen Voraussetzungen ist auch ein Debt to Equity Swap, durch den Staat zum Gesellschafter des Schuldners wird, gemäß dem Private Investor Test beihilferechtlich unbedenklich.

7.147

Soweit Sanierungspläne, die Forderungskürzungen umfassen, in solchen Abstimmungen gegen die Stimmen der staatlichen Gläubiger angenommen werden oder auch ohne die Zustimmung der staatlichen Gläubiger angenommen worden wären, erübrigt sich die Prüfung, ob das Abstimmungsverhalten dem Private Creditor Test genügt1.

7.148

6. Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Zuwendungen in Krise und Insolvenz a) Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Beihilfen Die Aufhebung einer Beihilfe, die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, im Wege der Rückforderung ist die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit und zielt auf die Wiederherstellung der früheren Lage ab2. Die rechtliche Grundlage für die Rückforderung zu Unrecht gewährter staatlicher Beihilfen schafft Art. 108 Abs. 2 AEUV. Dort heißt es: „Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, dass eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Binnenmarkt nach Art. 107 unvereinbar ist oder dass sie missbräuchlich angewandt wird, so beschließt sie, dass der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.“ 1 Ludwigs in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 107 AEUV Rz. 286. 2 Vgl. EuGH v. 8.5.2003 – C-328/99 u. C-399/00, Slg. 2003, I-4035 Rz. 66 = EuZW 2003, 368. Dazu kritisch Goffart, NVwZ 2021, 1340. S. dazu Thole, ZIP 2022, 97, 104: Für die Corona-Hilfen sei dies weniger bedeutsam, da ihre Unionsrechtskonformität kaum zweifelhaft sei.

Brinkmann | 327

7.149

§ 7 Rz. 7.149 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Ergänzend gilt die Verordnung über Verfahrensvorschriften für staatliche Beihilfen (BeihilfenverfahrensVO)1. Gelangt die Kommission nach Durchführung eines förmlichen Prüfverfahrens zu dem Ergebnis, dass bestimmte von einem Mitgliedstaat gewährte Beihilfen nicht genehmigungsfähig sind, entscheidet sie, dass diese nicht eingeführt werden dürfen. In diesem Fall ordnet die Kommission an, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um die Beihilfen vom Empfänger zurückzufordern (Art. 16 Abs. 1 BeihilfenverfahrensVO)2.

b) Rückforderung unionsrechtswidriger Subventionen durch nationale Stellen 7.150

Der Staat ist nach Erlass einer Rückforderungsanordnung durch die Kommission unionsrechtlich verpflichtet, die rechtswidrig ausgezahlte Beihilfe innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist zurückzufordern3. Die Durchführung der Rückforderung richtet sich nach dem Recht des Mitgliedstaates (Art. 16 Abs. 3 BeihilfenverfahrensVO). Der Staat muss sich bei der Rückforderung so verhalten, wie er sich verhalten würde, wenn es um die rein innerstaatliche Beitreibung staatlicher Forderungen, wie etwa Steuer- oder Sozialversicherungsschulden, ginge. Dabei wird die Anwendung des nationalen Rechts vom Effektivitätsgrundsatz bestimmt („effet utile“-Vorbehalt). Die unionsrechtlich vorgeschriebene Rückforderung darf beispielsweise nicht durch nationale Regelungen praktisch unmöglich gemacht werden4. Bei einer Beihilfengewährung durch Verwaltungsakt eröffnet die formelle Rechtswidrigkeit die Möglichkeit des Widerrufs, der praktisch wegen des fehlenden Vertrauensschutzes unbefristet möglich ist5.

c) Der Rückgewähranspruch in Krise und Insolvenz des Zuwendungsempfängers 7.151

Die Zahlungsunfähigkeit oder die Beantragung bzw. Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Begünstigten oder zu befürchtende wirtschaftliche Schwierigkeiten infolge der Rückforderung sind nach der Rechtsprechung des EuGH keine Gründe, die zur Unmöglichkeit der Durchsetzung des Rückgewähranspruchs führen würden6. Vielmehr ist der Staat auch dann zur Durchsetzung des Rückforderungsanspruchs verpflichtet, wenn dies zur Insolvenz des Empfängers führt7. Der Private Creditor Test (s. Rz. 7.145 ff.) findet insoweit keine Anwendung8.

1 VO (EU) 2015/1589 des Rates v. 13.7.2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. 2 Vgl. EuGH v. 12.7.1973 – 70/72, Slg. 1973, I-813 Rz. 20. 3 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 71; EuGH v. 20.3.1997 – C-24/95, Land Rheinland-Pfalz/Alcan Deutschland, NJW 1998, 47 Rz. 34. 4 Vgl. EuGH v. 5.10.2006 – C-368/04, EuZW 2006, 725 Rz. 45 – Transalpine Ölleitung m.w.N. 5 Cranshaw, Einflüsse des Europäischen Rechts auf das Insolvenzverfahren, 2006, S. 348. 6 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 127 ff.; vgl. ferner EuGH v. 7.6.1988 – C-63/87 – Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 2875. 7 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 128. 8 Ludwigs in Münchener Kommentar Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 107 AEUV Rz. 287.

328 | Brinkmann

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.156 § 7

aa) Die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs durch Antragstellung und Forderungsanmeldung

Kann die rechtswidrig gewährte Beihilfe wegen der materiellen Insolvenz des Empfängers nicht oder nicht vollständig von diesem zurückgezahlt werden, so ist der Staat unionsrechtlich verpflichtet, das Insolvenzverfahren einzuleiten, um die Liquidation des Unternehmens herbeizuführen, sodass die Wettbewerbsbeeinträchtigung auf diese Weise beseitigt wird1. Zu betonen ist allerdings, dass diese Rückforderungspflicht nur dann greift, wenn sich die Rechtswidrigkeit aus einem Verstoß gegen Unionsrecht ergibt. Wenn die Beihilfegewährung dagegen rechtswidrig war, weil der Empfänger die Förderungsvoraussetzungen nicht erfüllte, so liegt nur ein Verstoß gegen nationales Recht vor. Für etwaige Rückforderungsansprüche des Staates gelten die im Folgenden dargestellten insolvenzrechtlichen Besonderheiten in einem solchen Fall nicht, es handelt sich bei dem Rückzahlungsanspruch um eine normale Insolvenzforderung.

7.152

Hat ein Unternehmen eine unionsrechtswidrige Beihilfe erhalten und kann der Rückforderungsanspruch aufgrund der Krise des Unternehmens nicht vollständig durchgesetzt werden, so ist der Staat verpflichtet, Insolvenzantrag zu stellen, sodass die aus der Zahlung der rechtswidrigen Beihilfe resultierende Beeinträchtigung des Wettbewerbs zwar nicht durch vollständige Rückzahlung der Beihilfe, aber durch das Ausscheiden des Unternehmens aus dem Markt beendet wird.

7.153

Insbesondere ist der Gesichtspunkt, dass die Antragstellung zu einer Zuspitzung der Krise und zu womöglich noch größeren Schäden der Gläubiger führt, nicht geeignet, das Absehen von einem Insolvenzantrag zu legitimieren. Gegenüber Verhältnismäßigkeitsüberlegungen ist der EuGH insoweit weitgehend taub2. Aus Sicht der Kommission und des EuGH steht ganz im Gegenteil im Vordergrund, dass die Einleitung des Insolvenzverfahrens regelmäßig zur Liquidation des rechtswidrig begünstigten Unternehmens und zu seinem Ausscheiden aus dem Markt führt.

7.154

bb) Der Rückforderungsanspruch als Insolvenzforderung Kommt es zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Empfängers einer rechtswidrig gewährten Beihilfe, so ist der Rückforderungsanspruch eine Insolvenzforderung, sofern er vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist.3 Der Anspruch auf Rückforderung ist dann vom Staat zur Insolvenztabelle anzumelden4.

7.155

Für die Frage, wann der Anspruch entstanden ist, kommt es nicht auf den Erlass des Aufhebungs- oder Rückforderungsbescheids an, sondern darauf, ob der Widerrufsgrund bereits vor Verfahrenseröffnung objektiv vorlag5. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen das Widerrufs- bzw. Rücknahmeermessen gebunden ist6.

7.156

1 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 128; EuGH v. 17.1.2018 – C-363/16 Rz. 38 – Kommission/Griechenland („United Textiles“). 2 Dazu kritisch Goffart, NVwZ 2021, 1340 m.w.N. 3 S. auch Thole, ZIP 2022, 97, 104: Der Rückzahlungsanspruch sei gewöhnliche Insolvenzforderung und nicht allein wegen des Unionsrechtsbezugs als Masseverbindlichkeit oder anderweitig privilegiert. 4 EuGH v. 14.4.2011 – C-331/09, Slg. 2011, I-2933–2962 Rz. 60. 5 BVerwG v. 26.2.2015 – 3 C 8.14, NZI 2015, 629 = ZIP 2015, 1182; BVerwG v. 19.6.2019 – 10 C 2.18, NZI 2019, 765 = ZIP 2019, 1816. 6 OVG Berlin-Brandenburg v. 2.4.2014 – OVG 6 B 16/12, ZInsO 2014, 1162.

Brinkmann | 329

§ 7 Rz. 7.157 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

7.157

Umstritten war, inwieweit der Rückzahlungsanspruch unter § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO fällt, wenn der Staat an dem durch ein rechtswidrig gewährtes Beihilfedarlehen begünstigten Unternehmen beteiligt ist. Der BGH hat in einem zum Eigenkapitalersatzrecht ergangenen Urteil § 39 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 InsO teleologisch reduziert und den Rückforderungsanspruch als nicht nachrangig erachtet1. Dogmatisch lässt sich hierfür anführen, dass es hier nicht um die Geltendmachung des Darlehensrückzahlungsanspruchs geht, sondern um den Rückforderungsanspruch, der sich aus der Rechtswidrigkeit der Beihilfegewährung ergibt. Insoweit wird man aus dem mit dem SanInsFoG zum 1.1.2021 eingeführten § 39 Abs. 1 Satz 2 InsO im Wege eines Erst-Recht-Schlusses folgern müssen, dass der Rückforderungsanspruch nicht nachrangig sein kann, wenn doch sogar der Darlehensrückzahlungsanspruch einer staatlichen Förderbank vollrangig ist und nicht unter § 39 InsO fällt. Die Rechtsprechung des BGH dürfte damit legislativ bestätigt sein. Das ist normativ auch deshalb überzeugend, weil die Gründe, die für die Nachrangigkeit von Gesellschafterdarlehen sprechen (Rz. 6.83), bei der Gewährung von Subventionen durch den am Unternehmen beteiligten Staat nicht einschlägig sind.

7.158

Hat der Staat bereits vor Verfahrenseröffnung vollständige oder teilweise Deckung für den Rückgewähranspruch erhalten, so steht der beihilferechtliche Charakter der Forderung einer Anfechtung nicht entgegen, denn die Wettbewerbsbeeinträchtigung kann im Insolvenzverfahren durch Liquidation des Unternehmens erreicht werden. Der Rückforderungsanspruch ist anfechtungsrechtlich wie jede andere Forderung zu behandeln2. cc) Unternehmensfortführung und Sanierung in Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren vor dem Hintergrund des Gebots der Beseitigung der Wettbewerbsbeeinträchtigung

7.159

Bestehen gegen die Gesellschaft beihilferechtliche Rückgewähransprüche, so hat dies weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeit der Unternehmensfortführung und der (übertragenden) Sanierung in Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren.

7.160

Dies betrifft zunächst die Frage, ob das Unternehmen auch noch nach Ablauf der von der Kommission gesetzten Rückforderungsfrist hinaus vom Verwalter fortgeführt werden darf. Dies wäre grundsätzlich zu verneinen, wenn man den Verwalter als Repräsentanten des Staates und damit als Adressat der unionsrechtlichen Rückforderungspflicht sähe. Dem steht jedoch entgegen, dass der Insolvenzverwalter im Privatinteresse, nämlich im Interesse der Insolvenzgläubiger, tätig wird. Der Verwalter ist daher nicht selbst Adressat der Rückforderungspflicht, sodass er nicht rechtswidrig handelt, wenn er das Unternehmen nach Ablauf der Rückforderungsfrist fortführt. Gleichwohl kann in Einzelfällen der faktische Druck auf den Verwalter nach Ablauf der Rückforderungsfrist so groß werden, dass er gezwungen sein kann, den Betrieb einzustellen, um so die Wettbewerbsbeeinträchtigung zu beenden. Um dies zu vermeiden, sollte seitens des Staates in Absprache mit dem Verwalter frühzeitig der Kontakt mit der Kommission gesucht und ein Antrag auf Fristverlängerung gestellt werden3.

7.161

Weil der Staat nach dem EuGH seiner Rückforderungspflicht nur dann genügt, „wenn das Insolvenzverfahren zur Abwicklung des Unternehmens führt, d.h. zur endgültigen Einstellung 1 BGH v. 5.7.2007 – IX ZR 221/05, BGHZ 171, 103 = ZIP 2007, 1760. 2 BGH v. 5.7.2007 – IX ZR 256/06, GmbHR 2007, 1146 = ZIP 2007, 1816. Der EuGH hat die Konkursanfechtung in dem italienischen Fall Seleco (Urt. v. 8.5.2003 – C-328/99, EuGHE 2003, 4035 Rz. 75 ff.) im Ergebnis ausdrücklich zugelassen. 3 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 74 ff.

330 | Brinkmann

§ 7 Externe Sanierung | Rz. 7.165 § 7

seiner Tätigkeit“1, darf sich der Staat nicht aktiv an der Sanierung des Unternehmens beteiligen, solange nicht der Rückforderungsanspruch in voller Höhe befriedigt worden ist. Restrukturierungs- oder Insolvenzplänen, die eine rechtsträgerwahrende Sanierung vorsehen, darf der Staat daher unionsrechtlich nicht zustimmen. Der Private Creditor Test findet keine Anwendung. Wird der Plan gegen die Zustimmung des Staates angenommen, so stellt sich die Frage, ob etwaige Forderungskürzungen auch den Rückforderungsanspruch erfassen. Dies wird mit unterschiedlichen Begründungen abgelehnt. Jedenfalls darf das Gericht einen Plan, aus dem sich eine Kürzung auch dieses Anspruchs ergibt, nicht bestätigen, denn als staatliche Stelle ist es Adressat des Rückforderungsgebots, sodass es die Durchsetzung des Rückgewähranspruchs nicht vereiteln darf. Daher ist der beihilferechtliche Rückgewähranspruch nicht plandisponibel, woraus wiederum Bedenken gegen die Anwendung des Obstruktionsverbots auf andere Gläubiger im Hinblick auf § 245 Abs. 2 Nr. 3 InsO resultieren. Im Ergebnis wird ein Insolvenzplan in solchen Fällen nur bei Zustimmung aller Gläubiger beschlossen werden können2. Nach Abschluss des Insolvenzverfahrens muss der Staat den Rückgewähranspruch gegen das sanierte Unternehmen durchsetzen3.

7.162

Wird das Unternehmen nicht mittels eines Insolvenzplans, sondern durch kaufweise Übertragung der unternehmerisch gebundenen Vermögenswerte an einen neuen Rechtsträger saniert („übertragende Sanierung“), so stellt sich die Frage, inwieweit der Erwerber für den Rückforderungsanspruch haftet4.

7.163

Nach der Entscheidungspraxis der Kommission und des EuGH haftet derjenige, der das Unternehmen im Wege der übertragenden Sanierung übernimmt, wenn er die Tätigkeiten des ursprünglichen Empfängerunternehmens weiterführt und damit der Vorteil zu seinen Gunsten fortbesteht5. Maßgeblich ist, ob die Übertragungs- bzw. Veräußerungsstruktur auf eine wirtschaftliche Kontinuität zwischen dem ursprünglichen Beihilfeempfänger und dem Erwerber schließen lässt6.

7.164

Eine solche wirtschaftliche Kontinuität wird verneint, wenn der Erwerber den Marktpreis gezahlt hat, wobei hierunter der Preis verstanden wird, den ein unter Marktbedingungen handelnder privater Investor hätte festsetzen können. Insoweit ist entscheidend, ob die Vermögenswerte im Wege eines offenen, transparenten, diskriminierungs- und bedingungsfreien

7.165

1 EuGH v. 17.1.2018 – C-363/16 Rz. 38 – Kommission/Griechenland („United Textiles“); EuGH v. 13.10.2011 – C 454/09 Rz. 36 – Kommission/Italien. 2 Hölzle/Wendt, ZRI 2021, 953, 956. 3 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 93 f. und 127–135; EuGH v. 1.10.2015 – C-357/14 P Rz. 113 – Electrabel und Dunamenti Erőmű/Kommission. Hölzle/Wendt, ZRI 2021, 953, 956 f. erörtern, ob im Fall einer Übertragung der Anteile auf einen Investor durch den Plan eine Forthaftung des Rechtsträgers nur unter einschränkenden Voraussetzungen anzunehmen ist. 4 Hierzu Hölzle/Wendt, ZRI 2021, 953 ff., die allerdings wohl das Risiko überschätzen, dass es im Zusammenhang mit den Corona-Beihilfen zu unionsrechtswidrigen Subventionen gekommen ist. 5 Bekanntmachung der Kommission über die Rückforderung rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer staatlicher Beihilfen, ABl. Nr. C 247/01 v. 23.7.2019, Rz. 91. 6 Beschluss (EU) 2016/151 der Kommission v. 1.10.2014 über die staatliche Beihilfe Deutschlands SA.31550 (2012/C) (ex2012/NN) zugunsten des Nürburgrings, ABl. EU Nr. L 34 v. 10.2.2016, Rz. 231.

Brinkmann | 331

§ 7 Rz. 7.165 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Bietverfahrens an den Bieter verkauft werden, der das höchste Angebot mit einer gesicherten Finanzierung eingereicht hat1. Ferner spielt eine Rolle, in welchem Umfang Vermögenswerte übertragen werden, ob eine gesellschaftsrechtliche Verbindung zwischen Veräußerer und Erwerber besteht, ob in zeitlicher Hinsicht dafür Anhaltspunkte bestehen, dass die Übertragung zur Umgehung des Rückforderungsanspruchs erfolgte, sowie ob die Transaktion aus Sicht des Erwerbers ökonomisch folgerichtig ist.

7.166

Nicht zuletzt weil das Verhältnis der Kriterien zueinander unklar ist, ist die (übertragende) Sanierung bei einem Unternehmen, das (möglicherweise) unionsrechtswidrige Beihilfen in nennenswertem Umfang erhalten hat, mit sehr großen Unsicherheiten für den Erwerber behaftet. Man wird hier sehr sorgfältig auf die faire und transparente Ausgestaltung des M&AProzesses als Bietverfahren achten müssen2.

1 Beschluss (EU) 2016/151 der Kommission v. 1.10.2014 über die staatliche Beihilfe Deutschlands SA.31550 (2012/C) (ex2012/NN) zugunsten des Nürburgrings, ABl. EU Nr. L 34 v. 10.2.2016, Rz. 239 f. 2 Einzelheiten bei Hölzle/Wendt, ZRI 2021, 953, 959 ff.

332 | Brinkmann

§8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung I. Systematische Grundlagen der Unternehmenssteuer 1. Überblick Die steuerrechtliche Betrachtung eröffnet zunächst einen kursorischen Blick in die systematischen Grundlagen der Unternehmensbesteuerung (s. hierzu Rz. 8.3 ff.). Es folgen Standardkonstellationen der Sanierungsberatung und ihre steuerrechtlichen Folgen (Rz. 8.31 ff.). In § 10 werden die steuerrechtlichen Besonderheiten des StaRUG behandelt (Rz. 10.361 ff.). Die jeweiligen steuerrechtlichen Auswirkungen der Liquidation werden unter § 12 (Rz. 12.201 ff.) und die der Insolvenz unter § 28 (Rz. 28.1 ff.) behandelt.

8.1

Das deutsche Ertragsteuerrecht ist prinzipiell auf Gewinnsituationen zugeschnitten, demgegenüber es bei den hier interessierenden Krisen- bzw. Insolvenzkonstellationen in erster Linie um die Frage geht, ob der bei der Gesellschaft oder bei dem Gesellschafter eingetretene Verlust steuerrechtlich im Wege eines innerperiodischen Verlustausgleichs, eines Verlustrücktrags oder eines Verlustvortrags genutzt werden kann. Das hängt von der steuerrechtlichen Qualifikation der jeweils getroffenen Maßnahmen ab. Ein weiterer Schwerpunkt in Krisensituationen ist die Steuerfreiheit von Sanierungserträgen und damit der steuerliche Schutz wirtschaftlich erfolgreicher Sanierungen. In den letzten Jahren hat der Gesetzgeber zunehmend steuergesetzliche Regelungen geschaffen, die sich mit den eingangs skizzierten Situationen befassen. Das Sanierungssteuerrecht ist als Querschnittsmaterie an unterschiedlichen Stellen im System der Unternehmensbesteuerung zu verorten. Diese sanierungssteuerrechtlichen Spezialvorschriften zugunsten einer steuerpflichtigen GmbH sind insbesondere § 3a und § 10d EStG (s. hierzu Rz. 8.38 ff.) sowie § 8c Abs. 1a KStG (s. hierzu Rz. 8.134 ff.). Auf Ebene der qualifiziert beteiligten Anteilsinhaber steht bei einer Beteiligung im Privatvermögen § 17 Abs. 2a EStG im Fokus der sanierungssteuerrechtlichen Beratung (s. hierzu Rz. 8.211 ff.).

8.2

2. Trennungsprinzip – Besteuerung der Kapitalgesellschaft Die steuerrechtliche Betrachtung der Kapitalgesellschaft/GmbH und ihres Anteilseigners knüpft – anders als beim Einheitsprinzip der Personengesellschaften (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) – an das kapitalgesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip an. Auf diese Weise wird die Gesamtbesteuerung des Unternehmens auf zwei Ebenen, nämlich die der Körperschaft und die der Gesellschafter aufgeteilt. GmbHs unterfallen als Kapitalgesellschaften gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 KStG der unbeschränkten Körperschaftsteuerpflicht, wenn sie ihre Geschäftsleitung (§ 10 AO) oder ihren Sitz (§ 11 AO) im Inland haben und sind damit selbstständige Steuersubjekte. In diese Systematik fallen seit der Einführung des § 1a Abs. 1 KStG durch das Gesetz zur Modernisierung des Körperschaftsteuerrechts (KöMoG) auch optierende Personenhandelsgesellschaften und Partnerschaftsgesellschaften. Demnach können Mitunternehmer, statt den Status quo des Einheitsprinzips anzuwenden, zum Trennungsprinzip der Körperschaftsteuer optieren. Die Folgeänderungen für die Ebene des Anteilsinhabers sind konsequent in § 17 Abs. 1 Satz 3 und § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG vorgesehen. Hintergrund dieser Option ist, dass die nationale Besteuerung von Personengesellschaften international weitgehend unbekannt ist und dass diese zudem auch verfahrensrechtlich aufwändig ist. Auf Gesellschaftsebene sieht § 23 Abs. 1 KStG eine Körperschaftsteuerbelastung mit 15 v.H. als Definitivbelastung vor. Crezelius/B. Westermann | 333

8.3

§ 8 Rz. 8.4 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

3. Besteuerung der Anteilseigner 8.4

Werden die Gewinne ausgeschüttet, unterliegen die Erträge auf Ebene der Anteilseigner der Einkommensteuer. Die mittelbar durch eine GmbH erwirtschafteten Erträge werden im Prinzip doppelt, nämlich zunächst mit der Körperschaftsteuer und sodann der Einkommensteuer des Anteilseigners belastet, wenn dieser eine natürliche Person ist. Im Ergebnis soll auf diese Weise eine mit dem persönlichen Steuersatz (s. § 32a EStG) vergleichbarere Steuerlast gewährleistet werden.

8.5

Ist der Anteilsinhaber eine natürliche Person, ist zunächst danach zu unterscheiden, ob der Anteilseigner der Kapitalgesellschaft die kapitalgesellschaftsrechtliche Beteiligung in einem Privatvermögen oder in einem Betriebsvermögen hält. Handelt es sich um eine private Beteiligung, dann sind Dividenden nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG steuerpflichtig. Über den Sondersteuertarif des § 32d Abs. 1 EStG kommt es zu einer Quellenbesteuerung mit Abgeltungswirkung von 25 v.H. Im Gegenzug wird der Werbungskostenabzug durch § 20 Abs. 9 EStG eingeschränkt. Möglich ist lediglich der Abzug des Sparer-Pauschbetrags von 801 Euro; im Übrigen ist der Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ausgeschlossen. Davon gibt es eine antragsgebundene Ausnahme, wenn die Voraussetzungen des § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG vorliegen, d.h. dass der Steuerpflichtige Anteilseigner zu mindestens 25 v.H. oder 1 v.H. an der Kapitalgesellschaft beteiligt ist, wobei er im zweiten Fall zusätzlich maßgeblichen unternehmerischen Einfluss auf die Tätigkeit der Kapitalgesellschaft ausüben muss.

8.6

Anders liegt es, wenn die Beteiligung in einem Betriebsvermögen gehalten wird. Hier schließt die Konkurrenzregel des § 20 Abs. 8 EStG das Abgeltungsteuersystem aus, wenn etwa gewerbliche Einkünfte erzielt werden. Die dann ausgeschütteten Dividenden sind nach § 3 Nr. 40 Buchst. a EStG zu 40 v.H. steuerfrei, so dass im Ergebnis 60 v.H. der Dividende besteuert werden. Kommt dieses sog. Teileinkünfteverfahren zur Anwendung, dann ist auch § 3c Abs. 2 EStG anwendbar, so dass bei der Einkünfteermittlung nur 60 v.H. der Aufwendungen geltend gemacht werden können. Durch dieses System sollte eine hundertprozentige Doppelbesteuerung auf Ebene des Anteilsinhabers verhindert werden. Denn anders als beim Privatvermögen, werden im Betriebsvermögen i.d.R. Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt, die ebenfalls dem persönlichen Steuersatz des § 32a EStG unterliegen.

8.7

Ist der Anteilseigner eine Körperschaft, dann bleiben Dividendenerträge gemäß § 8b Abs. 1 Satz 1 KStG zunächst „außer Ansatz“. Nach § 8b Abs. 5 Satz 1 KStG sollen aber, 5 v.H. der Bezüge als nichtabziehbare Betriebsausgaben qualifiziert werden, so dass im Ergebnis eine Steuerbefreiung in Höhe von 95 v.H. stattfindet. Zweck der Regelung ist die Vermeidung von Summierungseffekten bei der Durchschüttung von Erträgen. Handelt es sich um sog. Streubesitz nach § 8b Abs. 4 KStG, dann ist die Dividende allerdings voll steuerpflichtig.

4. Exkurs: Gewerbesteuer 8.8

Neben den Ertragsteuern gehört für Kapitalgesellschaften/GmbHs auch die Gewerbesteuer als gedachte Objektsteuer mit ertragsteuerlichen Durchbrechungen zum System der Unternehmensbesteuerung. Unabhängig von dem Unternehmenszweck unterliegt die GmbH daher grundsätzlich immer und in vollem Umfang der Gewerbesteuer (§ 2 Abs. 2 GewStG). Der zu versteuernde Gewerbeertrag ergibt sich gemäß § 7 Satz 1 GewStG aus dem nach dem EStG bzw. KStG zu ermittelnden Gewinn zuzüglich der in § 8 GewStG aufgezählten Hinzurechnungsbeträge und abzüglich der in § 9 GewStG genannten Kürzungsbeträge. Um die Zwecke (sanierungs-)steuerrechtlicher Regelungen ganzheitlich zu erreichen, bedarf es folglich auch gewerbesteuerrechtlicher Regelungen (etwa § 7b GewStG). Sie knüpfen in der Regel an die 334 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.11 § 8

konkrete Sanierungssituation und die ertragsteuerrechtlichen Regelungen an. Auf der anderen Seite schränkt § 10a GewStG aber die Verlustnutzung im Gewerbesteuerrecht ein. Die effektive Höhe der Gewerbesteuer bemisst sich nach den jeweils von den Gemeinden erlassenen Hebesätzen und divergiert daher im Bundesgebiet mitunter stark.

5. Gewinnermittlung bei Anteilsveräußerung a) Anteile im Betriebsvermögen Auf Ebene der Kapitalgesellschaft/GmbH werden gemäß § 8 Abs. 2 KStG nur gewerbliche Einkünfte erzielt. Die Gewinnermittlung erfolgt dann grundsätzlich nach den entsprechenden Regelungen des Einkommensteuerrechts, wobei die Ergebnisse durch die §§ 8–8d KStG modifiziert werden. Auf Ebene der Anteilsinhaber ist zu beachten, dass eine wesentliche Folge des Einkunftsartensystems des § 2 Abs. 2 EStG die unterschiedliche Behandlung bzw. Steuerbarkeit von realisierten Wertsteigerungen des Vermögens ist. Die Zuordnung von Einkünften zu einer Einkunftsart entscheidet über die Art der Einkunftsermittlung und auch darüber, ob der durch Eigenkapitalvergleich ermittelte Gewinn (§§ 4 ff. EStG) oder nur die Einnahmen (§ 8 EStG) der Besteuerung zugrunde zu legen sind. Bei der Gewinnermittlung nach §§ 4 ff. EStG, die über § 8 Abs. 1 KStG auch für die steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften gilt, ist eine Vermögensrechnung in Form eines Bilanzvergleichs, sog. Betriebsvermögensvergleich, vorzunehmen1. Veräußert also ein Steuerpflichtiger Gegenstände des Betriebsvermögens und erzielt er einen Veräußerungserlös, der über dem letzten Bilanzansatz liegt, dann fließt der Mehrerlös in die Gewinnermittlung ein und ist damit grundsätzlich steuerbar.

8.9

Liegt demnach ein GmbH-Geschäftsanteil in einem Betriebsvermögen des Anteilseigners, also in einem einzelunternehmerischen Betriebsvermögen, im Gesamthandsvermögen einer gewerblich tätigen oder gewerblich geprägten Personengesellschaft (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2 EStG) oder im Vermögen einer anderen Kapitalgesellschaft, dann ist die Beteiligung über den Betriebsvermögensvergleich der §§ 4 ff. EStG in der Weise steuerverstrickt, dass ein etwaiger Veräußerungsgewinn oder Veräußerungsverlust steuerrechtlich schon aufgrund der Gewinnermittlung prinzipiell erheblich ist.

8.10

Ist der Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft, die stets Betriebsvermögen hat (§ 8 Abs. 2 KStG), wird durch § 8b Abs. 2 KStG die prinzipielle Steuerfreiheit von Dividenden auch auf die Veräußerung der Beteiligung, des Betriebsvermögens, ausgedehnt. Der Grund hierfür liegt in der Überlegung, dass der Veräußerungsgewinn einbehaltene oder zukünftige Dividenden repräsentiert, die erst dann steuerpflichtig sein sollen, wenn sie auf die Ebene einer einkommensteuerpflichtigen natürlichen Person weitergeleitet werden2. Allerdings schränkt § 8b Abs. 3 Satz 1 KStG dies – wie bei den Dividenden – so ein, dass im Ergebnis nur 95 v.H. außer Ansatz bleiben. Von diesem System sind nach § 8b Abs. 4 Satz 1 KStG Beteiligungen von weniger als 10 v.H. ausgenommen, sog. Streubesitzdividenden. Der Vermögensgewinn aus Veräußerungen von Streubesitz ist hingegen derzeit unabhängig von der Beteiligungsquote steuerfrei3. Dies ermöglicht eine steuerfreie Vermögensrealisierung in Form einer Veräußerung anstatt einer Ausschüttung, weshalb seit einiger Zeit geplant ist, die Veräußerungsfälle ebenfalls der Steuerpflicht zu unterwerfen4.

8.11

1 2 3 4

Vgl. R 8.1 KStR. Crezelius, DB 2001, 221; Kanzler, FR 2000, 1245. Pohl in BeckOK/KStG, § 8b KStG Rz. 756.3; Rengers in Brandis/Heuermann, § 8b KStG Rz. 116a. Kotten/Heinemann, DStR 2015, 1889; Ritzer/Stangl, DStR 2015, 2203.

Crezelius/B. Westermann | 335

§ 8 Rz. 8.12 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

8.12

Speziell für die im vorliegenden Zusammenhang bedeutsamen Verlustkonstellationen ist auf § 3c Abs. 2 EStG und § 8b Abs. 3 KStG hinzuweisen. Wenn Erträge aus kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligungen einkommensteuerrechtlich dem Teileinkünfteverfahren unterliegen, dürfen nach § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG auch Betriebsvermögensminderungen, Anschaffungskosten, Betriebsausgaben und Werbungskosten, die mit der kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligung im Zusammenhang stehen, nur in Höhe von 60 v.H. gegengerechnet werden. Dies ist steuersystematisch kritisch zu betrachten, weil die Idee des Teileinkünfteverfahrens in der Abmilderung der körperschaftsteuerrechtlichen und einkommensteuerrechtlichen Doppelbelastung zu sehen ist; damit hat die Teilabzugsfähigkeit des § 3c Abs. 2 EStG nichts zu tun1. Zudem liegt hier ein Verstoß gegen das steuerrechtliche Nettoprinzip nahe, welches im Grundsatz die Abziehbarkeit von Erwerbsaufwendungen und negativen Einkünften vorsieht. Dies wird auch deutlich, wenn es um einen Veräußerungsverlust im Körperschaftsteuerbereich geht, der nach § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG unberücksichtigt bleibt. Auch hier ist der Gesetzgeber der Auffassung, dass dann, wenn der Gewinn nach § 8b Abs. 2 KStG nicht (in voller Höhe) besteuert wird, im Gegenzug auch der realisierte Verlust unerheblich sein soll. Das ist steuersystematisch wenig schlüssig, weil § 8b Abs. 2 KStG allein eine mehrfache Besteuerung auf Grund des Körperschaftsteuersystems verhindern will – eine Überlegung, die mit der Verlustgeltendmachung überhaupt nichts zu tun hat.

b) Anteile im Privatvermögen 8.13

Anders ist die Rechtslage, wenn es sich um Privatvermögen des Anteilseigners handelt, also um Konstellationen, bei denen die GmbH-Beteiligung nicht unternehmerisch gebunden ist. Liegt in diesen Fällen eine qualifizierte Beteiligung nach § 17 EStG vor, ist also der jeweilige Anteilsinhaber zu mindestens 1 v.H. unmittelbar oder mittelbar an der Kapitalgesellschaft beteiligt (§ 17 Abs. 1 Satz 1 EStG), dann bleibt es zwar dabei, dass es sich um Privatvermögen handelt, doch fingiert § 17 EStG in diesen Fällen gewerbliche Einkünfte bzw. Verluste, wenn die qualifizierte Beteiligung veräußert oder „liquidiert“ wird. Sind die Voraussetzungen des § 17 EStG gegeben, dann finden die Abgeltungsteuerregeln gemäß § 20 Abs. 8 EStG keine Anwendung. Es kommt daher in Veräußerungssituationen zur Besteuerung nach §§ 17, 3 Nr. 40 Buchst. c EStG, so dass bei einem realisierten Gewinn 60 v.H. steuerpflichtig sind. Andererseits zeigt dann § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG, dass auch nur 60 v.H. der Verluste geltend gemacht werden können. Bleibt der Anteilsinhaber unter der Beteiligungsschwelle des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG beteiligt, dann sind Veräußerungsgewinne in den Anwendungsbereich der Abgeltungsteuer einbezogen, unterliegen also dem Pauschalsteuersatz von 25 v.H. (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 32d Abs. 1 EStG). Solche geringfügigen Beteiligungen erlangen mit Blick auf die steigende Beliebtheit von Mitarbeiterbeteiligungen zunehmend an Relevanz in der Praxis.

8.14

Für Verlustsituationen sind dann die umfangreichen Einschränkungen in § 20 Abs. 6 EStG zu beachten. Verluste aus Kapitalvermögen dürfen gemäß § 20 Abs. 6 Satz 1 EStG nicht mit Einkünften der anderen Einkunftsarten und auch nicht nach § 10d EStG verrechnet werden. Strengere Restriktionen gelten für einzelne Einkünfteunterarten i.S. des § 20 EStG. Hervorzuheben ist die Verlustverrechnungsbeschränkung beim Ausfall von Wirtschaftsgütern (Satz 6). Der Begriff erfasst Realisationstatbestände, mit denen die Wertlosigkeit eines Wirtschaftsguts verlustwirksam wird und die mit der Uneinbringlichkeit, Ausbuchung oder Übertragung wegen Wertlosigkeit vergleichbar sind2. Zweifelhaft ist, ob etwa die Insolvenz einer 1 Vgl. von Beckerath in Kirchhof/Seer, § 3c EStG Rz. 2; Levedag in Schmidt, § 3c EStG Rz. 11; a.A. BFH v. 2.9.2014 – IX R 43/13, BStBl. II 2015, 257 = GmbHR 2015, 211; BFH v. 19.6.2007 – VIII R 69/05, BStBl. II 2008, 551 = GmbHR 2007, 1284. 2 Ratschow in Brandis/Heuermann, § 20 EStG Rz. 469c.

336 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.17 § 8

GmbH hierunter fallen könnte, allerdings ist die Liquidation in der Insolvenz (vgl. § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG) gerade nicht von der Verlustverrechnungsbeschränkung umfasst. Erlaubt ist in den Fällen des § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG nur eine Verlustberücksichtigung von bis zu 20.000 Euro in dem Veranlagungszeitraum des Verlusts. Zwar ist im Folgeveranlagungszeitraum eine erneute Verrechnung möglich, jedoch müssen hierzu entsprechende Gewinne erzielt werden. § 20 Abs. 6 EStG ist daher verfassungsrechtlich bedenklich1. Das aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleitende steuerliche Nettoprinzip forderte stets eine symmetrische Besteuerung von Gewinnen und Verlusten2.

c) Sonderfall: sperrfristbehaftete Anteile Eine praktisch wichtige Sonderkonstellation findet sich im Bereich des UmwStG3. Es geht um diejenige Umstrukturierungsvariante, in der ein Personenunternehmen (Einzelunternehmen, Mitunternehmeranteil nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in eine Kapitalgesellschaft eingebracht wird und die aufnehmende Kapitalgesellschaft das eingebrachte Vermögen nicht mit dem gemeinen Wert ansetzt (§§ 20 ff. UmwStG).

8.15

Nach den §§ 20 ff. UmwStG existieren für den Umwandlungsvorgang sog. sperrfristbehaftete Anteile, soweit in den Fällen einer Sacheinlage unter dem gemeinen Wert (§ 20 Abs. 2 Satz 2 UmwStG) der Einbringende die erhaltenen Anteile innerhalb eines Zeitraums von 7 Jahren nach dem Einbringungszeitpunkt veräußert. Findet dies statt, dann ist der Gewinn aus der Einbringung rückwirkend im Wirtschaftsjahr der Einbringung als Gewinn des Einbringenden nach § 16 EStG zu versteuern.

8.16

Beispiel: Frau F bringt im Jahre 2020 ihr Einzelunternehmen (Buchwert 300.000 Euro, gemeiner Wert 1.000.000 Euro) zum Buchwert gegen Gesellschaftsrechte in die X-GmbH ein. Die GmbH setzt den Buchwert an. 2023 veräußert F ihren Anteil für 1.500.000 Euro. Die sperrfristbehafteten Anteile sind nach § 16 EStG nachzuversteuern.

Die Besteuerung des Anteilseigners wird in § 22 UmwStG geregelt4. Die Anteilsveräußerung mit dann erfolgender Besteuerung des sog. Einbringungsgewinns I ist ein rückwirkendes Ereignis nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (§ 22 Abs. 1 Satz 2 UmwStG), so dass es rückwirkend und fiktiv zu gewerblichen Einkünften kommt, ohne dass die Privilegien der § 16 Abs. 4, § 34 EStG eingreifen. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 UmwStG verringert sich der Einbringungsgewinn um jeweils ein Siebtel für jedes seit dem Einbringungsvorgang abgelaufene Zeitjahr. Diese Siebtelungsregelung ist offenbar von der Idee des Steuergesetzgebers getragen, dass die bei Einbringung des Personenunternehmens in die Kapitalgesellschaft vorhandenen und nicht aufgedeckten stillen Reserven sich durch Zeitablauf gleichsam verflüchtigen. Die Regelung birgt praktische Schwierigkeiten und Streitpotenzial, weil nämlich die Ermittlung des gemeinen Werts des zunächst erfolgsneutral eingebrachten Betriebsvermögens erst später, bei Veräußerung stattfinden soll5. Daher empfiehlt es sich, im Einbringungszeitpunkt eine Unternehmensbewertung 1 Vgl. BFH v. 17.11.2020 – VIII R 11/18, DStR 2021, 1339; Buge in Herrmann/Heuer/Raupach, § 20 EStG Rz. 610; Förster/von Cölln/Lentz, DB 2020, 353, 356; Stöber/Hornung/Westermann, RdF 2021, 106 m.w.N. 2 BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15, DStR 2017, 2801, vgl. auch BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BFH/NV 2017, 1006 = DStR 2017, 1094 Rz. 104 m.w.N. = ZIP 2017, 1009 = GmbHR 2017, 710. 3 Dazu BMF v. 11.11.2011 – IV C 2-S 1978-b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314. 4 Näher BMF v. 11.11.2011 – IV C 2-S 1978-b/08/10001, BStBl. I 2011, 1314 Rz. 22.01 ff. 5 Kritisch Dötsch/Pung, DB 2006, 2763, 2766.

Crezelius/B. Westermann | 337

8.17

§ 8 Rz. 8.17 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

durchzuführen bzw. wenigstens die hierfür erforderlichen Umstände zu dokumentieren1. Kommt es zu einer Besteuerung des Einbringungsgewinns I, hat dies Auswirkungen für spätere Anteilsveräußerungen. Insoweit verringert sich auch der spätere Gewinn aus der Anteilsveräußerung. Nach § 22 Abs. 1 Satz 4 UmwStG führt der Einbringungsgewinn I zu nachträglichen Anschaffungskosten der nach § 20 UmwStG ausgegebenen Anteile, letztlich also zu einem niedrigeren Veräußerungsgewinn nach § 17 Abs. 1 Satz 1, § 3 Nr. 40 Buchst. c EStG.

8.18

Im Gesetz nicht unmittelbar geregelt sind die hier interessierenden Verlustsituationen. Wenn in dem oben gebildeten Beispielsfall die Anteilseignerin ihren Geschäftsanteil zu 150.000 Euro veräußert, gelten die normalen Regeln der Besteuerung des Einbringungsgewinns I. Somit ist bezogen auf den Einbringungszeitpunkt der gemeine Wert zu ermitteln; der Buchwert des eingebrachten Betriebsvermögens ist abzuziehen (im Beispiel ergibt dies 700.000 Euro). Sodann ist die Siebtelungsregelung anzuwenden. Der sich daraus ergebende Betrag führt bei der Gesellschafterin zu Einkünften aus § 16 EStG. Erst in einem zweiten Schritt ist der tatsächliche Veräußerungsverlust zu ermitteln. Vom Veräußerungspreis ist der Buchwert der Anteile abzuziehen, so dass sich im Beispiel ein Negativbetrag von 150.000 Euro ergibt. Zu diesem Betrag sind die nachträglichen Anschaffungskosten aus dem Einbringungsgewinn I hinzuzuaddieren (4/7 aus 700.000 Euro). Dies führt zu einem Veräußerungsverlust von 550.000 Euro, welcher dann wiederum den Beschränkungen des § 3c Abs. 2 EStG unterliegt.

8.19

Dies ist insbesondere dann problematisch, wenn bei einem Sperrfristverstoß die eingebrachten Anteile zwischenzeitig nachhaltig an Wert verloren haben und der Sperrfristverstoß durch einen zum Zeitpunkt der Einbringung noch nicht absehbaren nachträglichen Notverkauf entsteht. In dieser Konstellation wird die Vereinbarkeit einer uneingeschränkten Anwendung von § 22 UmwStG mit der Fusionsrichtline2 bezweifelt. Nach zuzustimmender Auffassung in der Literatur soll die Norm jedenfalls dann keine Anwendung finden, wenn die nachträgliche Veräußerung aus wirtschaftlichen Gründen und nicht aus einem bereits im Einbringungszeitpunkt vorhandenen (oder zumindest absehbaren) missbräuchlichen Motiv erfolgt3. Hiervon losgelöst sind insbesondere im Hinblick auf die Covid 19-Pandemie eine Stundung oder Billigkeitsmaßnahmen in Betracht zu ziehen4.

6. Grundzüge der Verlustnutzung bei der GmbH 8.20

Stehen am Ende eines Veranlagungszeitraums negative Einkünfte bzw. Verluste, ist zu prüfen, inwieweit sie zur Erlangung von Steuererstattungen oder Minderung von Steuerzahlungspflichten eingesetzt werden können. Da eine GmbH nach § 8 Abs. 2 KStG nur gewerbliche Einkünfte erzielt, stellen sich keine Probleme bei der Verrechnung mit Verlusten anderer Einkunftsarten (sog. vertikaler Verlustausgleich). Aufgrund des Trennungsprinzips sind zudem Verluste des Gesellschafters grundsätzlich nicht mit den Einkünften der Gesellschaft verrechenbar (sog. Verlustblockade). Bei der Verwertung von Verlusten einer GmbH ist in zwei Schritten vorzugehen: Zunächst sind Verluste auf Ebene der GmbH im Wege des interperiodischen Verlustabzugs (Verlustvor- und -rücktrag) zu verwerten. Drohen diese Verluste wegen betragsmäßiger und zeitlicher Begrenzungen nicht vollständig genutzt werden zu können, etwa bei langanhaltenden Verlustphasen, ist zu prüfen, ob, wie und inwieweit die Verluste der 1 Dürrschmidt in BeckOK/UmwStG, § 22 UmwStG Rz. 668. 2 RL 2009/133/EG des Rates vom 19.10.2009, ABl. EU Nr. L 310 v. 25.11.2009, S. 34 geändert durch RL 2013/13/EU vom 13.5.2013, ABl. EU Nr. L 141 v. 28.5.2013, S. 30. 3 Etwa Bron, DStR 2020, 1009, 1013 f. 4 Mick/Dyckmans/Klein, COVuR 2020, 235, 243.

338 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.30 § 8

Gesellschaft bei den Anteilseignern oder anderen nahestehenden Personen nutzbar gemacht werden können1. Bei einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte nach § 10d EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG ist ein Verlustabzug in Form des Verlustrücktrags in dem vorangegangenen Veranlagungszeitraum i.H.v. bis zu 1.000.000 Euro (in den Jahren 2020 bis 2023 10.000.000 Euro) möglich. Das Vierte Corona-Steuerhilfegesetz2 sieht in § 10d EStG ab dem Jahr 2022 dauerhaft einen Verlustrücktrag für zwei Jahre vor (§ 10d Abs. 1 Satz 2 EStG). Ferner sind die Verluste grundsätzlich zeitlich und betragsmäßig unbegrenzt vortragsfähig. Gewerbesteuerlich ist gemäß § 10a GewStG nur ein Verlustvortrag möglich. Verluste, die bewusst im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen erwirtschaftet werden, dürfen gemäß § 15b EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG – und nach § 7 GewStG auch bei der Gewerbesteuer – nicht in Abzug gebracht werden. Für den Verlustvortrag gilt aber die Einschränkung, dass gemäß § 10d Abs. 2 EStG ein nach einem etwaigen Verlustrücktrag verbleibender Betrag in den folgenden Veranlagungszeiträumen nur bis zu einem Betrag i.H.v. 1.000.000 Euro unbegrenzt und darüber hinaus nur i.H.v. 60 v.H. des 1.000.000 Euro übersteigenden Betrags abzuziehen ist (sog. Mindestgewinnbesteuerung). Diese Einschränkung gilt gemäß § 10a GewStG auch im Gewerbesteuerrecht. Die Verlustnutzung wird überdies durch die Regelungen über den sog. Mantelkauf in § 8c f. KStG weiter eingeschränkt (s. hierzu ausführlich Rz. 8.121 ff.). Der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustvortrag ist gemäß § 10d Abs. 4 EStG gesondert festzustellen.

8.21

7. Überblick über Maßnahmen infolge der Covid 19-Pandemie und Ausblick Sowohl Gesetzgeber als auch das BMF haben im (Unternehmens-)Steuerrecht einzelne Maßnahmen zur Abfederung der Folgen der Covid 19-Pandemie erlassen. Zweck der Maßnahmen waren Liquiditätssteigerungen für Betriebe. Aufgrund der vielen Einzelmaßnahmen handelt es sich hierbei um eine eher unübersichtliche Querschnittsmaterie. Hervorzuheben sind etwa Steuerstundungen, Anpassung der Vorauszahlungen (§ 110 EStG) und die Erweiterung des Verlustrücktrags (§ 111 EStG)3. Der durch das zweite Corona-Steuerhilfegesetz eingeführte § 7 Abs. 2 EStG ermöglicht eine degressive AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens, die nach dem 31.12.2019 und vor dem 1.1.2022 angeschafft wurden4. Die Abschreibung kann von kleinen und mittleren Betrieben neben § 7g Abs. 5 EStG in Anspruch genommen werden. Für Restrukturierungen wurde die umwandlungsrechtliche Rückwirkung in § 17 Abs. 2 Satz 4 UmwG von bisher acht Monaten auf zwölf Monate für das Jahr 20205 und später für 20216 verlängert. Diese Rückwirkung entfaltet über § 2 Abs. 1 UmwStG auch steuerrechtliche Wirkung. Entsprechend wurden die Fristen in § 20 Abs. 6 UmwStG und § 9 Satz 3 UmwStG verlängert7. Perspektivisch sollte der Gesetzgeber weniger die Steuersätze reformieren. Ein effektiver Verlustabzug ist bereits als elementarer Kern eines krisenfesten Unternehmenssteuerrechts ausgemacht8. Jedenfalls die vorpandemischen Regelungen für die Verlustnutzung erfüllten diesen Anspruch nicht. Einstweilen frei. 1 2 3 4 5 6 7 8

8.22

8.23–8.30

Vgl. auch Neu in GmbH-Handbuch, Verluste der GmbH, Rz. III 3000 ff. BGBl. I 2022, 911. S. ausführlich bei Mick/Dyckmans/Klein, COVuR 2020, 235, 237 f. und 241 f. S. ausführlich Mick/Dyckmans/Klein, COVuR 2020, 235, 242. GesRuaCOVBekG v. 27.3.2020. GesRGenRCOVMVV v. 20.10.2020. Verordnung zu § 27 Absatz 15 des Umwandlungssteuergesetzes v. 23.12.2020. Hey, NJW 2021, 2777; Hey, DStR 2020, 2041; vgl. auch Giese/Graßl/Holtmann/Krug, DStR 2020, 752, 754 f.; Röder, DStJG 43 (2020), 367, 390; s. insoweit Rz. 8.21.

Crezelius/B. Westermann | 339

§ 8 Rz. 8.31 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

II. Steuerfreie Sanierungserträge (§ 3a EStG) 1. Rechtsentwicklung (§ 3 Nr. 66 EStG a.F. und Sanierungserlass) 8.31

Vielfach werden einem (überschuldeten) Unternehmen von seinen Gläubigern die Schulden ganz oder teilweise erlassen, um den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Damit fällt auf der Passivseite des bilanzierenden Unternehmens eine Verbindlichkeit weg, so dass es buchmäßig zu einem Gewinn kommt. Früher war ein derartiger Sanierungsgewinn nach § 3 Nr. 66 EStG a.F. steuerbefreit. Infolge der Streichung der Norm ab dem Veranlagungszeitraum 1998 richtete sich die Behandlung von Sanierungsgewinnen nach Billigkeitserwägungen infolge des sog. Sanierungserlasses1. Mit Beschluss aus dem Jahr 2016 stellte der Große Senat des BFH die Unvereinbarkeit des Sanierungserlasses mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip fest, da es insoweit an einer hinreichenden gesetzmäßigen Rechtsgrundlage gefehlt habe2. Im Anschluss daran führte der Gesetzgeber durch das sog. Lizenzschrankengesetz vom 27.6.2017 § 3a EStG ein3, wonach nunmehr erneut Sanierungserträge unter bestimmten Voraussetzungen steuerfrei sind (s. dazu unter Rz. 8.38 ff.). Hinter den drei genannten Maßnahmen steht die gleiche Regelungsabsicht, nämlich die Annahme, dass eine Besteuerung des Sanierungsertrags deshalb unbillig ist, weil dem Unternehmen keine neuen Betriebsmittel zugeführt werden. Die Besteuerung des Sanierungsgewinns droht daher die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens auszulösen, wodurch ein Sanierungserfolg systematisch von vornherein erschwert würde. Bis zur Anwendung des neuen § 3a EStG ab dem 8.2.2017 ist der Sanierungserlass aufgrund des BMF-Schreibens v. 27.4.2017 weiterhin für Altfälle anwendbar4. S. ausführlich zum zeitlichen Anwendungsbereich unter Rz. 8.36.

8.32

In Anwendung des Sanierungserlasses waren bis zu dessen Aufhebung bei Sanierungsgewinnen steuerrechtliche Billigkeitsmaßnahmen im Veranlagungsverfahren möglich5. Dabei handelte es sich jedoch nicht um Maßnahmen materiellen Rechts, vielmehr kam nur die Steuerstundung oder der Steuererlass nach §§ 163, 222, 227 AO in Betracht. Für die Praxis ergaben sich daraus Schwierigkeiten, weil selbst dann, wenn ein Sanierungsgewinn gegeben war, sachliche Billigkeitsgründe vorliegen mussten. Die Billigkeitsmaßnahme selbst war zudem von einem Verwaltungsakt abhängig, so dass jedenfalls unmittelbar keine Konsequenzen für den Überschuldungsstatus zu ziehen waren. Anders formuliert: Solange der „Billigkeitsbescheid“ der Finanzverwaltung noch nicht existierte, musste in einem eventuellen Überschuldungsstatus eine Rückstellung für Steuern gebildet werden. Die Regelungen des Sanierungserlasses sind gegenwärtig nur noch für die Abwicklung von Altfällen relevant und sollen daher im Folgenden nur überblicksartig dargestellt werden.

8.33

Die Voraussetzungen des Sanierungserlasses6 knüpften, ebenso wie der heutige § 3a EStG, an das Vorliegen eines Sanierungsgewinns nach den früheren Voraussetzungen des § 3 Nr. 66 EStG a.F. an, also die Elemente der Sanierungsbedürftigkeit und Sanierungsfähigkeit des Be-

1 BMF v. 27.3.2003 – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240; zur Entwicklung Kanzler, FR 2003, 480. 2 BFH v. 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393 = GmbHR 2017, 310 (m. Anm. Hinder) = ZIP 2017, 338. 3 Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen vom 27.6.2017, BGBl. I 2017, 2074; vgl. die Synopse bei Sistermann/Beutel, DStR 2017, 1065. 4 BMF v. 27.4.2017 – IV C 6-S 2140/13/10003, 2017/0322100, BStBl. I 2017, 741. 5 BMF v. 27.3.2003 – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240. 6 BMF v. 27.3.2003 – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240 Rz. 4.

340 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.36 § 8

triebs, die Sanierungseignung der Maßnahme und die Sanierungsabsicht der Gläubiger1. Unklarheiten bei der Anwendung des Sanierungserlasses gab es insbesondere dann, wenn das Unternehmen nicht fortgeführt oder trotz der Sanierungsmaßnahme eingestellt werden sollte. In jedem Fall mussten Schulden für eine privilegierte Sanierung „betrieblichen Gründe“ erlassen werden2. Zusätzlich zu den traditionellen Voraussetzungen des Sanierungsgewinns nach § 3 Nr. 66 EStG a.F. verlangte die Finanzverwaltung, dass die Sanierungsgewinne zunächst mit allen denkbaren Verlusten sowie Verlustvorträgen und Verlustrückträgen des Steuerpflichtigen verrechnet werden3. Der danach verbleibende Betrag sollte ein Sanierungsgewinn sein, und nur die darauf entfallende Steuer sollte erlassen werden. Vor diesem Hintergrund war es empfehlenswert, Gewinne aus anderen Sanierungsmaßnahmen, beispielsweise Notverkäufen, vorzuziehen4.

2. Überblick und Allgemeines Nunmehr stellt § 3a EStG Sanierungserträge unter bestimmten – im Wesentlichen bereits soeben umrissenen – Voraussetzungen steuerfrei. Der zunächst geltende unionsrechtliche Inkrafttretungsvorbehalt wurde infolge eines „letter of comfort“ der EU-Kommission aufgehoben und die Regelung durch Art. 19 UStAVermG am 5.7.2017 nochmals rückwirkend in Kraft gesetzt5. Hieraus folgt für die Praxis, dass zwar jederzeit die beihilferechtliche Überprüfung der Norm möglich bleibt, der letter of comfort aber Vertrauensschutz der Steuerpflichtigen gegenüber einer Rückabwicklung i.S. des § 16 Abs. 3 BeihilfeVerfO begründet. Streitig ist, ob dies auch für Sanierungsmaßnahmen gilt, die vor Bekanntgabe des comfort letters verwirklicht wurden6. Ernsthafte Zweifel an der Unionsrechtswidrigkeit der Norm bestehen derzeit aber nicht.

8.34

§ 3a EStG differenziert zwischen der unternehmensbezogenen Sanierung, die in der Regel zur Steuerfreiheit der Sanierungserträge führt (§ 3a Abs. 1–4 EStG), und der unternehmerbezogenen Sanierung, die nur ausnahmsweise zur Steuerfreiheit der Sanierungserträge führt (§ 3a Abs. 5 EStG). Über § 8 Abs. 1 KStG gilt § 3a EStG auch für die Körperschaftsteuer von Kapitalgesellschaften/GmbHs. Die Steuerfreiheit wird systematisch durch das Abzugsverbot für Aufwendungen in wirtschaftlichen Zusammenhang zu den Sanierungserträgen nach § 3c Abs. 4 EStG flankiert. Verluste sind nach § 3a Abs. 3 Satz 2 EStG in Abzug zu bringen. Nach § 7 Abs. 1, 2 GewStG schlägt die Steuerfreiheit von Sanierungserträgen unter der Maßgabe von § 7b GewStG zudem auch auf die Ermittlung des Gewerbeertrags durch.

8.35

Gemäß § 52 Abs. 4a Satz 1 und Abs. 5 Satz 3 EStG ist § 3a EStG erstmals auf Schulden anzuwenden, die ganz oder teilweise nach dem 8.2.2017 erlassen wurden. Dies gilt nach § 52 Abs. 4a Satz 2 EStG nicht, wenn dem Steuerpflichtigen auf Antrag Billigkeitsmaßnahmen aus Gründen des Vertrauensschutzes für einen Sanierungsertrag auf Grundlage von abweichender Steuerfestsetzung (§ 163 Abs. 1 Satz 2 AO), einer Stundung (§ 222 AO) oder eines Erlasses (§ 227 AO) zu gewähren sind. Nach Satz 3 ist § 3a EStG auf Antrag auch auf einen Schuldenerlass vor dem 9.2.2017 anzuwenden. Die Vorschrift bezweckt Vertrauensschutz und effekti-

8.36

1 BFH v. 10.4.2003 – IV R 63/01, BStBl. II 2004, 9 = ZIP 2003, 1949; vgl. auch Crezelius, NZI 2006, 573. 2 BMF v. 27.3.2003 – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240 Rz. 2; vgl. Ebbinghaus/Neu, DB 2012, 2831. 3 BMF v. 27.3.2003 – IV A 6-S 2140-8/03, BStBl. I 2003, 240 Rz. 8. 4 Düll/Fuhrmann/Eberhard, DStR 2003, 862. 5 Ausführlich dazu Kanzler, NWB 2019, 626; vgl. dazu BT-Drucks. 19/5595, S. 92. 6 Verneinend Schönfeld/Ellenrieder, IStR 2018, 444, 448; a.A. Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 10.

Crezelius/B. Westermann | 341

§ 8 Rz. 8.36 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

ven Rechtsschutz1. Nach alledem besteht also ein zeitlich abgestufter Anwendungsbereich, wonach der Steuerpflichtige bei einem Schuldenerlass vor dem 9.2.2017 zur Anwendung des § 3a EStG optieren kann, wobei die Anwendung des Sanierungserlasses vorrangig ist. Für entsprechende Altfälle hat das FG Rheinland-Pfalz entschieden, dass im Billigkeitsverfahren keine Steuerfreiheit aufgrund des § 3a EStG erreicht werden kann2. Eine analoge Anwendung von § 3a EStG im Erhebungsverfahren kommt folglich nicht in Betracht3. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt war der Einkommensteuerbescheid aber auch bereits bestandskräftig gewesen, so dass keine Durchbrechung existierender Bescheide möglich ist4.

8.37

Ganz grundsätzlich hat der BFH bereits festgestellt, dass die Tatbestandsmerkmale der unternehmensbezogenen Sanierung § 3a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EStG durch die zu § 3 Nr. 66 EStG a.F. ergangene Rechtsprechung des BFH hinreichend geklärt sei5.

3. Tatbestand a) Eingangsvoraussetzung: Sanierungsertrag aa) Betriebsvermögensmehrung oder Betriebseinnahme aus Schuldenerlass

8.38

Das erste Tatbestandsmerkmal des in § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG legal definierten Sanierungsertrags als Eingangsvoraussetzung ist eine Betriebsvermögensmehrung oder eine Betriebseinnahme aus einem Schuldenerlass. Maßgeblich ist ein bilanzieller Buchgewinn, der kausal aus einer Sanierungsoperation entstanden ist. Das Tatbestandsmerkmal Schuldenerlass ist konsequenterweise ebenfalls bilanzrechtlich auszulegen. Hierzu ist hinsichtlich der einzelnen, denkbaren Sanierungsoptionen je nach bilanzrechtlicher Behandlung zu differenzieren. Der Gesetzgeber stellt klar, dass der Fiskus lediglich dann auf die Besteuerung eines Sanierungsertrags zu verzichten hat, wenn auch Gläubiger des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise auf Forderungen verzichten. Maßnahmen, wie Zuschüsse oder Stundungen sind somit von vornherein nicht privilegiert.

8.39

Erfasst ist etwa der zivilrechtliche Erlassvertrag (§ 397 Abs. 1 BGB), das negative Schuldanerkenntnis (§ 397 Abs. 2 BGB) sowie der Erlassverwaltungsakt, sog. Forderungsverzicht6. Es muss jeweils auf einen bestehenden, gegenwärtigen Anspruch der Gläubiger verzichtet werden. Auf die zivilrechtliche Qualifikation der Maßnahmen kommt es in Ansehung des Zwecks der Norm – Verschonung eines reinen Buchgewinns ohne Mittelzufluss – nicht an. Maßgeblich ist allein die bilanzielle Betrachtung und damit, ob die Maßnahme zu einer ertragswirksamen Ausbuchung der Verbindlichkeit führt7.

8.40

Folglich ist ein Verzicht gegen Besserungsverpflichtung/Besserungsschein unschädlich8. Dies lässt sich aus § 3c Abs 4 Satz 3 EStG ableiten. Hier kommt es womöglich zu einem späteren Wiederaufleben, falls sich das Unternehmen erholt. Dann erfolgt grundsätzlich eine Passivie1 Heuermann in Brandis/Heuermann, § 52 EStG Rz. 4a. 2 FG Rheinland-Pfalz v. 30.3.2021 – 5 K 1689/20, BB 2021, 1381 = GmbHR 2021, 895 m. Anm. Möller. 3 FG Rheinland-Pfalz v. 30.3.2021 – 5 K 1689/20, BB 2021, 1381 = NWB CAAAH-77548 m. Anm. Kanzler; kritisch: Eilers/Tiemann, Ubg 2020, 190, 195. 4 FG Münster v. 15.5.2019 – 13 K 2520/16 AO, juris Rz. 28 f. 5 BFH v. 27.11.2020 – X B 63/20, GmbHR 2021, 560. 6 Vgl. Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3a EStG Rz. 13; Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 20. 7 Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 187 ff. 8 Im Einzelnen Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 20.

342 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.43 § 8

rung von Fremdkapital zulasten des Eigenkapitals, so dass ein reiner, nicht ertragswirksamer Passivtausch vorliegt. War die Forderung aber nicht werthaltig, so korrespondiert der Sanierungsertrag mit einem späteren Aufwand in Höhe der abwesenden Werthaltigkeit (s. ausführlich Rz. 8.207 f.)1. Auch qualifizierte Rangrücktritte, bei denen eine Tilgung nur aus künftigen Gewinnen oder einem Liquidationsüberschuss erfolgt, gelten als Erlass, da die Verbindlichkeit nach § 5 Abs. 2a EStG bilanziell auszubuchen ist. Ein hinreichender Forderungsverzicht ist ebenfalls der Rückkauf von Darlehensforderungen unter dem Nennwert (sog. DebtBuy-Back) sowie die Umwandlung von Fremdkapital in Eigenkapitel (sog. Debt-to-EquitySwap), sofern hierdurch ein Buchgewinn entsteht. Dies ist der Fall, soweit die Forderung nicht mehr werthaltig ist. Ebenfalls ausreichend ist der Erlass bereits abgelaufener Warenverbindlichkeiten2. Abschließend gelten diese Grundsätze auch für die Umwandlung von Fremdkapital in Verbindlichkeiten aus Genussrechten (sog. Dept-Mezzanine-Swap). Die insolvenzrechtliche Situation, in der die jeweilige Maßnahme bzw. der Forderungsverzicht getroffen wird (etwa Insolvenzplanverfahren nach §§ 217 ff. InsO (s. Rz. 31.1 ff.), Sanierungsvergleiche nach §§ 94 ff. StaRUG (s. Rz. 10.291) ändert an dieser bilanziellen Betrachtung nichts, weshalb die aufgezählten Maßnahmen ebenfalls privilegiert sind.

8.41

Nicht ausreichend sind dagegen sämtliche Maßnahmen, die nicht zu einer Entlastung der Passivseite der Bilanz führen. Auf eine etwaige Betriebsvermögensmehrung kommt es nicht an3. Dies ist etwa bei einer gehemmten Durchsetzbarkeit einer Forderung, einer Stillhaltevereinbarung, Aufrechnungen oder einem Rangrücktritt anzunehmen, der nicht die Anforderungen von § 5 Abs. 2a EStG erfüllt. Auch eine anderweitige Steuerpflicht, etwa ein in einer ausländischen Freistellungsbetriebsstätte erzielter Sanierungsgewinn, erfüllt das Erlasserfordernis nicht4.

8.42

bb) Zum Zwecke der Sanierung und Nachweis der Sanierungsabsicht Das zweite Merkmal eines Sanierungsertrags ist, dass die Betriebsvermögensmehrung oder Betriebseinnahmen aus einem Schuldenerlass gemäß § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG zum Zwecke einer unternehmensbezogenen Sanierung im Sinne des Abs. 2 der Vorschrift erfolgen müssen. Folglich bedarf es eines von Absicht getragenen zweckgerichteten Verhaltens. Diese Sanierungsabsicht ist i.R.d. § 3a Abs. 2 EStG nachzuweisen. Der legaldefinierte Anknüpfungspunkt ist die unternehmensbezogene Sanierung, zu dessen Tatbestand der Nachweis der Sanierungsabsicht der Gläubiger zählt. Diese Systematik ist zirkelschlüssig. Grundsätzlich erfordert die Sanierungsabsicht, dass in einem Motivbündel jedenfalls mindestens auch erkennbare fremdnützige Motive des Gläubigers zutage treten5. Danebentretende – auch überwiegende eigennützige – Motive schaden nicht. Ein Indiz für eine Sanierungsabsicht ist etwa das Vorliegen eines Sanierungsplans6. Nach früherer Rechtsprechung zu § 3 Nr. 66 EStG a.F. konnte Sanierungsabsicht regelmäßig unterstellt werden, wenn sich an dem Schuldenerlass mehrere Gläubiger beteiligt haben7. 1 Vgl. BMF v. 4.6.2003 – IV A 2-S 2836-2/03, BStBl. I 2003, 366 Rz. 29. 2 Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3a EStG Rz. 13; Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 200 ff. 3 Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 209 ff. 4 Förster/Hechtner, DB 2017, 1536, 1540; Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 30; Seer in Kirchhof/Seer, § 3a EStG Rz. 30. 5 BFH v. 27.11.2020 – X B 63/20, GmbHR 2021, 560. 6 Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 238. 7 BFH v. 17.11.2004 – I R 11/04, BFH/NV 2005, 1027 m.w.N.; BFH v. 19.3.1993 – III R 79/91, BFH/ NV 1993, 536.

Crezelius/B. Westermann | 343

8.43

§ 8 Rz. 8.44 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

8.44

Ein bislang wenig behandeltes Problem ist die Frage, ob auch die Sanierung zum Zwecke der Liquidation durch § 3a EStG privilegiert ist, obwohl eine Betriebsfortführung nicht beabsichtigt ist. In Anwendung der älteren – zu § 3 Nr. 66 EStG a.F. ergangenen – Rechtsprechung, dürfte eine beabsichtigte Liquidation der Steuerfreiheit nicht entgegen stehen1. Dies ergibt sich auch aus dem Wortlaut des § 3a EStG, der gerade keine Absicht zur Betriebsfortführung verlangt. Auch ein systematischer Vergleich mit der Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG verdeutlicht, dass im Rahmen des § 3a EStG gerade nicht die wesentlichen Betriebsstrukturen zu erhalten sind. Wichtig ist damit allein die theoretische Überlebensfähigkeit, so dass erst eine Liquidation infolge Insolvenz die Anwendung von § 3a EStG vereitelt. In jedem Fall unschädlich ist eine nachträgliche Liquidationsabsicht.

8.45

Zu prüfen ist in jedem Fall die betriebliche Begründung des Schuldenerlasses. Der Erlass muss demnach betrieblich und darf nicht privat veranlasst sein. Aber auch gesellschaftsrechtlich veranlasste Erlasse, die zu einer verdeckten Einlage i.S. des § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG führen, sind nicht betrieblich veranlasst2. Zur verdeckten Einlage gelten die allgemeinen Grundsätze. Eine verdeckte (Sach-)Einlage liegt vor, wenn ein Gesellschafter oder eine ihm nahestehende Person der Kapitalgesellschaft außerhalb der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften Vermögensvorteile zuwendet, die ihren Ursprung im Gesellschafterverhältnis haben, d.h. ein Nichtgesellschafter sie der Gesellschaft bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns nicht eingeräumt hätte3. Vor diesem Hintergrund kann für die Zwecke des § 3a Abs. 1 EStG auch von einer betrieblichen Veranlassung ausgegangen werden, wenn der Erlass des Gesellschafters dem entspricht, was auch andere Gläubiger als Sanierungsbeitrag erbringen4. Liegt eine verdeckte Einlage vor, kommt es gemäß § 8 Abs. 3 Satz 3 KStG schon nicht zu einem Gewinn5. Daneben ist § 3a EStG hinsichtlich des nicht mehr werthaltigen Teils der erlassenen Forderung anwendbar (zu den Folgen auf Ebene des Anteilseigners s. unter Rz. 8.207 ff.). Eine typische Fallkonstellation ist auch die schuldbefreiende und regresslose Schuldübernahme (§ 415 BGB) durch einen Gesellschafter (sog. Debt-Push-Up). Hier ist § 3a Abs. 1 EStG dem Grunde anwendbar und zugleich eine verdeckte Einlage des Gesellschafters zu prüfen6.

b) Unternehmensbezogene Sanierung (§ 3a Abs. 1–4 EStG) aa) Legaldefinition (§ 3a Abs. 2 EStG)

8.46

Die unternehmensbezogene Sanierung ist in § 3a Abs. 2 EStG legal definiert und liegt dann vor, wenn der Steuerpflichtige für den Zeitpunkt des Schuldenerlasses die Sanierungsbedürftigkeit und die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, die Sanierungseignung des betrieblich begründeten Schuldenerlasses und die Sanierungsabsicht der Gläubiger nachweist. Diese Definition beruht auf der ehemaligen BFH-Rechtsprechung zu § 3 Nr. 66 EStG a.F., weshalb der BFH nun insoweit auch bei der Auslegung des § 3a Abs. 2 EStG auf ebendiese Rechtsprechung rekurriert. Bei der Auslegung der Begriffe Sanierungsbedürftigkeit, Sanierungsfähigkeit und Sanierungseignung bedarf es einer abwägenden betriebswirtschaftlichen Prognoseentschei1 Vgl. BFH v 19.3.1993 – III R 79/91, juris Rz. 22; Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 301. 2 Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 302. 3 Roser in Gosch, § 8 KStG Rz. 105; vgl. BFH v. 21.9.1989 – IV R 115/88, BStBl. II 1990, 86; R 8.9 KStR. 4 Seer in Kirchhof/Seer, § 3a EStG Rz. 25; a.A. Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 27. 5 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 = ZIP 1998, 471 = GmbHR 1997, 851; Kanzler in Kanzler/Kraft/Bäuml/Marx/Hechtner/Geserich, § 3a EStG Rz. 22. 6 Seer in Kirchhof/Seer, § 3a EStG Rz. 29.

344 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.49 § 8

dung, die später lediglich aus einer ex-ante-Perspektive überprüfbar ist1. Auch ohne ausdrückliche Vermutung im Gesetz dürfte das Vorliegen der Voraussetzungen bei einem bestehenden Sanierungs- oder Insolvenzplan vermutet werden2. bb) Sanierungsbedürftigkeit Betriebswirtschaftlich liegt eine Sanierungsbedürftigkeit vor, wenn das Unternehmen aufgrund der gegenwärtigen Ertrags- und Finanzlage ohne die Sanierung nicht fortgeführt werden kann. Maßgeblich ist dazu das Verhältnis liquider Mittel zur Höhe der Schuldenlast und der Gesamtleistungsfähigkeit des Unternehmens. Grundlage der Prognoseentscheidung ist die Frage, wie sich das Unternehmen ohne einen Forderungsverzicht entwickeln würde. Maßgeblich ist hier ebenfalls eine bilanzrechtliche, nicht insolvenzrechtliche Betrachtung. Die dargestellten Voraussetzungen liegen etwa vor, wenn Zahlungsunfähigkeit droht (§ 18 InsO), nicht aber zwangsläufig bei Überschuldung (§ 19 InsO), da eigene Umsätze sowie eine entsprechende Umsatz- und Bruttorendite einen Zusammenbruch des Unternehmens ausschließen können3. Hieran ändern auch insolvenzrechtliche Verfahren, wie etwa das Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO) (s. Rz. 35.1 ff.) zum Zwecke einer strategischen Insolvenz, nichts4. Die Sanierungsbedürftigkeit ist – neben der Sanierungsabsicht – zu vermuten, wenn sich mehrere Gläubiger an einer Sanierung beteiligen5.

8.47

cc) Sanierungsfähigkeit und Sanierungseignung Die beiden sich gegenseitig bedingenden Begriffe Sanierungsfähigkeit und Sanierungseignung brachte der BFH auf die gemeinsame Formel, dass der Schuldenerlass ein unverzichtbarer Teilbeitrag zur Verhinderung des Zusammenbruchs des Unternehmens und zur Wiederherstellung seiner (dauerhaften) Ertragsfähigkeit sein muss6. Bei fehlender Sanierungsfähigkeit ist die Maßnahme zugleich nicht zur Sanierung geeignet. Die Maßnahme muss geeignet sein, um das Überleben des Betriebs sicherzustellen, auch wenn das Unternehmen dann tatsächlich aufgegeben wird7. Dies wird bei Vereinbarungen mit allen Gläubigern, sog. Gesamtakkord, näherliegen als bei Einzelvereinbarungen mit einem einzigen Gläubiger. Wurde der Geschäftsbetrieb aber bereits auf Dauer im Zeitpunkt des Forderungsverzichts eingestellt, ist dieser nicht mehr geeignet das Unternehmen zu sanieren8.

8.48

c) Unternehmerbezogene Sanierung (§ 3a Abs. 5 EStG) Anders als die unternehmensbezogene Sanierung führt die unternehmerbezogene Sanierung nur ausnahmsweise zu einem steuerfreien Sanierungsertrag. Die unternehmerbezogene Sanierung ist ein Sanierungsertrag, der aufgrund der im Gesetz abschließend genannten unternehmerbezogenen Sanierungsmaßnahmen entstanden ist. Diese sind Restschuldbefreiungen (§§ 286 ff. InsO), Schuldenerlass aufgrund eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplans zur Vermeidung 1 2 3 4 5 6 7 8

So auch Hölzle, ZIP 2020, 301, 304; Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 23. Hölzle, ZIP 2020, 301, 304. BFH v. 14.3.1990 – I R 129/85, BFHE 161, 39; BStBl. II 1990, 955. Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 285; Seer in Kirchhof/Seer, § 3a EStG Rz. 20. BFH v. 14.3.1990 – I R 64/85, BStBl. II 1990, 810 = ZIP 1991, 948. BFH v. 22.1.1985 – VIII R 37/84, BFHE 143, 420 = BStBl. II 1985, 501. Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 301; vgl. BFH v 19.3.1993 – III R 79/91, juris Rz. 22. BFH v. 7.2.1985 – IV R 177/83, BFHE 143, 531 = BStBl. II 1985, 504 = GmbHR 1986, 99 = ZIP 1986, 102.

Crezelius/B. Westermann | 345

8.49

§ 8 Rz. 8.49 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

eines Verbraucherinsolvenzverfahrens (§§ 304 ff. InsO) oder einem im Verbraucherinsolvenzverfahren zugestimmten bzw. gerichtlich beschlossenen Schuldenbereinigungsplans. Diese Regelungen knüpfen ausschließlich an natürliche Personen an, weshalb eine unternehmerbezogene Sanierung bei Kapitalgesellschaften/GmbHs nicht in Betracht kommt1.

4. Rechtsfolgen a) Steuerfreiheit und Abzugsverbot (§ 3c Abs. 4 EStG) 8.50

Die – aufgrund der Nachweispflicht – lediglich theoretisch zwingende Rechtsfolge des § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG ist die vorläufige Steuerfreiheit der Sanierungserträge bei der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer (§ 8 Abs. 1 KStG) und Gewerbesteuer (§ 7 Abs. 1, 2 GewStG). Vorläufig ist die Steuerfreiheit deshalb, weil die definitive Steuerbefreiung erst das Produkt der nachfolgend dargestellten Berechnung ist2.

8.51

Nach § 3a Abs. 3 Satz 1 mindern die nicht abziehbaren Beträge i.S. des § 3c Abs. 4 EStG den Sanierungsertrag. Gemäß § 3c Abs. 4 Satz 1 EStG dürfen Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben, die mit einem steuerfreien Sanierungsertrag i.S. des § 3a EStG in unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang stehen, nicht abgezogen werden. Dies betrifft etwa konkreten Beratungsaufwand oder Kosten für ein Sanierungsgutachten. Entsprechende Beträge sind ggf. außerbilanziell hinzuzurechnen3. Die konkrete Zurechnung des Aufwands sollte durch eine entsprechend sorgfältige Buchhaltung sichergestellt werden. Auf den Veranlagungszeitraum kommt es dabei ausdrücklich nicht an4. Daher ist der gesamte Aufwand für den Sanierungsertrag gegen dessen Nutzen abzuwägen, oder später ggf. ein Antrag auf Steuerfreiheit des erzielten Sanierungsertrags zu unterlassen, um den Betriebsausgabenabzug zu erhalten.

8.52

Das Abzugsverbot gilt gemäß § 3c Abs. 4 Satz 2 EStG nicht, soweit Betriebsvermögensminderungen oder Betriebsausgaben zur Erhöhung von Verlustvorträgen geführt haben, die nach Maßgabe des § 3a Abs. 3 EStG entfallen. Andernfalls würde der Aufwand doppelt auf den Sanierungsertrag angerechnet. Nach § 3c Abs. 4 Satz 4 EStG gilt das Abzugsverbot des Satz 1 in den Folgejahren nur insoweit, wie noch verbleibender Sanierungsertrag i.S. des § 3a Abs. 3 Satz 4 EStG vorhanden ist. Ist dieser aufgebraucht, entfällt das Abzugsverbot. Im Umkehrschluss dürfte das Abzugsverbot im Sanierungsjahr auch dann greifen, wenn der tatbestandliche Betriebsausgabenabzug den Sanierungsertrag übersteigt5. Dann sollte in der Praxis auf einen geeigneten Nachweis nach § 3a EStG verzichtet werden.

b) Verbrauch von Verlusten, Vorträgen und Steuerminderungspotenzialen (§ 3a Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG) 8.53

Nach § 3a Abs. 3 Satz 2 EStG mindert der geminderte Sanierungsertrag die Verrechnungspotenziale aus den Vorjahren, dem Sanierungs- und dem Folgejahr in einer gesetzlich festgelegten Reihenfolge durch Verrechnung auf Ebene der steuerpflichtigen GmbH. Ausweislich R 8.1 KStR sind bis auf § 2b EStG a.F. sämtliche Regelungen für die GmbH beachtlich. Die Vorschrift bezweckt die Vermeidung von Doppelbegünstigungen durch die Beschränkung der

1 2 3 4 5

Krumm in Brandis/Heuermann, § 3a EStG Rz. 14. Kanzler, NWB 2019, 626, 640. Levedag in Schmidt, § 3a EStG Rz. 31. BT-Drucks. 18/12128, S. 33. Kanzler, NWB 2019, 626, 643.

346 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.56 § 8

Sanierungsprivilegien auf das Notwendige. Das Produkt dieser Rechnung ist der verbleibende Sanierungsertrag (§ 3a Abs. 3 Satz 4 EStG), der dann definitiv der Steuerbefreiung unterliegt. Die Verluste gehen gemäß § 3a Abs. 3 Satz 5 EStG unter. Die Aufzählung ist abschließend; eine analoge Anwendung auf andere Minderungspotenziale ist nicht möglich1. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob Gewinne aus anderen Sanierungsmaßnahmen, etwa Notverkäufen, vorgezogen werden können2. Für die steuerpflichtige Kapitalgesellschaft/GmbH ist außerdem zu beachten, dass das KStG und das GewStG spezielle Folgeregelungen zu den Verrechnungsvorschriften des § 3a Abs. 3 EStG enthalten. So werden etwa Verlustvorträge zusammengefasster Betriebe gewerblicher Art gemäß § 8 Abs. 8 Satz 6 KStG in die Verlustverrechnung mit einbezogen. In entsprechender Anwendung von § 3a und § 3c Abs. 4 EStG ist § 3a Abs. 3 Satz 2 EStG auf die einzelnen Sparten einer Eigengesellschaft anzuwenden, wobei es für § 3a Abs. 2 EStG nach § 8 Abs. 9 Satz 9 Halbs. 2 KStG auf die Kapitalgesellschaft und nicht auf die Sparte ankommt3. Außerdem ist bei Körperschaften/GmbHs gemäß § 8c Abs. 2 KStG vorrangig § 8c Abs. 1 KStG anzuwenden, so dass es zur Einschränkung des Verlustabzugs bei Körperschaften kommt (s. hierzu im Einzelnen Rz. 8.121 ff.) Darüber hinaus ist gemäß § 8d Abs. 1 Satz 9 KStG der fortführungsgebundene Verlustvortrag i.S. des § 8d KStG vorrangig vor dem allgemeinen Verlustvortrag i.S. des § 10d Abs. 4 EStG zu mindern.

8.54

Bei einer körperschaftsteuerrechtlichen Organschaft, bei der etwa eine GmbH nach § 17 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 1 KStG Organgesellschaft ist, ist nach § 15 Satz 1 Nr. 1 und 1a KStG auf den verbleibenden Sanierungsertrag § 3a Abs. 3 Satz 2, 3 und 5 EStG beim Organträger anzuwenden. Auf diese Weise soll trotz der Zurechnung der Steuerfreiheit zum Organträger eine Doppelbegünstigung vermieden werden. Problematisch weitreichend ist § 15 Satz 1 Nr. 1a Satz 3 KStG, wonach die Verlustverrechnung auch dann gelten soll, wenn im Sanierungsjahr keine organschaftliche Zurechnung i.S. des § 14 Abs. 1 KStG besteht, aber eine solche innerhalb der vorangegangenen fünf Jahre bestand. Diese weitreichenden Rechtsfolgen entbehren jeder Rechtfertigung, wenn etwa der Organträger seine Beteiligung an der Organgesellschaft veräußert hat und etwaige Verluste nachträglich aufgelaufen sind. Die Vorschrift ist daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass jedenfalls ein Bezug des Verlusts zu der Organgesellschaft bestehen muss4. Ungeachtet dessen sollte in der Praxis eine entsprechende Steuerklausel in den Anteilskaufvertrag der Organgesellschaft aufgenommen werden5.

8.55

Im Gewerbesteuerrecht werden durch § 7b GewStG die Grundsätze der § 3a und § 3c Abs. 4 EStG (Rechtsgrundverweis) auf die Ermittlung des maßgebenden Gewerbeertrags übertragen6. Besonderheiten ergeben sich aber gemäß § 7b Abs. 2 GewStG dahingehend, dass die Privilegierung von Sanierungsgewinnen in die gewerbesteuerrechtliche Verlustverrechnungsdogmatik eingepasst wird7. Daher mindert der verbleibende geminderte Sanierungsertrag nacheinander die in § 7b Abs. 2 Satz 1 GewStG aufgeführten Beträge. Anders als der Wortlaut des § 7b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GewStG („ungeachtet des § 10a Satz 2 GewStG“) nahelegt, soll die

8.56

1 2 3 4 5 6

Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 375. Vgl. Düll/Fuhrmann/Eberhard, DStR 2003, 862. Micker in BeckOK/KStG, § 8 KStG Rz. 1893 f. Neumann in Gosch, § 15 KStG Rz. 15c. Walter in Bott/Walter, § 15 KStG Rz. 17; Weiss, GmbH-StB 2018, 58, 61. Kanzler in Kanzler/Kraft/Bäuml/Marx/Hechtner/Geserich, § 3a EStG Rz. 127; Sistermann/Beutel, DStR 2017, 1065, 1068. 7 Vgl. dazu OFD NRW v. 14.1.2019, NWB SAAAH-06937.

Crezelius/B. Westermann | 347

§ 8 Rz. 8.56 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Verrechnung ausweislich der Gesetzesbegründung nicht auf 60 v.H. begrenzt sein, da andernfalls ein Teil des Verlustes erhalten bliebe1. Hervorzuheben ist ferner § 7b Abs 2 Satz 3 GewStG, wonach der verbleibende Sanierungsertrag um den Zinsvortrag und EBITDA-Vortrag nach § 4h EStG zu kürzen ist. Die Regelung bezweckt einen Gleichlauf zum EStG bzw. KStG2. Aufgrund der Verweisung in § 10a Satz 10 GewStG sind auch im Gewerbesteuerrecht § 8c und § 8d KStG vorrangig. Die Ausführungen zur körperschaftsteuerlichen Organschaft gelten in Ansehung des § 7b Abs. 3 GewStG entsprechend.

8.57

Nach § 3a Abs. 3 Satz 3 EStG kommt es zu weiteren Minderungen, wenn eine der steuerpflichtigen GmbH nahestehende Person die erlassenen Schulden innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren vor dem Schuldenerlass auf das zu sanierende Unternehmen übertragen hat, soweit das Verrechnungspotenzial in diesem Zeitpunkt schon angelegt war3. Maßgeblich für den Begriff der Übertragung ist eine bilanzielle Betrachtung. Anteilseigner sind neben schuldrechtlich oder rein tatsächlich mit der Gesellschaft verbundenen Subjekten nahestehende Personen i.S. der Norm, sofern die Schulden ohne wirtschaftlichen Grund übertragen werden4. Die korrespondierende Regelung im Gewerbesteuerrecht ist § 7b Abs. 2 Satz 2 GewStG.

c) Ausübung steuerlicher Wahlrechte (§ 3a Abs. 1 Sätze 2 und 3 EStG) 8.58

Eine Folge der Steuerfreiheit des § 3a Abs. 1 Satz 1 EStG ist, dass nach Satz 2 in dem Sanierungsjahr und im Folgejahr im zu sanierenden Unternehmen steuerliche Wahlrechte gewinnmindernd auszuüben sind. Technisch kommt es dadurch zu einer Hebung stiller Lasten, die die steuerlichen Verluste in dem Sanierungsjahr erhöht und die Steuerfreiheit auf das erforderliche Maß beschränkt5. Der ultima ratio-Normzweck erfasst sämtliche Gewinnermittlungswahlrechte und nicht lediglich solche mit Subventionszweck6. Als Regelbeispiel führt der Wortlaut der Norm nur die Teilwertabschreibung nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 und Nr. 2 Satz 2 EStG an. Für die GmbH insbesondere relevant sind daneben alle gesetzlichen, bilanziellen Ansatz- und Bewertungswahlrechte (§ 5 Abs. 1 Satz 2 EStG), wie etwa Sofort- und Poolabschreibungen (§ 6 Abs. 2, 2a EStG), Gewinnübertragungen (§ 6b Abs. 1 und 3; § 6c EStG), die Wahl der AfA-Methode (§ 7 EStG) und die Wahl erhöhter Abschreibungen sowie Sonderabschreibungen (§ 7a, §§ 7g ff. EStG)7. Nichtgesetzliche, sich aus Veraltungsanordnungen ergebende Wahlrechte sind dagegen nicht von der Wahlpflicht umfasst.

5. Verfahrensrecht und Folgen für die Beratung 8.59

Die Sanierungsabsicht ist ebenso wie die übrigen materiellen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 EStG vom Steuerpflichtigen nachzuweisen. Diese Nachweispflicht modifiziert die – eigentlich zwingende – Norm faktisch hin zu einem Wahlrecht, welches in der Praxis ausgeübt wird, indem der Steuerpflichtige bewusst unzureichende Nachweise erbringt8. Diese Auslegung ist 1 Vgl. BT-Drucks. 18/12128, S. 36; Roser in Lenski/Steinberg, § 7b GewStG Rz. 29. 2 Roser in Lenski/Steinberg, § 7b GewStG Rz. 32. 3 Vgl. BT-Drucks. 18/12128, S. 32; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3a EStG Rz. 43; Sistermann/Beutel, DStR 2017, 1065, 1068. 4 Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 3a EStG Rz. 43. 5 Vgl. BT-Drucks. 18/12128, S. 31; Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 256; Desens, FR 2017, 981, 988; Seer in Kirchhof/Seer, § 3a EStG Rz. 15 f. 6 So auch Kanzler, NWB 2019, 626, 641 m.w.N.; a.A. Förster/Hechtner, DB 2017, 1536, 1542; Sistermann/Beutel, DStR 2017, 1065, 1067. 7 Vgl. Kanzler, NWB 2019, 626, 641. 8 Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 314 m.w.N.

348 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.72 § 8

auch durch das Telos der Regelung – Steuererleichterung zwecks Sanierung – geboten. Denn andernfalls drohen hier nachteilige wirtschaftliche Ergebnisse. Ein entsprechender Verzicht auf einen umfassenden Nachweis kann in den folgenden Konstellationen zweckmäßig sein: – Betriebsvermögensminderungen und Betriebsausgaben, die dem Abzugsverbot nach § 3a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Abs. 4 EStG unterliegen, übersteigen den Freibetrag nach § 3a Abs. 1 EStG1; – Verlustvorträge decken den Sanierungsertrag; oder – der Wahlrechtszwang in § 3a Abs. 1 Satz 2 und 3 EStG soll umgangen werden2. S. im Einzelnen zu den Rechtsfolgen und der Berechnung des definitiven Sanierungsertrags unter Rz. 8.53 ff. Verzichtet der Steuerpflichtige aber auf den Nachweis, dürfte auch keine Billigkeitsmaßnahme in Betracht kommen3. Um den Vorteil aus § 3a Abs. 1 EStG in Fällen einer unternehmensbezogenen Sanierung realisieren zu können, ist eine gemeinsame Schuldenerlassvereinbarung mit mehreren Gläubigern der steuerpflichtigen Gesellschaft (sog. Gesamtakkord) ratsam. Neben der Anwendung von § 3a EStG im Festsetzungsverfahren dürften im Erhebungsverfahren nach wie vor Billigkeitsmaßnahmen möglich sein, da die Anwendung gesetzlicher Regelungen (§§ 163, 222, 227 AO) nicht der Disposition der Verwaltung unterliegt. Einstweilen frei.

8.60

8.61–8.70

III. Zinsschranke (§ 4h EStG und § 8a KStG) Mit der Zinsschrankenregelung des § 4h EStG, die gemäß § 8a KStG auch für GmbHs/Kapitalgesellschaften gilt, findet ein erheblicher Eingriff in das steuerrechtliche Nettoprinzip statt. Nach der Grundidee der Zinsschranke sind betrieblich veranlasste Schuldzinsen prinzipiell nur bis zur Höhe von 30 v.H. des Gewinns – bzw. für GmbHs/Kapitalgesellschaften des gemäß § 8a Abs. 1 Satz 1 und 2 KStG maßgeblichen Einkommens – vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (EBITDA) als Betriebsausgaben abziehbar4. Zweck der Vorschrift ist die Vermeidung einer Konzentration von Eigenkapital in einem Niedrigsteuerstaat bei gleichzeitiger Begründung von Zinsaufwand in einem Staat mit einem hohen Steuerniveau5. Auf Grund der Zinsschranke nichtabziehbare Schuldzinsen werden in die steuerlichen Folgeperioden vorgetragen, wobei für GmbHs/Kapitalgesellschaften die §§ 8c, 8d KStG entsprechend gelten.

8.71

Die Zinsschranke wird betriebsbezogen angewendet (§ 4h Abs. 1 Satz 1 EStG). Dabei bleibt im Wortlaut des Gesetzes offen, was unter Betrieb zu verstehen ist. Maßgeblich dürfte der Betriebsbegriff der § 6 Abs. 3, § 16 EStG, §§ 20, 24 UmwStG sein. Eine Kapitalgesellschaft hat stets nur einen Betrieb6.

8.72

1 Vgl. ausführlich Skauradszun/Kwauka, DStR 2020, 953, 955. 2 Kanzler, NWB 2019, 626, 639; Aufzählung der Einzelfälle bei Bleschick in BeckOK/EStG, § 3a EStG Rz. 256. 3 Kanzler, NWB 2019, 626, 640. 4 Näher BMF v. 4.7.2008 – IV C 7-S 2742-a/07/10001, BStBl. I 2008, 718; Rödder/Stangl, DStR 2007, 479; Loschelder in Schmidt, § 4h EStG passim; Töben/Fischer, BB 2007, 974. 5 Vgl. ausführlich Loewens in Brandis/Heuermann, § 4h EStG Rz. 12. 6 BFH v. 9.8.1989 – X R 130/87, BStBl. II 1989, 901.

Crezelius/B. Westermann | 349

§ 8 Rz. 8.73 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

8.73

Die Zinsschrankenregelung kennt grundsätzlich drei Ausnahmen (§ 4h Abs. 2 EStG): – Ausgenommen von der Abzugsbegrenzung sind Betriebe, bei denen der Überschuss der Schuldzinsen über die Erträge weniger als 3.000.000 Euro beträgt. – Trotz Überschreitens der Freigrenze unterliegen die Betriebe nicht dem § 4h EStG, die nicht oder nur anteilsmäßig zu einem Konzern gehören, wenn denn keine schädliche Gesellschafter-Fremdfinanzierung nach § 8a Abs. 2 KStG vorliegt. – Auch bei konzernierten Betrieben wird die Zinsschranke nicht angewendet, wenn deren Eigenkapitalquote die durchschnittliche Eigenkapitalquote des Konzerns nicht unterschreitet; bei Kapitalgesellschaften darf aber auch hier kein Fall des § 8a Abs. 3 KStG gegeben sein.

8.74

§ 4h Abs. 1 EStG erfasst alle betrieblichen Zinsaufwendungen, soweit sie die in derselben Periode erzielten Zinserträge übersteigen. Zu den Zinsaufwendungen gehören alle Vergütungen für Fremdkapital, die den maßgeblichen Gewinn gemindert haben (§ 4h Abs. 3 Satz 2 EStG). Die nach § 4h EStG nicht abziehbaren Zinsen werden vorgetragen und nach § 4h Abs. 4 EStG durch das Betriebsfinanzamt gesondert festgestellt. In den Vortragsjahren können die vorgetragenen Zinsen, soweit sie zusammen mit den in diesen Jahren angefallenen Schuldzinsen die Zinserträge im Vortragsjahr übersteigen, wiederum nur in den Grenzen des § 4h EStG genutzt werden. Bei GmbHs/Kapitalgesellschaften sind gemäß § 8a Abs. 1 Satz 3 EStG zusätzlich die Einschränkungen der §§ 8c, 8d KStG mit der Maßgabe zu beachten, dass stille Reserven nur zu berücksichtigen sind, soweit sie die nach § 8c Abs. 1 Satz 5 und § 8d Abs. 2 Satz 1 KStG abziehbaren nicht genutzten Verluste übersteigen.

8.75

Nach § 4h Abs. 5 EStG kommt es in Sachverhalten der Aufgabe oder der Übertragung des Betriebs zu einem Untergang des Zinsvortrags, also zu einer endgültigen Vernichtung des steuersystematisch eigentlich zulässigen Verlustvortrags.

8.76

Die vorstehend skizzierten Zinsschrankenregeln bereiten speziell bei Krisenunternehmen Probleme1. Handelt es sich um ein sanierungsbedürftiges Konzernunternehmen mit einer ertragsstarken Muttergesellschaft, liegt die Eigenkapitalquote des Tochterunternehmens regelmäßig unter der Konzerneigenkapitalquote, so dass die Ausnahmeregel (Rz. 8.73) nicht greift. Und weiterhin: Da Krisenunternehmen in aller Regel eine hohe Verschuldungsquote aufweisen, wird der negative Zinssaldo häufig die Freigrenze von 3.000.000 Euro übersteigen2. Zusätzlich: § 4h EStG hat auch zur Folge, dass bei Aufgabe oder Übertragung des Betriebs nach § 8a Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG ein nicht verbrauchter Zinsvortrag grundsätzlich untergeht3 (s. ausführlich zum sog. Mantelkauf unter Rz. 8.121 ff.). Nach Auffassung der Finanzverwaltung4 sollen bei unterjährig eintretenden Ereignissen, die den teilweisen oder vollständigen Untergang der Vorträge zur Folge haben, die Zinsvorträge nicht mit den zum Zeitpunkt des schädlichen Ereignisses aufgelaufenen positiven Erträgen verrechnet werden können. Dies steht im Gegensatz zur Auffassung des BFH, der – insoweit vergleichbar – bei einem im Grundsatz schädlichen unterjährigen Beteiligungserwerb nach § 8c Abs. 1 KStG entschieden hat, dass ein Verlustvortrag nach § 10d Abs. 2 EStG mit den bis zu dem Zeitpunkt des Anteilseignerwechsels entstandenen Gewinnen verrechnet werden kann5. 1 2 3 4

Näher Eickhorst, BB 2007, 1707. Herzig/Bohn, DB 2007, 8. Näher Loschelder in Schmidt, § 4h EStG Rz. 1, 32. FinMin. Schleswig-Holstein v. 27.6.2012 – VI 3011-S 2741-109, DB 2012, 1897; dagegen Liekenbrock, DB 2012, 2488; vgl. Loschelder in Schmidt, § 4h EStG Rz. 32 m.w.N. 5 BFH v. 30.11.2011 – I R 14/11, BStBl. II 2012, 360 = GmbHR 2012, 410 m. Anm. Suchanek.

350 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.84 § 8

Für Fälle der Übertragung ist für die hier interessierenden Fälle von Unternehmenssanierungen auf die Sanierungsklausel des § 8c Abs. 1a KStG hinzuweisen, die über § 8a Abs. 1 Satz 3 KStG Anwendung findet. Wird eine i.S. des § 8c Abs. 1 KStG qualifizierte Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft/GmbH zum Zwecke der Sanierung des Geschäftsbetriebs bei Erhaltung der wesentlichen Betriebsstrukturen übertragen, kommt es nicht zum Verlust des Zinsvortrags (s. ausführlich zu den Voraussetzungen der Sanierungsklausel unter Rz. 8.143 ff.). Daneben besteht in entsprechender Anwendung des § 8d KStG bei Fortführung des Geschäftsbetriebs auf Antrag die Möglichkeit, den Zinsvortrag als sog. fortführungsgebundenen Zinsvortrag zu erhalten. Der fortführungsgebundene Zinsvortrag ist vorrangig vor dem nicht fortführungsgebundenen Zinsvortrag abzuziehen (§ 8a Abs. 1 Satz 3, § 8d Abs. 1 Satz 8 KStG). Allein der fortführungsgebundene Zinsvortrag erlischt unter den Voraussetzungen der § 8a Abs. 1 Satz 3, § 8d Abs. 2 KStG1. Einstweilen frei.

8.77

8.78–8.80

IV. Kapitalerhöhung und Kapitalherabsetzung 1. Kapitalerhöhung a) Grundsätze Eine GmbH kann ihr Stammkapital (Nennkapital) entweder durch Einlagen ihrer Anteilseigner oder aus eigenen, vorhandenen Mitteln erhöhen. Je nachdem, welcher Weg im Einzelfall gewählt wird, können sich unterschiedliche Konsequenzen auch für das Eigenkapital der Gesellschaft und die steuerrechtliche Behandlung der Anteilseigner ergeben. Handelt es sich um eine Kapitalerhöhung, dann kommt es zu einer Erhöhung des Nennkapitals, ohne dass sich körperschaftsteuerrechtliche Konsequenzen ergeben. Es handelt sich um einen steuerrechtlich erfolgsneutralen Vorgang. Dies gilt sowohl für die effektive Kapitalerhöhung durch Einlagen als auch für die nominelle Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln.

8.81

Eine unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaft hat die nicht in das Nennkapital geleisteten Einlagen, mithin die handelsrechtlichen Kapitalrücklagen, dem steuerrechtlichen Einlagekonto zuzuschreiben (§ 27 Abs. 1 Satz 1 KStG). Der Bestand des Einlagekontos wird gesondert festgestellt. Dieses Einlagekonto ist grundsätzlich keine steuerrechtliche Sonderrechnung, vielmehr wird es regelmäßig mit der handelsrechtlichen Kapitalrücklage des § 272 Abs. 2 HGB übereinstimmen2.

8.82

All dies ist materiell-rechtlich einsichtig, weil der Betrag einer Stammkapitalerhöhung nicht für Ausschüttungen verwendet werden kann und der in die Kapitalrücklage geleistete Betrag (gleichfalls) kein von der Kapitalgesellschaft verdientes Einkommen darstellt, mithin beide Größen auf der Ebene der Gesellschaft körperschaftsteuerrechtlich ohne Auswirkungen sein müssen.

8.83

Was die Ebene des Anteilseigners angeht, sind die im Zuge einer Kapitalerhöhung geleisteten Einlagen zunächst ohne ertragsteuerrechtliche Auswirkungen. Handelt es sich um eine (traditionell) steuerverstrickte Beteiligung, mithin um einen GmbH-Geschäftsanteil in einem ande-

8.84

1 Loewens in Brandis/Heuermann, § 4h EStG Rz. 12c f. 2 Näher und zu Ausnahmen Dötsch/Krämer/Werner in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 27 KStG Rz. 35.

Crezelius/B. Westermann | 351

§ 8 Rz. 8.84 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

ren Betriebsvermögen oder um eine qualifizierte Beteiligung nach § 17 EStG, dann kommt es insoweit zu Anschaffungskosten, die einen späteren Veräußerungsgewinn mindern oder einen späteren Veräußerungsverlust erhöhen1. Barkapitalerhöhungen führen in Höhe der übernommenen Stammeinlagen, eventuell zuzüglich Agio, zu nachträglichen Anschaffungskosten. Dies ergibt sich für nach § 17 EStG qualifizierte Anteile im Privatvermögen nunmehr auch ausdrücklich aus § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 1 und Satz 5 EStG. § 17 Abs. 2a EStG gilt auch für andere Fälle, insbesondere verdeckte Einlagen, Darlehensverluste sowie Ausfälle von Bürgschaftsregressforderungen (s. hierzu im Einzelnen unter Rz. 8.201 ff.). Bei Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln sind die Anschaffungskosten für die Altanteile auf diese und die neuen Anteile aufzuteilen. Diese Grundsätze gelten entsprechend für Beteiligungen, die von § 20 Abs. 2 EStG erfasst werden. Gemäß § 20 Abs. 8 EStG ist § 17 EStG, soweit sein Anwendungsbereich reicht, vorrangig2.

8.85

In jedem Fall sollten die Anschaffungskosten des jeweiligen Geschäftsanteils festgehalten werden, da es in Zukunft im Zuge einer steuerrechtlichen Zusammenrechnung (§ 17 Abs. 1 Satz 4 EStG) von GmbH-Geschäftsanteilen zu einer qualifizierten Beteiligung des bislang nur unwesentlich, also weniger als 1 v.H., Beteiligten kommen kann, beispielsweise durch einen Erbfall. In einer derartigen Konstellation sind die Geschäftsanteile mit der Folge steuerverstrickt, dass die ursprünglichen Anschaffungskosten der vorher unwesentlichen Beteiligung im Fall eines Veräußerungsgewinns oder eines Veräußerungsverlusts nach den Regeln des § 17 EStG erheblich sind.

8.86

Liegt es so, dass bezüglich der GmbH eine steuerverstrickte Beteiligung nach § 17 EStG oder nach § 22 UmwStG vorliegt, dann können durch eine Kapitalerhöhung gegen Bareinlage die alten Anteile verwässert werden. Nach der Rechtsprechung des BFH ist das Überspringen stiller Reserven nicht als Gewinnrealisierung aufzufassen3. Soweit stille Reserven auf die neuen Anteile übergehen, gelten diese als partiell steuerverstrickt. Diese Mitverstrickung von Anteilen ergibt sich für die Gründung bzw. die Kapitalerhöhung gegen Sacheinlagen/Anteilstausch ausdrücklich aus § 22 Abs. 7 UmwStG, sog. derivative sperrfristbehaftete Anteile4.

b) Schenkungsteuer 8.87

Kommt es im Zuge einer Sanierung der Kapitalgesellschaft nicht zu einer (technischen) Kapitalerhöhung, werden vielmehr nur Leistungen in das Vermögen der GmbH erbracht, die auf der Passivseite der Bilanz als Kapitalrücklage nach § 272 Abs. 2 HGB ausgewiesen werden, dann ist der schenkungsteuerrechtliche Sondertatbestand des § 7 Abs. 8 ErbStG zu beachten. Als Schenkung gilt demnach auch die Werterhöhung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, die eine an der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar beteiligte natürliche Person durch die Leistung einer anderen Person an die Gesellschaft erlangt. Freigebig sind auch Zuwendungen zwischen Kapitalgesellschaften, wenn sie in der Absicht getätigt werden, Gesellschafter zu bereichern, und soweit an diesen Gesellschaften nicht unmittelbar oder mittelbar dieselben Gesellschafter zu gleichen Teilen beteiligt sind. Schenkungssteuerrechtlich ist die GmbH/Kapitalgesellschaft also ebenfalls intransparent. § 7 Abs. 8 Satz 1 ErbStG ist eine verobjektivierte Fiktion, so dass es im Grundtatbestand auf eine Bereicherungsabsicht nicht ankommt. Hat die Leistung in die Kapitalrücklage demnach zur Folge, dass es zu einer Wert1 2 3 4

Vgl. Gosch in Kirchhof/Seer, § 17 EStG Rz. 87 ff. Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 194 m.w.N. BFH v. 10.11.1992 – VIII R 40/89, BStBl. II 1994, 222 = GmbHR 1994, 271. Ausführlich dazu Ott, DStR 2021, 897, 898.

352 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.89 § 8

erhöhung in der Beteiligung eines Mitgesellschafters kommt, dann löst dies Schenkungsteuer aus! Dies gilt auch für typische Sanierungskonstellationen. Die Finanzverwaltung hat unlängst erkannt, dass der Wortlaut des § 7 Abs. 8 ErbStG zu weit reicht1. Die Verwaltungsanweisung enthält gesellschaftsrechtliche Lösungsvorschläge, wonach der Anteilsinhaber zusätzliche Rechte in der Gesellschaft als Gegenleistung erhält2. Für die Praxis kann § 7 Abs. 8 ErbStG dadurch vermieden werden, dass eine „schuldrechtlich gebundene Kapitalrücklage“ vereinbart wird, und zwar in der Weise, dass im Fall der Auflösung der Kapitalrücklage der zuvor geleistete Betrag an denjenigen Gesellschafter ausgekehrt wird, der die Rücklage erbracht hat3. In dieser Variante tritt keine Werterhöhung in der Beteiligung des Mitgesellschafters ein, so dass § 7 Abs. 8 ErbStG schon vom Wortlaut her nicht gegeben ist4. Zu beachten sind aber die hieraus resultierenden ertragsteuerlichen Folgen für den Anteilseigner5. Im älteren Schrifttum6 wird geltend gemacht, dass ein Anteilseigner unter fremdüblichen Bedingungen keine disquotale Sanierungsleistung erbringen werde. Das ist unzutreffend, weil die Praxis zeigt, dass häufig nur ein Gesellschafter Leistungen in die Kapitalrücklage erbringt, um die Liquidität der Kapitalgesellschaft zu gewährleisten. In der Praxis sind zudem auch die Leistung als Stammkapitalerhöhung regelmäßig nicht gewünscht, weil die spätere Kapitalherabsetzung (§§ 58 ff. GmbHG) komplizierter durchzuführen ist als die Auflösung einer Kapitalrücklage. Plausibel ist nach alldem eine restriktive Auslegung von § 7 Abs. 8 ErbStG7, soweit der wirtschaftliche Kontext und die Zielrichtung der Leistung nicht in der Bereicherung eines Mitgesellschafters zu sehen sind.

c) Verwendung von Gesellschafterdarlehen aa) Tausch von Aktiva und Passiva Eine Sondersituation ergibt sich (auch) aus steuerrechtlicher Sicht, soweit eine Kapitalerhöhung mit Gesellschafterdarlehen (eines Anteilseigners der GmbH) vorgenommen wird. Die handelsbilanzrechtliche und steuerbilanzielle Ausgangssituation ist die, dass auf der Passivseite der Bilanz der GmbH das Darlehen eines Gesellschafters als Fremdkapital ausgewiesen ist. Wenn der tatsächliche Wert des Gesellschafterdarlehens den Nominalbetrag der von dem betreffenden Gesellschafter im Zuge der Kapitalerhöhung übernommenen Einlage entspricht, dann kommt es bei der GmbH aus bilanzieller Sicht zu einem erfolgsneutralen Tausch von Passiva. Eine Fremdverbindlichkeit fällt weg, und im Gegenzug erhöht sich im gleichen Umfang das Nennkapital der GmbH. Das für Ausschüttungen zur Verfügung stehende Eigenkapital der GmbH wird nicht berührt, da auf Grund der Kapitalerhöhung eine Zuordnung zum Nennkapital erfolgt.

8.88

Ist die im Zuge der Kapitalerhöhung eingelegte Sacheinlage (Gesellschafterdarlehen) überbewertet worden, handelt es sich also um eine Differenz zwischen dem wahren Wert der Darlehensforderung im Zeitpunkt der Anmeldung der Kapitalerhöhung im Handelsregister und einem höheren Nennwert der übernommenen Stammeinlage, dann bleibt die Einlageverpflichtung des Anteilseigners als Bareinlageverpflichtung bestehen. Werden auf Grund dieser Differenzhaftung Bareinlagen durch den Gesellschafter geleistet, dann handelt es sich aus

8.89

1 2 3 4 5 6 7

R E 7.5. Abs. 11 ErbStR; vgl. auch gleichlautender Ländererlass v. 14.3.2012, BStBl. I 2012, 331. R E 7.5. Abs. 11 Satz 8 ErbStR; vgl. auch Ott, DStZ 2020, 735, 747. Näher Priester in GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 293. Vgl. auch Ott, DStR 2021, 897, 899. Eingehend Ott, DStR 2021, 897, 899. Van Lishaut/Ebber/Schmitz, Ubg 2012, 1. So Viskorf, ZEV 2012, 442.

Crezelius/B. Westermann | 353

§ 8 Rz. 8.89 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

steuerrechtlicher Sicht gleichfalls um Leistungen auf das Nennkapital. Sowohl auf der Ebene der GmbH als auch auf der der Anteilseigner ist dies ein erfolgsneutraler Vorgang, der das körperschaftsteuerrechtliche Eigenkapital nicht berührt.

8.90

Auf der Ebene eines bilanzierenden Anteilseigners handelt es sich um einen ebenfalls erfolgsneutralen Aktivtausch, weil die Darlehensforderung gegenüber der GmbH erlischt und an ihre Stelle der aus der Kapitalerhöhung resultierende GmbH-Geschäftsanteil tritt1. Handelt es sich in der Person des GmbH-Gesellschafters um eine steuerverstrickte Beteiligung, dann erhöht sich insoweit das Volumen der Anschaffungskosten. Wird auf Grund der Kapitalerhöhung ein neuer GmbH-Geschäftsanteil gebildet, dann entsprechen die steuerrechtlich erheblichen Anschaffungskosten dem vormaligen Wert des Darlehens, welches zur Kapitalerhöhung verwendet worden ist. Es kommt zur Einlage der Forderung, so dass im Anwendungsbereich des § 17 EStG, also bei einer qualifizierten Beteiligung im Privatvermögen, nachträgliche Anschaffungskosten nach § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 1 Alt. 1 EStG entstehen. bb) Qualifizierte Beteiligung im Privatvermögen (§ 17 Abs. 2a EStG n.F.)

8.91

Bei § 17 Abs. 2a EStG handelt es sich um ein klassisches Nichtanwendungsgesetz2, dass die Anwendung der BFH-Rechtsprechung3 verhindern soll, wonach Aufwendungen aus Finanzierungshilfen grundsätzlich nicht mehr zu Anschaffungskosten der Beteiligung führten4. Die Anschaffungskosten sind nach § 17 Abs. 2a Satz 2 EStG als Aufwendungen definiert, die geleistet werden, um die Anteile i.S. des § 17 Abs. 1 EStG zu erwerben. Nach § 17 Abs. 2a Satz 3 EStG fallen hierunter auch nachträgliche Anschaffungskosten. Die Norm enthält zugleich auch Regelbeispiele. Der Grundfall sind die in § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 1 EStG erwähnten offenen und verdeckten Einlagen. Insoweit gelten die bereits dargestellten Grundsätze (s. Rz. 8.84).

8.92

Ausfälle von BürgschaftsregressforderungenEin Verlustabzug nach § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 2 EStG setzt voraus, dass das Darlehen bei Gewährung oder das Stehenlassen in der Krise gesellschaftsrechtlich veranlasst war. Eine Krise i.S. der Norm liegt vor, wenn ein fremder Dritter keinen Kredit mehr zu marktüblichen Bedingungen gewähren würde und ohne Kapitalzufuhr das Unternehmen liquidiert werden müsste5. Insolvenzreife ist nicht erforderlich6. § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 3 EStG erfasst die Ausfälle von Bürgschaftsregressforderungen und vergleichbaren Forderungen – etwa Verpfändung, Grundschuld oder eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme nach §§ 69, 34 AO – soweit die Hingabe oder das Stehenlassen der betreffenden Sicherheit gesellschaftsrechtlich veranlasst war7.

8.93

In noch offenen Fällen kann die rückwirkende Anwendung des § 17 Abs. 2a EStG vor dem 31.7.2019 beantragt werden (§ 52 Abs. 25a Satz 2 EStG)8.

1 BFH v. 25.1.1984 – I R 183/81, BStBl. II 1984, 422 = GmbHR 1984, 914; BFH v. 11.9.1991 – XI R 15/90, BStBl. II 1992, 404 = GmbHR 1992, 547. 2 Gesetz zur steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12.12.2019, BGBl. I 2019, 2451. 3 BFH v. 11.7.2017 – IX R 36/15, BStBl. II 2019, 208 = GmbHR 2017, 1214 = ZIP 2017, 1905. 4 BT-Drucks. 19/13436, S. 111; s. zur historischen Entwicklung Weber-Grellet, DB 2021, 81. 5 BMF v. 21.10.2010 – IV C 6-S 2244/08/10001, BStBl. I 2010, 832. 6 Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 189 f. 7 FG Düsseldorf v. 7.12.1995 – 10 K 5373/91 E, BeckRS 1995, 30822110; BFH v. 15.5.2006 – VIII B 186/04, GmbHR 2006, 834; FG Düsseldorf v. 9.12.1987 – VII 389/82 E, GmbHR 1988, 369. 8 Vgl. auch Ott, StuB 2020, 85.

354 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.97 § 8

Ein Problem bei Sanierungen stellt sich dann, wenn die Darlehensforderung, auf die zum Zwecke der Kapitalerhöhung verzichtet werden soll, – wie in der Krise regelmäßig – aus der Sicht des Gesellschafters nicht mehr vollwertig ist, weil sich die GmbH beispielsweise kurz vor der Überschuldung befindet. Nicht geregelt ist nämlich die Höhe des Verlustabzugs. Eine Auffassung möchte nur den niedrigen gemeinen Wert berücksichtigen und die Differenz zum Nennwert nach § 20 EStG erfassen1. Die Gegenauffassung berücksichtigt den Ausfall stehen gelassener Darlehen zum Nennwert2. Letzteres scheint im Hinblick auf den Regelbeispielcharakter des § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 2 EStG und die Konkurrenzregel in § 20 Abs. 8 EStG vorzugswürdig. Liegen die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2a EStG aber nicht vor, ist hinsichtlich der Darlehensforderung § 20 EStG zu prüfen. Die vollständige oder teilweise Uneinbringlichkeit einer Kapitalforderung i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG führt demnach gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Satz 2 und § 20 Abs. 4 EStG zu einem steuerlich anzuerkennenden Veräußerungsverlust. Dann ist auch ein (freiwilliger) Verzicht unschädlich3.

8.94

Zu beachten sind die umfangreichen Verlustnutzungsbeschränkungen des § 20 Abs. 6 EStG (s. Rz. 8.14). Die Norm gilt gemäß § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 32d Abs. 2 Satz 2 EStG nicht, wenn der Anteilseigner mehr als 10 v.H. an der GmbH beteiligt ist. Infolge des JStG 20204 reicht die Ausnahme zudem nur soweit, wie die den Kapitalerträgen entsprechenden Aufwendungen beim Schuldner Betriebsausgaben oder Werbungskosten im Zusammenhang mit Einkünften sind, die der inländischen Besteuerung unterliegen5. Die Verlustnutzungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG lässt sich mithin umgehen, indem die qualifizierte Beteiligung von einer Holdinggesellschaft gehalten wird, während der mittelbar beteiligte Gesellschafter als privater Darlehensgeber auftritt (vgl. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 Buchst. b Satz 2 EStG)6.

8.95

Unabhängig davon ist gesellschaftsrechtlich der Einlagewert nur in Höhe des werthaltigen Teils anzunehmen. In Höhe des erlassenen nichtwerthaltigen Teils der Forderung ergibt sich ein bilanzieller Ertrag, der nach § 3a EStG zu beurteilen ist (s. Rz. 8.38 ff.).

8.96

cc) Beteiligungen im Betriebsvermögen Ist der Anteilseigner seinerseits eine Körperschaft, dann ist nach § 8b Abs. 3 Satz 4 ff. KStG7 das Verlustausgleichsverbot des § 8b Abs. 3 Satz 2 KStG konstitutiv auf gesellschaftsrechtlich veranlasste Darlehen und Sicherheiten erweitert, die im Zusammenhang mit den in § 8b Abs. 2 KStG genannten Anteilen entstehen8. Hierdurch ist eine körperschaftsteuerrechtliche Berücksichtigung einer Gewinnminderung auf gesellschaftsrechtlich veranlasste Darlehen und Sicherheiten nicht möglich. Eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung wird bei Darlehen, die der zu mehr als 25 v.H. beteiligte Gesellschafter oder eine ihm nahestehende Person an die Gesellschaft gibt, vermutet. Allerdings besteht die Möglichkeit des Gegenbeweises durch Drittvergleich (§ 8b Abs. 3 Satz 6 KStG). 1 Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 190. 2 Demuth, KÖSDI 2020, 21771 Rz. 19; Levedag, GmbHR 2021, 14, 20; Ott, StuB 2020, 85, 93. 3 BFH v. 6.8.2019 – VIII R 18/16, BStBl. 2020 II, 833 = GmbHR 2020, 111 m. Anm. Levedag = ZIP 2019, 2252; OFD Frankfurt am Main v. 27.8.2021 – S 2244 A-37-St 519, FMNR519310021; vgl. auch BMF v. 3.6.2021 – IV C 1-S 2252/19/10003:002, 2021/0005928, BStBl. I 2021, 723 Rz. 61. 4 Jahressteuergesetz 2020 vom 21.12.2020, BStBl. I 2020, 3096. 5 Vgl. Ott, DStR 2020, 2337. 6 Ott, StuB 2020, 85, 92. 7 Ausführlich Nöcker in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8b KStG Rz. 110 ff. 8 Rengers in Brandis/Heuermann, § 8b KStG Rz. 280.

Crezelius/B. Westermann | 355

8.97

§ 8 Rz. 8.98 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

8.98

Handelt es sich um ein Darlehen, welches von einem betrieblich beteiligten Einkommensteuersubjekt ausgereicht worden ist (Betriebsvermögen), so ist nach § 3c Abs. 2 i.V.m. § 3 Nr. 40 Buchst. c EStG das Teilabzugsverfahren entsprechend anzuwenden1. § 3c Abs. 2 Satz 2 ff. EStG erfasst ebenso wie § 8b Abs. 3 Satz 4 ff. KStG Gesellschafterdarlehen, die ein betrieblich beteiligter Gesellschafter ausgereicht hat2. Im Einzelfall kommt es darauf an, ob ein fremder Dritter das Darlehen ebenfalls gewährt oder nicht zurückgefordert hätte; nur dann greift das Teilabzugsverfahren ein (§ 3c Abs. 2 Satz 3 EStG). Im Übrigen werden auch Nutzungsüberlassungen erfasst (§ 3c Abs. 2 Satz 6 EStG). Im Unterschied zu § 8b Abs. 3 Satz 5 KStG sind allerdings dem Gesellschafter nahestehende Personen nicht in den Anwendungsbereich des § 3c Abs. 2 EStG einbezogen.

d) Maßnahmen nach dem ESUG, insbes. Genussrechte 8.99

Die zuvor dargestellte Dogmatik gilt auch für Maßnahmen die auf dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)3 beruhen. Nach § 225a Abs. 2 Satz 1 InsO können im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens mit dem Insolvenzplan Forderungen der Gläubiger in Mitgliedschaftsrechte an einer Kapitalgesellschaft umgewandelt werden, sog. Debt-Equity-Swap4 (s. Rz. 14.63 ff.). Der Insolvenzplan kann also eine Kapitalherabsetzung oder Kapitalerhöhung, die Leistung von Sacheinlagen, den Ausschluss von Bezugsrechten oder die Zahlung von Abfindungen an Ausscheidende vorsehen (§ 225a Abs. 2 Satz 3 InsO). Aufgrund der Konfusion von Verbindlichkeit (der Kapitalgesellschaft) und Forderung (des bisherigen Gläubigers) bei sanierungsbedürftigen Kapitalgesellschaften entsteht ein Ertrag in Höhe des wertlosen Teils der umstrukturierten Forderung. Im Ergebnis behandelt das Steuerrecht einen Debt-Equity-Swap also wie einen Forderungsverzicht eines Gesellschafters5.

8.100

Eine besondere Variante hierbei ist der sog. Debt-Mezzanine-Swap. Hier wird die bisherige Verbindlichkeit des Unternehmens durch Änderung der Kautelen in ein Genussrecht oder ein vergleichbares mezzanines Instrument umgewandelt, ohne dass eine Beteiligung am Liquidationserlös eingeräumt wird. Auf diese Weise kann das schuldrechtliche Finanzierungsinstrument, trotz handelsbilanzieller Erfassung als Eigenkapital, steuerbilanziell als Fremdkapital behandelt werden. Zweck dieser Variante ist es, die Voraussetzungen des § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG, der auf den Liquidationserlös abstellt, zu vermeiden. Hierdurch wären Zahlungen auf das Genussrecht abzugsfähige Betriebsausgaben6.

8.101

Die Finanzverwaltung sprach sich in der Vergangenheit gegen diese Gestaltung aus und versagte ihre steuerliche Anerkennung, da eine handelsrechtliche Umqualifizierung von Eigenkapital auch steuerrechtlich entsprechend gewürdigt werden müsse7. § 8 Abs. 3 Satz 2 KStG enthalte demnach keine Aussage zur steuerbilanzrechtlichen Behandlung eines Genussrechts. Das Maßgeblichkeitsprinzip führe auch steuerbilanziell zur Umqualifizierung in Eigenkapital. Der hieraus resultierende Ertrag sei also bei fehlender Werthaltigkeit der Forderung (des bisherigen Gläubigers) nicht durch den Abzug einer verdeckten Einlage kompensierbar. Hier1 2 3 4

BGBl. I 2014, 2417. Valta in Brandis/Heuermann, § 3c EStG Rz. 61; kritisch Ortmann-Babel/Gauß, DB 2015, 14. BGBl. I 2011, 2582. Dazu Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632; Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 693; Schneider/Höpfner, BB 2012, 87. 5 Vgl. BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 = GmbHR 1997, 851 = ZIP 1998, 471. 6 Vgl. auch Kubik/Münch, BB 2021, 1387, 1390. 7 OFD NRW v. 12.5.2016 – S 2742-2016/0009-St 131, DB 2016, 1407; OFD Rheinland v. 14.12.2011 – Kurzinfo KSt Nr. 56/2011, DB 2012, 21; kritisch Kroener/Momen, DB 2012, 829.

356 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.105 § 8

gegen regte sich Kritik in der Literatur, da die Auffassung der Finanzverwaltung die Versagung des Betriebsausgabenabzugs für Zahlungen auf Genussrechte zur Folge gehabt hätte1. Die Finanzverwaltung änderte daraufhin ihre Auffassung, so dass Vergütungen auf Genussrechtskapital als Betriebsausgaben vorbehaltlich § 8 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 KStG abzugsfähig sind. Die Bilanzierung erfolge aber nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung im Einzelfall2. Damit hat die Finanzverwaltung den schuldrechtlichen Charakter der Genussrechte anerkannt3. In beiden Fallgruppen wird auf Ebene der Kapitalgesellschaft/GmbH ein bilanzieller Ertrag in Höhe des nicht werthaltigen Teils der umstrukturierten Forderung erzielt. Diese Erträge sind mithin unter den Voraussetzungen von § 3a EStG steuerfrei (s. Rz. 8.38 ff.).

8.102

2. Kapitalherabsetzung Die steuerrechtliche Behandlung einer Kapitalherabsetzung auf Ebene der GmbH (§§ 58 ff. GmbHG) richtet sich danach, ob das heruntergesetzte Kapital von den Gesellschaftern im Wege der Bareinlage oder der Sacheinlage aufgebracht worden oder ob es durch die Umwandlung von Rücklagen entstanden war, d.h. von der GmbH erwirtschaftet wurde. Ist das Stammkapital ausschließlich durch Bareinlage oder Sacheinlage aufgebracht, dann gehört das Nennkapital nicht zum ausschüttungsfähigen Eigenkapital. Infolgedessen vollzieht sich in diesen Konstellationen die Kapitalherabsetzung allein auf der Vermögensebene und wirkt sich nicht auf das steuerpflichtige Einkommen der Gesellschaft aus. Eine Ausnahme gibt es aber bei Kapitalrückzahlungen in Sachwertform, soweit dabei wegen der Aufgabe der Qualität als Betriebsvermögen der Kapitalgesellschaft stille Reserven aufgedeckt werden4.

8.103

Die Rückzahlung der von den Gesellschaftern geleisteten Einlagen ist bei den Anteilseignern prinzipiell keine steuerpflichtige Einnahme. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG formuliert das so, dass es nicht zu Kapitalvermögenseinkünften kommt, soweit die Bezüge des Anteilseigners aus Ausschüttungen stammen, die aus dem steuerrechtlichen Einlagekonto des § 27 KStG stammen. Das ist in der Sache zutreffend, weil es sich insoweit nicht um eine Bereicherung des Anteilseigners handeln kann. Andererseits unterliegt die Auskehrung im Nennkapital umgewandelter Gewinnrücklagen nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 EStG der Besteuerung. Dabei ist dann aber wieder danach zu differenzieren, ob der Empfänger dieser Bezüge in den Anwendungsbereich des Abgeltungsteuersystems oder unter die Regeln des Teileinkünfteverfahrens fällt (s. Rz. 8.4 ff.). Bei Vorliegen einer qualifizierten Beteiligung i.S. des § 17 Abs. 1 EStG ist eine Kapitalherabsetzung auf Ebene des Anteilsinhabers nach § 17 Abs. 4 Satz 1 Var. 2 EStG subsidiär steuerpflichtig5. Im Zuge dessen greift auch § 17 Abs. 2a EStG.

8.104

Nach alledem sind Einlagen von Gewinnrücklagen abzugrenzen. U.a. deshalb wird das Einlagekonto nach § 27 KStG geführt und die Umwandlung von Rücklagen in Nennkapital nach § 28 KStG gesondert dokumentiert. Diese separate Erfassung der Einlagen und der in Nennkapital umgewandelten Gewinnrücklagen ist erforderlich, weil Gewinnausschüttungen, und

8.105

1 Etwa Hennrichs/Schlotter, DB 2016, 2072 ff.; Stegemann, DStR 2016, 2151 ff.; Briese, GmbHR 2016, 1338 ff. 2 FM NRW v. 18.7.2018 – S 2133-000036-V B 1, DB 2018, 1762; vgl. hierzu auch Helios, RdF 2018, 267. 3 Vgl. Kubik/Münch, BB 2021, 1387, 1390. 4 Vgl. schon Winter, GmbHR 1993, 577. 5 Vgl. Trossen in BeckOK/EStG, § 17 EStG Rz. 568 ff.; Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 230 ff.

Crezelius/B. Westermann | 357

§ 8 Rz. 8.105 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

zwar unabhängig davon, ob dieser Betrag bei der GmbH steuerpflichtig oder steuerbefreit ist, beim Anteilseigner einkommensteuerpflichtig ist bzw. unter den Voraussetzungen des § 8b KStG steuerfrei gestellt wird1.

8.106–8.120

Einstweilen frei.

V. Sog. Mantelkauf (§ 8c KStG) 1. Allgemeines a) Überblick 8.121

Steuerrechtlich kann der Erwerb von GmbH-Geschäftsanteilen u.a. auch im Hinblick auf den ertragsteuerrechtlichen Verlustabzug von Interesse sein. Da der Verlustabzug nach § 8 Abs. 1 KStG, § 10d EStG infolge des Trennungsprinzips nur demjenigen Steuersubjekt zusteht, welches den Verlust erlitten hat, sind die Verluste einer Kapitalgesellschaft nicht mehr ausgleichsfähig, wenn sie ihren Betrieb einstellt und liquidiert wird. Diese Konsequenz könnte vermieden werden, wenn der Mantel einer liquidationsreifen Körperschaft erworben wird. Der Mantelkäufer könnte die Kapitalgesellschaft finanziell wiederbeleben, einen gewinnbringenden Betrieb in sie einbringen und die Altverluste mit den in Zukunft anfallenden Gewinnen ausgleichen.

8.122

Gemäß § 8c Abs. 1 KStG gilt grundsätzlich, dass es bei einem sog. schädlichen Beteiligungserwerb, also einem mittelbaren oder unmittelbaren Erwerb von mehr als 50 v.H. des gezeichneten Kapitals, der Mitgliedschaftsrechte, der Beteiligungsrechte oder der Stimmrechte an einer Körperschaft durch einen Erwerber oder eine diesem nahestehenden Person innerhalb von fünf Jahren oder einem vergleichbaren Sachverhalt, zu einem vollständigen Untergang der nicht ausgeglichenen oder abgezogenen negativen Einkünfte (nicht genutzte Verluste) kommt. Die Norm bezweckt die Verhinderung von Einkäufen von Verlust-Mantelgesellschaften, die dann steuerwirksam in ertragreichen Betrieben genutzt werden können. Das mit den Verlusten verbundene Steuerminderungspotenzial soll zumindest im Grundsatz den vormaligen wirtschaftlich Berechtigten der Verlust-Mantelgesellschaft zugeordnet bleiben. Ausgenommen sind neben Konzernumstrukturierungen und dem Hebungspotenzial stiller Reserven auch Sanierungsfälle (vgl. § 8c Abs. 1a KStG).

8.123

Maßgebliches Kriterium dieser Grundregel ist demnach zunächst die unmittelbare oder mittelbare Übertragung des gezeichneten Kapitals oder der Stimmrechte an einer GmbH. Liegt ein solcher schädlicher Beteiligungserwerb vor, dann geht der Verlust vollständig unter.

8.124

Beispiel: A ist im Jahre 2019 Alleingesellschafter der X-GmbH. Er überträgt in jedem Januar der Folgejahre 20 v.H. seiner Anteile an den Neugesellschafter B. Im Dezember 2021 wird zudem eine Kapitalerhöhung durchgeführt, so dass B Ende 2021 in Höhe von 60 v.H. an der X-GmbH beteiligt ist. Am ersten der Veräußerung vorausgehenden Stichtag existiert ein Verlust von 800.000 Euro. Jährlich wird ein Verlust von 100.000 Euro erwirtschaftet. Im Dezember 2021 liegt eine schädliche Veräußerung, in Form der Kapitalerhöhung (§ 8c Abs. 1 Satz 3 KStG), vor, so dass der zum 31.12.2020 festgestellte Verlust von 900.000 Euro vollständig untergeht. Der X-GmbH bleibt lediglich die Option, einen Antrag nach § 8d Abs. 1 KStG zu stellen (s. Rz. 8.148 f.).

1 Vgl. Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 58 GmbHG Rz. 49.

358 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.128 § 8

b) Entwicklung und verfassungsrechtliche Bedenken Bei dem Regelungsgehalt des § 8c KStG handelt es sich um eine maximalinvasive und undifferenzierte schematische Anordnung mit dem rechtspolitischen Zweck der Vermeidung von Missbrauchskonstellationen. Die Norm begegnet, ebenso wie die Vorgängernormen § 8 Abs. 4 KStG a.F. und § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG a.F., verfassungsrechtlichen Bedenken. Das BVerfG erklärte § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG a.F. in der Fassung von 2007 wegen Verstoßes gegen das Willkürverbot im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG für verfassungswidrig1. Nach der damaligen Regelung drohte ein (anteiliger) Verlustuntergang bereits ab einem Anteilserwerb von 25 v.H. Der Gesetzgeber schuf daraufhin durch das JStG 20182 nach § 34 Abs. 6 Satz 1 KStG rückwirkend § 8c KStG in der gegenwärtig geltenden Fassung. Auch diese Vorschrift (§ 8c Abs. 1 Satz 2 KStG a.F.) begegnet indes verfassungsrechtlichen Bedenken und ist daher ebenfalls bereits dem BVerfG zur Überprüfung vorgelegt worden3.

8.125

Auch in der nunmehr geltenden Fassung führt § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG im Regelfall bei einem Erwerb von 50 v.H. der Beteiligungen an einer Körperschaft zu einem Verlustuntergang. Die Norm dürfte einen Verstoß gegen das Nettoprinzip als Ausprägung des Leistungsfähigkeitsprinzips darstellen, so dass insoweit der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt sein dürfte. Denn nach wie vor ist die unterschiedliche Behandlung von Erwerben unterhalb der genannten Schwelle mit solchen oberhalb der Schwelle von 50 v.H. rechtfertigungsbedürftig. Zum Teil wird nun hinsichtlich der Zweckbestimmung differenziert: Jedenfalls dem Grundtatbestand des § 8c Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 KStG wird jeglicher Missbrauchsvermeidungszweck aberkannt, wobei § 8c Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 KStG eine Missbrauchsvermeidungsvorschrift im Hinblick auf die erste Alternative sein soll4. Diese unions- und verfassungsrechtlich intendierte Betrachtung verkennt aber, dass die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung einen Zweck erfordert, da das bloße Fiskalinteresse gerade nicht hierzu geeignet ist5. Unabhängig davon, ob die Begründungen also vorgeschoben sind, sind sie nicht geeignet, die in § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG angelegte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

8.126

Die dargestellten verfassungsrechtlichen Zweifel werden noch durch das Zusammenspiel mit der Mindestbesteuerung der § 8 Abs. 1 KStG, § 10d Abs. 2 EStG verstärkt. Nach der Mindestbesteuerung ist eine unbeschränkte Verlustverrechnung mit einem Verlustvortrag nur bis zur Höhe von 1.000.000 Euro (für die Veranlagungszeiträume 2020 und 2021 10.000.000 Euro) möglich. Das übersteigende Volumen kann nur noch bis zu 60 v.H. mit Verlusten aus vergangenen Zeiträumen verrechnet werden. Hat eine GmbH also in der Vergangenheit vor dem Hintergrund der Mindestbesteuerungsregel keinen unbeschränkten Verlustausgleich vornehmen können, dann kann dieser künstlich gestreckte Verlustvortrag nach den körperschaftsteuerrechtlichen Sonderregeln des alten und neuen Rechts vollkommen untergehen.

8.127

Auf der anderen Seite ist der neugeschaffene Ausnahmetatbestand der Sanierungsklausel (§ 8c Abs. 1a KStG) sowie der Möglichkeit eines fortführungsgebundenen Verlustvortrags nach

8.128

1 BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11, BStBl. II 2017, 1082 Rz. 151; vgl. auch Hey, BB 2007, 1303; Lenz/ Ribbrock, BB 2007, 587; Suchanek/Herbst, FR 2007, 863 = ZIP 2017, 1009 = GmbHR 2017, 710. 2 JStG 2018 vom 11.12.2018, BStBl. I 2018, 2338. 3 Anhängiges Verfahren beim BVerfG unter Az. 2 BvL 19/17; Vorlage durch FG Hamburg v. 29.8.2017 – 2 K 245/17, DStR 2017, 2377 m. Anm. Kessler/Egelhof/Probst; vgl. auch Kessler/Egelhof/Probst, DStR 2017, 1289. 4 Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 2; vgl. auch BT-Drucks. 16/4841, S. 75. 5 St. Rspr. des BVerfG, s. statt vieler BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvL 13/09, BStBl. II 2011, 318 Rz. 36 = BB 2010, 2157.

Crezelius/B. Westermann | 359

§ 8 Rz. 8.128 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

§ 8d KStG zu würdigen, da es insoweit zu einer Härtefallverhütung kommt. Auch nach der Einführung des § 8d KStG führt aber § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG etwa in Organträger- und Mitunternehmerfällen zu einem nicht gerechtfertigten Verlustuntergang, so dass § 8d KStG die Verfassungswidrigkeit nicht behebt1. Für schädliche Beteiligungserwerbe von über 50 v.H. nach dem 31.12.2015 stellt sich diese Frage auch rückwirkend2.

2. Regel: Untergang nicht genutzter Verluste bei schädlichem Beteiligungserwerb (§ 8c Abs. 1 KStG) a) Tatbestand aa) Erwerber und nahestehende Personen

8.129

Nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG muss die (schädliche) Übertragung an einen Erwerber oder eine diesem nahestehende Person erfolgen. Dabei ist das Kriterium des Nahestehens nur im Verhältnis der Erwerber zueinander, nicht im Verhältnis des bisherigen Gesellschafters zu dem Erwerber oder den Erwerbern maßgebend3. Umstritten ist, ob der Begriff der nahestehenden Person nach den Kriterien des § 1 Abs. 2 AStG oder nach der Dogmatik der Figur der verdeckten Gewinnausschüttung zu bestimmen ist4. Mittlerweile wird soweit ersichtlich überwiegend auf die Dogmatik zur verdeckten Gewinnausschüttung zurückgegriffen5. Überzeugender ist nach hier vertretener Auffassung aber eine normspezifische Auslegung, die letztlich auf die Merkmale des § 1 Abs. 2 AStG abstellt, weil Sinn und Zweck der Figur der verdeckten Gewinnausschüttung mit § 8c KStG nichts zu tun haben6. Nahestehende Personen nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG sind damit alle natürlichen und juristischen Personen sowie Personengesellschaften, die in einem Näheverhältnis stehen – etwa Angehörige i.S. des § 15 AO7. In verfassungskonformer Auslegung ist im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen, dass eine potenzielle Zusammenrechnung der Anteile von Ehegatten um das Erfordernis eines gleichgerichteten Interesses (vgl. § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG) zu ergänzen ist8.

8.130

Da es nahe liegt, dass beispielsweise vier einander nicht nahestehende Erwerber zu gleichen Teilen 50 v.H. eine Kapitalgesellschaft mit Verlustvortrag erwerben, um § 8c KStG zu vermeiden, sollen derartige Strukturen nach § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG zusammengefasst werden9. Voraussetzung muss aber sein, dass der Erwerb der Anteile auf Grund gleichgerichteter Interessen erfolgt; in diesem Zusammenhang verweist die Gesetzesbegründung auf den Umstand, dass die Kapitalgesellschaft von den Erwerbern gemeinsam beherrscht wird. Dabei sollte es allerdings auf das tatsächliche Beherrschen ankommen, nicht auf die reine Möglichkeit10. Für 1 Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 6; Kessler/Egelhof/Probst, DStR 2017, 1289, 1295. 2 Vgl. Pohl in BeckOK/KStG, § 8d KStG Rz. 36 m.w.N.; Gosch, GmbHR 2017, 695. 3 Beuß, DB 2007, 1549. 4 Vgl. Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 72. 5 BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 26 unter Verweis auf H 8.5 Nahestehende Person – Kreis der nahestehenden Personen KStH 2015; a.A. aus der älteren Literatur Hinder/Hentschel, GmbHR 2015, 16, 19; Lang, DStZ 2007, 652, 653; Meyer, BB 2007, 1415, 1418; Neumann, GmbH-StB 2007, 249. 6 Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 73. 7 Einzelheiten bei Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 26. 8 Vgl. Brandis in Brandis/Heuermann, § 8c KStG Rz. 52; Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 73; vgl. auch BVerfG v. 3.10.1989 – 1 BvL 78/86, 1 BvL 79/86, BVerfGE 81, 1, 6. 9 BT-Drucks. 16/5491, S. 22; auch Lang, DStZ 2007, 652, 653 f. 10 Brandis in Brandis/Heuermann, § 8c KStG Rz. 52.

360 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.133 § 8

diese Lösung spricht schon die Überlegung, dass bei einer Erwerbergruppe, die sich untereinander fremd ist und nicht nahesteht, bei einem Erwerb von mehr als 50 v.H. immer die faktische Möglichkeit besteht, die Gesellschaft zu beherrschen, so dass § 8c KStG immer erfüllt wäre. Nach Auffassung der Finanzverwaltung1 müssen sich die gleichgerichteten Interessen nicht auf den Erhalt des Verlustvortrags der Kapitalgesellschaft richten, es genüge bereits die einheitliche Willensbildung; dafür soll die gemeinsame Beherrschung indizielle Bedeutung haben. bb) Tatbestandliche Übertragung der Beteiligung § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG geht im Grundtatbestand davon aus, dass eine kapitalgesellschaftsrechtliche Beteiligung am gezeichneten Kapital oder Stimmrechte (§ 47 GmbHG) übertragen werden. § 8c Abs. 1 Satz 4 KStG regelt ausdrücklich, dass eine Kapitalerhöhung der Übertragung des gezeichneten Kapitals gleichsteht, soweit sie zu einer Veränderung der Beteiligungsquoten am Kapital der Gesellschaft führt. Diese Gleichstellung der Kapitalerhöhung (mit neuen Anteilen) mit dem Grundtatbestand des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG führt insbesondere in Sanierungskonstellationen dazu, dass der Hinzutritt von Neugesellschaftern einen existenten Verlustvortrag der GmbH beeinträchtigen bzw. vernichten kann. Der maßgebliche Zeitraum, in dem die qualifizierte Übertragung der Beteiligungen erfolgt sein muss, beträgt 5 Jahre.

8.131

Die quantitativen Voraussetzungen des § 8c KStG beziehen sich entsprechend auf das gezeichnete Kapital bzw. die Mitgliedschaftsrechte, die Beteiligungsrechte oder die Stimmrechte. Dabei sollte von einem zivilrechtlichen Verständnis ausgegangen werden, weil der Begriff der Übertragung im zivilrechtlichen Sinne als rechtsgeschäftliche Übertragung zu verstehen ist. Zwangsmaßnahmen sollen demnach nicht erfasst sein2. Im Grundsatz kommt es also auf die Übertragung der Anteile an. Wenn zusätzlich auf die Stimmrechte abgestellt wird, dann handelt es sich um Sachverhalte, in denen zwar nicht mehr als 50 v.H. der jeweiligen Beteiligung, aber mehr als 50 v.H. der Stimmrechte der betroffenen Gesellschaft übertragen werden. Bei einer solchen Kombination mehrerer unterschiedlicher Anteile und Rechte werden die Quoten nicht addiert; jedoch ist die Auslegung geboten, die die weitestgehende Anwendung des § 8c Abs. 1 KStG ermöglicht3.

8.132

Von besonderer, streitträchtiger Bedeutung ist auch die Generalklausel des § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG, wonach auch „vergleichbare Sachverhalte“ erfasst sind. Das ist eine unbestimmte Anordnung, die in der Unsicherheit des Steuergesetzgebers begründet ist4. Rechtsmethodologisch sollte der Auffangtatbestand des „vergleichbaren Sachverhalts“ nur angenommen werden können, wenn die Maßstäbe der Beteiligungsübertragung zu einer Vergleichbarkeit führen. Als „vergleichbare Sachverhalte“ werden im Wesentlichen die folgenden Fallgruppen diskutiert5:

8.133

– quotenverändernde Kapitalherabsetzung; – Erwerb von Genussscheinen (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG); – Erwerb eigener Anteile; 1 2 3 4 5

BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 28. Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 35. BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 5 ff. Kritisch zu Recht Schwedhelm, GmbHR 2008, 404, 407; Wiese, DStR 2007, 741, 742. Näher Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 30; Meyer, BB 2007, 1415; auch BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 7.

Crezelius/B. Westermann | 361

§ 8 Rz. 8.133 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

– Stimmrechtsverzichte und Einstimmigkeitsabreden; – disquotale Gewinnverteilungsregeln; – Beherrschungsvertrag.

8.134

In der Praxis besonders häufig ist die atypisch stille Beteiligung an einer GmbH. Ob eine solche als vergleichbarer Sachverhalt nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG zu qualifizieren ist, ist umstritten. Dafür könnte sprechen, dass das atypisch stille Gesellschaftsverhältnis so ausgestaltet ist, dass der atypisch stille Gesellschafter Mitwirkungsrechte und eine Beteiligung an den Verlusten und den stillen Reserven eingeräumt bekommt1. Letztlich ist die Anwendung des § 8c KStG aber zu verneinen, weil die atypisch stille Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft eine Mitunternehmerschaft des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zwischen der Kapitalgesellschaft und dem stillen Gesellschafter ist2. Somit liegt ein separates Gesellschaftsverhältnis mit einer eigenen Einlage vor. Die Beteiligungsrechte des atypisch stillen Gesellschafters bestehen allein in dieser Mitunternehmerschaft, aber nicht an der GmbH, bei der die Verluste vorhanden sind. cc) Unmittelbare und mittelbare Übertragungen

8.135

§ 8c Abs. 1 Satz 1 KStG erfasst neben unmittelbaren ausdrücklich auch mittelbare Übertragungen von Beteiligungen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich bei dem neuen Anteilseigner um eine natürliche Person, eine Kapitalgesellschaft oder eine Personengesellschaft handelt. Unerheblich ist auch, auf wie viele Erwerber und wie viele Erwerbsvorgänge sich die übertragenen Anteile verteilen. Bei mittelbaren Beteiligungserwerben sind die auf die Verlustgesellschaft durchgerechneten Beteiligungs- oder Stimmrechtsquoten maßgeblich3.

8.136

Beispiel: Die A-GmbH ist zu 100 v.H. an der T-GmbH beteiligt, die ihrerseits zu 100 v.H. an der E-GmbH, die über einen Verlustvortrag verfügt, beteiligt ist. Wenn die A ihre Beteiligung an T an den Dritten D veräußert, bleibt der unmittelbare Anteilseigner der Verlustgesellschaft unverändert, doch geht der Verlust nach § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG unter.

8.137

Der weite Wortlaut der Norm wirft praktische Probleme auf. Denn er enthält keine Beschränkungen hinsichtlich der Beteiligungsstufe oder sich im Ausland vollziehender Anteilsübertragungen. In der Literatur wird daher teilweise eine einschränkende Auslegung – insbesondere auch im Hinblick auf die Regelung vergleichbarer Sachverhalte – vorgeschlagen4. In der Vergangenheit wurden als Lösungen die Beurteilung der Schädlichkeit auf jeder Stufe5 sowie die Beschränkung der Betrachtung auf die unmittelbar vorgelagerte Stufe (Zweistufigkeit)6 diskutiert. Die Tragfähigkeit dieser Lösungen darf mangels Anhaltspunkte im Wortlaut der Norm bezweifelt werden. In der Praxis kommt es selten zur Vereinigung von Verlustvortrag und Informationen über Transaktionen mittelbarer Beteiligungen bei der steuerpflichtigen Verlustgesellschaft in den oben genannten Fällen. Dies führt dazu, dass die virulenten Beden1 Vgl. etwa Brandis in Brandis/Heuermann, § 8c KStG Rz. 55 m.w.N. 2 BFH v. 28.5.1997 – VIII R 25/96, BStBl. II 1997, 724 = GmbHR 1997, 1013. 3 BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 12; a.A. Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 23; Olbing in Streck, § 8c KStG Rz. 32; vgl. auch BR-Drucks 220/07, S. 126. 4 Roser in Gosch, § 8c KStG Rz. 62 f.; vgl. auch Thonemann-Micker/Kanders in BeckOK/KStG, § 8c KStG Rz. 109. 5 Suchaneck/Herbst, FR 2007, 863, 865. 6 Lang, DStZ 2007, 652, 655; vgl. auch Kraft/Kraft, FR 2011, 841; Karl, BB 2012, 92.

362 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.141 § 8

ken eines strukturellen Vollzugsdefizits fortbestehen und die anfangs geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken bekräftigen1. Der weite Wortlaut des § 8c Abs. 1 KStG erfasst vorbehaltlich der Privilegierung durch die sog. Konzernklausel auch Übertragungsvorgänge in einem Konzern, und zwar nach Auffassung der Finanzverwaltung auch dann, wenn mittelbar keine Änderung der Beteiligungsverhältnisse eintritt, sog. Verkürzung der Beteiligungskette durch Abwärtsverschmelzung2. In diesen Fällen sollte der Wortlaut der Norm indes teleologisch reduziert werden3.

8.138

dd) Ausnahmen (§ 8c Abs. 1 Sätze 4 ff. KStG) Als erste tatbestandliche Ausnahme ist die Konzernklausel des § 8c Abs. 1 Satz 4 KStG hervorzuheben. Demnach liegt kein schädlicher Beteiligungserwerb vor, wenn jeweils eine 100 v.H.-Beteiligung des übertragenden bzw. übernehmenden Rechtsträgers auf Seiten des Erwerbers bzw. Veräußerers besteht (Nrn. 1 und 2). Hierbei geht es um Fälle der vertikalen Beteiligungsverschiebung, also auch Situationen, in denen sich die Beteiligungskette innerhalb eines Konzerns verlängert oder verkürzt4. Nach Nr. 3 der Vorschrift sind Übertragungen zwischen Schwestergesellschaften (horizontal) bzw. der Erwerb zwischen Rechtsträgern, an denen dieselbe Person jeweils allein beteiligt ist, privilegiert.

8.139

Gemäß § 8c Abs. 1 Sätze 5 ff. KStG bleiben Verlustverrechnungspotenziale in Höhe bestehender stiller Reserven bestehen. Die Reserven brauchen hierzu nicht realisiert werden, müssen aber im Inland steuerpflichtig sein. Hintergrund der Regelung ist die Überlegung, dass in Höhe der stillen Reserven kein Verlustverrechnungspotential übergeht5. Dies ist konsequent, weil aufgrund der Existenz von stillen Reserven kein „Mantel“ vorliegt, so dass die VerlustKapitalgesellschaft die aufgelaufenen Verluste selbst nutzen kann. Stille Reserven sind nach Satz 6 der Unterschiedsbetrag zwischen dem in der steuerlichen Gewinnermittlung ausgewiesenen Eigenkapital und dem auf dieses Eigenkapital jeweils entfallende gemeine Wert der Anteile an der GmbH. Ist die GmbH überschuldet und daher das Eigenkapital negativ, erfolgt die Berechnung nach § 8c Abs. 1 Satz 7 KStG, wobei der gemeine Wert in diesen Fällen nicht aus einem für die Anteile gezahlten Entgelt abgeleitet wird. Die Ermittlung des gemeinen Werts des Betriebsvermögens erfordert vielmehr eine Unternehmensbewertung6.

8.140

b) Rechtsfolgen Werden mehr als 50 v.H. der Beteiligungen schädlich übertragen, dann sind gemäß § 8c Abs. 1 Satz 1 KStG bis zum schädlichen Beteiligungserwerb nicht ausgeglichene oder abgezogene negative Einkünfte (nicht genutzte Verluste) vollständig nicht mehr abziehbar. Hiervon ist zum einen der Verlustvortrag, der auf den Schluss des Veranlagungszeitraums, der der ersten schädlichen Anteilsübertragung vorangeht und festgestellt wurde, erfasst. Zum anderen ist aber auch der laufende Verlust im Veranlagungszeitraum bis zur schädlichen Anteilsübertra1 Vgl. schon Kraft/Kraft, FR 2011, 841, 845. 2 BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 11. 3 FG Berlin-Bdb. v. 18.10.2011 – 8 K 8311/10, BB 2012, 1327 (Anhängige Revision beim BFH unter Az. I R 5/19 (I R 79/11) durch Beschl. v. 16.1.2019 bis zur Entscheidung in dem Verfahren des BVerfG unter Az. 2 BvL 19/17 ausgesetzt). 4 BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 43. 5 BT-Drucks. 17/15, S. 28. 6 BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 56.

Crezelius/B. Westermann | 363

8.141

§ 8 Rz. 8.141 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

gung (sog. unterjährige Anteilsübertragung) erfasst1. Da der eigentliche Verlustvortrag einer Kapitalgesellschaft, auf Grund der § 8 Abs. 1 KStG, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, §§ 238 ff. HGB im rechtlichen Sinne erst dann existiert, wenn er bilanzmäßig im Folgejahr festgestellt wird (§ 46 Nr. 1 GmbHG), ist der bisher noch nicht genutzte Verlust mit einem bis zum Zeitpunkt des schädlichen Beteiligungserwerbs in dem betreffenden Jahr erwirtschafteten Gewinn gegenzurechnen2. Der bisher nicht ausgewiesene Verlust (Verlustvortrag) wird in Höhe eines bis zum schädlichen Beteiligungserwerb erzielten Gewinns eben nicht für das neue, sondern noch für das frühere wirtschaftliche Engagement genutzt3.

8.142

Die Gegenrechnung kann entweder durch Erstellung eines Zwischenabschlusses oder durch eine unterjährige Ergebnisermittlung erfolgen. Hierdurch entsteht in der Praxis ein faktisches Gestaltungspotenzial, weil bei der Erstellung eines Zwischenabschlusses dieser in jedem Fall maßgeblich ist. Daher sollte bereits im Vorfeld das vorteilhaftere Ergebnis abgeschätzt werden4. Gemäß § 8c Abs. 2 KStG ist § 3a Abs. 3 EStG auf nach der Anwendung von § 8c Abs. 1 KStG verbleibende, nicht genutzte Verluste anwendbar.

3. Ausnahmetatbestand: Sanierungsprivileg (§ 8c Abs. 1a KStG) a) Entwicklung 8.143

Nach § 8c Abs. 1a KStG ist ein zwecks Sanierung erfolgender Beteiligungserwerb unschädlich, obwohl im Grundsatz die Voraussetzungen des § 8c Abs. 1 KStG vorliegen. Die Vereinbarkeit dieses Regelungsgedanken mit dem europäischen Beihilferecht (Art. 107 ff. AEUV) war in der Vergangenheit durch einen Beschluss der EU-Kommission5 angezweifelt worden, woraufhin der deutsche Steuergesetzgeber § 8c Abs. 1a KStG zunächst suspendierte. Der Beschluss wurde sodann vom EuGH6 für nichtig erklärt, weshalb der nationale Gesetzgeber § 8c Abs. 1a KStG für Beteiligungsübertragungen seit dem 31.12.2007 wieder in Vollzug setzte (§ 34 Abs. 6 Satz 3, 4 KStG)7. Dies hat für die betroffenen Kapitalgesellschaften aber nur Auswirkungen, soweit die entsprechenden Bescheide verfahrensrechtlich noch nicht bestandskräftig geworden sind. Ruhende Verfahren können wieder aufgenommen werden8. Die Norm belohnt das freiwillige Engagement eines Neugesellschafters im Rahmen einer Sanierung9.

b) Tatbestand 8.144

Der Tatbestand erfordert zunächst einen zweckgerichteten Anteilserwerb „zum Zwecke der Sanierung“. Das Merkmal Sanierung ist gemäß § 8c Abs. 1a Satz 2 KStG jede Maßnahme, die 1 BFH v. 30.11.2011 – I R 14/11, BStBl. II 2012, 360; BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/ 10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645, Rz. 31, 33; Suchanek in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8c KStG Rz. 32a; vgl. auch Suchanek/Trinkaus, FR 2014, 889. 2 BFH v. 30.11.2011 – I R 14/11, BStBl. II 2012, 360 = GmbHR 2012, 410 m. Anm. Suchanek; Leibner/Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 8c KStG Rz. 150. 3 BFH v. 30.11.2011 – I R 14/11, BStBl. II 2012, 360 Rz. 13 und 16 = GmbHR 2012, 410 m. Anm. Suchanek. 4 Suchanek/Rüsch, Ubg 2018, 10, 14. 5 KOM v. 26.1.2011 K(2011) 275 – C-7/2010, ABl. EU Nr. L 235 v. 10.9.2011, S. 26. 6 EuGH v. 28.6.2018 – C-219/16 P, DStR 2018, 1434. 7 UStAVermG vom 11.12.2018, BGBl. I 2018, 2338. 8 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26. 9 BT-Drucks. 16/13429, S. 77 u. 78; BT-Drucks. 16/12674, S. 10; Brandis in Brandis/Heuermann, § 8c KStG Rz. 70.

364 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.146 § 8

darauf gerichtet ist, die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu verhindern oder zu beseitigen. Der hierfür maßgebliche Zeitkorridor soll sich nach den Grundsätzen des Eigenkapitalersatzrechts vor dem MoMiG (§ 32a und § 32b GmbHG a.F.) bestimmen – mithin eine Krise, in der ein Gesellschafter als ordentlicher Kaufmann Eigenkapital zugeführt hätte1. Wie bei § 3a EStG muss die Körperschaft sanierungsbedürftig und sanierungsfähig sein. Die Sanierungsmaßnahmen müssen innerhalb eines Jahres nach Anteilserwerb erfolgen und brauchen lediglich objektiv geeignet zu sein, die Krise der GmbH zu beenden und ihre Ertragsfähigkeit wiederherzustellen (Sanierungseignung). Solche Maßnahmen sind etwa Kostenreduzierung, Umstrukturierung der geschäftlichen Tätigkeit oder Erschließung von Finanzierungsquellen; ein eigener Kapitalbeitrag des Neugesellschafters ist dabei nicht erforderlich2. Ein Sanierungsplan IDW (IDS ES 6) indiziert zwar eine Sanierung, ist aber nicht zwingende Voraussetzung. Ein Sanierungserfolg ist ebenso wenig notwendig, wie die ausschließliche Sanierungsabsicht im Zeitpunkt des Anteilserwerbs.

8.145

Außerdem müssen – anders als bei § 3a EStG – zugleich die wesentlichen Betriebsstrukturen erhalten bleiben. Dies wiederum setzt gemäß § 8c Abs 1a Satz 3 KStG voraus, dass eine der folgenden Voraussetzungen vorliegt:

8.146

– Die GmbH befolgt eine geschlossene Betriebsvereinbarung i.S. des § 77 BetrVG (oder aber einen Tarifvertrag und/oder Sozialplan) mit Arbeitsplatzregelung, wenn in dem betroffenen Geschäftsbereich mehr als die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer tätig ist3. – Die Lohnsumme unterschreitet innerhalb von fünf Jahren nach dem Beteiligungserwerb 400 v.H. der Ausgangslohnsumme bei sinngemäßer Geltung der § 13a Abs. 1 Satz 3 und 4 und § 13a Abs. 4 ErbStG nicht. Im Durchschnitt dürfen die jährlichen Löhne also nicht um mehr als 20 v.H. sinken. Beträgt die Ausgangslohnsumme 0 Euro oder hat die GmbH nicht mehr als zehn bzw. (ab VZ 2010) nicht mehr als 20 Arbeitnehmer, so ist die Lohnsummenregelung nach § 8c Abs. 1a Satz 3 Nr. 2 KStG nicht anwendbar4. – Der GmbH wird innerhalb von 12 Monaten durch Einlage Betriebsvermögen in Höhe von 25 v.H. des Aktivvermögens (also alle Wirtschaftsgüter im steuerlichen Sinne, d.h. Anlageund Umlaufvermögen; Mitunternehmeranteile sind mit dem positiven gespiegelten Kapitalkonto in Ansatz zu bringen) der Steuerbilanz des letzten Wirtschaftsjahrs als Betriebsvermögen zugeführt (wesentliches Betriebsvermögen) Werden weniger als 100 v.H. der Beteiligungen erworben, ist der Wert von 25 v.H. entsprechend zu reduzieren. Die Zuführung kann auch durch den Erlass einer werthaltigen Verbindlichkeit oder der Einbringung i.S. der §§ 20, 21 UmwStG erfolgen5. Nach § 8c Abs. 1a Satz 4 KStG liegt jedenfalls keine Sanierung vor, wenn die Körperschaft ihren Geschäftsbetrieb im Zeitpunkt des Beteiligungserwerbs im Wesentlichen eingestellt hat oder innerhalb von fünf Jahren nach dem Beteiligungserwerb einen Branchenwechsel vollzieht. Da die Sanierungsklausel grundsätzlich neben § 8d KStG anwendbar ist, sollte in Zwei-

1 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26 Rz. 4. 2 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26 Rz. 7; vgl. auch Uhländer, DB 2020, 17, 21. 3 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26 Rz. 13 ff. 4 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26 Rz. 16 ff. 5 OFD NRW v. 20.12.2018 – S 2745 a-2015/0011-St 135, DB 2019, 26 Rz. 20 ff.

Crezelius/B. Westermann | 365

§ 8 Rz. 8.146 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

felsfällen ein entsprechender Antrag auf Berücksichtigung des fortführungsgebundenen Verlustvortrags (hilfsweise) gestellt werden1.

c) Rechtsfolge 8.147

Liegt ein entsprechend privilegierter Erwerb zum Zwecke einer Sanierung vor, bleiben die nicht genutzten Verluste der GmbH trotz eines schädlichen Beteiligungserwerbs bestehen. Der privilegierte Erwerb wird nicht in die Berechnung der Schädlichkeitsquote einbezogen. Neben der Anwendung von § 8c Abs. 1a KStG ist § 3a EStG für Sanierungserträge, die im Zuge der anstehenden Sanierung erzielt werden, anwendbar. Die Regelung bietet zwar gewisse Vorteile, ist aber aufgrund der engen Voraussetzungen nicht in allen Fällen in der Praxis geeignet, um Abhilfe von den strengen Rechtsfolgen eines schädlichen Beteiligungserwerbs nach § 8c Abs. 1 KStG zu schaffen.

4. Fortführungsgebundener Verlustvortrag (§ 8d KStG) a) Tatbestand 8.148

Liegen die Voraussetzungen der Sanierungsklausel nicht vor, so dass ein schädlicher Beteiligungserwerb gegeben ist, besteht für den Steuerpflichtigen auf Antrag nach § 8d Abs. 1 KStG die Möglichkeit, für bestimmte nicht genutzte Verluste von der Rechtsfolge des § 8c Abs. 1 KStG befreit zu werden. Die Norm wurde durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der steuerlichen Verlustrechnung bei Körperschaften vom 20.12.20162 eingefügt und ist rückwirkend zum 1.1.2016 in Kraft getreten. Vor diesem Zeitpunkt darf der Geschäftsbetrieb weder eingestellt noch ruhend gestellt worden sein. Die Vorschrift dient als letzte Auffangnorm zur angemessenen Verlustnutzung3. Die Vorschrift begründet einen eigenständigen Verlustverrechnungskreis, der sich sachlich auf den Verlustvortrag nach § 10d Abs. 2 EStG bzw. den verbleibenden Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 EStG bezieht4.

8.149

Kernvoraussetzung des fortführungsgebundenen Verlustvortrags ist, dass die GmbH seit ihrer Gründung oder zumindest seit dem Beginn des dritten Veranlagungszeitraums (sog. Beobachtungszeitraum I), der dem des schädlichen Beteiligungserwerbs folgt, ausschließlich denselben Geschäftsbetrieb unterhält. Laut § 8d Abs. 1 Satz 3 KStG umfasst ein Geschäftsbetrieb die von einer einheitlichen Gewinnerzielungsabsicht getragene nachhaltige, sich gegenseitig ergänzende und fördernde Betätigung der Körperschaft und bestimmt sich nach qualitativen Merkmalen in einer Gesamtbetrachtung. Quantitative Merkmale sind insbesondere Angebote, Kunden und Lieferanten sowie bediente Märkte. Hieraus resultiert in der Praxis eine gewisse Unsicherheit in Restrukturierungsfällen, sofern hiermit auch eine strategische Neuausrichtung des Geschäfts verbunden ist5. In Anwendung einer verfassungskonformen Auslegung, ist die Norm auf mehrere Geschäftsbetriebe anzuwenden.

8.150

Praktischen Nutzen bringt die Regelung insbesondere bei jungen Unternehmen im Venture Capital-Bereich, da hier hohe Anlaufverluste entstehen. In der Beratungspraxis von Startups, stellt sich häufig das Problem, dass diese sich regelmäßig durch strategische Neuausrichtung 1 Brandis in Brandis/Heuermann, § 8c KStG Rz. 70; vgl. Giese/Graßl/Holtmann/Krug, DStR 2020, 752, 756. 2 BGBl. I 2016, 2998. 3 BR-Drucks. 544/16, S. 7; Leibner/Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 8d KStG Rz. 6. 4 Suchanek/Rüsch in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8d KStG Rz. 4. 5 Giese/Graßl/Holtmann/Krug, DStR 2020, 752, 756.

366 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.154 § 8

neu erfinden, sog. Pivot1. Dies dürfte jedenfalls dann unschädlich sein, wenn das ursprüngliche Geschäftsfeld ergänzt oder unterstützt wird. Im Spannungsfeld strategischer Neuausrichtungen in Restrukturierungsprozessen dürfte indes auch die Sanierungsklausel Anwendung finden.

Der Tatbestand enthält weitere wesentlich Einschränkungen. Etwa sind Verluste aus einer Zeit vor Einstellung oder Ruhendstellung eines Geschäftsbetriebs, sog. Altverluste nach § 34 Abs. 6a Satz 1 KStG nicht geeignet, einen fortführungsgebundenen Verlustvortrag zu begründen2. Hinsichtlich der Höhe des effektiven fortführungsgebundenen Verlustvortrags sind nach der Verwaltungsauffassung die Regelungen über die Mindestgewinnbesteuerung i.S. des § 10d EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG zu berücksichtigen3. Der Tatbestand ist ähnlich wie die Sanierungsklausel zu selektiv, um die extensive Reichweite des § 8c Abs. 1 KStG angemessen zu kompensieren.

8.151

Streitig ist, ob eine nachträgliche Antragstellung möglich sein soll. § 8d Abs. 1 Satz 5 KStG enthält nach Auffassung des FG Köln keine zeitliche Einschränkung, so dass auch bis zum Ablauf der Einspruchsfrist ein nachträglicher Antrag noch möglich sein dürfte4. Ist die Einspruchsfrist abgelaufen, der Steuerbescheid aber unter dem Vorbehalt der Nachprüfung des § 164 AO ergangen, kann der Antrag gestellt werden, wenn der Vorbehalt wirksam ist5.

8.152

b) Rechtsfolge In der Rechtsfolge entsteht ein Verlustvortrag, dessen Bestehen an die Fortführung des Unternehmens geknüpft ist und der in entsprechender Anwendung des § 10d Abs. 4 Satz 2 EStG, d.h. in einem Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs. 10 AO, gesondert festzustellen ist (§ 8d Abs. 1 Satz 6 ff. KStG); er ist ferner nach § 8b Abs. 1 Satz 8 KStG von zukünftigen Gewinnen vorrangig vor dem Verlustvortrag abzuziehen. Ungeklärt ist das Konkurrenzverhältnis zwischen § 8d KStG und § 2 Abs. 4 UmwStG. Es erscheint aber plausibel, § 8d KStG nicht in Umwandlungsfällen anzuwenden6. Der Untergang des fortführungsgebundenen Verlustvortrags ist in § 8d Abs. 2 KStG geregelt. Dieser Bewährungszeitraum (auch Beobachtungszeitraum II) ergänzt den Beobachtungszeitraum. Schädlich ist insoweit die Einstellung des Geschäftsbetriebs oder ein entsprechender, in § 8d Abs. 2 Satz 2 KStG abschließend aufgezählter, Vorfall7. Die Norm soll auch nach Entstehung des fortführungsgebundenen Verlustvortrags eine zweckgerechte Nutzung gewährleisten. Bei einem anstehenden Verkauf in der Krise kann der fortführungsgebundene Verlustvortrag ein wichtiges Restrukturierungsinstrument sein.

8.153

5. Gewerbesteuer (§ 10a Sätze 10 und 11 GewStG) Mit Einführung des § 10a Satz 10 GewStG durch das Jahressteuergesetz 2020 hat der Gesetzgeber die Frage beantwortet, ob § 8c KStG auch rein gewerbesteuerliche Fehlbeträge, ohne 1 So auch Braun/Kopp, DStR 2019, 1422. 2 Vgl. hierzu ausführlich Roser in Gosch, § 8d KStG Rz. 19; Suchanek/Rüsch in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 8d KStG Rz. 14. 3 BMF v. 18.3.2021 – IV C 2-S 2745-b/19/10002, BStBl. I 2021, 363 = GmbHR 2021, 430 Rz. 56; kritisch: Brandis in Brandis/Heuermann, § 8d KStG Rz. 42; Suchanek/Rüsch, GmbHR 2018, 57, 59. 4 FG Köln v. 6.2.2019 – 10 V 1706/18, GmbHR 2020, 456; Suchanek/Rüsch, GmbHR 2020, 456, 459; vgl. zum Streitstand Brandis in Brandis/Heuermann, § 8d KStG Rz. 41. 5 Crezelius, NZI 2020, 467, 468. 6 Dazu Leibner/Dötsch in Dötsch/Pung/Möhlenbrock, § 8d KStG Rz. 8. 7 S. hierzu ausführlich BMF v. 18.3.2021 – IV C 2-S 2745-b/19/10002:002, DOK 2021/0303080 = BeckVerw 513780.

Crezelius/B. Westermann | 367

8.154

§ 8 Rz. 8.154 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

einen festgestellten körperschaftsteuerlichen Verlustvortrag, erfasst1. Nach § 10a Satz 10 Halbs. 1 GewStG ist § 8c KStG auf gewerbesteuerliche Fehlbeträge entsprechend anwendbar, so dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 8c KStG ein Fehlbetrag i.S. des § 10a Satz 1 GewStG nicht mehr berücksichtigt wird. Dies gilt auch für Fehlbeträge einer Personengesellschaft, an der eine Körperschaft unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist bzw. einer solchen zuzurechnen ist (§ 10a Satz 10 Nr. 2 GewStG). Hierdurch sollen Ausgliederungen von Verlusten auf Personengesellschaften vermieden werden. Für unterjährige Verluste im Jahr der schädlichen Beteiligungsübertragung, gelten die unter Rz. 8.141 gemachten Ausführungen entsprechend2.

8.155

Konsequenterweise kommt es nach § 10a Satz 11 GewStG auf Antrag auch zu einer entsprechenden Anwendung des fortführungsgebundenen Verlustvortrags nach § 8d KStG, sofern die dortigen Voraussetzungen vorliegen; mithin also zu einem fortführungsgebundenen Fehlbetragsvortrag3. Ein nachträglicher Antrag bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung ist möglich4. Unterschiede zum Körperschaftsteuerrecht ergeben sich neben den abweichenden Regelungen zur Ermittlung des Gewerbeertrags daraus, dass kein gewerbesteuerlicher Verlustrücktrag existiert. Zur Auslegung des Begriffs Geschäftsbetrieb wird zum Teil auf die Rechtsprechung zur gewerbesteuerlichen Unternehmensidentität abgestellt, wonach es auch bei Körperschaften auf den sachlichen, wirtschaftlichen, organisatorischen und finanziellen Zusammenhang der Tätigkeiten ankommt5. Die Finanzverwaltung legt aber die gleichen Maßstäbe wie im Körperschaftsteuerrecht zugrunde6. Insgesamt wird die Möglichkeit des fortführungsgebundenen Verlustvortrags als unzureichend kritisiert7. Diese Einschätzung deckt sich mit der zum Körperschaftsteuerrecht geäußerten Einschätzung, wonach die umfangreichen Auswirkungen des § 8c KStG nicht im notwendigen Umfang auf die Wirtschaftspraxis angepasst wurden.

8.156–8.170

Einstweilen frei.

VI. Umwandlungen 1. UmwStG 8.171

Als Sanierungsmaßnahmen kommen auch Umwandlungen in Betracht, die sich steuerrechtlich nach dem UmwStG richten. Durch das SEStEG v. 7.12.20068 ist das Umwandlungssteuerrecht europäisiert worden. Einzelheiten ergeben sich aus § 1 UmwStG. Das UmwStG baut steuerrechtlich auf die Umwandlungsvorgänge des UmwG auf. Im Grunde bezweckt das UmwStG die Beseitigung steuerlicher Hemmnisse für betriebswirtschaftlich sinnvolle Umwandlungen von Gesellschaften9. Für Umstrukturierungsfälle im Zuge von Unternehmens1 BT-Drucks. 19/25160, S. 216. 2 Gleichlautender Ländererlass v. 29.11.2017, BStBl. I 2017, 1643; BMF v. 28.11.2017 – IV C 2-S 2745-a/09/10002:004, 2017/0789973, BStBl. I 2017, 1645 Rz. 33; GewStR 10a.1 Abs. 3 Sätze 7 u. 8 sind insoweit überholt. 3 Vgl. BMF v. 18.3.2021 – IV C 2-S 2745-b/19/10002:002, 2021/0303080, BStBl. I 2021, 363. 4 Vgl .Suchanek/Rüsch, Ubg 2021, 181, 193, BMF v. 18.3.2021 – IV C 2-S 2745-b/19/10002:002, 2021/0303080, BStBl. I 2021, 363 Rz. 7. 5 Drüen in Brandis/Heuermann, § 10a GewStG Rz. 87; Förster/von Cölln, DStR 2017, 8, 10. 6 GewStR 10a.2. 7 Vgl. Schwetlik, GmbH-StB 2021, 156; Suchanek/Rüsch, FR 2021, 194. 8 BGBl. I 2006, 2782; dazu BMF v. 11.11.2011 – IV C 2-S 1978-b/08/10001//2011/0903665, BStBl. I 2011, 1314. 9 BT-Drucks. 12/6885, S. 14.

368 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.175 § 8

sanierungen kommt aber eine weitere Zwecksetzung hinzu, nämlich die Vereitelung von Übertragungen von Verrechnungspotenzialen (sog. Verlusttransfer).

Der Anwendungsbereich der steuerrechtlichen Regelungen über die Verschmelzung und über die Spaltung (§§ 3 ff., 11 ff., 15 ff. UmwStG) betrifft auch Verschmelzungen und Spaltungen einer nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der EU oder des EWR gegründeten und in einem dieser Staaten mit Sitz und Ort der Geschäftsleitung ansässigen Körperschaft auf eine andere Körperschaft im EU- oder EWR-Bereich. Internationale Aufund Abspaltungen sind gesellschaftsrechtlich derzeit noch nicht kodifiziert und damit noch nicht möglich1.

8.172

Soll eine GmbH im Zuge einer Sanierung umstrukturiert werden, dann geht es in erster Linie um die Verschmelzung, wobei danach zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Verschmelzung einer Kapitalgesellschaft auf eine andere Kapitalgesellschaft handelt oder um eine Verschmelzung auf ein Personenunternehmen.

8.173

2. Verschmelzung a) Verschmelzung GmbH auf GmbH Die Verschmelzung im Rahmen einer Sanierung sieht vor, dass ein Krisenunternehmen von einem „gesunden“ Unternehmen oder umgekehrt aufgenommen wird (Verschmelzung zur Aufnahme) oder beide Unternehmen auf eine neue Gesellschaft verschmolzen werden (Verschmelzung zur Neugründung). Die zweite Möglichkeit wird in der Praxis seltener gewählt, beispielsweise aus Kostengründen. Bei der Verschmelzung zur Aufnahme sind regelmäßig durch Kapitalerhöhungen neue Geschäftsanteile bei der Übernehmerin zu schaffen, die den Gesellschaftern der übertragenen Gesellschaft zu gewähren sind.

8.174

Nach § 12 Abs. 3 Satz 1, § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG gehen verrechenbare Verluste, verbleibende Verlustvorträge oder vom übertragenden Rechtsträger nicht ausgeglichene negative Einkünfte nicht auf die übernehmende Gesellschaft über2. Hierbei handelt es sich um ein Verlusttransferverbot. Obwohl es bei der Verschmelzung zu einer Gesamtrechtsnachfolge kommt und das Verlustvortragsvolumen in der deutschen Körperschaftsteuersphäre bleibt, sind Verlustvorträge, Verluste des Übertragungsjahres und Zinsvorträge der übertragenden Kapitalgesellschaft allenfalls noch im Rahmen einer etwaigen Wertaufstockung in der Schlussbilanz der übertragenden Gesellschaft nutzbar3. Begründet wird dies mit der (zweifelhaften) Befürchtung, es könne zu einem Import ausländischer Verluste kommen4. Die Rechtsfolge des Verlusttransferverbots ist europarechtlich und verfassungsrechtlich nicht unbedenklich und wird daher vielfach kritisiert. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass der EuGH in der Rechtssache „Marks & Spencer“5 hervorgehoben hat, dass ein Verlust in erster Linie in dem Staat verrechnet werden muss, in dessen Hoheitsgebiet er entstanden ist. Für die nationale, verfas-

8.175

1 Vgl. Drinhausen in Semler/Stengel/Leonard, Einleitung C. Rz. 2; Bodden, FR 2007, 265, 266; Rödder/Schumacher, DStR 2006, 1524, 1534. 2 Wisniewski in Haritz/Menner, § 12 UmwStG Rz. 99 ff.; Rödder in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, § 12 UmwStG Rz. 334 ff. 3 Vgl. Goß in BeckOK/UmwStG, § 12 UmwStG Rz. 298. 4 Näher Dörfler/Rautenstrauch/Adrian, BB 2006, 1657; Wisniewski in Haritz/Menner, § 12 UmwStG Rz. 101. 5 EuGH v. 13.12.2005 – C-446/03 – „Marks & Spencer“, IStR 2006, 19 = ZIP 2005, 2313 = GmbHR 2006, 153.

Crezelius/B. Westermann | 369

§ 8 Rz. 8.175 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

sungsrechtliche Situation verstößt der Verlustuntergang im Zuge einer Verschmelzung gegen die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in Form des objektiven Nettoprinzips1.

8.176

Ein Lösungsansatz ist der umgekehrte Weg der Verschmelzung einer Gewinn-Kapitalgesellschaft auf die Verlust-Kapitalgesellschaft. Maßgeblich hierfür ist die richtige Verschmelzungsrichtung, also eine Seitwärts- oder Abwärtsverschmelzung einer Gewinn-GmbH auf eine Verlust-GmbH2. Entsprechende Gestaltungen erfüllen nicht die Anforderungen an den Missbrauch einer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeit i.S. des § 42 AO3. Hier droht indes ein Verlustuntergang nach § 8c KStG (Rz. 8.121 ff.), sofern nicht die Ausnahmeregelungen nutzbar gemacht werden können4. In der Praxis besteht damit im Einzelfall die Möglichkeit, echte betriebswirtschaftliche Verluste steuerlich nutzbar zu machen.

8.177

Von diesem Sonderproblem des Verlusttransfers abgesehen, kommt es bei der Verschmelzung der einen auf die andere Kapitalgesellschaft zu keinen größeren steuerrechtlichen Problemen, weil beide Rechtsträger im Binnensystem der deutschen Körperschaftsbesteuerung bleiben. Die Verschmelzung kann ohne Ertragsteuerbelastung durchgeführt werden, soweit die Besteuerung der in der untergehenden Kapitalgesellschaft ruhenden stillen Reserven gewährleistet bleibt. Mithin ist danach zu differenzieren, ob stille Reserven vorliegen oder nicht. Nach der geltenden Besteuerungstechnik ist ein Antrag der übertragenden Gesellschaft erforderlich, wenn sie in ihrer steuerrechtlichen Schlussbilanz einen Wert unter dem grundsätzlich maßgeblichen gemeinen Wert ansetzen möchte (§ 11 Abs. 2 UmwStG). Die Vermeidung der Besteuerung der stillen Reserven im Falle der Verschmelzung ist nach § 11 Abs. 1 UmwStG an die Voraussetzungen geknüpft, dass die Besteuerung der stillen Reserven, die in den übergehenden Wirtschaftsgütern liegen, später sichergestellt ist und eine Gegenleistung nicht gewährt wird oder die gewährte Gegenleistung allein in Gesellschaftsrechten besteht. Wenn eine sanierungsbedürftige GmbH als übertragende Gesellschaft nicht über stille Reserven verfügt, ergeben sich keine Probleme. Ein grundsätzlich bei der untergehenden Gesellschaft mit Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer (§ 19 Abs. 1 UmwStG, § 7 GewStG) belasteter steuerpflichtiger Übertragungsgewinn kommt dann nicht in Betracht. Die Wirtschaftsgüter sind in der Schlussbilanz der untergehenden Gesellschaft mit Buchwerten, die dem gemeinen Wert entsprechen, zu bilanzieren.

8.178

Die übernehmende Gesellschaft hat die auf sie übergehenden Wirtschaftsgüter mit den Wertansätzen der untergehenden Gesellschaft zu übernehmen (§ 12 Abs. 1, § 4 Abs. 1 UmwStG)5.

8.179

Bei der Verschmelzung kann sich ein Gewinn der übernehmenden Gesellschaft ergeben, weil infolge des Vermögensübergangs Forderungen und Verbindlichkeiten, die zwischen den zu verschmelzenden Gesellschaften bestehen, durch Konfusion untergehen. Auf diesen Übernahmefolgegewinn wird auf Grund § 12 Abs. 4 Satz 2 UmwStG § 6 Abs. 1, 2 UmwStG entsprechend angewandt. Die übernehmende Kapitalgesellschaft ist berechtigt, für einen Übernahmefolgegewinn eine gewinnmindernde Rücklage einzustellen, die innerhalb von drei Jahren jeweils mit einem Drittel gewinnerhöhend aufzulösen ist. Eine gewinnmindernde Rücklage darf nicht für die Gewinne gebildet werden, die durch die Auflösung von Rückstellungen entstanden sind, die wegen der Verschmelzung aufgelöst werden. 1 Bodden, FR 2007, 265, 276; Körner, DStR 2006, 469, 470; vgl. Wisniewski in Haritz/Menner, § 12 UmwStG Rz. 102 m.w.N. 2 Vgl. Ott, DStZ 2021, 801, 809; Ott, DStZ 2018, 525. 3 BFH v. 17.11.2020 – I R 2/18, BStBl. II 2021, 580 = GmbHR 2021, 946 = ZIP 2021, 1864. 4 Wisniewski in Haritz/Menner, § 12 UmwStG Rz. 102; vgl. auch Goß in BeckOK/UmwStG, § 12 UmwStG Rz. 299. 5 Wisniewski in Haritz/Menner, § 12 UmwStG Rz. 14.

370 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.184 § 8

Die übernehmende Kapitalgesellschaft kann die AfA auf die Wertansätze vornehmen, die sie von der untergehenden Kapitalgesellschaft übernommen hat. Eine Neufestsetzung der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer ist nicht erforderlich. Nach § 4 Abs. 2 Satz 3 UmwStG, auf den § 12 Abs. 3 UmwStG verweist, ist für die Frage der Dauer der Zugehörigkeit eines Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen die Vorbesitzzeit der untergehenden Körperschaft bei der übernehmenden anzurechnen. Das ist praktisch wichtig, weil damit die Verschmelzung nicht die Vergünstigungen nach § 2 InvZulG gefährdet. Im Übrigen tritt die übernehmende Gesellschaft nach § 12 Abs. 3 Satz 1 UmwStG auch bezüglich der erhöhten Absetzungen und anderer Sonderabschreibungen in die Rechtsposition der untergehenden Gesellschaft ein.

8.180

Die Besteuerung der Anteilseigner der übertragenden Gesellschaft wird in § 13 UmwStG geregelt. § 13 UmwStG geht davon aus, dass die Anteile an der übertragenen Körperschaft, die Altanteile an einer GmbH, als zum gemeinen Wert veräußert und die Anteile an der übernehmenden Körperschaft (Neuanteile) zum selben Wert als angeschafft gelten. Allerdings können auf Antrag die neuen Anteile nach § 13 Abs. 2 Satz 1 UmwStG zu Buchwerten (Betriebsvermögen) oder zu Anschaffungskosten (Privatvermögen) angesetzt werden, wenn die deutsche Steuerverstrickung erhalten bleibt.

8.181

b) Verschmelzung GmbH auf Personengesellschaft aa) Ebene der Gesellschaft Wird eine Kapitalgesellschaft auf eine Personengesellschaft verschmolzen, so ist zwischen einer Verschmelzung durch Aufnahme und einer Verschmelzung durch Neugründung zu unterscheiden. Die Verschmelzung kann zulässigerweise auf eine OHG oder KG vorgenommen werden. Das steuerrechtliche Problem des Vermögensübergangs von einer Kapitalgesellschaft auf eine Personengesellschaft ist darin begründet, dass das Betriebsvermögen einer zu verschmelzenden GmbH den Bereich der Körperschaftsteuer verlässt, also auch das System der Definitivbesteuerung des § 23 Abs. 1 KStG. Das gilt sowohl für den Fall der Verschmelzung der Kapitalgesellschaft auf eine Personengesellschaft als auch für den Formwechsel einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft. Die bisherigen Gesellschafter der untergehenden Kapitalgesellschaft werden Mitunternehmer des neuen Rechtsträgers (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Anders als für das Zivilrecht ist steuerrechtlich also zu entscheiden, ob es steuerrechtlich zur Anwendung der Liquidationsregeln des § 11 KStG kommt.

8.182

Nach der Besteuerungssystematik der §§ 3 ff. UmwStG ist die übertragende Kapitalgesellschaft im Ausgangspunkt verpflichtet, die Wirtschaftsgüter in ihrer steuerlichen Schlussbilanz mit dem gemeinen Wert anzusetzen. Auf Antrag ist jedoch ein Buchwertansatz oder ein Zwischenwertansatz möglich (§ 3 Abs. 2 UmwStG), wobei das Recht zur Buchwertfortführung regelmäßig voraussetzt, dass eine spätere Versteuerung der stillen Reserven in Deutschland gewährleistet ist. Daher fordert das Gesetz, dass das übergehende Vermögen der zu verschmelzenden GmbH bei der aufnehmenden Personengesellschaft zu steuerrechtlichem Betriebsvermögen wird.

8.183

Für Altfälle sind ferner die Regelungen zum Übergang vom Anrechnungsverfahrens zum Teileinkünfteverfahren gemäß §§ 36 ff. KStG zu beachten. Nach § 37 KStG wird das frühere System der ausschüttungsbedingten Gutschrift eines Körperschaftsteuerguthabens (alten Rechts) in Form einer Körperschaftsteuerminderung durch eine ratierliche Auszahlung des Körperschaftsteuerguthabens ersetzt. Der Auszahlungszeitraum reichte bis 2017; der Anspruch war unverzinslich und deswegen abgezinst zu aktivieren. Der abgezinste Betrag war in der Schlussbilanz der übertragenen Körperschaft auszuweisen, hat aber keinen Einfluss auf deren Ein-

8.184

Crezelius/B. Westermann | 371

§ 8 Rz. 8.184 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

kommen. Nach der Verschmelzung steht der Auszahlungsanspruch der übernehmenden Personengesellschaft als Rechtsnachfolgerin zu.

8.185

Bei der Besteuerung der übernehmenden (Personen-)Gesellschaft geht § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwStG vom Prinzip der Wertverknüpfung aus, so dass das übernehmende Personenunternehmen die von der GmbH übergegangenen Wirtschaftsgüter mit denen in der steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Körperschaft enthaltenen Wert zu übernehmen, zu bilanzieren hat. Dadurch wird die spätere Versteuerung der stillen Reserven gewährleistet, wenn diese nicht bereits bei der abgebenden Gesellschaft aufgedeckt worden sind.

8.186

Für Sanierungskonstellationen besonders wichtig ist, dass § 4 Abs. 2 Satz 2 UmwStG anordnet, dass ein Verlustabzug nach § 10d EStG, der bei der untergehenden Kapitalgesellschaft existierte, nicht auf das übernehmende Personenunternehmen übergeht (s. zum Verlusttransferverbot unter Rz. 8.175). Das ist in der Praxis eine erhebliche „Sanierungsbremse“, weil die Umstrukturierung der GmbH in ein Personenunternehmen zur Verlustvernichtung führt. In praktischen Fällen ist daher daran zu denken, dass nach § 3 Abs. 2 UmwStG vorgegangen wird und zumindest ein Wert aufgedeckt wird, der den bestehenden Verlustvortrag abdeckt, wenn stille Reserven im Vermögen der untergehenden GmbH vorhanden sind.

8.187

Im Übrigen tritt die übernehmende Personengesellschaft bezüglich der AfA, der Sonderabschreibungen usw. in die Rechtsstellung der übertragenden GmbH steuerbilanzrechtlich ein. Sind die Wirtschaftsgüter in der Schlussbilanz der übertragenden GmbH mit den Buchwerten angesetzt, so wird die bisher geltende Abschreibungsdauer in der übernehmenden Personengesellschaft fortgesetzt. Aus dem Grundsatz der Gesamtrechtsnachfolge folgt auch, dass beim übernehmenden Rechtsträger Vorbesitzzeiten angerechnet und Haltefristen nicht unterbrochen werden. Da das Vermögen jedoch im Wege der Gesamtrechtsnachfolge übergeht, liegt keine Anschaffung der übergehenden Wirtschaftsgüter vor, so dass beispielsweise (neue) Investitionszulagen nicht gewährt werden können. Insoweit besteht also kein Unterschied zur Fortschreibung der AfA bei der Verschmelzung zweier GmbHs (s. Rz. 8.180). bb) Ebene der Gesellschafter

8.188

Die Anteilseigner der übertragenden Kapitalgesellschaft werden durch die Verschmelzung Mitunternehmer nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Die Besteuerung der offenen Rücklagen anlässlich der Umwandlung erfolgt vorrangig durch eine sog. Ausschüttungsfiktion. Der steuerrechtliche Ausgangspunkt hierbei ist § 7 UmwStG. Die offenen Rücklagen werden den Anteilseignern als Einnahmen aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zugerechnet; im Ergebnis kommt es zur Anwendung des § 3 Nr. 40 Buchst. d EStG bzw. § 8b KStG. Bei der Ermittlung des Übernahmeergebnisses nach § 4 Abs. 4 Satz 1 EStG sind die Bezüge nach § 7 UmwStG als Abzugsposten zu berücksichtigen (§ 4 Abs. 5 Satz 2 UmwStG). Das ist steuersystematisch richtig, weil es sonst zu einer doppelten Belastung der offenen Rücklagen kommen würde.

8.189

Da nach der Konzeption des Gesetzes steuerverstrickte Anteile an der Kapitalgesellschaft nach § 4 UmwStG als in die Personengesellschaft eingelegt gelten und damit fiktiv zum Betriebsvermögen der Personengesellschaft gehören, ergibt sich nach § 4 Abs. 4 UmwStG infolge des Vermögensübergangs ein Übernahmegewinn oder ein Übernahmeverlust. Dabei handelt es sich um den Unterschiedsbetrag zwischen dem Wert, mit dem die übergegangenen Wirtschaftsgüter zu übernehmen sind und dem Buchwert/den Anschaffungskosten der Anteile an der übertragenen Kapitalgesellschaft. Da der übernehmende Rechtsträger steuerrechtlich transparent behandelt wird (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG), ist das Übernahmeergebnis für 372 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.202 § 8

jeden der nunmehrigen Personengesellschafter separat zu ermitteln. Seinem Anteilswert nach § 5 UmwStG ist der anteilige Wert des von der Personengesellschaft angesetzten Betriebsvermögens der vormaligen Kapitalgesellschaft gegenüberzustellen. Das heißt, dass der Übernahmegewinn oder der Übernahmeverlust gesellschafterbezogen ermittelt wird. Dabei wird es auf Grund der individuell zu beachtenden Besonderheiten jeden Gesellschafters regelmäßig zu einer Ermittlung unterschiedlicher Übernahmeergebnisse kommen. Das Übernahmeergebnis zählt dann zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG und ist von dem für die Personengesellschaft zuständigen Feststellungsfinanzamt einheitlich und gesondert nach §§ 179, 180 AO festzustellen. Allerdings regelt § 4 Abs. 6 UmwStG, dass ein Übernahmeverlust außer Ansatz bleibt, wenn er auf eine Kapitalgesellschaft als Mitunternehmerin der Personengesellschaft entfällt. Das ist steuersystematisch konsequent, weil dies den Wertungen des § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG entspricht.

8.190–8.200

Einstweilen frei.

VII. Gesellschafterdarlehen, insbesondere Rangrücktritt und Forderungsverzicht 1. Rangrücktritt Im Fokus der Beratung von Unternehmenssanierungen steht in der Regel die Restrukturierung der Finanzierung der GmbH durch ihre Gesellschafter. Dabei kommt es in der Praxis oft zur Ausweitung des Eigenkapitalverlustrisikos. Steuerrechtlich privilegiert ist aber nur das Fremdkapital1. Insbesondere die dogmatische Einordnung von Sanierungsmaßnahmen, wie Rangrücktritte und Forderungsverzichte (s. dazu unter Rz. 8.205 f.), waren in der Vergangenheit umstritten2. Die Relevanz dieser Thematik zeigt sich auch bei der Bilanzierung entsprechender Verbindlichkeiten (vgl. etwa § 5 Abs. 2a EStG). Soweit ein bilanzieller Sanierungsertrag entsteht, ist § 3a EStG im Blick zu behalten (s. Rz. 8.38 ff.); hinsichtlich einer späteren Veräußerung von GmbH-Anteilen im Privatvermögen ist § 17 Abs. 2a EStG auf Gesellschafterebene zu beachten (Rz. 8.89 ff.). Gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO kann schon die Vereinbarung eines einfachen Rangrücktritts einer Forderung, die einen Nachrang im Insolvenzverfahren hinter den in § 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 InsO genannten Forderungen einnimmt, die Überschuldung der GmbH i.S. des § 19 InsO verhindern.

8.201

Damit sind auch bereits die Voraussetzungen umrissen, die eine Rangrücktrittsvereinbarung erfüllen sollte. Bei einem (schuldrechtlichen) einfachen Rangrücktritt handelt es sich um eine Vereinbarung, welche zivilrechtlich nicht zu einem Erlöschen der Darlehensverbindlichkeit der GmbH führt; stattdessen soll sie die Überschuldung der GmbH verhindern oder beseitigen, indem die Verbindlichkeit so modifiziert wird, dass sie im Überschuldungsstatus nicht zu passivieren ist. Dies geschieht, indem die Forderung des Gesellschafters mindestens hinter das sonstige Fremdkapital zurücktritt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass eine Rangrücktrittsvereinbarung als solche bezeichnet wird, sondern allein ob dinglich in den Stand der Verbindlichkeit/Forderung eingegriffen wird (iura novit curia). Für Gesellschafterdarlehen gilt grundsätzlich gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 4, 5 InsO bereits ein gesetzlicher Nachrang3.

8.202

1 Weber-Grellet in Schmidt, § 5 EStG Rz. 550 „Gesellschafterfinanzierung; Eigenkapitalersatz; Restrukturierung“. 2 S. zur Entwicklung Weber-Grellet, BB 2015, 2667, 2669. 3 Vgl. Bäuerle in Braun, § 39 InsO Rz. 21.

Crezelius/B. Westermann | 373

§ 8 Rz. 8.203 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

8.203

Handelsrechtlich sind Gesellschafterdarlehen im Jahresabschluss der GmbH gesondert auszuweisen oder im Anhang anzugeben (§ 42 Abs. 3 GmbHG). Bei fortbestehender wirtschaftlicher Belastung ist die Forderung zu passivieren; eine Stärkung des handelsbilanziellen Eigenkapitals kommt indes nicht in Betracht. Für die Steuerbilanz gilt für unverzinsliche Darlehen, die am Bilanzstichtag eine Restlaufzeit von 12 Monaten oder mehr besitzen, ein Abzinsungsverbot auf Grund § 6 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 1 Nr. 2 EStG. Im Übrigen ergibt sich grundsätzlich eine Passivierungspflicht als Fremdkapital aufgrund der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz. Ausnahmsweise kann sich für die Steuerbilanz etwas Abweichendes aus § 5 Abs. 2a EStG ergeben, wonach Verpflichtungen, die nur zu erfüllen sind, soweit künftig Einnahmen oder Gewinne anfallen, erst anzusetzen sind, wenn diese Einnahmen oder Gewinne auch angefallen sind (Passivierungsverbot). Die Regelung erfasst künftige Vermögenswerte der Gesellschaft1.

8.204

Die praktische Folge der Ausbuchung einer Verbindlichkeit nach § 5 Abs. 2a EStG ist ein außerordentlicher bilanzieller Mehrertrag, welcher vorbehaltlich seiner etwaigen Eigenschaft als steuerfreier Sanierungsertrag i.S. des § 3a EStG eine erneute Steuerverbindlichkeit bzw. Steuerrückstellung nach sich ziehen könnte, was insolvenzrechtlich wiederum in die Überschuldung führen könnte. Soweit wie die ausgebuchte Verbindlichkeit werthaltig ist, kommt es zu einer den Gewinn neutralisierenden Einlage. Damit kommt es zu den gleichen Folgen wie bei einem Forderungsverzicht.

8.205

Dieser qualifizierte Rangrücktritt i.S. des § 5 Abs. 2a EStG setzt voraus, dass die Forderung ausschließlich aus künftigen Jahres- und oder Liquiditätsüberschüssen erfüllt wird2. Auf sonstiges freies Vermögen darf dagegen kein Anspruch bestehen3. Eine entsprechende Vereinbarung kann den Wesensgehalt einer Verbindlichkeit mit steuerbilanzieller Wirkung verändern4. Der Zugriff des Gesellschafters auf den Liquidationsüberschuss oder das sonstige freie Vermögen wird prinzipiell nicht eingeschränkt, vielmehr wird eine zeitliche Bedienungsreihenfolge vorgegeben, nämlich nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger, zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen der Mitgesellschafter5. § 5 Abs. 2a EStG ist jedenfalls dann nicht gegeben, wenn die Begleichung der Verbindlichkeit zeitlich aufschiebend bedingt – bis zur Krisenabwendung – verweigert werden kann6.

8.206

Auf Ebene des Gesellschafters führt erst ein qualifizierter Rangrücktritt – über die Voraussetzungen einer verdeckten Einlage – zu nachträglichen Anschaffungskosten7. Denn dann erfüllt

1 Kubik/Münch, BB 2021, 1387, 1388. 2 BFH v. 30.11.2011 – I R 100/10, BStBl. II 2012, 332 = BB 2012, 764 m. Anm. Mihm = ZIP 2012, 570 = GmbHR 2012, 406 m. Anm. Berg/Schmich. 3 BFH v. 19.8.2020 – XI R 32/18, BStBl. II 2021, 279 = ZIP 2020, 2566; BFH v. 30.11.2011 – I R 100/ 10, BStBl. II 2012, 332 = GmbHR 2012, 406 m. Anm. Berg/Schmich; dazu Görden, GmbH-StB 2012, 107; Rätke, StuB 2012, 338; Schmid, FR 2012, 837; vgl. auch Kahlert, DStR 2015, 734; Korn, KÖSDI 2012, 17837. 4 BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769; Kahlert, DStR 2015, 734. 5 Vgl. BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670 = ZIP 2017, 818; BFH v. 15.4.2015 – I R 44/ 14, BStBl. II 2015, 769 = GmbHR 2015, 881 m. Anm. Briese = ZIP 2015, 1386 m. Anm. Kahlert. 6 BMF v. 14.8.2006 – IV C 8-S 2255-224/06, BStBl. I 2006, 496 Rz. 7. 7 BMF v. 5.4.2019 – IV C 6-S 2244/08/10001, BStBl. I 2019, 257; Förster/v. Cölln, DB 2017, 2886, 2887; Fuhrmann, KÖSDI 2018, 2076, 20799; BFH v. 10.8.2016 – I R 25/15, BStBl. II 2017, 670 = ZIP 2017, 818; BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 = GmbHR 2015, 881 m. Anm. Briese = ZIP 2015, 1386 m. Anm. Kahlert.

374 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.209 § 8

der qualifizierte Rangrücktritt die Anforderungen einer eigenkapitalähnlichen Finanzierung1. Nach alledem ist eine rein schuldrechtliche Rangrücktrittsvereinbarung, bei der es im Wesentlichen darum geht, den Ausweis einer Überschuldung im Überschuldungsstatus zu vermeiden, weiterhin als Verbindlichkeit zu passivieren, also nicht gewinnerhöhend aufzulösen (steuerneutraler, einfacher Rangrücktritt). In der Praxis ist vor dem Hintergrund des Gesagten ein besonderes Augenmerk auf die exakte Formulierung einer Rangrücktrittsvereinbarung zu legen. Auch wenn § 3a EStG eine Steuerfreiheit von Sanierungserträgen unternehmensbezogener Sanierungen vorsieht, kommt es zunächst zu einer Aufzehrung steuerlicher Verlustvorträge. Nach Möglichkeit sollte daher die Entstehung eines außerordentlichen Sanierungsertrags bei der Restrukturierung der Gesellschafterfinanzierung vermieden werden.

2. Forderungsverzicht a) Ebene der GmbH Auf Ebene der GmbH bereitet der Erlassvertrag i.S. von § 397 BGB einer Darlehensverbindlichkeit durch den Gesellschafter keine Schwierigkeiten, wenn diese im Zeitpunkt des Erlöschens voll werthaltig gewesen ist. Handelsrechtlich geht es dann um einen Fall des § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB (Kapitalrücklage), steuerrechtlich handelt es sich um eine nicht steuerbare verdeckte Einlage, soweit der Forderungserlass mit Rücksicht auf das Gesellschaftsverhältnis durchgeführt wird (§ 8 Abs. 3 Satz 3 KStG). Allerdings dürfte die vorstehend beschriebene Konstellation der Ausnahmefall sein, da in einer Krisensituation der GmbH das Darlehen des Gesellschafters regelmäßig nicht mehr voll werthaltig ist. Nach überwiegender handelsrechtlicher Ansicht können Forderungen eines Gesellschafters nur Gegenstand einer offenen Sacheinlage sein2. Wegen des Grundsatzes effektiver Kapitalaufbringung gilt dies aber ebenfalls nur soweit die Forderung werthaltig ist. Steuerrechtlich resultiert daraus das Problem, ob die durch den Forderungserlass bewirkte Vermögensmehrung auf Gesellschaftsebene einen erfolgsneutralen Finanzierungsvorgang oder einen ggf. steuerbaren Gewinn darstellt.

8.207

Bei der Kapitalgesellschaft (GmbH) ist allein der werthaltige Teil der Forderung Einlage und damit i.H. des Teilwerts dem steuerrechtlichen Einlagekonto i.S. des § 27 KStG zuzuschreiben3. Bei der Ermittlung der Werthaltigkeit sind Sicherheiten grundsätzlich zu berücksichtigen. Der Erlass kann auch von einer dem Gesellschafter nahestehenden Person ausgesprochen werden; diese Variante wird steuerrechtlich so behandelt, als habe der Dritte die Forderung auf den Gesellschafter übertragen und dieser der GmbH die Forderung erlassen. War in dieser Konstellation die Darlehensforderung durch den Gesellschafter besichert, dann ist diese Absicherung bei der Ermittlung des werthaltigen Teils der Forderung nicht zu berücksichtigen. Entscheidend ist allein, in welcher Höhe die Forderung für den Gesellschafter werthaltig ist.

8.208

Der Unterschiedsbetrag zwischen werthaltigem Teil und Nennbetrag des bislang bei der Kapitalgesellschaft als Fremdkapital passivierten Gesellschafterdarlehens ist bilanzieller Ertrag und damit grundsätzlich steuerbares Einkommen der Kapitalgesellschaft, welches unter den Voraussetzungen von § 3a EStG (Rz. 8.38 ff.) einen steuerfreien Sanierungsertrag darstellt.

8.209

1 Vgl. BFH v. 15.4.2015 – I R 44/14, BStBl. II 2015, 769 = GmbHR 2015, 881 m. Anm. Briese = ZIP 2015, 1386 m. Anm. Kahlert. 2 Z.B. Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 56 GmbHG Rz. 9; Priester/Tebben in Scholz, § 56 GmbHG Rz. 13 m.w.N. 3 BFH (GrS) v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 = GmbHR 1997, 851; vgl. Kubik/Münch, BB 2021, 1387, 1389.

Crezelius/B. Westermann | 375

§ 8 Rz. 8.209 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

Greift das Privileg nicht, kommt es zu einer Körperschaftsbesteuerung des nicht werthaltigen Teils nach § 23 Abs. 1 KStG.

8.210

Nach alledem ist für die laufende Besteuerung auf Ebene der GmbH erst ein dinglicher Eingriff des Anteilseigners in den Bestand der Verbindlichkeit und die daraus resultierende Umqualifizierung des formalen Fremdkapitals in Eigenkapital maßgeblich; einlagefähig sind Forderungen nur in Höhe des noch werthaltigen Betrages. Dieses Ergebnis entspricht sowohl der gesellschaftsrechtlichen (Grundsatz effektiver Kapitalaufbringung) als auch der steuerrechtlichen Interessenlage (Maßgeblichkeit der Handelsbilanz sowie Verlustnutzung auf Gesellschafterebene; s. sogleich Rz. 8.221 ff.).

b) Ebene der Gesellschafter 8.211

Auf der Ebene des Gesellschafters führt der Erlass in Höhe des werthaltigen Teils der Forderung zu einer Erhöhung der Anschaffungskosten der Beteiligung, sofern es sich um eine steuerverstrickte Beteiligung handelt (Betriebsvermögen, § 17 Abs. 2a, § 20 Abs. 2 EStG, § 22 UmwStG). Wenn die Darlehensforderung, auf die der Gesellschafter verzichtet hat, zu einem Betriebsvermögen des Gesellschafters gehört, dann kann der Erlass beim Gesellschafter, je nach dem Buchwert der Forderung, entweder zu einem Verlust oder zu einem Gewinn führen, es kann sich aber auch um einen erfolgsneutralen Vorgang handeln. Entspricht der Buchwert des Darlehens in der Bilanz des an der GmbH beteiligten Gesellschafters dem Nominalwert der Darlehensforderung, dann entsteht durch den Erlass des Gesellschafterdarlehens ein Verlust des nicht werthaltigen Teils der Forderung, der auf der Ebene der GmbH – vorbehaltlich des § 3a EStG – zu einem steuerbaren Gewinn geführt hat. War der Buchwert der Darlehensforderung schon gesunken, dann führt der Erlass auf dieses Darlehen zu einem Gewinn in der Bilanz des Gesellschafters, soweit der Wert der Einlage höher ist als der Buchwert. Entspricht der Buchwert des Darlehens der Bilanz des GmbH-Anteilseigners der Werthaltigkeit, dann ist der Erlass erfolgsneutral, weil der Buchwert mit dem Wert der verdeckten Einlage korrespondiert.

8.212

Kommt es in Betriebsvermögensfällen zu einem Verlust, dann ist danach zu unterscheiden, ob der Gesellschafter Einkommensteuer- oder Körperschaftsteuersubjekt ist. Bei Körperschaftsteuersubjekten ist der Anwendungsbereich des § 8b Abs. 3 Satz 3 ff. KStG eröffnet; bei Einkommensteuersubjekten greift im Teileinkünfteverfahren das Teilabzugsverbot des § 3c Abs. 2 EStG (Rz. 8.9 ff.)1.

8.213

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein unbedingter Erlass eines Gesellschafterdarlehens gegenüber der GmbH aus steuerrechtlicher Sicht weniger zu empfehlen ist, soweit die Darlehensforderung nicht mehr voll werthaltig ist bzw. das Darlehen zum nicht steuerverstrickten Privatvermögen des Anteilseigners gehört. Zwar sind Sanierungserträge unter den Voraussetzungen des § 3a EStG auf Ebene der GmbH steuerfrei, dies impliziert aber eine Minderung des körperschaftsteuerrechtlichen Verlustvortrags. In der zweiten Variante kann ein Verlust auf Gesellschafterebene nur in Fällen der Steuerverstrickung und dann auch nur bei einer Veräußerung geltend gemacht werden, dann aber mit den Folgeproblemen der § 3c Abs. 2 EStG, § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG. Aus steuerrechtlicher Sicht ist daher der schuldrechtliche Rangrücktritt vorzugswürdig.

1 Vgl. Paetsch in BeckOK/EStG, § 3c EStG Rz. 129.1.

376 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.216 § 8

c) Sonderfall Besserungsabreden Eine Sondersituation ergibt sich, wenn die Parteien die Forderungen zwar dinglich erlassen wollen, jedoch den Erlass mit einer Besserungsvereinbarung/einem Besserungsschein verknüpfen1. Dogmatisch handelt es sich dabei um einen Erlass, der unter der auflösenden Bedingung vereinbart ist, dass die GmbH wieder in der Lage ist, das Darlehen zu tilgen und zu verzinsen. Aus § 158 Abs. 2, § 159 BGB ergibt sich, dass im Grundsatz der Eintritt der Bedingung keine Rückwirkung hat, dass jedoch schuldrechtlich vereinbart werden kann, dass der Bedingungseintritt zurückwirkt. Eine Vereinbarung mit schuldrechtlicher Rückwirkung schon in dem ursprünglichen Erlassvertrag hat Bedeutung, wenn die Darlehenszinsen auch mit steuerrechtlicher Wirkung für die Zeit der Krise an den Gläubiger/Gesellschafter nachgezahlt werden sollen.

8.214

Für den Erlass mit Besserungsvereinbarungen gelten die dargestellten Konsequenzen: bei Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis und – wie regelmäßig – eingeschränkter Werthaltigkeit der Forderung, kommt es wie bei einem Erlass ohne Besserungsvereinbarung auf der Ebene der GmbH zu einem Sanierungsertrag i.S. des § 3a EStG in Höhe des nicht mehr werthaltigen Teils der Forderung2. Für die zukünftige Verpflichtung aus der Besserungsvereinbarung darf auf Ebene der Gesellschaft keine Rückstellung gebildet werden, weil es sich um eine aufschiebend bedingte Verbindlichkeit handelt, die erst aus künftigen Gewinnen zu tilgen ist3. In Höhe des werthaltigen Teils ist auch der Erlass mit Besserungsvereinbarung eine Einlage, die das steuerrechtliche Einlagekonto des § 27 KStG bei der Kapitalgesellschaft erhöht. Im Gegenzug erhöht dieser werthaltige Teil die Anschaffungskosten des Gesellschafters im Hinblick auf die Beteiligung. Es ergeben sich also andere Konsequenzen als beim einfachen Rangrücktritt (Rz. 8.201 ff.). Das ist zutreffend, weil der Forderungsverzicht mit Besserungsabrede und der einfache Rangrücktritt sowohl dogmatisch als auch wirtschaftlich nicht vergleichbar sind und deshalb auch steuerbilanziell nicht identisch behandelt werden können. Die Eigenart des einfachen Rangrücktritts ist seine lediglich schuldrechtliche Wirkung und der bestehenbleibende Erfüllungszwang, demgegenüber beim Forderungsverzicht mit Besserungsvereinbarung die aktuelle Belastung wegfällt.

8.215

Bilanziell führt der auflösend bedingte Forderungsverzicht zunächst für die Dauer der Krise zur Bildung von Eigenkapital der Gesellschaft. Im Zeitpunkt des Bedingungseintritts wandelt sich das Eigenkapital wieder in Fremdkapital um. Die Umwandlung des Eigenkapitals in Fremdkapital stellt nach Ansicht des BFH keine Gewinnausschüttung, sondern vielmehr eine Art negative Einlage dar4. Entsprechend des werthaltigen Forderungsbetrags, der beim Erlass den Bestand des Einlagekontos erhöht hatte, ist nun mit ex nunc-Wirkung vom steuerrechtlichen Einlagekonto des § 27 KStG ein Abzug vorzunehmen5. Hatte der Erlass bei der GmbH in Höhe des wertlosen Teils des Darlehens zu einem Sanierungsertrag geführt (Rz. 8.38 ff.), mindert sich in der Rechnungsperiode des Eintritts der Bedingung der Gewinn der GmbH durch die erneute Passivierung des Darlehens als Fremdkapital. Dies gilt auch im Hinblick

8.216

1 Vgl. BFH v. 30.5.1990 – I R 41/87, BStBl. II 1991, 588 = GmbHR 1991, 73; BMF v. 2.12.2003 – IV A 2-S 2743-5/03, BStBl. I 2003, 648; Weber-Grellet in Schmidt, § 5 EStG Rz. 550 „Gesellschafterfinanzierung“. 2 BFH v. 9.6.1997 – GrS 1/94, BStBl. II 1998, 307 = GmbHR 1997, 851 = ZIP 1998, 471. 3 Groh, BB 1983, 1882. 4 BFH v. 30.5.1990 – I R 41/87, BStBl. II 1991, 588 = GmbHR 1991, 73. 5 Bauschatz in Gosch, § 27 KStG Rz. 53 m.w.N.; a.A. dagegen Berninghaus in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 27 KStG Rz. 41; Endert, DStR 2016, 1009.

Crezelius/B. Westermann | 377

§ 8 Rz. 8.216 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

auf die Zinsen für die Dauer der Krise, wenn dies im Besserungsschein vereinbart gewesen ist. Das weder zivil- noch steuerrechtlich eine Fremdverbindlichkeit vorlag, ist dabei unschädlich1.

8.217

Dem folgt auch die Finanzverwaltung2, obgleich dies teilweise mit Blick auf § 27 Abs. 1 Satz 3, 4 KStG, wonach die Verrechnung mit dem Einlagekonto unabhängig von der handelsrechtlichen Einordnung der Leistung ist und das Einlagekonto nicht negativ werden kann, angezweifelt wird3. Diese Zweifel werden den Besonderheiten der Besserungsabrede aber nicht gerecht, da der automatische Abzug vom Einlagekonto dogmatische Kehrseite der Einlageverbuchung im Zeitpunkt des Erlasses ist4. Dies ist auch vom Wortlaut gedeckt, da der spätere Abzug sich nicht als Leistung i.S. des § 27 Abs. 1 Satz 4 KStG darstellt. Die in das Einlagekonto zugeführte Buchung ist folglich nur temporäres Eigenkapital, welches bei Eintritt des Besserungsfalls zum Wiederaufleben der Gesellschafterforderung führt. Diese negative Einlage ist nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KStG vom Einlagekonto abzuziehen.

8.218

Auf der Gesellschafterebene mindern sich die nachträglichen Anschaffungskosten einer steuerverstrickten Beteiligung im Zeitpunkt des Bedingungseintritts, d.h. des Wiederauflebens der Darlehensforderung, soweit der vorherige Erlass in Höhe des werthaltigen Teils zu Anschaffungskosten geführt hatte. Diese eher unproblematische Rechtslage wird kompliziert, wenn ein GmbH-Gesellschafter mit einer steuerverstrickten Beteiligung, beispielsweise ein nach § 17 EStG qualifiziert Beteiligter, seinen GmbH-Geschäftsanteil zu einem Zeitpunkt vor Eintritt der auflösenden Bedingung veräußert hat. Im Zeitpunkt der Veräußerung ist in der Person des Beteiligten entweder ein Veräußerungsgewinn oder ein Veräußerungsverlust (nach § 17 EStG) entstanden. Da die auflösende Bedingung nicht zurückwirkt, ist daran zu denken, dass die auf Grund des Erlasses erhöhten Anschaffungskosten bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns oder des Veräußerungsverlustes zu berücksichtigen sind.

8.219

Im Anwendungsbereich des § 8c KStG (Rz. 8.121 ff.) stellt sich die Frage, ob durch einen Erlass mit Besserungsvereinbarung der Verlustvortrag in eine andere Steuerperiode verlagert, mithin über einen schädlichen Beteiligungserwerb hinweg „gerettet“ werden kann. Im Einzelnen geht es darum, dass durch einen Erlass mit Besserungsabrede und nicht vorhandener Werthaltigkeit des Gesellschafterdarlehens ein Gewinn entsteht, der durch einen Verlustvortrag kompensiert werden kann. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Besserungsvoraussetzungen entsteht das Gesellschafterdarlehen wieder als Fremdverbindlichkeit (Rz. 8.214). Zu fragen ist, ob diese Konstruktion geeignet ist, auch nach einem schädlichen Beteiligungserwerb i.S. des § 8c KStG, einen Verlustvortrag der GmbH geltend zu machen5. Für diese Konstellation vertritt bzw. vertrat die Finanzverwaltung zum Tatbestand des § 8 Abs. 4 KStG a.F. die folgende Auffassung6: Wenn zwischen dem Zeitpunkt der Ausbuchung und der Wiedereinbuchung der Verbindlichkeit „eigentlich“ der Tatbestand des § 8 Abs. 4 KStG a.F. erfüllt wurde, dann soll davon ausgegangen werden, dass der sich aus der Wiedereinbuchung ergebende steuerrechtliche Aufwand, der Unterschied zwischen dem Nennbetrag und dem Teilwert der Forderung im Verzichtszeitpunkt, nicht abzugsfähig sei, da insoweit der Verlust verloren gegangen sei. 1 BMF v. 2.12.2003 – IV A 2-S 2743-5/03, BStBl. I 2003, 648. 2 BMF v. 4.6.2003 – IV A 2-S 2836-2/03, BStBl. I 2003, 366 Rz. 29 unter Bezugnahme auf BFH v. 30.5.1990 –I R 41/87, BStBl. II 1991, 588 = GmbHR 1991, 73. 3 Vgl. Berninghaus in Herrmann/Heuer/Raupach, § 27 KStG Rz. 41; Endert, DStR 2016, 1009. 4 Vgl. BFH v. 30.3.1990 – I R 41/87, BStBl. II 1991, 588 = GmbHR 1991, 73. 5 Näher Pohl, DB 2008, 1531. 6 BMF v. 2.12.2003 – IV A 2-S 2743-5/03, BStBl. I 2003, 648.

378 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.223 § 8

Die Auffassung der Finanzverwaltung ist weder für das frühere Recht1 noch für potenzielle Anwendungsfälle des § 8c KStG2 vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt. Dies hat der BFH für die frühere Rechtslage ausdrücklich festgestellt3. Ein Missbrauch rechtlicher Gestaltungen i.S. des § 42 AO könne schon deshalb nicht angenommen werden, weil die gewählte Gestaltung nicht vom Wortlaut des § 8 Abs. 4 KStG a.F. – der im Sachverhalt hätte einschlägig sein können – erfasst werde; es gehe bei § 8 Abs. 4 KStG a.F. eben nicht um die neuerliche Passivierung einer Verbindlichkeit. Dem ist zuzustimmen, da im Zeitpunkt des Anteilseignerwechsels ein technischer Verlustvortrag i.S. des § 10d EStG nicht vorhanden ist, sondern ein etwaiger Aufwand bzw. Verlust dogmatisch später erneut entsteht4. Die schlichte Verlustnutzung ist vor dem Hintergrund von § 42 AO nicht zu beanstanden5.

8.220

Offen bleibt aber, ob die Rechtsgrundsätze der zitierten BFH-Entscheidung auch für die aktuelle Regelung in § 8c KStG anzuwenden sind. Dies ist zu bejahen, weil auch § 8c KStG nur solche Verlustvortragspositionen erfasst, die bis zu einem schädlichen Beteiligungserwerb nach § 8c Abs. 1 KStG nicht genutzt worden sind. Es geht bei § 8c KStG nicht um steuerrechtlich entstehenden Aufwand/Betriebsaufgaben, die nach einer Anteilsübertragung oder einem gleichgestellten Sachverhalt entstehen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass die Rechtslage für § 8c KStG insoweit nicht eindeutig geklärt ist. Angesichts der Sanierungsklausel in § 8c Abs. 1a KStG n.F. ist die Brisanz dieser Fragestellung mittlerweile etwas entschärft. Gleichwohl sollte dieser Thematik im Distressed M&A-Bereich die gebotene Aufmerksamkeit gewidmet werden.

8.221

3. Forderungsverzicht bei GmbH & Co. KG a) Überblick Steuerrechtliche Probleme durch einen Forderungsverzicht des Gesellschafters können auch im Bereich der Personengesellschaften, insbesondere bei der GmbH & Co. KG zu lösen sein. Im Grundsatz ist darauf hinzuweisen, dass die Besteuerung der Personengesellschaften/der Mitunternehmerschaften des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG transparent ist, also nicht – wie im Körperschaftsteuerrecht – dogmatisch zwischen der Besteuerungsebene der Kapitalgesellschaft und derjenigen des Anteilseigners zu unterscheiden ist.

8.222

Personengesellschaftsrechtlich liegt es zweifelsfrei so, dass auch der Personengesellschafter mit „seiner“ Gesellschaft in schuldrechtliche Beziehungen treten kann. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG macht aber nicht nur deutlich, dass bei einer Personengesellschaft/einer steuerrechtlichen Mitunternehmerschaft der einzelne Gesellschafter als Steuersubjekt zu qualifizieren ist, vielmehr zeigt die Norm auch, dass schuldrechtliche Beziehungen zwischen Gesellschaft und Gesellschafter steuerrechtlich im Ergebnis nicht anerkannt werden. Daraus soll aber nicht die Folgerung zu ziehen sein, dass eine Forderung eines Mitunternehmers gegen die Personengesellschaft in eine Forderung gegen sich selbst und gegen die übrigen Gesellschafter/die Gesellschaft aufzuspalten ist6. Ist also eine Darlehenshingabe durch den Gesellschafter an die Personengesell-

8.223

1 Boeck, GmbHR 2004, 221; Hoffmann, DStR 2004, 293. 2 Pohl, DB 2008, 1531. 3 BFH v. 12.7.2012 – I R 23/11, BFH/NV 2012, 1901 = GmbHR 2012, 1188 = ZIP 2012, 2156 gegen BMF v. 2.12.2003 – IV A 2-S 2836-2/03, BStBl. I 2003, 648. 4 A.A. Pohl, DB 2008, 1531, 1532 f. 5 BFH v. 19.8.1999 – I R 77/96, BStBl. II 2001, 43 = GmbHR 1999, 1258; BFH v. 17.10.2001 – I R 97/00, BFH/NV 2002, 240 = GmbHR 2002, 169 m. Anm. Eilers/Schneider; BFH v. 7.8.2002 – I R 64/01, BFH/NV 2003, 205 = GmbHR 2003, 183. 6 BFH v. 8.12.1982 – I R 9/79, BStBl. II 1983, 570; Wacker in Schmidt, § 15 EStG Rz. 540.

Crezelius/B. Westermann | 379

§ 8 Rz. 8.223 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

schaft im weitesten Sinne gesellschaftsrechtlich veranlasst1, dann wird die Darlehensforderung des Gesellschafters steuerrechtlich als Sonderbetriebsvermögen I eingeordnet und in der Sonderbilanz des betreffenden Mitunternehmers in der Mitunternehmerschaft aktiviert2. Korrespondierend kommt es in der Bilanz der Personengesellschaft, also auf Gesamthandsebene (sog. Gesamthandsbilanz), zu einer Fremdverbindlichkeit, und zwar unabhängig davon, ob dem Kredit ein eigenständiger und vom Gesellschaftsverhältnis unabhängiger Vertrag zugrunde liegt oder ob er als gesellschaftsrechtlicher Beitrag des Personengesellschafters geschuldet wird3.

8.224

Zu einer Aktivierung in der Sonderbilanz des darlehensgewährenden Gesellschafters kommt es auch dann, wenn die Forderung bei diesem Gesellschafter eigentlich zu einem eigenen, anderen Betriebsvermögen gehören würde4. Dabei ist nicht ganz geklärt, ob dieser Vorrang des Sonderbetriebsvermögens vor einem eigenen Betriebsvermögen des Mitunternehmers auch dann gilt, wenn es sich um Forderungen des Gesellschafters aus dem eigenen Betrieb und laufende Lieferungen und Leistungen handelt5. Bei laufenden Lieferungen und Leistungen zwischen einem anderen Betriebsvermögen und der Mitunternehmerschaft kann bezweifelt werden, ob sich dies noch als Verwirklichung des Gesellschaftsverhältnisses im weitesten Sinn darstellt.

8.225

Wird davon ausgegangen, dass die Darlehensverbindlichkeit der GmbH & Co. KG bzw. die Darlehensforderung des Gesellschafters der GmbH & Co. KG zur Gesamtbilanz der Mitunternehmerschaft zählen, dann sind die auf das Darlehen von der Gesellschaft gezahlten Zinsen Betriebsausgaben und entsprechend beim Gesellschafter nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu erfassende Sonderbetriebseinnahmen. Im Ergebnis führt das dazu, dass der Anspruch des Gesellschafters zwar nicht zu dem in der Bilanz der Gesellschaft auszuweisenden Eigenkapital gehört, wohl aber zum Sonderbetriebsvermögen des Gesellschafters, welches in der aus der Gesellschaftsbilanz und der Sonderbilanz zu bildenden Gesamtbilanz der Mitunternehmerschaft als Eigenkapital behandelt wird6.

b) Verzicht 8.226

Verzichtet der Personengesellschafter auf die in seiner Sonderbilanz aktivierte Forderung, dann ist zu entscheiden, ob es zu vergleichbaren Rechtsfolgen wie beim Forderungsverzicht eines Kapitalgesellschafters kommt. Wird auf die Forderung des Gesellschafters auf Grund gesellschaftsrechtlicher Veranlassung verzichtet, dann handelt es sich um eine Einlage in Höhe des Nennwerts der Forderung7. Wird unterstellt, dass der Gesellschafter aus eigenbetrieblichem Interesse auf die Darlehensforderung verzichtet, um beispielsweise seine Geschäftsbeziehungen zu der Personengesellschaft aufrecht zu erhalten, wird vertreten, dass auch in dieser Variante eine gesellschaftsrechtlich veranlasste Einlage anzunehmen ist8. Nach anderer Auffassung soll es hier zu einer Parallele zum Forderungsverzicht des Kapitalgesellschafters kommen9. Dann wäre nur in Höhe des werthaltigen Teils der Forderung bei der Personengesellschaft 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. Woerner, DStZ 1980, 203. BFH v. 28.3.2000 – VIII R 28/98, BStBl. II 2000, 347, 348 = GmbHR 2000, 570. BFH v. 13.10.1998 – VIII R 78/97, BStBl. II 1999, 163, 166 = GmbHR 1999, 199. BFH v. 7.12.2000 – III R 35/98, BStBl. II 2001, 316, 319 = GmbHR 2001, 358; Brandenberg, FR 1997, 88. Näher Wacker in Schmidt, § 15 EStG Rz. 549. BFH v. 5.6.2003 – IV R 36/02, BStBl. II 2003, 871, 874 = GmbHR 2003, 1294 m. Anm. Hoffmann; vgl. auch Herbst/Stegemann, DStR 2017, 2081. Wacker in Schmidt, § 15 EStG Rz. 550. Ley, KÖSDI 2005, 14815, 14822. Wacker in Schmidt, § 15 EStG Rz. 550.

380 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.230 § 8

eine Einlage anzunehmen, beim Gesellschafter käme es zu einer Entnahme und in Höhe des Volumens des nicht mehr werthaltigen Teils bei der Personengesellschaft zu steuerpflichtigem Ertrag und korrespondierend beim Mitunternehmer zu abzugsfähigem Aufwand in seiner Sondergewinnermittlung. Das FG Rheinland-Pfalz hat sich mit Urteil vom 7.10.2020 dafür ausgesprochen, dass eine unter Nennwert erworbene Forderung gegen eine KG zunächst nicht zu einem steuerpflichtigen Ertrag führt, sondern erst bei Vollbeendigung der KG oder Ausscheiden des Gesellschafters steuerliche Folgen zu ziehen seien1. Dies ergebe sich aus dem Korrespondenzprinzip, wonach in der Gesamtbilanz eine einheitliche Bilanzierung des Gesellschafter-Fremdkapitals in der Gesamthandsbilanz und im Sonderbetriebsvermögen als Eigenkapital erfolge. Diese Eigenschaft als funktionales Eigenkapital wird erst durch die genannten Ereignisse beendet2.

8.227

Letztlich geht es darum, ob der Verzicht auf Grund eigenbetrieblicher Motivation des Gesellschafters zu einem Ergebnis führt, welches der Rechtslage bei der vom Trennungsprinzip bestimmten Kapitalgesellschaft entspricht. Angesichts der aktuellen finanzgerichtlichen Rechtsprechung ist weniger vertretbar, dass dann, wenn der Verzicht aus eigenbetrieblichen Gründen erfolgt, der Gedanke der transparenten Mitunternehmerbesteuerung zurückzutreten hat.

8.228

Wird ein Forderungsverzicht des Gesellschafters der GmbH & Co. KG als Einlage auf Gesellschaftsebene, auf Gesamthandsebene behandelt, kommt es zu einer erfolgsneutralen Erhöhung des Eigenkapitals in der Steuerbilanz der Personengesellschaft. Maßgebend ist der Buchwert/Nennbetrag der bislang passivierten Verbindlichkeit. Im Gegenzug mindert sich dann das Kapital des verzichtenden Gesellschafters in der Sonderbilanz erfolgsneutral um denselben Betrag. Aus dieser korrespondierenden Betrachtungsweise zwischen Sonderbilanz des Gesellschafters und Bilanz der Gesellschaft sollte auch zu folgern sein, dass die Erhöhung des Kapitals auf der Personengesellschaftsebene grundsätzlich dem Gesellschafter zugutekommen muss, der auf die Forderung verzichtet hat3.

8.229

Die Forderung der Gesellschafter gegen die Personengesellschaft ist schon deshalb zu aktivieren, weil die Personengesellschaft aus gleichem Rechtsgrund passiviert. Die Bilanzierung der Forderung in der Sonderbilanz der Gesellschafter erfolgt mit den Anschaffungskosten (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Liegen die Anschaffungskosten beim Erwerb der Forderung von einem Dritten unter dem Nominalwert der Forderung, ist der Bilanzansatz in der Sonderbilanz auf die niedrigeren Anschaffungskosten begrenzt4. Schließlich gilt das Anschaffungskostenprinzip auch für Aktivierungen in der Sonderbilanz5. Hiervon ausgehend sind die Grundsätze zur korrespondierenden Bilanzierung zwischen Gesellschaftsbilanz und Sonderbilanz anzuwenden. Dabei kann eine Forderung des Mitunternehmers im Ergebnis innerhalb der Mitunternehmerschaft nicht mit Gewinnauswirkung wertberichtigt werden6.

8.230

1 FG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2020 – 1 K 2191/15, BeckRS 2020, 32598 Rz. 63 ff. (Anhängige Revision beim BFH unter Az. IV R 28/20); so auch Krumm in Kirchhof/Seer, § 15 EStG Rz. 331. 2 BFH v. 16.3.2017 – IV R 1/15, BStBl. II 2017, 943 = GmbHR 2017, 880 = ZIP 2017, 1207. 3 Vgl. auch BFH v. 16.3.2017 – IV R 1/15, BStBl. 2017, II 943 = GmbHR 2017, 880 Rz. 42 = ZIP 2017, 1207; FG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2020 – 1 K 2191/15, BeckRS 2020, 32598 Rz. 63 ff. (Anhängige Revision beim BFH unter Az. IV R 28/20). 4 BFH v. 16.3.2017 – IV R 1/15, BStBl. 2017, II 943 = GmbHR 2017, 880 = ZIP 2017, 1207; zutreffend auch schon Ley, KÖSDI 2005, 14815, 14822. 5 BFH v. 31.10.2000 – VIII R 85/94, BStBl. II 2001, 185 = GmbHR 2001, 205. 6 Vgl. FG Rheinland-Pfalz v. 7.10.2020 – 1 K 2191/15, BeckRS 2020, 32598 Rz. 55 (Anhängige Revision beim BFH unter Az. IV R 28/20).

Crezelius/B. Westermann | 381

§ 8 Rz. 8.231 | 2. Teil Unternehmenssanierung (Grundlagen, Konzepte, Strategien)

4. Verzicht auf Pensionsanwartschaft 8.231

Gerade in Krisensituation der GmbH wird es vielfach so liegen, dass der Gesellschafter, der zugleich Geschäftsführer ist und dem eine Pensionszusage gewährt worden ist, auf diesen Vermögenswert verzichten will, um die Kapitalgesellschaft zu sanieren. Auch hier ist zu entscheiden, wie sich der Wegfall des Passivpostens „Pensionsrückstellung“ bei der GmbH und bei ihrem Gesellschafter auswirkt. Im Kern geht es hierbei um die Frage, ob ein solcher Verzicht des Gesellschafter-Geschäftsführers gesellschaftsrechtlich oder betrieblich veranlasst war.

8.232

Der Forderungsverzicht als gesellschaftsrechtlich veranlasst verdeckte Einlage ist von einer betrieblich veranlassten Sanierungsmaßnahme abzugrenzen1. Maßstab ist die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns. Ein Forderungsverzicht ist gesellschaftsrechtlich und nicht betrieblich veranlasst, wenn der Anteilseigner bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns die Schulden nicht erlassen hätte. Mithin hätte ein fremder Geschäftsführer unter sonst gleichen Umständen ebenso gehandelt. Dies wird in der Praxis in der Regel nur dann der Fall sein, wenn die Versorgungszusage eine Widerrufsmöglichkeit für diesen Fall vorsieht oder die GmbH aus anderen Gründen einen Anspruch auf Anpassung der Versorgungszusage auch für die Vergangenheit hat2. Der Verzicht muss dabei helfen, eine drohende Insolvenz zu vermeiden3. Liegen diese recht engen Voraussetzungen ausnahmsweise vor, kommt es auf Ebene der GmbH insoweit zu einer ertragswirksamen Auflösung der Rückstellung4. Auf Ebene des Gesellschafter-Geschäftsführers folgen keine steuerlichen Auswirkungen, d.h. er hat insoweit keinen Arbeitslohn zu versteuern und er hat auch keine nachträglichen Anschaffungskosten auf seine Beteiligung im Sinne des § 17 EStG.

8.233

Ist der Verzicht dagegen durch das Gesellschaftsverhältnis veranlasst, kommt es nach Auffassung des BFH zu einer Realisierung der Pensionsanwartschaft. Dabei ist zunächst zu ermitteln, ob und in welcher Höhe das Anwartschaftsrecht des pensionsberechtigten Gesellschafters werthaltig war. Auf Ebene der GmbH kommt es in Höhe des werthaltigen Teils zu einer Einlage des Gesellschafter-Geschäftsführers und körperschaftsteuerrechtlich zu einer Erhöhung des Einlagekontos des § 27 KStG. Ist der Teilwert der Einlage im Einzelfall höher als die auf Grund § 6a EStG berechnete und passivierte Pensionsrückstellung, dann führt der Verzicht des Gesellschafters in Höhe der Differenz zwischen dem Teilwert des Pensionsanwartschaftsrechts und der Rückstellung nach § 6a EStG zu einer Gewinnminderung auf der Gesellschaftsebene. Liegt der Einlagewert unterhalb des Werts nach § 6a EStG, dann entsteht in Höhe des Unterschiedsbetrags ein Sanierungsertrag i.S. des § 3a EStG (s. Rz. 8.38 ff.)5. Der Teilwert ist unter Beachtung der allgemeinen Teilwertermittlungsgrundsätze im Zweifel nach den Wiederbeschaffungskosten zu ermitteln. Es kommt also darauf an, welchen Betrag der Gesellschafter im Zeitpunkt des Verzichts hätte aufwenden müssen, um eine gleichhohe Pensionsanwartschaft gegen einen vergleichbaren Schuldner zu erwerben.

8.234

Auf der Ebene des auf die Pensionsanwartschaft verzichtenden Gesellschafters führt ein Verzicht auf die erdiente und werthaltige Anwartschaft nach Auffassung des BFH zu einer Einlage, durch die sich korrespondierend die Anschaffungskosten einer steuerverstrickten Beteiligung erhöhen (vgl. etwa § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 1 EStG) und zugleich zu einem Zufluss von 1 2 3 4

Vgl. BFH v. 29.7.1997 – VIII R 57/94, BStBl. II 1998, 652 = GmbHR 1998, 93. Vgl. BFH v. 23.8.2017 – VI R 4/16, BStBl. II 2018, 208 = GmbHR 2018, 94 Rz. 24 m. Anm. Briese. BMF v. 6.9.2005 – IV B 7-S 2742-69/05, BStBl. I 2005, 875. Brösztl-Reinsch in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, § 40 Rz. 98; vgl. auch Selig-Kraft, BB 2017, 159, 160. 5 BFH v. 15.10.1997 – I R 58/93, BStBl. II 1998, 305 = GmbHR 1998, 289.

382 | Crezelius/B. Westermann

§ 8 Steuerrechtliche Folgen der Sanierung | Rz. 8.236 § 8

Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG) in Höhe des werthaltigen Teils1. Im Ergebnis wird damit ein Zufluss nach § 11 EStG fingiert. Hinsichtlich des nicht werthaltigen Teils des Anwartschaftsrechts hat der Verzicht für den Gesellschafter-Geschäftsführer keine steuerrechtlichen Konsequenzen. Die Auffassung der Rechtsprechung, dass der werthaltige Teil der Pensionsanwartschaft im Falle eines Verzichts zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit beim Gesellschafter führt, ist steuersystematisch bedenklich2. Zunächst ist es fraglich, ob hier tatsächlich ein Zufluss nach § 11 EStG fingiert werden kann, obgleich der verzichtende Gesellschafter den Wert des Pensionsanwartschaftsrechts tatsächlich gar nicht erhält. Im Übrigen ergibt sich die überraschende Konsequenz, dass der werthaltige Teil zugleich zu Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nach § 19 EStG und in gleicher Höhe zu nachträglichen Anschaffungskosten bei einer steuerverstrickten Beteiligung führt. Das erscheint ungereimt, weil bei kapitalgesellschaftsrechtlichen Beteiligungen, die in einem Privatvermögen gehalten werden, der Betrag der Anschaffungskosten grundsätzlich aus versteuertem Einkommen gebildet wird, so dass keine Korrespondenz zwischen zufließenden Einnahmen, die zu versteuern sind, und dem Anschaffungskostenvolumen besteht.

8.235

Eine Ausnahme zu den dargestellten Grundsätzen bildet die Fallgruppe des sog. Future Service, also die Variante, in der ein Gesellschafter-Geschäftsführer allein auf künftig noch zu erdienende Pensionsanwartschaften verzichtet. Hierzu hat die Finanzverwaltung Stellung genommen3. Aus dem BMF-Schreiben wird deutlich, dass der Verzicht auf den Future Service so ausgestaltet werden kann, dass der Wert einer verdeckten Einlage Null Euro beträgt. Das ergibt sich daraus, dass es die Finanzverwaltung nicht beanstandet, wenn als erdienter Teil der Versorgungsleistungen bei einer Leistungszusage an einen beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer der Teilanspruch aus den bisher zugesagten Versorgungsleistungen angesetzt wird, der dem Verhältnis ab der Erteilung der Pensionszusage bis zum Verzichtszeitpunkt abgeleisteten Dienstzeit einerseits und der ab Erteilung der Pensionszusage bis zu der in der Zusage vorgesehenen Altersgrenze andererseits entspricht. Im Ergebnis kann damit der fiktive Zufluss beim Gesellschafter vermieden werden, wenn sich durch den Teilverzicht der Barwert des Versorgungsanspruchs nicht ändert. Damit bliebe ein entsprechender Verzicht auf Ebene des Gesellschafter-Geschäftsführers steuerlich folgenlos4. Offen bleibt allerdings, in welchem Rahmen darüber hinaus Umstrukturierungen der Pensionsabrede, beispielsweise unterschiedliche Veränderungen der Leistungsbestandteile, möglich sind5. Wichtig ist auch, dass das BMF-Schreiben keine detaillierte Aussage zu den Folgen des Teilverzichts auf Kapitalgesellschaftsebene enthält.

8.236

1 BFH v. 23.8.2017 – VI R 4/16, BStBl. II 2018, 208 = GmbHR 2018, 94 m. Anm. Briese; Selig-Kraft, BB 2017, 159, 161. 2 So auch Briese, BB 2014, 1567, 1569; Otto, GmbHR 2018, 549, 554. 3 BMF v. 14.8.2012 – IV C 2-S 2743/10/10001:001, DStR 2012, 1706; dazu Dernberger/Lenz, DB 2012, 2308; Schwetlik, StB 2012, 330; Selig-Kraft, BB 2017, 159, 160. 4 Weber-Grellet in Schmidt, § 6a EStG Rz. 72; Selig-Kraft, BB 2017, 159, 160. 5 Dazu Dernberger/Lenz, DB 2012, 2308.

Crezelius/B. Westermann | 383

384 | Crezelius/B. Westermann

3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

§9 Freie (außergerichtliche) Sanierung I. Allgemeines 1. Freie Sanierung als Alternative zum Insolvenzverfahren Gerät ein Unternehmen in die Krise, stellt sich für die Geschäftsführung die Frage nach einer möglichen Sanierung. Für die Beantwortung der Frage, ob eine Sanierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens möglich ist, ist ausschlaggebend, ob bereits ein zwingender Insolvenzgrund gegeben ist und daher ein Insolvenzantrag gestellt werden muss. Häufig kommt es im Rahmen der Prüfung der Überschuldung darauf an, ob das Unternehmen eine positive Fortbestehensprognose hat (Rz. 14.101 ff.). Die Geschäftsführer müssen daher im Rahmen einer Krisenanalyse prüfen, ob und inwieweit eine Sanierung erfolgsversprechend ist. Die Pflicht zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement sind seit 1.1.2021 auch in § 1 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 StaRUG geregelt.

9.1

Unter Sanierung versteht man dabei alle organisatorischen, finanziellen oder rechtlichen Maßnahmen, die ein Unternehmen aus einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage herausführen sollen, um seine Wertexistenz zu sichern1 (zu den Sanierungsmaßnahmen s. Rz. 5.38 ff.).

9.2

Eine Sanierung ist nur möglich, wenn das Unternehmen nachhaltig so aufgestellt werden kann, dass es mittelfristig positive Erträge erwirtschaftet. Insoweit schließt sich der Kreis zu der von der Geschäftsführung vorzunehmenden Krisenanalyse anhand derer Potenziale für die Sanierung identifiziert werden können und deren Umsetzungschancen geprüft werden müssen.

9.3

In diesem Krisenstadium besteht neben einer – sofern erfolgsversprechend – möglichen freien Sanierung, auch häufig die Möglichkeit einer freiwilligen Einleitung des Insolvenzverfahrens. Denn häufig wird sich das Unternehmen in dieser Phase einer Krise bereits im Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) befinden. In diesem Fall steht es der Geschäftsführung somit offen, einen Eigenantrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen und die Sanierung ggf. im Rahmen eines Insolvenzplans anzustreben.

9.4

2. Vor- und Nachteile einer freien Sanierung Die freie Sanierung bietet gegenüber einer Sanierung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens Vorteile. So lässt sich durch die Einleitung einer freien (außergerichtlichen) Sanierung verhindern, dass das Unternehmen durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stigmatisiert wird. 1 Herrmanns in Buth/Hermanns, § 6 Rz. 10 ff.

Schluck-Amend | 385

9.5

§ 9 Rz. 9.5 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Denn häufig sind bereits mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens negative Auswirkungen im Hinblick auf die Beziehung zu Vertragspartner sowie der Außenwirkungen zu erwarten. Ferner werden Ablauf und Umfang der freien Sanierung vom Krisenunternehmen und seinen Vertragspartner privatautonom bestimmt. Dies hat zur Folge, dass eine freie Sanierung grundsätzlich kostengünstiger im Vergleich zu einem Insolvenzverfahren ist, da z.B. die Kosten für den Insolvenzverwalter entfallen und somit das verfügbare Vermögen des Unternehmens nicht zusätzlich belastet wird1. Soweit gegen das Insolvenzverfahren die erhöhten Kosten sprechen, streiten für die Einleitung eines Insolvenzverfahrens, dass nur dann ein Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld besteht (§ 165 SGB III). Hierdurch wird die Liquidität des Unternehmens für die Dauer von bis zu drei Monaten um die Zahlung der Löhne und Gehälter entlastet. Aus Sicht der Arbeitnehmer kann sich daher, insbesondere wenn die mögliche Sanierung nicht überaus erfolgversprechend ist, der freiwillige Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens als günstig darstellen2. Spiegelbildlich zur freien Entscheidungsgewalt der Geschäftsführung im Rahmen einer freien Sanierung stellt die nicht verpflichtende Teilnahme der Gläubiger auch die Achillesferse der freien Sanierung dar. Denn nach der Rechtsprechung des BGH entfaltet ein außergerichtlicher Sanierungsvergleich nur Bindungswirkung für diejenigen Gläubiger, die ihn geschlossen haben. Gläubiger, die den Abschluss des Sanierungsvergleichs abgelehnt haben (sog. Akkordstörer), sind hingegen nicht gehindert, ihre Ansprüche uneingeschränkt gegen den Gläubiger durchzusetzen3. Insoweit stellt sich die zwangsweise Einbindung von Gläubigern im Rahmen eines Insolvenzplans als vorteilhaft dar.

9.6

Das am 1.1.2021 in Kraft getretene StaRUG bietet nun eine Möglichkeit zur Einbeziehung von Gläubigern in Sanierungsmaßnahmen auch gegen deren Willen außerhalb eines Insolvenzverfahrens. Dies schwächt die Akkordstörerproblematik erheblich ab (vgl. hierzu Rz. 10.110). Dennoch hat die Rechtsprechung des BGH weiterhin Bestand; bei einer freien Sanierung außerhalb des StaRUG bleibt die Akkordstörerproblematik unverändert fortbestehen.

9.7–9.10 Einstweilen frei.

II. Die freie Sanierung durch Abschluss eines Sanierungsvergleichs 9.11

Für den Fall, dass sich das Unternehmen als sanierungsfähig darstellt, hat der Geschäftsführer gemäß § 43 GmbHG die Pflicht, ein Sanierungskonzept zu erstellen4. Die Pflicht, geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wenn der Fortbestand der juristischen Person gefährdet ist, ist nunmehr ausdrücklich in § 1 Satz 2 StaRUG normiert.

9.12

Als geeignete Maßnahme zur Abwendung der Unternehmensgefährdung kann sich der Abschluss eines außergerichtlichen Sanierungsvergleichs erweisen. Der außergerichtliche Sanierungsvergleich kommt durch Vereinbarung des Schuldners mit einzelnen Gläubigern zustan1 Der Nichtanfall von weiteren Kosten für die Gläubiger ist insbesondere dann relevant, wenn die Sanierungsbemühungen scheitern und daher eine außerinsolvenzliche Liquidation des Unternehmens erfolgen soll. 2 Dabei muss gesehen werden, dass die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht zwingend – wenn auch häufig – mit der Auflösung des Unternehmens und somit dem völligen Verlust der Arbeitsplätze einhergeht. 3 BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, BGHZ 116, 319 = ZIP 1992, 191. Zu den wesentlichen Aussagen des Coop-Urteils des BGH sowie der sich daraus ergebenden Folgen, vgl. Rz. 9.21. 4 Kreplin in Nerlich/Kreplin, Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 9 Rz. 43.

386 | Schluck-Amend

§ 9 Freie (außergerichtliche) Sanierung | Rz. 9.14 § 9

de. Es ist eine gemeinsame Vereinbarung mit allen betroffenen Gläubigern möglich oder der Abschluss getrennter Verträge, wobei sich auch im letztgenannten Fall die Gläubiger in der Regel untereinander verständigen1. Es müssen nicht alle Gläubiger in den Vergleich eingebunden werden. Vor allem die Einbeziehung von Kleingläubigern kann für die Sanierung von geringer Relevanz, aber großem Aufwand sein. Inhalt des Sanierungsvergleichs ist vornehmlich die Stundung oder der (teilweise) Erlass von (Zins-) Forderungen. Diese können auch mit einer Verbesserungsabrede verknüpft werden, die das (teilweise) Wiederaufleben der Forderung für den Fall der erfolgreichen Sanierung vorsieht (sogenannter Besserungsschein). Dem Inhalt des Sanierungsvergleichs sind aufgrund der Vertragsfreiheit nur wenige gesetzliche Grenzen gesetzt. Die Vergleichsannahme eines Gläubigers wird dabei häufig an die Bedingung geknüpft sein, dass auch andere Stakeholder einen entsprechenden Beitrag leisten. Dadurch wird die Natur des außergerichtlichen Sanierungsvergleichs als privatautonome Gläubigerentscheidung, die für ihren Erfolg dennoch der Mitwirkung des Kollektivs bedarf, deutlich. In der Praxis wird deshalb seitens der Banken häufig auch ein Beitrag der Gesellschafter als wirtschaftliche Eigentümer des Unternehmens gefordert. Dieser Beitrag kann z.B. durch Stellung weiterer Sicherheiten seitens der Gesellschafter oder durch Zuführung weiteren Eigenkapitals erbracht werden. Daneben werden regelmäßig Überbrückungs- und Sanierungskredite erforderlich sein, um das Sanierungskonzept erarbeiten und umsetzen zu können. Der Vorteil eines Sanierungsvergleichs liegt darin, dass ohne das Korsett eines Insolvenzverfahrens flexiblere und kostengünstigere Lösungsmöglichkeiten erarbeitet werden können. Zudem können durch Vermeidung einer öffentlichen Bekanntmachung der Krise weitere Nachteile für den Schuldner vermieden werden (etwa die Umstellung von Lieferanten auf Vorkasse oder die Verkürzung von Zahlungszielen)2. Die Erfolgsaussichten von Verhandlungen über einen Sanierungsvergleich hängen insbesondere von der langfristigen Bedeutung des zu sanierenden Unternehmens für die Vergleichspartner sowie der Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Durchführung der Sanierung ab. Drohende Insolvenzszenarien und damit verbundene Anfechtungs- und Haftungsrisiken erschweren jedoch die Vergleichsverhandlungen. Zudem schwebt über den Vergleichsverhandlungen das Damoklesschwert der aus der Vertragsfreiheit resultierenden Akkordstörerproblematik.

9.13

Den Geschäftsführern kommt im Wesentlichen die Rolle eines Vermittlers zu, die die verschiedenen Interessensgruppen davon überzeugen muss, dass ein gemeinsames Handeln zu dem wahrscheinlich bestmöglichen Befriedigungsergebnis für alle Beteiligten führt3. Je komplexer ein Restrukturierungsvorhaben ist, desto eher wird den an der Restrukturierung Beteiligten daran gelegen sein, dass ein externer Restrukturierungsgeschäftsführer (CRO) bestellt wird. Fremdkapitalgeber und Gesellschaftsorgane werden zudem die Erstellung eines Sanierungsgutachtens fordern, um Haftungsrisiken und insolvenzrechtliche Anfechtungsrisiken zu minimieren4. Das StaRUG hat zudem die Möglichkeit geschaffen, die Verhandlungen des Sanierungsvergleichs durch einen gerichtlich bestellten Sanierungsmoderator leiten zu lassen. Gerade bei verhärteten Verhandlungsfronten kann die Einschaltung eines neutralen Dritten den nötigen Impuls für das Vorankommen bringen. Zudem genießt der Sanierungsvergleich bei anschließender gerichtlicher Bestätigung einen gewissen insolvenzrechtlichen Anfech-

9.14

1 BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, BGHZ 116, 319 = ZIP 1992, 191. 2 Spahlinger/Schlott in Bieg/Borchard/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A II 4. 3 Welche Auswirkungen sich dabei aus strategischem Vorgehen einzelner Gläubiger geben kann, verdeutlicht das sog. Gefangendilemma, vgl. Rz. 9.22. 4 Grell/Praß in Bieg/Borchard/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, Teil 2 A I 3.

Schluck-Amend | 387

§ 9 Rz. 9.14 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

tungsschutz, sollte die Sanierung später doch scheitern und ein Insolvenzverfahren eröffnet werden (Vgl. hierzu Rz. 10.296).

9.15

Begleitet werden kann der Sanierungsvergleich von überschuldungs- und somit insolvenzvermeidenden Maßnahmen wie z.B einem qualifizierten Rangrücktritt oder einem Forderungsverzicht. Zudem kann im Zuge des Abschlusses des Sanierungsvergleichs auch die rechtliche Organisation des Unternehmens mittels der Maßnahmen des Umwandlungsgesetzes geändert werden.

9.16–9.20

Einstweilen frei.

III. Akkordstörerproblematik 9.21

Da der BGH entschieden hat, dass ein außergerichtlicher Sanierungsvergleich nur Wirkung hinsichtlich der ihn abschließenden Gläubiger entfaltet, ist die Umsetzung eines umfassenden Sanierungskonzepts regelmäßig auf die Einigung mit allen Gläubigern angewiesen. Dadurch entsteht eine faktische Blockademöglichkeit für Gläubiger oder andere Beteiligte. Im Wissen, dass der Schuldner auf ihre Mitwirkung angewiesen ist, können Gläubiger ihre Zustimmung zu Sanierungsmaßnahmen von der Einräumung von Sondervorteilen abhängig machen (sog. „Hold out“). Dies führt häufig dazu, dass auch die anderen Gläubiger die Einräumung von Sondervorteilen verlangen oder sich gänzlich von den Sanierungsmaßnahmen abwenden. Ein solches Vorgehen bewirkt nicht selten, dass die Krise des Unternehmens vertieft oder eine Sanierungsmöglichkeit gar zunichte gemacht wird1. Denn häufig bedarf es in der bereits fortgeschrittenen Krise der schnellen Einleitung von Sanierungsmaßnahmen, da sich die Krise und somit das Liquiditätsproblem stetig verstärken. Sofern ein Teil der Gläubiger daher im Wissen, dass weiteres Abwarten sowie die Stellung eigener Sonderwünsche die Sanierung möglicherweise gänzlich verhindern, einem Sanierungsvergleich zustimmen, kommt dies den ablehnenden Gläubigern (sog. Akkordstörer) zugute. Der nichtzustimmende Gläubiger ist nunmehr weiterhin berechtigt, seine vollständige Forderung gegen den Gläubiger durchzusetzen und profitiert davon, dass andere Gläubiger z.B. auf einen Teil ihrer Forderung verzichten und somit die Liquidität des Schuldners nicht weiter verringern. Ein solches Ergebnis mag zwar moralisch bedenklich sein, da die Geltendmachung der Ansprüche des Akkordstörers dem Unternehmen und somit den Sanierungsbemühungen den Todesstoß verpassen können. Dennoch ist es, wie der BGH ausdrücklich feststellt, mit der geltenden Rechtsordnung vereinbar. Die einzelnen Gläubiger des Schuldnerunternehmens stellen eben gerade keine Gefahrengemeinschaft dar, die es erlauben würde, dass der mehrheitlich angenommene außergerichtliche Vergleich auch gegenüber den nichtzustimmenden Gläubigern Wirkung entfaltet2. Eine Mitwirkungspflicht und Bindungswirkung der einzelnen Gläubiger lässt sich auch nicht über die aus dem Gesellschaftsrecht stammende Treuepflicht konstruieren. Die Treuepflicht kann zwar den Gesellschafter in gesondert gelagerten Situationen dazu zwingen z.B. einem Gesellschafterbeschluss zuzustimmen3, jedoch ist dies nicht auf Gläubiger oder anderen Beteiligte im Rahmen eines Sanierungsvergleichs übertragbar. Denn die Treuepflicht ergibt sich gerade aus dem der Gesellschafterstellung immanenten Verhältnis zur Gesellschaft4. Ein solches Verhältnis besteht jedoch gegenüber den Gläubigern nicht. 1 2 3 4

Schluck-Amend, ZRP 2017, 6, 8. BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, BGHZ 116, 319 = ZIP 1992, 191. BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, ZIP 2015, 1626. BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, ZIP 2015, 1626; BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, ZIP 2009, 2289 = GmbHR 2010, 32 m. Anm. Ulrich.

388 | Schluck-Amend

§ 9 Freie (außergerichtliche) Sanierung | Rz. 9.23 § 9

Aufgrund des Prioritätsprinzips1 stellt sich für die Gläubiger die Möglichkeit, und auch die Gefahr, dass einzelne Gläubiger dem Sanierungsvergleich nicht zustimmen und somit ihre individuellen Vollstreckungschancen erhöhen. Dass dieses Verhalten, mag es zwar rechtlich zulässig sein, nicht nur unmoralisch ist, sondern auch zu einer suboptimalen Lösung für alle Beteiligten führt, ist anhand des aus der Spieltheorie bekannten Gefangenendilemmas zu erklären2. Demnach stellt sich für den einzelnen Gläubiger ein allein auf seine subjektiven Interessen bezogenes Vorgehen als vorteilhafter dar, hat jedoch spiegelbildlich negative Auswirkungen auf den Rest der Gläubiger, während ein kollektives Zusammenwirken z.B. in Form eines außergerichtlichen Vergleichs zum bestmöglichen Ergebnis für alle Beteiligten, sprich zur proportional besten Befriedigung aller Gläubiger führen würde.

9.22

Für die Praxis stellt sich die freie (außergerichtliche) Sanierung durch einen Sanierungsvergleich somit als ein Instrument dar, das in der Regel großes Verhandlungsgeschick erfordert. Für Unternehmen, die nur wenige Gläubiger haben und mit diesen bereits langfristige Geschäftsbeziehungen pflegen, stellt ein außergerichtlicher Sanierungsvergleich ein mögliches Instrument zur Sanierung dar. In dieser Konstellation haben nämlich meistens auch alle Gläubiger ein Interesse daran, dass das Unternehmen saniert wird, weshalb sie einen Sanierungsversuch nicht durch eigennützige Vollstreckungshandlungen torpedieren werden. Die Motivation zum Abschluss eines außergerichtlichen Sanierungsvergleichs wird nun ggf. auch allein dadurch steigen, dass durch das StaRUG nunmehr die Möglichkeit zur Umsetzung eines Restrukturierungsplans auch gegen den Willen einzelner Gläubiger besteht (Rz. 10.79 ff.). Die Gläubiger können nun nicht einfach darauf hoffen, dass das Unternehmen den Weg in die Insolvenz scheut. Mit dem StaRUG steht nun ein Instrument zur Verfügung, die Gläubiger – innerhalb der dort vorgegebenen Grenzen – zu Sanierungsbeiträgen zu verpflichten. Dies schwächt die Blockademöglichkeiten ab. Bedeutung wird die freie (außergerichtliche) Sanierung darüber hinaus weiterhin im Zeitpunkt vor drohender Zahlungsunfähigkeit behalten, da ein Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG dann noch nicht möglich ist3.

9.23

1 Darunter versteht man dem der Zwangsvollstreckung zugrunde liegenden Grundsatz, dass derjenige, der zuerst auf einen Gegenstand des Schuldners zugreift, aus diesem auch befriedigt wird. Dies wird dann zum Problem, wenn nicht genug Vermögen da ist, um alle Gläubiger zu befriedigen. 2 Vgl. dazu Eidenmüller, ZHR 160 (1996), 343. 3 Gemäß § 29 Abs. 1 StaRUG können die Sanierungsinstrumente nur zur nachhaltigen Beseitigung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit in Anspruch genommen werden.

Schluck-Amend | 389

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) I. Einführung 10.1

Die Notwendigkeit einer außerinsolvenzlichen sowie im Wesentlichen außergerichtlichen Sanierungsmöglichkeit wurde bereits seit längerer Zeit auf europäischer Ebene diskutiert. Anstoß zur Diskussion waren die nachteiligen Auswirkungen einer freien (außergerichtlichen) Sanierung einerseits und einer Sanierung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens andererseits. Während eine freie (außergerichtliche) Sanierung zwar nicht mit dem Stigma der Insolvenz und erhöhten Kosten aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verbunden ist, hängt der Erfolg der Sanierung maßgeblich vom Willen der einzelnen Gläubiger ab. Denn der insoweit in Betracht kommende Sanierungsvergleich, welcher in der Regel mit einem teilweisen Forderungserlass einhergeht, wirkt allein zwischen dem Schuldner und den Gläubigern, die dem Vergleich zugestimmt haben. Gläubiger, die dem Sanierungsvergleich nicht zugestimmt haben, sind hingegen nicht an einen etwaigen Forderungserlass gebunden. Diese Gläubiger hoffen vielmehr darauf, dass ihre Aussichten auf eine vollumfängliche Befriedigung dadurch steigen, dass andere Gläubiger im Rahmen der Sanierung auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten (sog. Akkordstörerproblematik). Derartiges Taktieren kann jedoch im worst case dazu führen, dass mangels ausreichender Bereitschaft zum Abschluss eines Sanierungsvergleichs das Sanierungsvorhaben gänzlich scheitert. Diese Lücke wird nunmehr durch das Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) geschlossen, welches erstmals auch im Zeitpunkt vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Möglichkeit vorsieht, dass Sanierungsmaßnahmen auch für diejenigen Gläubiger bindend sind, die diesen nicht zugestimmt haben. Zwar war auch vor dem Inkrafttreten des StaRUG eine Sanierung gegen den Widerstand von einzelnen Gläubigern im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens möglich. Jedoch setzte dies zwingend die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens voraus, was nicht selten zu immensen zusätzlichen Kosten sowie dem Verlust von – insbesondere für die Sanierung – wertvollen Geschäftsbeziehungen führte. Ferner sieht der Restrukturierungsplan – anders als der Insolvenzplan – die Möglichkeit vor, dass dieser nicht zwingend alle Gläubiger einbeziehen muss, sondern auch nur auf einzelne Gläubiger (sog. Planbetroffene) beschränkt werden kann. Diese Nachteile werden nun, unter gleichzeitiger Einbeziehung der genannten Vorteile eines insolvenzrechtlichen Verfahrens, durch das StaRUG umgangen (vgl. zu den Vor- und Nachteilen einer freien und insolvenzrechtlichen Sanierung Rz. 9.1 ff.).

10.2

Trotz der dargestellten Schwächen der freien (außergerichtlichen) Sanierung als auch der einer insolvenzrecht-lichen Sanierung, entschied sich der deutsche Gesetzgeber mit der Einführung des § 270b InsO (sog. Schutz-schirmverfahren) durch das Inkrafttreten des ESUG am 1.3.2012 vorerst nur für eine Stärkung der insolvenz-rechtlichen Sanierungsmöglichkeiten. Die Möglichkeit einer außergerichtlichen Sanierungsmöglichkeit unter Ausschluss der bis dahin damit verbundenen Nachteile fand hingegen erstmalig seinen Niederschlag in der RL (EU) 2019/ 1023 des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der RL (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), welche am 16.7.2019 in Kraft getreten ist. Zur Umsetzung dieser Richt-linie auf nationaler Ebene wurde 390 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.7 § 10

das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sa-nInsFoG) ausgearbeitet, welches am 1.1.2021 in Kraft trat. Kernelement ist hierbei das diesem Abschnitt zugrunde liegende Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG). Das StaRUG bietet mit dem neuen Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen die Grundlage für die Durch- und Umsetzung von Sanierungen gegen den Widerstand von Minderheiten unabhängig von einem Insol-venzverfahren. Der Restrukturierungsrahmen steht Schuldnerunternehmen ab Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit offen und schließt die Lücke zwischen der Einstimmigkeit voraussetzenden außergerichtlichen Sanierung und der Sanierung durch Mehrheitsentscheidung im Insolvenzplanverfahren. Die durch das StaRUG zur Verfügung gestellten Instrumente kann das schuldnerische Unternehmen nach dem Baukasten-Prinzip zur Anwendung bringen und so mithilfe eines einfachen und flexiblen Systems die Sanierung möglichst still umsetzen (s. auch Rz. 10.168)

10.3

10.4–10.5

Einstweilen frei.

II. Drohende Zahlungsunfähigkeit als Eintrittsschwelle 1. Die (neue) verfahrensrechtliche Bedeutung des Tatbestands der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 29 StaRUG) Der mit der InsO im Jahr 1999 geschaffene Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit hat bis zum Inkrafttreten des StaRUG einen mehr als 20-jährigen Dornröschenschlaf gehalten. Als Insolvenzantragsgrund spielte § 18 InsO praktisch keine Rolle (Rz. 14.62). Indem sich der deutsche Gesetzgeber im SanInsFoG dafür entschieden hat, den von der Restrukturierungsrichtlinie1 vorgegebenen Tatbestand der „wahrscheinlichen Insolvenz“ (vgl. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der RRL2) für das deutsche Recht als den Eintritt drohender Zahlungsunfähigkeit i.S. von § 18 InsO zu definieren, hat er dem Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit erhebliche praktische Bedeutung verschafft, denn er bildet nun die Eintrittsschwelle zum StaRUG und den dort zur Verfügung gestellten Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens.

10.6

Dieser Charakter als Eintrittsschwelle zeigt sich insbesondere in § 29 StaRUG. Nach dieser Vorschrift können die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens eingesetzt werden, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit zu überwinden. Ihr Vorliegen ist daher Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Stabilisierungsanordnung (§§ 49 ff. StaRUG, insbesondere § 51 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG) und die gerichtliche Planbestätigung (§§ 60 ff. StaRUG, insbesondere § 63 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG).

10.7

1 Richtlinie (EU) 2019/1023 vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132, ABl. EU Nr. L 172 v. 26.6.2019, S. 18. 2 Richtlinie (EU) 2019/1023, im Folgenden „RRL“.

Schluck-Amend und Brinkmann | 391

§ 10 Rz. 10.8 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

2. Solvenzsicherungspflicht der Geschäftsführer bei Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 1 Abs. 1 StaRUG) 10.8

Die drohende Zahlungsunfähigkeit spielt aber nicht erst eine Rolle im Rahmen von Anträgen nach §§ 50, 60 StaRUG. Denn gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG muss der Geschäftsführer Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn er Entwicklungen erkennt, die den Bestand der juristischen Person gefährden. Diese Solvenzsicherungspflicht ist insbesondere zu beachten, wenn die Gesellschaft drohend zahlungsunfähig wird bzw. ist. Die drohende Zahlungsunfähigkeit löst also eine Reaktionspflicht aus: Die Geschäftsführer müssen Maßnahmen ergreifen, die den Fortbestand der Gesellschaft sichern, die also den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vermeiden1. Bei dieser Solvenzsicherungspflicht handelt es sich um eine echte Rechtspflicht. Kommen die Geschäftsführer ihr nicht nach, machen sie sich dem Grunde nach gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG haftbar.

10.9

Welche Gegenmaßnahmen konkret zur Abwendung der Krise ergriffen werden, ist eine Entscheidung, die in der GmbH grundsätzlich den Gesellschaftern obliegt. Daher sind die Geschäftsführer gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG (sowie im Übrigen auch aus § 49 Abs. 2 GmbHG) verpflichtet, spätestens bei dem Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen und den Gesellschaftern Gelegenheit zu geben, über die strategische Frage, ob und welche Sanierungsmaßnahmen ergriffen werden sollen, durch Beschluss zu entscheiden2.

3. Die Abgrenzung der drohenden Zahlungsunfähigkeit von der Überschuldung 10.10

Mit Inkrafttreten des StaRUG hat der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht nur einen praktischen Anwendungsbereich erhalten, er hat sich zugleich von dem der Überschuldung emanzipiert3.

10.11

Denn einerseits hat der Gesetzgeber die Prognosedauer im Rahmen der Überschuldungsprüfung in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO n.F. auf zwölf Monate festgeschrieben. Dadurch ist sichergestellt, dass der Schuldner nach dem Eintritt von drohender Zahlungsunfähigkeit in der Regel noch zwölf Monate Zeit hat, eine freie Sanierung zu unternehmen oder ein StaRUG-Verfahren einzuleiten, ohne fürchten zu müssen, die sich aus § 15a InsO ergebende Insolvenzantragspflicht oder die Anzeigepflicht nach § 32 Abs. 3 Satz 2, § 42 Abs. 1 StaRUG zu verletzen4. Den in der Literatur geäußerten Überlegungen, dieses „Restrukturierungsfenster“ dadurch zu verkleinern, dass man die vom Gesetzgeber in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vorgenommene Beschränkung der Prognosedauer auf zwölf Monate teleologisch reduziert und so doch wieder zu einer schon früher greifenden Antragspflicht kommt5, ist energisch entgegenzutreten. Eine solche Rechtsfortbildung wäre contra legem und würde Restrukturierungen mit genau der Unsicherheit belasten, die durch die vom Gesetzgeber gewählte Konzeption vermieden werden sollte6. 1 Brinkmann, KTS 2021, 303 ff. 2 OLG München v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, GmbHR 2013, 590; Brinkmann, KTS 2021, 303, 314; Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593; Leinekugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1126; Scholz, ZIP 2021, 219, 226; Tetzlaff, ZInsO 2008, 137, 139; Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999, Rz. 501. 3 Dazu Brinkmann in FS Karsten Schmidt, 2019, S. 153 ff. 4 Die Begrenzung des Prognosezeitraums war vorgeschlagen worden von Brinkmann in Ebke/Seagon/Piekenbrock, Überschuldung: Quo vadis?, 2020, S. 67, 75 f.; Brinkmann, NZI 2019, 921, 924. 5 Bitter, ZIP 2021, 321, 324; ähnlich Gehrlein, GmbHR 2021, 183 Rz. 37. 6 Kuntz, ZIP 2021, 597, 601 f.; Brinkmann, KTS 2021, 303, 306.

392 | Brinkmann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.16 § 10

Andererseits hat der Gesetzgeber klargestellt, dass bei der im Rahmen von § 19 InsO anzustellenden Fortführungsprognose zu berücksichtigen ist, ob dem Schuldner voraussichtlich eine Sanierung außerhalb des Insolvenzverfahrens gelingen wird1. Daher ist auch innerhalb der letzten 12 Monate vor dem voraussichtlichen Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nicht ohne Weiteres vom Vorliegen von Überschuldung auszugehen. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn es überwiegend wahrscheinlich wird, dass die Sanierung nicht gelingen wird, so dass der Eintritt von Zahlungsunfähigkeit voraussichtlich auch durch die Sanierungsbemühungen nicht vermieden werden kann. So kann die Fortführungsprognose während eines Reorganisationsverfahrens beispielsweise dadurch negativ werden, dass sich herausstellt, dass die erforderlichen Mehrheiten nicht werden erreicht werden können, weil wesentliche Gläubiger ihre Ablehnung des Plans signalisiert haben.

10.12

Nach § 32 Abs. 3 Satz 2, § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG sind die Geschäftsführer in diesem Fall verpflichtet, den Eintritt von Überschuldung dem Restrukturierungsgericht anzuzeigen. Alternativ können sie Insolvenzantrag stellen, § 42 Abs. 2 InsO. Das Restrukturierungsgericht wird das Verfahren dann in aller Regel nach § 33 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG aufheben.

10.13

4. Der Tatbestand des § 18 InsO und seine Feststellung Der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit ist in § 18 Abs. 2 InsO n.F. bestimmt:

10.14

„Eine Gesellschaft droht zahlungsunfähig zu werden, wenn sie voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. In aller Regel ist ein Prognosezeitraum von 24 Monaten zugrunde zu legen.“

Drohende Zahlungsunfähigkeit i.S. von § 18 InsO n.F. ist somit noch nicht eingetretene, aber innerhalb der nächsten 24 Monate wahrscheinlich eintretende Zahlungsunfähigkeit. Um das Vorliegen drohender Zahlungsunfähigkeit festzustellen, muss prognostiziert werden, ob die Gesellschaft die im Prognosezeitpunkt bestehenden Verbindlichkeiten im Moment ihrer Fälligkeit wird tilgen können. Es geht insofern um die „Befriedigungserwartung bezüglich schon bestehender Verbindlichkeiten“2. Die Prognose betrifft einerseits den Umfang der künftig fällig werdenden Verbindlichkeiten (dazu unter Rz. 10.16 ff.) und anderseits die zu ihrer Tilgung zur Verfügung stehenden liquiden Mittel (dazu unter Rz. 10.18 ff.)3.

10.15

a) Die zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten In die Prognose einzustellen sind nur die im Zeitpunkt der Erstellung der Prognose bereits bestehenden Zahlungsverpflichtungen. Hierzu gehören auch solche Nicht-Geldschulden, bei denen es wahrscheinlich ist, dass sie sich während des Prognosezeitraums in eine Geldschuld umwandeln werden4. Es genügt, wenn für die Verbindlichkeit der Rechtsgrund bereits gelegt ist5. Zu berücksichtigen sind also neben den bereits fälligen Verbindlichkeiten auch bedingte, 1 Begründung zu § 35 Abs. 2 RegE-StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 139. Auch diese Entkoppelung von drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung war zuvor in der Literatur vorgeschlagen worden: Brinkmann in FS Karsten Schmidt, 2019, S. 153 ff. 2 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 16. 3 BGH v. 5.12.2013 – IX ZR 93/11, ZIP 2014, 183 = GmbHR 2014, 259 Rz. 10. 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 13; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 18 InsO Rz. 9. 5 Gesetzesbegründung BT-Drucks. 12/2443, S. 114 und h.M. Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 18 InsO Rz. 9; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 12; Laro-

Brinkmann | 393

10.16

§ 10 Rz. 10.16 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

betagte oder befristete Forderungen. Auch Verbindlichkeiten aus Miet- und Arbeitsverträgen sind bei der Prognose anzusetzen, auch wenn diese erst mit Beginn der jeweiligen Mietperiode entstehen1. Ebenso sind Schadensersatzansprüche zu berücksichtigen, sofern das zum Schadensersatz verpflichtende Ereignis bereits eingetreten ist. Die Höhe der Ansprüche ist entsprechend § 287 ZPO zu schätzen2. Investitionen bleiben jedoch nach herrschender Meinung außer Betracht, selbst wenn sie bereits fest eingeplant sind3. Künftige Verbindlichkeiten, deren Eingehung und Erfüllung für die Fortführung des Unternehmens notwendig sind – wie z.B. der Bezug von Rohstoffen oder Energie –, sind nicht bei den „bestehenden Verbindlichkeiten“ zu berücksichtigen, sondern bei der Bestimmung der zur Tilgung der bestehenden Verbindlichkeiten zur Verfügung stehenden Liquidität, s. Rz. 10.18 ff.

10.17

Die fälligen Verbindlichkeiten sind grundsätzlich mit dem Nennwert anzusetzen. Bei bestrittenen Forderungen ist ebenso wie im Rahmen der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit (Rz. 14.20) ein Abschlag vorzunehmen4. Auch die künftige Fälligkeit einer schon bestehenden Forderung ist im Wege einer Prognose zu ermitteln. Diese kann sich zum Beispiel auf die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Kündigung eines Darlehens beziehen5 oder auf den wahrscheinlichen Endzeitpunkt einer zurzeit gewährten (rechtlichen oder tatsächlichen) Stundung6. Die Forderung ist dann ab dem so ermittelten Zeitpunkt ihrer wahrscheinlichen Fälligkeit zu berücksichtigen.

b) Künftige Zahlungsunfähigkeit 10.18

Durch eine prospektive Kapitalflussrechnung ist zu prüfen, ob für die bereits bestehenden Verbindlichkeiten im Zeitpunkt ihrer Fälligkeit genügend Liquidität zur Verfügung stehen wird, um sie vollständig zu tilgen7. Hierbei ist die künftige Geschäftsentwicklung zu prognostizieren und auch zu berücksichtigen, welcher Teil der eingehenden Liquidität zur Deckung der laufenden Kosten erforderlich ist, die zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs eingegangen und beglichen werden müssen (z.B. Lohn-, Kommunikations- oder Energiekosten, Bezug von Rohstoffen etc.)8. Bei den zur Verfügung stehenden liquiden Mitteln ist auch die Möglichkeit der Aufnahme von Kredit in Betracht zu ziehen, die nicht zuletzt davon abhängen wird, ob die Gesellschaft noch freie Sicherheiten anbieten kann9.

1 2 3 4

5 6 7 8 9

che in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 5; a.A. Geißler, ZInsO 2013, 919, 920; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 18 InsO Rz. 6. Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 12; Bürger/Schellberg, BB 1995, 261, 264; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 18 InsO Rz. 9. Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 5; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 14. Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 6; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 14. Dies ist nicht nur dann überzeugend, wenn es sich um verschiedene gleichartige ungewisse Verbindlichkeiten handelt (mit dieser Einschränkung Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 17), sondern auch dann, wenn es sich nur um eine einzelne ungewisse Verbindlichkeit handelt. Auch hier würde eine schlichte „0 oder 1“ Betrachtung der tatsächlich bestehenden Unsicherheit nicht gerecht. BGH v. 5.12.2013 – IX ZR 93/11, ZIP 2014, 183 = GmbHR 2014, 259 Rz. 10; KG v. 4.3.2014 – 14 U 98/12, ZInsO 2014, 2113. BGH v. 22.5.2014 – IX ZR 95/13, ZIP 2014, 1289 Rz. 25 f.; BGH v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, ZIP 2013, 79 Rz. 15. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 16; H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 12; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 18 InsO Rz. 12. Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 10; H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 10; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 23; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 18 InsO Rz. 7 f. H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 12; Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 9.

394 | Brinkmann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.22 § 10

Bei der prospektiven Kapitalflussrechnung muss (selbstredend) ausgeblendet bleiben, ob die mit dem Restrukturierungsplan angestrebte Sanierung voraussichtlich gelingt, so dass der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit im Ergebnis durch das Verfahren voraussichtlich vermieden werden kann. Die bei der Eingangskontrolle in Bezug auf das Restrukturierungsverfahren zu beantwortende Frage lautet richtigerweise: „Wird die Gesellschaft wahrscheinlich innerhalb der nächsten 24 Monate zahlungsunfähig werden, wenn keine Sanierungsmaßnahmen ergriffen werden?“ Nur so lässt sich feststellen, ob eine hinreichende Sanierungsbedürftigkeit besteht, die die Eingriffe in die Rechte der Beteiligten rechtfertigt.

10.19

Entgegen der jedenfalls bislang h.M.1 ist bei der Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit auch nicht zu prüfen, ob ab dem prognostizierten Eintritt der Zahlungsunfähigkeit innerhalb eines Dreiwochenzeitraums 90 % der dann fälligen Verbindlichkeiten getilgt werden können (so die h.M. für die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, Rz. 14.32). Soweit es um die drohende Zahlungsunfähigkeit geht, wäre eine solche Erheblichkeitsschwelle geradezu widersinnig. Hinter der 10 %-Schwelle steht der Gedanke, dass eine Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrags bei bloß geringfügiger Zahlungsunfähigkeit unverhältnismäßig wäre. Dieser Gedanke passt nicht für die drohende Zahlungsunfähigkeit als Eintrittsschwelle, da es hier nicht um die Frage geht, ob eine Gesellschaft Insolvenzantrag stellen muss, sondern nur darum, ob sie schon ins Restrukturierungs- oder Insolvenzverfahren darf. Wer darlegen kann, dass er voraussichtlich an einen Punkt kommen wird, an dem er eine dann fällig werdende, jetzt schon bestehende Verbindlichkeit mangels liquider Mittel nicht wird begleichen können, ist drohend zahlungsunfähig und darf die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen2.

10.20

Etwaigen Missbräuchen des Restrukturierungsverfahrens – z.B. des Mehrheitsgesellschafters gegenüber dem Minderheitsgesellschafter – ist schon durch die Begrenzung auf bereits bestehende Verbindlichkeiten und die sogleich zu behandelnde Begrenzung des Prognosezeitraums eine gewisse Grenze gezogen. Im Übrigen ist Missbrauchsversuchen nicht durch eine Begrenzung des Tatbestands des § 18 InsO zu begegnen, sondern durch das Gesellschaftsrecht sowie durch die sorgfältige Prüfung der normativen Anordnungs- (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StaRUG) bzw. Bestätigungsvoraussetzungen (v.a. § 64 StaRUG)3.

10.21

c) Prognosezeitraum und Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Zahlungsunfähigkeit Die Zahlungsunfähigkeit droht, wenn ihr Eintritt wahrscheinlicher ist als ihre Vermeidung4. Nicht erforderlich ist eine „Überzeugung“ im Sinne etwa des § 286 Abs. 1 ZPO. Der Prognosezeitraum beträgt nach der Präzisierung des Tatbestands in § 18 Abs. 2 Satz 2 InsO durch das SanInsFoG nun in aller Regel 24 Monate. Dadurch werden die bisherigen Unsicherheiten 1 BGH v. 1.7.2010 – IX ZR 70/08, ZInsO 2010, 1598 Rz. 10; BGH v. 5.12.2013 – IX ZR 93/11, ZIP 2014, 183 = GmbHR 2014, 259 Rz. 10; Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 11.; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 9; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 18 InsO Rz. 10; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 18 InsO Rz. 8. 2 Mock in Uhlenbruck, § 18 InsO Rz. 19 f.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 12. 3 Brinkmann in FS Schilken, 2015, S. 631, 634 ff. 4 BGH v. 5.12.2013 – IX ZR 93/11, ZIP 2014, 183 = GmbHR 2014, 259 Rz. 10; KG v. 4.3.2014 – 14 U 98/12, ZInsO 2014, 2113. Für überwiegende Wahrscheinlichkeit auch Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 12; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 18 InsO Rz. 11; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 18 InsO Rz. 9; H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 14.

Brinkmann | 395

10.22

§ 10 Rz. 10.22 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

über die Dauer des Prognosezeitraums beseitigt1. Die Festlegung des Prognosezeitraums auf „in aller Regel“ zwei Jahre lässt Abweichungen in beide Richtungen zu. Jedenfalls kann die Prognose nicht über den Zeitpunkt hinausgehen, zu dem die letzte, im Betrachtungszeitpunkt schon bestehende Verbindlichkeit fällig wird2. Diese Beschränkung ist zwingende Konsequenz des Tatbestands des § 18 Abs. 2 InsO. Eine längerfristige Prognose dürfte beispielsweise zulässig sein, wenn in 30 Monaten eine Anleihe mit großem Volumen zur Rückzahlung ansteht, oder eine Deckungszusage der Muttergesellschaft ausläuft, und daher bereits jetzt absehbar ist, dass dann die Zahlungsunfähigkeit eintreten wird. Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die Gesellschaft bereits zu diesem Zeitpunkt die Restrukturierungsmöglichkeiten des StaRUG oder des Insolvenzverfahrens nutzen kann.

d) Darlegung und Feststellung von drohender Zahlungsunfähigkeit im Rahmen von Anträgen nach §§ 50, 60 StaRUG 10.23

Nach dem StaRUG (§ 51 Abs. 1 Nr. 3, § 63 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG) ist das Nichtvorliegen drohender Zahlungsunfähigkeit Ablehnungsgrund für Anträge auf Anordnung von Stabilisierungsanordnungen oder auf Planbestätigung. aa) Antrag nach § 50 StaRUG auf Erlass einer Stabilisierungsanordnung

10.24

Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG ergeht die beantragte Stabilisierungsanordnung, wenn keine Umstände bekannt sind, aus denen sich ergibt, dass der Schuldner nicht drohend zahlungsunfähig ist. Die Anforderungen an die Darlegungslast sind damit gering. Auch ist das Gericht nicht verpflichtet, das Vorliegen drohender Zahlungsunfähigkeit festzustellen. Denn zwar greift im StaRUG-Verfahren gemäß § 39 Abs. 1 StaRUG der Amtsermittlungsgrundsatz, doch greift der Ausschlussgrund nur ein, wenn Umstände „bekannt“ sind, die der drohenden Zahlungsunfähigkeit entgegenstehen. Dies wird man – ähnlich wie § 270b Abs. 1 Nr. 2 InsO – so verstehen müssen, dass das Gericht keine besonderen Ermittlungspflichten treffen3.

10.25

Allerdings muss der Geschäftsführer der Anzeige der Restrukturierungssache gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG ein Konzept für die Restrukturierung beifügen, „welches auf Grundlage einer Darstellung von Art, Ausmaß und Ursachen der Krise das Ziel der Restrukturierung (Restrukturierungsziel)“ beschreibt. Zur Beschreibung von „Art und Ausmaß“ der Krise wird auch eine Übersicht über die voraussichtliche Liquiditätsentwicklung und damit zur drohenden Zahlungsunfähigkeit gehören4.

10.26

Ob über diese Darlegung hinaus dem Gericht Nachweise zur drohenden Zahlungsunfähigkeit vorzulegen sind, regelt das Gesetz nicht5. Um allerdings eventuell zeitraubende Rückfra1 Die Vorschläge reichten von wenigen Monaten (Mönning in Nerlich/Römermann, § 18 InsO Rz. 34) über ein bis zwei Jahre (Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 7) und zwei Jahre (Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 18 InsO Rz. 9; H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 7) über drei Jahre (Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 19; Bittmann, wistra 1998, 321, 325) bis hin zu der hier in der 5. Auflage vertretenen Position, dass der Prognosezeitraum nur durch die am spätesten fällig werdende Verbindlichkeit begrenzt sei. 2 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 27; H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 7; Bremen in Graf-Schlicker, § 18 InsO Rz. 12. 3 So auch die Regierungsbegründung zu § 58 RegE-StaRUG. 4 Balthasar, NZI-Beilage 1/2021, 18. 5 Kritisch Frind, ZInsO 2020, 2241, 2243. Anders Balthasar, NZI-Beilage 1/2021, 18, der von einer „Pflicht zum Nachweis der drohenden Zahlungsunfähigkeit“ spricht.

396 | Brinkmann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.42 § 10

gen des Gerichts zu vermeiden, sollten ohnehin vorhandene Unterlagen, mit denen die drohende Zahlungsunfähigkeit plausibilisiert werden kann, dem Antrag beigefügt werden. bb) Antrag nach § 60 StaRUG auf gerichtliche Planbestätigung Ohnehin müssen dem Gericht die eben angesprochenen Unterlagen zur Verfügung gestellt werden, wenn es um einen Antrag auf gerichtliche Planbestätigung nach § 60 StaRUG geht. Denn das Gericht darf den Plan nur bestätigen, wenn es sich im Wege der Amtsermittlung (§ 39 Abs. 1 StaRUG) zuvor davon überzeugt hat, ob der Schuldner drohend zahlungsunfähig ist. Zwecks dieser Prüfung kann das Restrukturierungsgericht nach § 39 Abs. 2 StaRUG den Schuldner zur Erteilung von Auskünften auffordern. Um dem im Interesse einer zügigen Entscheidung zuvorzukommen, sollten die entsprechenden Unterlagen schon vorsorglich dem Antrag beigefügt werden. Aus der negativen Formulierung des § 61 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG folgt, dass das Gericht den Plan bestätigt, solange es nicht positiv davon überzeugt im Sinne des § 286 ZPO (vgl. § 38 StaRUG) ist, dass der Schuldner nicht drohend zahlungsunfähig ist. Bei nicht aufklärbaren Zweifeln über die drohende Zahlungsunfähigkeit muss das Gericht den Plan bestätigen. Einstweilen frei.

10.27

10.28–10.40

III. Mitwirkung der Gesellschaftsorgane bei Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens 1. Pflichten bei Gefahren für die langfristige Solvenz Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG trifft die Geschäftsleiter eine Pflicht, grundsätzlich ständig „den Horizont nach Gefahren für die Solvenz der Gesellschaft abzusuchen“1. Die Geschäftsführer trifft somit eine permanente Solvenzüberwachungspflicht, deren Verletzung über § 43 GmbHG haftungsbewehrt ist.

10.41

2. Einberufung der Gesellschafterversammlung Erkennen die Geschäftsleiter Gefahren für die Zahlungsfähigkeit, so sind sie nach § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG einerseits verpflichtet, Gegenmaßnahmen zu ergreifen (sog. Solvenzsicherungspflicht). Andererseits müssen sie den zur Überwachung der Geschäftsleitung berufenen Organen unverzüglich Bericht erstatten. Für die GmbH wird man dies so lesen müssen, dass die Geschäftsführer die Gesellschafterversammlung2 über die erkannten Gefahren und über 1 Diese Pflicht zur Krisenfrüherkennung im Sinne einer langfristigen Solvenzüberwachung hatte Marcus Lutter schon im Jahr 2000 als „siebtes Gebot“ an den Geschäftsführer bezeichnet, Lutter, GmbHR 2000, 301, 305. S. auch Mohaupt, Geschäftsleiterpflichten in der Unternehmenskrise, 2017, S. 115 ff. 2 Thole, ZIP 2020, 1985, 1986. A.A Scholz, ZIP 2021, 219, 230, der meint, dass die Gesellschafterversammlung in der GmbH nur über „Maßregeln zur Überwachung“ entscheide (§ 46 Nr. 6 GmbHG), aber nicht selbst zur Überwachung verpflichtet sei. Die Vorschrift laufe daher für die GmbH ohne Aufsichtsrat ins Leere. Auch Jungmann, ZRI 2021, 209, 225, vertritt die Auffassung, dass sich die Vorschrift nicht auf die Gesellschafterversammlung beziehe, weil diese keine Aufsichtspflicht treffe. § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG setzt allerdings keine Überwachungspflicht, sondern nur eine „Berufung“, also die Kompetenz zur Überwachung voraus.

Brinkmann | 397

10.42

§ 10 Rz. 10.42 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

mögliche Gegenmaßnahmen informieren müssen. Die Gesellschafter haben dann in den Grenzen des ihnen nach § 37 GmbHG zustehenden Weisungsrechts die Möglichkeit, über die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen zu entscheiden. In Betracht kommen etwa Umstrukturierungen, Kapitalerhöhungen, Gesellschafterdarlehen, die Hineinnahme eines Investors sowie die Einleitung eines Restrukturierungs- oder Schutzschirm-/Insolvenzverfahrens.

3. Beschluss der Gesellschafterversammlung 10.43

Ein positiver Beschluss der Gesellschafterversammlung ist insbesondere dann grundsätzlich erforderlich, wenn zur Abwendung der Liquiditätsgefahren ein Restrukturierungsverfahren durch eine Anzeige nach § 31 StaRUG eingeleitet werden soll1. Denn die Durchführung eines Restrukturierungsverfahrens ist jedenfalls dann eine „ungewöhnliche“ und daher zustimmungsbedürftige Maßnahme2, wenn die Umsetzung des ins Auge gefassten Restrukturierungsplans in die Stellung der Gesellschafter eingreifen würde3. Anders kann man es möglicherweise im Hinblick auf solche Plankonzepte sehen, die keine Eingriffe in Positionen der Gesellschafter umfassen (so etwas mag es wohl eher ausnahmsweise einmal geben!)4. Doch selbst dann wird man dem Geschäftsführer schon zur Vermeidung der eigenen Haftung raten müssen, einen Gesellschafterbeschluss über die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens herbeizuführen.

10.44

Es genügt eine einfache Mehrheit, denn der Beschluss zur Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens bewirkt selbst noch nicht unmittelbar eine Satzungsänderung, so dass § 53 Abs. 2 GmbHG keine Anwendung findet5.

10.45

Die Anzeige ist verfahrensrechtlich auch ohne einen Gesellschafterbeschluss wirksam, der Geschäftsführer kann sich jedoch schadensersatzpflichtig machen, wenn er eigenmächtig den Weg ins Restrukturierungsverfahren wählt6.

4. Anzeige der Restrukturierungssache trotz ablehnenden Gesellschafterbeschlusses 10.46

Untersagen die Gesellschafter den Geschäftsführern, das Restrukturierungsverfahren einzuleiten, indem sie keinen entsprechenden Beschluss fassen, hat der Geschäftsführer das grundsätzlich zu respektieren. 1 Brinkmann, KTS 2021, 303, 315 f.; Gleiches gilt nach h.M. bereits für die Stellung eines fakultativen Insolvenzantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit: OLG München v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121, 1124; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 29; Leinekugel/ Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1123 ff. 2 Zur Zustimmungsbedürftigkeit „ungewöhnlicher Maßnahmen“ Uwe H. Schneider/Sven H. Scheider in Scholz, § 37 GmbHG Rz. 34; Altmeppen, § 37 GmbHG Rz. 22; Stephan/Tieves in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 37 GmbHG Rz. 61 ff. 3 Brinkmann, KTS 2021, 303, 316; Scholz, ZIP 2021, 219, 226 bejaht die Einordnung der Anzeige als „außergewöhnliche Maßnahme“ unabhängig vom Planinhalt vor dem Hintergrund, dass die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache nach § 43 StaRUG zu einer Veränderung der Pflichtenbindung führe. 4 Dies konzediert auch C. Schäfer, ZIP 2020, 2164, 2168, der im Übrigen die Anzeige als eine strukturändernde Maßnahme einstuft. 5 Zur AG: Brinkmann, KTS 2021, 303, 317. A.A. Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2236; C. Schäfer, ZIP 2020, 1950, 1952; Rauhut, NZI-Beilage 1/2021, 52, 53. 6 Brinkmann, KTS 2021, 303, 316; zur Haftung wegen eigenmächtig gestellten fakultativen Insolvenzantrags bei drohender Zahlungsunfähigkeit Leinekugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1126 f.

398 | Brinkmann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.49 § 10

Das gilt allerdings nicht, wenn es rechtswidrig wäre, das Restrukturierungsverfahren nicht einzuleiten. Die Nichteinleitung ist rechtswidrig, wenn ohne die Restrukturierung die rechtzeitige Erfüllung der Verbindlichkeiten der Gesellschaft voraussichtlich nicht gelingen wird, so dass die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger gefährdet sind. Diese in der Sache schon vor dem StaRUG in Literatur1 und Rechtsprechung2 anerkannte Begrenzung des Weisungsrechts der Gesellschafter kommt vor allem dann ins Spiel, wenn sich die Krise so weit zugespitzt hat, dass die Solvenzsicherungspflicht aus § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG nur noch dadurch erfüllt werden kann, dass notfalls im Rahmen eines Restrukturierungsverfahrens Sanierungsmaßnahmen umgesetzt werden, die auch Eingriffe in die Stellung der Gesellschafter mit sich bringen („There is no alternative“). Das ist insbesondere in der praktisch wohl gar nicht so seltenen Situation der Fall, dass die Sanierung, m.a.W. die Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit, nur mit Hilfe der Gläubiger gelingen kann, wenn also benötigtes Kapital weder von den Gesellschaftern noch von dritter Seite beschafft werden kann. Liegt in einer solchen Situation ein Sanierungskonzept auf dem Tisch, das Eingriffe in die Stellung der Gesellschafter vorsieht und von dem die Gläubiger mit entsprechender Mehrheit „so oder gar nicht“ gesagt haben, dürfen sich die Gesellschafter diesem Konzept nicht verschließen3.

10.47

Daher wäre eine Weisung der Gesellschafter, die den Geschäftsführern den Weg zur Umsetzung des Sanierungskonzepts versperrt, rechtswidrig und somit für die Geschäftsführer nicht bindend4. Deren Solvenzsicherungspflicht hat sich angesichts der skizzierten Umstände zu einer konkreten Handlungspflicht verdichtet, wie es in der Begründung zum Regierungsentwurf zum StaRUG heißt5, so dass sie das Konzept notfalls auch gegen den Widerstand der Gesellschafter umsetzen müssen6. Die Gesellschafter können die Sanierung und die damit verbundenen Eingriffe in ihre Position dann nicht mehr blockieren.

10.48

Der Geschäftsführer muss somit entscheiden, ob der im Entwurf vorliegende Restrukturierungsplan wirklich der einzige Weg aus der Krise ist, so dass er einer etwaigen Unterlassungsanweisung der Gesellschafter nicht Folge leisten muss und darf. Dabei befindet er sich zwischen Skylla und Charybdis: Hält er den Gang ins Restrukturierungsverfahren zu Unrecht für alternativlos und widersetzt er sich deswegen dem Beschluss der Gesellschafter, so kann er sich ebenso schadensersatzpflichtig machen, wie wenn er sich umgekehrt zu Unrecht an das Votum der Gesellschafter gebunden sieht.

10.49

1 Altmeppen, § 37 GmbHG Rz. 6; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 37 GmbHG Rz. 18; Ziemons in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 43 GmbHG Rz. 101. 2 BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, BGHZ 176, 204 Rz. 39 = GmbHR 2008, 805 m. Anm. Ulrich = ZIP 2008, 1232 – Gamma; BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, BGHZ 197, 304 Rz. 33 = GmbHR 2013, 1044 = ZIP 2013, 1712. 3 Brinkmann, KTS 2021, 303, 320. 4 Ähnlich Scholz, ZIP 2021, 219, 227 f., der einen Widerspruch der Gesellschafter aber für generell unbeachtlich hält. Anders wohl Guntermann, WM 2021, 214, 220 f. im Hinblick auf die Haftung nach § 43 StaRUG und Weisungen der Gesellschafter. Anders auch Brünkmans, ZInsO 2021, 125, 126, der die Grenzen des Weisungsrechts erst bei einem existenzvernichtenden Eingriff oder einem Verstoß gegen §§ 30 ff. GmbHG erreicht sieht. 5 Begr. zu § 2 StaRUG-RegE. So auch schon Westpfahl, ZRI 2020, 157, 172. Insofern ist die Konstruktion von Jungmann, ZRI 2021, 209, 220 „Shift oder kein shift – tertium non datur“ doch zu weitreichend. Den abstrakt zu verstehenden Interessen der Gläubigergesamtheit ist schon dann genügt, wenn die Zahlungsunfähigkeit vermieden wird. 6 Zur unionsrechtlichen Begründung dieses Ergebnisses Brinkmann, KTS 2021, 303, 321. S. auch Skauradszun, KTS 2021, 1, 49, der aber wohl die Zustimmung der Gesellschafter für generell verzichtbar hält.

Brinkmann | 399

§ 10 Rz. 10.50 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.50

Aus praktischer Sicht ist jenseits einer denkbaren Schadensersatzhaftung zu berücksichtigen, dass ein Geschäftsführer, der entgegen der Weisung der Gesellschafter die Restrukturierungssache anzeigt, damit rechnen muss, abberufen zu werden1. Die Gesellschafter können dann einen Geschäftsführer mit weniger Rückgrat einsetzen, der als erste Amtshandlung die Anzeige nach § 31 Abs. 4 Nr. 1 StaRUG zurücknimmt.

10.51

Allerdings ist dieser Weg jedenfalls für den neuen Geschäftsführer durchaus haftungsträchtig. Denn nach Anzeige der Restrukturierungssache ist der Anwendungsbereich des § 43 StaRUG eröffnet, so dass er sich durch die Rücknahme der Anzeige nach dieser Vorschrift haftbar machen würde, wenn die Interessen der Gläubiger nur durch die Durchführung des Verfahrens gewahrt werden können. Auch für die Gesellschafter ist die Abberufung und die Weisung zur Rücknahme der Anzeige risikoreich, denn in solchen Fällen ist es nicht völlig abwegig, an eine persönliche Haftung der Gesellschafter nach § 826 BGB wegen existenzvernichtenden Eingriffs zu denken2.

10.52

Jenseits der Fälle, in denen die Gesellschafter bei der Abberufung mit Gläubigerschädigungsvorsatz handeln, ist die Auswechselung des Geschäftsführers aber durchaus ein Instrument der Gesellschafter, gegen eigenmächtig und entgegen dem Gesellschaftsinteresse handelnde Geschäftsführer vorzugehen.

10.53–10.60

Einstweilen frei.

IV. Der Restrukturierungsplan als Instrument zur kollektiv-privatautonomen Bewältigung der schuldnerischen Krise 10.61

Der Restrukturierungsplan bildet als Herzstück3 des StaRUG die Grundlage für Eingriffe in Forderungen und Rechte von Gläubigern und Anteilsinhabern durch Mehrheitsentscheidung der Beteiligten. Er ist damit, gleich dem Insolvenzplan, ein Mittel zur kollektiv-privatautonomen Bewältigung der schuldnerischen Krise4. Angesichts dieser funktionalen Übereinstimmungen und mit Blick auf das praxisbewährte Insolvenzplanrecht profitieren die Bestimmungen zum Restrukturierungsplan über weite Strecken von den Erfahrungen mit den ähnlich ausgestalteten insolvenzplanrechtlichen Regelungen (Rz. 31.1 ff.)5. Im Ausgangspunkt regelt das StaRUG die inhaltlichen Anforderungen an den Restrukturierungsplan und das Abstimmungsverfahren. Aufstellung und Abstimmung über den Plan können durch den Schuldner selbst organisiert werden. Der Plan erfasst sowohl Maßnahmen der finanziellen Restrukturierung (z.B. (teilweiser) Forderungsverzicht, Stundungen) als auch vermögensbezogene Maßnahmen (z.B. Veräußerung von Vermögensgegenständen oder die (teilweise) Unternehmensveräußerung)6. 1 Auf diese Möglichkeit weisen auch Haas/Göb, NZI 2020, 200, 201 hin. 2 Haas/Göb, NZI 2020, 200, 202 fordern de lege ferenda eine Haftung der Gesellschafter „nach dem Maßstab des ordentlichen Sanierungsgeschäftsmanns“. Seibt/von Treuenfeld, DB 2019, 1190, 1198, erwägen eine Haftung die Sanierung obstruierender Gesellschafter wegen Treuepflichtverletzung. 3 Bereits zur Restrukturierungsrichtlinie Schluck-Amend/Hacker, WPg 2019, 737; zum nationalen RegE Brinkmann, ZIP 2020, 2361, 2362; Deppenkemper, ZIP 2020, 2432; Krystek/Evertz, DB 2020, 2361, 2364; Müller, ZIP 2020, 2253, 2255; Vallender, ZInsO 2020, 2677; zum StaRUG Gehrlein, BB 2021, 66. 4 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 109. 5 Rath, BB 2021, Heft 2, Umschlagteil, I. 6 Vgl. Gehrlein, BB 2021, 66, 67.

400 | Brinkmann und Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.65 § 10

Darüber hinaus können Rechtsverhältnisse gestaltet (Rz. 10.79) sowie das Verhältnis der Gläubiger untereinander geregelt werden1.

1. Anforderungen an den Restrukturierungsplan Formal ist der Restrukturierungsplan in einen darstellenden und einen gestaltenden Teil untergliedert. Der Aufbau und die Pflicht zur Beifügung bestimmter Anlagen sind an die Vorschriften zur Aufstellung eines Insolvenzplans nach §§ 219 ff. InsO angelehnt (Rz. 31.11 ff.)2. Dennoch können sich Restrukturierungspläne und Insolvenzpläne im Detail in Aufbau und Inhalt unterscheiden, insbesondere was den Mindestinhalt der Pläne anbelangt.

10.62

a) Gliederung des Plans (§ 5 StaRUG) Der Restrukturierungsplan besteht aus einem darstellenden und einem gestaltenden Teil (§ 5 Satz 1 StaRUG). Er gleicht insoweit der Gliederung des Insolvenzplans nach § 219 InsO (Rz. 31.11 ff.) und spiegelt im Restrukturierungsrecht zwei elementare Funktionen des Plans wider. Durch den darstellenden Teil wird die Information der Planbetroffenen und des Restrukturierungsgerichts sichergestellt, während der gestaltende Teil die Rechtswirkungen des Restrukturierungsplans bestimmt. Dafür müssen die Gestaltungswirkungen im gestaltenden Teil eindeutig und vollumfänglich festgelegt werden, da der abgestimmte Plan gegenüber dem Gericht Bindungswirkung entfaltet und von diesem nur in Gänze bestätigt oder abgelehnt werden kann. Eigene Änderungen kann das Gericht nicht vornehmen3.

10.63

Die gesetzliche Festlegung des Mindestinhalts des Restrukturierungsplans basiert auf den umfangreichen Vorgaben des Art. 8 Abs. 1 der Restrukturierungsrichtlinie4. Nach § 5 Satz 2 StaRUG muss der Plan mindestens die nach der Anlage zum StaRUG erforderlichen Angaben enthalten. Details zum notwendigen Inhalt des Plans wurden zur Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit des Gesetzestextes in diese Anlage ausgelagert5. Daneben muss der Plan die sich aus den §§ 5–15 StaRUG ergebenden notwendigen Angaben enthalten. Nach § 5 Satz 3 StaRUG sind dem Restrukturierungsplan unter anderem eine Erklärung zur Bestandsfähigkeit, eine Vermögensübersicht und ein Ergebnis- und Finanzplan (s. § 14 StaRUG) als Anlage beizufügen.

10.64

b) Darstellender Teil (§ 6 StaRUG) Im darstellenden Teil des Restrukturierungsplans sind die Grundlagen und die Auswirkungen des Plans zu beschreiben und alle Angaben aufzunehmen, die für die Entscheidung der Planbetroffenen über die Zustimmung und für die gerichtliche Bestätigung des Plans erheblich sind, einschließlich der Krisenursachen und der zur Krisenbewältigung vorzunehmenden Maßnahmen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 u. 2 StaRUG). Gesondert darzustellen sind nach § 6 Abs. 1 Satz 3 StaRUG auch solche Maßnahmen, welche nur außerhalb des Plans durchgeführt wer1 2 3 4

Hierzu Schluck-Amend/Hefner, ZRI 2020, 570, 573 f. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 115. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 116. RL (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), ABl. EU Nr. L 127 v. 26.6.2019, S. 18. 5 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 115 f.

Schluck-Amend | 401

10.65

§ 10 Rz. 10.65 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

den können oder sollen, wie etwa personalwirtschaftliche Restrukturierungsmaßnahmen, die die Arbeitsverhältnisse betreffen1. Die Planbetroffenen erhalten im darstellenden Teil umfassende und verständliche Informationen, auf deren Grundlage sie über den Restrukturierungsplan abstimmen sollen. Hierbei sind sowohl die zu ergreifenden Maßnahmen als auch deren Auswirkungen darzustellen sowie die Folgen, die sich voraussichtlich einstellen werden, wenn der Plan nicht angenommen wird. Des Weiteren enthält das Gesetz auch die Pflicht zur Darstellung der nicht über die Gestaltungswirkungen des Plans umzusetzenden Maßnahmen, da für eine sachgerechte Bewertung des Restrukturierungsplans eine Betrachtung des gesamten Restrukturierungskonzepts erforderlich ist2.

10.66

Der darstellende Teil muss zudem eine Vergleichsrechnung enthalten, in der die Auswirkungen des Plans auf die Befriedigungsaussichten der Planbetroffenen aufgezeigt werden (§ 6 Abs. 2 Satz 1 StaRUG). Sofern der Plan eine Fortführung des Unternehmens vorsieht, ist für die Ermittlung der Befriedigungsaussichten ohne Plan zu unterstellen, dass das Unternehmen fortgeführt wird (§ 6 Abs. 2 Satz 2 StaRUG). Dies gilt jedoch nicht, wenn ein Verkauf des Unternehmens oder eine anderweitige Fortführung aussichtslos ist (§ 6 Abs. 2 Satz 3 StaRUG). Die Regelung ähnelt im Insolvenzplanrecht dem § 220 Abs. 2 InsO n.F. Dort ist allerdings nur „in der Regel“ zu unterstellen, dass das Unternehmen fortgeführt wird (Rz. 31.11 ff.). Zudem hat die Vergleichsrechnung im StaRUG – anders als die Regelung zum Insolvenzplan – auf eine „voraussichtliche Befriedigung der Gläubiger“ Bezug zu nehmen. Die Vorschrift ist von zentraler Bedeutung für die Aufstellung des Restrukturierungsplans. Die Vergleichsrechnung kann durch das zugrunde zu legende Alternativszenario wesentlich beeinflusst werden. Die Regelung soll verhindern, dass der Schuldner als Alternativszenario ohne ausreichend fundierte Begründung eine Liquidation unterstellt und sich damit weitergehende Eingriffe in die Rechte der Planbetroffenen verschafft3. Vermögenswerte sollen nicht pauschal mit kurzfristigen oder geringen Liquidationswerten angesetzt und die Vergleichsquote auf diese Weise kleingerechnet werden können4. Maßgeblich ist vielmehr das „nächstbeste Alternativszenario“5. Sollte als Alternativszenario ein Verkauf des Unternehmens zugrunde gelegt werden, ist fraglich, ob für die Ermittlung des potenziellen Kaufpreises ein M&A-Prozess angestoßen werden muss (sog. Dual Track Verfahren) oder ob der Unternehmenswert auf Basis anerkannter Methoden der Unternehmensbewertung ermittelt werden kann. Da das StaRUG-Verfahren ein nicht-öffentliches Verfahren sein soll, kann ein M&A-Prozess nach richtiger Ansicht nicht erforderlich sein6. Auch muss nicht zwingend die bloße Unternehmensfortführung als (zusätzlicher) Vergleichsmaßstab angenommen werden7; entscheidend ist, ob das angenommene Vergleichsszenario plausibel erscheint8.

10.67

Wenn der Restrukturierungsplan Eingriffe in die Rechte von Gläubigern aus gruppeninternen Drittsicherheiten (§ 2 Abs. 4 StaRUG) vorsieht, sind nach § 6 Abs. 3 StaRUG auch die 1 2 3 4 5 6 7 8

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 116. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 116. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 116. Desch, BB 2020, 2498, 2504. Vgl. auch Gehrlein, BB 2021, 66, 69; Proske/Streit, NZI 2020, 969, 970. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 128. Böhm in Braun, 2021, § 6 StaRUG Rz. 27; Fuhrmann/Heinen/Schilz, NZG 2021, 684, 686; wohl auch Bea, SanB 2021, 51, 52. So wohl AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, NZI 2021, 433 Rz. 31 = ZIP 2021, 806, das auf das Vorbringen eines Restrukturierungsgläubigers den Vergleich auch mit diesem „möglicherweise nächstbestem Szenario“ fordert. Thole, Anmerkung zu AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, NZI 2021, 433, 436 = ZIP 2021, 806.

402 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.69 § 10

Verhältnisse des die Sicherheit gewährenden, verbundenen Unternehmens und die Auswirkungen des Plans auf dieses Unternehmen in die Darstellung einzubeziehen. Hierdurch sollen die Restrukturierungsgläubiger die Werthaltigkeit der Sicherheit und die Auswirkungen des Restrukturierungsplans auf die Stellung des Sicherungsnehmers beurteilen können1.

c) Gestaltender Teil (§ 7 StaRUG) Auch die Regelungen zum gestaltenden Teil in § 7 StaRUG entsprechen weitgehend den Regelungen in der InsO zum Insolvenzplan (Rz. 31.16 ff.). Der gestaltende Teil des Restrukturierungsplans legt fest, wie die Rechtsstellung der Planbetroffenen durch den Plan geändert werden soll. Die Legaldefinition des Begriffs der Planbetroffenen bezieht in Anlehnung an die Vorschriften der InsO die Inhaber der Restrukturierungsforderungen, der Absonderungsanwartschaften, der Rechte aus gruppeninternen Drittsicherheiten und der Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte (Planbetroffene) mit ein (§ 7 Abs. 1 StaRUG). Hinsichtlich der Inhaber von einbezogenen Forderungen findet die Regelung ihre Entsprechung in § 224 InsO, bezüglich der Inhaber von Absonderungsanwartschaften in § 223 Abs. 2 InsO (vgl. zum Insolvenzplan Rz. 31.16 ff.). Dabei wurde berücksichtigt, dass nicht notwendigerweise alle Gläubiger in den Restrukturierungsplan einbezogen werden müssen2. § 7 Abs. 2 StaRUG regelt, dass bei der Ausgestaltung von Restrukturierungsforderungen oder Absonderungsanwartschaften zu bestimmen ist, um welchen Bruchteil diese gekürzt, für welchen Zeitraum sie gestundet, wie sie gesichert und welchen sonstigen Regelungen sie unterworfen werden sollen. Dies gilt entsprechend für die Gestaltung der Rechte aus gruppeninternen Drittsicherheiten (§ 7 Abs. 2 Satz 2 StaRUG). Soweit vertragliche Nebenbestimmungen oder Vereinbarungen mehrseitiger Rechtsverhältnisse nach § 2 Abs. 2 StaRUG gestaltet werden, ist im gestaltenden Teil gemäß § 7 Abs. 3 StaRUG festzulegen, wie diese abgeändert werden sollen. Die durch § 7 Abs. 4 StaRUG eröffneten Möglichkeiten, über einen Restrukturierungsplan in die Anteilsoder Mitgliedschaftsrechte der am Schuldner beteiligten Personen einzugreifen sowie die Durchführbarkeit aller gesellschaftsrechtlich zulässigen Maßnahmen, entsprechen den nach § 225a InsO bestehenden Möglichkeiten im Insolvenzplanverfahren (Rz. 31.28 ff). Die gesellschaftsrechtlich zulässigen Maßnahmen umfassen beispielsweise den Debt-Equity-Swap, eine Kapitalherabsetzung oder -erhöhung, Leistung von Sacheinlagen sowie die Übertragung von Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten. Wie auch im Insolvenzplan ist eine Umwandlung von Forderungen in Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte an dem Schuldner gegen den Willen des betroffenen Gläubigers unzulässig. § 7 Abs. 4 Satz 4 und 5 StaRUG orientieren sich an der Regelung in § 225a Abs. 3 InsO3. Insoweit werden § 225a Abs. 4 und 5 InsO für entsprechend anwendbar erklärt.

10.68

d) Auswahl der Planbetroffenen (§ 8 StaRUG) Der Schuldner kann entscheiden, welche Restrukturierungsgläubiger er im Rahmen des Restrukturierungsplans beteiligen möchte. Dieses Auswahlermessen gilt aber nicht grenzenlos. Gemäß § 8 StaRUG muss die Auswahl der Planbetroffenen sachgerecht sein4. 1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 116. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 117. 3 Kritisch zur Übernahme des Kriteriums der gesellschaftsrechtlichen Zulässigkeit Keller, BB 2020, 2435, 2438 f.; Müller, ZIP 2020, 2253, 2255; Schäfer, ZIP 2019, 1305, 1306 ff.; Seibt/Bulgrin, DB 2020, 2226, 2234 f.; Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. Für die Beibehaltung der Regelung des Planverfahrens Freitag, ZIP 2019, 541, 544; Hofmann, NZI-Beilage 2019, 22, 24 f. 4 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 117.

Schluck-Amend | 403

10.69

§ 10 Rz. 10.70 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.70

Die sachgerechten Kriterien der Auswahl sind im darstellenden Teil des Plans anzugeben und zu erläutern (§ 8 Satz 1 StaRUG). Hierdurch sollen die Planbetroffenen die Möglichkeit erhalten, sowohl die Umsetzbarkeit des Restrukturierungskonzepts als auch die Sachgerechtigkeit und Angemessenheit der Lastentragung beurteilen und einschätzen zu können1. Hierbei wird es teilweise als kritisch angesehen, dass es möglich ist, im Restrukturierungsplan das gesamte Vermögen des Schuldners oder wesentliche Teile hiervon zu übertragen, hierüber aber nur die planbetroffenen Gläubiger informiert werden und abstimmen (dürfen)2. Jedoch sind Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren klar voneinander abzugrenzen. Erst im Falle der Insolvenz gebührt die Verfahrenshoheit der Gläubigergesamtheit.

10.71

Die Auswahl der Planbetroffenen ist nach § 8 StaRUG sachgerecht, wenn (1.) die nicht einbezogene Forderungen auch in einem Insolvenzverfahren voraussichtlich vollständig erfüllt würden, (2.) die in der Auswahl angelegte Differenzierung nach der Art der zu bewältigenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Schuldners und den Umständen angemessen erscheint, insbesondere, wenn ausschließlich Finanzverbindlichkeiten und die zu deren Sicherung bestellten Sicherheiten gestaltet werden oder die Forderungen von Kleingläubigern, insbesondere Verbrauchern, Klein- und Kleinstunternehmen oder mittleren Unternehmen, unberührt bleiben oder (3.) mit Ausnahme der in § 4 StaRUG genannten Forderungen sämtliche Forderungen einbezogen werden. Mit der Beschränkung des Auswahlermessens möchte der Gesetzgeber Manipulationen verhindern. Die Gewähr voller Transparenz hinsichtlich des Kreises der einbezogenen und der nicht einbezogenen Gläubiger im darstellenden Teil leistet insofern einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung von Missbrauch3.

e) Einteilung der Planbetroffenen in Gruppen (§ 9 StaRUG) 10.72

Bei der Festlegung der Rechte der Planbetroffenen im Restrukturierungsplan sind Gruppen zu bilden, soweit Planbetroffene mit unterschiedlicher Rechtsstellung betroffen sind (§ 9 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Die Bestimmung ist an ihr Pendant im Insolvenzplanrecht in § 222 Abs. 1 InsO angelehnt (Rz. 31.21 ff.). Sie unterscheidet zwischen Inhabern von Absonderungsanwartschaften (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StaRUG), einfachen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StaRUG) und nachrangigen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StaRUG) Restrukturierungsgläubigern, wobei für jede Rangklasse eine Gruppe zu bilden ist, sowie zwischen Inhabern von Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten (§ 9 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StaRUG). Nachrangige Restrukturierungsforderungen sind die Forderungen auf unentgeltliche Leistungen (§ 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO), Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen und aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) sowie Forderungen mit vereinbartem Rangrücktritt (§ 39 Abs. 2 InsO)4. Soweit der gestaltende Teil des Restrukturierungsplans ferner Eingriffe in die Rechte von Gläubigern aus gruppeninternen Drittsicherheiten vorsieht, bilden die davon betroffenen Gläubiger eigenständige Gruppen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 StaRUG). Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber auf die unterschiedliche Wirkungsweise von Dritt- und Eigensicherheiten und die daher abweichende wirtschaftliche Situation der unterschiedlich gesicherten Gläubiger Rücksicht nehmen5.

1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 117. 2 So etwa Müller, ZIP 2020, 2253, 2256; Hofmann, NZI-Beilage 2019, 22, 24; die Übertragung des Unternehmens im Ganzen befürwortend dagegen Deppenkemper, ZIP 2020, 595, 600. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 117. 4 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 119. 5 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 119.

404 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.75 § 10

Wie im Insolvenzplan (Rz. 31.36) ist auch im Restrukturierungsplan die Bildung von Untergruppen nach Maßgabe wirtschaftlicher Interessen zulässig (§ 9 Abs. 2 Satz 1 StaRUG). Die Gruppenbildung unterteilt sich folglich in Pflichtgruppen und fakultative Gruppen1. Die Gruppen müssen nach § 9 Abs. 2 Satz 2 u. 3 StaRUG sachgerecht voneinander abgegrenzt und die Abgrenzungskriterien im Plan angegeben werden. Für die Planbetroffenen wird auf diese Weise eine umfassende Informationsgrundlage für die Abstimmung geschaffen und dem Restrukturierungsgericht wird bei der Planbestätigungsentscheidung eine Nachprüfung ermöglicht. Kleingläubiger sind nach der Bestimmung des § 9 Abs. 2 Satz 4 StaRUG im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 StaRUG zu bildenden Gruppen zu eigenständigen Gruppen zusammenzufassen. Der Grund für diese Regelung ist in den für den Plan erforderlichen Mehrheiten zu sehen, die sich von den Mehrheitserfordernissen im Insolvenzplanrecht unterscheiden. Während nach § 244 Abs. 1 InsO sowohl eine kumulative Kopf- und Summenmehrheit in den einzelnen Gruppen erforderlich ist (s. hierzu Rz. 31.22), bedarf es nach § 25 Abs. 1 StaRUG bei der Abstimmung über den Restrukturierungsplan jeweils nur einer Summenmehrheit von 75 % – ohne zusätzliche Kopfmehrheit. Das Erfordernis der qualifizierten Summenmehrheit in Höhe von 75 % wirkt zwar dem Risiko einer Majorisierung von Kleingläubigern durch Großgläubiger entgegen, kann diese jedoch nicht ausschließen. Die Zusammenfassung der Kleingläubiger in separaten Gruppen dient daher ihrem Schutz2.

10.73

f) Gleichbehandlung von Planbetroffenen (§ 10 StaRUG) § 10 Abs. 1 StaRUG bestimmt, dass innerhalb jeder Gruppe allen Planbetroffenen gleiche Rechte anzubieten sind. Das Erfordernis der Gleichbehandlung schließt jedoch eine unterschiedliche Behandlung von Betroffenen, die unterschiedlichen Gruppen angehören, nicht aus. Insoweit ergibt sich auch im Verhältnis der Planbetroffenen und der nicht in den Plan einbezogenen Beteiligten eine Ungleichbehandlung. Diese muss jedoch sachgerecht (Rz. 10.70 ff.) sein3. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 StaRUG ist eine unterschiedliche Behandlung der Planbetroffenen in einer Gruppe indes nur dann zulässig, wenn alle Planbetroffenen, zu deren Lasten die unterschiedliche Behandlung geht, zustimmen. Bei einem Verzicht auf das gruppeninterne Gleichbehandlungsgebot ist dem Restrukturierungsplan die zustimmende Erklärung eines jeden Planbetroffenen, zu dessen Lasten die unterschiedliche Behandlung geht, beizufügen (§ 10 Abs. 2 Satz 2 StaRUG). Wie schon die Absätze 1 und 2 orientiert sich auch § 10 Abs. 3 StaRUG stark an der Regelung des § 226 InsO (zur Gleichbehandlung der Beteiligten im Insolvenzplanverfahren Rz. 31.34 ff.). Danach ist jede Vereinbarung des Schuldners oder Dritter mit einzelnen Planbetroffenen, die diesen für ihr Verhalten bei Abstimmungen oder sonst im Zusammenhang mit dem Restrukturierungsverfahren einen nicht im Plan vorgesehenen Vorteil verspricht, nichtig. Auf diese Weise werden die Transparenz und Integrität des Abstimmungsprozesses geschützt.

10.74

g) Haftung der Schuldnerin (§ 11 StaRUG) Die Vorschrift des § 11 StaRUG enthält eine an § 227 InsO angelehnte Haftungsbefreiung für die plangestalteten Forderungen. Nach Satz 1 wird der Schuldner mit der im gestaltenden Teil vorgesehenen Befriedigung der Gläubiger von seinen restlichen Verbindlichkeiten gegenüber diesen aus den in den Plan einbezogenen Restrukturierungsforderungen und Absonderungs-

1 Desch, BB 2020, 2498, 2503; Thole, ZIP 2020, 1985, 1989. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 119. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 119.

Schluck-Amend | 405

10.75

§ 10 Rz. 10.75 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

anwartschaften befreit, wenn im Restrukturierungsplan nichts anderes bestimmt ist. Handelt es sich bei dem Schuldner um eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit oder eine Kommanditgesellschaft auf Aktien, so gilt § 11 Satz 1 StaRUG entsprechend für die persönliche Haftung der unbeschränkt haftenden Gesellschafter (§ 11 Satz 2 StaRUG). Die Regelung betrifft allein die Haftung für die in den Plan einbezogenen Forderungen und nicht die Forderungen der Gläubiger, die nicht in den Plan einbezogen werden1.

h) Neue Finanzierung (§ 12 StaRUG) 10.76

Nach § 12 Satz 1 StaRUG können in den Restrukturierungsplan Regelungen zur Zusage von Darlehen oder sonstigen Krediten aufgenommen werden, die zur Finanzierung der Restrukturierung auf der Grundlage des Plans erforderlich sind (neue Finanzierung). Hier kommen z.B. Warenkredite und Gelddarlehen in Betracht, sofern sie der Finanzierung der Restrukturierung dienen und auf der Grundlage des Plans erfolgen2. Im darstellenden Teil des Restrukturierungsplans muss die Erforderlichkeit der neuen Finanzierung erläutert und begründet werden (Nr. 8 der Anlage zu § 5 Satz 2 StaRUG). Als neue Finanzierung gilt auch deren Besicherung (§ 12 Satz 2 StaRUG).

i) Änderung sachenrechtlicher Verhältnisse (§ 13 StaRUG) 10.77

Ebenso wie in § 228 InsO vorgesehen, können sachenrechtliche Verhältnisse auch auf der Grundlage von Regelungen im Restrukturierungsplan gestaltet werden. Sollen also Rechte an Gegenständen begründet, geändert, übertragen oder aufgehoben werden, so können die erforderlichen Willenserklärungen der Beteiligten in den gestaltenden Teil des Restrukturierungsplans aufgenommen werden (§ 13 Satz 1 StaRUG). Sind im Grundbuch eingetragene Rechte an einem Grundstück oder an eingetragenen Rechten betroffen, so sind diese Rechte unter Beachtung des § 28 GBO genau zu bezeichnen. Neben schuldrechtlichen Erklärungen können auch dingliche Willenserklärungen aufgenommen werden. Bei gerichtlicher Bestätigung des Plans kann sich insoweit gegebenenfalls eine Zeit- und Kostenersparnis ergeben, da die notarielle Beurkundung entbehrlich wird (§ 68 Abs. 1 StaRUG).

j) Erklärung zur Bestandsfähigkeit, Vermögensübersicht, Ergebnis- und Finanzplan (§ 14 StaRUG) 10.78

Nach Art. 8 der Restrukturierungsrichtlinie muss der Plan eine Begründung enthalten, aus welcher ersichtlich wird, wie sich durch Umsetzung des Plans die Insolvenz abwenden und die Bestandsfähigkeit des Unternehmens sichern lässt. Insofern ist dem Restrukturierungsplan eine begründete Erklärung zu den Aussichten darauf beizufügen, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners durch den Plan beseitigt wird und dass die Bestandsfähigkeit des Schuldners sicher- oder wiederhergestellt wird. Die Regelung des § 14 Abs. 2 StaRUG ist dem § 229 Satz 1–2 InsO nachgebildet. Danach ist dem Restrukturierungsplan eine Vermögensübersicht beizufügen, in der die Vermögensgegenstände und die Verbindlichkeiten, die sich bei Wirksamwerden des Plans gegenüberstünden, mit ihren Werten aufgeführt sind. Zudem ist aufzuführen, welche Aufwendungen und Erträge für den Zeitraum, während dessen die Gläubiger befriedigt werden sollen, zu erwarten sind und durch welche Abfolge von Einnahmen und Ausgaben die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens während dieses Zeitraums ge1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 120. 2 Gehrlein, BB 2021, 66, 69; Thole, ZIP 2020, 1985, 1989.

406 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.82 § 10

währleistet werden soll. Dabei sind neben den Restrukturierungsforderungen auch die vom Plan unberührt bleibenden Forderungen sowie die künftig nach dem Plan zu begründenden Forderungen zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 2 Satz 1–3 StaRUG).

2. Gestaltung von Rechtsverhältnissen auf Grundlage eines Restrukturierungsplans Das StaRUG ermöglicht es Unternehmen, Rechtsverhältnisse zu gestalten und somit gleich eines Insolvenzplans eine Krise durch kollektiv-privatautonome Gestaltung zu überwinden1. Im Hinblick auf die gestaltbaren Rechtsverhältnisse ist hervorzuheben, dass durch das StaRUG erstmals die Möglichkeit besteht, sog. Akkordstörer zwangsweise in ein außerhalb der Insolvenz stattfindendes Restrukturierungsverfahren einzubinden2. Eine zwangsweise Einbindung der Akkordstörer war in der Vergangenheit nicht möglich3 und führte daher, insbesondere in komplexen Konsortialfinanzierungen, nicht selten dazu, dass eine Restrukturierung scheiterte.

10.79

Welche Rechtsverhältnisse von der Gestaltungswirkung eines Restrukturierungsplans erfasst sein können, bestimmen die §§ 2 ff. StaRUG:

10.80

a) Gestaltbare Rechtsverhältnisse (§ 2 StaRUG) Die gestaltbaren Rechtsverhältnisse orientieren sich im Kern an denen eines Insolvenzplans. Erfasst sind alle Forderungen, Rechtsverhältnisse und Rechte, die auch in einem Insolvenzplan gestaltbar sind. Gemäß § 2 Abs. 1 StaRUG unterliegen insbesondere Forderungen, die gegen eine restrukturierungsfähige Person (Schuldner) begründet sind (sog. Restrukturierungsforderungen) der Gestaltung. Dies gilt auch, wenn die Restrukturierungsforderungen bedingt oder noch nicht fällig sind, vgl. § 3 Abs. 1 StaRUG.

10.81

Ferner ist gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG die Gestaltung von Absonderungsanwartschaften möglich. Durch den begrifflichen Bezug zur Anwartschaft wird klargestellt, dass – anders als im Insolvenzverfahren – mangels Insolvenzeröffnung-/masse noch kein Vollrecht auf Absonderung bestehen kann4. Gleichlaufend zu den Regelungen im Insolvenzplan (vgl. § 217 Satz 1 InsO) ist eine Gestaltung von Aussonderungsrechten hingegen nicht vorgesehen. Es wird daher entscheidend auf die rechtliche Einordnung des Sicherungsmittels zum Zeitpunkt der Planvorlage ankommen (vgl. zur zeitlichen Bestimmung Rz. 10.88). Dies kann insbesondere dann Schwierigkeiten und Risiken bergen, wenn die rechtliche Qualifizierung als Ab- oder Aussonderungsrecht innerhalb eines Vertragsverhältnisses variieren kann, so z.B. beim verlängerten Eigentumsvorbehalt5. Der Verkäufer hat für den Fall, dass der Vorbehaltskäufer insolvent wird und den Kaufgegenstand noch nicht weiterveräußert hat nach h.M. ein Aussonderungsrecht. Hingegen steht dem Verkäufer bei bereits erfolgter Weiterveräußerung durch den Vorbehaltskäufer nur ein Absonderungsrecht zu, da er lediglich durch die antizipierte Forderungsabtretung geschützt ist (vgl. § 51 Nr. 1 InsO)6.

10.82

1 2 3 4 5 6

Gehrlein, BB 2021, 66, 67. Bitter, GmbHR 2021, R16-R18; Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. BGH v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, BGHZ 116, 319 = ZIP 1992, 1911. Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. Thole in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 47 InsO Rz. 38; Andres in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 47 InsO Rz. 23; Bäuerle in Braun, 8. Aufl. 2020, § 51 InsO Rz. 20.

Schluck-Amend | 407

§ 10 Rz. 10.83 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.83

Darüber hinaus ermöglicht § 2 Abs. 2 StaRUG die Gestaltung von mehrseitigen Rechtsverhältnissen, also zwischen dem Schuldner und mehreren Gläubigern. Dabei können auch die Nebenbestimmungen in der gegenüber dem Schuldner bestehenden Vertragsbeziehung umgestaltet werden, vgl. § 2 Abs. 2 Satz 1 StaRUG. Die Gestaltung mehrseitiger Rechtsverhältnisse wird insbesondere im Rahmen von Konsortialkrediten/-finanzierungen eine Rolle spielen und kann gegebenenfalls bereits als Druckmittel ausreichen, um Akkordstörer von der Mitwirkung an einer außergerichtlichen Sanierung zu überzeugen1. Die Gestaltbarkeit von Nebenbestimmungen eröffnet ferner die Möglichkeit, Covenants und andere Bestimmungen anzupassen. Dies stellt gerade im Hinblick auf Konsortialkredite eine Erleichterung dar, da somit eine Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses unter sanierungsgerechten Covenants ermöglicht und ein andernfalls bestehendes Kündigungsrecht der Konsortialbanken verhindert werden kann2.

10.84

Durch § 2 Abs. 2 Satz 3 StaRUG ist es ferner möglich sog. Intercreditor Agreements zu gestalten, bei denen kein mehrseitiges Rechtsverhältnis, sondern unterschiedliche Rechtsverhältnisse vorliegen. Der unterschiedlichen Wortwahl („Einzelbestimmungen“ in Abs. 2 Satz 1 und „Bedingungen“ in Abs. 2 Satz 3) kommt keine inhaltliche Bedeutung zu3.

10.85

Entsprechend der Regelungen im Insolvenzplanverfahren (vgl. § 217 Satz 2, § 225a InsO) eröffnet der Restrukturierungsplan gemäß § 2 Abs. 3 StaRUG für juristische Personen als Schuldnerin auch die Möglichkeit, organisationsrechtliche Strukturen sowie Anteils- und Mitgliedschaftsrechte an der Schuldnerin zu gestalten. Die Übernahme dieser Regelung in das Restrukturierungsplanverfahren ist im Hinblick auf Art. 14 GG teilweise kritisiert worden, da gemäß § 26 Abs. 1 StaRUG eine Planzustimmung fingiert werden kann, d.h. gegen den Willen der Gläubiger erfolgen kann (sog. Cross-class cram-down)4. Trotz dieser Kritik hat sich der Gesetzgeber für die Aufnahme der Regelung entschieden und verweist in seiner Begründung darauf, dass ein hinreichender Schutz der betroffenen Gläubiger über § 64 Abs. 1 StaRUG gewährleistet sei5. § 64 Abs. 1 StaRUG sieht dabei vor, dass jeder Gläubiger die Planbestätigung mit dem Einwand, dass er durch den Plan schlechter gestellt wird, verhindern kann. Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht ergibt sich durch die Norm – entsprechend der Regelung im Insolvenzplanverfahren – die Möglichkeit eines sog. Debt-Equity-Swaps. Ein solcher Beteiligungstausch, bei welchem der Gläubiger sein Gläubigerrisiko gegen das Unternehmerrisiko austauscht, kann dabei gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 StaRUG nicht gegen den Willen des Gläubigers erfolgen6.

10.86

Das StaRUG sieht zudem Gestaltungsmöglichkeiten vor, die zu einer verbesserten Konzernstrukturierung führen können. So ermöglicht § 2 Abs. 4 StaRUG auch den Eingriff in grup1 Bitter, GmbHR 2021, R16–R18; Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. 2 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 111 f. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die in Konsortialkreditverträgen vereinbarten Covenants nicht auf die Unternehmens- und Finanzlage zum Zeitpunkt der Krise abzielen und somit vom Unternehmen häufig nicht erfüllt/eingehalten werden können. Dabei kann die mögliche Nichteinhaltung von Covenants und eines daraus möglicherweise resultierenden Kündigungsrechts des Vertragspartners Auswirkungen auf die Einschätzung der Fortbestehensprognose haben. 3 Esser in Braun, 2021, § 2 StaRUG Rz. 25. 4 Kritisch Schäfer, ZIP 2020, 2164, 2168. 5 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 113. 6 Die Regelung entspricht § 225a Abs. 2 Satz 2 InsO und dient dem gemäß Art. 9 Abs. 1 GG gebotenen Schutz eines Gläubigers vor einer Zwangsbeteiligung an einem Verband, vgl. Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 225a InsO Rz. 33.

408 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.89 § 10

peninterne Drittsicherheiten, wie sie z.B. im Fall einer Garantie des Mutterunternehmens oder eines Tochter-/Schwesterunternehmens für die Schuldnerin bestehen. Sinn und Zweck der Regelung ist es, Konzernsanierungen zu ermöglichen, ohne dass es dabei unmittelbarer Restrukturierungsmaßnahmen bei der Sicherungsgeberin bedarf1. Voraussetzung hierfür ist nur, dass es sich bei dem die Sicherheit bestellenden Unternehmen um ein verbundenes Unternehmen nach § 15 AktG handelt. Die Sicherungsnehmer sind – dem Verschlechterungsverbot folgend – für den Eingriff entsprechend der Werthaltigkeit der Sicherheit zu entschädigen2.

Ferner sieht § 2 Abs. 4 StaRUG die Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung der persönlich haftenden Gesellschafter bei Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit vor. Dies betrifft z.B. die Gesellschafter einer OHG, die nach § 128 HGB persönlich haften. Jedoch kann weder die Gestaltung von Drittsicherheiten noch die Befreiung der persönlichen Gesellschafterhaftung ohne eine entsprechende Kompensation erfolgen, vgl. § 2 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2, Satz 2 StaRUG. Eine solche Entschädigung ist vor dem Hintergrund zwingend, dass die Gewährung von Krediten gegenüber Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit häufig aufgrund der persönlichen Haftung ihrer Gesellschafter erfolgt. Wird jedoch gerade der Zugriff auf das Privatvermögen der Gesellschafter in Fällen, in denen die Bestätigung des Restrukturierungsplans zum Ausschluss der Haftung führt, ausgeschlossen, muss dies gegenüber den Gläubigern entsprechend kompensiert werden. Der Umfang der angemessenen Entschädigung hat sich dabei, entsprechend des Sicherungszwecks der persönlichen Gesellschafterhaftung, an der Werthaltigkeit des hypothetischen Anspruchs gegen die Gesellschafter zu richten3.

10.87

Rechtsverhältnisse sind nur dann gestaltbar, wenn sie zum Zeitpunkt der Planvorlage bereits begründet waren, vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG4. Dies ist wie bei Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO aus zivilrechtlicher Sicht zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der Rechtsgrund der Entstehung der Forderung bereits gelegt war5. Dies ist dann der Fall, wenn bereits vor Planvorlage der anspruchsbegründende Tatbestand abgeschlossen ist6. Künftige Forderungen unterliegen keiner Gestaltungsmöglichkeit.

10.88

b) Bedingte und fällige Restrukturierungsforderungen (§ 3 StaRUG) § 3 Abs. 1 StaRUG stellt klar, dass auch bedingte und nicht fällige Forderungen der Gestaltungsmöglichkeit des Restrukturierungsplans unterliegen. Der Norm kommt lediglich deklaratorische Wirkung zu, da sich bereits aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG ergibt, dass es für die Gestaltungsmöglichkeit auf die Begründetheit zum nach § 2 Abs. 5 StaRUG zu bestimmenden Zeitpunkt ankommt. Aber weder eine Bedingung noch die fehlende Fälligkeit haben Auswirkung auf die Begründetheit einer Forderung, sondern allein auf deren Durchsetzbarkeit. Da sowohl auflösend als auch aufschiebend bedingte Forderungen eine Belastung für die Finanzlage des Schuldners darstellen können, werden – entsprechend des Wortlauts – beide Alternativen von der Norm erfasst (zu den Unterscheidungen des Stimmgewichts bei bedingten Forderungen vgl. § 24 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG)7. 1 2 3 4

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 113. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 113. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 113 f. Auch die Parallelnorm § 38 InsO des Insolvenzplanverfahrens knüpft insoweit an die Begründetheit der Forderung an. Mithin können die dazu aufgestellten Regeln auf § 2 Abs. 4 StaRUG entsprechend übertragen werden. 5 Thole, ZIP 2020, 1985, 1988. 6 BGH v. 22.9.2011 – IX ZB 121/11, NZI 2011, 953. 7 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 114.

Schluck-Amend | 409

10.89

§ 10 Rz. 10.90 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.90

Sofern begründete Restrukturierungsforderungen der Gestaltung zugänglich sind, wird dieser Grundsatz im Fall von Forderungen aus einem gegenseitigen Vertrag modifiziert. Gemäß § 3 Abs. 2 StaRUG sind Restrukturierungsforderungen aus gegenseitigen Verträgen nur insoweit gestaltbar, als die dem anderen obliegende Pflicht bereits erbracht ist. Dies knüpft an das aus § 105 InsO bekannte Prinzip an, wonach die Gegenleistung des Schuldners für bereits erbrachte Leistungen des Gläubigers nur eine Insolvenzforderung ist, auch wenn der Insolvenzverwalter für den noch nicht erbrachten Teil Erfüllung wählt. Der Vertragspartner hat im Umfang seiner Vorleistung den durch § 320 BGB zum Ausdruck kommenden Schutz des funktionellen Synallagmas eingebüßt1. Ein zwangsweiser Eingriff in das (noch bestehende) vertragliche Synallagma ist mit dem Restrukturierungsplan nicht möglich2. Vielmehr soll der Vertragspartner im Zeitpunkt einer nur drohenden Zahlungsunfähigkeit weiterhin in den Genuss der Wirkungen des funktionellen Synallagmas kommen. Soweit der ursprüngliche Regierungsentwurf im Hinblick auf gegenseitige Verträge in den §§ 51 ff. StaRUG-RegE die Möglichkeit des Schuldners vorsah, zu beantragen, dass gegenseitige Verträge, die vom anderen Teil noch nicht oder noch nicht vollständig erfüllt waren, gerichtlich beendet werden konnten, hat dies im finalen Gesetzeswerk keinen Niederschlag gefunden. Mag dies zwar den Schutzzweck des funktionellen Synallagmas aufrechterhalten, so birgt das Fehlen der Vorschrift doch auch Risiken für den Erfolg des Sanierungsverfahrens. Zwar ist den Kritikern der Regelungen der §§ 51 ff. StaRUG-RegE zuzugestehen, dass das StaRUG auf eine operative Sanierung abzielt und somit eine zwangsweise Beendigung von gegenseitigen Verträgen dem Wesen des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens grundsätzlich fremd ist3. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass es auch im Rahmen von operativen Sanierungen die Notwendigkeit von (notfalls auch zwangsweisen) Vertragsbeendigungen gibt. Dies kann insbesondere im Hinblick auf Miet- sowie Leasingverträge relevant sein, da eine operative Sanierung oft mit einer Kapazitätsverkleinerung einhergeht. Insoweit wurde durch die Streichung die Möglichkeit verpasst, auch solche auf gegenseitigen Verträgen basierende Dauerschuldverhältnisse einer umfangreichen Sanierung zuzuführen4. Ohne die Möglichkeit der Vertragsbeendigung eignet sich nun die Restrukturierung vor allem für die finanzielle Restrukturierung.

c) Ausgenommene Rechtsverhältnisse (§ 4 StaRUG) 10.91

Einer Gestaltung durch den Restrukturierungsplan nicht zugänglich sind hingegen Forderungen aus Arbeitsverhältnissen (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG). Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass Ziel der Restrukturierung die Fortführung des Unternehmens ist, was zwingend einen funktionierenden operativen Betrieb und damit die Mitwirkung der Arbeitnehmer voraussetzt5. Ferner ist die Norm vor dem Hintergrund zu sehen, dass eine Gestaltung der Forderungen aus Arbeitsverhältnissen in dem zur Einleitung eines Restrukturie1 Vgl. zu § 105 InsO: Huber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 103 InsO Rz. 47; Scherer, NZI 2004, 113, 117. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 114. 3 Kritiker verweisen insoweit darauf, dass Instrumente, die – zumindest auch – auf die Sicherung einer bereits unzureichenden Haftungsmasse abzielen, dem Anwendungsbereich der Insolvenzordnung (z.B. § 103 InsO), nicht aber dem des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens unterfallen, vgl. Müller, ZIP, 2253, 2257; Frind, ZinsO 2020, 2241, 2246. 4 Vgl. Madaus, Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) sowie zum diesbezüglichen Antrag der Fraktion der FDP, S. 7 f., abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/806302/5235168ddc676b943 6c8540322e53865/madaus-data.pdf, zuletzt abgerufen am 26.7.2022. 5 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 114.

410 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.94 § 10

rungsplanverfahrens möglichen Krisenzeitraum (drohende Zahlungsunfähigkeit) nicht erforderlich ist. Denn sollte eine Gestaltung der arbeitsrechtlichen Forderungen für die erfolgreiche Durchführung einer Sanierung (zwingend) erforderlich sein, kann davon ausgegangen werden, dass die Krise bereits zu weit fortgeschritten ist1. In diesen Fällen wird sich die Schuldnerin häufig bereits an der Grenze zur Überschuldung (§ 19 InsO) befinden, weshalb die (freiwillige, wenn nur drohende Zahlungsunfähigkeit besteht) Beantragung auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens sachgerechter ist. Ist eine Gestaltung der Forderungen aus Arbeitsverhältnissen zwingend erforderlich, ist der Insolvenzplan, der eine Gestaltung dieser Forderungen erlaubt, ein möglicher Weg. Diese Unterscheidung und der damit zusammenhängende Schutz der Arbeitnehmer wird auch dadurch deutlich, dass das Restrukturierungsplanverfahren, anders als das Insolvenzplanverfahren, kein Insolvenzgeld vorsieht. Ziel von § 4 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG ist daher auch die Gewährleistung eines ausreichenden Arbeitnehmerschutzes. Personelle Änderungen im Zuge eines Restrukturierungsplans sind zwar nicht ausgeschlossen. Jedoch müssen die geltenden kollektiv- und individualarbeitsrechtlichen Anforderungen beachtet werden, die nicht durch den Stabilisierungs- und Restrukturierungsplan umgegangen werden können. Ferner sind Forderungen aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung einer Gestaltung entzogen. Die Regelung soll verhindern, dass die mit der Haftung aus vorsätzlich unerlaubter Handlung verfolgte Steuerungs- sowie Sühnefunktion durch Gestaltung verloren geht2. Es soll – entsprechend § 302 Nr. 1 InsO – kein Instrument zur Verfügung gestellt werden, dass die Sanktionslosigkeit von deliktischem Handeln ermöglicht3. Deshalb können Forderungen nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht gestaltet werden.

10.92

Zu beachten ist jedoch, dass im Restrukturierungsplan, anders als im Insolvenzplan gemäß § 302 Nr. 1 InsO, Verbindlichkeiten aus Steuerschuldverhältnissen einbezogen werden können. Verbindlichkeiten aus einer rechtskräftigen Verurteilung nach §§ 370, 373 oder § 374 AO wegen einer Steuerstraftat sind der Gestaltung zugänglich. Begründet wird diese Abweichung von § 302 Nr. 1 InsO damit, dass der Anknüpfungspunkt der Steuerstraftat nicht die deliktische Handlung an sich, sondern der ursprüngliche Steueranspruch ist. Dieser entsteht jedoch unabhängig von einer deliktischen oder strafbaren Handlung4.

10.93

3. Planabstimmung (bei einer außergerichtlichen Verhandlung) (§§ 17–23 StaRUG) Im Unterschied zum Insolvenzplan ist die Abstimmung über den Restrukturierungsplan weitgehend der privaten Selbstorganisation der Beteiligten überlassen. Das dabei zu beachtende Verfahren wird in den §§ 17 ff. StaRUG geregelt. Es besteht aber gemäß § 23 StaRUG auch die Möglichkeit eines gerichtlichen Planabstimmungsverfahrens. Die Planabstimmung beginnt mit dem an die Planbetroffenen gerichteten Angebot des Schuldners, den Restrukturierungsplan anzunehmen (Planangebot, § 17 StaRUG). Unabhängig von der dogmatischen Einordnung5 1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 114. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 115. 3 Dem dadurch verfolgten Ziel des Gesetzgebers liegt der allgemeine Rechtsgedanke des Rechtsmissbrauchs im weiteren Sinne zu Grunde. Dieser findet auch in anderen Regelungen Niederschlag. Vgl. insoweit § 393 BGB oder § 302 Nr. 1 InsO. 4 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 115. 5 Die dogmatische Einordnung des Restrukturierungsplan wurde durch den Gesetzgeber offengelassen, s. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 121. Zu der überaus umstrittenen dogmatischen Ein-

Schluck-Amend | 411

10.94

§ 10 Rz. 10.94 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

des Restrukturierungsplans, finden die Regeln über die Auslegung und Anfechtung1 von Willenserklärungen Anwendung2. Der Schuldner bringt im Zweifel durch das Planangebot zum Ausdruck, an die im gestaltenden Teil des Plans enthaltenen Regelungen gebunden sein zu wollen, sofern alle Planbetroffenen zustimmen oder der Plan gerichtlich bestätigt wird (§ 18 StaRUG).

10.95

Nach Vorlage des Restrukturierungsplans ist dieser innerhalb der durch den Schuldner gemäß § 19 Satz 1 StaRUG gesetzten Frist von den Gläubigern anzunehmen oder abzulehnen. Die gesetzte Frist muss dabei im Regelfall mindestens 14 Tage betragen, kann jedoch kürzer sein, wenn dem Plan ein Restrukturierungskonzept zugrunde liegt, das allen Planbetroffenen seit mindestens 14 Tagen in Textform zugänglich ist (§ 19 Satz 2, 3 StaRUG). Aus Sicht der Praxis ist entscheidend, dass die 14-Tagesfrist dabei nicht nur dem Gläubigerschutz dienen soll, sondern durch die Bedenkzeit sichergestellt werden soll, dass ausreichend Gläubiger abstimmen und somit die notwendige Dreiviertelmehrheit (vgl. § 25 Abs. 1 StaRUG) erreicht wird. Denn nicht abgegebene Stimmen wirken faktisch wie Ablehnungen3.

10.96

Alternativ zu einem versammlungslosen Abstimmungsverfahren nach §§ 17–19 StaRUG kann der Schuldner den Restrukturierungsplan auch im Rahmen einer Versammlung zur Abstimmung bringen (§ 20 StaRUG). Im Hinblick auf die Möglichkeit der Planbetroffenen, die Einberufung einer Versammlung zu verlangen (§ 21 Abs. 1 StaRUG), ist es sinnvoll, eine solche bereits direkt mit Vorlage des Planangebots einzuberufen, sofern mit einem Verlangen eines Planbetroffenen nach einer Einberufung zu rechnen ist. Die Versammlung, die vom Schuldner geleitet wird (§ 20 Abs. 3 Satz 1 StaRUG), ist grundsätzlich als Präsenzveranstaltung vorgesehen und bedarf einer Einberufungsfrist von 14 Tagen (§ 20 Abs. 1 Satz 3 StaRUG). Die Versammlung kann auch in elektronischer Form stattfinden. In diesem Fall reduziert sich die Einberufungsfrist auf sieben Tage (§ 20 Abs. 1 Satz 4 StaRUG).

a) Stimmrecht (§ 24 StaRUG) 10.97

§ 24 StaRUG regelt die Verteilung der Stimmrechte im Rahmen der Planabstimmung. Inhaltlich entsprechen die enthaltenen Regelungen dabei weitgehend denen bei der Planabstimmung im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens (§§ 237–238 InsO).

10.98

Unabhängig von der genauen Bestimmung der einzelnen Stimmrechte kann ein Stimmrecht nur demjenigen zustehen, der durch den Restrukturierungsplan in seinen Rechten berührt wird. Gläubiger, deren rechtliche Position vom Restrukturierungsplan unberührt bleiben, haben kein Stimmrecht. Im Falle eines streitigen Stimmrechts kann die Schuldnerin – entsprechend der gestärkten Privatautonomie im Restrukturierungsverfahren – das Stimmrecht festsetzen (§ 24 Abs. 4 Satz 1 StaRUG)4.

1 2 3 4

ordnung des Insolvenzplans, vgl. BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14 Rz. 26, ZIP 2015, 1346; BGH v. 6.10.2005 – IX ZR 36/02 Rz. 1, ZIP 2006, 395: „spezifisch insolvenzrechtliches Instrument“; Thole in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 1 Rz. 10: in erster Linie verfahrensrechtliches Instrument; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 217 InsO Rz. 14–31: Doppelnatur zwischen materiell-rechtlichem und prozessualem Vertrag. Willensmängel können jedoch nur bis zur Rechtskraft des Bestätigungsbeschlusses geltend gemacht werden. Danach gelten sie gemäß § 67 Abs. 6 StaRUG als geheilt. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 121. Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 122 f. Thole, ZIP 2020, 1985, 1990.

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§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.104 § 10

aa) Bei verzinslichen Restrukturierungsforderungen nach dem Betrag Vorbehaltlich der Sonderregelungen in § 24 Abs. 2 bestimmt sich das Stimmrecht von Restrukturierungsforderungen nach dem Betrag der Forderungen. Bei verzinslichen Forderungen wird das Stimmrecht anhand des Betrags der Forderungen bestimmt (§ 24 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG). Noch nicht fällige unverzinsliche Forderungen sind gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG nach Maßgabe des § 41 Abs. 2 InsO abzuzinsen1.

10.99

Für bedingte Forderungen sieht § 24 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG vor, dass sich das Stimmrecht nach dem Wert der Forderungen, der unter Berücksichtigung der Wahrscheinlichkeit des Bedingungseintritts zu bestimmen ist, richtet. Soweit auch auflösend bedingte Forderungen betroffen sind, stellt dies eine Abweichung zur Regelung in § 42 InsO dar und hat zur Folge, dass der Nominalwert mit der Wahrscheinlichkeit zu gewichten ist, mit welcher im Falle einer auflösenden Bedingung das Fortbestehen der Forderungen und im Falle der aufschiebenden Bedingung das Entstehen der Forderungen angenommen werden kann2.

10.100

Für Forderungen, die auf Geldbeträge unbestimmter Höhe gerichtet oder in ausländischer Währung ausgedrückt sind, ist der Wert der Forderung unter Anwendung des § 45 InsO zu bestimmen (§ 24 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG). Demnach sind ihrer Höhe nach unbestimmte Forderungen zu schätzen und auf ausländische Währung lautende Forderungen in Euro umzurechnen.

10.101

Hinsichtlich des Zeitpunkts der Wertschätzung oder der Umrechnung enthält § 24 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG keine Regelung. Insoweit ist die Verweisung auf § 45 InsO nicht zielführend, da diese auf den Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens abstellt, welches im Falle eines Restrukturierungsplans gerade nicht eröffnet worden ist. Fraglich ist daher, welcher Zeitpunkt für die Wertbestimmung entscheidend ist. Die Gesetzesbegründung enthält diesbezüglich keine Ausführungen, sondern erschöpft sich in einem generellen Verweis auf § 45 InsO. Jedoch wird man mangels anderweitiger Regelung davon ausgehen können, dass in diesem Fall § 2 Abs. 5 StaRUG greift, der auf den Zeitpunkt der Planunterbreitung (§ 17 StaRUG) abstellt3.

10.102

Für die Bestimmung des Stimmrechts von Inhabern von Forderungen auf wiederkehrende Leistungen ist § 46 InsO entsprechend anzuwenden (§ 24 Abs. 2 Nr. 4 StaRUG).

10.103

bb) Bei Absonderungsrechten nach deren Wert Bei Absonderungsanwartschaften und gruppeninternen Drittsicherheiten richtet sich das Stimmrecht nach deren Wert (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG). Dabei ist zu beachten, dass Inhaber einer Absonderungsanwartschaft oder von gruppeninternen Drittsicherheiten nicht ein dem Nominalwert ihrer besicherten Forderungen entsprechendes Stimmrecht in der Gruppe der Restrukturierungsforderungen und zugleich ein Stimmrecht entsprechend des Werts ihrer Sicherheit in der Gruppe der Absonderungsberechtigten/Drittbesicherten geltend machen können4. Vielmehr kann es zum Auseinanderfallen der Stimmrechtsverteilung in der Gestalt kommen, dass der Gläubiger insoweit ein Stimmrecht in der Gruppe der Restrukturierungsforderungen hat, wie der Schuldner für die gesicherten Forderungen persönlich haftet und der 1 2 3 4

Zur Berechnung der Abzinsung: Thonfeld in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2019, § 41 InsO Rz. 17. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 126. Herzig in Braun, 2021, § 24 StaRUG Rz. 17. Zu der gleichlaufenden Regelung im Insolvenzplanverfahren gemäß § 237 Abs. 1 InsO, vgl. Hintzen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, §§ 237, 238 InsO Rz. 15 ff. mit entsprechenden Beispielen zur Einteilung in die Gruppe als Forderungsgläubiger oder Absonderungsberechtigter.

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10.104

§ 10 Rz. 10.104 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Inhaber der Absonderungsanwartschaft auf diese verzichtet oder mit einer abgesonderten Befriedigung ausfallen würde (§ 24 Abs. 3 StaRUG). Mit dem darüberhinausgehenden Anteil des Nominalwerts ist der Gläubiger hingegen in der Gruppe der Absonderungsberechtigten stimmberechtigt. Anders ausgedrückt: In der Gruppe der Restrukturierungsforderungen besteht nur insoweit ein Stimmrecht, wie nicht der Wert der Sicherheit bereits ein Stimmrecht in der Gruppe der Absonderungsberechtigten/gruppeninternen Drittbesicherten gewährt1. In beiden Gruppen zusammen kann das Stimmgewicht höchstens dem Nominalbetrag der zu sichernden Forderung entsprechen.

10.105

Verzichtet der Gläubiger nicht auf seine Sicherheit, so kommt es – solange der Ausfall der abgesonderten Befriedigung nicht feststeht – für das Stimmrecht als Forderungsgläubiger auf den mutmaßlichen Ausfall mit der Sicherung an (§ 24 Abs. 3 Satz 2 StaRUG)2. cc) Bei Anteils- und Mitgliedschaftsrechten nach dem Anteil am Kapital oder Vermögen

10.106

Bei der Gestaltung von Anteils- und Mitgliedschaftsrechten bestimmt sich das Stimmrecht nach deren Anteil am gezeichneten Kapital oder Vermögen des Schuldners. Stimmrechtsbeschränkungen, Sonder- oder Mehrstimmrechte bleiben – wie auch im Rahmen der Abstimmung über einen Insolvenzplan (§ 238a Abs. 1 Satz 2 InsO) außer Betracht (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG). Ob dabei schlussendlich die Kapitalbeteiligung oder die Vermögensbeteiligung maßgeblich ist, ist von der Art des im Restrukturierungsverfahren befindlichen Rechtsträgers abhängig3.

10.107

Die Nichtbeachtung von Stimmrechtsbeschränkungen, Sonder- oder Mehrstimmrechte erscheinen im Hinblick auf gesellschaftsrechtliche Regelungen kritisch. Denn eine Stimmrechtsbeschränkung wird üblicherweise durch anderweitige Vorteile abgeglichen, während Sonderoder Mehrstimmrechte als Kehrseite der Medaille weitere Kosten/Verpflichtungen mit sich bringen. So ist eine Stimmrechtsbeschränkung regelmäßig an die Ausgabe von Vorzugsaktien gekoppelt (§§ 140, 141 AktG). Diese gesellschaftsrechtlichen Regelungen werden durch die einheitliche Regelung im Restrukturierungsplan unbeachtlich. Sofern dies im Rahmen des Insolvenzplanverfahrens (§ 238a InsO) damit gerechtfertigt wird, dass die Nichtbeachtung schuldrechtlicher Verwertungsbeschränkungen dem Insolvenzrecht immanent wären und das Stimmrecht lediglich der Ausgleich für den in der Insolvenz obsolet werdenden Vermögensvorteil der Vorzugsaktie ist4, scheint dieser Rückschluss beim Restrukturierungsverfahren zumindest fraglich5. Denn durch das auf Fortführung des Unternehmens ausgerichtete Restrukturierungsverfahren kommt es gerade nicht zwingend zu einem Verlust des Vermögensanteils des Vorzugsaktionärs6.

1 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 126. 2 Thole, ZIP 2020, 1985, 1990. 3 Vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 17/5712, S. 33. Die Regelungen zu § 238a InsO finden laut Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 126 entsprechend Anwendung. 4 Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 238a InsO Rz. 1. 5 Für die Regelung spricht hingegen, dass das Restrukturierungsverfahren an die drohende Zahlungsunfähigkeit anknüpft, die ihrerseits auch die Eröffnung eines Insolvenzverfahren (§18 InsO) und somit eine Anwendung des gleichlautenden § 238a InsO rechtfertigen würde. 6 Generell kritisch zur Frage, ob durch die drohende Zahlungsunfähigkeit bereits eine Entwertung der Gesellschaftsanteile erfolgt: Müller, ZIP 2020, 2253, 2255; Schäfer, ZIP 2020, 2164, 2166.

414 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.110 § 10

b) Erforderliche Mehrheiten (§ 25 StaRUG) Gemäß § 25 StaRUG ist für die Annahme des Restrukturierungsplans erforderlich, dass in jeder Gruppe auf die dem Plan zustimmenden Gruppenmitglieder mindestens drei Viertel der Stimmrechte in dieser Gruppe entfallen. Dabei ist zu beachten, dass anders als im Insolvenzplanverfahren (§ 244 Abs. 1 InsO) keine Kopf- und Summenmehrheit verlangt wird, sodass eine Annahme des Plans auch dann erfolgt, wenn die Dreiviertelmehrheit der Stimmrechte erreicht ist, die zustimmenden Gläubiger aber nicht die Mehrheit der abstimmenden Gläubiger ausmachen1. Insoweit sieht das StaRUG durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit und dem Verzicht einer Kopfmehrheit sowohl Verschärfungen als auch Abschwächungen im Zustimmungsprozess vor. Zwar wird durch die Regelung die Dominanz von Großgläubigern verstärkt, jedoch wird dadurch auch die Gefahr reduziert, dass sog. Akkordstörer trotz verhältnismäßig kleiner Stimmanteile die Annahme des Plans verhindern können2. Sofern durch § 25 StaRUG die Entscheidungsgewalt entscheidend auf Großgläubiger verlagert wird, erfolgt eine Abschwächung der Gruppendominanz von Großgläubigern über § 9 Abs. 2 Satz 4 StaRUG: Die Werthaltigkeit der Stimmrechte von Kleingläubigern wird dadurch geschützt, dass diese in separaten Gruppen zu bündeln sind und eine gruppeninterne Dominanz von Großgläubigern somit nicht droht.

10.108

Planbetroffene, denen eine Forderung oder ein Recht gemeinschaftlich zusteht, werden bei der Abstimmung als ein Planbetroffener behandelt (§ 25 Abs. 2 StaRUG)3. Gläubiger, denen ein Recht gemeinschaftlich zusteht, sind z.B. Gesamtgläubiger (§ 428 BGB) oder Gesellschafter einer GbR (§ 705 BGB)4.

10.109

c) Gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung (§ 26 StaRUG) § 26 Abs. 1 StaRUG sieht die Möglichkeit vor, dass ein Restrukturierungsplan auch trotz des ablehnenden Votums einer Gruppe bestätigt werden kann (sog. Cross-class-cram-down)5. Die Zustimmung der Gruppe, in welcher nicht die erforderliche Mehrheit erreicht wurde, gilt demnach als erteilt, wenn: – die Mitglieder dieser Gruppe durch den Restrukturierungsplan voraussichtlich6 nicht schlechter gestellt werden als sie ohne einen Plan stünden (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG), 1 Vgl. zu weiteren Gründen, die gegen die Einführung einer Kopfmehrheit entsprechend der Regelung im Insolvenzplanverfahren sprechen, Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 127. 2 Vgl. Thole, Stellungnahme als Sachverständiger zu dem Gesetzesentwurf des SanInsFoG, S. 2; abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/807272/56e4f277fcfd5bb33b01d7b954e5793d/ thole-data.pdf, zuletzt abgerufen am 26.7.2022. 3 Die Norm entspricht § 244 Abs. 2 InsO. 4 Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 244 InsO Rz. 6; Spliedt in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 244 InsO Rz. 8. 5 Thole, ZIP 2020, 1985, 1990; die Möglichkeit der gruppenübergreifenden Mehrheitsentscheidung ist gemäß Artikel 11 Abs. 1 der RL (EU) 2019/1023 zwingend in nationales Recht umzusetzen. Die Regelung gleicht inhaltlich weitgehend dem Obstruktionsverbot gemäß § 245 InsO. 6 Aus dem Wortlaut lässt sich entnehmen, dass es sich dabei lediglich um eine Prognoseentscheidung handelt. Im Rahmen des Insolvenzplans geht man davon aus, dass eine voraussichtliche Schlechterstellung vorliegt, wenn die Schlechterstellung wahrscheinlicher ist als die Nichtschlechtstellung, vgl. Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 245 InsO Rz. 42. Problematisch ist, dass es kein Forderungsfeststellungsverfahren gibt. Die Höhe der Verbindlichkeiten, auf deren Basis die Prognose erstellt wird, ist daher unklar, vgl. Brinkmann, NZIBeilage 1/2019, 27, 28.

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10.110

§ 10 Rz. 10.110 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

– die Mitglieder dieser Gruppe angemessen an dem wirtschaftlichen Wert beteiligt werden, der auf der Grundlage des Plans den Planbetroffenen zufließen soll (Planwert) (§ 26 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG), und – die Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Plan mit den erforderlichen Mehrheiten zugestimmt hat; wurden lediglich zwei Gruppen gebildet, genügt die Zustimmung der anderen Gruppe; die zustimmenden Gruppen dürfen nicht ausschließlich durch Anteilsinhaber oder nachrangige Restrukturierungsgläubiger gebildet sein (§ 26 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG).

Durch das letztgenannte Erfordernis, wonach die zustimmenden Gruppen nicht nur aus Anteilsinhabern oder nachrangigen Restrukturierungsgläubigern bestehen darf (§ 26 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 2 StaRUG), wird – in Abweichung zu der Regelung in § 245 InsO – sichergestellt, dass zu den die Planlösung befürwortenden Gruppen mindestens eine Gruppe von Inhabern von Absonderungsanwartschaften oder von nichtnachrangigen Restrukturierungsgläubigern gehört1.

10.111

§ 26 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG regelt, dass ein ablehnender Gläubiger voraussichtlich nicht schlechter gestellt werden darf als er ohne den Plan stünde. Die Bestimmung ist daher auch als Werterhaltungsprinzip bekannt2. Bei der Berechnung des Werts des hypothetischen Alternativszenarios ist nach § 6 Abs. 2 Satz 2 StaRUG grundsätzlich ein Fortführungswert zugrunde zu legen (s. hierzu Rz. 31.12 ff.).

10.112

Die angemessene Beteiligung i.S. des § 26 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG als dritte Voraussetzung der Zustimmungsfiktion bestimmt sich nach §§ 27, 28 StaRUG. § 27 StaRUG sieht dabei die sog. absolute Prioritätsregel3 vor, die eine angemessene Beteiligung ausschließt, sobald einer nachrangigen Gruppe ein Wert zugewiesen wird, der nicht vollständig durch Leistung in das Vermögen des Schuldners ausgeglichen wird4. Mit der Normierung der absoluten Vorrangregel hat der deutsche Gesetzgeber von einer Öffnungsklausel in der Richtlinie Gebrauch gemacht, vgl. Art. 11 Abs. 1 Buchst. c RL (EU) 2019/1023, welche eigentlich eine relative Vorrangregel präferiert. Die absolute Vorrangregel sorgt dafür, dass durch den Plan entstehende Mehrwerte entlang der vorinsolvenzlichen Rangfolge verteilt werden, wenn die Planbetroffenen keiner abweichenden Wertverteilung zustimmen. Der Grundsatz der absoluten Prioritätsregel kann punktuell durchbrochen werden, wenn dies sachgerecht ist (§ 28 Abs. 1 StaRUG) oder die Eingriffe nur geringfügig sind (§ 28 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG). Das Bestehenbleiben der Beteiligung von Anteilseignern ist nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG unschädlich, wenn deren 1 BR-Drucks. 619/20, S. 144. 2 Vgl. zum Insolvenzplan BGH v. 19.5.2009 – IX ZB 236/07, ZIP 2009, 1384 = NZI 2009, 515, 516 Rz. 12; BGH v. 29.3.2007 – IX ZB 204/05 = NZI 2007, 409, 410 Rz. 7 (jeweils zu § 251 InsO); Kern in Jaeger, 2019, § 245 InsO Rz. 11; Andres in Andres/Leithaus, 4. Aufl. 2018, § 245 InsO Rz. 3; Spliedt, in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 245 InsO Rz. 7; Skauradszun/Spahlinger/Tresselt, DZWIR 2015, 539, 542; Jungmann, KTS 2006, 135, 137; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 10. Aufl. 2020, § 30 Rz. 395. 3 Die absolute Vorrangregel entstammt dem US-amerikanischen Chapter 11 Verfahren, vgl. 11 U.S. C. § 1129(b)(2)(A) und gilt als das fundamentale insolvenzrechtliche Prinzip. 4 Diese Regelung ist im amerikanischen Recht als sog. new value exception bekannt. Sie wird von einigen als notwendiges Korrelat zur absoluten Vorrangregel angesehen; Neville, 60 Missouri L. Rev., 465, 475 ff. (1995); Harris, 89 Mich. L. Rev., 2301, 2304 (1991). Der US Supreme Court ist sehr zurückhaltend, ob diese Regelung dem dort geltenden Recht noch entnommen werden kann, vgl. Norwest Bank Worthington v. Ahlers, 485 U.S. 197, 203 ff. (1988); ebenso in Bank of Amerika National Trust & Co. Sav. Assossiation v. 203 LaSalle St. Partnership, 526 U.S. 434, 442 f. (1999); zu letzter Entscheidung ausführlich Haines, 72. Am. Bankr. L. J., 387.390 ff. (1998); für eine deutsche Besprechung vgl. Wittig, ZInsO 1999, 373.

416 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.141 § 10

Mitwirkung an der Fortführung des Unternehmens unerlässlich ist, um den Planwert zu verwirklichen und sich der Schuldner oder der am Schuldner beteiligte Anteilsinhaber zur Mitwirkung an der Realisation des Planmehrwerts verpflichtet haben. Im Umkehrschluss zu dieser Regelung gilt, dass Anteilseigner (ohne neue Kapitalzufuhr) grundsätzlich keine Beteiligung am Unternehmen behalten dürfen, wenn ihre Mitwirkung für die Fortführung nicht unerlässlich ist und die Zustimmung einer Gruppe zum Restrukturierungsplan ersetzt werden soll1.

Das Eingreifen der Zustimmungsfiktion setzt ferner voraus, dass der Plan bei Eingriffen in gruppeninterne Drittsicherheiten eine angemessene Entschädigung für den Sicherungsnehmer vorsieht (§ 26 Abs. 2 StaRUG).

10.113

4. Abstimmung in einem gerichtlichen Verfahren Alternativ hat der Schuldner gemäß § 23 StaRUG die Möglichkeit, die Planabstimmung in einem gerichtlichen Verfahren durchführen zu lassen. Entscheidend sind in diesem Fall allein die §§ 45 ff. StaRUG, während die §§ 17 ff. StaRUG keine Anwendung finden. Der maßgebliche Vorteil des gerichtlichen Abstimmungsverfahrens für den Schuldner liegt in der Beweiserleichterung bei der Annahme des Plans. Zweifel an der ordnungsgemäßen Annahme durch die Planbetroffenen gehen bei der außergerichtlichen Planabstimmung zulasten des Schuldners (§ 63 Abs. 4 StaRUG). Vgl. zu den weiteren Voraussetzungen des gerichtlichen Verfahrens Rz. 10.221 ff..

10.114

10.115–10.140

Einstweilen frei.

V. Der Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen 1. Zugangsberechtigung (Restrukturierungsfähigkeit, § 30 StaRUG) Das Verfahren nach dem StaRUG steht jedem Schuldner zur Verfügung, über dessen Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet werden kann (§ 30 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Dies schließt im Grundsatz alle natürlichen und juristischen Personen (§ 11 Abs. 1 Satz 1 InsO), nicht rechtsfähige Vereine (§ 11 Abs. 1 Satz 2 InsO) und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit (§ 11 Abs. 2 Nr. 1 InsO) ein2. Danach hat eine GmbH ohne Weiteres Zugang zum Restrukturierungsverfahren. Auch eine aufgelöste GmbH kann die in § 29 Abs. 2 StaRUG aufgeführten Sanierungsinstrumente in Anspruch nehmen, soweit ihre Fortsetzung beabsichtigt ist. Vor Eintragung ihres Erlöschens im Handelsregister kann die aufgelöste Gesellschaft durch Fortsetzungsbeschluss als werbende Gesellschaft fortgesetzt werden, wenn der Auflösungsgrund ausgeräumt ist3. Maßgebend ist, ob noch der Abwicklungsphase entsprechend Aktivitä1 S. auch Spahlinger in BeckOK/StaRUG, 2. Ed. 1.9.2021, § 27 StaRUG Rz. 14a. Anders AG Dresden v. 7.6.2021 – 574 RES 2/21, ZInsO 2021, 1398, juris, Rz. 25, wobei darauf abgestellt wird, dass die Weiterführung des Unternehmens nicht zwangsläufig bedeuten soll, dass den Anteilseigner ein wirtschaftlicher Wert zugewendet werde. Nach Herzig in Braun, 2021, § 27 StaRUG Rz. 9 soll das nur dann der Fall sein, wenn sich nach der Planung in der Handelsbilanz allein aufgrund der Plandurchführung ein positiver Kapitalsaldo ergibt. Auch nach Bork, ZRI 2021, 345, 358 kommt es darauf an, ob dem Anteilseigner durch die Restrukturierung ein Wert zufließt, den dieser nicht durch eine eigene Leistung kompensiert (z.B. Zurverfügungstellung unentgeltlicher Dienst- oder Arbeitsleistung, unentgeltliche Zurverfügungstellung von Know-How, Mietobjekten oder Leasinggütern). 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 133. 3 Altmeppen, 10. Aufl. 2021, § 3 GmbHG Rz. 62.

Schluck-Amend und Vallender | 417

10.141

§ 10 Rz. 10.141 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

ten entfaltet werden1. Die Fortsetzungsfähigkeit ist nicht von einer Deckung des Stammkapitals abhängig2. Auch die GmbH & Co. KG ist restrukturierungsfähig. Simultanrestrukturierungen von KG und GmbH sind aus gestalterischer Sicht nicht geboten, wenn im Restrukturierungsplan der Gesellschaft nichts Abweichendes bestimmt ist. Denn die für die KG im Plan getroffene Regelung gilt für die GmbH als Komplementärin gleichermaßen. Das Verfahren steht auch ausländischen juristischen Personen und sonstigen Gesellschaftsformen offen, wenn sie Voraussetzungen des § 35 StaRUG erfüllen und als insolvenzfähig anzusehen sind3. Es kommt maßgeblich darauf an, ob die Auslandsgesellschaft in Deutschland als Rechtsträger i.S. von § 11 InsO anzuerkennen ist4. Natürliche Personen haben nur dann Zugang zum Restrukturierungsrahmen, wenn sie eine unternehmerische Tätigkeit ausüben (§ 30 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Dies setzt voraus, dass sie im eigenen Namen, in eigener Verantwortung, für eigene Rechnung und auf eigenes Risiko in organisatorisch verfestigter Form wirtschaftlich tätig sind und diese Tätigkeit im Zeitpunkt der Restrukturierungsanzeige noch nicht eingestellt haben5. Ob es sich um eine Haupt- oder eine Nebentätigkeit des Schuldners handelt, ist irrelevant. Keine Anwendung findet das StaRUG auf Finanzinstitute i.S. von § 1 Abs. 19 KWG. Diese unterliegen eigenen Rechtsnormen zur Beaufsichtigung und Bewältigung von Krisen.

10.142

Während Art. 4 Abs. 1 der Restrukturierungsrichtlinie 2019/1023 (RL)6 als eine der Voraussetzungen zum präventiven Restrukturierungsrahmen die Bestandsfähigkeit des Schuldners7 vorsieht, hat der deutsche Gesetzgeber davon abgesehen, diese als positive Voraussetzung für den Zugang zum Verfahren und die Inanspruchnahme der Verfahrenshilfen ausdrücklich zu normieren (s. §§ 29, 31 StaRUG). Allerdings hat der Schuldner in Übereinstimmung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. h RL nach § 14 Abs. 1 StaRUG dem Restrukturierungsplan eine begründete Erklärung zu den Aussichten darauf beizufügen, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners durch den Plan beseitigt wird und dass die Bestandsfähigkeit des Schuldners sicher- und wiederhergestellt wird8. Legt der Schuldner den Plan im Restrukturierungsverfahren zur Bestätigung vor (§ 29 Abs. 1 Nr. 4, §§ 60, 63 StaRUG), hat der Restrukturierungsbeauftragte zu der Erklärung nach § 14 Abs. 1 StaRUG Stellung zu nehmen.

1 2 3 4 5 6

7

8

BGH v. 10.12.2013 – II ZR 53/12, ZIP 2014, 418 Rz. 15 = GmbHR 2014, 317. Karsten Schmidt, DB 2014, 701, 702. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 30 StaRUG Rz. 50. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 11 InsO Rz. 14. Näher zum Ganzen Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 30 StaRUG Rz. 50 ff. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 30 StaRUG Rz. 58; ähnlich Pannen in Pannen/Riedemann/ Smid, § 2 StaRUG Rz. 49. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), ABl. EU Nr. L 172 v. 26.6.2019, S. 18. Die Richtlinie enthält weder eine Definition des Begriffs Bestandsfähigkeit noch einen inhaltlichen Verweis auf das nationale Recht. Letztlich geht die in Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehene Bestandsfähigkeitsprüfung auf das Bestreben zurück, den Mitgliedstaaten eine effektive Kontrolle der Bestandsfähigkeit von antragstellenden Unternehmen zu ermöglichen (Siepmann in Morgen, Präventive Restrukturierung, 2019, Art. 4 RL 2019/1023 Rz. 39). Die beizubringende Begründung der Sanierungsaussicht erinnert stark an die Anforderungen, die der BGH an ein schlüssiges Sanierungskonzept stellt, BGH v. 14.6.2018 – IX ZR 22/15, ZIP 2018, 1794 = NZI 2018, 840 Rz. 10 ff.

418 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.148 § 10

2. Materiell-rechtliche Zugangsvoraussetzung Materiell-rechtliche Voraussetzung des Zugangs zum Restrukturierungsverfahren ist die drohende Zahlungsunfähigkeit (s. dazu eingehend Rz. 10.6 ff.). Das Gesetz postuliert dies nur mittelbar in § 29 Abs. 1 StaRUG. Danach können zur nachhaltigen Beseitigung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 18 Abs. 2 InsO die in Absatz 2 der Vorschrift genannten Verfahrenshilfen des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch genommen werden. Für die drohende Zahlungsunfähigkeit ist in aller Regel ein Prognosezeitraum von 24 Monaten zugrunde zu legen. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber eine insolvenznahe Anknüpfung an den in Art. 4 Abs. 1 RL verwendeten Begriff „einer wahrscheinlichen Insolvenz“ vorgenommen. Bei der Auflösung des Spannungsfeldes zwischen Schutz der grundrechtlich geschützten Interessen von Anteilsinhabern und Gläubigern vor unverhältnismäßigen Eingriffen einerseits und der Gefährdung der Sanierungsaussichten durch eine zu insolvenznahe Ausgestaltung der Zugangsvoraussetzungen andererseits1 ist er weder dem Vorschlag gefolgt, für die Ausgestaltung des Begriffs an die Krisenstadien des IDW S 6, insbesondere an das Vorliegen einer Strategiekrise anzuknüpfen2, noch hat er auf den eigenkapitalersatzrechtlichen Krisenbegriff3 oder die Bestandsgefährdung gemäß § 321 Abs. 1 Satz 3, § 322 Abs. 2 Satz 3 HGB abgestellt4. Einstweilen frei.

10.143

10.144–10.146

3. Einleitung des Verfahrens a) Gerichtszuständigkeit aa) Sachliche Zuständigkeit Der Gesetzgeber hat sich für ein eigenständiges Restrukturierungsverfahren außerhalb der InsO entschieden und dabei die Entscheidungskompetenz den Justizbehörden zugewiesen. § 34 Abs. 1 Satz 1 StaRUG bestimmt, dass für Entscheidungen in Restrukturierungssachen sachlich das Amtsgericht (AG), in dessen Bezirk ein Oberlandesgericht (OLG) seinen Sitz hat, als Restrukturierungsgericht für den Bezirk des OLG ausschließlich zuständig ist. Ist dieses AG nicht für Regelinsolvenzsachen zuständig, so ist das AG sachlich zuständig, das für Regelinsolvenzsachen am Sitz des OLG zuständig ist (§ 34 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Damit folgt die Zuweisung der Restrukturierungssachen an die AG den funktionalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten von Restrukturierungs- und Insolvenzsachen. Dies erscheint zweckmäßig, weil die Amtsgerichte eine Struktur vorhalten, die eine effiziente Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben erlaubt5.

10.147

§ 34 Abs. 2 StaRUG ermächtigt die Länder, abweichende Zuweisungen an ein anderes, für Insolvenzsachen zuständiges AG vorzunehmen. Die Bestimmung entspricht weitgehend § 2 Abs. 3 InsO. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die Länder ihr Ermessen nutzen. Thole6 befürchtet nicht zu Unrecht, dass bei einem Tätigwerden der Länder die Zuweisung nicht nach inhaltlich-sachlichen Kriterien, sondern auf der Grundlage von regionalem Proporz und Plan-

10.148

1 2 3 4 5

Siepmann in Morgen, Präventive Restrukturierung, 2019, Art. 4 RL 2019/1023 Rz. 34. Jacobi, ZInsO 2017, 1, 6. Rauscher/Leichtle/Mucha/Wagner, ZInsO 2016, 2420, 2421. Müller, ZGR 2018, 56, 63. Backes/Blankenburg in Morgen, Präventive Restrukturierung, 2019, Art. 10 RL Rz. 71; Vallender, NZI-Beilage 1/2019, 71, 72. 6 Thole, ZIP 2020, 1985, 1991.

Vallender | 419

§ 10 Rz. 10.148 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

stellenschlüsseln vorgenommen werde. Mit der in § 34 Abs. 1 StaRUG gewählten Konzentrationslösung1, der Konzentrierung der Verfahren auf der Ebene der Oberlandesgerichtsbezirke, soll auf Dauer eine sachgerechte, professionelle, effizientere und der rechtlichen sowie wirtschaftlichen Komplexität von Restrukturierungssachen gerecht werdende Bearbeitung durch die Restrukturierungsgerichte gewährleistet werden2. bb) Örtliche und funktionelle Zuständigkeit

10.149

Nach § 35 StaRUG ist ausschließlich das Restrukturierungsgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Schuldner seinen allgemeinen Gerichtsstand hat. Liegt der Mittelpunkt einer wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners an einem anderen Ort, so ist ausschließlich das Restrukturierungsgericht zuständig, in dessen Bezirk dieser Ort liegt. Die Vorschrift entspricht § 3 InsO. Die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit hat von Amts wegen zu erfolgen. Wann diese Prüfung einzusetzen hat, lässt sich dem Gesetz nicht ohne weiteres entnehmen. Nach der Begründung zu § 33 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG hat sie „spätestens in dem Zeitpunkt zu erfolgen, in dem der Schuldner Restrukturierungsinstrumente in Anspruch nimmt“3. Diese Formulierung lässt den Schluss zu, dass die Prüfung auch früher beginnen kann. Frühester Zeitpunkt wäre danach der Eingang der Restrukturierungsanzeige bei Gericht4. Dieser Zeitpunkt erscheint sachgerecht, wenn das Gericht bereits Sachentscheidungen wie z.B. die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten zu treffen hat5. Soweit sich das Gericht für zuständig hält, bedarf es keines gesonderten Beschlusses über die Feststellung der eigenen Zuständigkeit. Ist das angerufene Restrukturierungsgericht örtlich unzuständig, hat es auf Antrag gemäß § 38 Satz 1 StaRUG i.V.m. § 281 ZPO die Restrukturierungssache an das zuständige Gericht zu verweisen. Funktionell zuständig für die Bearbeitung von Restrukturierungssachen ist der Richter6.

cc) Einheitliche Zuständigkeit

10.150

§ 36 StaRUG stellt klar, dass während der Rechtshängigkeit einer Restrukturierungssache die Abteilung, die die erste Entscheidung in der Restrukturierungssache getroffen hat, durchgängig für alle weiteren Entscheidungen und Maßnahmen in derselben Restrukturierungssache zuständig bleibt. Dies setzt indes voraus, dass die Abteilung nach dem Geschäftsverteilungsplan im Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Restrukurierungssache zuständig war. Die Vorschrift hat die Funktion, aus zuständigkeitsrechtlicher Sicht einen Anknüpfungspunkt für die Sicherstellung der einheitlichen Zuständigkeit des mit dem Verfahren befassten Richters zu schaffen, weil es sich beim Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen um einen losen Verbund von verfahrensrechtlichen Hilfen handelt, die nicht in den Rahmen eines einheitlichen Verfahrens integriert sind7. dd) Gruppen-Gerichtsstand bei Konzernen

10.151

Im Falle der Restrukturierung einer Unternehmensgruppe ermöglicht § 37 StaRUG eine Zuständigkeitskonzentration bei einem Restrukturierungsgericht. Die Vorschrift schafft 1 2 3 4 5 6 7

Vallender, ZInsO 2020, 2579, 2580. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 141. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 161. Vallender, ZRI 2021, 165, 166. Ähnlich Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 35 StaRUG Rz. 27; Frind, NZI 2021, 609, 610. Näher dazu Vallender, ZInsO 2020, 2579, 2591; Vallender, NZI-Beilage 1/2021, 30. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 135.

420 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.153 § 10

nach dem Vorbild der insolvenzverfahrensrechtlichen Bestimmungen zum Gruppengerichtsstand (§§ 3a ff. InsO) die schuldnerdispositive Möglichkeit, sämtliche Restrukturierungen in einer Unternehmensgruppe in die Zuständigkeit eines Gerichts zu überführen1.

b) Anzeige des Restrukturierungsvorhabens bei dem zuständigen Restrukturierungsgericht § 31 Abs. 1 StaRUG beschränkt sich darauf, den Zugang zu der Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens von der Anzeige des Restrukturierungsvorhabens beim zuständigen Restrukturierungsgericht abhängig zu machen2. Mit der Anzeige bringt der Schuldner zum Ausdruck, die Verfahrenshilfen gemäß § 29 Abs. 2 StaRUG in Anspruch nehmen zu wollen. Mit der Vorlage des Entwurfs eines Restrukturierungsplans bzw. eines Konzepts für die Restrukturierung wird dieses Bestreben konkretisiert. Ob die Anzeige nur schriftlich oder auch mündlich z.B. gegenüber der Geschäftsstelle der Restrukturierungsabteilung (vgl. § 129a ZPO) erfolgen kann, ist der Vorschrift – anders als bei § 13 Abs. 1 Satz 1 InsO – nicht zu entnehmen. Mangels ausdrücklicher Regelung reicht eine mündliche Anzeige aus. Aus Beweisgründen sollte davon indes abgesehen werden. Auch wenn das StaRUG keine dem § 10a InsO entsprechende Vorschrift enthält, sollte der Restrukturierungsrichter gleichwohl bereit sein, einer Bitte des Schuldners um ein Vorgespräch nachzukommen.3 Für das Insolvenzverfahren wird es jedenfalls seitens der Praxis als wesentlicher Erfolgsfaktor für erfolgreiche Eigenverwaltungen benannt4. Ein solches Gespräch hätte auch den Vorteil, etwaige Mängel der Anzeige unverzüglich beanstanden, auf eine Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts oder sonstige verfahrensmäßige Mängel5 hinweisen zu können. Soweit sich die Hinweise hierauf beschränken, bestehen auch bei Nichtanwesenheit von Gläubigern bei diesem Gespräch keine rechtlichen Bedenken gegen eine solche Verfahrensweise des Gerichts, die bis zur Einreichung der Restrukturierungsanzeige bei Gericht ihre rechtliche Grundlage in § 10a InsO analog hat. Nach Eingang der Restrukturierungsanzeige tritt Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache (näher dazu Rz. 10.157) ein, so dass § 38 Satz 1 StaRUG, § 139 ZPO Anwendung findet.

10.152

Dem Gericht sollte ausreichend Zeit zugestanden werden, sich mit den tatsächlichen Umständen und den Rahmenbedingungen sowie den rechtlichen Fragestellungen hinreichend vertraut zu machen6 und ggf. erforderlich werdende organisatorische Vorbereitungen zu treffen. Da das Gesetz indes ein Kopplungsverbot nicht vorsieht, ist es dem Antragsteller unbenommen, bereits mit der Restrukturierungsanzeige Anträge zur Inanspruchnahme der Instrumente nach Maßgabe des § 31 Abs. 2 StaRUG zu stellen. Für die Entgegennahme der Anzeige des Restrukturierungsvorhabens durch das Restrukturierungsgericht entsteht eine Gebühr in Höhe von 150 Euro (§ 34 GKG Nr. 2510). Mit dieser Gebühr sind sämtliche Tätigkeiten des Gerichts im Zusammenhang mit dem Restrukturierungsvorhaben einschließlich der Aufhebung der Restrukturierungssache abgegolten.

10.153

1 Begr.RegE BT-Drucks. 19/24181 S. 142. 2 Vallender, ZInsO 2020, 2579, 2582. 3 S. dazu auch AG Hamburg v. 17.1.2022 – 61c RES 1/21, NZI 2022, 434 Rz. 13 m. Anm. Mock, NZI 2022, 436. 4 ESUG-Evaluierung, Forschungsbericht, S. 22. 5 AG Hamburg v. 17.1.2022 – 61c RES 1/21, NZI 2022, 434. 6 Haffa/Schuster in Braun, § 31 StaRUG Rz. 3; Deppenkemper, ZIP 2020, 2432, 2438; Gehrlein, BB 2021, 66, 72.

Vallender | 421

§ 10 Rz. 10.154 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

aa) Der Anzeige beizufügende Unterlagen (§ 31 Abs. 2 StaRUG)

10.154

Der Schuldner ist verpflichtet, seiner Anzeige den Entwurf eines Restrukturierungsplans oder ein Restrukturierungskonzept für die angestrebte Restrukturierung sowie eine Darstellung des Stands der Verhandlungen beizufügen, welche er mit den Beteiligten bereits geführt hat. Soweit er beabsichtigt, auch mittlere, kleine oder Kleinstunternehmen oder gar Verbraucher derart in die Restrukturierung einzubinden, dass deren Forderungen oder Rechte gestaltet oder die Durchsetzung solcher Forderungen vorübergehend im Rahmen einer Stabilisierungsanordnung gesperrt werden soll, so ist auch dies anzuzeigen. Bei den beizufügenden Dokumenten und abzugebenden Erklärungen handelt es sich nicht um eine Zulässigkeitsvoraussetzung für den Eintritt der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache. Diese ist allein an die Anzeige geknüpft1. Indem § 31 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG verlange, der Anzeige eine Darstellung von Art, Ausmaß und Ursache der Krise beizufügen, folgt daraus nach Auffassung von Balthasar2 eine Pflicht des Schuldners zum Nachweis der drohenden Zahlungsunfähigkeit. Denn ohne diesen Nachweis seien die Darlegungspflichten der vorgenannten Bestimmung nicht erfüllbar. Anzugeben hat der Schuldner darüber hinaus, ob damit zu rechnen ist, dass das Restrukturierungsziel nur gegen den Widerstand einer nach Maßgabe des § 9 StaRUG zu bildenden Gruppe durchgesetzt werden kann. Das Restrukturierungsgericht benötigt diese Information, um eine Entscheidung über die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten treffen zu können (§ 73 Abs. 2 StaRUG).

10.155

Die vorzulegenden Unterlagen und die in § 31 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StaRUG genannten Darstellungen sollen dem Restrukturierungsgericht eine hinreichende Informationsgrundlage verschaffen und es in die Lage versetzen, unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit des Verfahrens eine Entscheidung über die beantragten Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens zu treffen3. Sollen die der Anzeige beizufügenden Unterlagen tatsächlich ihre Funktion als hinreichende Informationsgrundlage erfüllen, stellt sich die Frage, welche Anforderungen an den Detaillierungsgrad des in § 31 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG genannten „Restrukturierungskonzepts“ zu stellen sind. Ob bereits ein Grobkonzept ausreicht oder der in der Praxis und in der höchstrichterlichen Rechtsprechung4 verwendete Begriff „Sanierungskonzept“ maßgeblich ist, lässt sich der Gesetzesbegründung zwar nicht zweifelsfrei entnehmen. Der dortige Hinweis, „dass Sanierungsbemühungen in der Praxis zunächst von einem Grobkonzept ausgehen, das im Zuge der weiteren Verhandlungen und Anstrengungen zu einem detaillierten und operationalisierbaren Vollkonzept heranwächst, das sich dann seinerseits in einem vollständigen Plan übersetzen lässt“, lässt den Schluss darauf zu, dass der Schuldner seiner Anzeige ggf. ein solches Grobkonzept beizufügen berechtigt ist, soweit er nach dem Stand der Verhandlungen zur Vorlage eines ausgereiften Konzepts noch nicht im Stande ist. Die Anzeige sollte in diesem Falle den Hinweis des Schuldners enthalten, spätestens bei Beantragung einer Verfahrenshilfe werde er eine vollständige und schlüssige Restrukturierungsplanung vorlegen (vgl. § 51 Abs. 1 StaRUG).

10.156

Hat der Schuldner der Anzeige keine Unterlagen oder Erklärungen nach Maßgabe des § 31 Abs. 2 StaRUG beigefügt, hat das Gericht bereits unmittelbar nach Eingang der Restrukturierungsanzeige gemäß § 38 Satz 1 StaRUG i.V.m. § 139 ZPO bzw. vor dem Hintergrund der bereits mit Eingang der Restrukturierungsanzeige bei Gericht einsetzenden Amtsermittlungs1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 133. 2 Balthasar, NZI-Beilage 1/2021, 18; ebenso Frind, ZInsO 2020, 2241, 2243; Gehrlein, BB 2021, 66, 71. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 134. 4 BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZIP 2016, 1235; BGH v. 14.6.2018 – IX ZR 22/15, ZIP 2018, 1794.

422 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.157 § 10

pflicht auf diesen Mangel hinzuweisen1. Es liegt sodann im eigenen Interesse des Schuldners, etwaigen Auflagen des Gerichts nachzukommen. Denn gelingt es ihm auch unabhängig von der Inanspruchnahme einer konkreten Verfahrenshilfe nicht, etwaige Unvollständigkeiten oder sonstige Mängel zu heilen, die nach dem Stand des Vorhabens behebbar sein sollten, kann dies die Annahme rechtfertigen, dass er seine Restrukturierungssache nicht ernsthaft zu betreiben beabsichtigt. Ferner kann dieses Verhalten den Schluss darauf zulassen, dass er seine Angelegenheit nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Sanierungsgeschäftsführers betreibt2. Diese Annahmen haben ggf. die Aufhebung der Restrukturierungssache gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 StaRUG zur Folge. Soweit die Unterlagen und Erklärungen unvollständig sind, erscheint ebenfalls ein frühzeitiger Hinweis sachgerecht3. Das Gericht sollte die Mängel ausdrücklich bezeichnen und dem Schuldner Gelegenheit zu deren Beseitigung binnen einer angemessenen Frist geben. Kommt der Schuldner dem nicht oder nicht vollumgänglich nach, hängt es von den Umständen des Einzelfalls ab, ob bereits die Voraussetzungen für die Aufhebung der Restrukturierungssache vorliegen. Vermag der Schuldner z.B. keine hinreichende Erklärung dafür zu geben, weshalb er zur vollständigen Vorlage der erbetenen Unterlagen und Erklärungen nicht in der Lage ist, besteht Anlass, bereits zum jetzigen Zeitpunkt die Aufhebung der Restrukturierungssache in Erwägung zu ziehen. Das Gericht sollte hierbei allerdings – worauf auch die Gesetzesbegründung ausdrücklich hinweist4 – nicht unberücksichtigt lassen, dass Sanierungsbemühungen erst im Zuge der weiteren Anstrengungen und Bemühungen zu einem detaillierten und operationalisierbaren Vollkonzept heranwachsen. Eine verfrühte Aufhebungsentscheidung könnte deshalb realistische Sanierungschancen vereiteln.

bb) Rechtswirkungen der Anzeige des Restrukturierungsvorhabens Mit der Verfahrenshandlung der Anzeige wird die Restrukturierungssache rechtshängig (§ 31 Abs. 3 StaRUG), ohne dass es einer darauf bezogenen Entscheidung durch das Gericht bedarf. Sie entfaltet die in § 261 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 38 Satz 1 StaRUG normierten Wirkungen und führt damit zu einer Sperre gegenüber einer erneuten Geltendmachung desselben Streitgegenstandes und den Fortbestand der Zuständigkeit des angerufenen – zuständigen – Restrukturierungsgerichts. Sie schafft nach der Gesetzesbegründung die Konstruktion „eines verfahrensrechtlichen Bandes“, welches die Verfahrenshilfen, die zur Umsetzung des angezeigten Vorhabens in Anspruch genommen werden sollen, zu einer Restrukturierungssache zusammenfasst5. Obwohl die Vorschriften über die Prozesskostenhilfe (§§ 114 ff. ZPO) gemäß § 38 Satz 1 StaRUG entsprechend anwendbar sind, hat ein entsprechender mit der Restrukturie1 2 3 4 5

Vallender, ZRI 2021, 165, 167. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 135. Vallender, ZRI 2021, 165, 167. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 135. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 135; kritisch dazu Deppenkemper, ZIP 2020, 2432, 2433 f., der insoweit von einem „Kunstgriff“ spricht. Eine Rechtshängigkeitssperre könne nicht nur vorliegen, wenn der Streitgegenstand identisch sei. Dass die Instrumente den Beteiligten nur als Optionen eingeräumt werden, von denen sie Gebrauch machen können, aber nicht müssen, stehe der Vorstellung, dass das einheitliche Verfahren mit Anzeige eingeleitet wird, nicht entgegen. Es sei selbstverständlich, dass ein Verfahren, welches alternativ oder kumulativ verschiedene Instrumente auf Antrag bereitstellt, nicht dazu zwinge, diese auch (alle) in Anspruch zu nehmen, nur weil das Verfahren eingeleitet wird. Vielmehr entstehe durch die Anzeige im Ganzen ein Rechtsverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur, das die Restrukturierungsmaßnahmen zusammenfasse, wobei die einzelnen Instrumente erst auf diesbezüglichen Antrag (bloße) bestimmte Rechtslagen darstellen würden und maßgebend dafür seien, welche Handlungslasten bzw. -pflichten der Beteiligten konkret bestehen. Dieses Rechtsverhältnis entstehe unabhängig von dem Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen.

Vallender | 423

10.157

§ 10 Rz. 10.157 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

rungsanzeige verbundener Antrag des Schuldners keinen Erfolg, weil bei fehlenden finanziellen Mittel zur Begleichung der Verfahrenskosten das Restrukturierungsvorhaben von vornherein keine Aussicht auf Erfolg haben kann1. Dagegen steht Planbetroffenen im Rahmen einer vom Schuldner beantragten Verfahrenshilfe gemäß § 29 Abs. 2 StaRUG zur Verteidigung ihrer Rechtsposition grundsätzlich eine Verfahrenskostenhilfe nebst Anwaltsbeiordnung zu2.

10.158

Nach § 42 Abs. 1 StaRUG ruhen für die Dauer der durch die Restrukturierungsanzeige ausgelösten Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache die Insolvenzantragspflichten nach § 15a InsO, § 42 Abs. 2 Satz 1 BGB. Damit kann der Schuldner selbst bestimmen, wann die Suspendierung eintritt. Anstelle der ruhend gestellten Insolvenzantragspflicht schreibt § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG eine Verpflichtung des Antragspflichtigen fest, „ohne schuldhaftes Zögern“ dem Restrukturierungsgericht den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder einer Überschuldung i.S. der §§ 17, 19 InsO anzuzeigen. Nach § 42 Abs. 3 StaRUG ist die vorsätzliche Verletzung dieser Pflicht mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, bei Fahrlässigkeit mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht. Dies deckt sich mit den Strafandrohungen des § 15a Abs. 4, 5 InsO3.

10.159

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Schuldners bei verspäteter Mitteilung des Eintritts des Insolvenzgrundes der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung erfordert eine genaue Festlegung, wann der Schuldner das Gericht zu informieren hat. Während § 32 Abs. 3 Satz 1 StaRUG, der nur den Schuldner selbst meint, den Begriff „unverzüglich“ verwendet, ist in der Vorschrift des § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG, die die Antragspflichtigen, also den Personenkreis des § 15a InsO meint, von „ohne schuldhaftes Zögern“ die Rede. Legt man insoweit die zivilrechtliche Betrachtungsweise des § 121 BGB zugrunde, hat die Anzeige nicht „sofort“, etwa immer schon spätestens am Tage nach Erlangung der Kenntnis, zu erfolgen. Vielmehr kann von einem schuldhaften Zögern nur ausgegangen werden, wenn das Zuwarten nicht durch die Umstände des Falles geboten ist4. Koellner5 geht indes davon aus, dass sich insoweit die strafrechtliche Sichtweise durchsetzen wird, weil letztlich die Strafgerichte im Rahmen der Prüfung einer Insolvenzverschleppung über die Auslegung des Begriffs entscheiden werden. Dies bedeute in der Praxis, dass die Anzeigepflichtigen sofort, wenn sie feststellen, dass die Zahlungsunfähigkeit nicht mehr nur droht, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten wird oder bereits eingetreten ist, dies dem Restrukturierungsgericht mitzuteilen haben. Regelmäßig werde dies der Fall sein, wenn Planverhandlungen mit maßgebenden Gläubigern scheitern oder Absatz- und damit Umsatz- und Gewinnprognosen sich als unrealistisch bzw. nicht umsetzbar erweisen. cc) Beendigung der Rechtswirkungen der Anzeige

10.160

Die Rechtshängigkeit und damit auch das Ruhen der Insolvenzantragspflicht endet, wenn der Schuldner die Anzeige gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG zurücknimmt (§ 31 Abs. 4 Nr. 1 StaRUG). Darüber hinaus führt die rechtskräftige Entscheidung über die Planbestätigung zur Beendigung der Rechtshängigkeit. Bei einer Versagung der Bestätigung des Restrukturierungsplans ist dies nicht der Fall, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Schuldner das 1 2 3 4

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 218. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 35 StaRUG Rz. 27. Koellner, NZI-Beilage 1/2021, 71, 72. RGZ 124, 115, 118; BGH v. 28.6.2012 – VII ZR 130/11, NJW 2012, 3305 Rz. 20 = MDR 2012, 1355; s. auch BGH v. 15.3.2005 – VI ZB 74/04, NJW 2005, 1869, 1870 = MDR 2005, 1007 zu § 406 Abs. 2 Satz 2 ZPO. 5 Koellner, NZI-Beilage 1/2021, 71, 72.

424 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.162 § 10

Restrukturierungsvorhaben auf Grund eines neuen Plans oder Konzepts weiterverfolgt1. § 31 Abs. 4 Nr. 3 StaRUG regelt, dass die Rechtshängigkeit auch bei Aufhebung der Restrukturierungssache nach § 33 StaRUG endet. In diesem Zusammenhang ist auf die Verknüpfung von § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG, nach der die Antragspflichtigen auch bei Ruhen der Antragspflicht verpflichtet sind, dem Restrukturierungsgericht die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung anzuzeigen, mit § 33 Abs. 2 StaRUG hinzuweisen. Nach dieser Bestimmung hat das Gericht von Amts wegen zwingend die Sache aufzuheben, wenn infolge der Anzeige oder aus anderen Gründen bekannt ist, dass die Schuldnerin insolvenzreif (zahlungsunfähig oder überschuldet) ist. Schließlich endet die Rechtshängigkeit, wenn seit der Anzeige sechs Monate, oder, sofern der Schuldner die Anzeige zuvor erneuert hat, zwölf Monate vergangen sind (§ 31 Abs. 4 Nr. 4 StaRUG). Diese Regelung unterstreicht, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, ein Restrukturierungsvorhaben könne in aller Regel binnen 6 Monaten umgesetzt werden. Mit der Beendigung der Rechtshängigkeit lebt die Insolvenzantragspflicht sofort wieder auf, und nicht erst nach Ablauf der Drei- bzw. Sechs-Wochen-Frist des § 15a InsO (s. dazu § 4a SanInsKG: Verlängerung auf acht Wochen bis 31.12.2023)2.

4. Pflichten des Schuldners im Restrukturierungsverfahren Mit Eintritt der Rechtshängigkeit treffen den Schuldner zahlreiche Pflichten (§ 32 StaRUG), deren Verletzung unter Umständen zur Beendigung des Verfahrens und damit zum Ausschluss des Zugangs zu den Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsverfahrens führen kann. Darüber hinaus normiert § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG eine strafbewehrte Anzeigepflicht des Antragspflichtigen3 nach Maßgabe des § 15a InsO. Schließlich regelt § 43 StaRUG „als Überbleibsel des vorgesehenen Haftungsregimes“4 die Pflichten und Haftung der Organe im StaRUG-Verfahren.

10.161

a) Pflichten des Schuldners gemäß § 32 StaRUG Normadressat des § 32 StaRUG ist der Schuldner, d.h. der Anzeigeerstatter und Betreiber der Restrukturierungssache i.S. von § 31 Abs. 1 StaRUG5. Die Befolgung der in § 32 StaRUG geregelten Grundpflichten des Schuldners, die allesamt über § 33 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StaRUG haftungsbewehrt sind, soll einen zweckentsprechenden Gebrauch der Instrumente des Rahmens sicherstellen sowie Fehlgebrauch und Missbrauch vermeiden helfen6. § 32 Abs. 1 StaRUG sieht vor, dass der Schuldner die Restrukturierungssache mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Sanierungsgeschäftsführers betreibt und dabei die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger wahrt. Dieser Pflichtenbindung des Schuldners selbst bedarf es, weil daran die mögliche Aufhebung der Restrukturierungssache gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG geknüpft wird7. Die Verwirklichung des konkreten Konzepts einer Restrukturierung soll durch § 32 Abs. 1 Satz 2 StaRUG abgesichert werden. In der Praxis dürfte indes die Abgrenzung, was mit dem konkreten Restrukturierungskonzept vereinbar oder nicht vereinbar ist, nicht einfach zu treffen sein8. Eine gewisse Hilfestellung leistet insoweit § 32 1 2 3 4 5 6 7 8

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 136. Thole, ZIP 2020, 1985, 1991. Näher dazu Ausführungen unter Rz. 10.159. Eckert/Holze/Ippen, NZI 2021, 153, 157. Weber/Dömmecke in Braun, § 32 StaRUG Rz. 3. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 136. Thole, ZIP 2020, 1985, 1993. Thole, ZIP 2020, 1985, 1993.

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10.162

§ 10 Rz. 10.162 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Abs. 1 Satz 3 StaRUG. Er stellt klar, dass die Begleichung von oder Besicherung von Forderungen, die durch den Restrukturierungsplan gestaltet werden sollen, in der Regel mit dem Restrukturierungsziel nicht vereinbar ist. Das sichert auch die Gleichbehandlung der Gruppe. Umgekehrt folgt daraus kein Zugriffsverbot für die Gläubiger, solange nicht im Verfahren nach §§ 49 ff. StaRUG eine Stabilisierung angeordnet ist1.

10.163

An die Verletzung der in § 32 Abs. 2–4 StaRUG normierten Anzeigepflichten knüpft das Gesetz weitreichende Folgen. Unterlässt der Schuldner es, dem Gericht jede wesentliche Änderung mitzuteilen, die den Gegenstand des angezeigten Restrukturierungsvorhabens und die Darstellung des Verhandlungsstands betreffen, kann dies ebenso wie die Nichterfüllung der Anzeigepflicht des § 32 Abs. 2 Satz 2 StaRUG zu einer Aufhebung der Restrukturierungssache führen (§ 33 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG). Dies gilt gleichermaßen, wenn der Schuldner davon absieht, während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung anzuzeigen (§ 32 Abs. 3 StaRUG). Schließlich hat der Schuldner dem Gericht unverzüglich anzuzeigen, wenn das Restrukturierungsvorhaben keine Aussicht auf Umsetzung hat, insbesondere, wenn infolge der erkennbar gewordenen ernsthaften und endgültigen Ablehnung des vorgelegten Restrukturierungsplans durch Planbetroffene nicht davon ausgegangen werden kann, dass die für eine Planannahme erforderlichen Mehrheiten erreicht werden können (§ 32 Abs. 4 StaRUG). Pflichtenträger der vorgenannten Pflichten ist der Schuldner. Die Pflichten treffen sowohl die natürliche Person als auch alle juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit. Ist der Schuldner keine natürliche Person, sind die Pflichten durch seine gesetzlichen/organschaftlichen Vertreter zu erfüllen2.

10.164

Die Nichteinhaltung der Anzeigepflicht des § 32 Abs. 3 StaRUG kann zur Aufhebung (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StaRUG) der Restrukturierungssache mit der Folge des Fortfalls der Rechtshängigkeit (§ 31 Abs. 3 und Abs. 4 Nr. 3 StaRUG) führen. Damit entfällt der Zugang zu den Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens (§ 29 Abs. 2 StaRUG). Gleichermaßen aufhebungsbewehrt ist auch die Verletzung der Pflicht aus § 32 Abs. 4 StaRUG. Die praktische Relevanz der Vorschrift dürfte eher gering sein, weil bei entsprechender Kenntnis des Gerichts eine Aufhebung der Restrukturierungssache nach § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 StaRUG in Betracht kommt3. Ob eine schwerwiegende Pflichtverletzung i.S. von § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StaRUG vorliegt, hängt für die von Amts wegen zu treffende gerichtliche Entscheidung von den Umständen des Einzelfalls ab. Eine wiederholte Nichtbeantwortung von Sachstandsanfragen des Gerichts nach Maßgabe des § 32 Abs. 2 StaRUG, deren Erfüllung zur sachgerechten Bescheidung von Anträgen erforderlich ist, dürfte eine Aufhebung der Restrukturierungssache rechtfertigen (vgl. § 39 Abs. 2 StaRUG).

b) Pflichten und Haftung der Organe gemäß § 43 StaRUG 10.165

§ 43 StaRUG normiert als zentrale Haftungsnorm der Organhaftung nach seinem eindeutigen Wortlaut eine reine Innenhaftung4. Die Haftung nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift setzt 1 2 3 4

Thole, ZIP 2020, 1985, 1993. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 32 StaRUG Rz. 34. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 32 StaRUG Rz. 51. Weber/Dömmecke, NZI-Beilage 1/2021, 27, 28; Birnbreier, NZI-Beilage 1/2021, 25, 27. Der Regierungsentwurf sah in § 45 noch eine Außenhaftung des Geschäftsleiters vor, nach der jeder Gläubiger den ihn selbst aus einer während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache begangenen schuldhaften Pflichtverletzung entstandenen Schaden unmittelbar gegen die Geschäftsleiter geltend machen und Zahlung an sich selbst verlangen konnte. Eine Außenhaftung sieht das Sta-

426 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.167 § 10

erst ab Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ein. Nach der vorgenannten Bestimmung soll die Geschäftsleitung darauf hinwirken, dass der Schuldner die Restrukturierungssache mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters betreibt und die Interessen der Gläubigergesamtheit wahrt. Die Regelung nimmt damit auf die in § 32 StaRUG geregelten Pflichten des Schuldners Bezug1. Dabei steht den Geschäftsleitern ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Frage zu, wie sie die Restrukturierungssache betreiben wollen. Für die nähere Bestimmung dieses Beurteilungsspielraums empfiehlt Scholz2, Anleihe bei der Business Judgment Rule zu nehmen. Denn bei der Umsetzung des Restrukturierungskonzepts handele es sich „im Kern um eine unternehmerische Entscheidung“. Für die Verletzung der ihnen bei der Restrukturierung des Schuldners obliegenden Pflichten haften die Geschäftsleiter dem Schuldner in Höhe des den Gläubigern entstandenen Schadens (§ 43 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Eine solche Haftung kommt z.B. bei Begleichung oder Besicherung von Forderungen, die durch den Restrukturierungsplan gestaltet werden sollen, oder bei Anträgen auf Anordnung einer Vollstreckungssperre in Betracht. Bei Bestehen einer D&O-Versicherung sollte der Versicherer aufgefordert werden zu bestätigen, dass § 43 StaRUG Schadensersatzansprüche im Sinne der Versicherungsbedingungen konstituieren kann3. Ob die dargestellten Risiken tatsächlich zu den versicherten Gefahren gehören4, sollte der Geschäftsführer der GmbH vor Inanspruchnahme von Verfahrenshilfen prüfen.

10.166

§ 43 StaRUG enthält eine gesetzliche Vermutung des Verschuldens zu Lasten der Geschäftsleiter. Bei einer etwaigen Inanspruchnahme trifft diesen die Darlegungs- und ggf. Beweislast dafür, pflichtgemäß gehandelt zu haben oder der Nachweis, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Handeln entstanden wäre5. Ersatzfähig ist der Quotenschaden, also die Minderung des haftenden Schuldnervermögens. Die Haftungsfrage wird spätestens nach einem Scheitern des Restrukturierungsvorhabens im sich ggf. anschließenden Insolvenzverfahren relevant. Der Insolvenzverwalter ist verpflichtet, die Inanspruchnahme der Geschäftsleiter wegen Verstoßes gegen die ihnen obliegenden Pflichten zu prüfen. Bei Geltendmachung des Quotenschadens trägt der Insolvenzverwalter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass und inwieweit der Masse durch das Handeln der Geschäftsleiter in deren Pflichtenkreis ein Schaden entstanden ist. Dieser Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität sowie die konkrete Höhe des Schadens dürften indes nur schwer zu führen sein. Dies gilt umso mehr, als dem Geschäftsleiter ein breiter Ermessensspielraum einzuräumen ist6. Gleichwohl ist dem Geschäftsführer zur Reduzierung des Haftungsrisikos dringend anzuraten, frühzeitig die Vorgänge betreffend die Selbstprüfung und Früherkennung und etwaige Maßnahmen im Hinblick auf den späteren Vorwurf der Insolvenzverschleppung sowie auch die sonstigen haftungsträchtigen Maßnahmen und Entscheidungen sorgfältig zu dokumentieren7. Haben die Gesellschafter der GmbH von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen Aufsichtsrat zu bestellen, trifft diesen gemäß § 52 GmbHG i.V.m. §§ 116, 93 Abs. 1 und 2 AktG eine Haftung gegenüber

10.167

1 2 3 4 5 6 7

RUG lediglich noch für den Fall vor, dass der Geschäftsleiter aufgrund vorsätzlich oder fahrlässig unrichtiger Angaben Stabilisierungsanordnungen erwirkt (§ 57). Birnbreier, NZI-Beilage 1/2021, 25, 26. Scholz, ZIP 2021, 219, 224. Näher zum Versicherungsschutz von Geschäftsleitern in Krise und Insolvenz Wiedemann, ZInsO 2021, 288. S. z.B. OLG Düsseldorf v. 26.6.2020 – 4 U 134/18, r+s 2020, 562 = GmbHR 2020, 1078 = ZIP 2020, 2018. Weber/Dömmecke, NZI-Beilage 1/2021, 27, 29. Paefgen in Habersack/Casper/Loebbe, 3. Aufl. 2020, § 43 GmbHG Rz. 111. So auch Schulz, NZI 2020, 1073, 1075.

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§ 10 Rz. 10.167 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

der Gesellschaft. Alle Aufsichtsratsmitglieder haben in gleicher Weise ihren Pflichten mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Überwachers und Beraters nachzukommen und dafür zu sorgen, dass die Aufgaben des Aufsichtsrats mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Überwachers und Beraters wahrgenommen werden. Verletzen sie schuldhaft ihre Aufsichtspflicht, dass die Geschäftsführer ihren Pflichten nach § 43 Abs. 1 Satz 1 StaRUG nachkommen, sind sie der GmbH zum Schadensersatz verpflichtet.

5. Die Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens 10.168

Nach Anzeige des Restrukturierungsvorhabens bei dem zuständigen Restrukturierungsgericht stehen dem Schuldner zur nachhaltigen Beseitigung1 der drohenden Zahlungsunfähigkeit die in § 29 Abs. 2 StaRUG abschließend aufgeführten Sanierungsinstrumente zur Verfügung. Dabei handelt es sich um die gerichtliche Planabstimmung, die gerichtliche Vorprüfung von Fragen, die für die Bestätigung des Restrukturierungsplans erheblich sind, die Stabilisierungsanordnung und die gerichtliche Planbestätigung. In sämtlichen Fällen wird das Restrukturierungsgericht erst nach einem entsprechenden Antrag des Schuldners tätig2. Nur auf diese Weise kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Gesetz lediglich einen Rahmen von Verfahrenshilfen zur Verfügung stellt, die der Schuldner im Zuge eines von ihm verfolgten Restrukturierungsvorhabens unabhängig voneinander in Anspruch nehmen kann (§ 29 Abs. 3 StaRUG). Dabei steht es ihm frei, diese einzeln, aber auch kumulativ zu beantragen. Gläubiger haben kein Initiativrecht. Ein Antrag des Schuldners auf Verfahrenshilfe hat innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten ab der Anzeige zu erfolgen. Etwas anderes gilt nur dann, sofern der Schuldner die Anzeige zuvor erneuert hat. In diesem Fall beträgt die Frist maximal 12 Monate (§ 31 Abs. 4 Nr. 4 StaRUG).

10.169

Über den Antrag auf Inanspruchnahme eines Instruments des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens soll das Gericht erst nach Zahlung der Gebühr für das Verfahren entscheiden (§ 13a GKG). Die Verfahrensgebühr beträgt 1.000 Euro (§ 34 GKG, Anlage 1 Nr. 2511). Die Gebühr für die Entgegennahme der Restrukturierungsanzeige über 150 Euro wird angerechnet (§ 34 GKG, Anlage 1 Nr. 2511 (1)). Endet das gesamte Verfahren, bevor der gerichtliche Erörterungs- und Abstimmungstermin begonnen hat oder bevor der Restrukturierungsplan gerichtlich bestätigt wurde, kann das Gericht die Gebühr nach billigem Ermessen auf die Hälfte ermäßigen (§ 34 GKG, Anlage 1 Nr. 2511 (2)). Wird in derselben Restrukturierungssache die Inanspruchnahme von mehr als drei Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens beantragt, beträgt die Gebühr 1.500 Euro (§ 34 GKG, Anlage Nr. 2512)), ansonsten hat der Schuldner den Betrag von 1.000 Euro zu entrichten, der bis zu drei Instrumente gebührenmäßig abdeckt. Dabei ist es unerheblich, ob die Anträge gleichzeitig mit einem Schreiben oder zeitlich versetzt eingereicht werden. Werden die Anträge zeitlich versetzt eingereicht, ist unter Beachtung von § 13a GKG vor einer Entscheidung über die noch offenen Anträge zunächst der Differenzbetrag von 500 Euro zu zahlen3.

a) Die gerichtliche Vorprüfung (§§ 47, 48 StaRUG) 10.170

§ 29 Abs. 2 Nr. 2, §§ 47, 48 StaRUG eröffnen dem Schuldner die Möglichkeit einer Vorprüfung der Frage, ob der Restrukturierungsplan bestätigungsfähig ist. Die genannten Vorschriften 1 Bork, NZI-Beilage 1/2021, 38, weist zutreffend darauf hin, dass dieses Kriterium nur die Bedeutung einer Zielbestimmung ohne Rechtsfolge habe. Sie diene als Auslegungshilfe bei wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen. 2 Vallender, ZInsO 2020, 2677. 3 Begr. RegE, BT-Drucks. 19/24181, S. 219.

428 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.172 § 10

betreffen allein die Fallgestaltung, dass der Restrukturierungsplan nicht im gerichtlichen Verfahren zur Abstimmung gebracht werden soll. Auch in dieser Phase des Verfahrens kann sich bereits ein Bedürfnis ergeben, Unsicherheiten zu beschränken und Einzelfragen abzuklären1. Soweit hierzu die Ansicht vertreten wird, es sei systemfremd, dass ein Richter Entscheidungen in einem ansonsten nicht rechtshängigen Verfahren zu treffen habe2, geht diese Auffassung von falschen Voraussetzungen aus. Wie bereits aufgezeigt (Rz. 10.168), kann die Vorprüfungstätigkeit erst nach erfolgter Anzeige gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG, die wiederum die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache auslöst, erfolgen. Das Vorprüfungsverfahren begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken3. Insbesondere verstößt es nicht gegen § 41 DRiG. Danach darf der Richter keine außerdienstlichen Rechtsgutachten erstatten und entgeltliche Rechtsauskünfte erteilen. Bei der Vorprüfung nach Maßgabe der §§ 47, 48 StaRUG erteilt der Richter den Hinweis im Rahmen seiner dienstlichen Pflichten kraft gesetzlichen Auftrags4. Gegenstand der Vorprüfung gemäß § 47 StaRUG ist anders als bei § 46 StaRUG bzw. § 231 InsO nicht der Restrukturierungsplan als solcher. Vielmehr umfasst die Vorprüfung jede Frage, die für die Bestätigung des Restrukturierungsplans erheblich ist. Als Beispiele nennt § 47 Satz 3 StaRUG durch Verweis auf § 46 Abs. 1 Satz 2 StaRUG, welches Stimmrecht eine Restrukturierungsforderung, eine Absonderungsanwartschaft oder ein Anteils- oder Mitgliedschaftsrecht gewährt, sowie insbesondere die Anforderungen, die an das Planabstimmungsverfahren nach den §§ 17–22 StaRUG zu stellen sind. Gegenstand des Vorprüfungstermins kann auch die Frage sein, ob der Schuldner drohend zahlungsunfähig ist (§ 47 Satz 2 i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StaRUG) oder die Änderung eines Konsortialkredits durch einen Restrukturierungsplan.5

10.171

Das Gericht hat sich auf die Beantwortung der konkret gestellten Frage zu beschränken (Grundsatz ne ultra petita)6. Bei Unklarheiten kommt ein rechtlicher Hinweis in Betracht (§ 38 StaRUG i.V.m. § 139 ZPO). Dies bedeutet indes nicht, dass das Gericht gehalten wäre, eine vollständige Prüfung des Restrukturierungsvorhabens auf eigene Veranlassung vorzunehmen. Das AG Hamburg7 versteht insoweit seine Aufgabe anders als das AG Köln8. Während das erstgenannte Gericht das Restrukturierungsverfahren als ein vom Restrukturierungsgericht zu förderndes Verfahren versteht, bei dem der Richter dem Schuldner so zur Seite zu stehen hat, dass das Verfahren erfolgreich durchgeführt werden kann, interpretiert das AG Köln seine Verfahrensrolle eher zurückhaltend9. Den Planbetroffenen ist vor Erteilung des gerichtlichen Hinweises nach Maßgabe des § 47 StaRUG rechtliches Gehör zu gewähren (§ 48 Abs. 1 StaRUG). Die vorgenannte Bestimmung stellt eine Ergänzung des § 47 StaRUG in verfahrensrechtlicher Hinsicht dar und gilt unmittelbar nur für das Vorprüfungsverfahren im außergerichtlichen Abstimmungsprozess. Beide Vorschriften sind als Einheit zu lesen10. Die Anhörung selbst kann entweder im schriftlichen Verfahren oder durch Anberaumung eines Anhörungstermins erfolgen11. Das Gesetz nennt in Anlehnung an § 231 Abs. 1 Satz 2 InsO eine

10.172

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Hirte in Braun, § 47 StaRUG Rz. 1; Smid in Pannen/Riedemann/Smid, § 47 StaRUG Rz. 1. Stellungnahme Deutscher Richterbund, 10/20, S. 7. A.A. Frind, ZInsO 2020, 2245. Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2680. S. AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, ZIP 2021, 806 = NZI 2021, 433 Rz. 11. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 48 StaRUG Rz. 12. AG Hamburg v. 17.1.2022 – 61c RES 1/21, NZI 2022, 434. AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, ZIP 2021, 806 = NZI 2021, 433 Rz. 11. Mock, NZI 2022, 436. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 48 StaRUG Rz. 1. Kritisch zur Ermessensentscheidung des Gerichts Frind, NZI 2021, 609, 610.

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§ 10 Rz. 10.172 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Frist von 2 Wochen, innerhalb der der Hinweis erfolgen soll. Die kurze Frist soll dazu beitragen, die Sanierungschancen zu erhöhen. Allerdings dürfte diese Frist in der gerichtlichen Praxis regelmäßig kaum einzuhalten sein, weil den Planbetroffenen zunächst Gelegenheit zu geben ist, innerhalb einer kurz zu bemessenden Frist zu der vom Schuldner zur Vorprüfung gestellten Frage Stellung zu nehmen1. Soweit ein Planbetroffener diese Frist nicht einhält, läuft er Gefahr, dass eine verspätete Stellungnahme nicht mehr berücksichtigt wird. Ob das Gericht verpflichtet ist, einer Bitte auf Fristverlängerung zu entsprechen, hängt vom Gehalt der Frage ab. Bei rechtlich schwierigen Fragestellungen mag dies gerechtfertigt sein. Jedoch sollten etwaige Sanierungschancen nicht durch einen übermäßig langen Entscheidungszeitraum bereits vor der Planabstimmung beeinträchtigt werden.

10.173

Das Gericht erteilt den erbetenen Hinweis in Gestalt eines Beschlusses (§ 48 Abs. 2 StaRUG). Der Hinweisbeschluss entfaltet keine Bindungswirkung2. Das Restrukturierungsgericht kann späteren Entscheidungen, insbesondere der Planbestätigungsentscheidung eine abweichende Rechtsauffassung zugrunde legen.

b) Gerichtliche Planabstimmung (§ 45 StaRUG) 10.174

Will der Schuldner die Planabstimmung nicht selbst organisieren (§§ 19 ff. StaRUG), sondern den Restrukturierungsplan in einem gerichtlichen Verfahren zur Abstimmung stellen, hat er einen Antrag auf Durchführung des gerichtlichen Planabstimmungsverfahren an das Restrukturierungsgericht zu richten (§ 29 Abs. 2, § 45 StaRUG). Dieser Weg bietet sich für einen Schuldner aus Gründen der Rechtssicherheit an. Denn Zweifel an der ordnungsgemäßen Abstimmung im Rahmen eines privatautonomen Verfahrens (§§ 19–22 StaRUG) gehen zu Lasten des Schuldners (§ 63 Abs. 3 StaRUG). Etwaigen Unsicherheiten kann der Schuldner durch die Inanspruchnahme der Verfahrenshilfen gerichtliche Vorprüfung (§ 29 Abs. 2 Nr. 2, §§ 47, 48 StaRUG) oder gerichtliches Planabstimmungsverfahren (§ 45 StaRUG) unter Leitung des Restrukturierungsgerichts entgehen.

10.175

In dem auf Antrag des Schuldners vom Gericht anzuberaumenden Erörterungs- und Abstimmungstermin, zu dem die Planbetroffenen zu laden sind, werden der vom Schuldner vorzulegende Restrukturierungsplan (§ 45 Abs. 2 StaRUG) und das Stimmrecht der Planbetroffenen erörtert. Anschließend erfolgt die Abstimmung über den Plan (§ 45 Abs. 1 StaRUG). Diese erfolgt gemäß § 46 Abs. 4 Satz 1 StaRUG nach den für die außergerichtliche Planabstimmung geltenden §§ 24 ff. StaRUG sowie den §§ 239 ff. InsO. Die Ladungsfrist beträgt 14 Tage. Einen Streit über das Stimmrecht entscheidet das Restrukturierungsgericht durch verbindliche Festlegung nach § 45 Abs. 4 Satz 2 StaRUG. Der Schuldner kann bereits im Erörterungs- und Abstimmungstermin einen Antrag auf Bestätigung des Restrukturierungsplans stellen (§ 60 Abs. 1 Satz 2 StaRUG).

10.176

Die Versammlungsleitung im Erörterungs- und Abstimmungstermin obliegt dem Restrukturierungsrichter. Bei den Mehrheitserfordernissen ist in der jeweiligen Gruppe eine qualifizierte 75 %-Summenmehrheit erforderlich, allerdings keine zusätzliche Kopfmehrheit (§ 25 Abs. 1 StaRUG). Im Rahmen eines Cross-Class-Cram-Down-Restrukturierungsplans gilt die Zustimmung einer ablehnenden Gruppe als erteilt, wenn die Mitglieder dieser Gruppe nicht schlechter gestellt werden, als sie ohne Plan stünden, sie zugleich angemessen am wirtschaftlichen Planwert beteiligt werden und die Mehrheit der Gruppen dem Plan zugestimmt hat (§ 26 1 Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2680. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 148.

430 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.179 § 10

StaRUG). Damit legt der Entwurf grundsätzlich die absolute Vorrangregelung entsprechend § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO zugrunde. Bei einem Antrag des Schuldners auf Planbestätigung kann das Gericht seine Entscheidung hierzu bereits im Abstimmungs- und Erörterungstermin verkünden. Will sich ein Planbetroffener mit Erfolg gegen eine Planbestätigung wehren, hat er im Planabstimmungsverfahren dem Plan zu widersprechen (§ 66 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG).

Auch im Planabstimmungsverfahren nach Maßgabe des § 45 StaRUG hat das Restrukturierungsgericht auf Antrag des Schuldners eine Vorprüfung aller für die Planbestätigung relevanten bzw. erheblichen Fragen in einem gesonderten Termin (§ 46 StaRUG) vorzunehmen. Die Aufzählung der in § 46 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–3 StaRUG genannten Prüfungspunkte ist nicht abschließend. Es gilt indes der Grundsatz ne ultra petita. Den Prüfungsumfang gibt § 63 StaRUG vor. Soweit dies zweckmäßig erscheint, kann das Gericht den Vorprüfungstermin auch von Amts wegen bestimmen (§ 46 Abs. 3 StaRUG)1. Das Ergebnis der Vorprüfung fasst das Gericht in einem Hinweis, der auch in Beschlussform ergehen kann, zusammen (§ 46 Abs. 2 StaRUG).

10.177

c) Stabilisierungsanordnung Es entspricht internationalem Rechtsverständnis, dass ein sanierungswilliges Unternehmen „eine Atempause“2 benötigt, um in Ruhe Verhandlungen über eine Sanierung führen zu können. Dieser Gedanke findet in Art. 6 RL und den §§ 49 StaRUG seinen gesetzlichen Niederschlag3. Die vorgenannten Bestimmungen sollen dazu beitragen, die Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen zu einem Restrukturierungskonzept oder einem Restrukturierungsplan zu wahren. Dazu dienen die einem Insolvenzrichter wohlbekannten Sicherungsmaßnahmen der Vollstreckungssperre und Verwertungssperre (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StaRUG), die nicht kraft Gesetzes einsetzen, sondern erst nach einem entsprechenden Antrag des Schuldners, wobei keine Umstände bekannt sein dürfen, dass der Schuldner noch nicht drohend zahlungsunfähig ist (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG). In Verbindung mit der ebenfalls negativ ausgestalteten Formulierung in § 51 Abs. 1 Satz 1 StaRUG bedeutet dies, dass der Schuldner für die Anordnung der Stabilisierungsmaßnahme bereits drohend zahlungsunfähig sein muss. Eine andere Betrachtungsweise hätte zur Folge, dass der Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen andernfalls jedem Schuldner zur Verfügung stünde. Dies kann angesichts der unerheblichen Eingriffe in Gläubigerrechte aufgrund einer Stabilisierungsanordnung nicht gewollt sein4.

10.178

Es unterliegt dem weiten Ermessen des Schuldners (und seiner Berater), ob und in welchem Umfang er von der Verfahrenshilfe der Stabilisierung Gebrauch macht5. Sein Gestaltungsspielraum erlaubt es ihm, seinen Antrag auf einen oder mehrere Akkordstörer zu beschränken. Damit hat er die Möglichkeit, bereits während einer frühen Phase der eingeleiteten Restrukturierung sachfremden und wirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Motiven dieser Gläubiger entgegenzuwirken und die Grundlage für eine Bestätigung des Plans auch gegen deren Willen zu schaffen. Das Konzept greift tief in die Rechte der Gläubiger ein. Es ist aufgrund seiner Komplexität6 für einen juristischen Laien nicht ohne weiteres durchschaubar, sondern dürfte den Geschäftsführer der GmbH im Regelfall dazu veranlassen, sich fachkundiger Hilfe zu bedienen.

10.179

1 2 3 4 5 6

S. AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, ZIP 2021, 806 = NZI 2021, 433. Bork, ZIP 2020, 397, 406. Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2682. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 51 StaRUG Rz. 10. Riggert, NZI-Beilage 1/2021, 40. Frind, ZInsO 2020, 2241, 2246 spricht mit Recht von „verwirrenden Ausnahmeregelungen zum Moratorium“.

Vallender | 431

§ 10 Rz. 10.180 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

aa) Anordnung

10.180

Die Stabilisierungsanordnung ergeht nur auf Antrag des Schuldners (§ 49 Abs. 1 StaRUG). Dabei kann der Antrag darauf gerichtet sein, ähnlich wie bei § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO, Schutz vor Maßnahmen der Zwangsvollstreckung zu gewähren und/oder eine Verwertungssperre für bewegliche Sicherungsgüter (§ 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO) anzuordnen. Die Verwertungssperre umfasst nach dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG nicht nur Absonderungs- sondern auch Aussonderungsrechte. Insoweit stellt sich die Frage, ob damit nicht die Zielvorgabe des Restrukturierungsvorhabens überschritten wird1. Ob die Vollstreckungsmaßnahme unmittelbar bevorstehen muss2, ist dem Gesetz nicht unmittelbar zu entnehmen. Der Wortlaut des § 49 Abs. 1 StaRUG („erforderlich ist“), dürfte für diese Annahme sprechen. Es empfiehlt sich aber in jedem Fall, das Gericht insoweit umfassend zu unterrichten, weil dies die beantragte Entscheidung zu fördern geeignet ist.

10.181

Im Gegensatz zu § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO erstreckt sich die Vollstreckungssperre auch auf das unbewegliche Vermögen (§ 30g ZVG)3. Ob die Voraussetzungen für eine Vollstreckungssperre vorliegen und die Erstreckung der Anordnung auf das Immobiliarvermögen erforderlich ist, um die Restrukturierungsaussichten zu wahren, ist durch das Restrukturierungsgericht zu prüfen4. Für den Vollzug der Sperre ist nicht das Restrukturierungsgericht, sondern das Vollstreckungsgericht zuständig5. Eine einstweilige Einstellung des Verfahrens erfolgt nicht, wenn die Hinauszögerung der Zwangsversteigerung für den betreibenden Gläubiger unter Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Lage unzumutbar ist (§ 30g Abs. 1 Satz 2 ZVG).

10.182

Der Antrag auf Stabilisierungsanordnung kann sich auf einzelne Gläubiger beschränken, aber auch auf alle Gläubiger erstrecken (§ 49 Abs. 2 Satz 2, § 50 Abs. 1 StaRUG). Unklar ist dabei, ob die Stabilisierungsanordnung nur die konkret planbetroffenen Gläubiger oder auch die potenziellen Gläubiger erfasst. Aus der Regelung in § 53 Abs. 2 Satz 2 StaRUG, die eine Sonderregelung für Planbetroffene schafft, lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass die Anordnung alle denkbaren bzw. potenziellen Gläubiger des Schuldnerunternehmens erfassen kann6. Richtet sich der Antrag auf Einbeziehung aller Gläubiger, wird das Restrukturierungsgericht von Amts wegen einen Restrukturierungsbeauftragten bestellen (§ 73 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG). Ein Antrag auf Anordnung einer Vollstreckungssperre dürfte sich im Regelfall gegen einige wenige, möglicherweise obstruierende Gläubiger richten. Soweit eine Vielzahl von Gläubigern Titel gegen den Schuldner erwirkt hat und daraus gegen ihn vorzugehen droht, dürfte für eine Stabilisierungsanordnung grundsätzlich kein Raum sein. Denn in einem solchen Fall bestehen erhebliche Zweifel an der Liquidität des Schuldners. Diese muss aber für einen Zeitraum von 6 Monaten sichergestellt sein (vgl. § 50 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG; s. dazu § 4 Abs. 2 Nr. 3 SanInsKG: Verkürzung auf vier Monate bis 31.12.2023). Jedenfalls erfordert eine solche Situation eine amtswegige nähere Prüfung durch das Restrukturierungsgericht. Ebenso wird das Gericht den Antrag zurückweisen, wenn die beantragte Anordnung nicht erforderlich ist, um das Restrukturierungsziel zu verwirklichen (§ 51 Abs. 1 Nr. 4 StaRUG). Bei Kleingläubigern dürfte dem Schuldner der Nachweis mangels Erheblichkeit für die Restrukturierung kaum gelingen7. 1 2 3 4 5 6 7

Thole, ZIP 2020, 1995. So Mock, NZI 2022, 437; a.A. wohl AG Hamburg v. 18.1.2022 – 61c RES 1/21, NZI 2022, 438. Bork, NZI-Beilage 1/2021, 38, 39. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 190. Begr. RegE, BT-Drucks. 19/24181, S. 154. Ebenso Frind, ZInsO 2020, 2241, 2246; Bork, NZI-Beilage 1/2021, 39. Riggert, NZI-Beilage 1/2021, 40, 41.

432 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.184 § 10

Der Schuldner hat ähnlich wie bei einem Eigenverwaltungsantrag (vgl. § 270a, § 270f Abs. 1, § 270b InsO) seinem Antrag ausführliche Unterlagen und Erklärungen beizufügen (§ 50 Abs. 1 und 2 StaRUG). Neben einem aktualisierten Entwurf eines Restrukturierungsplans oder einem auf diesen Tag aktualisierten Konzept für die Restrukturierung sind dies ein Finanzplan sowie Erklärungen gemäß § 50 Abs. 3 StaRUG. Ob tatsächlich ein auf den Tag aktualisiertes Konzept vorgelegt werden kann, erscheint bei komplexen Verfahren fraglich. In jedem Fall sollte der Antragsteller darauf achten, dass es sich um einen aktuellen Planentwurf handelt1. Der Finanzplan hat einen Zeitraum von sechs Monaten zu umfassen und eine fundierte Darstellung der Finanzierungsquellen zu enthalten. Daraus muss sich ergeben, dass die Fortführung des Unternehmens in diesem Zeitraum sichergestellt werden soll (§ 50 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG; s. dazu § 4 Abs. 2 Nr. 3 SanInsKG: Verkürzung auf vier Monate bis 31.12.2023). Bestehen erhebliche Zahlungsrückstände aus Arbeitsverhältnissen, Pensionszusagen oder aus dem Steuerschuldverhältnis, so ist dem Antrag nur zu entsprechen, wenn trotz dieser Umstände zu erwarten ist, dass der Schuldner seine Geschäftsführung an den Interessen der Gläubigergesamtheit ausrichtet. Die Angaben und Erklärungen haben zutreffend zu sein. Erwirkt der Geschäftsführer einer GmbH aufgrund vorsätzlich oder fahrlässig unrichtiger Angaben eine Stabilisierungsanordnung, ist er gemäß § 57 Satz 1 StaRUG den davon betroffenen Gläubigern persönlich zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese durch die Anordnung erleiden. Diese Regelung stellt eine Ausnahme vom Konzept der reinen Innenhaftung dar2. Auch in diesem Zusammenhang ist zu klären, ob eine etwa bestehende D&O Versicherung im Schadensfalle herangezogen werden kann. Skauradszun3 mutmaßt, dass es bei Aufklärung der Geschäftsführer über den Außenhaftungstatbestand des § 57 StaRUG Geschäftsleiter geben wird, die wegen des Haftungsrisikos von solchen Anträgen absehen werden.

10.183

Die vorgenannten Unterlagen und Erklärungen entfalten ihre Bedeutung erst im Rahmen der materiellen Voraussetzungen der Stabilisierungsanordnung4. Dazu zählt zunächst die Prüfung, ob der Restrukturierungsplan vollständig und schlüssig ist5. § 51 Abs. 1 Satz 2 StaRUG definiert die Schlüssigkeit der Planung. Danach hat der Restrukturierungsrichter lediglich eine Plausibilitätskontrolle der Restrukturierungsplanung vorzunehmen, nicht dagegen eine Prüfung durchzuführen, ob andere Maßnahmen vielleicht eher zum Sanierungserfolg beitragen könnten6. Das Gesetz geht damit grundsätzlich von einer Stattgabe des Antrags aus7. Allein diese Betrachtungsweise wird dem Eilcharakter der zu treffenden Anordnung gerecht. Liegt zum Zeitpunkt der Stabilisierungsanordnung noch kein Restrukturierungsplan vor, kann das Gericht dem Schuldner eine Frist setzen, binnen derer der Restrukturierungsplan vorzulegen ist. Reicht ihm indes das auf den Tag der Antragstellung aktualisierte Restrukturierungskonzept aus, um beurteilen zu können, ob ein dieses Konzept umsetzender Plan von den Planbetroffenen angenommen und durch das Gericht bestätigt werden würde, wird es von einer Fristsetzung absehen. Schließlich setzt die Anordnung – wie bereits ausgeführt – die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners voraus. Dies folgt mittelbar aus der Regelung in § 51 Abs. 1 Nr. 3 StaRUG. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung über den Antrag auf Anordnung einer Stabilisierungsanordnung einen formalen Prüfungs-

10.184

1 2 3 4 5

Proske/Streit, NZI 2020, 969, 973. Weber/Dömmecke, NZI-Beilage 1/2021, 27, 29. Skauradszun, KTS 2021, 1, 44. Borg, NZI-Beilage 1/2021, 39. Proske/Streit, NZI 2020, 969, 973 f., halten diese Regelung für inkonsistent. Ein Konzept müsse vom Wortsinn her noch weiter ausgearbeitet werden. Deshalb könne es nicht vollständig sein. 6 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 155. 7 Borg, NZI-Beilage 1/2021, 39.

Vallender | 433

§ 10 Rz. 10.184 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

maßstab anzulegen und keine inhaltlich-wirtschaftliche Zweckmäßigkeitsprüfung vorzunehmen1. Danach ergeht die vom Schuldner beantragte Stabilisierungsanordnung im Wesentlichen immer dann, wenn sich aus seinem Antrag ergibt, dass er drohend zahlungsunfähig ist, die Restrukturierung nicht aussichtslos und die beantragte Anordnung erforderlich ist, um das Restrukturierungsziel zu verwirklichen (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 2–3 StaRUG). Dabei legt das Gericht im Eilverfahren seiner Entscheidung den Antrag des Schuldners zugrunde, ohne den Sachverhalt von Amts wegen selbst zu ermitteln2. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, hat das Gericht von einer Stabilisierungsanordnung abzusehen3 und dem Schuldner zunächst Gelegenheit zu geben, binnen einer kurz zu bemessenden Frist die Mängel zu beheben.

10.185

Die Stabilisierungsanordnung muss allen Gläubigern, die von ihr betroffen sind, zugestellt werden (§ 51 Abs. 4 StaRUG). Eine vorherige Anhörung der Gläubiger zu dem Schuldnerantrag ist nicht vorgesehen. Die Begründung zum RegE rechtfertigt dies mit dem Eilcharakter des Verfahrens und der Regelung in § 59 Abs. 2 StaRUG, dass ein betroffener Gläubiger die Aufhebung der Anordnung beantragen kann. Jedenfalls kann das Restrukturierungsgericht von der vorherigen Anhörung absehen, wenn der Sicherungszweck dadurch gefährdet würde. Das Restrukturierungsgericht entscheidet über den Antrag des Schuldners durch Beschluss. Bei einer Zurückweisung des Antrags steht dem Schuldner das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu (§ 51 Abs. 5 Satz 2 StaRUG). Nach § 49 Abs. 3 StaRUG können auch gruppeninterne Drittsicherheiten gesperrt werden. Die Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass in einem Konzern verbundene Unternehmen zentral finanziert werden und einen Haftungsverband bilden4. Die entsprechende gerichtliche Anordnung soll vehindern helfen, dass die wirtschaftliche Krise einer Konzerngesellschaft den Gesamtkonzern gefährdet. Auch wenn das Gesetz eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Sicherungsgebers für den Erlass der Stabilisierungsanordnung nicht voraussetzt, dürfte eine gerichtliche Maßnahme gegen einen solventen Sicherungsgeber ohne einen konkreten Anlass weder im Konzerninteresse erforderlich, noch den von der Stabilisierung betroffenen Gläubiger zumutbar sein5. Aus diesem Grunde bedarf es insoweit einer näheren Darlegung in dem Antrag auf Stabilisierungsanordnung. bb) Dauer der Anordnung

10.186

Die Anordnung kann für eine Dauer von bis zu 3 Monaten ergehen (§ 53 Abs. 1 StaRUG). Dies gilt gleichermaßen für die Anordnung einer Vollstreckungs- oder Verwertungssperre. Eine Erweiterung des Adressatenkreises sowie eine Verlängerung der Anordnungsdauer ist grundsätzlich möglich. Eine Verlängerung um einen Monat setzt voraus, dass der Schuldner ein Planangebot unterbreitet und keine Umstände bekannt sind, dass mit einer Annahme innerhalb eines Monats nicht zu rechnen ist (§ 52 Abs. 2 StaRUG). Unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 StaRUG kommt eine Verlängerung auf maximal 8 Monate in Betracht (§ 53 Abs. 3 StaRUG)6. Begehrt der Schuldner eine längere Anordnungsdauer, sollte vor einer Zurückweisung seines Antrags ein rechtlicher Hinweis erfolgen. 1 Thole, ZIP 2020, 1985, 1996. 2 de Bruyn/Ehmke, NZG 2021, 661, 664. 3 A.A. AG Hamburg v. 17.1.2022 – 61c RES 1/21, NZI 2022, 438, das bei einem Restrukturierungsplan, der Mängel bei der Begründung der Auswahlentscheidung der Planbetroffenen nach § 8 Satz 1 StaRUG aufwies, gleichwohl eine Stabilisierungsanordnung für einen Zeitraum von 20 Tagen angeordnet hat. 4 Boss/Littmann in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 49 StaRUG Rz. 64. 5 Boss/Littmann in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 49 StaRUG Rz. 65; s. ferner Hoegen/Kranz, NZI 2021, 105, 108. 6 Kritisch dazu Riggert, NZI-Beilage 1/2021, 40, 42, der darauf hinweist, dass sich im Rahmen der Fortführung des Geschäftsbetriebs des Schuldners die Planungsprämissen negativ verändern könnten.

434 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.189 § 10

cc) Rechtsfolgen der Stabilisierungsanordnung Bei Anordnung einer Verwertungssperre erhalten die betroffenen Gläubiger in Anlehnung an §§ 166, 167 InsO die geschuldeten Zinsen und einen Ausgleich für den durch die Nutzung eingetretenen Wertverlust (§ 54 Abs. 1 StaRUG). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Schuldner nicht besser stehen soll als in einem vorläufigen Insolvenzverfahren1. Nach § 54 Abs. 2 StaRUG sind die Erlöse aus dem Einzug zedierter Forderungen oder aus der Veräußerung oder Bearbeitung beweglicher Sachen an die Berechtigten auszukehren oder unterscheidbar zu verwahren, wenn an diesen Forderungen oder Sachen im Falle der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens Aus- oder Absonderungsrechte geltend gemacht werden können. Diese Vorschrift dient dem Schutz revolvierender Sicherheiten2. Der Referentenentwurf des StaRUG hatte davon noch abgesehen. Unbeschadet der begrüßenswerten Regelung in § 54 Abs. 2 StaRUG ist nicht auszuschließen, dass sie Sanierungshindernisse schafft, weil – so zutreffend Morgen3 – ohne die Zustimmung der Inhaber revolvierender Sicherheiten, das Sicherungsgut wie im Rahmen eines unechten Massekredits in einem Insolvenzverfahren weiter nutzen zu können, der Liquiditätsbedarf regelmäßig stark ansteigen wird.

10.187

dd) Stabilisierungsanordnung und Gläubigerantrag Nach § 58 StaRUG wird das auf Antrag eines Gläubigers eingeleitete Verfahren auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners für die Anordnungsdauer gemäß § 53 StaRUG ausgesetzt. Danach darf ein Insolvenzgericht für die Dauer der Stabilisierungsanordnung nicht über den Insolvenzantrag eines Gläubigers entscheiden. Im Falle der Stabilisierungsanordnung bei einer GmbH & Co KG ist indes zu beachten, dass die von der KG erwirkte Maßnahme sich nur auf sie selbst bezieht. Bei einem Insolvenzantrag über das Vermögen der Komplementär-GmbH findet demnach § 58 StaRUG keine Anwendung. Im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH käme es trotz Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache zur liquidationslosen Vollbeendigung der KG. Dies kann nur dadurch vermieden werden, dass die Komplementär-GmbH eine eigene Restrukturierungsanzeige erstattet und selbst einen Stabilisierungsantrag stellt. § 58 StaRUG stünde in diesem Falle der weiteren Durchführung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH entgegen. Kramer4 hält es im Wege einer europarechtskonformen externen Auslegung von § 58 StaRUG für vertretbar, die Aussetzung etwaiger Insolvenzantragsverfahren auch auf die Komplementär-GmbH zu erstrecken.

10.188

Auch wenn § 58 StaRUG der Umsetzung von Art. 7 Abs. 2 RL dient, beseitigt die Vorschrift nicht die schon deren Erlass attestierten Unsicherheiten5. Von maßgeblicher Bedeutung für einen ordnungsgemäßen Fortgang der Restrukturierungssache ist die Kenntnis des Restrukturierungsgerichts von dem anhängigen Gläubigerantrag6. Unabhängig davon unterstreicht die rechtliche Tragweite der Vorschrift die dringende Notwendigkeit, die Stabilisierungsanordnung an enge Voraussetzungen zu knüpfen7. Dem wird das StaRUG durch die Regelungen in § 50 Abs. 2 und 3 und § 58 Abs. 2 und 3 StaRUG weitgehend gerecht8.

10.189

1 2 3 4 5 6 7 8

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 185. Morgen, INDat-Report Ausgabe 9/2020, 13, 29. Morgen, INDat-Report Ausgabe 9/2020, 13, 29. Kramer in Skauradszun/Fridgen, § 30 StaRUG Rz. 45. Blankenburg in Morgen, Präventive Restrukturierung, Art. 7 RL 2019/1023 Rz. 43 ff. Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2683. A.A. wohl AG Hamburg v. 17.1.2022- 61c RES 1/21, NZI 2022, 438. Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2683.

Vallender | 435

§ 10 Rz. 10.190 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

ee) Haftung der Organe

10.190

Nach § 57 Satz 1 StaRUG haften die Geschäftsleiter für Schäden, die Gläubiger durch die Stabilisierungsanordnung erleiden, die aufgrund vorsätzlich oder fahrlässig unrichtiger Angaben des Schuldners erfolgt ist. Die verschuldensabhängige (vgl. § 57 Satz 2 StaRUG) Haftung ist erforderlich, um eine ausreichende Gläubigerabsicherung zu gewährleisten1. Denn im Rahmen der Stabilisierungsanordnung nach § 49 StaRUG erfolgt nur eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle2, weshalb eine entsprechende Haftungsandrohung die Geschäftsleiter zur Angabe vollständiger und korrekter Angaben bewegen soll. Sofern für die unrichtigen Angaben mehrere Geschäftsleiter verantwortlich waren und diese jeweils ein Verschulden trifft, haften sie den betroffenen Gläubigern als Gesamtschuldner3. Gemäß § 57 Satz 3 StaRUG haften die Geschäftsleiter nach Maßgabe des § 57 Satz 1, 2 StaRUG auch dann, wenn einem Gläubiger aus einer nicht ordnungsgemäßen Auskehrung oder Verwahrung der Erlöse nach § 54 Abs. 2 StaRUG ein Schaden entsteht. ff) Aufhebung und Beendigung der Anordnung

10.191

Unter den Voraussetzungen des § 59 StaRUG hebt das Restrukturierungsgericht die Stabilisierungsanordnung durch Beschluss auf. Die Vorschrift lehnt sich eng an Art. 6 Unterabs. 9 RL an. Der Wortlaut in § 59 Abs. 1 Nr. 4 StaRUG („Umstände bekannt sind“) verdeutlicht, dass insoweit keine Amtsermittlungspflicht des Gerichts besteht. Vielmehr hat es die Anordnung aufzuheben, wenn ihm diese Umstände bekannt sind. Diese Kenntnis kann sich aus Berichten oder Anzeigen des Restrukturierungsbeauftragten (§ 76 Abs. 3 StaRUG), der bei einem Antrag auf Anordnung einer Stabilisierungsanordnung von Amts wegen zu bestellen ist (§ 73 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG), oder auf sonstige Weise durch an der Restrukturierungssache beteiligte Personen ergeben4. Reichen allerdings die dem Gericht zur Kenntnis gelangten Informationen nicht aus, um den Schluss auf das Vorliegen der Voraussetzung des § 59 Abs. 1 Nr. 4 StaRUG zuzulassen, sind ihm Amtsermittlungen nicht verwehrt5. Denn die Vorschrift hebelt den Amtsermittlungsgrundsatz des § 39 Abs. 1 StaRUG nicht aus, sondern schafft insoweit lediglich eine Arbeitserleichterung für das Gericht, als es das Gericht ohne Vorliegen von Anhaltspunkten von der Pflicht zur Amtsermittlung befreit. Naheliegend ist es in einem solchen Fall, den Restrukturierungsbeauftragten, den ohnehin eine fortlaufende Prüfungspflicht zum Vorliegen eines Aufhebungsgrundes trifft, um (ergänzende) Stellungnahme zu bitten. Dies gilt umso mehr, als dieser verpflichtet ist, dem Gericht unverzüglich Umstände mitzuteilen, die eine Aufhebung der Restrukturierungssache rechtfertigen (§ 76 Abs. 1 StaRUG)6.

10.192

Der Aufhebungsbeschluss hat zur Vermeidung von Unklarheiten die aufzuhebende Anordnung genau zu bezeichnen. Er führt grundsätzlich nicht zur gleichzeitigen Beendigung der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache, weil eine Planbestätigung auch ohne fortdauernde Stabilisierung denkbar ist7. Die Rechtshängigkeit endet erst mit der Aufhebung der Restrukturierungssache gemäß § 33 StaRUG. Einer ausdrücklichen Aufhebung der Stabilisierungsanordnung bedarf es nicht, wenn der Restrukturierungsplan rechtskräftig bestätigt ist 1 2 3 4 5 6 7

Gehrlein, BB 2021, 66, 74. vgl. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 155. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 155. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 159. Vallender, ZRI 2021, 165, 170. Vallender, ZRI 2021, 165, 170. Thole, ZIP 2020, 1985, 1996.

436 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.223 § 10

oder die Planbestätigung versagt wird (§ 59 Abs. 4 StaRUG). Die Anordnung endet in diesem Fall kraft Gesetzes. Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufhebung der Stabilisierungsanordnung gemäß § 59 Abs. 1 und 2 StaRUG kann das Gericht vorläufig von dieser Entscheidung absehen, um im Interesse der Gläubigergesamtheit einen geordneten Übergang in ein Insolvenzverfahren zu ermöglichen (§ 59 Abs. 3 Satz1 StaRUG). Weist der Schuldner nicht innerhalb der ihm vom Restrukturierungsgericht gesetzten Frist, die 3 Wochen nicht überschreiten darf, die Stellung eines Insolvenzantrags nach, hebt das Gericht die Stabilisierungsanordnung auf.

10.193

10.194–10.220

Einstweilen frei.

6. Restrukturierungsplanverfahren a) Gerichtliche Planabstimmung Der Restrukturierungsrahmen gibt dem Schuldner die Möglichkeit, die Planabstimmung in einem gerichtlichen Forum stattfinden zu lassen. Das kann das Vertrauen der Gläubiger in das Verfahren erhöhen. Die gerichtliche Planabstimmung richtet sich nach §§ 45, 46 StaRUG; die Vorschriften über die außergerichtliche Planabstimmung (§§ 17–22 StaRUG) gelten nicht. Der maßgebliche Vorteil für den Schuldner liegt in der Beweiserleichterung bei der Annahme des Plans. Zweifel an der ordnungsgemäßen Annahme durch die Planbetroffenen gehen zulasten des Schuldners (§ 63 Abs. 4 StaRUG). Erforderlich ist, wie bei allen Verfahrenshilfen, zunächst die Anzeige des Restrukturierungsvorhabens nach § 31 Abs. 1 StaRUG.

10.221

aa) Antrag des Schuldners beim Restrukturierungsgericht auf Bestimmung eines Erörterungs- und Abstimmungstermins (§ 45 Abs. 1 StaRUG) Eine gerichtliche Planabstimmung erfordert einen Antrag des Schuldners beim Restrukturierungsgericht auf Bestimmung eines Erörterungs- und Abstimmungstermins (§ 45 Abs. 1 StaRUG). Die Vorschrift orientiert sich an § 235 Abs. 1 Satz 1 u. 2 InsO. Das Gericht beraumt einen einheitlichen Termin an, in dem der Restrukturierungsplan und das Stimmrecht erörtert werden und anschließend über den Plan abgestimmt wird. Um dem Eilcharakter des Verfahrens Rechnung zu tragen, soll der Termin angesetzt werden, entsprechend der Regelung im Insolvenzplan jedenfalls nicht über den Ablauf eines Monats hinaus (§ 235 Abs. 1 Satz InsO). Jedoch ist eine 14-tägige Ladungsfrist einzuhalten (§ 45 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Auf Antrag des Schuldners bestimmt das Gericht einen Vorprüfungstermin zur Prüfung des Restrukturierungsplans (§ 46 StaRUG). Gegenstand der Prüfung kann jede Frage sein, die für die Bestätigung des Restrukturierungsplans erheblich ist, z.B. die sachgerechte Einteilung der Gruppen oder die Höhe des Stimmrechts. Das Gericht kann gemäß § 46 Abs. 3 StaRUG einen Vorprüfungstermin auch von Amts wegen bestimmen, wenn dies zweckmäßig ist1.

10.222

Das Gericht hat zum Termin alle Planbetroffenen zu laden (§ 45 Abs. 3 Satz 1 StaRUG). Aus Gründen der Verfahrensökonomie ist der Restrukturierungsbeauftragte ebenfalls zu laden, um etwaige Fragen zu seiner Stellungnahme zum Restrukturierungsplan (§ 76 Abs. 4 Satz 2 StaRUG) beantworten zu können. Die Ladung muss den Hinweis enthalten, dass die Abstimmung auch ohne Teilnahme der Planbetroffenen stattfinden kann (§ 45 Abs. 3 Satz 2 StaRUG). Ferner ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit des Widerspruchs und die Ablehnung

10.223

1 S. AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/12, NZI 2021, 433 = ZIP 2021, 806.

Vallender und Schluck-Amend | 437

§ 10 Rz. 10.223 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

des Plans für eine spätere sofortige Beschwerde eines Planbetroffenen gegen den Restrukturierungsplan aufzunehmen. Das Gericht kann den Schuldner mit der Zustellung der Ladungen beauftragen (§ 45 Abs. 3 Satz 3, § 41 Abs. 3 StaRUG). bb) Streitige Stimmrechte: Festlegung durch das Gericht (§ 45 Abs. 4 Satz 2 StaRUG)

10.224

Die Stimmrechte werden entsprechend §§ 24–28 StaRUG und §§ 239–242 InsO bestimmt (§ 45 Abs. 4 Satz 1 StaRUG). Sind die Stimmrechte der Planbetroffenen streitig, obliegt die Festlegung dem Gericht (§ 45 Abs. 4 Satz 2 StaRUG). Die Entscheidung ist bezüglich der erreichten Mehrheiten verbindlich, besagt aber nicht, in welcher Höhe der betroffene Rechtsinhaber sein Recht gegenüber dem Schuldner geltend machen kann1. Das ist auf die Teilkollektivität des Verfahrens zurückzuführen, da es im Restrukturierungsverfahren kein Forderungsfeststellungsverfahren nach §§ 174 ff. InsO gibt. Aus der entsprechenden Anwendung der §§ 239–242 InsO ergibt sich, dass der Schuldner den Plan nach dem Erörterungstermin ändern kann und dann in der geänderten Fassung über den Plan abstimmen lassen kann. Dies kann in demselben Termin erfolgen oder das Gericht kann einen gesonderten Abstimmungstermin anberaumen.

b) Gerichtliche Planbestätigung (§§ 60 ff. StaRUG) 10.225

Die gerichtliche Planbestätigung stellt das Herzstück der Verfahrenshilfen dar (§§ 60 ff. StaRUG). Sie ermöglicht es, Gläubiger gegen ihren Willen zu binden und verhindert damit Akkordstörer. Die im gestaltenden Teil eines Restrukturierungsplans festgelegten und mit den erforderlichen Mehrheiten akzeptierten Wirkungen (§ 67 Abs. 1 StaRUG) treten nur bei einer gerichtlichen Bestätigung des Plans ein (§ 67 Abs. 1 StaRUG). Diese setzt einen Antrag des Schuldners voraus (§ 60 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Bei entsprechendem Antrag kann eine Planbestätigung bereits im Erörterungs- und Abstimmungstermin erfolgen. Im Falle eines bedingten Restrukturierungsplans (§ 62 StaRUG) ist darauf zu achten, dass bereits im Zeitpunkt des Termins die Bedingung eingetreten ist. Soweit eine verbindliche Auskunft des Finanzamts gemäß § 89 AO als Bedingung im Raume steht, empfehlen – da die Anwendung des Sanierungssteuerrechts auf den präventiven Restrukturierungsrahmen auch für die Finanzämter Neuland ist – Grau/Pohlmann/Radunz2, dem Finanzamt möglichst frühzeitig den Entwurf eines Antrags auf Erlass der verbindlichen Auskunft nebst dem Entwurf des späteren Restrukturierungsplans zukommen zu lassen.

10.226

Auch nach privatautonomer Abstimmung über den Plan (§§ 19 ff. StaRUG) steht dem Schuldner der Weg zur gerichtlichen Planbestätigung offen (§ 60 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Dazu bedarf es eines Antrags, dem der zur Abstimmung gestellte Plan und seine Anlagen sowie die Dokumentation über das Abstimmungsergebnis (§ 22 StaRUG) sowie sämtliche Urkunden und sonstigen Nachweise beizufügen sind, aus denen sich ergibt, wie die Abstimmung durchgeführt wurde und zu welchem Ergebnis sie geführt hat. Sofern sich der Schuldner mit seinem Restrukturierungsplan über den Willen einer dissentierenden Minderheit hinwegsetzen will, bedarf es im Hinblick auf die Regelung in § 17 Abs. 1 Satz 1 StaRUG in jedem Fall der gerichtlichen Planbestätigung3.

1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 147. 2 Grau/Pohlmann/Radunz, NZI 2021, 522, 526. 3 Bork, NZI-Beilage 1/2021, 38, 39.

438 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.228 § 10

aa) Umfang der gerichtlichen Prüfung Die Planbestätigung folgt weitgehend den Regelungen zum Insolvenzplanverfahren. § 63 StaRUG normiert die Voraussetzungen für die Bestätigung des Restrukturierungsplans, die als Versagungsgründe und damit als negative Bestätigungsvoraussetzungen ausgestaltet sind1. Da nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG die Planbestätigung nicht positiv die drohende Zahlungsunfähigkeit voraussetzt, sondern vielmehr die Bestätigung zu versagen ist, wenn der Schuldner nicht drohend zahlungsunfähig ist, kommt eine Planbestätigung in Betracht, wenn ausnahmsweise nach der Amtsermittlung i.S. von § 39 StaRUG Zweifel darüber bleiben, ob tatsächlich keine drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Das Gericht muss demnach nicht voll von der drohenden Zahlungsunfähigkeit überzeugt sein2, sondern es muss voll überzeugt sein von der fehlenden drohenden Zahlungsunfähigkeit, wenn es dem Plan die Bestätigung versagen will3. Bei dieser Prüfung kann sich das Gericht der Hilfe des Restrukturierungsbeauftragten als Sachverständigen bedienen (§ 73 Abs. 3 Nr. 1 StaRUG)4. Gelangt dieser zu dem Ergebnis, dass der Schuldner bereits zahlungsunfähig oder überschuldet ist, kommt eine Planbestätigung grundsätzlich nicht in Betracht. Denn das StaRUG will nicht die Insolvenzantragspflicht für zahlungsunfähige Unternehmen beseitigen5. Zu beachten ist indes § 33 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG, wonach das Gericht von einer Aufhebung des Restrukturierungsverfahrens nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger absehen kann. Entscheidet sich das Gericht trotz Vorliegens der Insolvenzreife für eine Planbestätigung, hat es im Hinblick auf den Ausnahmecharakter der Vorschrift6 seine Entscheidung dezidiert zu begründen7.

10.227

Darüber hinaus erstreckt sich die gerichtliche Prüfung auf die Frage, ob der Plan wirksam angenommen worden ist und kein Verstoß gegen Verfahrens- und Inhaltsvorschriften vorliegt (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG). Insbesondere hat das Gericht hierbei zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Ersetzung der Zustimmung einer ablehnenden Gläubigergruppe gegeben sind (s. hierzu Rz. 10.110). Für den Fall, dass infolge einer unzutreffenden Bewertung des Unternehmens die Voraussetzungen für eine gruppenübergreifende Mehrheitsentscheidung nach den §§ 26–28 StaRUG nicht gegeben sind, kann der darin nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG liegende Mangel nur dann zur Versagung der Bestätigung führen, wenn ein hierdurch benachteiligter Planbetroffener dies beantragt (§ 63 Abs. 2 Satz 1 StaRUG) und dieser dem Plan bereits im Abstimmungsverfahren widersprochen hat (§ 63 Abs. 2 Satz 2 StaRUG). Die Planbestätigung ist ferner zu versagen, wenn die Ansprüche, die den Planbetroffenen durch den gestaltenden Teil des Plans zugewiesen werden und die durch den Plan nicht berührten Ansprüche der übrigen Gläubiger offensichtlich nicht erfüllt werden können. Danach hat das Gericht nur bei Erkennbarkeit von Umständen, die mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit dafürsprechen, dass die Planansprüche nicht erfüllt werden können, den Antrag zurückzuweisen. Amtswegige Ermittlungen und damit die Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe kommen insoweit nicht in Betracht. Ließe man dies zu, bezöge sich eine solche Prüfung durch den Sachverständigen auf die Zweckmäßigkeit des Plans. Eine Zweckmäßigkeitsprüfung ist dem Gericht verwehrt. Vielmehr hat es lediglich die Rechtmäßigkeit des Plans und seiner Maßnahmen zu prüfen. Im Falle einer neuen Finanzierung muss das dem Plan zugrunde gelegte Re-

10.228

1 2 3 4 5 6 7

Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2679. A.A. AG Köln v. 3.3.2021 – 83 RES 1/21, NZI 2021, 433 = ZIP 2021, 806. Thole, NZI 2021, 436. S. dazu AG München v. 21.10.2021 – 1542 RES 2180/21, BeckRS 2021, 33334. Wöhren in Wollgast/Grauer, § 29 StaRUG Rz. 8. Desch, BB 2020, 2498, 2499; Gehrlein, BB 2021, 66, 75. S. dazu AG Dresden v. 7.6.2021 – 574 RES 2/21, NZI 2021, 893; kritisch dazu Grauer/Münzel, NZI 2021, 895.

Schluck-Amend | 439

§ 10 Rz. 10.228 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

strukturierungskonzept schlüssig sein1. Eine Planbestätigung ist ferner zu versagen, wenn die Annahme des Plans durch unlautere Mittel herbeigeführt wurde (§ 63 Abs. 5 StaRUG). Mit dieser Bestimmung soll nach dem Vorbild von § 250 Nr. 2 InsO missbräuchlichen Praktiken im Zuge der Planverhandlungen und der Planabstimmung entgegengewirkt werden2. Die Prüfung des Gerichts erstreckt sich schließlich auf den Eintritt der Planbedingungen (§ 62 StaRUG) und nach einem entsprechenden Antrag auf den Minderheitenschutz (§ 64 StaRUG).

10.229

Entsprechend § 251 InsO ist eine Bestätigung auf Antrag eines Planbetroffenen zu versagen, wenn er durch den Plan voraussichtlich schlechter gestellt wird als er ohne Plan stünde (§ 64 Abs. 1 StaRUG). Gesichert werden soll der bestehende Wert seines Anspruchs (Werterhaltungsprinzip3). Die Vorschrift wird auch best interest of creditors test genannt und entstammt dem amerikanischen Chapter 11 Verfahren4. Wird ein Planbetroffener demnach innerhalb seiner Gruppe überstimmt, dann kann er den Plan auf diesem Wege zu Fall bringen. Die Vorschrift ist das Schutzpendant zu § 26 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG, der zugunsten der überstimmten Gruppe relevant wird. Das Alternativszenario „ohne den Plan“ ist, anders als im Insolvenzverfahren, in der Regel nicht das Liquidationsszenario. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 StaRUG ist bei der Berechnung des Wertes des Minderheitenschutzes von einem Fortführungsszenario auszugehen. In Betracht kommt etwa eine übertragende Sanierung. Der Betroffene muss dem Wortlaut nach im Abstimmungsverfahren nicht nur gegen den Plan gestimmt, sondern widersprochen haben5. Eine Abstimmung gegen den Plan ist nicht mit einem Widerspruch gleichzusetzen. Das ergibt sich schon daraus, dass in § 66 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StaRUG zwischen beidem klar getrennt wird. Der Betroffene muss klar seine Einwände gegen den Plan formulieren. Er zeigt damit an, dass er nicht gegen den Plan stimmen, sondern auch die gesetzlichen Schutzmechanismen in Anspruch nehmen möchte. Findet eine gerichtliche Planabstimmung statt, so muss er seine Schlechterstellung spätestens dort glaubhaft machen (§ 294 Abs. 1 ZPO). So wird für die Planbetroffenen verfahrensrechtlich eine Obliegenheit begründet, intensiv den Plan zu prüfen6. Sieht der Plan allerdings für genau diesen Fall Mittel vor, mit denen eine Schlechterstellung ausgeglichen werden kann, ist der Antrag abzuweisen (§ 64 Abs. 3 StaRUG). Es fehlt dann an einer materiellen Beschwer. Möglich ist die Glaubhaftmachung, dass die bereitgestellten Mittel nicht ausreichend sind. bb) Verfahrensrechtliche Fragen

10.230

§ 61 StaRUG verschafft dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs Geltung. Soweit die Planbetroffenen bereits im gerichtlichen Erörterungs- und Abstimmungstermin (§ 45 Abs. 1 StaRUG) Gelegenheit zur Stellungnahme hatten, bedarf es keiner weiteren Anhörung („kann“). Soll die Entscheidung außerhalb des Erörterungs- und Abstimmungstermins getroffen werden oder wurde in diesem Termin noch kein Antrag auf Planbestätigung gestellt, sollte den Planbetroffenen unter Bestimmung einer Stellungnahmefrist die Gelegenheit gegeben werden, sich 1 Bork, NZI-Beilage 1/2021, 38, 39. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 163. 3 Vgl. zum Insolvenzplan BGH v. 19.5.2009 – IX ZB 236/07, NZI 2009, 515, 516 Rz. 12 = ZIP 2009, 1384; BGH v. 29.3.2007 – IX ZB 204/05, NZI 2007, 409, 410 Rz. 7 = ZIP 2007, 923 (jeweils zu § 251 InsO); Andres in Andres/Leithaus, 4. Aufl. 2018, § 245 InsO Rz. 3; Spliedt in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 245 InsO Rz. 7; Skauradszun/Spahlinger/Tresselt, DZWIR 2015, 539, 542; Jungmann, KTS 2006, 135, 137; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 10. Aufl. 2021, § 30 Rz. 395. 4 Vgl. Chapter 11 U.S.C. § 1129(a)(7)(A)(ii). 5 Sinz in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 251 InsO Rz. 13. 6 Treffend Kern in Jaeger, 2019, § 251 InsO Rz. 15.

440 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.233 § 10

schriftlich zu äußern. Bei Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten ist auch dieser anzuhören1. Bei einer Abstimmung im außergerichtlichen Verfahren darf ohne Anhörung der Planbetroffenen im Rahmen eines vom Gericht anzuberaumenden Anhörungstermins eine Planbestätigung nicht erfolgen (§ 61 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Die Planbestätigungsentscheidung oder die Versagung der Bestätigung ergeht in Beschlussform. Bei einer Planbestätigung findet die Regelung des § 65 Abs. 2 StaRUG Anwendung, die sich an § 252 Abs. 2 InsO orientiert. Gegen den Beschluss, durch den der Restrukturierungsplan bestätigt wird, steht jedem Planbetroffenen die sofortige Beschwerde zu. Der Schuldner ist beschwerdebefugt, wenn die Bestätigung des Restrukturierungsplans abgelehnt wurde (§ 66 Abs. 1 StaRUG). § 66 Abs. 2 StaRUG macht die Zulässigkeit des Rechtsmittels von besonderen Voraussetzungen abhängig. Diese entsprechen wortgleich der Vorschrift des § 253 Abs. 2 InsO. Relevant ist insbesondere der Verweis auf die Glaubhaftmachung einer wesentlichen Schlechterstellung. Im Rahmen von § 253 InsO gilt eine Abweichung als nicht wesentlich, wenn sie unter 10 % des Wertes des Regelverfahrens liegt2. Damit will der Gesetzgeber eine Beschwerde solcher Personen verhindern, die eine Forderung nur zum Zweck des Opponierens erworben haben3. Da die Vorschrift der insolvenzrechtlichen Regelung nachempfunden ist und sich auch die Teilkollektivität des Verfahrens nicht auswirkt, liegt es nahe, diese Erwägungen zu übertragen.

10.231

cc) Wirkungen des Plans (§ 67 StaRUG) Wird der Plan vom Restrukturierungsgericht bestätigt, treten die im gestaltenden Teil festgelegten Wirkungen ein (§ 67 Abs. 1 Satz 1 StaRUG). Anders als im Insolvenzplanverfahren, wo die im gestaltenden Teil festgelegten Wirkungen erst mit der Rechtskraft des Bestätigungsbeschlusses eintreten, verlagert § 67 Abs. 1 Satz 1 StaRUG diesen Zeitpunkt auf die Verkündigung des Planbestätigungsbeschlusses vor. Eine sofortige Beschwerde hat demnach keine aufschiebende Wirkung, womit die Vorgabe aus Art. 16 Abs. 3 Satz 1 RL (EU) 2019/1023 umgesetzt wird. Aus Satz 2 der Vorschrift ergibt sich, dass durch die gerichtliche Bestätigung auch dissentierende Gläubiger oder solche, die an der Abstimmung trotz der ordnungsgemäßen Beteiligung am Abstimmungsverfahren nicht teilgenommen haben, gebunden werden. Während § 254b InsO auch eine Bindungswirkung gegenüber Insolvenzgläubigern erzeugt, die ihre Forderungen nicht zur Tabelle angemeldet haben, gilt § 67 Abs. 1 Satz 1 StaRUG nur für und gegen die Planbetroffenen. Zu beachten ist, dass sich die verbindliche Wirkung der Bestätigung nur auf die gestaltende Wirkung einer Forderung erstreckt, nicht aber auf die Höhe der Forderung vor der Gestaltung. Das hängt damit zusammen, dass es im StaRUG keine Forderungsanmeldung zur Tabelle gibt. Wird in einem gerichtlichen Verfahren eine höhere Forderung festgestellt, so kann der Gläubiger diesen Teil ungekürzt gegenüber dem Schuldner geltend machen4.

10.232

Die Bestätigung bringt eine Reihe von weiteren Folgen mit sich, die in § 67 Abs. 2–6 StaRUG aufgezählt sind. Wichtig ist vor allem der Ausschluss der Differenzhaftung im Rahmen eines Debt-Equity-Swaps (Abs. 5), welche sich auch in § 254 Abs. 4 InsO findet. Ein tauschwilliger (vgl. § 7 Abs. 4 Satz 2 StaRUG) Gläubiger muss daher nicht fürchten, noch weitere Mittel nachschießen zu müssen, wenn die Forderungen überbewertet waren. Zu beachten ist auch,

10.233

1 2 3 4

Vallender, ZInsO 2020, 2677. Begr. RegE BT-Drucks. 17/5712, S. 35. Begr. RegE BT-Drucks. 17/5712, S. 35 f. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 167.

Schluck-Amend | 441

§ 10 Rz. 10.233 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

dass durch die Bestätigung eventuelle Mängel im Verfahren der Abstimmung sowie Willensmängel von Planangebot und Planannahme als geheilt gelten (Abs. 6). Enthält der Plan also gesellschaftsrechtlich unzulässige Maßnahmen, so erzeugt die Bestätigung Rechtskraftwirkung, der sich auch andere Gerichte, insbesondere das Registergericht, beugen müssen1. Relevant ist die Heilungswirkung auch für Fehleinschätzungen des Restrukturierungsgerichts im Rahmen des Merkmals der voraussichtlichen Schlechterstellung nach § 26 Abs. 1 Nr. 1 und § 64 Abs. 1 StaRUG. dd) Vollstreckung aus dem gerichtlich bestätigten Plan (§ 71 StaRUG)

10.234

Ein rechtskräftig gerichtlich bestätigter Restrukturierungsplan gibt Gläubigern Erleichterungen hinsichtlich der Vollstreckung. Er gilt bezüglich der im Bestätigungsbeschluss nicht bestrittenen Forderungen als vollstreckbares Urteil (§ 71 Abs. 1 StaRUG). Der Schuldner kann eine Titulierungswirkung nur dann verhindern, wenn er den Status der Forderung im Bestätigungsverfahren als bestritten geltend macht und daraufhin ein entsprechender Ausweis im Planbestätigungsbeschluss ergeht.

10.235

Einstweilen frei. ee) Planüberwachung durch Restrukturierungsbeauftragten (§ 72 StaRUG)

10.236

Im gestaltenden Teil des Plans kann optional eine Planüberwachung durch einen Restrukturierungsbeauftragten angeordnet werden (§ 72 StaRUG). Gibt es noch keinen Restrukturierungsbeauftragten, so ist dieser erstmalig zu bestellen2. Es ist seine Aufgabe, die Erfüllung der im gestaltenden Teil festgelegten Forderungen zu überwachen. Bei Nichterfüllung ist dies sowohl dem Restrukturierungsgericht als auch den betroffenen Gläubigern gegenüber anzuzeigen (Abs. 3). Die Überwachung ist aufzuheben, wenn die Ansprüche der Gläubiger erfüllt sind oder dies gewährleistet ist, seit dem Eintritt der Rechtskraft drei Jahre verstrichen sind oder das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet oder mangels Masse abgewiesen wurde (Abs. 4 Nr. 1–3). Relevant ist die Vorschrift auch hinsichtlich des Wiederauflebens gestundeter oder erlassener Forderungen (§ 69 StaRUG). Danach leben die ursprünglichen Forderungen der Gläubiger wieder auf, wenn der Schuldner bei der Erfüllung in erheblichen Rückstand gerät. Dort ist zum einen, anders als bei der Anzeigepflicht des Restrukturierungsbeauftragten, eine gewisse Erheblichkeitsschwelle zu überschreiten. Zum anderen muss der Schuldner schriftlich gemahnt und ihm eine zweiwöchige Nachfrist gesetzt werden (§ 69 Abs. 1 Satz 2 StaRUG). Der Wortlaut ist an dieser Stelle missverständlich, denn dieser kann so verstanden werden, dass eine Erheblichkeit auch dann vorliegt, wenn der Schuldner trotz Mahnung und Nachfrist nicht leistet. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich aber, dass nicht jeder Verzug sofort die scharfen Konsequenzen des § 69 Abs. 1 Satz 1 StaRUG nach sich ziehen soll3.

10.237–10.250 Einstweilen frei.

1 Vgl. zum Insolvenzplan Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 254 InsO Rz. 14; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 254 InsO Rz. 9f. 2 Zum Restrukturierungsbeauftragten allgemein Schulte-Kaubrügger/Dimassi, ZIP 2021, 936. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 166 f.

442 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.252 § 10

7. Der Restrukturierungsbeauftragte Die RL (EU) 2019/1023 (Restrukturierungsrichtlinie) sieht die Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten zur Überwachung der Tätigkeit des Schuldners oder zur teilweisen Übernahme der Kontrolle seiner Vermögenswerte nur im Einzelfall vor (Art. 5 Abs. 1, ErwGr. 30 Satz 2). Hieran knüpfen die Regelungen zur Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten im StaRUG nur zum Teil an. Bei der Implementierung der Person des Restrukturierungsbeauftragten in das StaRUG hatte der Gesetzgeber zu berücksichtigen, dass der Schuldner von den Verfahrenshilfen des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens grundsätzlich selbständigen und eigenverantwortlichen Gebrauch machen kann. Soweit indes Beteiligte in den Restrukturierungsprozess einbezogen sind, die nicht ohne weiteres in der Lage sind, ihren Interessen wirkungsvoll Geltung zu verschaffen, bedarf es eines Korrektivs, mit dem sich sicherstellen lässt, dass die Interessen dieser – insoweit schutzwürdigen – Beteiligten gewahrt werden können1. Diese Aufgabe kommt dem Restrukturierungsbeauftragten zu. Als neutrale und koordinierende Person soll er die Integrität und Effizienz des Restrukturierungsprozesses sicherstellen2. Anders als noch die RL sieht das StaRUG allerdings davon ab, dem Restrukturierungsbeauftragten auch die Kontrolle über den schuldnerischen Betrieb zumindest teilweise einzuräumen. Ebenso wenig steht ihm ein Antragsrecht auf Verlängerung der Dauer der Aussetzung von Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen oder auf neue Gewährung der Aussetzung von Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen zu (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 RL). Eine Annäherung an die Person des Sachwalters findet sich in der Regelung des § 76 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b StaRUG. Danach kann das Gericht dem Restrukturierungsbeauftragten die Befugnis übertragen, von dem Schuldner zu verlangen, dass eingehende Gelder nur von dem Beauftragten entgegengenommen und Zahlungen nur von dem Beauftragten geleistet werden können. § 76 Abs. 2 Nr. 3 StaRUG sieht vor, dass das Gericht dem Schuldner aufgeben kann, dem Beauftragten Zahlungen anzuzeigen und Zahlungen außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs nur zu tätigen, wenn der Beauftragte zustimmt (vgl. § 275 Abs. 1 Satz 1 InsO).

10.251

a) Bestellungsmodelle Das StaRUG umfasst mehrere verschiedene Bestellungsmodelle. Das Restrukturierungsgericht hat unter den Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 und 2 StaRUG einen Restrukturierungsbeauftragten von Amts wegen zu bestellen. Die Regelung des § 73 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG dient dem Schutz insbesondere von Gläubigern in Fällen, in denen im Rahmen der Restrukturierung die Rechte von Verbrauchern oder mittleren, kleinen oder Kleinstunternehmen berührt sind. Die obligatorische Bestellung hat ferner zu erfolgen, wenn der Schuldner eine Stabilisierungsanordnung beantragt, die sich gegen alle oder im Wesentlichen alle Gläubiger richten soll (Nr. 2) oder der Restrukturierungsplan eine Überwachung der Erfüllung der den Gläubigern zustehenden Ansprüche vorsieht (Nr. 3). Diese überwachende und prüfende Funktion steht für die Transparenz und Integrität des Verfahrens3. Nach § 73 Abs. 2 StaRUG erfolgt die Bestellung auch, wenn absehbar ist, dass das Restrukturierungsziel nur gegen den 1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 169. Nach zutreffender Feststellung von Skauradszun, KTS 2021, 1, 25, ist den Bestimmungen des StaRUG einerseits der Wille nach Gläubigerschutz und der Wunsch nach einer bestmöglichen Gläubigerbefriedigung zu entnehmen. Andererseits ist es auch auf den Schuldner und seine Anteilsinhaber ausgerichtet. Dagegen bewertet der Wirtschaftsausschuss des Bundesrats das StaRUG insgesamt als „ganz überwiegend an den Interessen der in die Krise geratenen Schuldner ausgerichtet“ (BR-Drucks. 619/1/20, S. 3). 2 Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48. 3 Dankert-Gellert in Nerlich/Römermann, InsO, 44. EL, Nov. 2021, § 73 StaRUG Rz. 34.

Vallender | 443

10.252

§ 10 Rz. 10.252 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Willen von Inhabern von Restrukturierungsforderungen oder Absonderungsanwartschaften (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StaRUG) erreichbar ist, ohne deren Zustimmung zum Restrukturierungsplan eine Planbestätigung allein unter den Voraussetzungen des § 26 StaRUG möglich ist. Bereits bei Anzeige der Restrukturierungssache hat der Schuldner gemäß § 31 Abs. 2 Satz 3 StaRUG eine Erklärung zur Erforderlichkeit des Cross-Class Cram-down abzugeben. Diese Anzeige ermöglicht dem Gericht, sich frühzeitig mit der Bestellungsentscheidung und insbesondere mit der zu bestellenden Person zu befassen.

10.253

Daneben sieht § 73 Abs. 3 StaRUG die fakultative Bestellung von Amts wegen vor. Danach kann das Gericht einen Restrukturierungbeauftragten bestellen, um Prüfungen als Sachverständiger vorzunehmen. Skauradszun1 mutmaßt, dass der Gesetzgeber offenbar nicht ganz frei von Zweifeln ist, ob der Restrukturierungsrichter mit den wirtschaftlichen Fragestellungen des Verfahrens zu sehr herausgefordert wird und deshalb insbesondere bei wirtschaftlichen Fragen sachverständiger Hilfe bedürfe. Die in der vorgenannten Bestimmung nicht abschließende Aufzählung („insbesondere“) eröffnet weitere Ermessensfallkonstellationen, in denen das Gericht einen Restrukturierungsbeauftragten einbinden kann2.

10.254

Ferner hat gemäß § 77 StaRUG eine Bestellung auf Antrag des Schuldners oder auf Antrag einer hinreichend repräsentierten Gläubigergruppe, auf die mehr als 25 % der Stimmrechte entfällt, zu erfolgen. Damit folgt das Gesetz im Prinzip den Vorgaben in Art. 5 Abs. 2 und 3 RL, die den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum bei der Ausgestaltung der konkreten Rechte und Pflichten einräumt. Der wesentliche Unterschied zwischen der obligatorischen und fakultativen Bestellung ist darin zu sehen, dass bei der Bestellung auf Antrag der Restrukturierungsbeauftragte eine vermittelnde Rolle einnehmen soll, ohne dass das Gesetz diese Aufgabe näher umschreibt. Die Regelaufgabe des fakultativen Restrukturierungsbeauftragten entspricht weitgehend der eines Sanierungsmoderators gemäß § 96 Abs. 1 StaRUG3. Unklar ist dagegen das Verhältnis zwischen obligatorischem und fakultativem Beauftragten. Das Gesetz enthält keine Regelung zum Konkurrenzverhältnis der beiden Regelungstypen. Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass der fakultative Restrukturierungsbeauftragte nur auf Antrag vom Schuldner oder von Gläubigern „über die Fälle der notwendigen Bestellung nach § 80 (§ 73 StaRUG) hinaus mit prüfenden und überwachenden Aufgaben“ eingebunden werden sollte4. Dies beantwortet aber nicht abschließend die Frage, ob eine parallele Bestellungsmöglichkeit des fakultativen und des obligatorischen Restrukturierungsbeauftragten besteht5. Hierfür spricht, dass andernfalls in Fällen eines schon von Amts wegen Bestellten das in § 77 Abs. 1 StaRUG enthaltene Recht von Schuldner und Gläubigern, sich bei der Ausarbeitung und Aushandlung des Restrukturierungskonzeptes von einem Restrukturierungsbeauftragten unterstützen zu lassen, leerlaufen würde6. Auch wenn ein Nebeneinander der beiden Regelungstypen zulässig sein dürfte, kommt eine Aufgabenkonkurrenz nicht in Betracht. Der fakultative Restrukturierungsbeauftragte kann vielmehr nur in den Fällen bestellt werden, in denen entweder kein obligatorischer Restrukturierungsbeauftragter bestellt ist oder die Aufgabe des fakultativen Restrukturierungsbeauftragten sich (nur) auf die Regelaufgabe der Unterstützung nach § 79 StaRUG beschränkt bzw. die gewünschte zusätzliche Aufgabe nach § 76 StaRUG bislang noch nicht wahrgenommen wird7. 1 2 3 4 5 6 7

Skauradszun, KTS 2021, 1, 42. Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48, 49. Hänel in Skauradszun/Fridgen, § 77 StaRUG Rz. 4. BT-Drucks. 19/24181, S. 175. Verneinend Hänel in Skauradszun/Fridgen, § 77 StaRUG Rz. 4. Dankert-Gellert in Nerlich/Römermann, InsO, 44. EL, Nov. 2021, § 73 StaRUG Rz. 39. Dankert-Gellert in Nerlich/Römermann, InsO, 44. EL, Nov. 2021, § 73 StaRUG Rz. 39.

444 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.258 § 10

Ebenso wie die Bestellung gemäß § 73 Abs. 3 StaRUG steht auch die Bestellung eines weiteren Restrukturierungsbeauftragten gemäß § 74 Abs. 3 StaRUG im Ermessen des Gerichts, wenn das Gericht bei der Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten einem Vorschlag des Schuldners oder der Planbetroffenen gefolgt ist. Angesichts der unterschiedlichen Gründe für die Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten empfiehlt es sich, dass das Restrukturierungsgericht in dem Bestellungsbeschluss auch klarstellt, auf welcher Grundlage es den Restrukturierungsbeauftragten eingesetzt hat1.

10.255

In allen Fällen hat der Bestellungsentscheidung die Anzeige des Schuldners gemäß § 31 StaRUG vorauszugehen. Denn nur auf diese Weise kann sich das Gericht über das Restrukturierungsvorhaben informieren und sich auf die angezeigte Restrukturierungssache vorbereiten. Der wesentliche Unterschied zwischen der obligatorischen und fakultativen Bestellung ist darin zu sehen, dass bei der Bestellung auf Antrag der Restrukturierungsbeauftragte eine vermittelnde Rolle einnehmen soll, ohne dass das Gesetz diese Aufgabe näher umschreibt.

10.256

b) Anforderungsprofil Die Anforderungen an die zu bestellende Person sind sowohl bei einer obligatorischen als auch bei einer fakultativen Bestellung identisch (§ 74 Abs. 1, § 78 Abs. 1 StaRUG). Das Gesetz orientiert sich an den Bestellungsvoraussetzungen des § 56 InsO. Als zu bestellende Person kommt ein für den jeweiligen Einzelfall geeigneter, in Restrukturierungs- und Insolvenzsachen erfahrener Steuerberater, Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwalt oder eine sonstige natürliche Person mit vergleichbarer Qualifikation in Betracht, die von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängig ist und die aus dem Kreis aller zur Übernahme des Amtes bereiten Personen auszuwählen ist. Indem nach dem eindeutigen Wortlaut des § 74 Abs. 1 Satz 1 StaRUG ausschließlich eine natürliche Person zum Restrukturierungsbeauftragten bestellt werden kann, scheidet eine juristische Person (z.B. GmbH oder AG) oder eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit für dieses Amt aus2. Danach steht dem Restrukturierungsgericht grundsätzlich unter Berücksichtigung der Vorschläge des Schuldners, der Gläubiger und der am Schuldner beteiligten Personen (§ 74 Abs. 2 Satz 1 StaRUG) die freie Auswahl des Restrukturierungsbeauftragten zu. Diese Regelung orientiert sich an § 56 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 InsO. Sie ist notwendig, um zu verhindern, dass das Restrukturierungsgericht reflexartig eine vorgeschlagene Person nicht bestellt. Im Übrigen stärkt sie gleichermaßen Schuldner- und Gläubigereinfluss.

10.257

c) Auswahl des Restrukturierungsbeauftragten Mit seiner Bestellungsentscheidung weist das Restrukturierungsgericht dem Restrukturierungsbeauftragten zahlreiche Aufgaben zu, die stark an die Pflichten und Aufgaben des Sachwalters angelehnt sind. Vor diesem Hintergrund ist insolvenzrechtliche Expertise der zu be1 Schulte-Kaubrügger/Dimassi, ZIP 2021, 936. 2 Die Europarechtskonformität dieser Beschränkung erscheint nicht unproblematisch. Zur Verfassungsgemäßheit der Regelung des § 56 InsO hat das BVerfG am 12.1.2016 (BVerfG v. 12.1.2016 – 1 BvR 3102/13, BVerfGE 142, 141 = ZIP 2016, 321 m. Anm. Römermann) entschieden, dass der Ausschluss juristischer Personen von der Bestellung zum Insolvenzverwalter durch § 56 Abs. 1 Satz 1 InsO weder gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) noch gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoße. Es ist nicht davon auszugehen, dass das BVerfG zur Vorschrift des § 74 Abs. 1 Satz 1 StaRUG eine abweichende Entscheidung träfe.

Vallender | 445

10.258

§ 10 Rz. 10.258 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

stellenden Person nicht nur erwünscht, sondern geradezu geboten1. Nur dann, wenn die Gerichte über ausreichende Informationen verfügen, die ihnen die Bestellung der für den jeweiligen Einzelfall geeigneten Person ermöglichen, dürfte dem Interesse sämtlicher Beteiligter an einem effizienten und nachhaltigen Sanierungsverfahren hinreichend Rechnung getragen werden. Flöther2 geht davon aus, dass die Gerichte vergleichbar mit der Praxis der Auswahl von Insolvenzverwaltern Listen mit in Frage kommenden Restrukturierungsbeauftragten führen werden. In der Anfangsphase werden sie im Zweifel auf die Personen zurückgreifen, deren Tätigkeit sie auf Grund einer Insolvenzverwalterbestellung beurteilen können – obwohl die Anforderungen an Restrukturierungsberater nicht mit denjenigen des Insolvenzverwalters deckungsgleich sind.

10.259

Es liegt auf der Hand, dass der Schuldner, aber vor allem die Stakeholder ein gesteigertes Interesse daran haben, welche Person zum Restrukturierungsbeauftragten bestellt wird. § 74 Abs. 2 Satz 2 StaRUG trägt dem insoweit Rechnung, als der Schuldner analog zu § 270d Abs. 2 Satz 2 InsO einen verbindlichen Vorschlag zur Person des Restrukturierungsbeauftragten unterbreiten kann, wenn er dem Gericht eine seine Restrukturierungsfähigkeit ausweisende Sanierungsbescheinigung vorlegt. Das Gericht kann von diesem Vorschlag nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person offenkundig ungeeignet ist. Auch ein Vorschlag aus dem planbetroffenen Gläubigerkreis mit mehr als 25 % der Stimmrechte in jeder planbetroffenen Gruppe hat grundsätzlich bindende Wirkung (§ 74 Abs. 2 Satz 3 StaRUG). Das Merkmal „offensichtlich“ statuiert eine Evidenzkontrolle des Gerichts. In Grenzfällen (non-liquet-Situationen) soll keine Abweichung vom Schuldnervorschlag möglich sein. So führt der Aspekt der Ortsnähe nicht zur offensichtlichen Ungeeignetheit3. Dahingegen legt eine vertiefte vorherige Befassung der vorgeschlagenen Person mit der Restrukturierungssache eine fehlende Unabhängigkeit und damit eine Ungeeignetheit nahe. Dies schließt insbesondere einen durch den Schuldner beauftragten Sanierungsberater, der das Unternehmen analysiert und ggf. einen Restrukturierungsplan erstellt hat oder beauftragt ist, diesen zu erstellen, als Restrukturierungsbeauftragten aus4.

10.260

Die Mitwirkung eines Gläubigerausschusses bei der Auswahl des Restrukturierungsbeauftragten im Zusammenhang mit der Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten sieht das Gesetz nicht vor. Für die Restrukturierungsgerichte bedeutet das Absehen von der Bestellung eines Gläubigerausschusses, die häufig konfliktbeladen ist, keine Entlastung, weil mit dem Gläubigerbeirat ein neues Gremium die Bühne betritt, dessen Mitglieder ebenfalls vom Gericht zu bestellen sind5. Hat das Gericht dieses Organ eingesetzt, tritt an die Stelle des gemeinschaftlichen Vorschlags der Planbetroffenen nach § 74 Abs. 2 Satz 3 StaRUG der einstimmige Beschluss des Gläubigerbeirats (§ 93 Abs. 2 StaRUG).

10.261

Eine Vortätigkeit des Restrukturierungsbeauftragten schließt seine Bestellung in einem späteren Insolvenzverfahren nicht aus. Die Neufassung des § 56 InsO (Art. 5 Nr. 13 SanInsFoG) knüpft die gerichtliche Anordnung allerdings an die Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. des Insolvenzgerichts. Auf diese Weise versucht das Gesetz das Spannungsfeld zwischen Nichtbestellung wegen möglicher Interessenkonflikte einerseits und Verfahrensökonomie andererseits zu überbrücken. 1 2 3 4 5

Vallender, NZI-Beilage 1/2021, 30, 32. Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48, 50. Vgl. Riggert in Braun, 8. Aufl. 2020, § 270b InsO Rz. 11. Vgl. Fiebig in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 7. Aufl. 2019, § 270b InsO Rz. 30. S. hierzu Rz. 10.350.

446 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.265 § 10

d) Aufgaben des Restrukturierungsbeauftragten Bei einer Bestellung von Amts wegen ergeben sich die Aufgaben und Befugnisse des Restrukturierungsbeauftragten aus § 76 StaRUG. Die dort erfolgte Zuweisung macht deutlich, dass er für einen angemessenen Ausgleich zwischen Schuldner- und Gläubigerinteressen zu sorgen hat. Dies spiegelt sich in der Regelung in § 75 Abs. 4 StaRUG wider, nach der er seine Aufgaben unparteiisch wahrzunehmen hat. Eine Verletzung dieser Pflicht hat unter Umständen Schadensersatzansprüche zur Folge (§ 75 Abs. 4 Satz 2 StaRUG).

10.262

Zu den wesentlichen Aufgaben des von Amts wegen bestellten Restrukturierungsbeauftragten zählt zum einen die Mitteilungspflicht gegenüber dem Gericht, wenn er Umstände feststellt, die eine Aufhebung der Restrukturierungssache nach § 33 StaRUG rechtfertigen. Zum anderen trifft ihn bei Anordnung einer Stabilisierungsanordnung eine Prüfungspflicht nach Maßgabe des § 76 Abs. 3 Nr. 1 StaRUG. Diese Aufgaben dienen der Unterstützung der Amtsermittlungspflicht des Gerichts gemäß § 39 Abs. 1 StaRUG1. Bei einem Antrag des Schuldners auf Planbestätigung hat der Restrukturierungsbeauftragte eine Pflicht zur Stellungnahme zur Erklärung des Schuldners hinsichtlich der Beseitigung der drohenden Zahlungsunfähigkeit und zur Sicher- und Wiederherstellung seiner Bestandsfähigkeit (§ 76 Abs. 4 StaRUG). Dabei soll er sich auch zu Zweifeln am Bestand oder an der Höhe der in den Restrukturierungsplan aufgenommenen Rechte oder einem Streit hierüber äußern.

10.263

Dient die Bestellung dem Minderheitenschutz, steht dem Restrukturierungsbeauftragten nach § 76 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG die Entscheidungskompetenz darüber zu, ob die Abstimmung über den Restrukturierungsplan außergerichtlich oder in einem gerichtlichen Verfahren zu erfolgen hat. Entscheidet er sich für die zweite Alternative, hat er, auch wenn § 45 Abs. 1 StaRUG nur ein Antragsrecht des Schuldners normiert, aus Klarstellungsgründen einen entsprechenden Antrag zu stellen. Bei einer Planabstimmung im außergerichtlichen Verfahren leitet der Restrukturierungsbeauftragte die Versammlung (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 StaRUG). Dem steht § 20 Abs. 3 StaRUG entgegen. Danach führt der Schuldner den Vorsitz der Versammlung. Zu rechtfertigen ist eine Verdrängung des Schuldners insbesondere vor dem Hintergrund der Regelung in § 73 Abs. 2 StaRUG. Wenn absehbar ist, dass das Restrukturierungsziel nur gegen den Willen von Inhabern von Restrukturierungsforderungen oder Absonderungsanwartschaften erreichbar ist, bedarf es möglicherweise der Autorität des vom Gericht bestellten Restrukturierungsbeauftragten als Versammlungsleiter, um die erforderlichen Mehrheiten nach § 25 StaRUG zu erreichen2.

10.264

Die Regelungen des § 76 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a, b und Nr. 3 StaRUG unterstreichen, dass das Restrukturierungsgericht das Profil des Restrukturierungsbeauftragten an dem des Sachwalters ausrichten kann3. So kann ihm das Gericht zusätzlich die Aufgabe übertragen, die wirtschaftliche Lage des Schuldners zu prüfen und dessen Geschäftsführung zu überwachen. Des Weiteren kann das Gericht ihm die Befugnis übertragen, dass eingehende Gelder nur von ihm entgegengenommen und Zahlungen auch nur von ihm geleistet werden können. Damit steht ihm das Kassenführungsrecht wie bei einer Eigenverwaltung (§ 275 Abs. 2 InsO) zu. Schließlich kann das Gericht dem Schuldner aufgeben, dem Restrukturierungsbeauftragten Zahlungen anzuzeigen und Zahlungen außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsbetriebs nur zu tätigen, wenn der Beauftragte zustimmt.

10.265

1 Smid, ZInsO 2020, 2184, 2190. 2 Vallender, ZInsO 2020, 2677, 2678. 3 Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48, 49.

Vallender | 447

§ 10 Rz. 10.266 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.266

Die Koordinations- und Moderationsaufgabe des Restrukturierungsbeauftragten findet ihren Niederschlag u.a. in dem Umstand, dass er bei einem Streit über das Stimmrecht auf eine Klärung im Wege einer Vorprüfung nach § 47 und § 48 StaRUG hinzuwirken hat (§ 76 Abs. 2 Nr. 1 a.E. StaRUG). Die in § 76 Abs. 1 StaRUG normierte Anzeigepflicht, die Bestellung nach Maßgabe des Abs. 2 der Vorschrift sowie die durch Gerichtsbeschluss zu übertragenden Aufgaben nach § 76 Abs. 2 und 3 StaRUG unterstreichen wiederum, dass das Verfahren nicht einseitig als Entschuldungsverfahren ausgestaltet ist, sondern die Interessen der Gläubiger einen hinreichenden Schutz auch durch die Person des Restrukturierungsbeauftragten erfahren sollen.

10.267

Ob auch der Restrukturierungsbeauftragte, der lediglich Prüfungen als Sachverständiger vorzunehmen hat (§ 73 Abs. 3 StaRUG) die allgemeinen Aufgaben des Restrukturierungsbeauftragten zu erfüllen hat, ist fraglich. Hiergegen lässt sich zunächst anführen, dass es insoweit an einem gerichtlichen Auftrag mangelt. Aus diesem Grunde trifft ihn keine Pflicht zur Mitteilung von Umständen, die eine Aufhebung der Restrukturierungssache rechtfertigen (§ 76 Abs. 1 StaRUG). Relevanz erlangt die Fragestellung ohnehin nur dann, wenn die nach § 73 Abs. 1 und nach § 73 Abs. 3 StaRUG bestellten Restrukturierungsbeauftragten personenverschieden sind.

10.268

Schulte/Kaubrügger/Dimassi1 bezweifeln, dass der Restrukturierungsbeauftragte die ihm übertragenen Aufgaben unter Berücksichtigung der Größe des schuldnerischen Unternehmens und des zur Verfügung stehenden Zeitkontingents vollumfänglich erfüllen kann. So müsse man sich schon bei der sich aus § 76 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a StaRUG ergebenden Aufgabe zur Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Schuldners und der Überwachung der Geschäftsführung vor Augen halten, dass die Aufgaben zwar dem Wortlaut nach mit den entsprechenden Aufgaben des Sachwalters vergleichbar sein mögen, dabei aber nicht bedacht wurde, dass der Zeitrahmen für die Prüfung und die Art der Einbindung des Restrukturierungsbeauftragten in den Restrukturierungsprozess oftmals nicht mit der Situation eines Sachwalters im Insolvenzverfahren vergleichbar sei. Es dürfte daher nicht zu bewerkstelligen sein, die Prüfungen mit der Tiefe, Intensität und Sorgfalt durchzuführen, wie sie ein Sachwalter im Insolvenzverfahren durchführen könnte und würde. Dasselbe gelte für eine Vielzahl weiterer Aufgaben des Restrukturierungsbeauftragten. Ob diese Befürchtung zutrifft, bleibt abzuwarten. Es unterliegt indes keinem Zweifel, dass sich der Restrukturierungsbeauftragte in größeren Verfahren aufwändigen tatsächlichen und rechtlichen Prüfungen ausgesetzt sieht, die – so zutreffend Schulte/Kaubrügger/Dimassi2 – von Schuldnerseite ggf. monatelang vor Anzeige des Restrukturierungsvorhabens vorbereitet werden und die der Restrukturierungsbeauftragte nur schwerlich binnen des regelmäßig kurzen Zeitraumes des gerichtlichen Restrukturierungsprozesses vornehmen kann.

e) Haftung des Restrukturierungsbeauftragten 10.269

Nach § 75 Abs. 4 Satz 2 StaRUG trifft den von Amts wegen bestellten Restrukturierungsbeauftragten eine Schadensersatzpflicht gegenüber den Betroffenen, wenn er die ihm obliegenden Pflichten in schuldhafter Weise verletzt. Da sich der Anwendungsbereich der Regelungen in § 75 StaRUG auf alle Bestellungsmodelle erstreckt3, sind Haftungsadressaten auch der fakultative und der nach § 74 Abs. 3 StaRUG bestellte weitere Restrukturierungsbeauftragte. Auf Schuldnerorgane findet die Vorschrift keine Anwendung. Insoweit gelten die eigenständigen Regelungen der § 33 und 43 StaRUG. 1 Schulte/Kaubrügger/Dimassi, ZIP 2021, 936, 941. 2 Schulte/Kaubrügger/Dimassi, ZIP 2021, 936, 941. 3 Hänel in Skauradszun/Fridgen, § 75 StaRUG Rz. 2.

448 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.272 § 10

Die Vorschrift des § 75 Abs. 4 Satz 2 StaRUG orientiert sich an § 60 InsO. Zu dem Kreis der Betroffenen zählen der Schuldner und die Gläubiger. Indem das Gesetz von Betroffenen und nicht Beteiligten wie bei § 60 InsO spricht, kann der Kreis der zum Schadensersatz Berechtigten größer sein als der Kreis der Gläubiger. Bezüglich des Verschuldens gilt mangels einer Sonderregel der allgemeine Maßstab des § 276 Abs. 1 BGB. Der Restrukturierungsbeauftragte hat grundsätzlich Vorsatz und – auch leichteste – Fahrlässigkeit zu vertreten. Anders als § 60 Abs. 1 InsO nimmt § 74 Abs. 1 StaRUG keine Konkretisierung des Haftungsmaßstabs in der Weise vor, dass für die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit eines Restrukturierungsbeauftragten einzustehen ist. Gleichwohl wird vor dem Hintergrund, dass er „seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit“ wahrzunehmen hat, von den Kenntnissen und Erfahrungen eines durchschnittlichen Restrukturierungsbeauftragten auszugehen sein. Im Übrigen hängt es von dem jeweiligen Einzelfall ab, welche konkreten Pflichten der Restrukturierungsbeauftragte zu erfüllen hat. Die gleichen Grundsätze finden auf Grund der Verweisung in § 78 Abs. 3 StaRUG auf die Vorschrift des § 75 StaRUG auf die Haftung des fakultativ bestellten Restrukturierungsbeauftragten Anwendung. Gerechtfertigt erscheint dies nur, wenn dem Restrukturierungsbeauftragten zusätzlich eine oder mehrere Aufgaben nach § 76 StaRUG zugewiesen werden. Der Schadensersatzanspruch verjährt nach den Regelungen über die regelmäßige Verjährung nach dem BGB. Eine verjährungsrechtliche Sonderregelung trifft § 75 Abs. 4 Satz 5 StaRUG. Danach verjährt der Anspruch spätestens in 3 Jahren nach der Beendigung der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache.

10.270

f) Entlassung aus dem Amt Nach § 75 Abs. 2 StaRUG, der auf den fakultativ Beauftragten entsprechende Anwendung findet (§ 78 Abs. 3 StaRUG), kann das Restrukturierungsgericht den Restrukturierungsbeauftragten aus wichtigem Grund aus dem Amt entlassen. Dabei dürften die gleichen Grundsätze wie bei einer Entlassung des Insolvenzverwalters gemäß § 59 InsO gelten. Die Pflichtwidrigkeit muss objektiv geeignet sein, das Vertrauen des Restrukturierungsgerichts in seine Amtsführung schwer und nachhaltig zu beeinträchtigen1; es muss sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Beauftragtenpflichten (§ 75 Abs. 4 Satz 1 und 2, § 76 StaRUG) handeln2. Die Entlassung erfolgt entweder von Amts wegen oder auf Antrag von Beteiligten. Dabei ist die Antragsbefugnis von Schuldner und Gläubiger darauf beschränkt, dass der Beauftragte nicht unabhängig ist. Ihr Antrag ist nur zulässig, wenn sie die fehlende Unabhängigkeit glaubhaft machen (§ 38 Satz 1 StaRUG i.V.m. § 294 ZPO). Auch der Restrukturierungsbeauftragte ist antragsbefugt.

10.271

g) Gerichtskosten und Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten Für die Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten fällt eine Gerichtsgebühr in Höhe von 500 Euro an. Mit dieser Gebühr sind sämtliche Tätigkeiten des Gerichts im Zusammenhang mit der Bestellung, insbesondere auch die Aufsicht über den Restrukturierungsbeauftragten abgegolten (§ 34 GKG, Nr. 2513 KV). Die Bestellung eines fakultativen Restrukturierungsbeauftragten (§ 77 StaRUG) soll erst nach Zahlung der Gerichtsgebühr für die Bestellung und eines Vorschusses auf die Auslagen (§ 81 Abs. 5 Satz 1 StaRUG) erfolgen. Bei einer Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten von Amts wegen (§ 73 StaRUG) soll das Gericht auch über jeden Antrag des Schuldners auf Inanspruchnahme des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens erst nach Zahlung der Gerichtsgebühr für die Bestellung entscheiden (§ 81 Abs. 5 Satz 2 StaRUG). 1 BGH v. 19.1.2012 – IX ZB 21/11, ZIP 2012, 583 Rz. 10. 2 Vgl. Vallender/Zipperer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 59 InsO Rz. 8.

Vallender | 449

10.272

§ 10 Rz. 10.273 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.273

Grundsätzlich hat das Restrukturierungsgericht die Vergütung des von Amts wegen und des auf Antrag bestellten Restrukturierungsbeauftragten nach denselben Vorschriften nach Beendigung des Amts durch Beschluss festzusetzen (§§ 80 ff., § 82 Abs. 1 StaRUG). Anders als dies §§ 63, 65 InsO vorsehen, erfolgt die konkrete Ausgestaltung der Vergütung nicht auf der Grundlage einer Ermächtigung, sondern im Gesetz selbst. Ein weiteres Novum ist die Festsetzung der Regelvergütung auf der Grundlage angemessener Stundensätze. Ob dies sachgerecht ist, erscheint fraglich. Denn die Aufgaben des Restrukturierungsbeauftragten bei obligatorischer Bestellung sind denen des Sachwalters im Insolvenzverfahren angenähert. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache einer unbeschränkten Haftung gegenüber allen Betroffenen erscheint die Vergütung nach einem Stundensatz „systemwidrig“1. Dies gilt umso mehr, als sich der Sanierungsmoderator trotz deutlich reduzierten Aufgabenprofils und damit einhergehenden geringeren Haftungsrisiken nach § 98 Abs. 2 StaRUG im gleichen Vergütungsrahmen wie der Restrukturierungsbeauftragte bewegt2.

10.274

Der Stundensatz ist bereits mit der Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten durch das Restrukturierungsgericht festzusetzen (§ 81 Abs. 4 Satz 1 StaRUG). Nach § 80 Satz 2 StaRUG sind Vereinbarungen über die Vergütung nur dann wirksam, soweit diese nicht die in § 83 Abs. 2 StaRUG vorgeschriebene Grenze der Angemessenheit überschreitet. § 83 StaRUG erlaubt unter den dort genannten Voraussetzungen die Festsetzung eines höheren Stundensatzes als 350 Euro3. In den Fällen des Abs. 2 ist das Gericht bei seiner Vergütungsfestsetzung an die getroffene Vereinbarung gebunden4, es sei denn, sie führt zu einer unangemessenen Vergütung.

10.275

Für die Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten hat in den meisten Fällen der Schuldner einzustehen5. Dies folgt aus § 25a Abs. 1 GKG. Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, dass unmittelbare Zahlungen an den Restrukturierungsbeauftragten aus der Staatskasse erfolgen. Die Überleitung der Kosten auf die Beteiligten, insbesondere den Schuldner, erfolgt in einem zweiten Schritt, indem sie den nach Nr. 9017 KV zum GKG im Rahmen der Gerichtskosten zu erstattenden Auslagen zugeordnet werden.

10.276

§ 82 Abs. 3 StaRUG sieht das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegen die Vergütungsentscheidungen (§ 81 Abs. 4, § 6 Satz 2 und § 82 Abs. 1 StaRUG) des Restrukturierungsgerichts vor. Beschwerdeberechtigt sind der Restrukturierungsbeauftragte sowie die Auslagenschuldner nach Maßgabe des § 89 Abs. 2 StaRUG.

10.277–10.290 Einstweilen frei.

8. Sanierungsmoderation 10.291

Unabhängig vom Restrukturierungs- und Stabilisierungsrahmen und dessen Instrumenten soll dem Schuldner unter dem StaRUG zusätzlich die Möglichkeit eröffnet werden, im Fall von wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten freiwillige Unterstützung bei der Ausarbeitung einer Lösung zur Überwindung der angespannten Lage zu erhalten. Hierfür dient der gerichtlich bestellte Sanierungsmoderator, der als Sachkundiger in Sanierungs- und Re1 Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48, 51. 2 Flöther, NZI-Beilage 1/2021, 48, 51 f. 3 Morgen, InDat-Report, Ausgabe 9/2020, S. 13, 30, hält den Betrag bei komplexen Restrukturierungen für nicht ausreichend. 4 Befürwortend Blersch, NZI-Beilage 1/2019, 77, 79. Zimmer, ZInsO 2020, 2117, 2129 f. und Thole, ZRI 2020, 293 halten sie dagegen für unzulässig. 5 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 176.

450 | Vallender und Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.293 § 10

strukturierungsfragen in Anspruch genommen werden kann1. Insofern kleine Unternehmen sich eine Beratung wie auch Unterstützung durch einen professionellen Sanierungsberater nicht leisten können, um eine freie Sanierung herbeizuführen, ist für diese eine Sanierungsmoderation geeignet. Jedoch ist ein Sanierungsmoderator auch für jeglichen anderen Schuldner interessant, um eine neutrale Vermittlungsperson einbeziehen zu können oder als Folgeschritt auf eine Sanierungsmoderation Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen zu können2. Die Sanierungsmoderation ist auf einen konsensualen Vergleich ausgerichtet.

a) Antrag des Schuldners auf Bestellung eines Sanierungsmoderators (§ 94 StaRUG) Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 StaRUG bestellt das Gericht auf Antrag eines restrukturierungsfähigen Schuldners eine geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zum Sanierungsmoderator. Die Regelung gleicht damit denjenigen für den Insolvenzverwalter und Sachwalter in § 56 Abs. 1, § 274 Abs. 1 InsO, wobei der Sanierungsmoderator aber nicht zwingend bei Gericht als zur Übernahme des Amtes grundsätzlich zulässig gelistet sein muss. Insoweit erfolgt die Bestellung auch ohne ausdrücklich geregelte Vorschlagsrechte und Bindungen des Gerichts. Das ist gerade mit Blick auf die kleineren Unternehmen und Kleinstunternehmen zu begrüßen, sollte aber nicht dazu führen, dass der vom Gericht eingesetzte Sanierungsmoderator automatisch auch Restrukturierungsbeauftragter wird (dazu Rz. 10.299)3. Zum Schutz der Gläubiger und zur Vermeidung von Insolvenzverschleppungen soll die Inanspruchnahme einer Sanierungsmoderation solange möglich sein, wie der Schuldner nicht zahlungsfähig oder, falls es sich bei diesem um einen haftungsbeschränkten Rechtsträger handelt, keine offensichtliche Überschuldung eingetreten ist, § 94 Abs. 1 Satz 2 und 3 StaRUG. Dem Antrag, der an das Restrukturierungsgericht zu richten ist, sind der Gegenstand des Unternehmens und die Art der wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten sowie ein Gläubiger- und Vermögensverzeichnis als Mindestinformationen für das Gericht beizufügen. Handelt es sich beim Schuldner um eine juristische Person oder eine Person ohne Rechtspersönlichkeit, für deren Verbindlichkeiten keine natürliche Person als unmittelbarer oder mittelbarer Gesellschafter haftet, hat sich die Erklärung auch darauf zu erstrecken, dass keine Überschuldung vorliegt, § 94 Abs. 2 und 3 StaRUG.

10.292

b) Bestellung (§ 95 StaRUG) Der Sanierungsmoderator wird zunächst für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten bestellt, § 95 Abs. 1 Satz 1 StaRUG, um Ineffizienzen, Missbrauch oder auch Insolvenzverschleppungen zu vermeiden4. Auf Antrag des Moderators, welcher der Zustimmung des Schuldners und der in die Verhandlungen einbezogenen Gläubiger bedarf, kann der Bestellungszeitraum jedoch um bis zu drei weitere Monate verlängert werden, § 95 Abs. 1 Satz 2 StaRUG. Wird innerhalb dieses Zeitraums die Bestätigung eines Sanierungsvergleichs nach § 97 StaRUG beantragt, verlängert sich die Bestellung bis zur Entscheidung über die Bestätigung des Vergleichs, § 95 Abs. 1 Satz 3 StaRUG. So soll verhindert werden, dass die Sanierung kurzfristig wegen des Ausscheidens des Moderators als wichtiger Bezugsperson scheitert5. Um die Vertraulich1 2 3 4 5

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 183. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 183. Thole, ZIP 2020, 1985, 2000. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 183. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 183.

Schluck-Amend | 451

10.293

§ 10 Rz. 10.293 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

keit der Sanierungsmoderation zu wahren und damit deren Erfolgschancen zu erhöhen, wird die Bestellung eines Sanierungsmoderators nach § 95 Abs. 2 StaRUG nicht öffentlich bekannt gemacht. Dies soll ferner dem Reputationsschutz des Schuldners dienen, da ein Moderator gegebenenfalls weit im Voraus einer möglichen Insolvenz in Anspruch genommen werden kann1. Aufgrund der fehlenden Öffentlichkeit stellt die Sanierungsmoderation auch kein Verfahren im Sinne der EuInsVO dar, was aber auch nicht erforderlich ist, da es hier um die Ermöglichung einer konsensualen Vergleichslösung geht2.

c) Aufgabe der Sanierungsmoderation (§ 96 StaRUG) 10.294

Nach § 96 Abs. 1 StaRUG hat der Sanierungsmoderator die Aufgabe, zwischen dem Schuldner und seinen Gläubigern bei der Herbeiführung einer Lösung zur Überwindung der wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten zu vermitteln. Anders als im Stabilisierungsund Restrukturierungsrahmen können keine Zwangswirkungen gegen die beteiligten Gläubiger erwirkt werden3. Damit der Moderator seiner Aufgabe nachkommen kann, hat der Schuldner diesem – wie auch einem (vorläufigen) Insolvenzverwalter oder einem Sachwalter nach § 22 Abs. 3 Satz 2, §§ 97, 274 Abs. 2 Satz 3 InsO – einen Einblick in seine Bücher und Geschäftsunterlagen zu gewähren und ihm die angeforderten zweckmäßigen Auskünfte zu erteilen, § 96 Abs. 2 StaRUG. Nur so kann sich der Moderator ein Bild über die wirtschaftliche oder finanzielle Lage des Schuldners machen und dessen Angaben überprüfen. Um Ineffizienzen, die Gefahr von Missbrauch oder Insolvenzverschleppungen möglichst gering zu halten, hat der Sanierungsmoderator dem ihn bestellenden Restrukturierungsgericht monatlich schriftlichen Bericht über Fortgang und Fortschritte der Sanierungsmoderation zu erstatten, § 96 Abs. 3 StaRUG. Zudem legt der Sanierungsmoderator dadurch gegenüber dem ihn bestellenden Gericht Rechenschaft über seine Arbeit ab4. Ist der Schuldner zahlungsunfähig oder – im Fall der haftungsbeschränkten Verfassung des Schuldners – überschuldet, so zeigt der Moderator dies dem Gericht an, sobald er Kenntnis davon erlangt, § 96 Abs. 4 StaRUG.

10.295

Gemäß § 75 Abs. 1 Satz 1 StaRUG steht der Restrukturierungsbeauftrage unter der Aufsicht des Restrukturierungsgerichts, so auch der Sanierungsmoderator nach § 96 Abs. 5 Satz 1 StaRUG. Die Aufsicht des Gerichts ist in der Hinsicht beim Sanierungsmoderator beschränkt, dass lediglich die Einhaltung der Berufspflicht nach Abs. 3 unter dessen Aufsicht steht. Dies umfasst neben der Einhaltung der monatlichen Fristen die Prüfung der Berichte des Sanierungsmoderators, vor allem hinsichtlich der Punkte nach § 96 Abs. 3 Satz 2 StaRUG. Inhaltlich sind die Berichte nur auf offensichtliche Fehlerhaftigkeit oder dem Ausgehen von offensichtlich falschen Annahmen zu überprüfen. Das Gericht bestätigt durch die Prüfung nicht deren Richtigkeit5. Erfüllt der Sanierungsmoderator seine Berichtspflicht nicht oder offensichtlich unzureichend, kann er vom Gericht aus wichtigem Grund entlassen werden; vor der Entscheidung ist der Sanierungsmoderator zu hören, § 96 Abs. 5 Satz 2 und 3 StaRUG.

d) Bestätigung eines Sanierungsvergleichs (§ 97 StaRUG) 10.296

Die Regelung des § 97 Abs. 1 StaRUG eröffnet für den Schuldner die Möglichkeit, einen mit seinen Gläubigern geschlossenen Vergleich, an dem sich auch Dritte beteiligen können, ge1 2 3 4 5

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 184. Thole, ZIP 2020, 1985, 2000. Desch, BB 2020, 2498, 2511; Müller, ZIP 2020, 2253, 2254. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 184. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 184.

452 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.299 § 10

richtlich bestätigen zu lassen. Das Gericht kann die Bestätigung nur ablehnen, wenn das dem Vergleich zugrunde liegende Sanierungskonzept (1.) nicht schlüssig ist oder nicht von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgeht oder (2.) keine vernünftige Aussicht auf Erfolg hat, § 97 Abs. 1 Satz 2 StaRUG. Zum Vorliegen der begrenzten Voraussetzungen nimmt der Moderator gegenüber dem Gericht nach § 97 Abs. 2 StaRUG sachverständlich Stellung. Bei einer gerichtlichen Bestätigung des Vergleichs ist dieser nur noch unter den Voraussetzungen des § 90 StaRUG (Rz. 10.326) anfechtbar. Der Sanierungsvergleich ist kein Prozessvergleich i.S. des § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO1.

e) Vergütung (§ 98 StaRUG) Der Sanierungsmoderator hat nach § 98 Abs. 1 StaRUG Anspruch auf eine angemessene Vergütung, die sich nach dem Zeit- und Sachaufwand der mit der Sanierungsmoderation verbundenen Aufgaben richtet. Damit folgt die Vergütung des Sanierungsmoderators den Grundsätzen, nach denen auch die Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten bemessen wird. Die §§ 80–83 StaRUG finden insoweit entsprechende Anwendung, § 98 Abs. 2 StaRUG. Grundsätzlich soll die Vergütung also stundensatzbasiert erfolgen. Im Einverständnis mit dem Schuldner und dem Sanierungsmoderator sind aber auch andere Vergütungsmodelle zulässig (Rz. 10.273 ff.).

10.297

f) Abberufung (§ 99 StaRUG) Der Sanierungsmoderator wird nach § 99 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG auf eigenen Antrag oder auf Antrag des Schuldners abberufen. Da der Moderator nur auf Antrag des Schuldners bestellt wird, soll er auch grundsätzlich nur auf eigenen Antrag oder auf Antrag des Schuldners abberufen werden, z.B. wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Schuldner und Moderator zerstört ist2. Der Antrag ist nicht begründungsbedürftig. Nach § 99 Abs. 2 StaRUG bestellt das Gericht in diesem Fall auf Antrag des Schuldners einen anderen Moderator. Darüber hinaus ist der Moderator nach § 99 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG von Amts wegen durch das Gericht abzuberufen, wenn dem Restrukturierungsgericht durch den Moderator die Insolvenzreife des Schuldners angezeigt wurde. Denn in diesem Fall ist eine Sanierungsmoderation zum Schutz der Interessen der Gläubigergesamtheit nicht mehr angebracht.

10.298

g) Übergang in den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen (§ 100 StaRUG) Den Übergang von der Sanierungsmoderation in den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen regelt § 100 StaRUG. Nimmt der Schuldner Instrumente des Stabilisierungsund Restrukturierungsrahmens in Anspruch, bleibt der Sanierungsmoderator im Amt, bis der Bestellungszeitraum abläuft, er nach § 99 StaRUG abberufen wird oder ein Restrukturierungsbeauftragter bestellt wird, § 100 Abs. 1 StaRUG. Dabei ist zu beachten, dass das Gericht auch den Sanierungsmoderator zum Restrukturierungsbeauftragten bestellen kann, § 100 Abs. 2 StaRUG3. Das kommt insbesondere dann in Betracht, wenn auf Antrag des Schuldners oder

1 Thole, ZIP 2020, 1985, 2000. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 185. 3 Jung/Meißner/Ruch, KSI 2020, 253, 257 plädierten aufgrund der unterschiedlichen Aufgabenkreise von Sanierungsmoderatoren und Restrukturierungsbeauftragten und der Notwendigkeit der Unabhängigkeit beider Personen von Schuldner und Gläubigern für eine Streichung der Regelung.

Schluck-Amend | 453

10.299

§ 10 Rz. 10.299 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

eines Gläubigers ein fakultativer Beauftragter mit unterstützenden Aufgaben nach § 79 StaRUG bestellt werden soll1.

10.300–10.310 Einstweilen frei.

VI. Restrukturierungsforum 10.311

Das neu geschaffene Restrukturierungsforum im Bundesanzeiger soll Kommunikation zwischen den Planbetroffenen ermöglichen und dem Schuldner Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Nach § 87 Abs. 1 StaRUG können Planbetroffene im Restrukturierungsforum andere Planbetroffene dazu auffordern, das Stimmrecht im Rahmen einer Planabstimmung in bestimmter Weise auszuüben, eine Stimmrechtsvollmacht zu erteilen oder einen Vorschlag zur Änderung des vorgelegten Restrukturierungsplans zu unterstützen. § 87 Abs. 2 StaRUG schreibt die entsprechenden Angaben, die in der Aufforderung enthalten sein müssen, vor. Die Vorschrift soll es Planbetroffenen, insbesondere auch solchen mit kleinen Stimmrechten, ermöglichen, im Vorfeld der Planabstimmung in Kontakt zu kommen, sich zu organisieren und sich auf eine gemeinsame Abstimmungsstrategie oder auf Änderungsvorschläge zum Restrukturierungsplan zu verständigen2. § 87 Abs. 5 StaRUG enthält eine entsprechende Verordnungsermächtigung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz zur Ausgestaltung des Restrukturierungsforums und weiteren Einzelheiten.

10.312

Nach § 87 Abs. 3 StaRUG kann der Auffordernde auf eine Begründung auf seiner Internetseite und deren elektronische Adresse hinweisen, um die Kontaktaufnahme zu erleichtern3. Der Schuldner kann im Restrukturierungsforum auf seine Stellungnahme zu der Aufforderung auf seiner Internetseite hinweisen, um sicher zu stellen, dass die anderen Planbetroffenen auch hiervon Kenntnis nehmen4.

10.313–10.320 Einstweilen frei.

VII. Anfechtungs- und Haftungsrecht 10.321

Das fünfte Kapitel des StaRUG regelt die unionsrechtlichen Vorgaben der Art. 17, 18 RL (EU) 2019/1023 zum Anfechtungs- und Haftungsrecht. Der deutsche Gesetzgeber hat angesichts der vagen Vorgaben nur sehr zurückhaltend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, neue Regelungen einzuführen. Die Mindestvorgaben der Richtlinie bestehen im Wesentlichen darin, dass keine Benachteiligung der Gesamtheit der Gläubiger an die Einleitung des Restrukturierungsverfahrens geknüpft werden darf. Der deutsche Gesetzgeber sieht die Vorschriften zu ganz maßgeblichen Teilen durch das Insolvenzanfechtungsrecht der §§ 129 ff. InsO abgedeckt5.

1 2 3 4 5

Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 185. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 180. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 180. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 180. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 181.

454 | Schluck-Amend

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.325 § 10

1. Anfechtungsrecht Nach § 89 Abs. 1 StaRUG kann ein sittenwidriger Beitrag zur Insolvenzverschleppung oder eine Rechtshandlung, die mit dem Vorsatz einer Benachteiligung der Gläubiger vorgenommen wurde, nicht deshalb angenommen werden, weil die Rechtssache rechtshängig war oder der Schuldner Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch genommen hat. Die Gläubigerbenachteiligung ist das zentrale Element des Anfechtungsrechts (§ 129 Abs. 1 InsO, § 1 Abs. 1 AnfG)1. Es soll verhindert werden, dass Vertragspartner aus Angst vor anfechtungsrechtlichen Folgen von einem weiteren Kontrahieren mit dem Schuldner während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache absehen.

10.322

§ 89 Abs. 2 StaRUG erweitert den Anfechtungsschutz auf solche Fälle, in denen der Gläubiger Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung des Schuldners hat2. Voraussetzung ist, dass der Schuldner den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung nach §§ 17, 19 InsO beim Restrukturierungsgericht angezeigt hat und das Gericht das StaRUGVerfahren nicht aufhebt. Es wäre widersprüchlich, wenn das Gericht das Verfahren nicht aufhebt, weil dies im Interesse der Gesamtheit der Gläubiger liegt, dann aber eine Gläubigerbenachteiligung an die Kenntnis der Insolvenzantragsgründe geknüpft würde3.

10.323

2. Haftungsrecht § 89 Abs. 1 StaRUG enthält eine haftungsrechtliche Privilegierung. Danach wird die Annahme eines Beitrags zur sittenwidrigen Insolvenzverschleppung basierend auf der Kenntnis der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder der Inanspruchnahme von deren Instrumenten ausgeschlossen. Ohne diese Regelung wäre insbesondere eine neue Finanzierung durch Banken problematisch.

10.324

Eine weitere haftungsrechtliche Privilegierung betrifft Zahlungen nach Eintritt der obligatorischen Insolvenzantragsgründe. Nach Anzeige der Restrukturierungssache wandelt sich die Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO in eine Insolvenzanzeigepflicht nach § 32 Abs. 3 StaRUG. Die Geschäftsleitung des Schuldners müsste aber befürchten, für Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife nach § 15b Abs. 1 InsO zu haften. § 89 Abs. 3 Satz 1 StaRUG stellt klar, dass bis zur Aufhebung der Restrukturierungssache jegliche Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang, insbesondere die, die für die Fortführung der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und die Vorbereitung und Umsetzung des anzeigten Restrukturierungsrahmens erforderlich sind, mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters im Sinne von § 15 Abs. 2 InsO vereinbar sind. Eine Rückausnahme gilt für bis zur Entscheidung des Restrukturierungsgerichts nach § 33 Abs. 2 StaRUG aufschiebbare Zahlungen. Die Geschäftsleitung trifft eine eingeschränkte Massesicherungspflicht. Jede Zahlung muss einen Bezug zur gewöhnlichen Geschäftstätigkeit oder der Restrukturierungssache haben. Ein Zuwarten muss mit größeren Nachteilen verbunden sein als die Auszahlung. Die Regel-Ausnahme-Technik zeigt, dass eine widerlegliche Vermutung zugunsten der Geschäftsleitung eingreift.

10.325

1 Dazu Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 159 ff.; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 76 ff. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 181. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 182.

Schluck-Amend | 455

§ 10 Rz. 10.326 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

3. Planfolgen und Planvollzug 10.326

Die Regelung des § 90 StaRUG formuliert den Gedanken des sog. „safe harbours“ für die Umsetzung des Restrukturierungsplans. Die Planbetroffenen sollen von der Stabilität des Plans ausgehen dürfen. Hinsichtlich der Planfolgen und des Planvollzugs gewährt die gerichtliche Bestätigung daher weitere Privilegien gegenüber der freien Sanierung. Handlungen zum Vollzug des Plans sind solche, die die Umsetzung des Plans ermöglichen. Beispielhaft wäre die Valutierung eines Darlehens privilegiert, nicht aber dessen Rückführung1. Ausgenommen sind Gesellschafterdarlehen i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO sowie nach § 135 InsO/§ 6 AnfG anfechtbare Handlungen. Der „safe harbour“ gilt allerdings nur für Rechtshandlungen eines rechtskräftig bestätigten Restrukturierungsplans und unterminiert dadurch den zeitlichen Gewinn des § 67 Abs. 1 StaRUG, wonach die im gestaltenden Teil des Plans festgelegten Wirkungen bereits mit dem gerichtlichen Bestätigungsbeschluss eintreten. Besondere Vorsicht lässt § 90 Abs. 2 StaRUG bei Übertragungen des gesamten schuldnerischen Vermögens oder wesentlicher Teile davon walten. Diese Fälle betreffen die Interessen auch der nicht planbetroffenen Gläubiger in besonderem Maße. Daher greift der „safe harbour“ in diesen Fällen nur, wenn sich die nicht planbetroffenen Gläubiger gegenüber den Planbetroffenen vorrangig aus dem Erlös befriedigen können.

4. Fristenberechnung 10.327

Nach § 91 StaRUG verlängern sich die Anfechtungszeiträume nach dem Anfechtungsgesetz und der Insolvenzordnung. Bei den Fristen der §§ 3–6a AnfG sowie bei den §§ 88, 130–136 InsO wird die Zeit der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache nicht eingerechnet. Dies soll eine Schlechterstellung der Gläubigergesamtheit eines späteren Insolvenzverfahrens allein aufgrund der Dauer der Restrukturierung ausschließen2.

10.328–10.340 Einstweilen frei.

VIII. Der Gläubigerbeirat (§ 93 StaRUG) 10.341

Da es sich bei den Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens – anders als beim Insolvenzverfahren – nicht um ein Gesamtverfahren handelt, sah der Regierungsentwurf zum StaRUG keine Einsetzung eines Gläubigerausschusses zur Vertretung der Interessen der Gläubigergesamtheit und zur verfahrensnahen Beteiligung der Gläubiger vor. Tatsächlich wäre eine verfahrensmäßige Vertretung der gesamten Gläubigerschaft im Verfahren nach dem StaRUG vor dem Hintergrund, dass die Forderungen bestimmter Gläubiger, wie insbesondere der Arbeitnehmer, von vornherein und umfassend vor Eingriffen geschützt sind, nicht zwingend geboten. Gleichwohl hat der Gesetzgeber kurz vor Verabschiedung des StaRUG auf Grund des Berichtes des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz3 die Einsetzung eines Gläubigerbeirates gemäß § 93 StaRUG für erforderlich gehalten. Dabei hatte er den Ausnahmefall bewertet, dass der Schuldner mit Ausnahme der nach § 4 StaRUG ausgenommenen Gläubiger von allen Gläubigern Sanierungsbeiträge einfordert. In diesen Fällen – so die Argumentation des Ausschusses – könne das Verfahren aus Sicht der Gläubigerschaft Züge aufweisen, die einem (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren ähneln. Bei einer inho1 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 182. 2 Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 183. 3 BT-Drucks. 19/25353, S. 10.

456 | Schluck-Amend und Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.345 § 10

mogenen Gläubigerschaft könne der Verfahrensanlass ähnliche Bedürfnisse nach einer Koordinierung der unterschiedlichen Interessen und Betroffenheiten entstehen lassen, wie sie im Insolvenzverfahren bestehen1. Mit der Regelung des § 93 StaRUG soll ein rechtliches Gefälle zum Insolvenzverfahren und eine Beschneidung der Teilhaberechte verhindert werden2.

1. Voraussetzungen für die Einsetzung eines Gläubigerbeirats Weist das Restrukturierungsverfahren gesamtverfahrensrechtliche Züge auf, kann das Gericht einen Gläubigerbeirat (§ 93 StaRUG) einsetzen. Diese liegen nur vor, wenn eine Vielzahl von Gläubigern mit inhomogenen Interessen vertreten ist3. Daran fehlt es, wenn sich die Gläubigerschaft ausschließlich aus wenigen Gläubigern mit vergleichbaren Interessen zusammensetzt. Ausgenommen sind die einem Restrukturierungsplan nicht zugänglichen Forderungen aus § 4 StaRUG. In jedem Fall müssen die Forderungen sämtlicher Gläubiger in dem Verfahren einbezogen sein. Kenntnis über die Gläubigerstruktur und die Anzahl der Gläubiger erlangt das Gericht auf Grund der dem Restrukturierungsplan beigefügten Vermögensübersicht (§ 14 Abs. 2 StaRUG). Dem Schuldner steht es frei, bereits mit der Restrukturierungsanzeige gemäß § 31 StaRUG, ohne die eine gerichtliche Entscheidung nicht ergehen kann, eine Gläubigerliste unter Hinweis auf die Planbetroffenen einzureichen. Dadurch wird dem Gericht bereits zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit eröffnet, Vorbereitungen für die Bestellung des Gläubigerbeirats zu treffen. Dieser sollte möglichst frühzeitig eingesetzt werden, weil auf diese Weise eine Mitwirkung und ein Einfluss dieses Organs bei der Bestellung eines Restrukturierungsbeauftragten gewährleistet ist (§ 93 Abs. 2, § 74 Abs. 2 Satz 3 StaRUG).

10.342

2. Bestellungsentscheidung Ob das Restrukturierungsgericht bei Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen einen Gläubigerbeirat bestellt, unterliegt seinem pflichtgemäßen Ermessen („kann“). Bei seiner Entscheidung wird es zu berücksichtigen haben, dass die Einbindung externen Sachverstands in Gestalt eines Gläubigerbeirats das Erreichen des Sanierungsziels fördern kann. Dies gilt insbesondere in Fällen einer Betriebsänderung bzw. eines Betriebsübergangs. Auch wenn das kollektive Arbeitsrecht vom Restrukturierungsverfahren nicht berührt werden darf, bedarf es gleichwohl der Einbindung von Arbeitnehmer- oder Gewerkschaftsvertreter in die Restrukturierungssache4.

10.343

Der Gesetzgeber hat davon abgesehen, spezielle Verfahrensbestimmungen zu normieren. Eines Antrags eines Beteiligten auf Bestellung eines Gläubigerbeirats bedarf es nicht. Vielmehr hat das Gericht nach Prüfung der Voraussetzungen von Amts wegen seine Entscheidung zu treffen. Gläubigern und dem Schuldner steht es indes frei, die Bestellung eines Gläubigerbeirats anzuregen und Vorschläge für die Zusammensetzung dieses Organs zu unterbreiten.

10.344

3. Zusammensetzung des Beirats und Stellung der Beiratsmitglieder Durch den Verweis in § 93 Abs. 1 Satz 2 StaRUG auf die Vorschrift des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO, der die Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses im Insolvenzverfahren regelt, findet auf die Zusammensetzung des Gläubigerbeirats auch die Vorschrift 1 2 3 4

BT-Drucks. 10/25353, S. 10. Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 57. BT-Drucks. 19/25353, S. 10. Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 57, 58.

Vallender | 457

10.345

§ 10 Rz. 10.345 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

des § 67 InsO entsprechende Anwendung. Nach dessen Abs. 2 Satz 1 sollen die absonderungsberichtigten Gläubiger, die Gläubiger mit den höchsten Forderungen und die Kleingläubiger sowie ein Vertreter der Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Zwingend ist diese Vorgabe nicht1. § 67 Abs. 2 Satz 2 InsO stellt ausdrücklich klar, dass im Beirat auch nicht planbetroffene Gläubiger vertreten sein können. Ahrens2 verweist zutreffend darauf, dass Arbeitnehmer unausweichlich zu benennen seien, soweit sich die Sanierung auf Arbeitsverhältnisse auswirken könne. Daraus folgt aber nicht, dass auch Gewerkschaftsvertreter als Mitglieder berufen werden müssen3.

10.346

Weder als Gläubiger noch als außenstehender Dritter ist eine Person verpflichtet, das Amt anzunehmen. Niemand kann gezwungen werden, Mitglied des Gläubigerbeirats zu werden. Das Amt des Gläubigerbeiratsmitglieds beginnt mit der Annahme des Amtes. Die dadurch einsetzende Mitgliedschaft stellt ein höchstpersönliches Amt dar. Bei der Ausübung des Amtes unterliegt das Mitglied des Gläubigerbeirats den gleichen Beschränkungen wie ein Mitglied im Gläubigerausschuss. Dies gilt insbesondere für die zu wahrende Vertraulichkeit4. Das Amt des Gläubigerbeiratsmitglieds endet mit der Entlassung aus wichtigem Grund und der Beendigung des Restrukturierungsverfahrens, sei es nach Maßgabe des § 31 Abs. 4 StaRUG oder durch Aufhebung der Restrukturierungssache gemäß § 33 StaRUG.

10.347

Durch die Verweisung in § 21 Abs. 1 Nr. 1a InsO auf die Regelungen zum Gläubigerausschuss findet auch § 70 InsO entsprechende Anwendung. Danach kann ein Mitglied des Gläubigerbeirats aus wichtigem Grund aus dem Amt entlassen werden. Die Entlassung durch das Restrukturierungsgericht kann von Amts wegen oder auf Antrag eines Mitglieds des Gläubigerbeirats erfolgen. Nicht im Beirat vertretenen Beteiligten steht kein Antragsrecht zu. Allerdings haben diese Personen die Möglichkeit, das Gericht über etwaige Pflichtverletzungen zu informieren und auf diese Weise eine Entlassung von Amts wegen zu erreichen. Da im Restrukturierungsverfahren eine Gläubigerversammlung nicht existiert, beschränkt sich aus verfahrensökonomischen Gründen das Antragsrecht anders als bei § 70 InsO allein auf die Beiratsmitglieder5. Für die Haftung gilt § 71 InsO entsprechend. Die Haftung gegenüber den absonderungsberechtigten Gläubigern und den Gläubigern (s. § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StaRUG) setzt eine schuldhafte Verletzung der in § 93 Abs. 3 Satz 1 StaRUG normierten Pflichten voraus. Ob angesichts des Haftungsrisikos die Bereitschaft besteht, im Gläubigerbeirat mitzuwirken, bleibt abzuwarten. Für die Beschlussfassung des Beirats gilt § 72 InsO entsprechend.

4. Aufgabenkreis 10.348

Die wesentliche Aufgabe des Gläubigerbeirats besteht darin, den Schuldner bei seiner Geschäftsführung zu unterstützen und zu überwachen. Dabei handelt es sich um aktive Mitwirkungspflichten. Dies bedeutet, dass wesentliche Entscheidungen und Maßnahmen des Schuldners während des Restrukturierungsprozesses in Abstimmung mit dem Gläubigerbeirat erfolgen sollten. Die in § 93 Abs. 3 Satz 1 StaRUG abschließend normierten Aufgaben6 sind solche des Gläubigerbeirats als Ganzem und gleichzeitig jedes einzelnen Mitglieds. Damit der 1 Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 58 schließt aus der doppelten Analogie, dass sachlich auch eine andere Zusammensetzung gerechtfertigt sein kann. 2 Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 58, 59. 3 Mock in Skauradszun/Fridgen, § 93 StaRUG Rz. 14; Göpfert/Giese, NZI-Beil. 2021, 55, 56. 4 Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 58, 59. 5 Wie hier Blankenburg in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 93 StaRUG Rz. 49; a.A. Mock in Skauradszun/ Fridgen, § 93 StaRUG Rz. 14, der der Versammlung der Planbetroffenen nach § 20 Abs. 1 Satz 1 StaRUG ein solches Antragsrecht zubilligen möchte. 6 Ebenso Mock in Skauradszun/Fridgen, § 93 StaRUG Rz. 19.

458 | Vallender

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.351 § 10

Beirat seinen Aufgaben vollumfänglich nachkommen kann, hat der Schuldner dem Gläubigerbeirat die Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens anzuzeigen (§ 93 Abs. 3 Satz 2 StaRUG). Sachdienlicher wäre eine Unterrichtung des Beirats bereits vor einer Antragstellung. Art und Umfang der Unterstützung des Schuldners bei der Geschäftsführung orientieren sich an den jeweiligen Notwendigkeiten. Soweit erforderlich, hat der Beirat auf den Schuldner einzuwirken, übereilte oder erkennbar falsche Maßnahmen zu unterlassen. Ebenso wie die Unterstützungstätigkeit des Beirats richtet sich auch Art und Umfang der Überwachungstätigkeit nach den Besonderheiten des Schuldnerunternehmens sowie nach der bisherigen Geschäftsführung. Hierüber haben sich die Mitglieder des Beirats zu informieren. Überwachung bedeutet sowohl nachträgliche als auch begleitende und vorausschauende Kontrolle1. Weisungsbefugnisse gegenüber dem Schuldner hat der Beirat nicht. Seiner Überwachungsaufgabe kann er nur nachkommen, wenn er über ausreichende Informationen verfügt. Anders als § 76 Abs. 5 StaRUG normiert § 93 StaRUG indes keine Verpflichtung des Schuldners, dem Beirat die zur Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Auskünfte zu erteilen, ihm Einsicht in die Bücher und Geschäftspapiere zu gewähren. Zwar sieht auch § 69 Satz 2 InsO eine solche Verpflichtung vor. Zutreffend weist Ahrens2 darauf hin, dass angesichts der eigenständigen Aufgabenbestimmung und -begrenzung in § 93 Abs. 3 Satz 1 StaRUG und des schmalen, insolvenzfernen Profils des Gläubigerbeirats eine Analogie zu der vorgenannten Bestimmung nicht in Betracht komme. Mithin unterliegt es mangels gesetzlicher Regelung allein der Entscheidung des Schuldners, einem etwaigen Auskunftsbegehren des Beirats nachzukommen. Sieht er aus geschäftspolitischen Gründen oder aus Misstrauen gegenüber Beiratsmitgliedern davon ab, ist der Beirat exkulpiert.

10.349

§ 93 Abs. 2 StaRUG normiert ein Mitwirkungsrecht des Beirats bei der Bestellung des Restrukturierungsbeauftragten. Nach dieser Bestimmung ersetzt ein einstimmiger Beschluss des Beirats den gemeinschaftlichen Vorschlag der Planbetroffenen nach § 74 Abs. 2 Satz 3 StaRUG. Dies gilt indes nur, wenn kein das Gericht bindender Vorschlag des Schuldners gemäß § 74 Abs. 2 Satz 2 StaRUG vorliegt.

10.350

5. Vergütung § 93 Abs. 4 StaRUG bestimmt, dass die Mitglieder des Beirats Anspruch auf Vergütung für ihre Tätigkeit und Erstattung angemessener Auslagen haben. Gegen wen sich der Anspruch richtet, wer für die Festsetzung zuständig ist und wann der Anspruch geltend gemacht werden kann, lässt § 93 StaRUG offen. In Abs. 4 Satz 2 der Vorschrift findet sich bezüglich der Höhe lediglich der Verweis auf § 17 InsVV. Einzustehen für die Vergütung hat der Schuldner. Dies folgt aus der Regelung des § 25a Abs. 1 GKG3. Zuständig für die Festsetzung der Vergütung ist das Restrukturierungsgericht. Wann der Anspruch fällig wird, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. In Anlehnung an die Entscheidung des AG Konstanz4 zum Vergütungsanspruch der Mitglieder des vorläufigen Gläubigerausschusses erscheint es sachgerecht, von einer Fälligkeit des Anspruchs zum Ende des Verfahrens auszugehen. Jedoch kann jedes Mitglied einen Vorschuss beantragen. Mangels anderweitiger Regelung haben die Zahlungen aus der Staatskasse zu erfolgen. Die Überleitung der Kosten auf den Schuldner erfolgt in einem zweiten 1 2 3 4

Vgl. Knof in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 69 InsO Rz. 22. Ahrens, NZI-Beilage 1/2021, 58, 59. Begr. RegE BT-Drucks. 19/24181, S. 218. AG Konstanz v. 11.8.2015 – 40 IN 408/14, NZI 2015, 959, 960 = ZIP 2015, 1841.

Vallender | 459

10.351

§ 10 Rz. 10.351 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

Schritt, indem sie den nach Nr. 9017 KV zum GKG im Rahmen der Gerichtskosten zu erstattenden Auslagen zugeordnet werden. In dieser Bestimmung sind die Mitglieder des Gläubigerbeirats ausdrücklich aufgeführt. Daraus folgt, dass sich der Vergütungsanspruch der Mitglieder des Gläubigerbeirats – wie im Falle der Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten – zunächst gegen die Staatskasse zu richten hat. Die Höhe der Vergütung der Mitglieder des Gläubigerbeirats beträgt regelmäßig zwischen 50 und 300 Euro je Stunde. Bei der Festsetzung hat das Restrukturierungsgericht insbesondere den Umfang der Tätigkeit zu berücksichtigen (§ 93 Abs. 4 StaRUG i.V.m. § 17 Abs. 1 InsVV).

10.352–10.360 Einstweilen frei.

IX. Steuerrechtliche Besonderheiten bei Sanierungen nach dem StaRUG 1. Überblick: Einfügung in die Systematik der Unternehmensbesteuerung 10.361

Das Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz (StaRUG) ist – ebenso wie das Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG)1 – normativ nicht auf die bestehenden steuerrechtlichen Regelungen abgestimmt. Es handelt sich um ein gesetzlich geregeltes Sanierungsverfahren. Eigene, modifizierende steuerrechtliche Regelungen enthalten die Gesetze nicht. Mangels anderslautender Regelungsanordnungen gelten in materieller Hinsicht die im Rahmen der Sanierung dargestellten Regelungen (s. hierzu unter Rz. 8.1 ff.). Hierzu zählt insbesondere § 3a EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG hinsichtlich steuerfreier Sanierungsgewinne sowie der korrespondierende § 7b GewStG für die Gewerbesteuer. Denn als besonderes geregeltes Restrukturierungsverfahren fügt sich das Verfahren nach dem StaRUG in die bisherige Systematik der Unternehmensbesteuerung ein. Maßgeblich für die Anwendung des § 3a EStG und die Frage, ob ein Erlass vorliegt, ist allein die bilanzielle Entstehung eines Mehrgewinns und nicht die insolvenzrechtliche Situation. Erfüllt also etwa ein Sanierungsvergleich (§§ 94 ff. StaRUG) die Voraussetzungen des § 3a EStG, sind entsprechende Sanierungserträge steuerfrei2. Im Verfahren nach dem StaRUG gehören etwa die Vergütung des Restrukturierungsbeauftragten (§§ 73 ff. StaRUG) und des Sanierungsmoderators (§ 94 StaRUG), die Aufwendungen zur Erstellung eines Restrukturierungsplans und die Verfahrenskosten des Restrukturierungsgerichts, das eine Stabilisierungsanordnung verfügt (§§ 49 ff. StaRUG) oder den Sanierungsvergleich bestätigt (§ 97 StaRUG) zu den Sanierungskosten, die nach § 3a Abs. 3 Satz 1 EStG i.V.m. § 3c Abs. 4 EStG den Sanierungsertrag mindern3.

10.362

Auch verfahrensrechtlich bleibt es bei der steuerrechtlichen Handlungsfähigkeit (§ 79 AO) der GmbH, welche nicht durch ein Restrukturierungsverfahren nach Maßgabe des StaRUG eingeschränkt wird. Der Steuerpflichtige bleibt daher zur Abgabe von Steuererklärungen (§ 149 Abs. 1 AO) und Steueranmeldungen (§ 150 Abs. 1 Satz 3 AO) verpflichtet4. Die Steuerforderung kann selbst eine Restrukturierungsforderung sein und somit etwa vom Restrukturierungsplan (§§ 5, 67 ff. StaRUG) erfasst sein5. Die Finanzverwaltung kann durch eine Stabi1 BGBl. I 2020, 3256 ff. 2 Vgl. auch Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1061; Fischer, NZI-Beilage 2021, 69, 71; Kahlert/Kayser/Bornemann, Perspektiven für eine kohärente und praxisgerechte Verzahnung von Steuerrecht und Insolvenzrecht, Rz. 631; Schmittmann, DZWIR 2021, 436, 442; Witfeld, NZI 2021, 665, 666. 3 Kanzler in Kanzler/Kraft/Bäuml, § 3a EStG Rz. 134; Gläser/Kosik, NWB Sanieren 2021, 232, 234. 4 Uhländer, DB 2021, 1027, 1031. 5 Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1059.

460 | Vallender und B. Westermann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.366 § 10

lisierungsanordnung nach §§ 49 ff. StaRUG in der Vollstreckung von Steuerverbindlichkeiten beeinträchtigt werden. Im Hinblick auf eine mögliche Haftung des Geschäftsführers nach § 69 AO stellt die Vollstreckungssperre einen Rechtfertigungsgrund dar1. Eine Unterbrechung des Besteuerungsverfahrens – wie im Fall der Insolvenzeröffnung – findet aber nicht statt2.

2. Verfahrensrechtliche Auswirkungen a) Steuerrechtliche Haftung der Akteure Bei der Umsetzung des StaRUG stellen sich in erster Linie verfahrens- bzw. haftungsrechtliche Fragen. Denn das Gesetz sieht neu Akteure und deren Partizipation bei der Sanierung und Restrukturierung vor, sodass die Frage nach einer steuerrechtlichen Haftung für Steuern der zu sanierenden GmbH aufgeworfen ist. Dies ist dann der Fall, wenn sie steuerrechtlicher Vermögensverwalter i.S. des § 34 Abs. 3 AO oder Verfügungsberechtigter i.S. des § 35 AO sind und den dort normierten steuerlichen Pflichten verletzen.

10.363

Sanierungsmoderatoren i.S. der §§ 94 ff. StaRUG sind schon mangels Rechtsposition und Entscheidungsgewalt nicht für die Erfüllung fremder steuerlicher Pflichten verantwortlich und haben daher auch keine Haftung zu befürchten3. Hinsichtlich des Restrukturierungsbeauftragten ist zunächst nach der Art der Bestellung und im Kern anhand der Reichweite der Befugnisse zu differenzieren. Bei einer Bestellung von Amts wegen (§§ 73 ff. StaRUG) kommt es auf die konkreten Befugnisse an. Soweit eine Befugnis zur alleinigen Entgegennahme und Leistung von Zahlungen besteht (§ 76 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b StaRUG), liegt eine steuerrechtliche Haftung des „Entrichtungspflichtigen“ ausnahmsweise nahe4. Allgemeine Mitwirkungspflichten nach §§ 149 ff. AO oder § 153 AO sind hiermit indes nicht verbunden5. Liegt dagegen eine Bestellung als fakultativer Restrukturierungsbeauftragter auf Antrag des Schuldners (§§ 77 ff. StaRUG) vor, ist grundsätzlich – ohne eine eigene Zahlungsbefugnis – eine Haftung nicht denkbar6.

10.364

Abschließend ist noch der durch das SanInsFoG eingeführte § 15b Abs. 8 InsO hervorzuheben, der eine Enthaftung der Geschäftsleitung vorsieht. Die Haftung nach § 69 AO wegen der Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten scheidet zur Vermeidung einer Pflichtenkollision dann aus. Voraussetzung ist, dass zwischen dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 InsO oder der Überschuldung nach § 19 InsO und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden. Die Antragspflichtigen müssen aber ihren Verpflichtungen nach § 15a InsO gerecht werden.

10.365

b) Kooperation mit der Finanzverwaltung Der Fiskus ist in der Praxis als Gläubiger ebenfalls an der Restrukturierung beteiligt. Zur Sicherung von Sanierungsplänen und Sanierungsvergleichen ist es daher (besonders) ratsam, die Finanzverwaltung in den Restrukturierungsprozess miteinzubinden. Das vorzugsweise 1 2 3 4 5 6

Fischer, NZI-Beilage 2021, 69, 70. Uhländer, DB 2021, 1027, 1031. Uhländer, DB 2021, 1027, 1030. Vgl. Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1060; Uhländer, DB 2021, 1027, 1028 ff. Uhländer, DB 2021, 1027, 1034. Uhländer, DB 2021, 1027, 1030; so auch Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1059; Fischer, NZI-Beilage 2021, 69, 70; vgl. Witfeld, NZI 2021, 665, 668.

B. Westermann | 461

10.366

§ 10 Rz. 10.366 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

verfahrensrechtliche Institut hierfür ist die verbindliche Auskunft nach § 89 Abs. 2 Satz 1 AO. Hierbei trifft die Finanzverwaltung eine verbindliche Auskunft über die steuerliche Beurteilung von genau bestimmten, noch nicht verwirklichten Sachverhalten, wenn daran im Hinblick auf die erheblichen steuerlichen Auswirkungen ein besonderes Interesse besteht. Die Bindungswirkung reicht indes nur soweit, wie der beantragte Sachverhalt der Finanzverwaltung zur Kenntnis gebracht wurde. Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung der steuerlichen Beurteilung für einen Sanierungsplan wird ein berechtigtes Interesse in aller Regel bestehen1. Eine positive verbindliche Auskunft kann zudem gemäß § 62 StaRUG zur aufschiebenden Bedingung eines Restrukturierungsplans gemacht werden2.

3. Bilanzrechtliche Auswirkungen 10.367

Neben den eingangserwähnten klassischen bilanziellen Sanierungserträgen, gibt es weitere bilanzrechtliche Themen, die durch StaRUG und SanInsFoG angestoßen wurden. Nach § 102 StaRUG soll bei der Erstellung eines Jahresabschlusses der Mandant auf das Vorliegen eines möglichen Insolvenzgrundes nach den §§ 17 bis 19 InsO und die sich daran anknüpfenden Pflichten der Geschäftsleiter und Mitglieder der Überwachungsorgane hingewiesen werden. Diskutiert werden die Auswirkungen dieses Gebots, wenn entsprechende Anhaltspunkte offenkundig sind und dem Mandanten dies womöglich noch nicht bewusst ist. Auf dem ersten Blick scheint diese Pflicht mit der Going-Concern-Prämisse zu konfligieren, wonach gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB bei der Bilanzierung von der Fortführung des Unternehmens auszugehen ist, wenn nicht tatsächliche oder rechtliche Gegebenheiten dem entgegenstehen. Dies birgt insbesondere in der Unternehmenskrise Konfliktpotenzial3. Die Neuregelung des § 102 StaRUG geht aber letztlich nur auf eine BGH-Grundsatzentscheidung vom 26.1.2017 zurück4. Steuerrechtlich gilt das Prinzip aber nur für die Bewertung und nicht für den Ansatz von Bilanzposten5. Bei der Beachtung der aus § 102 StaRUG resultierenden Pflicht sollten die Berater stets eine drohende eigene Haftung wegen Beihilfe zur Insolvenzverschleppung im Blick behalten6.

10.368

Kritisiert wird zuweilen, dass die Hebung stiller Reserven (unterbewertete Aktiva oder überbewertete Passiva) nicht per se privilegiert ist; mangels Erlasses ist § 3a EStG in solchen Fällen nicht einschlägig und mangels Entstehung der Steuerforderungen, besteht noch keine Zugehörigkeit derselben zum Kreis der Restrukturierungsforderungen. Damit kommt eine Aufnahme in den Restrukturierungsplan nicht in Betracht7. Eine dogmatische Notwendigkeit für die gewünschte Privilegierung stiller Reserven besteht hier indes nicht. Bei der Beratung sind die vorhersehbaren Belastungen durch die Steuer im nachfolgenden Veranlagungszeitraum entsprechend zu berücksichtigen. Im Rahmen von Restrukturierungen kann das Potenzial stiller Reserven etwa nach § 8c Abs. 1 Satz 5 KStG genutzt oder nach § 20 Abs. 2 Satz 2 UmwStG erhalten werden. Übertragende Sanierungen sind auch als umwandlungsrechtliche Ausgliederungs- und Spaltungsmaßnahmen innerhalb des Restrukturierungsplans und des Sanierungsvergleichs möglich.

1 Vgl. Rätke in Klein, § 89 AO Rz. 19. 2 Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1059; Gläser/Kosik, NWB Sanieren 2021, 232; Fischer, NZI-Beilage 2021, 69, 70, 71. 3 Prinz, DB 2021, 9, 12 m.w.N. 4 BGH v. 26.1.2017 – IX ZR 285/14, = ZIP 2017, 427 = GmbHR 2017, 348 m. Anm. Römermann. 5 BFH v. 5.4.2017 – X R 30/15, BStBl. II 2017, 900 = FR 2017, 965 m. Anm. Weber-Grellet. 6 Wälzholz in GmbH-Handbuch, Die GmbH in der Insolvenz, Rz. I 4001.5. 7 Eisolt/Wolters, ZInsO 2021, 1058, 1061.

462 | B. Westermann

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.392 § 10

4. Sonderfall Umsatzsteuer Die Umsatzsteuer, die innerhalb der Europäischen Union als Mehrwertsteuer ausgestaltet ist (Art. 1 MwStSystRL), bezweckt als Verkehrssteuer mit Verbrauchsteuercharakter eine Belastung des Endverbrauchers. Sie wird auf das Entgelt auf Lieferungen oder sonstige Leistungen auf jeder Stufe einer Leistungskette erhoben. Hierzu sind die Unternehmer i.S. des § 2 UStG einer Leistungskette grundsätzlich berechtigt, die von ihnen selbst gezahlte Umsatzsteuer im Rahmen ihres Vorsteuerabzugs nach § 15 UStG von ihrer Umsatzsteuerschuld abziehen.

10.369

Ist während der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache ein Insolvenzantrag zu stellen, ist in der Regel die Restrukturierungssache nach § 33 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 StaRUG aufzuheben. Wird das Insolvenzverfahren dann eröffnet, ist fraglich, ob bei Schuldnern, die der Sollbesteuerung des UStG unterliegen, die sog. Doppelberichtigungsrechtsprechung des BFH1 bereits auf das Stadium der rechtshängigen Restrukturierungssache auszudehnen ist. Diese Rechtsprechung sieht vor, dass die Vereinnahmung eines Entgelts für eine vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Rahmen der Eigenverwaltung ausgeführte Leistung eine Masseverbindlichkeit des Insolvenzschuldners begründet. Unabhängig von der konkreten Rechtsstellung des Restrukturierungsbeauftragten, welcher bei alleiniger Zahlungs- und Annahmebefugnis über ähnliche Befugnisse wie der Insolvenzverwalters verfügt, hat der Gesetzgeber in § 55 Abs. 4 InsO ausdrücklich nur den vorläufigen Sachwalter aufgenommen2. Im Ergebnis ist daher § 55 Abs. 4 InsO infolge des SanInsFoG lediglich auf bestimmte Steuerarten und lediglich auf das Stadium der vorläufige Eigenverwaltung anwendbar3.

10.370

10.371–10.390

Einstweilen frei.

X. Arbeitsrechtliche Besonderheiten bei Sanierungen nach dem StaRUG 1. Einleitung Das StaRUG enthält mit § 4 Satz 1 Nr. 1, 5 StaRUG i.V.m. Nr. 2 und 7 der Anlage, § 92 StaRUG nur wenige Vorschriften, welche Forderungen bzw. Rechte der Arbeitnehmer(vertretungen) und ihre Beteiligung im Rahmen der vorinsolvenzlichen Restrukturierung durch Nutzung eines präventiven Restrukturierungsrahmens betreffen. Diese wenigen Vorgaben machen aber – ebenso wie die dem StaRUG zugrunde liegenden RL (EU) 2019/1023 – deutlich, dass im vorinsolvenzlichen Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen gegenüber dem regulären Arbeitsrecht keine zusätzlichen arbeitsrechtlichen Sanierungswerkzeuge geschaffen werden sollen.

10.391

Denn das StaRUG soll mit den vorgenannten Regelungen – im Zusammenspiel mit bestehenden Pflichten aus dem BetrVG usw. – die Vorgaben aus Erwägungsgründen 3, 10, 23, 43 und 60 bis 62 sowie Art. 1 Abs. 5 Buchst. a, Art. 3 Abs. 3 und 5, Art. 6 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2, Art. 8 Abs. 1 Buchst. b und g Nr. iii, Art. 13 und Art. 18 Abs. 3 Buchst. c RL (EU) 2019/1023 umsetzen. Art. 1 Abs. 5 Buchst. a RL (EU) 2019/1023 gestattet den Mitgliedstaaten, bestehende und künftige Forderungen derzeitiger oder ehemaliger Arbeitnehmer von der Gestaltbarkeit durch den Restrukturierungsrahmen auszunehmen. Art. 13 RL (EU) 2019/1023 sieht vor, dass

10.392

1 BFH v. 27.9.2018 – V R 45/16, BStBl. II 2019, 356 = UR 2018, 922 = ZIP 2018, 2232. 2 Fischer, NZI-Beilage 2021, 69, 71; vgl. auch Schmidt, DStR 2021, 693; Uhländer, DB 2021, 1027, 1034. 3 S. ausführlich hierzu Schmidt, DStR 2021, 693.

B. Westermann und Mückl | 463

§ 10 Rz. 10.392 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

„[d]ie Mitgliedstaaten [...] sicherstellen, dass die individuellen und kollektiven Rechte der Arbeitnehmer nach dem Arbeitsrecht der Union und dem nationalen Arbeitsrecht durch den präventiven Restrukturierungsrahmen nicht beeinträchtigt werden“.

2. Arbeitnehmerforderungen 10.393

Anders als im Insolvenz(plan)verfahren kann der gestaltende Teil eines Restrukturierungsplans gemäß § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG dementsprechend keine Regelungen zu Forderungen von Arbeitnehmern treffen. Soweit Lohnkosten eingespart werden sollen, ist der Arbeitgeber auf Sanierungsbeiträge der Arbeitnehmer angewiesen, die er nur begrenzt einseitig durchsetzen kann (vgl. Rz. 6.261) und im darstellenden Teil des Restrukturierungsplans darstellen muss.

10.394

Ebenfalls anders als im Insolvenzverfahren bestehen im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren keine kündigungsrechtlichen Erleichterungen. § 113 InsO findet keine, auch keine analoge Anwendung. Gleiches gilt für §§ 120 ff. InsO, die im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren ebenfalls keine (analoge) Anwendung finden. „Arbeitnehmer“ i.S. des StaRUG sind vielmehr nach den allgemeinen Regeln geschützt.

10.395

Nicht einfach zu beantworten ist allerdings – jedenfalls in Randbereichen – die grundlegende Frage, wer eigentlich „Arbeitnehmer“ i.S. des StaRUG ist. Denn das Gesetz enthält hierfür ebenso wenig eine Definition wie die RL (EU) 2019/1023.

10.396

Für die RL (EU) 2019/1023 ist insoweit allerdings vom unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff1 auszugehen, der dann nach der Rechtsprechung des EuGH z.B. auch Fremdgeschäftsführer umfasst2. Ob der Gesetzgeber des StaRUG allerdings lediglich Arbeitnehmer i.S. des § 611a Abs. 1 BGB erfassen wollte3, ist unklar. Dafür spricht tendenziell nicht nur die Begründung des Regierungsentwurfs4, sondern systematisch auch das Fehlen einer § 17 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG entsprechenden Regelung5. Soweit daraus teilweise (mit Ausnahmen6) geschlossen wird, der Restrukturierungsplan dürfe Forderungen von Geschäftsführern umgestalten7, überzeugt dies bei richtlinienkonformer Auslegung nicht8.

10.397

Führt man sich den in Erwägungsgrund 60 und Art. 13 RL (EU) 2019/1023 breit angelegten Arbeitnehmerschutz und die unterschiedlichen Arbeitnehmerbegriffe der dort in Bezug genommenen Richtlinien vor Augen, wird man den Arbeitnehmerbegriff von § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG aber weit auslegen müssen. Er umfasst richtigerweise alle Personen, die unter den breiten unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff fallen. Daher können z.B. weder die Forderungen von Fremdgeschäftsführern des in einer GmbH verfassten Schuldners noch die Forderungen von für einen Verein gegen eine Vergütung tätigen Mitgliedern durch einen Restrukturierungsplan gestaltet werden9. 1 Vgl. dazu statt vieler Steinmeyer in Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2022, Art. 45 AEUV Rz. 10 ff. 2 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 18. 3 So Skauradszun in BeckOK/StaRUG, 3. Ed. 15.11.2021, § 4 StaRUG Rz. 6; Esser in Braun, 2021 § 4 StaRUG Rz. 5. 4 Vgl. BT-Drucks. 19/24181, S. 114 f. 5 Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 5. 6 Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 5. 7 So Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 5. 8 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 18. 9 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 18.

464 | Mückl

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.401 § 10

Nach § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG nicht gestaltbar sind dementsprechend zunächst die Forderungen der derzeitigen „Arbeitnehmer“, die aktuell in einem „Arbeitsverhältnis“ mit dem Schuldner (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 StaRUG) stehen.

10.398

Ebenfalls in den Anwendungsbereich des § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG fallen ehemalige Arbeitnehmer, die zwar aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Schuldner ausgeschieden sind, daraus aber noch (nachwirkende) Ansprüche haben (z.B. Ansprüche auf eine Karenzentschädigung aus einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot). Dass dies nicht nur für Betriebsrentner gilt, folgt mit Blick auf den Schutz von Versorgungszusagen schon aus dem klaren Wortlaut von § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG („einschließlich der Rechte aus Zusagen auf betriebliche Altersversorgung“).

10.399

Angreifbar dürfte demgegenüber die – rein an den Arbeitnehmerstatus anknüpfende – Auffassung sein, nicht anwendbar sei § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG „auf Hinterbliebene ehemaliger Arbeitnehmer, deren Versorgungsansprüche (etwa Witwen- oder Waisenrenten) damit durch einen Restrukturierungsplan gestaltet werden können“1. Dagegen spricht, dass auch Ansprüche auf eine Hinterbliebenenversorgung Ansprüche „aus“, jedenfalls aber „im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis“ sind. Die Hinterbliebenenversorgung beruht schließlich auf einem Vertrag zugunsten Dritter i.S. des § 328 Abs. 1 BGB2. Empfänger des Versorgungsversprechens ist der Arbeitnehmer3. Nach § 335 BGB kann er selbst das Recht auf die versprochene Leistung geltend machen, was für einen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis spricht. Seine Hinterbliebenen sind lediglich Begünstigte, die erst mit seinem Tod ein Forderungsrecht erwerben4. Nicht annehmen können wird man – mangels dogmatischer Grundlage hierfür –, dass die Versorgungszusage gegenüber Hinterbliebenen mit Eintritt des Versorgungsfalls ihre Rechtsnatur ändert und dann kein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis mehr ist5.

10.400

3. Der Plangestaltung entzogene Forderungen Ungeachtet der vorstehend aufgezeigten Auslegungsschwierigkeiten in Bezug auf § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG muss die Praxis vermeiden, der Plangestaltung entzogene Forderungen einzubeziehen. Denn Konsequenz einer fehlerhaften Einbeziehung ist nicht nur, dass in einer Vorprüfung des Restrukturierungsplans nach § 46 StaRUG (gerichtliche Planabstimmung) bzw. § 47 StaRUG (ohne gerichtliche Planabstimmung) ein Verstoß gegen § 4 StaRUG in den Hinweisbeschluss nach § 46 Abs. 2 StaRUG bzw. § 48 Abs. 2 StaRUG aufzunehmen ist6. Ein solcher Restrukturierungsplan würde vor allem mit § 4 StaRUG eine Vorschrift über den Inhalt des Restrukturierungsplans in einem so wesentlichen Punkt verletzten, dass seine Bestätigung gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG von Amts wegen zu versagen ist7, soweit der Schuldner den Mangel nicht innerhalb der vom Restrukturierungsgericht gesetzten Frist behebt8. Die Sanierungspraxis wird § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG im Zweifel weit auslegen müssen9, um entsprechende Risiken zu reduzieren. 1 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 19. 2 Vgl. BAG v. 16.8.1983 – 3 AZR 34/81 – AP Nr. 2 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung (II der Gründe); BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 235/96, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 27. 3 BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 235/96, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 27. 4 BAG v. 26.8.1997 – 3 AZR 235/96, AP BetrAVG § 1 Ablösung Nr. 27. 5 In diesem Sinne wohl auch Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 12, der Forderungen von „Pensionären“ als nicht von der Zielsetzung des StaRUG erfasst ansieht. 6 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 28. 7 Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 3. 8 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 29. 9 Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2681; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14; Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6.

Mückl | 465

10.401

§ 10 Rz. 10.402 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

a) Keine Anknüpfung an die Rechtsquelle 10.402

Ob die Forderung aus einer individualrechtlichen oder einer kollektivrechtlichen Quelle stammt, spielt keine Rolle1. Umfasst sind Forderungen aus dem Arbeitsvertrag, Gesamtzusagen, betrieblicher Übung, Betriebsvereinbarung, Sozialplänen, Tarifvertrag und Gesetz.

b) Maßgeblichkeit einer inhaltlichen Anknüpfung 10.403

Maßgeblich ist vielmehr eine inhaltliche Anknüpfung. Erfasst sind daher z.B. – Vergütungsansprüche (Entgelt, Lohn, variable Vergütung, Sonderzahlungen)2, – Ansprüche auf Sachvergütungen3 (z.B. Überlassung eines Dienstwagens zur privaten Nutzung), – Ansprüche auf die Erstattung von Aufwendungen, – Urlaubs-4 und Urlaubsabgeltungsansprüche5, – Schadensersatzansprüche6, – Forderungen aus Sozialplänen7 (wie Forderungen auf Zahlung von Abfindungen8) und – Forderungen aus Zusagen auf eine betriebliche Altersversorgung (inkl. Anwartschaften9). Andere den Arbeitnehmern zustehende Rechte, wie etwa das Recht zu Arbeitskämpfen, Kündigungsschutzrechte, verlängerte Kündigungsfristen oder betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte, sind schon keine Rechtsverhältnisse i.S. der §§ 2–4 StaRUG10 und sind daher von vorneherein nicht durch einen Restrukturierungsplan gestaltbar.

10.404

Umstritten ist die Qualifikation von Ansprüchen von Arbeitnehmern auf Gewinnansprüche oder Dividenden, die aus einer durch die Arbeitnehmerstellung vermittelte Mitgliedschaft am Schuldner erworben wurden11. Dagegen wird argumentiert, dass sie „nicht aus dem Arbeitsverhältnis, sondern aus der Beteiligung geboren“12 seien. Richtigerweise wird man aber danach differenzieren müssen, ob es sich um eine Form der Vergütung handelt oder nicht13: Handelt es sich um eine Form der Vergütung, unterfällt sie § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG. Auf Gewinnansprüche aus einer indirekten Mitarbeiterbeteiligung trifft das z.B. nicht zu14, sodass 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Westphal/Dittmar in Flöther, 2021, § 4 StaRUG Rz. 2. Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Allgemein zu umfassten Abfindungsansprüchen Westphal/Dittmar in Flöther, 2021, § 4 StaRUG Rz. 2. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 16. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. Gegen ihre Gestaltbarkeit nach § 4 StaRUG Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14; a.A. Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6. Esser in Braun, 2021, § 4 StaRUG Rz. 6. Vgl. in anderem Kontext, aber auch vorliegend aussagekräftig BAG v. 10.11.2021 – 10 AZR 696/ 19, NZA 2022, 345 Rz. 58. BAG v. 10.11.2021 – 10 AZR 696/19, NZA 2022, 345 Rz. 58.

466 | Mückl

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.407 § 10

diese gestaltbar sind. Dasselbe gilt für das Stammrecht, das ebenfalls nach § 2 Abs. 3 StaRUG gestaltbar ist1.

c) Keine zeitliche Anknüpfung Keine Rolle spielt nach § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG eine zeitliche Anknüpfung. Denn geschützt sind sowohl bestehende Forderungen, als auch künftige Forderungen aus und im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis2. Nicht gestaltbar sind damit sowohl Forderungen von Arbeitnehmern, deren Entstehensgrund bereits gelegt ist3, als auch die Begründung von Forderungen von Arbeitnehmern für die Zukunft4. Z.B. Entgelterhöhungen können dementsprechend nicht durch einen Restrukturierungsplan verhindert werden. Gleiches gilt spiegelbildlich für Versorgungszusagen: Geschützt sind nicht nur zum Zeitpunkt der Gestaltung durch den Restrukturierungsplan bereits erworbene Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung, sondern auch künftige, noch zu erdienende Ansprüche auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung5. Ausgeschlossen ist damit auch eine für die Zukunft wirkende Gestaltung einer beim Schuldner bestehenden betrieblichen Altersversorgungsordnung durch einen Restrukturierungsplan6.

10.405

d) Gestaltung des Bestands von Arbeitsverhältnissen? Nach § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG erst recht ausgeschlossen ist eine unmittelbare, gestaltende Einwirkung auf den Bestand von Arbeitsverhältnissen oder auf Arbeitsplätze in einem Restrukturierungsplan7, zumal es sich hierbei nicht um Forderungen, sondern um Gestaltungsrechte zur Beendigung ganzer Verträge handelt und sie daher vom Restrukturierungsplan schon tatbestandlich nicht erfasst sind8.

10.406

Die missverständliche9 Begründung zu § 74 Abs. 1 des RegE10 (entspricht § 67 StaRUG), „Restrukturierungspläne, die zum Verlust von mehr als 25 % der Arbeitsplätze führen (Art. 10 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie), werden nicht zugelassen“, stellt richtigerweise lediglich klar, dass das StaRUG auch mit Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. c RL (EU) 2019/1023 keine unmittelbare Wirkung eines Restrukturierungsplans über dessen gestaltenden Teil auf Arbeitsplätze zulässt und zwar unabhängig von der Zahl der entfallenden Arbeitsplätze11. Eine andere Interpretation würde nicht nur bedeuten, dass der Gesetzgeber unangemessen in die unternehmerische Freiheit, den Betrieb arbeitsrechtlich umzustrukturieren, eingreifen würde. Es entstünde auch ein unauflösbarer Widerspruch zum Insolvenzplanverfahren, für das solche Einschränkungen nicht gelten12.

10.407

1 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 14. 2 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 16. 3 Zum Begriff der „Begründung“ einer Forderung vgl. BAG v. 11.12.2019 – 7 ABR 4/18, Rz. 32, ZIP 2020, 674. 4 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 16. 5 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 16. 6 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 16. 7 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 25. 8 Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2682. 9 Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2682; vgl. auch Lingscheid/Kunz, DB 2021, 677, 679. 10 BT-Drucks. 19/24181, S. 165. 11 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 25. 12 Salamon/Krimm, NZA 2021, 235, 240.

Mückl | 467

§ 10 Rz. 10.408 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

e) Keine Gestaltung von Mitbestimmungsrechten 10.408

Die Verpflichtungen des Schuldners gegenüber „den Arbeitnehmervertretungsorganen und deren Beteiligungsrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz“ bleiben nach dem Wortlaut des § 92 StaRUG von dem StaRUG unberührt. Ausgeschlossen ist damit auch eine „Gestaltung“ von Mitbestimmungsrechten, die nicht als Forderungen i.S. des § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG zu qualifizieren sind. (Zum Umgang mit Mitbestimmungsrechten im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren vgl. nachfolgend unter Rz. 10.413 ff.).

4. Geschützte Arbeitnehmervertretungen a) Geschützte Arbeitnehmervertretungen des BetrVG 10.409

Nach § 92 StaRUG mit Blick auf ihre Beteiligungsrechte geschützt sind zunächst folgende Arbeitnehmervertretungsorgane des BetrVG: – der Betriebsrat (§ 1 BetrVG)1, – der Gesamtbetriebsrat (§ 47 BetrVG)2, – der Konzernbetriebsrat (§ 54 BetrVG)3, – im Rahmen von Strukturen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1–3 BetrVG gebildete Arbeitnehmervertretungen4, – der in Unternehmen mit in der Regel mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern zu bildende Wirtschaftsausschuss (§ 106 BetrVG)5, – Arbeitnehmervertretungsorgane nach dem BetrVG in der Seeschifffahrt (§§ 114 ff. BetrVG)6 und – Arbeitnehmervertretungsorgane nach dem BetrVG im Flugbetrieb (§ 117 Abs. 1 Satz 2 BetrVG)7.

1 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3. 2 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3. 3 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3. 4 Zu weitgehend Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4, der Arbeitsgemeinschaften nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 BetrVG offenbar als umfasst ansieht. 5 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, 2021, § 92 StaRUG Rz. 8; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 7; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3. 6 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 10; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3. 7 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 4; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 10; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3.

468 | Mückl

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.413 § 10

b) Nicht geschützte Arbeitnehmervertretungen des BetrVG Mit Blick auf dessen Schutzzweck – bestehende Beteiligungsrechte gegenüber dem Schuldner abzusichern1 – nicht in den Anwendungsbereich von § 92 StaRUG fallen:

10.410

– die Jugend- und Auszubildenden-Vertretung (§ 60 BetrVG), – die Gesamt- Jugend- und Auszubildenden-Vertretung (§ 72 BetrVG) und – die Konzern- Jugend- und Auszubildenden-Vertretung (§ 73a BetrVG). Sie sind keine selbständigen, dem Betriebsrat gleichberechtigt gegenüberstehenden Organe der Betriebsverfassung, denen gegenüber dem Schuldner eigenständige Beteiligungsrechte zustehen2.

c) Risikofaktor Arbeitnehmervertretungen außerhalb des BetrVG Dass – entgegen dem klaren Wortlaut – auch außerhalb des BetrVG stehende Arbeitnehmervertretungen von § 92 StaRUG erfasst sind, wird teilweise unter Hinweis auf dessen lediglich klarstellenden Charakter mit der Konsequenz ausgeschlossen3, dass z.B.

10.411

– Sprecherausschüsse, – Personalvertretungen gemäß § 117 Abs. 2 BetrVG, – Personalvertretungen des öffentlichen Dienstes gemäß § 130 BetrVG, gemäß BPersVG bzw. den Personalvertretungsgesetzen der Länder, sowie – Mitarbeitervertretungen des Kirchenarbeitsrechts nicht umfasst sind. Dagegen spricht4 der Schutzzweck der Norm und deren richtlinienkonforme Auslegung. Folgt man dem, sind die vorgenannten Vertretungen ebenso erfasst wie z.B. die Schwerbehindertenvertretung. Die Sanierungspraxis sollte bis zu einer Klärung durch die Rechtsprechung schon rein vorsorglich die Beteiligung der vorgenannten Gremien im Restrukturierungsplan nach § 5 StaRUG i.V.m. Nr. 2 und 7 der Anlage zu § 5 Satz 2 StaRUG abbilden, um das bei Verstößen gegen § 5 StaRUG i.V.m. Anlage zu § 5 Satz 2 StaRUG unmittelbar bestehende Risiko einer gerichtlichen Versagung der Planbestätigung (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 StaRUG) zu vermeiden.

10.412

5. Geschützte Beteiligungsrechte Hinsichtlich Inhalt und Umfang der Beteiligung ist zwischen originären Beteiligungsrechten aus dem StaRUG selbst und anlässlich einer Sanierung auf Basis eines Restrukturierungsplans sonstigen möglicherweise bestehenden Beteiligungsrechten des Betriebsrats zu unterscheiden.

1 2 3 4

Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 1. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 5. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 5. Vgl. Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 3; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 11 f.; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, 2021, § 92 StaRUG Rz. 7.

Mückl | 469

10.413

§ 10 Rz. 10.414 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

a) Originäre Beteiligungsrechte im StaRUG aa) Beteiligung von Arbeitnehmervertretern im Gläubigerbeirat

10.414

Sofern in einem vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren gerichtlich ein Gläubigerbeirat eingesetzt wird, sind infolge der Verweisung in § 93 Abs. 1 Satz 2 StaRUG auf § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO und § 67 Abs. 2 Satz 2 InsO sowie durch die Öffnungsklausel in § 93 Abs. 1 Satz 3 StaRUG auch Arbeitnehmervertreter als Mitglieder zugelassen. Ähnlich der Beteiligung über einen vorläufigen Gläubigerausschuss in einem (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren nach §§ 270 ff. InsO wird so im Rahmen des StaRUG eine Beteiligung von Arbeitnehmervertretern über ein Unterstützungs- und Überwachungsgremium (§ 93 Abs. 3 StaRUG) ermöglicht, obwohl Arbeitnehmer gemäß § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG nicht zu den Planbetroffenen gemäß § 7 Abs. 1 StaRUG gehören (zum Ausschluss der Gestaltung von Arbeitnehmerforderungen vgl. unter Rz. 10.393 ff.).

10.415

Dass aus der ebenfalls zum 1.1.2021 in Kraft getretenen Ergänzung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO, der nun ebenfalls auf § 67 Abs. 3 InsO verweist, zwingend folgt, dass dem vorinsolvenzlichen Gläubigerbeirat auch Gewerkschaftsvertreter angehören, ist – entgegen der Ansicht des DGB1 – nicht klar2. bb) Keine weiteren originären Beteiligungsrechte

10.416

Darüber hinaus sieht das StaRUG – richtlinienkonform – keine weiteren originären Beteiligungsrechte von Arbeitnehmervertretern im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen vor. Keine speziellen Mitwirkungsrechte eines Betriebsrats oder einer anderen Arbeitnehmervertretung bestehen daher – anders als im Rahmen der InsO beim Insolvenzplan (vgl. dazu Rz. 32.72 – bei der Aufstellung und der Abstimmung des Restrukturierungsplans3.

b) Beteiligungsrechte außerhalb des StaRUG 10.417

Anlässlich einer Sanierung auf Basis eines Restrukturierungsplans im Rahmen des StaRUG geschützt sind die Beteiligungsrechte der bereits (Rz. 10.409 ff.) genannten Arbeitnehmervertretungen nach dem BetrVG und – soweit anwendbar – dem KSchG. Orientiert man sich am zeitlichen Ablauf eines Restrukturierungsvorhabens, ergibt sich folgendes Bild: aa) Beabsichtigte Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens

10.418

Einen bei ihm bestehenden Wirtschaftsausschuss muss der Schuldner bereits vorab nach § 106 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 10 BetrVG unterrichten und die beabsichtigte Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens mit ihm beraten4, sobald die Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens gemäß § 31 Abs. 1 StaRUG beabsichtigt ist.

1 https://www.dgb.de/themen/++co++c680820e-4136-11eb-9c4e-001a4a160123, zuletzt abgerufen am 5.4.2022. 2 Göpfert/Giese, NZI-Beilage Heft 1/2021, 55, 57. 3 Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 13 f. 4 Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 106 BetrVG Rz. 38s; Salamon/ Krimm, NZA 2021, 235, 238; Pannen in Pannen/Riedemann/Smid, § 92 StaRUG Rz. 6; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 19.

470 | Mückl

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.421 § 10

Aufzunehmen ist die beabsichtigte Anzeige eines Restrukturierungsvorhabens zudem in den Quartalsbericht nach § 110 BetrVG1. Typischerweise ist der Betriebsrat ferner nach § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG zu unterrichten2. Darüber hinaus greift § 92 BetrVG ein, soweit das Restrukturierungsvorhaben Bedeutung für die Personalplanung hat3. Um diese Unterrichtung in Betrieben ohne Wirtschaftsausschuss zu bewirken, bedarf es daher – entgegen Teilen der Literatur4 – keiner richtlinienkonformen Auslegung von § 110 Abs. 2 BetrVG. Diskutiert wird auch in diesem Kontext eine Ermessensreduktion auf „Null“ mit der Folge einer unverzüglichen Unterrichtung, sobald die Anzeige nach § 31 StaRUG beabsichtigt ist5.

10.419

Bloße Vorüberlegungen zu einer Betriebsänderung – die für dieses Stadium eher typisch sind – lösen keine Pflichten nach §§ 111 ff. BetrVG aus6. Daran ändert sich richtigerweise auch dann nichts, wenn sie bereits in einem Restrukturierungskonzept oder dem Entwurf eines Restrukturierungsplans enthalten sind7. Konsequenz daraus ist, dass Informationen und Verhandlungen nach §§ 111 ff. BetrVG in diesem Stadium des Verfahrens nur erforderlich sind, wenn – den allgemeinen Grundsätzen entsprechend – eine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG konkret geplant ist8. Soweit in der Literatur mit dem Argument der Richtlinienkonformität teilweise eine Vorverlagerung der Informations- und Verhandlungspflichten nach §§ 111 ff. BetrVG9 diskutiert wird, findet sich dafür im StaRUG selbst kein Anhaltspunkt10. Sie leuchtet auch nicht ohne weiteres ein und kann nicht pauschal angenommen werden11. Die Sanierungspraxis sollte dieser Diskussion dennoch entweder mithilfe einer vorsorglichen Unterrichtung12 oder – was vorzugswürdig erscheint – durch die Aufnahme von entsprechenden Planbedingungen (§ 62 StaRUG) Rechnung tragen13.

10.420

bb) Entwurf eines Restrukturierungsplans Sofern sich die Überlegungen zu personalwirtschaftlichen Maßnahmen im Zuge des Entwurfs des Restrukturierungsplans so weiterentwickeln, dass – den allgemeinen Grundsätzen entsprechend – eine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG konkret geplant ist14, greifen §§ 111 ff. BetrVG allerdings bereits in diesem Stadium ein15. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Salamon/Krimm, NZA 2021, 235, 238; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 19. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 19. Salamon/Krimm, NZA 2021, 235, 239; Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 19. So Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2683; Göpfert/Giese, NZI Beilage Heft 1/2021, 55, 56; Göpfert/ Giese, NZI Beilage Heft 16-17/2019, 29, 30. Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2683; M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 29. Statt aller Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 111 BetrVG Rz. 106. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 20. Vgl. zu den Anforderungen z.B. BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 97/01, NZA 2002, 992 = ZIP 2002, 817; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122 = ZIP 2006, 1510; Rieble, NZA 2004, 1029, 1030. Dafür Giese/Jungbauer, BB 2020, 2679, 2683 und Göpfert/Giese, NZI Beilage Heft 16-17/2019, 29, 30. Lingscheid/Kunz, DB 2021, 677, 679. Dzida/Schürgers, ArbRB 2022, 51, 53. Vgl. den Hinweis bei Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 20 mit Fn. 25. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 24. Vgl. zu den Anforderungen z.B. BAG v. 20.11.2001 – 1 AZR 97/01, NZA 2002, 992 = ZIP 2002, 817; BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, NZA 2006, 1122= ZIP 2006, 1510; Rieble, NZA 2004, 1029, 1030. Dzida/Schürgers, ArbRB 2022, 51, 53.

Mückl | 471

10.421

§ 10 Rz. 10.422 | 3. Teil Freie (außergerichtliche) Sanierung und neuer Restrukturierungsrahmen

10.422

Entsprechendes gilt – bei entsprechendem Planungsfortschritt – auch mit Blick auf eine anzeigepflichtige Massenentlassung nach § 17 KSchG1. Die Einleitung des Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 2 KSchG sollte mit dem Beteiligungsverfahren nach § 111 BetrVG verbunden werden2. Dass § 92 StaRUG dieses Mitbestimmungsrecht nicht erwähnt, ändert daran nichts. Er schränkt es nämlich – ebenso wie sonstige Mitbestimmungsrechte außerhalb des BetrVG – auch nicht ein3. Ein Umkehrschluss aus § 92 StaRUG dahin, dass Mitbestimmungsrechte außerhalb des BetrVG eingeschränkt werden, kommt schon vor dem Hintergrund des Art. 13 Abs. 1c RL (EU) 2019/1023 nicht in Betracht4.

10.423

Bei entsprechendem Planungsfortschritt wird regelmäßig parallel nach § 106 Abs. 2 Satz 1 BetrVG der Wirtschaftsausschuss ergänzend unterrichtet werden müssen5. Ist ein Gesellschafterwechsel geplant, besteht eine Unterrichtungspflicht gegenüber dem Wirtschaftsausschuss bzw. dem Betriebsrat nach § 109a, § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG.

10.424

Der Entwurf des Restrukturierungsplans kann Maßnahmen vorsehen, die nach § 87 BetrVG mitbestimmungspflichtig sind. Denkbar sind z.B. die Einführung von Kurzarbeit, die Änderung von Schichtplänen oder die Einführung von technischen Einrichtungen (Automatisierung der Produktion usw.) Ihre Umsetzung setzt eine dahingehende Einigung zwischen Schuldner und Betriebsrat oder einen Spruch der Einigungsstelle (§ 87 Abs. 2 BetrVG) voraus. Andernfalls besteht nicht nur ein Unterlassungsanspruch des Betriebsrats6, sondern die Maßnahme ist kollektivrechtlich unwirksam7. Die Beteiligung des Betriebsrats muss allerdings auch insoweit nur bereits bei Erstellung des Restrukturierungsplans erfolgen, wenn damit die Umsetzung der Maßnahmen zwingend feststeht.

10.425

Etwas anderes gilt für Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 99 BetrVG (etwa bei Versetzungen und Umgruppierungen) und aus § 102 BetrVG (bei beabsichtigten Kündigungen). Denn der Betriebsrat verliert durch eine Festlegung im (Entwurf des) Restrukturierungsplan (s), eine Anhörung und anschließende Beratung durchführen zu wollen, nichts. Einem Eingreifen von §§ 99, 102 BetrVG geht zudem im Restrukturierungskontext zumeist ein Verfahren nach §§ 111 ff. BetrVG (und ggf. §§ 17 ff. KSchG) voraus, sodass die Mitbestimmungsrechte nach §§ 99, 102 BetrVG Umsetzungsmaßnahmen betreffen. Die Frage eines Eingreifens von §§ 99, 102 BetrVG bereits im Entwurfsstadium dürfte daher eher theoretischer Natur sein.

10.426

Mit Blick auf § 92 BetrVG wird die Pflicht zur Unterrichtung ausgelöst, wenn die Personalplanung im Entwurf des Restrukturierungsplans in das Stadium der Maßnahmenplanung eintritt8. In diesen Fällen muss die Beteiligung des Betriebsrats bei Erstellung des Restrukturierungsplans erfolgen9 – soweit nicht auch diesbezüglich eine entsprechende Planbedingung aufgenommen werden kann. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 21. Vgl. zu neueren Entwicklungen im Massenentlassungsrecht z.B. Mückl/Wittek, BB 2020, 1332 ff. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 7; Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 15. Vgl. Saenger in Braun, 2021, § 92 StaRUG Rz. 15; für eine richtlinienkonforme Auslegung M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 21. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 21. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 87 BetrVG Rz. 615 ff. m.w.N. Sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung, vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 87 BetrVG Rz. 618 ff. m.w.N. M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 31. M. Braun in Nerlich/Römermann, 43. EL Mai 2021, § 92 StaRUG Rz. 31.

472 | Mückl

§ 10 Das neue Restrukturierungsverfahren (StaRUG) | Rz. 10.432 § 10

Ausgeschlossen werden die vorgenannten Mitbestimmungsrechte im Entwurfsstadium nämlich, wenn der Entwurf entsprechende Planbedingungen (§ 62 StaRUG) im Hinblick auf die Wahrung der vorgenannten Mitbestimmungsrechte vorsieht1.

10.427

cc) Planaufstellung und -vorlage bzw. Planangebot Die in Rz. 10.421 ff. für das Eingreifen von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats entwickelten Grundsätze (hinreichend konkrete Planung ohne das Vorsehen entsprechender Planbedingungen) gelten auch für die Aufstellung und Vorlage eines Restrukturierungsplans beim Restrukturierungsgericht (§ 45 StaRUG) bzw. bei der außergerichtlichen Unterbreitung eines Planangebots (§ 17 StaRUG)2.

10.428

Aufgrund der begrenzten Gestaltungswirkung des Restrukturierungsplans bewirken weder Aufstellung und Vorlage, noch das Planangebot unumkehrbare Maßnahmen i.S. des §§ 111 ff. BetrVG3. Das belegt die Anlage zu § 5 Satz 2 StaRUG, die in Nr. 7 als Mindestangabe für den Restrukturierungsplan auch Angaben zu den Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmervertretung fordert4.

10.429

Vor Aufstellung und Vorlage bzw. Abgabe des Planangebots besteht allerdings – ggf. aktualisiert – eine Informationspflicht gegenüber dem Wirtschaftsausschuss nach § 106 BetrVG5.

10.430

dd) Planerfüllung Bei entsprechender Gestaltung mit dahingehenden Planbedingungen sind die vorstehend skizzierten Mitbestimmungsrechte erst im Stadium der Planerfüllung zu berücksichtigen6.

10.431

6. Fazit Die durch das StaRUG ermöglichte vorinsolvenzliche Sanierung lässt keine unmittelbar durch einen Restrukturierungsplan bewirkten personalwirtschaftlichen Restrukturierungsmaßnahmen zu. Ziel ist vielmehr, Arbeitsplätze und bestehende Arbeitnehmer- und Arbeitnehmervertreterrechte möglichst umfassend zu schützen7. Anders als die InsO (vgl. Rz. 26.23 ff.; 26.51 ff.; 26.81 ff.) schafft das StaRUG deshalb keine erweiterten Möglichkeiten zur Erleichterung personalwirtschaftlicher Restrukturierungen8. Vielmehr nimmt § 4 Satz 1 Nr. 1 StaRUG nicht nur Arbeitnehmerforderungen von der Plangestaltung aus, sondern § 92 StaRUG stellt explizit klar, dass die (betriebsverfassungsrechtlichen) Beteiligungsrechte von Arbeitnehmervertretungen im Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen unberührt bleiben. Das mindert seine Attraktivität und Bedeutung für Schuldner, die zwar ein Insolvenzverfahren vermeiden wollen, aber auf operative Sanierungsmaßnahmen im Personalbereich angewiesen sind.

1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 24. Ebenso Dzida/Schürgers, ArbRB 2022, 51, 53; Benkert, NJW-Spezial 2021, 178, 179. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 22. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, § 92 StaRUG Rz. 22. Dzida/Schürgers, ArbRB 2022, 51, 53. Im Ergebnis ebenso Dzida/Schürgers, ArbRB 2022, 51, 53; Benkert, NJW-Spezial 2021, 178, 179. Röger in Morgen, 2. Aufl. 2022, 2. Aufl. 2022, § 4 StaRUG Rz. 4. Vgl. zum Nichtbestehen von insolvenztypischen Restrukturierungserleichterungen z.B. Dzida/ Schürgers, ArbRB 2022, 51, 52 ff.

Mückl | 473

10.432

§ 11 Wegweiser nach dem Scheitern einer außergerichtlichen Sanierung I. Optionen 1. Anhaltende Selbstprüfungspflichten 11.1

a) Kann die Krise nicht mehr abgewendet und auch nicht mehr durch Sanierung überwunden werden, so engt dies die Handlungsoptionen der Unternehmensleitung ein. Das Scheitern der außergerichtlichen Restrukturierung der GmbH kommt i.d.R. nicht unversehens. Es kündigt sich durch Signale an. Die unter Rz. 2.141, Rz. 3.1 ff. herausgestellten unternehmerischen Selbstprüfungspflichten der Geschäftsführung bestehen während der Sanierungsanstrengungen in Gestalt einer laufenden Kontrolle des Sanierungsprozesses fort und verschärfen sich sogar im Hinblick auf die sich zuspitzende Gläubigergefährdung. Der im Gefolge der Restrukturierungsrichtlinie geführte Streit um das Thema „shift of fiduciary duties“ (vgl. Rz. 2.141) findet hier eine rechtstatsächliche Grundlage. Nach außen geht es darum, wie lange ohne Verstoß gegen § 15a InsO (Insolvenzantragspflicht) an einem nicht-insolvenzrechtlichen Sanierungskonzept festgehalten werden kann (dazu Rz. 14.102, 14.126). Nach innen (§ 43 GmbHG) geht es um die unablässige Prüfung und Optimierung oder Beendigung des eingeschlagenen Weges zur Unternehmens-Restrukturierung.

11.2

b) Die Wahlmöglichkeiten sind im Lichte der § 15a InsO, § 43 GmbHG in dieser Situation nur noch beschränkt. Ist keine freie Sanierung mehr möglich, so stehen die Beteiligten vor der Alternative einer gesellschaftsrechtlichen Regeln folgenden Liquidation oder der Einleitung eines Insolvenzverfahrens (Rz. 11.4 f.). Nicht selten geht das Scheitern der freien Sanierung mit dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung einher (z.B. weil unter der bilanziellen Überschuldung die Fortbestehensprognose negativ wird). Dann bleibt i.d.R. nur die Stellung eines Insolvenzantrags, denn die Drei- bzw. Sechswochenfrist des § 15a Abs. 1 InsO kann, wenn keine Sanierungschance mehr besteht, nicht genutzt werden. Auch eine Reorganisation nach dem StaRUG (Rz. 10.1 ff.) ist dann ausgeschlossen (vgl. auch § 32 Abs. 2, § 42 Abs. 1 StaRUG). Aber auch außerhalb der Insolvenzantragspflicht agiert die Geschäftsführung unter einem Regime strenger Pflichtbindung. Dieser Pflichtbindung kann der Geschäftsführer i.d.R. nur durch Einbeziehung der Gesellschafter in strategische Überlegungen gerecht werden (vgl. auch zur gesellschaftsrechtlichen Haftung Rz. 40.19 ff.; vgl. auch zu den Risiken eines Eigenantrags nach § 18 InsO Rz. 14.67 ff.). Aus der situativen Einberufungspflicht im Interesse der Gesellschaft (§ 49 Abs. 2 GmbHG) wird in der Phase insolvenzabwendender Sanierungsanstrengungen eine kontinuierliche Berichts- und ggf. Vorlagepflicht der Geschäftsführer gegenüber den Gesellschaftern1. Die Geschäftsführer dürfen strategische Entscheidungen, soweit diese nicht direkt durch gesetzliche Pflichten vorgegeben sind, nur im Benehmen mit den Gesellschaftern (nicht nur mit einem Mehrheitsgesellschafter) treffen (vgl. auch Rz. 6.225). Eine vertrauensbildende Verständigung mit den Hauptgläubigern kommt i.d.R. hinzu, ersetzt aber in keinem Fall die eigenverantwortliche Solvenzprüfung und die Einschaltung der Gesellschafter. 1 BGH v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, GmbHR 1995, 299, 300 = ZIP 1995, 560; Altmeppen, § 37 GmbHG Rz. 20; Seibt in Scholz, § 49 GmbHG Rz. 23.

474 | Karsten Schmidt

§ 11 Wegweiser nach dem Scheitern einer außergerichtlichen Sanierung | Rz. 11.5 § 11

2. Sanierung im Insolvenzverfahren? Eine vorsorgende Strategie im Vorfeld der Insolvenz ist eine entscheidende Aufgabe, wenn noch die Restchance einer Sanierung trotz Insolvenzverfahrensreife bleiben soll. Das gilt sowohl für die übertragende Sanierung im Insolvenzverfahren (Rz. 24.171 ff.) als auch für die Unternehmensfortführung in Eigenverwaltung (Rz. 35.1) und für die Sanierung im Insolvenzplanverfahren nach §§ 217 ff., § 225a InsO (Rz. 31.1 ff.). Die Geschäftsführung sollte deshalb – auch dies in ständigem Kontakt mit den Gesellschaftern und eventuell mit Großgläubigern – vorausschauend nicht nur die Alternative „Geschäftsfortführung oder Insolvenzverfahren?“ im Auge haben, sondern bei allen Sanierungsoptionen auch deren „Anschlussfähigkeit“ unter Insolvenzbedingungen mit bedenken. Hieran kann ein Interesse dann bestehen, wenn die Chance gewahrt werden soll, begonnene Sanierungsanstrengungen auch nach einem Eintritt der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit unter dem Schutzschirm gemäß § 270d InsO in Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO im Insolvenzverfahren fortzusetzen (dazu Rz. 35.1 ff.).

11.3

II. Zerschlagungsstrategien 1. Zerschlagung durch Liquidation Eine selbstgewählte Zerschlagung des Unternehmens im Liquidationsverfahren, ein in den Strukturkrisen des 20. Jahrhunderts nicht selten durchlaufender Prozess, setzt die Auflösung durch Auflösungsbeschluss nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG – im Fall einer GmbH & Co. KG nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 bzw. § 138 Abs. HGB n.F. i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB – voraus (dazu Rz. 12.3). In Anbetracht der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO kommt eine Liquidation nach §§ 65 ff. GmbHG aber nur in Betracht, solange weder Überschuldung noch Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist (zum Sonderfall der masselosen Liquidation vgl. Rz. 22.1 ff., 23.1 ff.). Ein zielführender Auflösungsbeschluss setzt eine sorgsame strategische Vorbereitung voraus, weil die Abwicklung sehr unterschiedliche Wege gehen kann, von der Totalversilberung bis hin zur Teilveräußerung des Unternehmens (zur Abwicklung nach Plan vgl. Rz. 12.3 f.). Die Ingangsetzung eines solchen Prozesses enthebt die Geschäftsführung allerdings nicht der insolvenzrechtlichen Organpflichten. Selbst nach begonnener Liquidation bestehen die Selbstprüfungspflichten der Unternehmensleitung und das Insolvenzverschleppungsverbot des § 15a InsO fort.

11.4

2. Zerschlagung durch Insolvenzverfahren Eine Zerschlagung durch Insolvenzverfahren kann ihrerseits durchaus unterschiedliche Wege gehen und muss nicht in einer Totalversilberung bestehen (Rz. 13.1). Deshalb muss ein auf Insolvenzverfahrenseröffnung gerichteter Eigenantrag der Gesellschaft gleichfalls strategisch vorbereitet werden. Das gilt nicht nur für den Eigenantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO (dazu vgl. Rz. 14.61 ff., 10.6 ff.), sondern auch für einen Eigenantrag, der unter dem Druck der Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO steht. Zwar gibt die Geschäftsführung mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Durchführung des Verwertungsprozesses aus der Hand (§ 80, §§ 148 ff., §§ 156 ff. InsO). Aber es ist selbst noch im Vorfeld eines unausweichlichen Insolvenzantrags wichtig, die Vorbedingungen für eine optimale Verwertung auch noch im Insolvenzverfahren zu schaffen. Ein Geschäftsführer, der diese Aufgabe vernachlässigt, handelt pflichtwidrig und kann sich schadensersatzpflichtig machen (§ 43 GmbHG).

Karsten Schmidt | 475

11.5

476 | Karsten Schmidt

4. Teil Unternehmensabwicklung

§ 12 Liquidation I. Tatbestände und gesellschaftsrechtliche Folgen der Auflösung 1. Auflösungstatbestände und Typen der Liquidation a) Die gesellschaftsrechtlichen Tatbestände Die wichtigsten Auflösungstatbestände sind für die GmbH in § 60 GmbHG geregelt1. Neben der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, auf die unter Rz. 14.1 ff., Rz. 15.1 ff. und 24.1 ff. einzugehen sein wird, stehen im Vordergrund:

12.1

– der Auflösungsbeschluss (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG; bei der GmbH & Co. KG § 131 Abs. 1 Nr. 2, § 161 Abs. 2 HGB, ab 1.1.2024 § 138 Abs. 1 Nr. 4 n.F., § 161 Abs. 2 HGB) und – die Masselosigkeit (§ 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG; bei der GmbH & Co. KG § 131 Abs. 2 Nr. 1, § 161 Abs. 2 HGB, ab 1.1.2024 § 138 Abs. 2 Nr. 1 n.F., § 161 Abs. 2 HGB). Dagegen ist Vermögenslosigkeit, obwohl in § 60 Abs. 1 Nr. 7 GmbHG behandelt, kein Auflösungs-, sondern ein Erlöschenstatbestand: Die wegen Vermögenslosigkeit nach § 394 FamFG gelöschte Gesellschaft erlischt, soweit sie wirklich vermögenslos ist, mit der konstitutiv wirkenden Löschung (Rz. 23.3). Stellt sich heraus, dass doch noch Vermögen vorhanden ist, ist die Gesellschaft nur scheinbar erloschen und wird abgewickelt wie eine wegen Insolvenzablehnung mangels Masse aufgelöste Gesellschaft (vgl. § 66 Abs. 5 GmbHG resp. § 145 Abs. 3, § 161 Abs. 2 HGB, ab 1.1.2024 § 143 Abs. 1 Satz 2 n.F., § 161 Abs. 2 HGB; zur Abwicklung bei Masselosigkeit vgl. Rz. 22.1 ff.).

12.2

a) Der Auflösungsbeschluss bedarf nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG einer Mehrheit von Dreiviertel der abgegebenen Stimmen. Dasselbe wird ab 2024 aufgrund von § 140 HGB n.F. i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB auch für eine GmbH & Co. KG mit gesellschaftsvertraglicher Mehrheitsklausel gelten. Der notariellen Beurkundung nach § 53 Abs. 2 GmbHG bedarf der Beschluss nicht, denn es liegt keine Satzungsänderung vor2. Der Beschluss unterliegt, weil gesetzlich vorgeprägt, grundsätzlich keiner gerichtlichen Inhaltskontrolle3, kann allerdings im Ein-

12.3

1 Eingehend zum Folgenden auch Eller, Liquidation der GmbH, 2009; Passarge/Torwegge, Die GmbH in der Liquidation, 3. Aufl. 2020. 2 RG v. 6.3.1907 – I 329/06, RGZ 65, 266; RG v. 10.12.1920 – II 245/20, RGZ 101, 78; BayObLG v. 2.11.1994 – 3 Z BR 152/94, GmbHR 1995, 54 = NJW-RR 1995, 1001; OLG Karlsruhe v. 30.3.1982 – 11 W 22/82, GmbHR 1982, 276 f. 3 BGH v. 28.1.1980 – II ZR 124/78, BGHZ 76, 352 = NJW 1980, 1278 = GmbHR 1981, 111 = ZIP 1980, 275; zur AG vgl. BGH v. 1.2.1988 – II ZR 75/87, BGHZ 103, 184 = AG 1988, 135 = JR 1989, 443 m. Anm. Wiedemann = JR 1988, 505 m. Anm. Bommert = NJW 1988, 1579 m. Anm. Timm.

Karsten Schmidt | 477

§ 12 Rz. 12.3 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

zelfall wegen Treupflichtwidrigkeit anfechtbar sein1. Der Beschluss kann ganz unterschiedliche wirtschaftliche Gründe haben und verschiedenartige strategische Zwecke verfolgen. Er kann beispielsweise der Umstrukturierung, der Zerschlagung oder der Teilliquidation des Gesellschaftsunternehmens dienen. Die Liquidation der Gesellschaft kommt nicht ohne weiteres einer Liquidation des Unternehmens gleich (vgl. auch zur übertragenden Sanierung Rz. 6.221 ff., 24.171 ff.). Die Auflösung der Gesellschaft ist als solche ein wenig zielführender Beschlussgegenstand. Die einem Auflösungsbeschluss typischerweise vorausgehenden strategischen Beratungen unter den Gesellschaftern finden in einem auf die Auflösung der Gesellschaft begrenzten Beschluss nicht hinreichend Ausdruck. Zweckmäßigerweise wird deshalb mit der Auflösung ein Liquidationsplan beschlossen2. Dieser konkretisiert das Ziel der Liquidation und die Aufgaben und Pflichten der Liquidatoren. Der Gesetzeswortlaut kennt einen solchen Liquidationsplan und seine Rechtsverbindlichkeit für die Abwicklungsprozedur nicht, sieht ihn auch nicht als Bestandteil des Auflösungsbeschlusses an. Das Gesetz unterwirft die Beschlussfassung über den Liquidationsplan also auch nicht der qualifizierten Mehrheit nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG. Demgemäß kann der Liquidationsplan mit einfacher Mehrheit beschlossen und auch geändert werden, selbst wenn er tatsächlich gemeinsam mit dem Auflösungsbeschluss mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurde3. Doch wird man unterscheiden müssen: Die Beschlussfassung über Liquidationsmaßnahmen bedarf i.d.R. nur der einfachen Mehrheit. Grundlagenentscheidungen über die Liquidationsstrategie (z.B. Unternehmensverkauf, Einbringung in eine – evtl. vom Mehrheitsgesellschafter gegründete – Auffanggesellschaft oder Zerschlagung) können im Einzelfall Bestandteile des Auflösungsbeschlusses sein, insbesondere wenn über sie als Alternativen zur Fortsetzung der aufgelösten Gesellschaft beraten wird (vgl. Rz. 12.7). Ihre Änderung kann dann wie eine „faktische“ Satzungsänderung wirken und einer (qualifizierten?) Mehrheit bedürfen (vgl. sinngemäß Rz. 6.254)4. Bei Verhandlungen und Beschlussfassungen über diese Gegenstände sind die Gesellschafter der Treupflicht unterworfen.

12.4

b) Der Liquidationsplan kann auch als allseitige Gesellschaftervereinbarung vereinbart werden. Eine solche Gesellschaftervereinbarung hat nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs korporativ bindende Kraft5, kann allerdings durch einen bloßen Mehrheitsbeschluss weder hergestellt noch aufgehoben werden. Die durch allseitigen Konsens hergestellte Rechtssicherheit wird allerdings durch eine andere Unsicherheit erkauft: Das große Geheimnis der satzungsbegleitenden Nebenabreden ist die Frage, wie lange sie binden, insbesondere ob sie nach § 723 BGB kündbar sind6. Im Fall eines Liquidationsplans ist davon auszugehen, dass die Bindung Bestand hat, solange dessen Prämissen – z.B. Teil-Fortführung betrieblicher Einheiten, Bereitstehen von Auffanggesellschaften, Unternehmensveräußerungsmöglichkeit – halten. 1 BGH v. 28.1.1980 – II ZR 124/78, BGHZ 76, 352, 355 = NJW 1980, 1278 = GmbHR 1981, 111 = ZIP 1980, 275; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 28. 2 Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 70 GmbHG Rz. 7. 3 Zur erforderlichen Mehrheit bei Aufhebungsbeschlüssen vgl. Karsten Schmidt/Bochmann in Scholz, § 45 GmbHG Rz. 33. 4 Klärende Rechtsprechung ist nicht ersichtlich. 5 BGH v. 20.1.1983 – II ZR 243/81, GmbHR 1983, 196 = BB 1983, 996 = ZIP 1983, 297; BGH v. 27.10.1986 – II ZR 240/85, GmbHR 1987, 94 = BB 1987, 218 = ZIP 1987, 293; str., näher Noack in Noack/Servatius/Haas, § 47 GmbHG Rz. 118; Scheller in Scholz, § 3 GmbHG Rz. 114 ff.; Karsten Schmidt/Bochmann in Scholz, § 45 GmbHG Rz. 116; Karsten Schmidt in Scholz, § 47 GmbHG Rz. 53; ablehnend z.B. Altmeppen, § 3 GmbHG Rz. 49 f.; Bayer in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 47 GmbHG Rz. 44; Hüffer/Schäfer in Großkommentar zum GmbHG, 3. Aufl., § 47 GmbHG Rz. 92; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 3 GmbHG Rz. 56 ff.; Ulmer in FS Röhricht, 2005, S. 638 ff.; Habersack, ZHR 164 (2000), 10. 6 Vgl. dazu Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 95.

478 | Karsten Schmidt

§ 12 Liquidation | Rz. 12.7 § 12

Im Fall einer Geschäftsgrundlagenänderung (§ 313 BGB) kann nach Lage des Falls einem Gesellschafter ein Recht zur Kündigung oder ein Recht auf ändernde Nachverhandlungen zustehen. Im Übrigen steht der Liquidationsplan auch hier unter dem Vorbehalt der Treupflicht.

b) Der insolvenzrechtliche Tatbestand der Masselosigkeit a) Ganz anderer Natur ist die Liquidation wegen Masselosigkeit (§ 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG). Bei ihr handelt es sich der Sache nach um ein verunglücktes Insolvenzverfahren, so dass sowohl der Auflösungsgrund als auch richtigerweise die Abwicklung selbst insolvenzrechtlich gedacht werden muss (dazu Rz. 23.4 ff.). Nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG ist die Gesellschaft mit der Rechtskraft eines Beschlusses aufgelöst, durch den die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist (vgl. § 26 InsO). Wird ein eröffnetes Insolvenzverfahren mangels Masse eingestellt (§ 207 InsO), so bleibt es bei der durch die Verfahrenseröffnung eingetretenen Auflösung. Aber die nun wieder gesellschaftsrechtliche Abwicklung folgt auch in diesem Fall den bei Masselosigkeit geltenden Grundsätzen (vgl. wiederum Rz. 23.4 ff.).

12.5

b) Masselosigkeit liegt vor, wenn das Gesellschaftsvermögen voraussichtlich nicht ausreichen wird, um die Kosten des Verfahrens zu decken (§ 26 Abs. 1 InsO; dazu Rz. 23.1). Die Abgrenzung dieses Tatbestands und seine Feststellung im Einzelfall ist schwierig und mit einer Fülle unsicherer Prognosen belastet1, zumal die Massekostendeckung häufig eine Frage der Realisierbarkeit und Liquidierbarkeit von Forderungen und Sachwerten ist2. Im Insolvenzeröffnungsverfahren wird die Frage, ob eine unzulängliche Masse vorliegt, durch unabhängige Gutachter geprüft (dazu Rz. 23.2 ff.). Im schon eröffneten Verfahren ist zwischen den Fällen der Masselosigkeit (§ 207 InsO) und der bloßen Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO) zu unterscheiden (Rz. 30.4 ff.). Nur wenn die Masse nicht ausreicht, um die Kosten des Verfahrens zu decken, wird das Insolvenzverfahren nach § 207 InsO eingestellt und die Gesellschaft nach den bei Rz. 30.51 ff. dargestellten Grundsätzen abgewickelt.

12.6

2. Gesellschaftsrechtliche Folgen der Auflösung a) Allgemeine Regeln Nach § 69 GmbHG (im Fall einer GmbH & Co. KG nach § 156 HGB) gelten die gesellschaftsrechtlichen Grundregeln grundsätzlich weiter. Die Gesellschaft verfolgt nach wie vor ihren unternehmerischen Zweck. Ihre Organe bestehen fort (an Stelle der Geschäftsführer treten die regelmäßig mit ihnen identischen Liquidatoren; vgl. Rz. 12.11). Die Gesellschaft kann nach wie vor durch Bevollmächtigte und sogar durch Prokuristen vertreten werden3. Das wurde in der Rechtsprechung und Literatur vormals bestritten, ist jetzt aber h.M.4. Durch Beseitigung des Auflösungsgrunds und Fassung eines Fortsetzungsbeschlusses können die Gesellschafter das Auflösungsstadium beenden (Fortsetzung der aufgelösten Gesellschaft; vgl. Rz. 12.8). Auch die Treupflicht der Gesellschafter besteht trotz der Auflösung fort5. Die sich im Einzelfall aus der Treupflicht ergebenden Pflichten sind im Lichte der Liquidationslage der Gesellschaft zu beurteilen. Dies bedeutet, dass sowohl die Verzögerung der Abwicklung als auch die Verhinderung einer realisierbaren Fortsetzung der Gesellschaft nach Lage des Falls treu1 2 3 4 5

Umfassende Angaben bei Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 6 ff. Vgl. Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 13. Karsten Schmidt, Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, § 16 Rz. 16; Karsten Schmidt, BB 1989, 229 ff. Vgl. nur Altmeppen, § 69 GmbHG Rz. 1 ff., 5. BGH v. 25.9.1986 – II ZR 262/85, BGHZ 98, 276, 283 = GmbHR 1986, 426, 427 = ZIP 1986, 1383; BGH v. 23.3.1987 – II ZR 244/86, GmbHR 1987, 349 = ZIP 1987, 914.

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12.7

§ 12 Rz. 12.7 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

pflichtwidrig sein kann. Ähnlich wie ein Insolvenzverfahren kann die gesellschaftsrechtliche Liquidation auf eine Zerschlagung oder Reorganisation der Gesellschaft hinauslaufen, regelmäßig allerdings in Zerschlagungsrichtung. Ein Kompromiss ist auch hier die übertragende Sanierung, m.a.W. die Abwicklung nur der Gesellschaft unter Übertragung des Unternehmens auf einen Auffang-Rechtsträger. Aber für sie gelten die bei Rz. 6.221 dargestellten Grundsätze, nicht die Sonderregeln der übertragenden Sanierung im Insolvenzverfahren (dazu Rz. 24.171). Die „Richtung der Treupflicht“ (Zerschlagungsrichtung oder Fortsetzungsrichtung) hängt von den Gegebenheiten des Einzelfalls, insbesondere von der Fortführungsfähigkeit des Unternehmens ab. Wie bei Rz. 12.3 f. festgestellt, können sich die Gesellschafter, wenn die Auflösung auf einem Beschluss beruht, durch einen „Liquidationsplan“ auf ein bestimmtes Liquidationsziel festlegen und die Liquidatoren entsprechend binden. Die Gesellschaft kann, solange die Fortsetzung beschlossen werden kann, nach wie vor Umwandlungsbeschlüsse fassen (§ 3 Abs. 3 sowie § 191 Abs. 3 UmwG). Das A und O dieser Option ist die Fortsetzungsfähigkeit der Gesellschaft und die Fassung eines wirksamen Fortsetzungsbeschlusses1. Aber der Formwechsel ist kein tauglicher Liquidationsersatz, denn: – Ein Formwechsel ist nur möglich, wenn gleichzeitig die Fortsetzung der Gesellschaft beschlossen und den Gründungsregeln der neuen Rechtsform entsprochen wird (vgl. § 197 UmwG). Das wiederum bedeutet: Der Formwechsel kann nur Bestandteil einer Unternehmenssanierung sein. – Eine Abspaltung oder Ausgliederung (§ 123 Abs. 2, 3 UmwG) setzt gleichfalls voraus, dass die aufgelöste Gesellschaft fortgesetzt wird und als Schwester- oder Muttergesellschaft für die Verbindlichkeiten der der Spaltung unterzogenen Unternehmensteile weiterhaften kann (§ 133 UmwG). – Eine Aufspaltung (§ 123 Abs. 1 UmwG) vermag die Liquidation nicht wirklich zu ersetzen. Sie führt zwar formal zum Erlöschen der aufgespaltenen Gesellschaft (§ 131 Abs. 1 Nr. 2 UmwG), lässt aber die Zielrechtsträger gesamtschuldnerisch haften (§ 133 UmwG).

12.8

Kapitalerhöhungen und Kapitalherabsetzungen sind weiterhin möglich (umstritten allerdings für die Kapitalherabsetzung)2. Möglich ist vor allem die Fortsetzung der Gesellschaft, also die Beendigung des Auflösungsstadiums3. Diese setzt einen Fortsetzungsbeschluss und eine Beseitigung des Auflösungsgrundes voraus und ist nach Beginn der Vermögensverteilung nicht mehr zulässig4. Liquidationspflicht und Fortsetzungschance bestimmen die strategischen Eckpunkte in der Auflösungssituation. Die Gesellschafter einer aufgelösten GmbH müssen auch hier planvoll agieren. Sie sind gehalten, dem Abwicklungsverfahren eine bestimmte Richtung – Abwicklung durch Zerschlagung des Unternehmens? Abwicklung durch Unternehmensveräußerung? Fortsetzung der Gesellschaft? – zu geben und hierdurch die in vielen Auflösungsfällen störende Schwebelage zu beenden5. Auch das Konzept „Sanieren oder Ausscheiden“ (Rz. 6.7) kann in der Liquidation noch eine Chance erhalten.

12.9

Als verhängnisvoll kann sich allerdings die Verwendung des noch bestehenden GmbHMantels für eine sog. Wirtschaftliche Neugründung6 erweisen, also die Verwendung als Trä1 2 3 4 5 6

Vgl. Drygala in Lutter, 5. Aufl. 2014, § 3 UmwG Rz. 23. Näher (für Zulässigkeit auch der Kapitalherabsetzung) Scheller in Scholz, § 69 GmbHG Rz. 42. Eingehend Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 95 ff.; Fichtelmann, GmbHR 2003, 67 ff. Einzelheiten bei Gesell in Rowedder/Pentz, § 60 GmbHG Rz. 65 ff. Vgl. Paura, Liquidation und Liquidationspflichten, 1995, S. 77 ff. Dazu Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 3 GmbHG Rz. 13 ff.

480 | Karsten Schmidt

§ 12 Liquidation | Rz. 12.11 § 12

ger eines neuen Unternehmens. Davon ist bereits deshalb abzuraten, weil durch den Fortbestand etwa unbekannt gebliebener Gesellschaftsverbindlichkeiten das Unternehmen mit Altschulden belastet wird. Hinzu kommt, dass die vom BGH praktizierte gründungsähnliche Haftung in Fällen einer „wirtschaftlichen Neugründung“ ausdrücklich auch in Liquidationsverfahren gilt1. Dies ist, wie immer man über diese Rechtsprechung denkt2, ein weiterer Grund, von einer Verwendung der in Auflösung begriffenen Gesellschaft als Auffanggesellschaft abzuraten.

b) Kapitalbindung in der Liquidation Der Gläubigerschutz wird im Liquidationsverfahren in mehrfacher Hinsicht verschärft3, nicht zuletzt durch die Sperrjahresvorschrift des § 73 GmbHG. Bis zum Ablauf des Sperrjahrs darf nach dieser Bestimmung keine Verteilung an Gesellschafter vorgenommen werden. § 73 GmbHG ist – anders als § 30 GmbHG (Rz. 2.201) – nicht bloß Vermögensschutz, sondern auch Liquiditätsschutz. § 73 GmbHG verbietet deshalb nicht nur offene und verdeckte Ausschüttungen, sondern auch eine Vorfinanzierung einer erwarteten Liquidationsquote durch Ausreichung von Darlehen an die Gesellschafter der aufgelösten Gesellschaft, selbst wenn diese solvent und demnach zur Rückzahlung in der Lage sind4. Beträge, die entgegen § 73 GmbHG an die Gesellschafter ausgekehrt worden sind, müssen, ähnlich wie in den Fällen der §§ 30 f. GmbHG, in die Liquidationsmasse zurückerstattet werden5. Die Geschäftsführer sind verpflichtet, diese Beträge zurückzufordern. Eine Strafbarkeit wegen Untreue nach § 266 StGB wird man allerdings nur anzunehmen haben, wenn die Liquidatoren – über eine bloße Gläubigergefährdung hinaus – das Vermögen der Gesellschaft durch verbotene Auszahlungen vorsätzlich angreifen. Insbesondere die nach § 73 GmbHG verbotene Ausreichung von Darlehen als Vorschuss auf die Liquidationsquote erfüllt noch nicht ohne weiteres diesen Straftatbestand.

12.10

c) Gesellschaftsorgane in der Liquidation a) Die Liquidation erfolgt im Zweifel durch die Geschäftsführer als Liquidatoren (§ 66 GmbHG). Diese sind nach § 67 GmbHG zur Eintragung im Handelsregister anzumelden, auch wenn es sich um die bereits eingetragenen Geschäftsführer handelt6. Einzutragen ist auch die Vertretungsbefugnis (Allein- oder Gesamtvertretung), und zwar selbst dann, wenn nur ein Liquidator vorhanden ist7. Während in der Vergangenheit die aufgelöste Gesellschaft gleichsam nur noch als Schatten des vormaligen Rechtsträgers angesehen wurde, ist heute von 1 BGH v. 6.3.2012 – II ZR 56/10, GmbHR 2012, 639 m. Anm. Gerdinghagen/Rulf = NJW 2012, 1875 = ZIP 2012, 817; BGH v. 10.12.2013 – II ZR 53/12, GmbHR 2014, 317 = ZIP 2014, 418; eingehend Priester in JFStR 2013/2014, 372 ff. 2 Ablehnend Karsten Schmidt, ZIP 2010, 857. 3 Karsten Schmidt, ZIP 1981, 1 ff.; Karsten Schmidt, DB 2009, 1971 ff.; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 73 GmHG Rz. 2 ff. 4 Dazu BGH v. 2.3.2009 – II ZR 264/07, GmbHR 2009, 712 = ZIP 2009, 1111; Karsten Schmidt/ Scheller in Scholz, § 73 GmbHG Rz. 2; Karsten Schmidt, DB 1994, 2013 ff.; zust. Deubert in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. T 79; Altmeppen, § 73 GmbHG Rz. 25; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 73 GmbHG Rz. 17. 5 OLG Rostock v. 11.4.1996 – 1 U 265/94, NJW-RR 1996, 1185 = GmbHR 1996, 621; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 73 GmbHG Rz. 17. 6 Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 67 GmbHG Rz. 3. 7 So BGH v. 7.5.2007 – II ZB 21/06, GmbHR 2007, 877 m. Anm. Wachter; a.M. OLG Hamm v. 31.3.2005 – 15 W 189/04, GmbHR 2005, 1308 = ZIP 2007, 1367; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 67 GmbHG Rz. 4.

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12.11

§ 12 Rz. 12.11 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

einem Modell der modifizierten Kontinuität der Gesellschaft auszugehen1. Die Liquidatoren sind nicht nur Geschäftsführungs-, sondern auch Vertretungsorgane der aufgelösten Gesellschaft (vgl. § 70 GmbHG). Ihre Vertretungsmacht ist nach früher bestrittener, heute dagegen herrschender Auffassung grundsätzlich nicht auf liquidationszweckdienliche Geschäfte beschränkt2. Aber sie sind im Innenverhältnis gehalten, Entscheidungen von grundsätzlicher Tragweite den Gesellschaftern zur Entscheidung vorzulegen (über weiter gehende Grenzen bei Betriebsveräußerungen vgl. Rz. 12.16)3. Im Einzelnen erkennt die Rechtsprechung das hier vertretene Kontinuitätskonzept immer noch nicht als durchgehendes Prinzip an4. Umstritten ist namentlich, ob eine satzungsmäßige Alleinvertretungsbefugnis oder Befreiung der Geschäftsführer von § 181 BGB im Liquidationsstadium ohne weiteres fortgilt5. Die hier entstandene Rechtsunsicherheit ist eine Herausforderung. Der Geschäftsführer und nunmehrige Liquidator sollte in jedem Zweifelsfall eine besondere Ermächtigung der Gesellschafter einholen. Wie bei den Geschäftsführern (§ 35 Abs. 2 Satz 2 GmbHG) gilt nach § 68 Abs. 1 Satz 2 GmbHG der Grundsatz der Gesamtvertretung. Wiederum ist umstritten, ob ein vor der Auflösung alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer auch ohne weiteres als Liquidator alleinvertretungsberechtigt bleibt6. Die Liquidatoren haben mit dem Zusatz „GmbH i. Liqu.“ oder ähnlich zu zeichnen (§ 68 GmbHG). Auf die Notwendigkeit richtiger Angaben auf den Geschäftsbriefen und auf die mit jeder Versäumung verbundenen Haftungsgefahren ist nachdrücklich hinzuweisen (§ 71 Abs. 5 GmbHG).

d) Rechnungslegung 12.12

Die Liquidationsrechnungslegung (§ 71 GmbHG) wurde herkömmlich dahin verstanden, dass die periodische Rechnungslegung der aufgelösten Gesellschaft mit ihrer Auflösung ende. Dieser Standpunkt scheint auf den ersten Blick zu dem Ermittlungs- und Veranlagungszeitraum bei der Körperschaftsteuer (Rz. 12.205 ff.) zu passen7. Bilanzrechtlich ist er indes überholt8: Es gibt eine periodische Rechnungslegung der Gesellschaft auch im Liquidationsstadium, und von ihr handelt der seit dem Bilanzrichtliniengesetz geltende § 71 GmbHG. Die Rechnungslegung der Liquidatoren gegenüber den Beteiligten, die herkömmlich in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wurde, ist von dieser periodischen Rechnungslegung der aufgelösten GmbH zu unterscheiden9. Für den Insolvenzverwalter gilt sinngemäß Gleiches (dazu Rz. 24.141 ff.). Das bedeutet: 1 Dazu Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 69 GmbHG Rz. 1. 2 Haas in Noack/Servatius/Haas, § 70 GmbHG Rz. 2; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 70 GmbHG Rz. 3. 3 Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 70 GmbHG Rz. 3. 4 Zusammenfassend BGH v. 27.10.2008 – II ZR 255/07, GmbHR 2009, 212 = ZIP 2009, 34. 5 Die h.M. verneint dies: BGH v. 27.10.2008 – II ZR 255/07, GmbHR 2009, 212 = ZIP 2009, 34; BayObLG v. 19.10.1995 – 3 Z BR 218/95, GmbHR 1996, 56, 57; OLG Rostock v. 6.10.2003 – 3 U 188/03, NZG 2004, 288 = GmbHR 2004, 590; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 68 GmbHG Rz. 4; bejahend demgegenüber Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 68 GmbHG Rz. 5. 6 Auch dies wird überwiegend verneint; OLG Hamm v. 2.1.1997 – 15 W 195/96, GmbHR 1997, 553; Gesell in Rowedder/Pentz, § 66 GmbHG Rz. 3; dagegen Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 68 GmbHG Rz. 5. 7 Kritik an § 11 KStG bei Karsten Schmidt in FS Ludwig Schmidt, 1993, S. 236 ff. 8 Vgl. Förster/Döring, Liquidationsbilanz, 4. Aufl. 2005; Deubert in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Teil T; Scherrer/Heni, Liquidationsrechnungslegung, 3. Aufl. 2009; Karsten Schmidt, Liquidationsbilanzen und Konkursbilanzen, 1989. 9 So die damals ungewohnte, heute akzeptierte These bei Karsten Schmidt, Liquidationsbilanzen und Konkursbilanzen, 1989, S. 38; zust. Deubert in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen,

482 | Karsten Schmidt

§ 12 Liquidation | Rz. 12.16 § 12

a) Die Liquidatoren haben nach § 71 Abs. 1, § 74 Abs. 1 GmbHG eine Liquidationseröffnungsbilanz mit einem Bericht und eine Liquidationsschlussbilanz für die Dokumentation der Liquidationsprozedur und der Vermögensverteilung zu erstellen. Der Bilanzzweck ist ein vollständig anderer als der der Jahresrechnungslegung der Gesellschaft. Es handelt sich um einen Liquidationseröffnungsplan und eine Schlussrechnung der Liquidatoren1. Dieser Dokumentation liegen Bewertungskonten zugrunde, die Neubewertungen und Abwicklungen dokumentieren2.

12.13

b) Die periodische Rechnungslegungspflicht der Gesellschaft besteht daneben fort3. Sie wird nur durch die Liquidationseröffnungsbilanz mit dem Erläuterungsbericht auf einen neuen Bilanzstichtag – jeweils der Tag der Auflösung – umgestellt4. Die Jahresrechnungslegung unterliegt den handelsrechtlichen Vorschriften über den Jahresabschluss. Die Gesellschafter bleiben für die Bilanzfeststellung zuständig (§ 71 Abs. 2 Satz 1 GmbHG). § 71 Abs. 2 Satz 3 GmbHG ermöglicht allerdings Neubewertungen für Vermögensgegenstände, deren Veräußerung beabsichtigt ist5.

12.14

c) Soweit die Gesellschaft der Pflichtprüfung nach § 316 HGB unterliegt, kann das Gericht sie hiervon nach § 71 Abs. 3 GmbHG befreien (zur Insolvenz, vgl. Rz. 24.158)6.

12.15

e) Betriebs- und Teilbetriebsveräußerung a) Wenig geklärt ist, unter welchen Voraussetzungen die Liquidatoren das Unternehmen veräußern dürfen. Außerhalb der Liquidation gelten die bei Rz. 6.221 ff. geschilderten Pflichten zur Vorlage an die Gesellschafterversammlung. Hinzu kommen die umstrittenen „Ausstrahlungswirkungen des Umwandlungsgesetzes“7, aus denen sich Gesellschafterkompetenzen bei strukturändernden Maßnahmen ergeben. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass sich dieses Problem im Auflösungsstadium etwa deshalb nicht stellte, weil mit dem Eintritt in dieses Stadium die Strukturänderung bereits vollzogen wäre. Im Gegenteil8: Gerade in Auflösungsfällen stehen für die Gesellschafter Richtungsentscheidungen außerhalb des operativen Geschäfts zur Disposition. Das bedeutet im Grundsatz: Die Liquidatoren müssen bei wesentlichen Eingriffen in die Rechte der Gesellschafter einen Gesellschafterbeschluss herbeiführen und dürfen insbesondere das Gesamtvermögen der GmbH nicht ohne Zustimmung der Gesellschafter übertragen (vgl. schon Rz. 6.225)9. Die durch BGHZ 220, 354 = NJW 2019, 1512 einge-

1 2 3 4

5 6 7 8 9

6. Aufl. 2021, Rz. T 33, T 280 ff.; Förster/Döring, Liquidationsbilanz, 4. Aufl. 2005, Rz. 43; Scherrer/Heni, Liquidationsrechnungslegung, 3. Aufl. 2009, S. 9 ff.; Gesell in Rowedder/Pentz, § 71 GmbHG Rz. 3 f.; krit. Haas in Noack/Servatius/Haas, § 71 GmbHG Rz. 8; H.-F. Müller in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 71 GmbHG Rz. 8. Karsten Schmidt in Scholz, § 71 GmbHG Rz. 31 ff. Dazu Winnefeld, Bilanz-Handbuch, 5. Aufl. 2015, Rz. N 765 ff. Deubert in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. T 195 ff.; Haas in Noack/ Servatius/Haas, § 71 GmbHG Rz. 23 ff.; Karsten Schmidt in Scholz, § 71 GmbHG Rz. 7 ff., 16 ff. BayObLG v. 14.1.1994 – 3 Z BR 307/93, GmbHR 1994, 331; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 71 GmbHG Rz. 14, 23; Karsten Schmidt in Scholz, § 71 GmbHG Rz. 12, 18; Förster/Döring, Liquidationsbilanz, 4. Aufl. 2005, Rz. 36 ff.; Scherrer/Heni, Liquidationsrechnungslegung, 3. Aufl. 2009, S. 33 ff.; Deubert in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. T 30, T 90 f.; a.M. noch Förschle/Deubert, WPg 1993, 399. Dazu Karsten Schmidt in Scholz, § 71 GmbHG Rz. 24. Haas in Noack/Servatius/Haas, § 71 GmbHG Rz. 32. Dazu umfassend Bayer in Lutter, UmwG, 6. Aufl. 2019, Einl. Rz. 57 ff. Vgl. im Einzelnen Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 70 GmbHG Rz. 17. Vgl. dazu Karsten Schmidt, ZGR 1995, 675 ff. (betr. Personengesellschaften); zugrunde lag BGH v. 9.1.1995 – II ZR 24/94, DB 1995, 621 = GmbHR 1995, 306; zu diesem Urteil vgl. aber auch Bredol/Natterer, ZIP 2015, 1419 ff.

Karsten Schmidt | 483

12.16

§ 12 Rz. 12.16 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

leitete, inzwischen bestätigte Nichtanwendung des § 71a AktG außerhalb des Aktiengesetzes1 ändert hieran nichts. Im Rahmen der Liquidation wurde herkömmlich angenommen, dass die angebliche Zweckänderung der aufgelösten Gesellschaft die Kompetenzen der Liquidatoren erweitert und insbesondere auch die Unternehmensveräußerung zulässt. Darin steckt ein richtiger Kern. Man wird aber differenzieren müssen2: Ein Liquidationsbeschluss kann eine entsprechende Kompetenzerweiterung für die Geschäftsführer (Liquidatoren) zum Inhalt haben; dann kann der Liquidator das Unternehmen nach pflichtgemäßem Abwicklungsermessen veräußern oder evtl. zerschlagen. Einen Gesellschafterbeschluss hierüber kann er zu seiner Rückendeckung einholen, muss ihn jedoch grundsätzlich nicht einholen. Zweckmäßigerweise enthält ein Auflösungsbeschluss ohnehin einen Liquidationsplan (Rz. 12.3 f.), der dann den Liquidator an die beschlossene Vorgehensweise bindet. Wird die Gesellschaft auf andere Weise als durch Beschluss aufgelöst, so ist die Liquidatoren-Vertretungsmacht ähnlich begrenzt wie die des Geschäftsführers: Er muss vor der Gesamtveräußerung des Unternehmens oder vor der Veräußerung wesentlicher Betriebsteile jedenfalls sicherstellen, dass die Gesellschafter nicht willens oder nicht imstande sind, die Gesellschaft ohne Unternehmensveräußerung zu sanieren. Die Hauptprobleme der Betriebs- oder Teilbetriebsveräußerung sind allerdings arbeitsrechtlicher Art. Auf sie wird bei Rz. 12.41 ff. eingegangen.

12.17

b) Besondere Regeln sind bei der Übertragung des Unternehmens bzw. von Betriebsteilen auf eine Auffanggesellschaft (Fortführungsgesellschaft) zu beachten (dazu auch Rz. 6.221). Der Auflösungsbeschluss als solcher unterliegt zwar keiner gerichtlichen Inhaltskontrolle (Rz. 12.3). Treuwidrig ist aber seine Verwendung für eine Art kalten Squeeze-out3. Dieser Effekt entsteht, wenn einzelne Gesellschafter der aufgelösten Gesellschaft allein oder unter Mithilfe dritter Investoren die Auffanggesellschaft okkupieren, ohne fortführungsbereiten Mitgesellschaftern quotengerechten Zugang zu dieser Gesellschaft anzubieten. Aus der Treupflicht ergibt sich also eine Art Bezugsrecht der Gesellschafter, von dem nur aus sachlichen Gründen abgewichen werden darf.

3. Besonderheiten der GmbH & Co. KG a) Auflösungstatbestände 12.18

a) Bei der GmbH & Co. KG ist auf die Koordinierung der Organisation beider Gesellschaften zu achten. Für die Komplementär-GmbH gelten die §§ 60 ff. GmbHG. Hinsichtlich der Kommanditgesellschaft bedarf der Auflösungsbeschluss nach der gesetzlichen Regel (§ 119 Abs. 1, § 161 Abs. 2 HGB) der Einstimmigkeit (ab 1.1.2024: § 109 HGB n.F.). Die meisten GmbH & Co. KG-Verträge enthalten allerdings Vertragsklauseln über Mehrheitsbeschlüsse, die sich zweckmäßigerweise am Recht der GmbH orientieren4. Die demonstrative „Abschaffung“ des sog. Bestimmtheitsgrundsatzes für Mehrheitsregelungen durch die jüngere Rechtsprechung5 ändert nichts an der Notwendigkeit, gesellschaftsrechtlich zu klären, ob eine 1 Vgl. BGH v. 8.1.2019 – II ZR 364/18, BGHZ 364/18, BGHZ 220, 354 = NJW 2019, 1512 = GmbHR 2019, 528 m. Anm. Ulrich = ZIP 2019, 701; BGH v. 15.2.2022 – II ZR 235/20, NJW 2022, 1878 m. Anm. Jerges/Goj (KG); zust. Ebbinghaus/Metzen, NZG 2022, 697. 2 Torsten Meyer, Liquidatorenkompetenzen und Gesellschafterkompetenzen in der aufgelösten GmbH, 1996. 3 Näher Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 28. 4 Eingehend Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1647 f.; Karsten Schmidt in Scholz, Anh. § 45 GmbHG Rz. 16 ff. 5 Vgl. BGH v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, BGHZ 203, 77 = BB 2015, 328 m. Anm. Grunewald = GmbHR 2014, 1303 m. Anm. Ullrich = ZIP 2014, 2231; dazu Schäfer, NZG 2014, 1401; Ulmer, ZIP

484 | Karsten Schmidt

§ 12 Liquidation | Rz. 12.21 § 12

Mehrheitsklausel auch den Auflösungsfall umfasst und welche Mehrheit erforderlich ist. Ab 1.1.2024 ergibt sich aus § 732 BGB n.F., dass ein Mehrheitsbeschluss über die Auflösung einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen Stimmen bedarf. Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit kann sich auch hier eine unter Mitwirkung aller Gesellschafter abgeschlossene Gesellschaftervereinbarung (Rz. 12.4) empfehlen. b) Weitere Auflösungstatbestände für die Kommanditgesellschaft ergeben sich aus § 131 Abs. 1 und 2 HGB, ab 1.1.2024 aus § 138 HGB n.F. Ein bis zum Inkrafttreten des § 612a BGB n.F. gesetzlich nicht geregelter, jedoch anerkannter Auflösungstatbestand ist der Fortfall des einzigen Komplementärs, bei der typischen GmbH & Co. KG also das Erlöschen oder Ausscheiden der Komplementär-GmbH1, richtigerweise auch deren bloße Auflösung2. Die typische, eines unbeschränkt haftenden Gesellschafters entbehrende GmbH & Co. KG wird auch durch rechtskräftige Insolvenzablehnung mangels Masse aufgelöst und kann wie eine Kapitalgesellschaft im Fall der Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht werden (§ 131 Abs. 2, § 161 Abs. 2 HGB, ab 1.1.2024 § 137 Abs. 2 HGB n.F.).

12.19

b) Abwicklung a) Die Kommanditgesellschaft und die GmbH bleiben auch in der Abwicklung als Rechtsträger getrennt, aber doch funktionell verbunden.

12.20

b) Im Fall der GmbH & Co. KG ist die Gestaltungspraxis aufgerufen, eine koordinierte Abwicklung beider Gesellschaften zu ermöglichen. Der Gesetzgeber hat hierfür keine Vorsorge getroffen. Nach §§ 146, 161 Abs. 2 HGB erfolgt die Liquidation bei der Handels-Personengesellschaft – auch bei der KG3 – im Zweifel durch sämtliche Gesellschafter, bei der Kommanditgesellschaft also durch Komplementäre und Kommanditisten. Erst ab 1.1.2024 wird dieser Rechtszustand in dem Sinne geändert, dass die Kommanditisten nicht kraft Gesetzes als Liquidatoren berufen sind (§ 178 HGB n.F.). Schon nach dem vorausgegangenen Gesetzesstand war aber die durchgehende Anwendung des § 146 HGB im Fall einer GmbH & Co. KG nicht sachgerecht. Hier sind die Kommanditisten als Liquidatoren berufen, wenn die Komplementär-GmbH aus der KG ausgeschieden ist. In anderen Fällen sollten im Zweifel die Liquidatoren der GmbH auch als Liquidatoren der Kommanditgesellschaft agieren4. Da eine solche Regel bisher von der herrschenden Auffassung nicht anerkannt wird, empfiehlt sich eine entsprechende Vertragsregelung im Gesellschaftsvertrag5. Wo es daran fehlt, sollten die Gesellschafter einen einstimmigen Beschluss dieses Inhalts fassen. Der Grundsatz der Selbstorganschaft steht, wie § 146 HGB zeigt, im Stadium der Auflösung nicht entgegen (vgl. ab 1.1.2024 ausdrücklich § 144 Abs. 4 HGB n.F.).

12.21

1 2 3

4 5

2015, 657; Wertenbruch, DB 2014, 2875; zuvor das „Otto“-Urteil BGH v. 15.1.2007 – II ZR 245/05, BGHZ 170, 283 = GmbHR 2007, 437; dazu Karsten Schmidt, ZGR 2008, 1 ff. BGH v. 12.11.1952 – II ZR 260/51, BGHZ 8, 35, 37 f.; BayObLG v. 10.3.2000 – 3 Z BR 385/99, BB 2000, 1211, 1212 = ZIP 2000, 1214, 1215. Sehr streitig; vgl. Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 131 HGB Rz. 47. BGH v. 24.9.1982 – V ZR 188/79, WM 1982, 1170; BayObLG v. 21.9.1994 – 3 Z BR 177/94, ZIP 1994, 1768; OLG Hamm v. 5.9.1996 – 15 W 125/96, NJW-RR 1997, 33; OLG Hamm v. 5.3.2003 – 8 U 130/02, NZG 2003, 627; Roth in Hopt, § 146 HGB Rz. 2; Haas in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas, § 146 HGB Rz. 3. Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 146 HGB Rz. 14; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 66 GmbHG Rz. 62. Vgl. Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 7 Rz. 11.

Karsten Schmidt | 485

§ 12 Rz. 12.22 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

12.22

c) Bezüglich der Rechnungslegung (vgl. Rz. 12.12 ff.) ist auch hier zwischen der Jahresrechnungslegung der Gesellschaft (§§ 238 ff. HGB) und der Rechnungslegung der Liquidatoren gegenüber der Gesellschaft (§ 154 HGB) zu unterscheiden1.

12.23

d) Bei der Verwendung und Verteilung des Gesellschaftsvermögens der GmbH & Co. KG ist über die Vorschriften des § 155 HGB hinaus auf die Einhaltung des Sperrjahrs zu achten, denn – ähnlich wie der Kapitalschutz nach den §§ 30 f. GmbHG – ist auch § 73 GmbHG auf die Verteilung des KG-Vermögens analog anzuwenden2. Es gelten sinngemäß die bei Rz. 12.10 geschilderten Grundsätze. Ist die GmbH – wie in der Regel – am KG-Vermögen nicht beteiligt, so erhält sie aus dem Abwicklungsvermögen der Kommanditgesellschaft nur ein der KG etwa belassenes Darlehen zurück3, ist aber nicht an der Auszahlung von Liquidationsquoten aus dem KG-Vermögen beteiligt4.

12.24–12.40

Einstweilen frei.

II. Arbeitsrecht der Liquidation 1. Abgrenzung: Stilllegung oder Veräußerung 12.41

Die arbeitsrechtlichen Folgen der Liquidation hängen davon ab, ob der Betrieb im Rahmen der Liquidation stillgelegt oder veräußert wird. Dies hängt in der Praxis davon ab, ob veräußerungsfähige Betrieb(steil)e bestehen oder geschaffen werden können. Ist dies nur teilweise der Fall, können die veräußerungsfähigen Betrieb(steil)e auf einen neuen Rechtsträger übertragen und der/die Restbetrieb/e stillgelegt werden. Verbunden ist mit einer Betriebsveräußerung dann zumeist ein Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB. Ziel der Sanierungspraxis ist häufig allerdings eine Vermeidung des Eingreifens von § 613a BGB, die strategisch dadurch bewirkt werden kann, dass sein Tatbestand vermieden wird.

2. Betriebsveräußerung und Betriebs(teil)übergang 12.42

Betriebsstilllegung und Betriebsübergang schließen sich gegenseitig aus5. Die Betriebsveräußerung stellt keine Betriebsänderung dar, weil und wenn sie sich in einem bloßen Arbeitgeberwechsel erschöpft6. Eine Unterrichtungspflicht gegenüber dem Wirtschaftsausschuss besteht allerdings nach § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG gleichwohl.

1 Eingehend Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 154 HGB Rz. 15 ff., 24 ff. 2 Karsten Schmidt, GmbHR 1989, 141 ff.; jetzt h.M.; vgl. die Angaben bei Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 155 HGB Rz. 49. 3 Diese Darlehensgewährung ist gebräuchlich, wenn auch vom BGH missbilligt; vgl. dazu BGH v. 10.12.2007 – II ZR 180/06, BGHZ 174, 370 = ZIP 2008, 174 = GmbHR 2008, 203 m. Anm. Rohde; krit. Karsten Schmidt, ZIP 2008, 481 ff. 4 Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 72 GmbHG Rz. 24. 5 Vgl. z.B. LAG Hamm v. 11.3.2009 – 2 Sa 1429/08, juris Rz. 33. 6 Vgl. BAG v. 21.10.1980 – 1 AZR 145/79, DB 1981, 698 = ZIP 1981, 420; BAG v. 16.6.1987 – 1 ABR 41/85, DB 1987, 1842. S. zur Problematik insbesondere bei Betriebsteilübertragungen ausführlich Moll, RdA 2003, 129 ff. = ZIP 1987, 1068.

486 | Karsten Schmidt und Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.47 § 12

a) Anforderungen an einen Betriebs(teil)übergang Tatbestandlich setzt ein Betriebs(teil)übergang nach § 613a BGB zunächst einmal voraus, dass ein neuer Rechtsträger die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt1.

12.43

Zur Herbeiführung eines Betriebs(teil)übergangs bedarf es also zunächst einer wirtschaftlichen Einheit, d.h. einer organisatorischen Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung. Diese Einheit muss auf den Erwerber übergehen und bei ihm im Wesentlichen unverändert fortbestehen. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls2.

12.44

Bei der Prüfung, ob eine solche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich3

12.45

– die Art des Unternehmens oder Betriebs, – der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, – der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, – die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, – der etwaige Übergang der Kundschaft sowie – der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und – die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten. Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden4. Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgeblichen Kriterien kommt je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktionsoder Betriebsmethoden ein unterschiedliches Gewicht zu5.

12.46

Dem Übergang eines gesamten Betriebs steht, soweit die Vorrausetzungen des § 613a BGB erfüllt sind, nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des BAG der Übergang eines Betriebsteils gleich. Dies ist unabhängig davon, ob die übergegangene wirtschaftliche Einheit ihre Selbständigkeit innerhalb der Struktur des Erwerbers bewahrt oder nicht6. Es genügt vielmehr, wenn die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren beibehalten und es dem Erwerber derart ermöglicht wird, diese Faktoren zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen7.

12.47

1 Vgl. nur EuGH v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori u.a.; BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992. 2 BAG v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n.v. 3 Vgl. bereits EuGH v. 20.7.2017 – C-416/16, NZA 2017, 1175 Rz. 43 – Piscarreta Ricardo; BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771. 4 BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750. 5 Näher EuGH v. 15.12.2005 – C-232/04 und C-233/04, ZIP 2006, 95 – Güney-Görres und Demir; BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750. 6 EuGH v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 – Amatori u.a.; EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 – Klarenberg. 7 EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 – Klarenberg; BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750.

Mückl | 487

§ 12 Rz. 12.48 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

b) „Prüfschema“ zum Betriebs(teil)übergang 12.48

Für die Praxis leichter greifbar zusammengefasst, liegt ein Betriebs(teil)übergang i.S. der Richtlinie 2001/23/EG (sog. Betriebsübergangsrichtlinie) sowie i.S. des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB tatbestandlich vor, wenn im Wesentlichen folgende Voraussetzungen erfüllt sind1: – Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit auf Seiten des potenziellen Veräußerers; – rechtsgeschäftliche Übernahme der für diese Einheit wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer durch den potenziellen Erwerber; – keine wesentliche Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit; – tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder gleichartigen Tätigkeit durch den potenziellen Erwerber im Wesentlichen unter Wahrung der organisatorischen Einheit bzw. des funktionalen Zusammenhangs der wesentlichen Ressourcen (Arbeitnehmer und/oder Betriebsmittel), wie sie/er bis zum Übertragungsvorgang bestanden hat.

12.49

Wichtig ist, dass diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen, um die Anwendbarkeit von § 613a BGB auszulösen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jedes Kriterium für sich genommen geeignet ist, durch Nichterfüllung einen Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB zu vermeiden. Dies ist insbesondere im Kontext übertragender Sanierungen zu beachten, in deren Rahmen die Rechtsfolgen des § 613a BGB zumeist zulässig vermieden (anstatt unzulässig umgangen) werden sollen. aa) Bestehende organisatorische Einheit

12.50

Voraussetzung eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB ist nach alledem zunächst das Vorliegen einer organisatorischen (wirtschaftlichen) Einheit beim Veräußerer2. Sollen Betriebsteile übergehen, müssen sie beim Veräußerer bereits als solche vorhanden sein. Denn nur eine existente, selbständig abtrennbare organisatorische Einheit kann im Wege eines Betriebsteilübergangs übergehen. Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/EG und damit der des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ist nur eröffnet, wenn sich die wirtschaftliche Einheit als hinreichend strukturierte und selbstständig organisierte Gesamtheit von Personen und Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigenem Zweck einordnen lässt3.

12.51

Die Identität einer wirtschaftlichen Einheit ergibt sich – wie bereits gezeigt (Rz. 12.45) – dabei nach ständiger Rechtsprechung aus mehreren untrennbar zusammenhängenden Merkmalen wie dem Personal der Einheit, ihren Führungskräften, ihrer Arbeitsorganisation, ihren Betriebsmethoden und gegebenenfalls den ihr zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln4. Erforderlich ist zudem zwangsläufig eine ausreichende funktionelle Autonomie. Der Begriff „Autonomie“ bezieht sich dabei auf die Befugnisse, die der Leitung der zur Einheit gehörenden Gruppe von Arbeitnehmern eingeräumt sind, um die Arbeit dieser Gruppe relativ frei und unabhängig zu organisieren und insbesondere Weisungen zu erteilen und Aufgaben auf die zu dieser Gruppe gehörenden untergeordneten Arbeitnehmer zu verteilen, ohne dass andere Or1 Vgl. bereits Mückl, Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz, 2. Aufl. 2015, Rz. 1047 m.w.N. 2 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771; BAG v. 28.2.2019 – 8 AZR 201/18, ZIP 2019, 1631. 3 EuGH v. 13.6.2019 – C-664/17, ZInsO 2019, 1438 Rz. 60 = ZIP 2019, 1593 – Ellinika Nafpigeia. 4 Vgl. bereits EuGH v. 20.7.2017 – C-416/16, NZA 2017, 1175 Rz. 43 – Piscarreta Ricardo; BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771.

488 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.54 § 12

ganisationsstrukturen des Arbeitgebers dabei dazwischengeschaltet sind1. Die Anforderung einer „hinreichenden strukturierten und selbständigen Gesamtheit von Personen und Sachen“ hat das BAG in seinem Urteil vom 20.3.20142 in Bezug auf eine Kindertagesstätte zutreffend dahin gekennzeichnet, dass maßgeblich eine eigene Leitungsstruktur ist. Im Kern geht es hier um den Prüfungspunkt 1 des einleitend dargestellten „Prüfschemas“. Unsicherheit in Bezug auf die wirtschaftliche Einheit als Ausgangspunkt des Übertragungsvorgangs hat allerdings der 8. Senat mit seinem Urteil vom 27.2.20203 geschaffen, in dem er im Ergebnis angenommen hat, eine wirtschaftliche Einheit könne auch bei der Wahrnehmung einer Aufgabe durch wechselndes Personal gegeben sein (was ggf. eine Funktionsnachfolge in den Anwendungsbereich des § 613a BGB einbeziehen könnte). Dass § 613a BGB auch ohne eine organisatorische Verbundenheit von Arbeitnehmern zur Anwendung kommen können soll, überzeugt allerdings aus mehreren Gründen nicht4. Dagegen spricht schon Art. 1 Nr. 1 lit. b RL 2001/23/EG, der den Betrieb oder Betriebsteil als eine „organisierte Zusammenfassung von Ressourcen“ beschreibt. Letztlich wird dies allerdings – insoweit übereinstimmend mit dem 8. Senat – nur der EuGH entscheiden können.

12.52

bb) Vorbereitende Umstrukturierung Wichtig für eine kontrollierte Übertragung lediglich bestimmter wirtschaftlicher Einheiten und ihrer Mitarbeiter ist daher – insbesondere, wenn eine Verteilung auf unterschiedliche Erwerber gelingen soll – zunächst eine genaue Analyse und ggf. Umstrukturierung der vorhandenen Steuerung der zu übertragenden Arbeitnehmergruppen. Denn durch Umgestaltung der Personalsteuerung, d.h. der funktionellen Autonomie, können verkaufs- und übertragungsfähige Einheiten geschaffen und übertragende Sanierungen trotz Eingreifen von § 613a BGB zu für Erwerber attraktiven Konditionen ermöglicht werden.

12.53

Denn nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gehen mit dem Übergang einer wirtschaftlichen Einheit nur die Arbeitsverhältnisse auf den neuen Arbeitgeber über, die dem „Betrieb“ oder „Betriebsteil“, d.h. der übergehenden wirtschaftlichen Einheit, zugeordnet sind. Eine wirtschaftliche Einheit muss vor dem Übergang bestehen und kann nicht nachträglich geschaffen werden. Eine mangelnde Zuordbarkeit von Arbeitnehmern lässt sich – wie das BAG in seinem Urteil vom 14.5.20205 zu Recht klargestellt hat – auch nicht durch eine betriebsbezogene Sozialauswahl substituieren. § 613a BGB ist anders als § 1 Abs. 3 KSchG kein Sozialschutz, der sicherstellen soll, dass die Kündigung gegenüber dem Arbeitnehmer erfolgt, den sie am wenigsten belastet6. Erst recht kann eine Zuordnung von Arbeitnehmern nicht durch eine nach dem Betriebsübergang durchzuführende „nachträgliche“ Sozialauswahl erfolgen. Ist ein Betriebsteil übergegangen, sind die diesem zugeordneten Arbeitnehmer ohne Weiteres7 auf den Erwerber übergegangen und damit aus dem die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG begrenzenden „Restbetrieb“ aus-

12.54

1 EuGH v. 6.3.2014 – C-458/12, ZIP 2014, 791 Rz. 32 – Amatori u.a.; vgl. auch EuGH v. 13.6.2019 – C-664/17, ZInsO 2019, 1438 Rz. 62 f. – Ellinika Nafpigeia; BAG v. 25.2.2020 – 1 ABR 39/18, ZIP 2020, 1475 Rz. 37; BAG v. 13.8.2019 – 8 AZN 171/19, AP Nr. 99 zu § 72a ArbGG 1979 Rz. 10. 2 BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992. 3 BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 Rz. 102, 105. 4 Zu Recht a.A. daher BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771 Rz. 71 ff., 81 ff. 5 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771. 6 Schubert, ZESAR 2019, 153, 157. 7 „Ipso iure“ EuGH v. 14.11.1996 – C-305/94, ECLI:EU:C:1996:435, DB 1996, 2546 Rz. 18 – Rotsart de Hertaing.

Mückl | 489

§ 12 Rz. 12.54 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

geschieden1. Eine klare Absage hat das BAG damit zu Recht auch der in der Literatur vereinzelt vertretenen Auffassung2 erteilt, § 613a BGB entfalte „Vorwirkung“ und verbiete Umstrukturierungen vor dem Hintergrund möglicher kündigungsrechtlicher Folgewirkungen.

12.55

Hier scheint der 8. Senat dem 6. Senat zuzustimmen, indem er in seinem Urteil vom 27.2.20203 Zweifel an seiner bisherigen Rechtsprechung offenlegt, wonach, sofern (ggf.) ein Unternehmens-/Betriebsteilübergang stattfindet und der Betrieb im Übrigen stillgelegt wird, nicht unbedingt die Arbeitsverhältnisse der Beschäftigten mit übergehen, die bislang für diesen Unternehmens-/Betriebsteil tatsächlich tätig geworden sind, sondern grundsätzlich – jedenfalls bei Ausspruch der Kündigung vor Betriebsteilübergang – eine Sozialauswahl unter vergleichbaren Arbeitnehmern durchgeführt werden muss4. Es spreche manches dafür, dass diese Rechtsprechung nicht ohne Weiteres mit der Rechtsprechung des EuGH vereinbar ist, wonach der Schutz der RL 2001/23/EG im Fall der Übertragung eines Teils des Betriebs/Unternehmens den in diesem Betriebs-/Unternehmensteil beschäftigten Arbeitnehmern gilt, „da das Arbeitsverhältnis inhaltlich durch die Verbindung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Betriebs-/Unternehmensteil gekennzeichnet wird, dem er zur Erfüllung seiner Aufgabe angehört und die Arbeitsverhältnisse ipso iure auf den Erwerber/neuen Inhaber übergehen.“

c) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer 12.56

Bei der Prüfung, ob eine wirtschaftliche Einheit ihre Identität bewahrt, müssen nach ständiger Rechtsprechung sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen berücksichtigt werden. Dazu gehören namentlich die Art des Unternehmens oder Betriebs, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel wie Gebäude und bewegliche Güter, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten, denen je nach der Art des betroffenen Unternehmens oder Betriebs, je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zukommt5. Diese Umstände sind jedoch nur Teilaspekte der vorzunehmenden Gesamtbewertung und dürfen deshalb nicht isoliert betrachtet werden6. Im Kern geht es hier um den Prüfungspunkt 2 des einleitend dargestellten „Prüfschemas“.

12.57

Bei der Frage der Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer wird man (auch zur Vereinfachung der Handhabung in der betrieblichen Praxis) jedenfalls im Ausgangspunkt zwischen betriebsmittelgeprägten und betriebsmittelarmen Tätigkeiten differenzieren können7. 1 2 3 4

BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771 Rz. 80. Elking, NZA 2014, 295 ff. BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 Rz. 157. BAG v. 21.5.2015 – 8 AZR 409/13, ZInsO 2016, 48 Rz. 57 ff.; BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 153/12, AP Nr. 201 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung (LS) Rz. 37; BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 391/03, BAGE 112, 273 = ZIP 2005, 412 – zu II 3 b der Gründe. 5 Vgl. BAG v. 28.2.2019 – 8 AZR 201/18, BAGE 166, 54 Rz. 26 f. = ZIP 2019, 1631. 6 EuGH v. 11.7.2018 – C-60/17, NZA 2018, 1053 Rz. 30 – Somoza Hermo und Ilunión Seguridad; BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/15, NZA-RR 2017, 123 Rz. 27; vgl. auch Bayreuther in AR-Kommentar, 9. Aufl. 2019, § 613a BGB Rz. 5. 7 Vgl. ausführlich Mückl, Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz, 2014, Rz. 584 ff.; Gaul/Bonanni in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 4 Rz. 4.96 ff.

490 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.60 § 12

Entscheidend für betriebsmittelintensive Betriebe wie Produktionsbetriebe bleibt die Übernahme der materiellen Betriebsmittel (Einrichtungsgegenstände und Maschinen)1. Deren Übertragung lässt regelmäßig die Herstellung derselben Produkte durch den neuen Inhaber zu2. Know-how und Schutzrechte können im Einzelfall ebenfalls berücksichtigungsfähig sein. Hilfs- und Rohstoffe sind demgegenüber unerheblich. Bei betriebsmittelarmen Einheiten sind andere Erwägungen wie „Ähnlichkeit der Tätigkeit nach und vor dem Übergang“, „Führungskräfte und Personal“, „Außenbeziehungen und Kundenbindungen“ zu berücksichtigen.

12.58

Ob mit der Zurverfügungstellung von Betriebsmitteln an einen Dienstleister ein Betriebsübergang verbunden ist, hängt nicht davon ab, ob diese dem Dienstleister zur eigenwirtschaftlichen Nutzung überlassen werden, sondern ist auf der Grundlage anderer Faktoren als des Kriteriums der Eigenwirtschaftlichkeit zu beurteilen, und zwar solcher, die direkt dem Dienstleister zuzurechnen sind, wie etwa die Prägungskraft der Betriebsmittel und der Übergang eines wesentlichen Teils des Personals3. Ein Betriebsübergang kann vorliegen, wenn nach öffentlicher Ausschreibung der neue Auftragnehmer der Personen- und Gepäckkontrolle an einem Flughafen unter Nutzung der bisherigen Kontrollgeräte mit fast 50 % der besonders ausgebildeten und bewährten Mitarbeiter des früheren Auftragnehmers alle Tätigkeiten ausgeführt und er mit der Übernahme dieser Mitarbeiter die Grundlage der Fortsetzung für die unverändert gebliebene Sicherungstätigkeit geschaffen hat4. Die Übernahme eines Objektschutzauftrags kann dann einen Betriebsübergang i.S. des § 613a BGB darstellen, wenn der Auftraggeber verlangt, dass der neue Auftragnehmer ein auf das zu bewachende Unternehmen zugeschnittenes zentrales Alarmmanagementsystem benutzt, welches bereits das bisherige Objektschutzunternehmen eingesetzt hat und das im Eigentum des Auftraggebers steht5. Bei einem auf den Rettungsdienst bezogenen Übergang kommt den Rettungsfahrzeugen im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbewertung hinsichtlich der identitätswahrenden Übertragung neben dem Personal und den Rettungswachen eine identitätsbestimmende Wirkung zu6. Sie sind für die wirtschaftliche Einheit „Rettungsdienst“ unverzichtbar. Es sind zwar nicht (ausschließlich) die materiellen Betriebsmittel – insbesondere die Fahrzeuge – für den Betrieb „Rettungsdienst“ identitätsbestimmend. Vielmehr wird die Identität des Rettungsdienstes ebenso durch das Rettungspersonal mitgeprägt, das für die ordnungsgemäße Durchführung des Rettungsdienstes unverzichtbar ist, über eine bestimmte Ausbildung/Qualifizierung verfügen muss und nicht ohne Weiteres durch anderes Rettungspersonal ersetzt werden kann7.

12.59

Die Beurteilung bei betriebsmittelarmen Betrieben (typischer Dienstleistungs- und Handelsbetrieben) hat neben den immateriellen Betriebsmitteln (Übertragung von Kundenlisten,

12.60

1 Vgl. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, DB 2002, 2552. S. zur Übernahme eines Kinos LAG Köln v. 8.3.2004 – 4 Sa 1115/03, NZA-RR 2004, 464 ff.; ausführlich und branchenbezogen differenzierend Gaul/Bonanni in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 4 Rz. 4.100 ff. mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen. 2 Vgl. BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, AP Nr. 39 zu § 613a BGB = ZIP 1985, 698; BAG v. 22.9.1994 – 2 AZR 54/94, AP Nr. 117 zu § 613a BGB = ZIP 1995, 59. 3 Vgl. EuGH v. 15.12.2005 – C-232/04, DB 2006, 395 = ZIP 2006, 95 – Güney-Görres/Securicor Aviation; BAG v. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, AP Nr. 292 zu § 613a BGB. S. dazu Schlachter, NZA 2006, 80, 82 ff. 4 Vgl. BAG v. 13.6.2006 – 8 AZR 271/05, NZA 2006, 1101 = ZIP 2006, 1917. 5 Vgl. BAG v. 23.5.2013 – 8 AZR 207/12, DB 2013, 2336. 6 BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/05, NZA-RR 2017, 123 Rz. 34. 7 Soweit sich aus den Urteilen des Senats vom 10.5.2012 (8 AZR 434/11, NZA 2012, 1161 Rz. 36 ff. u.a.) etwas anderes ergibt, hält der Senat hieran nicht fest, BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/05, NZARR 2017, 123 Rz. 34.

Mückl | 491

§ 12 Rz. 12.60 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

Konzessionen, Firmennamen, Geschäftspapieren) vor allem die menschliche Arbeitskraft zu berücksichtigen1. Die übernommenen Betriebsmittel müssen den Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs betreffen, was nicht schon allein deshalb der Fall ist, wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung erforderlich sind2. Ein klassisches Dienstleistungsunternehmen, bei dem die menschliche Arbeitskraft im Vordergrund steht, verliert diese Eigenschaft nicht dadurch, dass Hilfsmittel unverzichtbar sind3. Solche Hilfsmittel sind für den Betrieb nicht prägend. Das BAG hat bereits früh die Bedeutung der Arbeitnehmer und der Belegschaft für die Annahme eines Betriebsübergangs betont. – Erstens ist das BAG davon ausgegangen, dass eine Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern oder eine Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern als Indizien für einen Betriebsübergang herangezogen werden können4. – Zweitens hat das BAG hervorgehoben, dass mit dem Arbeitnehmerwechsel die Übertragung von Betriebsmitteln verbunden sein könne, die etwa in Fachkenntnissen, Goodwill, Know-how und Kundenbeziehungen liegen5. – Dies ist durch die vom EuGH entwickelte Erkenntnis zu ergänzen, dass der Hauptbelegschaft als identitätswahrendes Merkmal erhebliche Bedeutung zukommt.

12.61

Die für den Betriebsübergang maßgebende wirtschaftliche Einheit kann dann, wenn nur Betriebsmittel eine untergeordnete Rolle spielen, in der organisierten Gesamtheit von Arbeitnehmern liegen, die durch eine gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden sind6. Kommt es – bei einer betriebsmittelarmen Tätigkeit -im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft an, kann eine strukturierte Gesamtheit von Arbeitnehmern trotz des Fehlens nennenswerter materieller oder immaterieller Vermögenswerte eine wirtschaftliche Einheit darstellen. Denn wenn eine Einheit ohne nennenswerte Vermögenswerte funktioniert, kann die Wahrung ihrer Identität nach ihrer Übernahme nicht von der Übernahme derartiger Vermögenswerte abhängen. Die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist in diesem Fall anzunehmen, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt7. Hingegen stellt die bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen anderen (Funktionsnachfolge) ebenso wenig einen Betriebsübergang dar wie die reine Auftragsnachfolge8.

12.62

Es hängt vielmehr von der Struktur des Betriebs oder Betriebsteils ab, welcher nach Zahl und Sachkunde zu bestimmende Teil der Belegschaft übernommen werden muss, um einen Be1 S. dazu etwa Schipp, NZA 2013, 238 ff.; ausführlich Gaul/Bonanni in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 4 Rz. 4.128, 4.143 ff. 2 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, DB 2012, 1690 = ZIP 2012, 2080 (für ein Reisebüro, das allgemeine, auch durch das Internet ohne Weiteres beziehbare Reiseleistungen vertreibt und keine spezialisierte Marktausrichtung hat, kann seine räumliche Lage ein wichtiger identitätsprägender Faktor sein). 3 Vgl. BAG v. 19.3.2015 – 8 AZR 150/14, DB 2015, 2030. 4 Vgl. BAG v. 19.11.1996 – 3 AZR 394/95, AP Nr. 152 zu § 613a BGB = ZIP 1997, 897. 5 Vgl. BAG v. 10.6.1988 – 2 AZR 801/87, AP Nr. 82 zu § 613a BGB = ZIP 1988, 1272; BAG v. 29.9.1988 – 2 AZR 107/88, AP Nr. 76 zu § 613a BGB; BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 781/93, AP Nr. 104 zu § 613a BGB = ZIP 1994, 901. S. zum Know-how-Aspekt kritisch Waas, ZfA 2001, 377, 388 ff. 6 Z.B. BAG v. 25.8.2016 – 8 AZR 53/05, NZA-RR 2017, 123 Rz. 28. 7 EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366 – Scattolon; vgl. auch EuGH v. 20.1.2011 – C-463/ 09, ZIP 2011, 488 – CLECE; BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750. 8 Vgl. EuGH v. 20.1.2011 – C-463/09, ZIP 2011, 488 – CLECE; BAG v. 22.5.2014 – 8 AZR 1069/12, ZIP 2014, 1750; vgl. aber auch Rz. 12.52 zur neuen Rechtsprechung des 8. Senats des BAG.

492 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.63 § 12

triebsübergang nach § 613a BGB anzunehmen1. Entscheidend ist, ob der weiterbeschäftigte Belegschaftsteil, insbesondere aufgrund seiner Sachkunde, seiner Organisationsstruktur und nicht zuletzt auch seiner relativen Größe, im Grundsatz funktionsfähig bleibt2. Die Fremdvergabe eines Reinigungsauftrags mit Übernahme von 60 % der Reinigungskräfte ist noch keine Übernahme der Hauptbelegschaft3. Eine Übernahme der Hauptbelegschaft liegt auch nicht vor, wenn bei der Auftragsnachfolge eines Bewachungsauftrags 14 von 36 Vollzeitbeschäftigten und 5 von 12 Aushilfskräften im Wachdienst weiterbeschäftigt werden4. Ein Betriebsübergang liegt vor, wenn eine Service GmbH alle Reinigungskräfte übernimmt und dann in gleicher Weise wie bisher einsetzt5. Werden mehr als die Hälfte der in einem IT-Service-Betrieb beschäftigten IT-Servicetechniker, EDV-Servicemitarbeiter und Führungskräfte übernommen, so kann dies aufgrund des hohen Qualifikationsgrades die Übernahme eines nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teils des Personals darstellen6. Bedeutung neben der nach Anzahl und Sachkunde wesentlichen Belegschaft hat – auch hier – die Frage nach den betrieblichen Abläufen und der organisatorischen Zusammenfassung7. Ein Einsatz von (früheren) Belegschaftsangehörigen in einer geänderten, neuen Ablauf- und Arbeitsorganisation spricht gegen einen Betriebsübergang. Wann der nach Anzahl und Sachkunde zu bestimmende Belegschaftsanteil so wesentlich wird, dass ein Betriebsübergang an ihn angeknüpft wird, kann nur im Einzelfall aufgrund einer Gesamtbewertung aller Umstände beurteilt werden und hängt maßgeblich von den Strukturen und Tätigkeiten ab8. Je ähnlicher die Abläufe und Strukturen bleiben, desto eher ist in Verbindung mit einem Belegschaftsteil ein Betriebsübergang anzunehmen. Je geringer die Qualifikation von Arbeitnehmern ist, desto höher muss der Prozentsatz des übernommenen Personals sein. Je höher die Qualifikation von Arbeitnehmern ist, desto eher ist auf möglicherweise zahlenmäßig nicht so sehr ins Gewicht fallende qualifizierte Personen abzustellen9. So kann bei einfachen Hol- und Bringtätigkeiten in einem Krankenhaus (Abholen von Müll, Wechseln der Betten, Transport von Essen, Getränken und Medikamenten) ein Anteil von 75 % der früheren Belegschaft nicht ausreichen, um die Übernahme der Hauptbelegschaft feststellen zu können10. Übernimmt ein Leiharbeitnehmer von einem anderen Leiharbeitsunternehmen lediglich die bei einem bestimmten Entleiher eingesetzten Leiharbeitnehmer und setzt diese nunmehr aufgrund des ebenfalls übernommenen Arbeitnehmerüberlassungsvertrags weiterhin bei diesem Entleiher ein, so stellt dies keinen Betriebsteilübergang dar11.

Eine Betriebsfortführung mit Arbeitnehmern, die das Arbeitsverhältnis beendet haben, in eine Transfergesellschaft gewechselt sind und von dort zur Tätigkeit in den Betrieb ausgeliehen werden, stellt keinen Betriebsübergang dar, da kein Inhaberwechsel stattfindet12. 1 Zahlreiche Beispiele aus der Rechtsprechung finden sich bei Gaul/Bonanni in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 4 Rz. 4.143 ff. 2 Vgl. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6; BAG v. 22.1.2015 – 8 AZR 139/14 (Bewachungsgewerbe). 3 Vgl. BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 333/04, NZA 2006, 31 = ZIP 2006, 46. 4 Vgl. BAG v. 25.9.2008 – 8 AZR 607/07. 5 Vgl. BAG v. 21.5.2008 – 8 AZR 481/07. 6 Vgl. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, NZA-RR 2013, 6. 7 Vgl. Müller-Glöge, NZA 1999, 449, 451; Hohenstatt/Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, 10. Aufl. 2022, § 111 BetrVG Rz. 38. 8 Vgl. BAG v. 22.1.2015 – 8 AZR 139/14 (Bewachungsgewerbe). 9 Vgl. BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, AP Nr. 172 zu § 613a BGB = ZIP 1998, 666; Baeck/Lingemann, NJW 1997, 2492, 2494; Müller-Glöge, NZA 1999, 449, 451; Moll, RdA 1999, 233, 236. 10 Vgl. BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 676/97, AP Nr. 187 zu § 613a BGB = ZIP 1999, 632. 11 Vgl. BAG v. 12.12.2013 – 8 AZR 1023/12, EzA § 613a BGB 2002 Nr. 148. 12 Vgl. LAG Köln v. 27.6.2011 – 2 Sa 1369/10, ZInsO 2012, 2348.

Mückl | 493

12.63

§ 12 Rz. 12.64 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

d) Übergang „durch Rechtsgeschäft“ 12.64

Der Betriebsübergang muss durch ein Rechtsgeschäft i.S. des § 613a BGB erfolgen. Der Begriff „durch Rechtsgeschäft“ des § 613a BGB ist wie der Begriff „durch vertragliche Übertragung“ in Art. 1 Abs. 1a der RL 2001/23/EG1 weit auszulegen, um dem Zweck der Richtlinie – dem Schutz der Arbeitnehmer bei einer Übertragung ihres Unternehmens – gerecht zu werden. Der Begriff des Rechtsgeschäfts ist weit zu verstehen.

12.65

Da es ein Recht am Betrieb oder an einem Betriebsteil nicht gibt, ist der Betrieb als solcher kein Gegenstand, der durch Rechtsgeschäft übertragen werden kann. Rechtsgeschäftlicher Betriebsinhaberwechsel bedeutet, dass die zum Betrieb gehörenden materiellen oder immateriellen Rechte durch besondere Übertragungsakte – und nicht durch Gesamtrechtsnachfolge oder Hoheitsakt – auf den neuen Inhaber übertragen werden und der Erwerber damit neuer Inhaber des Betriebes wird2.

12.66

Dies heißt aber nicht, dass § 613a BGB nur dann anwendbar wäre, wenn der Betrieb oder Betriebsteil als Ganzes, unmittelbar durch ein einheitliches Rechtsgeschäft von dem Veräußerer auf den Erwerber übertragen wird3. Vielmehr liegt ein Betriebsübergang durch Rechtsgeschäft auch dann vor, wenn der Übergang von dem alten auf den neuen Betriebsinhaber rechtsgeschäftlich veranlasst wurde, sei es auch durch eine Reihe von verschiedenen Rechtsgeschäften oder durch rechtsgeschäftliche Vereinbarungen mit verschiedenen Dritten, die ihrerseits Teile des Betriebsvermögens oder die Nutzungsbefugnis darüber von dem ehemaligen Inhaber des Betriebes erlangt haben4. So ist es nicht erforderlich, dass zwischen Veräußerer und Erwerber unmittelbar vertragliche Beziehungen bestehen; die Übertragung kann auch unter Einschaltung eines Dritten, wie z.B. des Eigentümers oder des Verpächters, erfolgen5. Entscheidend ist nur, ob die unterschiedlichen Rechtsgeschäfte darauf gerichtet sind, eine funktionsfähige betriebliche Einheit zu übernehmen6.

12.67

Bei § 613a BGB handelt es sich allerdings um zwingendes Recht, so dass der Übergang von Arbeitsverhältnissen bei Eingreifen des § 613a BGB von Rechts wegen erfolgt7. Konsequenz daraus ist, dass anders lautende Abmachungen zwischen den Parteien daran – wie das BAG in seinem Urteil vom 20.3.20148 noch einmal klargestellt hat – nichts ändern. Es kann also nicht vereinbart werden, dass kein Betriebs(teil)übergang vorliegt.

1 Vgl. dazu u.a. EuGH v. 7.3.1996 – C-171/94, BB 1996, 1065 Rz. 28 – Merckx und Neuhuys; EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366 Rz. 63 – Scattolon. 2 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222. 3 BAG v. 22.5.1985 – 5 AZR 173/84, AP BGB § 613 a Nr. 43, zu B II 3 b der Gründe = ZIP 1985, 1343; BAG v. 21.2.1990 – 5 AZR 160/89, AP BGB § 613 a Nr. 85, zu II 2 der Gründe = ZIP 1990, 662. 4 BAG v. 22.5.1985 – 5 AZR 173/84, AP BGB § 613 a Nr. 43, zu B II 3 b der Gründe; BAG v. 21.2.1990 – 5 AZR 160/89, AP BGB § 613 a Nr. 85, zu II 2 der Gründe; BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222. 5 Vgl. EuGH v. 20.11.2003 – C-340/01, ZIP 2003, 2315 Rz. 39 – Abler u.a.; BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97 Rz. 18; BAG v. 22.1.2015 – 8 AZR 139/14, NZA 2015, 1325 Rz. 19. 6 BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, ZIP 2003, 222. 7 Vgl. u.a. EuGH v. 26.5.2005 – C-478/03, ZIP 2005, 1377 – Celtec; EuGH v. 25.7.1991 – C-362/89, ZIP 1993, 936 – d’Urso u.a.; EuGH v. 10.2.1988 – C-324/86, Slg 1988, 739 – Foreningen af Arbejdsledere i Danmark, „Daddy’s Dance Hall“; BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144. 8 BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992.

494 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.70 § 12

e) Beibehaltung der Organisation oder des Funktionszusammenhangs Nach ständiger Rechtsprechung liegt ein Betriebs(teil)übergang zudem nicht nur im Fall der Beibehaltung der konkreten Organisation der verschiedenen übertragenen Produktionsfaktoren durch den Unternehmer vor, sondern die Beibehaltung der funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen diesen Faktoren bildet das maßgebliche Kriterium für die Bewahrung der Identität der übertragenen Einheit1. Nach der Rechtsprechung des EuGH erlaubt es die Beibehaltung einer solchen funktionellen Verknüpfung zwischen den übertragenen Faktoren dem Erwerber, diese Faktoren, selbst wenn sie nach der Übertragung in eine neue, andere Organisationsstruktur eingegliedert werden, zu nutzen, um derselben oder einer gleichartigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen2. Dieser Punkt ist unter Prüfungspunkt 4 des einleitend dargestellten „Prüfschemas“ angesprochen.

12.68

f) Strategien zur Vermeidung des Eingreifens von § 613a BGB Denkbar ist vor diesem Hintergrund auch, Betriebs(teil)übergänge dadurch zu vermeiden, dass die bisherige wirtschaftliche Einheit im Zuge des Übertragungsvorgangs ihre Identität einbüßt. Denn die identitätswahrende Übertragung ist zwingende Voraussetzung für das Eingreifen von § 613a BGB. Hiervon ausgehend sind – selbst bei Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel bzw. Arbeitnehmer – z.B. folgende Strategien denkbar, um einen Betriebs (teil)übergang zu vermeiden:

12.69

– Übernahme von Arbeitnehmern/Betriebsmitteln aus verschiedenen organisatorischen Einheiten zur Gründung einer neuen organisatorischen Einheit beim potenziellen Erwerber; – Beseitigung der Organisationsstruktur des bisherigen Betriebsinhabers durch Eingliederung in die beim potenziellen Erwerber bestehende/neu geschaffene Organisationsstruktur unter gleichzeitiger Beseitigung der bisherigen Funktionsstruktur der übernommenen Arbeitnehmer und/oder Betriebsmittel; – Verwendung Betriebsmittel und/oder Arbeitnehmer zu wesentlich veränderten Betriebszweck, soweit dieser mit einer Auflösung der bislang bestehenden funktionellen Zusammenhänge verbunden ist. – Erst recht vermieden wird ein Betriebs(teil)übergang allerdings dadurch, dass die identitätsbildenden Betriebsmittel/Mitarbeiter erst gar nicht übernommen werden.

Eine wesentliche Änderung der prägenden Faktoren der Einheit lässt die Identität daher verloren gehen3, z.B., wenn die Art der Dienstleistung, ein Produktinhalt oder ein Verkaufskonzept geändert wird4. Es kann einen Unterschied machen, ob bei einem Tankstellenbetrieb der Pächter unter Beibehaltung des Betriebszwecks am selben Standort wechselt und Betriebsmittel ersetzt werden, die in die Jahre gekommen sind, oder ob die Mineralölgesellschaft den Standort schließt, in der Nähe einen neuen Tankstellenbetrieb errichtet und diesen an einen anderen 1 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1092 Rz. 62; BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 Rz. 87; EuGH v. 9.9.2015 – C-160/14, EuZW 2016, 111 Rz. 32 ff. – Ferreira da Silva e Brito u.a.; grundlegend EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 Rz. 43 ff. – Klarenberg. 2 EuGH v. 9.9.2015 – C-160/14, EuZW 2016, 111 Rz. 32 ff. – Ferreira da Silva e Brito u.a. Rz. 32 ff.; grundlegend EuGH v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 Rz. 43 ff. – Klarenberg. 3 Vgl. BAG v. 13.5.2004 – 8 AZR 331/03, AP Nr. 273 zu § 613a BGB. 4 Vgl. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 331/05, AP Nr. 313 zu § 613a BGB (Möbeleinzelhandel) = ZIP 2006, 2181.

Mückl | 495

12.70

§ 12 Rz. 12.70 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

Pächter vergibt1. Der bloße Umstand, dass die nacheinander von dem alten und dem neuen Auftragnehmer erbrachten Leistungen einander ähnlich sind, lässt nicht auf den Übergang einer solchen Teileinheit schließen. Ob ein Betriebsübergang oder eine bloße Funktionsnachfolge vorliegt, hängt davon ab, ob der neue Inhaber einen bereits vom bisherigen Inhaber rationalisierten Betrieb übernommen hat oder ob die bisherigen Geschäfte i.S. einer bloßen Funktionsnachfolge mit einem kleineren, mit weniger Personal neu organisierten Betrieb fortgeführt werden2.

g) Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs aa) Eintritt in bestehende Arbeitsverhältnisse aaa) Grundsatz

12.71

Rechtsfolge eines Betriebs(teil)übergangs ist der Eintritt des übernehmenden Rechtsträgers in alle vom Betriebsübergang erfassten Arbeitsverhältnisse inklusive aller individualvertraglichen Rechte und Pflichten. Dass ein Arbeitsverhältnis von einem Betriebs(teil)übergang erfasst ist, setzt tatbestandlich nicht nur eine entsprechende Organisationseinheit voraus, sondern auch die Eingliederung des betroffenen Arbeitsverhältnisses in diese Organisationseinheit3. Beides ist letztlich untrennbar miteinander verknüpft. Denn die Eingliederung in eine Organisation kennzeichnet wiederum die Organisation selbst. Entgegen der Ansicht des 8. Senats4 des BAG ist dies daher nicht nur ein Aspekt, der auf der Rechtsfolgenseite zum Tragen kommt.

12.72

Entscheidend für die betriebliche Praxis ist daher, wodurch die Eingliederung bewirkt, d.h. die Organisation bestimmt wird. Das BAG hat zu der Frage, welche Arbeitsverhältnisse einem Betriebs(teil) i.S. einer Eingliederung zugeordnet sind, in jüngerer Zeit konkrete Kriterien entwickelt. Zusammenfassend beschreiben lässt sich die Lösung des BAG als Drei-Stufen-Test wie folgt: – 1. Stufe: Für die Frage, welchem Betrieb oder Betriebsteil ein Arbeitnehmer zugeordnet ist, kommt es zunächst auf den Willen der Arbeitsvertragsparteien an5. – 2. Stufe: Ist der Wille der Arbeitsvertragsparteien weder ausdrücklich dokumentiert noch in konkludenter Form – d.h. durch Auslegung ermittelbar –, erfolgt die Zuordnung grds. – ausdrücklich oder konkludent – durch den Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts. – 3. Stufe: Erst wenn weder eine einvernehmliche Zuordnung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch eine einseitige Zuordnung des Arbeitgebers kraft seines Direktionsrechts feststellbar ist, erfolgt die Zuordnung nach objektiven Kriterien6. Maßgeblich ist insoweit, wo der Schwerpunkt der Tätigkeit des Arbeitnehmers liegt. Wie in der Literatur allerdings zutreffend herausgearbeitet worden ist7, handelt es sich bei der 3. Stufe dogmatisch im Kern um nichts anderes als um eine Bewertung der tatsächlichen Umstände, anhand derer die konkludente Zuordnungsentscheidung des Arbeitgebers im Rahmen seines Direktionsrechts ermittelt wird. Vergleichsweise wenige Schwierigkeiten bereitet die Zu1 2 3 4 5

Vgl. BAG v. 18.9.2014 – 8 AZR 733/13, NZA 2015, 97. Reufels in GmbH-Handbuch, Rz. IV 325.3. Vgl. bereits Mückl, DB 2015, 2695 ff. Vgl. aber BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303, Rz. 110 f. St. Rspr., vgl. BAG v 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178; BAG v. 17.10.2013 – 8 AZR 763/ 12, NZA-RR 2014, 175. 6 BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, DB 2013, 1731 = ZIP 2013, 330; BAG v. 17.10.2013 – 8 AZR 763/12, NZA-RR 2014, 175. 7 Kreitner in FS Küttner, 2006, S. 399, 412.

496 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.75 § 12

ordnung daher, wenn das Direktionsrecht fachlich und disziplinarisch durch denselben Rechtsträger ausgeübt wird1. bbb) Sonderfälle Aus der Maßgeblichkeit des Direktionsrechts für die Zuordnung zu einer übertragenen organisatorischen Einheit – außerhalb der Fälle einvernehmlicher Zuordnung – folgt für die betriebliche Praxis allerdings dann, wenn das fachliche und das disziplinarische Direktionsrecht nicht durch denselben Rechtsträger, sondern von unterschiedlichen Rechtsträgern ausgeübt wird, die wichtige Frage, ob das Arbeitsverhältnis nur der Organisationseinheit zugeordnet ist, in der das disziplinarische Weisungsrecht ausgeübt wird oder nur derjenigen, in der das fachliche Weisungsrecht ausgeübt wird oder beiden. Richtigerweise wird man auf das disziplinarische Weisungsrecht abstellen müssen2.

12.73

Sofern das Weisungsrecht in der Hand eines Rechtsträgers liegt, können sich allerdings dennoch komplexe Herausforderungen stellen. Dies gilt z.B. dann, wenn Arbeitsverhältnisse auf „Doppelpositionen“ in Rede stehen3, das Arbeitsverhältnis also gleichzeitig in zwei wirtschaftliche Einheiten integriert ist4. Der EuGH hat insoweit in seinem Urteil vom 26.3.20205 für den Fall der Übertragung dieser Einheiten auf unterschiedliche Erwerber angenommen, wenn ein Arbeitsverhältnis in mehrere wirtschaftliche Einheiten integriert sei, sei Art. 3 Abs. 1 RL 2001/23/EG im Fall eines Unternehmensübergangs, an dem mehrere Erwerber beteiligt sind, dahin auszulegen, dass die Rechte und Pflichten aus einem Arbeitsvertrag auf jeden der Erwerber anteilig entsprechend der vom betreffenden Arbeitnehmer wahrgenommenen Aufgaben übergehen, sofern (i) die daraus folgende Aufspaltung des Arbeitsvertrags möglich ist und (ii) weder eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nach sich zieht (iii) noch die Wahrung der durch die RL 2001/23/EG gewährleisteten Ansprüche berührt. Sollte sich eine solche Aufspaltung als unmöglich herausstellen oder die Ansprüche dieses Arbeitnehmers beeinträchtigen, wäre – so der EuGH weiter – bei der etwaigen nachfolgenden Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Art. 4 RL 2001/23/EG davon auszugehen, dass sie durch den oder die Erwerber erfolgt ist, auch wenn sie vom Arbeitnehmer ausgegangen sein sollte. Dadurch wird der Kreis der von einem Betriebsteilübergang erfassten – und dementsprechend nach § 613a Abs. 5 BGB auch von den Erwerbern zu unterrichtenden – Arbeitnehmer nicht nur erweitert, sondern auch der Kreis der Haftungsschuldner des Arbeitnehmers und es ergeben sich praktische Schwierigkeiten wie z.B. die Frage, welcher Erwerber welche Personalakten erhält. Die bei Aufspaltung des Arbeitsverhältnisses in Teilzeitarbeitsverhältnisse eintretenden Folgen lassen sich nur bedingt mit „allgemeinem“ Teilzeitrecht lösen6. Die Praxis wird daher vermehrt über vorbereitende Umstrukturierungen nachdenken müssen, die mit Doppelpositionen verbundene Schwierigkeiten vermeiden.

12.74

Sind in die zu übertragende Einheit eingegliederte Arbeitsverhältnisse – was insbesondere im Rahmen eines Erwerberkonzepts7 denkbar ist – bereits gekündigt, gehen sie im gekündigten Zustand über8.

12.75

1 2 3 4 5 6 7 8

Zur Zuordnung im Rahmen von Matrixstrukturen vgl. Mückl, DB 2015, 2695 ff. Zu den damit zusammenhängenden Fragen vgl. Mückl, DB 2015, 2695 ff. Vgl. dazu Löw/Stolzenberg, NZA 2020, 1279. Vgl. bereits Annuß, NZA 1998, 70, 76 zu „Schnittstellenpositionen“. EuGH v. 26.3.2020 – C-344/18, NZA 2020, 503 = ZIP 2020, 1146 – ISS Facility Services. Optimistisch Löw/Stolzenberg, NZA 2020, 1279, 1284. Vgl. bereits Mückl in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 4 Rz. 10, 169. BAG v. 8.9.1999 – 5 AZR 671/98, NZA 2000, 490.

Mückl | 497

§ 12 Rz. 12.76 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

bb) Eintritt in individualrechtliche Ansprüche

12.76

Gemäß § 613a BGB tritt der übernehmende Rechtsträger (zum Zeitpunkt seiner Übernahme der Leitungsmacht)1 als Arbeitgeber an die Stelle des übertragenden Rechtsträgers. Konsequenz ist ein Eintritt in alle individualrechtlichen Rechte und Pflichten. Der übernehmende Rechtsträger wird nach näherer Maßgabe des in § 613a Abs. 1, 2 BGB geregelten Haftungskonzepts2 Schuldner aller individualrechtlichen Ansprüche aus dem übertragenen Arbeitsverhältnis. Erfasst sind über den formellen Arbeitsvertrag hinaus z.B. auch Gesamtzusagen und betriebliche Übungen bzw. – soweit sie bereits gegenüber dem übertragenden Rechtsträger bestehen3 – aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Wichtig ist, mit Blick auf etwaige Ansprüche danach zu differenzieren, ob sie aus dem Arbeitsverhältnis stammen oder neben ihm begründet worden und damit nicht von den Rechtsfolgen von § 613a BGB erfasst sind4.

12.77

Der Eintritt in Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis umfasst auch die beim übertragenden Rechtsträger erworbene Betriebszugehörigkeit5, wobei diese allerdings mit Blick auf Rechte, die erst nach dem Übergang beim übernehmenden Rechtsträger begründet werden und vorher nicht bestanden haben, vom übernehmenden Rechtsträger nicht berücksichtigt werden müssen6. cc) Eintritt in kollektivrechtliche Ansprüche

12.78

Nach § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB gelten die bis zu einem Übergang des Arbeitsverhältnisses unmittelbar und zwingend durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung geregelten Rechte und Pflichten grundsätzlich als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses fort und dürfen für die Dauer eines Jahres auf einzelvertraglicher Ebene nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers verändert werden (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB).

12.79

In Kollektivvereinbarungen geregelte Arbeitsbedingungen werden dabei nach dem Wortlaut von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich in das Arbeitsverhältnis transformiert, soweit sie nicht durch entsprechende Erwerberkollektivvereinbarungen abgelöst werden (§ 613a Abs. 1 Satz 3 BGB).

12.80

Nach Auffassung des BAG ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB als bloße „Auffangnorm“7, die eine kollektive Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nicht ausschließt8, allerdings nur anzuwenden, wenn der Betriebserwerber nicht ohnehin kollektivrechtlich an die bislang beim Veräußerer geltenden Kollektivnormen gebunden ist. – Ist der Erwerber ebenso tarifgebunden wie der Veräußerer, ist eine Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nach Ansicht des BAG ausgeschlossen. 1 Zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts vgl. z.B. BAG v. 25.1.2018 – 8 AZR 524/16 Rz. 43, juris. 2 Zu umwandlungsrechtlichen Besonderheiten vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 4 Rz. 310 ff. 3 Zur Nichterforderlichkeit einer Gleichbehandlung von übernommenen Arbeitnehmern mit der Stammbelegschaft vgl. BAG v. 31.8.2005 – 5 AZR 517/04, NZA 2006, 265 = ZIP 2005, 2225. 4 Vgl. zu Arbeitgeberdarlehen einerseits LAG Köln v. 27.4.2001 – 11 Sa 1315/00, NZA-RR 2002, 369 und andererseits BAG v. 21.1.1999 – 8 AZR 373/97, BeckRS 1999, 30368263. 5 BAG v. 2.6.2005 – 2 AZR 480/04, DB 2006, 110; Fuhlrott in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 3 Rz. 104 m.w.N. 6 BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 512/12, NZA-RR 2014, 154. 7 Kritisch Sagan, RdA 2011, 163, 164. 8 BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, BB 2008, 447 = ZIP 2008, 378.

498 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.82 § 12

– Dem vergleichbar sollen Betriebsvereinbarungen unverändert als solche fortgelten, wenn der übernommene Betrieb nach dem Übergang seine Identität bewahrt1. Dies soll auch bei der Übernahme eines Betriebsteils gelten, sofern er als eigenständiger Betrieb fortgeführt wird2. Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen gelten bei Ausscheiden des übertragenen Betriebs(teils) aus dem Unternehmen bzw. Konzern im Fall identitätswahrender Fortführung durch den übernehmenden Rechtsträger ebenfalls als Einzelbetriebsvereinbarung weiter3.

Greift § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ein, kann ein danach fortgeltender Anspruch gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB dennoch durch eine beim Betriebserwerber abgeschlossene Kollektivvereinbarung (Tarifvertrag bzw. Betriebsvereinbarung) abgelöst werden, weil die nunmehr als Inhalt des Arbeitsverhältnisses geltenden kollektivrechtlichen Regelungen inhaltlich nicht weiter geschützt sind, als sie es bei einem Fortbestand beim Erwerber gewesen wären4. In beiden Fällen ist nach der Rechtsprechung des BAG im Verhältnis zwischen (transformiertem) Veräußererund (neuem) Erwerberkollektivvertrag das Günstigkeitsprinzip nicht anwendbar. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB enthalte eine Spezialregelung, welche die Anwendung des Günstigkeitsprinzips ausschließe5. Konsequenz dieser – trotz möglicherweise entgegenstehender EuGH-Rechtsprechung6 vom BAG bestätigten – Auffassung ist, dass der Erwerber eines Betrieb(steil)s aus der Insolvenzmasse die typischerweise mit erheblichen Kosten verbundenen Kollektivvereinbarungen des Veräußerers durch eigene ablösen konnte, um den Betrieb kostengünstiger fortzuführen7.

12.81

Nachdem das BAG zunächst dahinstehen lassen hat, ob der Rechtsprechung des EuGH ein allgemeines unionsrechtliches Verschlechterungsverbot zu entnehmen ist, hat dies nun der 1. Senat in Bezug auf Betriebsvereinbarungen verneint8 und sich damit dem 4. Senat angeschlossen, der dies mit Urteil vom 23.1.20199 für Tarifverträge ebenfalls abgelehnt hatte. Beide Senate befinden sich damit in Übereinstimmung mit der herrschenden Literatur sowie der Instanzrechtsprechung10 und haben eine Vorlage an den EuGH abgelehnt. Für die Sanierungspraxis bedeutet dies eine große Erleichterung. Denn damit sind Sanierungsvereinbarungen – jedenfalls aus nationaler Sicht – auch unionsrechtskonform. Denkbare Ausweichstrategien11 müssen vorerst nicht weiterverfolgt werden. Auch Unterrichtungsschreiben nach § 613a Abs. 5 BGB müssen keine Hinweise (mehr) darauf enthalten, dass eine verschlechternde Ablösung kollektivrechtlicher Regelungen ggf. unionsrechtlich anders bewertet werden könnte und (nur) nach der Bewertung des Betriebsveräußerers und -erwerbers unionsrechtskonform sind.

12.82

1 Näher BAG v. 12.6.2019 – 1 AZR 154/17, ZIP 2019, 1340; BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803; BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, DB 2003, 1281; BAG v. 25.2.2020 – 1 ABR 39/ 18, NZA 2020, 875 Rz. 35 ff. 2 BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803; BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, DB 2003, 1281 = ZIP 2003, 1059. 3 BAG v. 25.2.2020 – 1 ABR 39/18, NZA 2020, 875 Rz. 24 = ZIP 2020, 1475; BAG v. 5.5.2015 – 1 AZR 763/13, NZA 2015, 1331 Rz. 50 = ZIP 2015, 1748. 4 BAG v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, BB 2012, 1920 (LS). 5 BAG v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, BB 2005, 2467 = ZIP 2005, 1889; BAG v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, DB 1994, 2629 = ZIP 1994, 1797. 6 EuGH v. 6.9.2011 – C-108/10, NZA 2011, 1077 = ZIP 2012, 1366 – Scattolon; EuGH v. 11.9.2014 – C-328/13, NZA 2014, 1092 = ZIP 2014, 1893 – Österreichischer Gewerkschaftsbund; EuGH v. 6.4.2017 – C-336/15, BB 2017, 1146 = ZIP 2017, 1038 – Unionen. 7 Zur Beendigung von Tarifverträgen in der Insolvenz vgl. Mückl/Krings, BB 2012, 769 ff. 8 BAG v. 12.6.2019 – 1 AZR 154/17, ZIP 2019, 1340. 9 BAG v. 23.1.2019 – 4 AZR 445/17, NZA 2019, 367 = ZIP 2019, 1081. 10 Vgl. zu beiden Mückl, ZInsO 2019, 652 ff. m.w.N. 11 Vgl. dazu Mückl, ZInsO 2019, 652 ff. m.w.N.

Mückl | 499

§ 12 Rz. 12.83 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

12.83

Die Fortgeltung des Tarifvertrags gilt gemäß § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB allerdings zunächst einmal dann nicht, wenn diese Rechte und Pflichten beim Erwerber durch einen anderen Tarifvertrag geregelt sind, der die gleiche Sachfrage regelt und für das Arbeitsverhältnis gilt. Losgelöst davon lässt § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB Veränderungen ferner dann zu, wenn diese als Folge einer Beendigung und den Eintritt einer (dispositiven) Nachwirkung auf individualoder kollektivrechtlicher Ebene auch ohne einen Betriebsübergang möglich gewesen wären. Dies setzt voraus, dass die nachwirkenden Tarifbestimmungen auch den Erwerber erfassen und ihr dispositiver Charakter es rechtfertigt, sie von der einjährigen Veränderungssperre auszunehmen. Dass diese Regelung im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2001/23/EG steht, lässt sich dem Urteil des EuGH vom 11.9.20141 entnehmen. In gleicher Weise endet die Übernahme eines Tarifvertrags dann, wenn dieser als Folge seiner Beendigung ohne Nachwirkung auch ohne einen Betriebsübergang keine weitergehenden Rechte und Pflichten mehr entfaltet hätte.

12.84

Keine Strategie zur Vermeidung dieser Rechtsfolgen ist – wie das BAG in seinem Urteil vom 12.2.20142 klargestellt hat – ein einzelvertraglicher Verzicht auf einen bereits entstandenen tarifvertraglichen Anspruch. Ein solcher Verzicht ist auch dann wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG nichtig, wenn dieser erst nach einem Betriebsübergang gegenüber dem Betriebsveräußerer oder dem Betriebserwerber erklärt wird. Der Betriebsübergang ist für die Unverzichtbarkeit tariflich begründeter Ansprüche ohne Bedeutung. Daher muss im Vorfeld übertragender Sanierungen geprüft werden, ob im Rahmen „betrieblicher Bündnisse für Arbeit“3, welche die Verkaufschance erhöhen sollen, mit Blick auf tarifvertragliche Ansprüche eine hinreichende Beteiligung der zuständigen Gewerkschaft mit der Folge erfolgt ist, dass entsprechende tarifvertragliche Ansprüche wirksam beseitigt sind.

12.85

Der Arbeitnehmer ist über den Betriebsübergang zu unterrichten (§ 613a Abs. 5 BGB). Die Unterrichtung erfolgt durch den bisherigen Arbeitgeber oder den neuen Betriebsinhaber4. Die Unterrichtung bedarf der Textform (§ 126b BGB). Sie muss ausweislich § 613a Abs. 5 Nr. 1 bis 4 BGB die folgenden Gesichtspunkte enthalten: den erfolgten oder geplanten Zeitpunkt des Betriebsübergangs, den rechtlichen Grund für den Betriebsübergang, die korrekte Darstellung der Folgen des Betriebsübergangs für die Arbeitnehmer in rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, die in Aussicht genommenen Maßnahmen hinsichtlich der Arbeitnehmer.

12.86

Durch die Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB soll eine ausreichende Wissensgrundlage für den Arbeitnehmer in Bezug auf die Entscheidung geschaffen werden, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses zu widersprechen oder ihn hinzunehmen. Das BAG stellt an die ordnungsgemäße Unterrichtung der Arbeitnehmer bei einem Betriebsübergang sehr strenge Anforderungen. Soweit ersichtlich hat es lediglich in einem Fall eine ordnungsgemäße Unterrichtung angenommen5.

dd) Unterrichtung über den Betriebs(teil)übergang

1 EuGH v. 11.9.2014 – C-328/13, NZA 2014, 1092 = ZIP 2014, 1893 – Österreichischer Gewerkschaftsbund. 2 BAG v. 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, ZIP 2014, 988. 3 Vgl. dazu Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 162 ff. 4 Zum Problem mangelnder Kooperationsbereitschaft der beteiligten Rechtsträger im Rahmen der Unterrichtung nach § 613a Abs. 5 BGB ausführlich Mückl, RdA 2008, 343 ff. 5 Vgl. BAG v. 10.11.2011 – 8 AZR 430/10, AP BGB § 613a Unterrichtung Nr. 15.

500 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.91 § 12

In seinem Urteil vom 14.11.20131 hat das BAG die Anforderungen bei einem im Unterrichtungsschreiben vorgenommenen Verweis auf das Handelsregister konkretisiert und darüber hinaus klargestellt, dass bei einem Übergang auf einen neu gegründeten Rechtsträger über die fehlende Sozialplanpflicht nach § 112a Abs. 2 BetrVG unterrichtet werden muss. Die Unterrichtung erfordert insgesamt eine verständliche, arbeitsplatzbezogene und zutreffende Information2. Sie muss auch Angaben über die Identität des Erwerbers sowie den Gegenstand des Betriebsübergangs enthalten3. Ohne eine ordnungsgemäße und vollständige Unterrichtung läuft die Monatsfrist für die Erklärung des Widerspruchs (§ 613a Abs. 6 Satz 1 BGB) nicht4.

12.87

ee) Widerspruch gegen den Betriebs(teil)übergang aaa) Allgemeines Der Arbeitnehmer kann dem sich aus § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ergebenden Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprechen (§ 613a Abs. 6 Satz 1 BGB)5. Der Widerspruch ist innerhalb eines Monats nach Unterrichtung des Arbeitnehmers über den Betriebsübergang zu erklären (§ 613a Abs. 6 Satz 1 BGB). Er bedarf der Schriftform. Der Widerspruch kann sowohl gegenüber dem bisherigen Arbeitgeber als auch dem neuen Betriebsinhaber erklärt werden (§ 613a Abs. 6 Satz 2 BGB). Dies bedeutet, dass bei Betriebsübergängen der aktuelle alte/neue Betriebsinhaber Adressaten des Widerspruchsrechts sind6. Ist ein Widerspruch unwirksam, geht das Arbeitsverhältnis über. Der Arbeitnehmer kann aus dieser Stellung heraus nicht mehr dem Übergang aufgrund eines früheren Betriebsübergangs widersprechen.

12.88

bbb) Widerspruch gegen vorhergehenden Betriebsübergang als Sanierungsinstrument Der Umstand, dass das BAG bislang – soweit ersichtlich – lediglich ein Unterrichtungsschreiben als ordnungsgemäß akzeptiert hat, zeigt für die Sanierungspraxis aber auch einen durchaus erfolgversprechenden Weg auf, einen Personalabbau ohne den Ausspruch von Kündigungen und die Notwendigkeit, Sozialplanleistungen gewähren zu müssen, zu bewirken:

12.89

Wenn in der Vergangenheit vor Eintritt der Sanierungsbedürftigkeit – wie bei vielen Unternehmen – Betriebs- oder Betriebsteilübergänge stattgefunden haben und die in deren Zuge übernommenen Arbeitsverhältnisse nun im Rahmen einer Sanierung von Personalabbaumaßnahmen betroffen sind, der zu sanierende Rechtsträger aber nicht sozialplanpflichtig ist oder jedenfalls keine relevanten Sozialplanmittel besitzt, sollten insbesondere Insolvenzverwalter prüfen, ob die bei den vorhergehenden Übertragungsvorgängen verwendeten Unterrichtungsschreiben den vom BAG im Rahmen von § 613a Abs. 5 BGB entwickelten Anforderungen entsprechen.

12.90

Das kommt in der Praxis durchaus häufig vor. Anlass hierfür kann nicht nur ein (erneuter) Auftragnehmerwechsel im Dienstleistungsbereich oder der Erneutverkauf eines Betriebs- oder

12.91

1 BGA v. 14.11.2013 – 8 AZR 824/12, ZIP 2014, 839. 2 S. zu den z.T. überzogenen Anforderungen der Rechtsprechung z.B. Meyer, Die Unterrichtung der Arbeitnehmer vom Betriebsübergang, 2007, S. 64 ff., 148 ff. 3 Vgl. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303 und 305/05, ZIP 2006, 2143. 4 Vgl. BAG v. 24.5.2005 – 8 AZR 398/04, DB 2005, 1302 = ZIP 2005, 1978; BAG v. 24.7.2008 – 8 AZR 755/07, EzA § 613a BGB 2002 Nr. 94; Grau, RdA 2005, 367 ff. 5 S. bereits EuGH v. 16.12.1992 – C-132/91, 138/91, 139/91, Slg. 1992, 6577 und 6612; BAG v. 7.4.1993 – 2 AZR 449/91, DB 1993, 1877 = ZIP 1993, 1176. 6 Vgl. BAG v. 21.8.2014 – 8 AZR 619/13, NZA 2014, 1405.

Mückl | 501

§ 12 Rz. 12.91 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

Betriebsteils an einen weiteren Interessenten sein. Hintereinander geschaltete Betriebsübergänge kommen auch – in der Regel aus steuerrechtlichen Gründen – dann häufig vor, wenn umwandlungsrechtliche Übertragungsvorgänge mit der Maßgabe vorgenommen werden, dass der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die letztliche Zielgesellschaft erst dann erfolgt, wenn zuvor weitere Übergänge des Betriebs- oder Betriebsteils auf andere Rechtsträger wirksam geworden sind.

12.92

Ist dies nämlich nicht der Fall, kann eine – auch für die betroffenen Arbeitnehmer – durchaus interessante Gestaltungsmöglichkeit darin bestehen, dem damaligen Übergang des Arbeitsverhältnisses gemäß § 613a Abs. 6 BGB mit der Folge zu widersprechen, dass das betroffene Arbeitsverhältnis bei dem damals übertragenden Rechtsträger verbleibt1. Dadurch bietet sich für den betroffenen Arbeitnehmer ggf. dort eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit, jedenfalls aber die Chance, von einem potenteren Arbeitgeber als dem insolventen bisherigen Arbeitgeber eine (höhere) Abfindung zu erhalten. ccc) Rechtsfolgen der Ausübung des Widerspruchsrechts

12.93

Die Ausübung des Widerspruchsrechts vor dem Betriebsübergang schließt den Übergang des Arbeitsverhältnisses aus. Es verbleibt beim übertragenden Rechtsträger. Wird der Betrieb (steil) ungeachtet des Widerspruchs übertragen, scheidet der widersprechende Arbeitnehmer aus dem übertragenen Betrieb(steil) aus; sein Arbeitsverhältnis verbleibt beim übertragenden Rechtsträger. Es ist dort allerdings nicht automatisch einem beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen (Rest)Betrieb zugeordnet. Eine automatische Eingliederung in einem beim übertragenden Rechtsträger verbliebenen (Rest)Betrieb findet nicht statt, sondern setzt eine entsprechende Zuordnungsentscheidung des übertragenden Rechtsträgers voraus2.

12.94

Wird das Widerspruchsrecht nach Betriebsübergang ausgeübt, wirkt es auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurück3. Eine etwaige tarifliche Ausschlussfrist zur gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen gegen den bisherigen Arbeitgeber, die von dem Widerspruch abhängen, läuft erst ab Zugang des Widerspruchs4. Ein einmal erklärter Widerspruch kann nicht zurückgenommen werden. Eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist möglich, wenn bei der Unterrichtung über einen Betriebsübergang durch Verschweigen bestimmter Umstände ein falscher und für die Abgabe des Widerspruchs bedeutsamer Eindruck erweckt wird5. Es ist von den Einzelfallumständen abhängig, wann davon auszugehen ist, dass das Widerspruchsrecht, obwohl die Frist mangels ordnungsgemäßer Unterrichtung noch nicht läuft bzw. abgelaufen ist, verwirkt ist6.

12.95

Das Arbeitsverhältnis eines widersprechenden Arbeitnehmers bleibt mit dem Betriebsveräußerer bestehen. Es kann betriebsbedingt gekündigt werden, soweit und wenn der Betriebs-

1 Ausführlich Mückl, ZInsO 2018, 2341 ff. 2 BAG v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178; BAG v. 17.1.2006 – 9 AZR 226/05, NZA 2006, 1064; Hidalgo/Kolber, NZA 2014, 290, 291. 3 Vgl. BAG v. 13.7.2006 – 8 AZR 303 und 305/05, NZA 2006, 1273 und 1268. 4 Vgl. BAG v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, DB 2013, 1672 = ZIP 2013, 1783. 5 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 220/11, AP Nr. 16 zu § 613a BGB Unterrichtung = ZIP 2012, 1144. 6 S. dazu ausf. Annuß in Staudinger, Neubearbeitung 2019, § 613a BGB Rz. 301 ff.; Lingemann/ Weingarth, DB 2014, 2710313 ff.; Steffan in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 613a BGB Rz. 222 ff.

502 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.97 § 12

veräußerer keinen Betrieb mehr fortführt1. Der Arbeitnehmer scheidet aus dem übertragenen Betrieb aus2. Dem Betriebsveräußerer ist es nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB nur verwehrt, das Arbeitsverhältnis wegen des Betriebsübergangs zu kündigen. Eine Kündigung aus anderen Gründen (betrieblichen etc.) bleibt unberührt (§ 613a Abs. 4 Satz 2 BGB). Die Kündigung ist insbesondere möglich wegen einer durchgeführten oder geplanten Betriebsstilllegung3. Die Kündigung eines dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprechenden Arbeitnehmers erfolgt nicht wegen des Betriebsübergangs. Sie ist vielmehr betrieblich bedingt, weil der Betriebsveräußerer keinen Betrieb und keine Beschäftigungsmöglichkeiten mehr hat. Die Kündigungssperre des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB gilt im Übrigen nicht bei Kündigungen in nicht übergehenden verbleibenden Resteinheiten4. Ein Arbeitnehmer, der dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber des Betriebs, dem er wirksam zugeordnet war, widersprochen hat, hat grundsätzlich keinen Anspruch gegen seinen bisherigen Arbeitgeber auf Zuordnung zu einem anderen Betrieb, der ebenfalls im Wege eines Betriebsübergangs auf einen anderen Erwerber übergehen soll. Dies gilt auch dann, wenn ihm eine betriebsbedingte Kündigung durch seinen bisherigen Arbeitgeber wegen Wegfalls einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit droht5.

Der Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses begründet keine Modifizierung der Sozialauswahl6. Dies wird dann relevant, wenn bei dem Betriebsveräußerer noch Arbeitsplätze verblieben sind und nach Sozialauswahlgrundsätzen zu entscheiden ist, welche von mehreren vergleichbaren Arbeitnehmern den Arbeitsplatz behalten und welche die Kündigung erhalten. Der Widerspruch ist im Rahmen der Sozialauswahl nicht zu berücksichtigen. Eine Kündigungsmöglichkeit gegenüber einem widersprechenden Betriebsratsmitglied ist gemäß § 15 Abs. 4 oder 5 KSchG (analog) in Erwägung zu ziehen7. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber u.U. sogar einen Arbeitsplatz für das Betriebsratsmitglied freikündigen muss8.

12.96

Der Betriebsveräußerer, der auf Grund des Betriebsübergangs den widersprechenden Arbeitnehmer nicht beschäftigen kann, gerät gemäß § 615 Satz 1 BGB in Annahmeverzug. Dem Entgeltanspruch des Arbeitnehmers steht allerdings § 615 Satz 2 BGB entgegen, wenn und weil der Betriebserwerber dem Arbeitnehmer die Weiterbeschäftigung zu unveränderten Bedingungen angeboten hat9. Ein Anspruch auf Annahmeverzugsentgelt besteht auch dann nicht, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Betriebsveräußerer erst wieder rückwirkend begründet wird10.

12.97

1 Vgl. statt vieler Steffan in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 613a BGB Rz. 225 m.w.N. 2 Vgl. BAG v. 8.5.2014 – 2 AZR 1005/12, BB 2015, 889 Rz. 15. 3 Vgl. BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, DB 1985, 1399 = ZIP 1985, 698; BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, DB 1989, 430 = ZIP 1989, 326; BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, DB 1989, 934 = ZIP 1989, 1012; BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, DB 1991, 2442 = ZIP 1991, 1374; BAG v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, AP Nr. 81 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 1997, 122,; BAG v. 21.6.2001 – 2 AZR 137/00, DB 2002, 102; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, DB 2002, 2552; BAG v. 13.5.2004 – 8 AZR 331/03, NZA 2004, 1295. 4 Vgl. BAG v. 17.6.2003 – 2 AZR 134/02, AP Nr. 260 zu § 613a BGB = ZIP 2004, 820. 5 Vgl. BAG v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, NZA 2013, 617. 6 Vgl. BAG v. 31.5.2007 – 2 AZR 276/06, DB 2008, 1106 = ZIP 2007, 2433. 7 Vgl. BAG v. 18.9.1997 – 2 ABR 15/97, AP Nr. 35 zu § 103 BetrVG 1972. 8 Vgl. BAG v. 18.10.2000 – 2 AZR 494/99, AP Nr. 49 zu § 15 KSchG 1969 (Übernahme in eine andere Betriebsabteilung notfalls durch Freikündigung; Problem: Abwägung der Interessen des „verdrängten“ Arbeitnehmers und des umgesetzten Betriebsratsmitglieds). 9 Vgl. BAG v. 19.3.1998 – 8 AZR 139/97, AP Nr. 177 zu § 613a BGB = DB 1998, 1416 = ZIP 1998, 1080. 10 BAG v. 19.8.2015 – 5 AZR 975/13, ZIP 2015, 2492.

Mückl | 503

§ 12 Rz. 12.98 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

h) Fortsetzungsanspruch 12.98

Die einer betriebsbedingten Kündigung zugrundeliegenden Planungen können sich nach Ausspruch der Kündigung ändern. Dies lässt die Wirksamkeit der Kündigung unberührt. Derartige Fälle sind denkbar, wenn trotz eines Stilllegungsplans im Nachhinein von einer Übertragungsmöglichkeit Gebrauch gemacht werden kann, die im Kündigungszeitpunkt nicht absehbar bzw. geplant gewesen ist.

12.99

Das BAG hat im Rahmen des allgemeinen Kündigungsschutzsystems einen Wiedereinstellungsanspruch entwickelt, wenn sich die der betriebsbedingten Kündigung zu Grunde liegenden Umstände während des Laufs der Kündigungsfrist ändern (Änderung von Organisations- oder Stilllegungsvorhaben)1. Entscheidet sich der Arbeitgeber, eine Betriebsabteilung stillzulegen, und kündigt er den dort beschäftigten Arbeitnehmern, so kann er zur Wiedereinstellung entlassener Arbeitnehmer verpflichtet sein, wenn er sich noch während der Kündigungsfrist entschließt, die Betriebsabteilung mit einer geringen Anzahl von Arbeitnehmern doch fortzuführen. Ein derartiger Anspruch steht, wenn sich der Stilllegungsplan zu einer Betriebsveräußerung wandelt, in Form eines Fortsetzungsanspruchs dem Arbeitnehmer auch gegen den Erwerber zu2. Der Anspruch des Arbeitnehmers geht dahin, dass der Betriebserwerber mit ihm einen Arbeitsvertrag zu unveränderten Arbeitsbedingungen unter Wahrung des Besitzstandes abschließt.

12.100

Das BAG hat den Fortsetzungsanspruch gegenüber dem Erwerber, wenn der Betriebsübergang in der Übernahme der Hauptbelegschaft besteht, auch dann anerkannt, wenn dieser Sachverhalt nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses (Ablauf der Kündigungsfrist) eintritt3. Dies ist mit einer richtlinienkonformen Auslegung des § 613a Abs. 1 BGB begründet worden. Diese Ableitung geht über die Begründung des Wiedereinstellungsanspruchs nach den Grundsätzen des Kündigungsrechts und des § 242 BGB hinaus.

12.101

Das BAG hat eine Erstreckung dieser Grundsätze auf den Fall erörtert, dass keine spätere Übernahme der Hauptbelegschaft vollzogen wird, sondern eine spätere Übernahme materieller oder immaterieller Betriebsmittel erfolgt4. Es hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der auf der richtlinienkonformen Auslegung des § 613a Abs. 1 BGB beruhende Fortsetzungsanspruch nicht im Insolvenzverfahren gelte5. Dies bedeutet, dass es in der Insolvenz mit dem allgemeinen Anspruch auf Fortsetzung bzw. Wiedereinstellung sein Bewenden hat, der grundsätzlich nur bei Veränderungen während der Kündigungsfrist gilt. Ob es in der Insolvenz allerdings überhaupt einen Fortsetzungsanspruch gibt, ist bislang nicht abschließend entschieden6.

1 Vgl. BAG v. 27.2.1997 – 2 AZR 160/96, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung; BAG v. 6.8.1997 – 7 AZR 557/96, DB 1998, 423; BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, DB 2000, 2171. S. dazu eingehend Günzel, DB 2000, 1227 ff.; Langenbucher, ZfA 1999, 299 ff.; Nicolai/Noack, ZfA 2000, 87 ff.; Oberhofer, RdA 2006, 92 ff.; Raab, RdA 2000, 147 ff.; Strathmann, DB 2003, 2438 ff.; Ziemann, MDR 1999, 716 ff. = ZIP 2000, 1781. 2 Vgl. BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, AP Nr. 169 zu § 613a BGB = ZIP 1998, 167; BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 729/96, AP Nr. 172 zu § 613a BGB = ZIP 1998, 666. 3 Vgl. BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, AP Nr. 169 zu § 613a BGB = ZIP 1998, 167; BAG v. 12.11.1998 – 8 AZR 265/97, AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung = ZIP 1999, 670. 4 Vgl. BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, AP Nr. 185 zu § 613a BGB = ZIP 1999, 320. 5 Vgl. BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, AP Nr. 185 zu § 613a BGB = ZIP 1999, 320. 6 Vgl. LAG Hamm v. 27.3.2003 – 4 Sa 189/02, NZA-RR 2003, 652; LAG Hessen v. 27.2.2003 – 11 Sa 799/02; LAG Köln v. 13.10.2004 – 7 (5) Sa 273/04, LAGE § 1 KSchG Wiedereinstellungsanspruch Nr. 6.

504 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.103 § 12

Das BAG hat die Frage ausdrücklich offen gelassen1. Es hat entschieden2, dass ein Anspruch auf Fortsetzung gegen den Betriebserwerber im Insolvenzverfahren jedenfalls nicht besteht, wenn der Betriebsübergang (erst) nach Ablauf der Kündigungsfrist bzw. nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses stattfindet. Dies gilt unabhängig von der Art des Betriebs und den Betriebsübergang konstituierenden Umständen. Das BAG hat seine Rechtsprechung mit Urteil vom 28.10.2004 dahingehend fortgeführt, dass ein Fortsetzungsanspruch in der Insolvenz nur anzuerkennen ist, wenn sich der Betriebsübergang bis zum Ablauf der Kündigungsfrist tatsächlich vollzieht3. Es ist nicht relevant, ob der Betriebsübergang „nahtlos“ nach Ablauf der Kündigungsfrist erfolgt oder ob er sich bereits innerhalb der Kündigungsfrist abzeichnet. Ob ein Betriebsübergang während des Laufs der Kündigungsfrist nach dem jetzigen Stand der BAG-Rechtsprechung einen Fortsetzungsanspruch gegen den Betriebserwerber in der Insolvenz begründen kann oder nicht, erscheint offen4. Das Fortsetzungsverlangen kann bis zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs jederzeit geltend gemacht werden. Eine Geltendmachungsfrist besteht auch nach Betriebsübergang nicht, wenn das Arbeitsverhältnis ungekündigt ist5. Eine unverzügliche Geltendmachung ist allerdings nach Betriebsübergang im Falle eines gekündigten Arbeitsverhältnisses erforderlich (Frist entsprechend § 613a Abs. 6 Satz 1 BGB)6.

12.102

Ein Fortsetzungsanspruch besteht nicht, wenn das Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvereinbarung beendet worden ist7. Etwas anderes gilt erst und nur dann, wenn der Arbeitnehmer berechtigterweise die Wirkungen des Aufhebungsvertrages beseitigt. Dies ist nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen und etwa unter dem Gesichtspunkt der Anfechtung oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Erwägung zu ziehen. Haben die Arbeitsvertragsparteien noch während der Kündigungsfrist durch einen gerichtlichen Vergleich das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufgehoben, so kann dieser Vergleich wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage an die geänderte Situation anzupassen sein, unter Umständen dahingehend, dass der Arbeitnehmer wieder einzustellen ist und die Abfindung zurückzuzahlen hat. Dass die (fortdauernde) Stilllegung des Betriebs Geschäftsgrundlage einer Aufhebungsvereinbarung ist, ist von derjenigen Person darzulegen und ggf. nachzuweisen, die sich darauf beruft8. Eine derartige Anpassung des Vergleichs wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage scheidet aus, wenn die vom Arbeitgeber getroffene Auswahl bei der Besetzung der wider Erwarten verbliebenen Arbeitsplätze rechtlich nicht zu beanstanden ist9. Die Auslegung von Abfindungsvereinbarungen wird regelmäßig dazu führen, dass – auch – das Problem der Wiedereinstellung erfasst und geregelt ist, so dass eine Anpassung nach Geschäftsgrundlagengrundsätzen nicht in Betracht kommt10.

12.103

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 321/01, AP Nr. 237 zu § 613a BGB. Vgl. BAG v. 13.5.2004 – 8 AZR 198/03, DB 2004, 2107 = ZIP 2004, 1610. Vgl. BAG v. 28.10.2004 – 8 AZR 199/04, NZA 2005, 405. S. dazu etwa Ahlborn, ZfA 2005, 109, 157 ff. Vgl. BAG v. 18.12.2003 – 8 AZR 621/02, DB 2004, 2110 = ZIP 2004, 1068. Vgl. Steffan in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 46. Aufl. 2021, § 613a BGB Rz. 182. Vgl. BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, AP Nr. 185 zu § 613a BGB = ZIP 1999, 320; BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, DB 2000, 2171 = ZIP 2000, 1781. 8 Vgl. LAG Hamburg v. 16.12.2014 – 4 Sa 40/14, ZIP 2015, 700. 9 Vgl. BAG v. 4.12.1997 – 2 AZR 140/97, AP Nr. 4 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung. 10 Vgl. BAG v. 28.6.2000 – 7 AZR 904/98, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung = ZIP 2000, 1781.

Mückl | 505

§ 12 Rz. 12.104 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

i) Betriebsstilllegung 12.104

Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht – im Gegensatz zur Übertragung des Betriebs im Rahmen einer Veräußerung – in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit1. Ihre Umsetzung erfolgt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift2. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zwecke der Betriebsstilllegung kündigt3.

12.105

Die Feststellung einer Betriebsstilllegung im Gegensatz zu einer Betriebsveräußerung erfolgt nach den konkreten Sachverhaltsumständen im Einzelfall4. Die Abgrenzung zwischen Betriebsstilllegung und Betriebsübergang hat zwischen der Entscheidung, die eigene unternehmerische Tätigkeit aufzugeben, und der Entscheidung, den Betrieb einzustellen, zu unterscheiden5. Die Betriebsstilllegung in Abgrenzung zum Betriebsübergang setzt voraus, dass der Arbeitgeber den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen. Im Gegensatz zu einer Betriebsstilllegung (vgl. Rz. 12.42, 12.109 ff.) ist nach der Rechtsprechung des BAG ein Betriebsübergang als solcher keine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG. Er kann eine sein, wenn er sich nicht allein in dem Wechsel des Betriebsinhabers erschöpft, sondern gleichzeitig Maßnahmen ergriffen werden, welche eines oder mehrere der Tatbestandsmerkmale des § 111 BetrVG erfüllen6.

12.106

Die Fortführung des Betriebs durch einen Betriebserwerber begründet eine gegen die Stilllegungsabsicht sprechende Vermutung, die der Arbeitgeber dadurch widerlegen kann, dass er substantiiert darlegt, die Veräußerung sei zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung weder voraussehbar noch geplant gewesen7. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Veräußerung vor oder nach Ablauf der Kündigungsfrist erfolgt. Die Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände hat auch in diesem Zusammenhang betriebsspezifisch zu erfolgen. Je mehr Einzelteile gesondert veräußert werden, desto eher liegt eine Betriebsstilllegung vor. Je kürzer die Zeitspanne zwischen der Einstellung und der Fortsetzung der Betriebstätigkeit ist, desto mehr kann die Annahme nahe liegen, dass eine endgültige, ernsthafte Stilllegung nicht stattgefunden hat. Die folgenden Unterbrechungszeiträume sind in den jeweiligen Einzelfällen als erheblich angesehen worden: 5/9 Monate (Gaststättenbetrieb)8, 3 Monate (Kindertagesstätte)9. Zwar sind Interessenausgleich und Sozialplan allein kein ausreichendes Indiz für eine Betriebsstilllegung 1 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 21. 2 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 21. 3 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 21; BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, ZInsO 2015, 1695 Rz. 22 m.w.N. 4 S. dazu näher Hillebrecht, NZA 1989, Beilage 4, S. 10, 17; Loritz, RdA 1987, 65, 71; Moll, Anwaltsblatt 1991, 282, 291 ff.; Pietzko, Der Tatbestand des § 613a BGB, 1988, S. 78 ff.; Annuß in Staudinger, Neubearbeitung 2019, § 613a BGB Rz. 85 ff. 5 Vgl. LAG Köln v. 2.7.2012 – 2 Sa 102/12, ZInsO 2013, 744 (Handelt es sich um die OGS-Betreuung von Grundschulkindern in einer kommunalen Schule, liegt die Entscheidung, die Betreuung der Kinder einzustellen, bei der Kommune. Solange diese einen neuen Träger zur Übernahme der Aufgabe sucht, kann der bisherige Träger nicht von einer Betriebsstilllegung ausgehen. Ihm steht nicht die Entscheidung zu, am vorgegebenen Standort Kinderbetreuung nicht mehr durchzuführen.). 6 Vgl. BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 223/14, NZA 2015, 1212 Rz. 19; BAG v. 11.11.2010 – 8 AZR 169/ 09, Rz. 33 – juris. 7 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, NZA 2012, 466 = ZIP 2012, 2080. 8 Vgl. BAG v. 27.4.1995 – 8 AZR 197/94, AP Nr. 128 zu § 613a BGB = ZIP 1995, 1540; BAG v. 11.9.1997 – 8 AZR 555/95, AP Nr. 16 zu EWG-Richtlinie 77/187 = ZIP 1998, 36. 9 Vgl. LAG Köln v. 2.10.1997 – 10 Sa 643/97, LAGE § 613a BGB Nr. 67.

506 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.108 § 12

bzw. eine Stilllegungsabsicht, doch wird man im Gesamtzusammenhang diese Maßnahmen zu berücksichtigen haben.

j) Verlegungsfälle Abgrenzungsprobleme treten insbesondere beim Abtransport von Wirtschaftsgütern bzw. Betriebsverlegungen1 auf, wie das BAG in zwei Entscheidungen deutlich gemacht hat:

12.107

– In einer ersten Entscheidung hat der 5. Senat des BAG eine Betriebsstilllegung abgelehnt und den Betriebsübergang bejaht2: Der Betriebsübergang hänge nicht davon ab, ob der Betriebserwerber die Betriebsorganisation weiterführe. Ein Betriebsübergang könne auch stattfinden, wenn und wo Wirtschaftsgüter zum Abtransport erworben würden. – In einer zweiten Entscheidung hat der 2. Senat des BAG diese Sichtweise relativiert3. Ein Betriebsübergang liege dann nicht vor, wenn eine erhebliche räumliche Verlegung eines Betriebs vorgenommen und die alte Betriebsgemeinschaft aufgelöst werde. Die Differenzierung zwischen beiden Fällen ist unklar, die Fragwürdigkeit dieser Rechtsprechung evident: Wer Wirtschaftsgüter erwirbt, um sie an einen anderen Ort zu verbringen, der erwirbt keinen Betrieb. Eine solche Maßnahme stellt eine Betriebsschließung des Betriebsveräußerers dar. Dies liegt insbesondere dann nahe, wenn der Betriebsveräußerer zuvor die nach den §§ 111 ff. BetrVG gebotenen Maßnahmen durchgeführt hat. Es verwundert angesichts der Abgrenzungsproblematik nicht, dass der 2. Senat des BAG in einem dritten Fall betont hat, dass die Frage danach, ob eine Betriebsstilllegung oder ein Betriebsübergang vorliege, dahinstehen könne, wenn der jeweilige Arbeitnehmer ohnehin nicht bereit sei, die Arbeit an dem neuen Betriebsort zu erbringen. Das Arbeitsverhältnis bleibe dann mit dem Arbeitgeber am alten Ort erhalten, weil § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB jedenfalls nicht bewirke, dass der Arbeitsvertragsinhalt (Leistungsort) geändert wird4. Abstellen müssen wird man letztlich darauf, ob der Ortswechsel eine Identitätswahrung ausschließt oder nicht: Einerseits lässt sich argumentieren, dass eine wirtschaftliche Einheit ihre Identität im Regelfall nicht bewahrt, wenn sich ihre räumlichen Beziehungen und Einbindungen ändern5, so dass sich die Betriebsverlegung durch einen Erwerber als Stilllegung am bisherigen Standort des Betriebs darstellen würde. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass trotz räumlicher Veränderung die Betriebsidentität im Hinblick auf Betriebsmittel, Organisation und Strukturen gewahrt wird6. Entscheidend ist, ob der Wertschöpfungszusammenhang auch am neuen Betriebsort aufrechterhalten bleibt. Das BAG hat dies im Falle einer Verlagerung um nur 50 km bei Beibehaltung des funktionellen Wertschöpfungszusammenhangs bejaht7.

1 S. zu Verlegungsfällen Cohnen in Münchener Anwaltshandbuch Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017, § 53 Rz. 68 ff. 2 Vgl. BAG v. 29.10.1975 – 5 AZR 444/74, DB 1976, 391. 3 Vgl. BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, DB 1988, 126 = ZIP 1987, 1478. 4 Vgl. BAG v. 20.4.1989 – 2 AZR 431/88, DB 1989, 2334 = ZIP 1990, 120. 5 Vgl. LAG Nürnberg v. 26.8.1996 – 7 Sa 981/95, LAGE § 613a BGB Nr. 51. 6 Vgl. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, DB 2002, 2552 (im konkreten Fall wurde der Betriebsübergang allein schon wegen der großen räumlichen Entfernung abgelehnt). 7 Vgl. BAG v. 26.5.2011 – 8 AZR 37/10, NZA 2011, 1143 = ZIP 2011, 2023 (Betriebsverlagerung in die Schweiz).

Mückl | 507

12.108

§ 12 Rz. 12.109 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

3. Betriebsstilllegung: Betriebsverfassungsrecht 12.109

Die Betriebsstilllegung stellt eine Betriebsänderung i.S. der §§ 111 ff. BetrVG dar1.

a) Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses und des Betriebsrats 12.110

Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung (Stilllegung: § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG) nach § 111 Satz 1 BetrVG rechtzeitig und umfassend zu unterrichten. Die geplante Betriebsänderung ist nach § 111 Satz 1 BetrVG mit dem Betriebsrat zu beraten. Gleiches gilt gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 6 BetrVG gegenüber dem Wirtschaftsausschuss.

b) Interessenausgleich 12.111

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat herbeizuführen (§ 112 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 BetrVG). Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat also zunächst rechtzeitig und umfassend unterrichten und dann mit ihm mit dem ernsthaften Willen zu einer Verständigung über die geplante Betriebsstillegung beraten2. Dazu muss er sich mit den vom Betriebsrat vorgeschlagenen Alternativen zu der geplanten Betriebsänderung befassen und argumentativ auseinandersetzen3. Können sich die Betriebsparteien nicht auf einen Interessenausgleich verständigen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Einigungsstelle anzurufen4. Ob die Anrufung der Einigungsstelle ggf. dann unterbleiben kann, wenn die Betriebsparteien einvernehmlich hiervon Abstand nehmen und der Betriebsrat eindeutig ausdrückt, seinen Informations- und Beratungsanspruch des § 111 Satz 1 BetrVG auch ohne Durchführung des Verfahrens nach § 112 Abs. 2 BetrVG als erfüllt anzusehen, hat das BAG bislang offen gelassen5.

12.112

Der Interessenausgleich regelt, ob, wann und wie die vorgesehene Betriebsänderung durchgeführt wird6. Der Interessenausgleich betrifft den Inhalt und die Umstände der unternehmerischen Maßnahme. Der Interessenausgleich kann, sofern er zu Stande kommt, auch Regelungen über Auswahlrichtlinien, Fortbildungsmaßnahmen, Umschulungen und Versetzungen von Arbeitnehmern enthalten. Der Gegenstand des Interessenausgleichs besteht darin, dass Nachteile für die Arbeitnehmer möglichst vermieden werden, während der Sozialplan regelt, wie eingetretene, nicht vermiedene Nachteile auszugleichen oder zu mildern sind (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG). Kommt ein Interessenausgleich zustande, so ist er schriftlich niederzulegen. Die Einhaltung der Schriftform ist Wirksamkeitsvoraussetzung.

12.113

Arbeitgeber und Betriebsrat können jeder den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 112 Abs. 2 Satz 1 BetrVG um Vermittlung ersuchen. Die Praxis macht hiervon – zu Recht – nur selten Gebrauch. Der Arbeitgeber hat regelmäßig kein Interesse daran, den mit der Vermittlung des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit verbundenen Zeitverlust in Kauf zu nehmen.

12.114

Arbeitgeber oder Betriebsrat können zwecks Herbeiführung eines Interessenausgleichs die Einigungsstelle anrufen (§ 112 Abs. 2 Satz 2 BetrVG). Die Rechtsprechung verlangt, dass der 1 2 3 4 5 6

BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 223/14, NZA 2015, 1212 Rz. 19. BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20. BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20. BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20. BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 30. Vgl. BAG v. 27.10.1987 – 1 ABR 9/87, DB 1980, 558; BAG v. 17.9.1991 – 1 ABR 23/91, DB 1992, 229 = ZIP 1992, 260.

508 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.116 § 12

Arbeitgeber der Pflicht, einen Versuch zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs zu unternehmen, nur gerecht wird, wenn er die Einigungsstelle anruft und im Einigungsstellenverfahren, falls nicht ein Interessenausgleich zu Stande kommt, das Scheitern des Interessenausgleichs festgestellt wird1. Unterlässt der Arbeitgeber es, in der erforderlichen Weise den Versuch zu unternehmen, einen Interessenausgleich herbeizuführen, so sind zwei Rechtsfolgen in Betracht zu ziehen.

12.115

(1) Nach § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn dieser eine Betriebsänderung durchführt, ohne über sie zuvor einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und der Arbeitnehmer infolge der Maßnahme entlassen wird oder andere wirtschaftliche Nachteile erleidet. Der Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG dient vornehmlich der Sicherung des sich aus § 111 Satz 1 BetrVG ergebenden Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats und schützt dabei mittelbar die Interessen der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer2. Er entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben3. Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht demgegenüber nicht, wenn die Betriebsparteien vor Beginn der Betriebsänderung einen Interessenausgleich vereinbaren oder der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats in dem Einigungsstellenverfahren erfüllt wird4. Letzteres setzt nicht voraus, dass die Einigungsstelle das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen durch einen förmlichen Beschluss feststellt5.

12.116

– Ob bereits mit der Betriebsänderung vor Abschluss des Interessenausgleichs mit der Folge des Nachteilsausgleichs begonnen worden ist, ist eine Frage der Umstände des Einzelfalles. – Eine die betriebliche Tätigkeit untersagende ordnungsbehördliche Maßnahme oder der Wegfall einer rechtlichen Betriebszulassungsvoraussetzung lösen für sich gesehen die Unterrichtungs- und Beratungspflicht nach § 111 Satz 1 BetrVG ebenso wenig aus wie tatsächliche, eine Einstellung der betrieblichen Tätigkeit bedingende äußere Zwänge (Brand, Bodenkontaminierung oder ähnliche Vorkommnisse)6. Solche Umstände rechtlicher oder tatsächlicher Art sind allenfalls der Anlass für eine Betriebsänderung, nicht die Betriebsänderung „an sich“ oder der Beginn ihrer Durchführung7. Eine interessenausgleichspflichtige Betriebsstilllegung nach § 111 Satz 1 i.V.m. Satz 3 Nr. 1 BetrVG ist die durch die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse hervorgerufene Einstellung der betrieblichen Tätigkeit daher gerade nicht. – Die Rechtsprechung hat einen Nachteilsausgleichsanspruch bei unwiderruflicher Freistellung sämtlicher Arbeitnehmer vor Abschluss eines Interessenausgleichs gewährt8. Mit widerruflichen Freistellungen aller Arbeitnehmer wird die Betriebsstilllegung demgegenüber 1 Vgl. BAG v. 18.12.1984 – 1 AZR 176/82, DB 1985, 1293 = ZIP 1985, 633; BAG v. 20.4.1994 – 10 AZR 186/93, AP Nr. 27 zu § 113 BetrVG 1972 = ZIP 1994, 1466. 2 BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20. 3 BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20; BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, ZInsO 2015, 1695 Rz. 12 = ZIP 2015, 1406. 4 BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20. 5 BAG v. 24.10.2019 – 2 AZR 102/18, juris Rz. 20; BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 74 = ZIP 2017, 193. 6 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff. 7 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff. 8 Vgl. LAG Berlin-Brandenburg v. 2.3.2012 – 13 Sa 2187/11, ZIP 2012, 1429.

Mückl | 509

§ 12 Rz. 12.116 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

nicht begonnen1. Die Freistellung von der Arbeit ist bei Fehlen anderer vertraglicher Vereinbarungen jederzeit widerruflich und damit umkehrbar. Sie lässt den Bestand des Arbeitsverhältnisses unberührt und ist nicht gleichzusetzen mit dem Ausspruch von Kündigungen2. Sie lösen die betriebliche Organisation nicht irreversibel auf. Der Betrieb besteht nach dem Verständnis des BAG dann noch im Sinn des Vorhaltens der Belegschaft3. Erst das Vorhaben, diese betriebliche Organisation aufzulösen, ist die geplante Betriebsstilllegung i.S. des § 111 Satz 1, Satz 2 und Satz 3 Nr. 1 BetrVG4. – Auch die Kündigung des Mietvertrags über die dem Arbeitgeber zur Nutzung überlassenen Räumlichkeiten vermag für sich genommen keine Nachteilsausgleichsansprüche zu begründen, sofern nicht ersichtlich ist, inwiefern die angemieteten Räumlichkeiten – etwa aufgrund eines besonderen Raumzuschnitts – für den Fortbestand des Betriebs sowie die Möglichkeit der Weiterverfolgung des Betriebszwecks unerlässlich sind5. – Keine Nachteilsausgleichsansprüche begründen grundsätzlich auch für die Belegschaft nachteilige Maßnahmen i.S. der §§ 15 ff. AktG verbundener Unternehmen. Denn für eine generelle (gegenseitige) Zurechnung von Maßnahmen konzernzugehöriger Unternehmen im Rahmen der §§ 111 ff. BetrVG fehlt es – wie das BAG6 zu Recht angenommen hat – an einer rechtlichen Grundlage. – Eine Stilllegungshandlung liegt aber in ausgesprochenen Kündigungen der Arbeitsverhältnisse7.

12.117

Die Nachteilsausgleichszahlungen haben Sanktionscharakter. Die Höhe orientiert sich an § 10 KSchG (§ 113 Abs. 1 Halbs. 2 BetrVG). Der Arbeitgeber muss damit rechnen, jedenfalls einen Monatsbezug pro Jahr der Betriebszugehörigkeit als Abfindung im Wege des Nachteilsausgleichs zu zahlen. Der Höchstbetrag liegt bei 12 Monatsverdiensten und steigt bei Vollendung des 50. Lebensjahres und 15-jähriger Betriebszugehörigkeit auf 15 Monatsverdienste sowie bei Vollendung des 55. Lebensjahres und 20-jähriger Betriebszugehörigkeit auf 18 Monatsverdienste. Entsprechend der übereinstimmenden Zwecksetzung sind Sozialplanleistungen auf Nachteilsausgleichsansprüche anrechenbar8.

12.118

(2) Zum anderen hat man angenommen, dass dem Arbeitgeber untersagt werden kann, die Betriebsänderung und damit die Entlassungen durchzuführen, solange der Interessenausgleich nicht ausreichend versucht worden sei9. Die Rechtsprechung der Instanzgerichte ist uneinheitlich10. Der Rechtsprechung des BAG hat man früher Anhaltspunkte dafür entnehmen 1 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff.; BAG v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, ZIP 2017, 2221 Rz. 42. 2 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff.; BAG v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, ZIP 2017, 2221 Rz. 42 m.w.N. 3 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff. 4 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff. 5 BAG v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, ZIP 2017, 2221 Rz. 41. 6 BAG v. 18.7.2017 – 1 AZR 546/15, ZIP 2017, 2221 Rz. 41; vgl. auch BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, ZInsO 2015, 1695 Rz. 16. 7 BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZIP 2018, 848 Rz. 23 ff. 8 Vgl. BAG v. 13.6.1989 – 1 AZR 819/87, DB 1989, 2026 = ZIP 1989, 1205. 9 S. zur Diskussion etwa Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, § 111 BetrVG Rz. 161 ff.; Oetker in GK-BetrVG, 12. Aufl. 2022, § 111 BetrVG Rz. 277 ff.; jew. m.w.N. 10 S. etwa ablehnend LAG Baden-Württemberg v. 28.8.1985 – 2 TaBV 8/85, DB 1986, 805; LAG Berlin v. 7.4.1983 – 7 TaBV 3/83; LAG Düsseldorf v. 14.11.1983 – 12 TaBV 88/83, DB 1984, 511; LAG

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§ 12 Liquidation | Rz. 12.121 § 12

können, dass dem Arbeitgeber nicht untersagt werden könne, die Entlassungen durchzuführen, ohne den Versuch eines Interessenausgleichs unternommen zu haben1. Die Sanktionen für ein etwaiges gesetzwidriges Verhalten des Arbeitgebers seien in dem Nachteilsausgleich zu sehen. Das BAG hat später in zwei Entscheidungen die Ausgangssituation verändert2. Dem Arbeitgeber kann danach auch unabhängig von § 23 Abs. 3 BetrVG untersagt werden, solche Maßnahmen zu unterlassen, die Beteiligungsrechte des Betriebsrats verletzen. Dies wird teilweise – zu Unrecht – auf die Situation des Ausspruchs von Kündigungen ohne Versuch der Herbeiführung eines Interessenausgleichs übertragen3. Die Zubilligung eines Unterlassungsanspruchs des Betriebsrats gegen den Ausspruch von Kündigungen beim unterbliebenen Versuch der Herbeiführung eines Interessenausgleichs ist richtigerweise abzulehnen:

12.119

Das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs hängt von der Rechtsposition ab, die dem Betriebsrat durch ein Beteiligungsrecht eingeräumt wird4. Das BAG hat den Unterlassungsanspruch im Hinblick auf den Mitbestimmungskatalog des § 87 Abs. 1 BetrVG bejaht, weil es sich insoweit um echte Mitbestimmungsbefugnisse handelt, deren Übergehen (als Kehrseite sozusagen) unmittelbar zu einem mitbestimmungswidrigen Zustand führt und die Beteiligungsrechte des Betriebsrats in einer von diesem nicht hinzunehmenden Weise verletzt. Das BAG hat dementsprechend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Frage nach einem Unterlassungsanspruch etwa bei personellen Einzelmaßnahmen offen bleibe5.

12.120

Die Einhaltung des Interessenausgleichsverfahrens ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für Kündigungen. Der Betriebsrat kann mit Hilfe oder im Rahmen von Interessenausgleichsverhandlungen im Ergebnis weder die Betriebsänderung noch die Kündigungen verhindern. Der Arbeitgeber ist in seinen Entscheidungen frei. Es besteht kein echtes Mitbestimmungsrecht. Der Betriebsrat befindet sich in einer bloßen Beratungs- und Verhandlungsposition. Ein Unterbinden von Kündigungen würde dem Betriebsrat daher eine stärkere Rechtsstellung mit einschneidenderen Rechtswirkungen geben, als das Gesetz dies für die Einhaltung des Beteiligungsrechts des Betriebsrats vorsieht. Eine Untersagung von Kündigungen ist daher folgerichtig aus dem Inhalt des Beteiligungsrechts des Betriebsrats nicht ableitbar. Es ist im Verhältnis zum Inhalt des Beteiligungsrechts des Betriebsrats „überschießend“, dem Betriebsrat

12.121

1 2 3 4 5

Düsseldorf v. 19.11.1996 – 8 TaBV 80/96, DB 1997, 1286; LAG Düsseldorf v. 14.12.2005 – 12 TaBV 60/05; LAG München v. 3.4.2003 – 2 TaBV 19/03; LAG München v. 24.9.2003 – 5 TaBV 48/ 03, NZA-RR 2004, 536; LAG Nürnberg v. 6.6.2000 – 6 TaBV 8/00; LAG Köln v. 30.4.2004 – 5 TaBV 166/04, NZA-RR 2004, 536; LAG Niedersachsen v. 5.6.1997 – 12 TaBV 17/87; LAG Rheinland-Pfalz v. 28.3.1989 – 3 TaBV 6/89; LAG Schleswig-Holstein v. 13.1.1992 – 4 TaBV 54/91, DB 1992, 1788; ArbG Marburg v. 29.12.2003 – 2 BVGa 5/03, NZR-RR 2004, 199; ArbG Nürnberg v. 17.1.2000 – 14 BVGa 1/00, BB 2000, 2100; ArbG Passau v. 22.10.2002 – 3 BVGa 3/02, BB 2003, 744; ArbG Schwerin v. 13.2.1998 – 1 BVGa 2/98, NZA-RR 1998, 448. S. z.B. bejahend LAG Düsseldorf v. 6.1.2021 – 4 TaBVGa 6/20, BeckRS 2021, 2240; LAG Berlin-Brandenburg v. 12.12.2013 – 17 TaBV Ga 2058/13; LAG Berlin-Brandenburg v. 19.6.2014 – 7 TaBVGa 1219/14; LAG Hamm v. 24.2.2012 – 10 TaBV Ga 3/12. Offengelassen bei LAG Berlin-Brandenburg v. 19.6.2014 – 7 TaBV Ga 1219/14. Vgl. BAG v. 22.2.1983 – 1 ABR 27/81, DB 1983, 1926. Vgl. BAG v. 3.5.1994 – 1 ABR 24/93, DB 1994, 2450 = ZIP 1995, 146; BAG v. 6.12.1994 – 1 ABR 30/94, NZA 1995, 488. Vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 29. Aufl. 2018, § 111 BetrVG Rz. 161 ff. m.w.N. Vgl. Prütting, RdA 1995, 257, 261; Richardi, NZA 1995, 8, 9. Vgl. BAG v. 6.12.1994 – 1 ABR 30/94, AP Nr. 24 zu § 23 BetrVG 1972.

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§ 12 Rz. 12.121 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

auch nur vorübergehend die Rechtsmacht einzuräumen, etwas unterbinden zu lassen, was er endgültig nicht verhindern kann1. Mit anderen Worten: Die im Anschluss an die Rechtsprechung des BAG gebotene Analyse der jeweiligen, konkreten Beteiligungsrechte des Betriebsrats führt angesichts der Unvollkommenheit des Beteiligungsrechts des Betriebsrats im Hinblick auf einen Interessenausgleich – dies stellt einen deutlichen Unterschied zum echten Mitbestimmungsrecht im Rahmen des § 87 Abs. 1 BetrVG dar – dazu, dass ein Untersagungsanspruch des Betriebsrats im Hinblick auf Kündigungen zu verneinen ist.

12.122

Es kommt hinzu, dass die besonderen und konkreten Regelungen bei personellen Einzelmaßnahmen eine Heranziehung von diese gegenstandslos machenden Unterlassungsgrundsätzen ausschließen. Das BAG hat offen gelassen, ob angesichts der Spezialregelungen der §§ 100, 101 BetrVG ein davon unabhängiger Unterlassungsanspruch bei personellen Einzelmaßnahmen i.S. von § 99 Abs. 1 BetrVG möglich sei2. Diese Frage ist zu verneinen. Entsprechendes gilt für Kündigungen. Der Gesetzgeber hat durch die geregelten Abstufungen zu verstehen gegeben, dass die Erklärung von Kündigungen abhängig ist von einer Anhörung des Betriebsrats. Es gibt keine weiteren Erfordernisse oder Voraussetzungen. Die „Kündigungsfreiheit“ nach dem BetrVG ist gegenüber anderen personellen Einzelmaßnahmen deutlich hervorgehoben. Es würde einen damit unvereinbaren Widerspruch darstellen, wenn Kündigungen wegen angeblicher Nichtbeachtung von Beratungs- oder Verhandlungsbefugnissen untersagt werden könnten.

12.123

Das Gesetz hat schließlich für die Außerachtlassung der Pflicht des Arbeitgebers, die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zumindest zu versuchen, den Nachteilsausgleich als Sanktion bereitgestellt. Das Gesamtgefüge aus der Beschränkung der Rechte des Betriebsrats auf Beratung und Verhandlung ohne die Möglichkeit einer Verhinderung von Kündigungen, der Statuierung des Nachteilsausgleichs als Sanktion und der Regelungen über personelle Einzelmaßnahmen (zu denen Kündigungen gehören) schließt es aus, dem Betriebsrat einen Anspruch darauf zu gewähren, dass der Arbeitgeber Kündigungen unterlässt3. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass eine Pflicht zur Unterlassung von Kündigungen in Form einer Sicherungsverfügung ausgesprochen werden könne. Eine Sicherungsverfügung unterliegt – wie eine einstweilige Verfügung – der Einschränkung dahingehend, dass nicht mehr gewährt werden kann, als nach materieller Rechtslage als Anspruch gegeben ist; durch prozessuales Instrumentarium können keine Rechtspositionen ohne materiellrechtliche Grundlage eingeräumt werden.

c) Sozialplan 12.124

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen Sozialplan abzuschließen. Der Abschluss eines Sozialplans ist anders als die Herbeiführung eines Interessenausgleichs über die Einigungsstelle erzwingbar (§ 112 Abs. 4 BetrVG). Dies gilt unabhängig davon, ob es tarifliche Regelungen gibt, die im Falle von Betriebsänderungen Abfindungen oder Ausgleichsmaßnahmen sonstiger Art vorsehen, weil die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 BetrVG nicht gilt (§ 112 Abs. 1 Satz 4 BetrVG). Der Sozialplan ist anders als der Versuch des Interessenausgleichs nicht Voraussetzung für die Durchführung der Betriebsänderung (Massenentlassung).

12.125

Der Kern des Sozialplans liegt in den Abfindungsvorschriften. Ebenso werden häufig Gestaltungen mit Transfergesellschaften vereinbart. Ob Regelungen zu Transfergesellschaften im Sozialplan erzwingbar sind, ist umstritten4. 1 2 3 4

Vgl. Raab, ZfA 1997, 183, 243 ff. Vgl. BAG v. 6.12.1994 – 1 ABR 30/94, AP Nr. 24 zu § 23 BetrVG 1972. Vgl. Prütting, RdA 1995, 257, 261. S. dazu etwa Schütte, NZA 2013, 249 ff.

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§ 12 Liquidation | Rz. 12.129 § 12

Die in der Praxis anzutreffenden Formeln für Sozialplanabfindungen sind unterschiedlich:

12.126

– Eine verbreitete Formel ist so ausgestaltet, dass für jedes Jahr der Betriebszugehörigkeit ein bestimmter Prozentsatz eines Monatsverdienstes festgesetzt wird (50 %, 75 %, 100 %). – Nach einer weniger weit verbreiteten Formel wird das Produkt aus Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Monatsverdienst durch einen Divisor geteilt, dessen Festlegung der Hauptverhandlungspunkt zwischen den Betriebsparteien oder in der Einigungsstelle ist. Geringer dotierte Sozialpläne haben einen Divisor in der Größenordnung von 100, hoch dotierte Sozialpläne einen solchen von 50. – Ein wieder anderes (in der Insolvenz übliches) System für die Zuteilung von Sozialplanleistungen besteht darin, dass ein Gesamtbetrag als Topf für Sozialplanleistungen zur Verfügung gestellt wird und die Mittel unter die Arbeitnehmer nach Punktzahlen verteilt werden. Die Punktzahl wird für die einzelnen Arbeitnehmer auf Grund der persönlichen sozialen Daten ähnlich wie bei den Auswahlrichtlinien im Rahmen der Sozialauswahl ermittelt.

Der Sozialplan enthält üblicherweise auch Regelungen über Nebenleistungen aus dem Arbeitsverhältnis im Jahr der Beendigung (Jubiläumsgelder, 13. Monatsgehalt, Urlaubsgeld). Es können ferner Ausgleichsmaßnahmen bei Umzügen vorgesehen werden. Ausgleichszahlungen werden ggf. auch bei Versetzungen auf einen niedriger bezahlten Arbeitsplatz für einen bestimmten Zeitraum geregelt.

12.127

Die Bemessung von Sozialplanleistungen ist Gegenstand einer reichhaltigen Kasuistik. Die Betriebspartner und die Einigungsstelle haben ein erhebliches Regelungsermessen. Ihnen steht ein Spielraum bei der Beurteilung der den Arbeitnehmern entstehenden wirtschaftlichen Nachteile zu1. Die Einigungsstelle hat bei ihrer Entscheidung die in § 112 Abs. 5 BetrVG aufgestellten Kriterien zu berücksichtigen. Sozialpläne dürfen nicht Regelungen allein zum Nachteil der Arbeitnehmer enthalten2.

12.128

Die Rechtsprechung hat Sozialplanregelungen im Hinblick auf die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes überprüft3. Bei der Berechnung von Abfindungen ist der betriebsverfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten. Eine höhere Abfindungszahlung an Gewerkschaftsmitglieder lässt sich nur rechtfertigen, wenn nachgewiesen werden kann, dass etwa Gewerkschaftsmitglieder im Vergleich zu Nichtgewerkschaftsmitgliedern nach einem Arbeitsplatzverlust eine längere Zeitspanne für die Suche nach einer neuen Tätigkeit hinnehmen müssen. Eine Ungleichbehandlung von Gewerkschaftsmitgliedern mit Nichtorganisierten im Rahmen von Vergütungszahlungen durch die Transfergesellschaft ist sachlich nicht gerechtfertigt4. Sozialplanansprüche dürfen bei der Nichtannahme von zumutbaren Arbeitsplatzangeboten beschränkt werden5. Sozialplanregelungen dürfen den Bezug von Rentenleistungen berücksichtigen6. Sozialplanleistungen sind an den jeweiligen persönlichen Verhältnis-

12.129

1 Vgl. BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 760/00, DB 2002, 153 = ZIP 2002, 94 (Teilzeit – Vollzeit); BAG v. 18.9.2001 – 3 AZR 656/00, DB 2002, 255 (Anreize für ältere Arbeitnehmer); LAG Rheinland-Pfalz v. 26.10.2001 – 3 Sa 916/01, DB 2002, 1167 (Begrenzung bei rentennahen Jahrgängen). 2 Vgl. BAG v. 24.3.1981 – 1 AZR 805/78, DB 1981, 2178 = ZIP 1981, 1125. 3 BAG v. 8.2.2022 – 1 AZR 252/21, ZInsO 2022, 1473; s. zur Bemessung von Sozialplanleistungen ausführlich Gaul, DB 1998, 1513 ff.; Wölfel, Die Sozialplanabfindung, 2012; Ludwig/Hinze, NZA 2020, 1657 ff. 4 Vgl. ArbG München v. 20.12.2012 – 3 Ca 8900/12, NZA-RR 2013, 125. 5 Vgl. BAG v. 25.10.1983 – 1 AZR 260/82, AP Nr. 18 zu § 112 BetrVG 1972 = DB 1984, 725. 6 Vgl. BAG v. 14.2.1984 – 1 AZR 574/82, DB 1984, 1527 = ZIP 1984, 1000.

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§ 12 Rz. 12.129 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

sen zu orientieren1, können jedoch – in bestimmten Grenzen allerdings – pauschaliert werden2. Sozialplanregelungen können Abgrenzungen anhand von Stichtagsdaten oder Stichtagsereignissen aufstellen, die dazu führen, dass Arbeitnehmer leer ausgehen, die vor Eintritt bestimmter Umstände oder Zeitpunkte aus dem Betrieb ausscheiden, insbesondere wenn es sich um eine Eigenkündigung handelt3.

12.130

Die Diskriminierungsverbote des AGG sind ebenfalls zu beachten. Eine auf dem Merkmal der Behinderung beruhende mittelbare Benachteiligung i.S. der § 1, § 3 Abs. 2, § 7 Abs. 1 AGG liegt nicht vor, wenn sich die Höhe der Sozialplanabfindung für rentennahe Arbeitnehmer nach (geringeren) Festbeträgen unter Berücksichtigung der Bezugsmöglichkeit einer vorgezogenen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit richtet und schwerbehinderte Arbeitnehmer die gleiche Sozialplanabfindung erhalten wie nicht behinderte Arbeitnehmer4. Ein bloßes Abstellen auf die Möglichkeit einer (ungekürzten) Altersrente ist dagegen als Diskriminierung wegen Behinderung angesehen worden5. Die Differenzierung von Sozialplanleistungen nach Alter und Betriebszugehörigkeit halten nach § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG dem Diskriminierungsverbot (§ 1, § 7 Abs. 1 AGG) stand.

12.131

Differenzierungen sind mit der Maßgabe möglich, dass sie die vom Alter abhängigen Chancen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen oder Beschäftigte von Leistungen ausschließen, die wirtschaftlich abgesichert sind (Arbeitslosengeld mündet in Rente). Der EuGH hat ausdrücklich bestätigt, dass rentenberechtigte Arbeitnehmer von Abfindungsregelungen ausgenommen werden können6. Betriebszugehörigkeits- und Lebensaltersformeln sind danach zwar grundsätzlich möglich, sind jedoch im Hinblick darauf zu überprüfen, ob in ihnen die Arbeitsmarktchancen typisiert zum Ausdruck kommen. Dies legt nahe, Altersgruppen zu bilden, weil sich die Arbeitsmarktchancen nicht in Jahresschritten verändern7. Ebenso erscheint denkbar, eine an Betriebszugehörigkeit und Vergütung anknüpfende Berechnung dadurch zu ergänzen, dass die sich daraus ergebenden Beträge in Altersgruppen differenziert werden. Ebenso kommen Höchstbeträge/Kappungsgrenzen in Betracht. Es ist zu empfehlen, eine Einzelfall-Härteklausel in den Sozialplan aufzunehmen. Die Betriebsparteien können die übermäßige Begünstigung, die ältere Beschäftigte mit langjähriger Betriebszugehörigkeit bei einer am Lebensalter und an der Betriebszugehörigkeit orientierten Abfindungsberechnung erfahren, durch eine Kürzung für rentennahe Jahrgänge zurückführen, um eine aus ihrer Sicht verteilungsgerechte Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Betriebsänderung zu Gunsten der jüngeren Arbeitnehmer zu ermöglichen. Eine Sozialplanregelung, nach der sich die Abfindungshöhe nach der Formel Bruttomonatsvergütung × Betriebszugehörigkeit × Faktor bestimmt und die vorsieht, dass Arbeitnehmer nach vollendetem 62. Lebensjahr eine Mindestabfindung von zwei Bruttomonatsverdiensten erhalten, verstößt nicht gegen das Verbot der Benachteiligung wegen des Alters8. Den Betriebsparteien wird durch § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG

1 Vgl. BAG v. 12.2.1985 – 1 AZR 40/84, DB 1985, 1487. 2 Vgl. BAG v. 27.10.1987 –1 ABR 9/87, DB 1988, 558. 3 Vgl. BAG v. 30.11.1994 – 10 AZR 578/93, DB 1995, 620 = ZIP 1995, 765; BAG v. 19.7.1995 – 10 AZR 885/94, DB 1995, 2531 = ZIP 1995, 1915; BAG v. 24.1.1996 – 10 AZR 155/95, DB 1996, 1682 = ZIP 1996, 685. 4 Vgl. BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 916/11, DB 2013, 2094. 5 Vgl. LAG Baden-Württemberg v. 16.12.2014 – 16 O Sa 9/14. 6 Vgl. EuGH v. 26.2.2015 – C-515/13, NZA 2015, 473 („Volksrente“). S. dazu Grünberger, EuZA 2015, 333 ff. 7 S. dazu etwa Annuß, BB 2006, 1629, 1634; Willemsen/Schweibert, NJW 2006, 2583, 2587. 8 Vgl. BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, ZIP 2013, 2421.

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§ 12 Liquidation | Rz. 12.134 § 12

ein Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum für eine unmittelbar auf dem Alter beruhende Ungleichbehandlung bei Sozialplanleistungen eröffnet. Dessen Ausgestaltung unterliegt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 10 Satz 2 AGG. Es ist unionsrechtlich nicht geboten, älteren Arbeitnehmern einen Abfindungsbetrag zu gewähren, der die zu erwartenden Nachteile bis zur Inanspruchnahmemöglichkeit einer vorgezogenen Regelaltersrente übersteigt und es ist ebenso wenig geboten, für rentennahe Arbeitnehmer in einem Sozialplan einen wirtschaftlichen Ausgleich vorzusehen, der mindestens die Hälfte der Abfindung rentenferner Arbeitnehmer erreicht1. Die Betriebsparteien können vereinbaren, dass ein Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses auf einen Betriebserwerber bei anschließender betriebsbedingter Kündigung durch den Betriebsveräußerer einen Abfindungsanspruch aus einem beim Veräußerer bestehenden Rahmensozialplan ausschließt. Einer solchen Regelung liegt typischerweise die Annahme zugrunde, dass den von dem Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmern der Arbeitsplatz erhalten bleibt und ihnen deshalb keine ausgleichspflichtigen Nachteile entstehen. Entsprechend können Arbeitnehmer von Abfindungsleistungen ausgenommen werden, die nach dem Bezug von Arbeitslosengeld rentenberechtigt sind und zuvor die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses an einem anderen Standort abgelehnt haben2. Art. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/23/EG sieht nicht vor, dass die Betriebsparteien im Falle betriebsbedingter Kündigungen Abfindungszahlungen festlegen müssen3. Abfindungen auf Grund eines Sozialplans setzen voraus, dass der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter die Ursache für den Arbeitsplatzverlust setzt. Eigenkündigungen lösen Abfindungsansprüche daher nur aus, wenn sie der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter veranlasst hat, d.h. insbesondere dann, wenn die Entlassungsentscheidung im Hinblick auf den Arbeitnehmer feststeht4.

12.132

Eine Sozialplanklausel ist unwirksam, die den Anspruch davon abhängig macht, dass der Arbeitnehmer keine Kündigungsschutzklage erhebt oder einen angeblichen, etwaigen Betriebsoder Betriebsteilerwerber auf Feststellung eines Betriebsübergangs verklagt5. Etwas anderes gilt für „Turbo“-Prämien in freiwilligen Betriebsvereinbarungen. Diese können zusätzlich zu den mitbestimmten Sozialplanregelungen vereinbart werden6. Eine solche freiwillige Betriebsvereinbarungsregelung kommt auch im Hinblick auf Bleibe- oder Treueprämien in Betracht7. Derartige freiwillige Betriebsvereinbarungen können differenzierende Gruppenbildungen und Regelungen vorsehen, die jeweils an ihrem Zweck zu messen sind8.

12.133

Sozialplanansprüche können Ausschlussfristen unterliegen. Die Dauer der Verjährungsfrist für Abfindungszahlungen ist umstritten9.

12.134

1 2 3 4 5 6 7 8 9

Vgl. BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921 = ZIP 2013, 1349. Vgl. BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 102/13, ZIP 2015, 492. Vgl. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 62/11, NZA 2013, 277 = ZIP 2013, 330. Vgl. Hessisches LAG v. 21.3.2000 – 4 Sa 730/99, NZA-RR 2001, 252; LAG Köln v. 12.1.2001 – 11 (10) Sa 866/00, NZA-RR 2001, 372. Vgl. BAG v. 22.7.2003 – 1 AZR 575/02, DB 2003, 2658 = ZIP 2003, 2220; BAG v. 22.11.2005 – 1 AZR 458/04, NZA 2006, 220 = ZIP 2006, 489. S. dazu etwa Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff.; Benecke, BB 2006, 938 ff. beide m.w.N. Vgl. BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 406/13, NZA 2015, 557. Vgl. BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 146/13, NZA 2015, 438; BAG v. 9.12.2014 – 1 AZR 406/13, NZA 2015, 557. S. dazu BAG v. 7.5.1986 – 4 AZR 556/83, AP Nr. 12 zu § 4 BAT; LAG Hamm v. 15.1.1990 – 19 Sa 1148/89, LAGE § 9 KSchG Nr. 18; LAG Niedersachsen v. 26.1.2001 – 10 Sa 1753/00, NZA-RR 2001, 240.

Mückl | 515

§ 12 Rz. 12.135 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

d) Verhältnis zwischen Interessenausgleich und Sozialplan 12.135

Interessenausgleich und Sozialplan sind nach der Konzeption des Gesetzes unabhängig voneinander herbeizuführen. Das Interessenausgleichsverfahren muss der Betriebsänderung (sofern einschlägig: ebenso wie das Konsultations- und Anzeigeverfahren in Bezug auf eine Massenentlassung1) vorausgehen. Der Sozialplan muss dies nicht, kann vielmehr zu jedem beliebigen Zeitpunkt auch noch nach Durchführung der Betriebsstilllegung vereinbart werden. Der Interessenausgleich ist nicht erzwingbar. Der Sozialplan ist erzwingbar, soweit die Erzwingbarkeit nicht nach § 112a Abs. 1 Satz 1 BetrVG ausgeschlossen ist. Auch wenn theoretisch das Interessenausgleichsverfahren separat vom Sozialplanverfahren durchgeführt und zu diesem Zweck ggf. auch die Einigungsstelle angerufen werden kann, ist die Handhabung in der Praxis zumeist, dass Interessenausgleich und Sozialplan als „Paket“ verstanden werden. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe.

12.136

(1) Zum einen: Der Betriebsrat wird regelmäßig darauf abstellen, welche Abfindungsregelungen oder Ausgleichsmaßnahmen ein Sozialplan beinhaltet, bevor er einen Interessenausgleich abschließt. Er wird, wenn ihm diese Leistungen nicht ausreichend erscheinen, den Versuch unternehmen, den Arbeitgeber in ein langwieriges Interessenausgleichsverfahren hineinzuziehen, weil dies das dem Betriebsrat durch das Gesetz in die Hand gegebene Druckmittel gegenüber einem auf Einhaltung bestimmter Zeitabläufe angewiesenen Arbeitgeber ist. Der Arbeitgeber wird sich also von vornherein überlegen, ob die Geneigtheit des Betriebsrats bei einem Interessenausgleich nicht dadurch „erkauft“ wird, dass Sozialplanleistungen in einem zufrieden stellenden Umfang vereinbart werden.

12.137

(2) Zum anderen: Eine zur Herbeiführung eines Interessenausgleichs eingerichtete Einigungsstelle unterliegt der Versuchung dahingehend, ein Arrangement zwischen den Betriebsparteien dadurch herbeizuführen, dass über Sozialplanleistungen gesprochen wird, selbst wenn dies nicht der Gegenstand der Einigungsstelle ist. Es kommt daher häufig vor, dass sich die Betriebsparteien unter Vermittlung des Einigungsstellenvorsitzenden sowohl über einen Interessenausgleich als auch über die Sozialplanleistungen verständigen, obwohl die Einigungsstelle (nur) im Hinblick auf den Interessenausgleich konstituiert worden ist.

12.138

Die praktisch vorhandene Kombination von Sozialplan und Interessenausgleich ändert allerdings nichts daran, dass der Arbeitgeber bei der Planung seines Vorgehens, insbesondere im Falle von Massenentlassungen, als „richtigen“ Weg immer erwägen und im Auge behalten muss, ggf. so schnell wie möglich die Konstituierung einer Einigungsstelle für einen Interessenausgleich zu betreiben; nur so kann er die Abläufe aktiv gestalten und die für ihn essentielle zeitliche Dimension beherrschen.

e) Durchführung des Massenentlassungsverfahrens 12.139

In der Krise (und Insolvenz) kommt es regelmäßig zu Massenentlassungen i.S. des § 17 KSchG2. Die Pflicht zur Durchführung des Konsultationsverfahrens und zur Erstattung einer Massenentlassungsanzeige besteht auch dann, wenn der Arbeitgeber beabsichtigt, den Betrieb 1 Vgl. dazu unter Rz. 12.139 ff. 2 Zum Massenentlassungsverfahren ausführlich Spelge in EuArbR, 3. Aufl. 2020, RL 98/59/EG; Spelge, RdA 2018, 297 ff.; Spelge, NZA-Beilage zu Heft 3/2017, 108 ff.; zu neueren Entwicklungen Mückl/Vielmeier, NJW 2017, 2956 ff.; Mückl/Wittek, BB 2020, 1332 ff.; zu häufigen Fehlern und Vermeidungsstrategien Ludwig/Hinze, NZA 2020, 694 ff.

516 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.144 § 12

stillzulegen1. Das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG ist neben dem betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsverfahren zu beachten. Es kann gleichzeitig mit diesem durchgeführt werden2. aa) Allgemeines Die Massenentlassungsanzeige soll es der Agentur für Arbeit ermöglichen, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zum Aufschub von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung der Betroffenen zu sorgen3. Das Massenentlassungsverfahren wird im Ausgangspunkt dadurch ausgelöst, dass der Arbeitgeber sich entscheidet, in einem Betrieb innerhalb von 30 Tagen eine von der Betriebsgröße abhängige Anzahl von Entlassungen vornehmen zu wollen. Es unterteilt sich in zwei Schritte:

12.140

– Erster Schritt ist das in § 17 Abs. 2 KSchG geregelte „Konsultationsverfahren“, in dem der Arbeitgeber den Betriebsrat über die geplanten Entlassungen unterrichten und darüber mit ihm beraten muss. – Daran schließt sich als zweiter Schritt die vom Arbeitgeber gegenüber der Agentur für Arbeit zu erstattende Massenentlassungsanzeige an, die in § 17 Abs. 3 KSchG geregelt ist (sog. „Anzeigeverfahren“). Nach dem Eingang der Anzeige bei der Agentur kann der Arbeitgeber grds. sofort die Kündigung erklären. Sie wird wegen der in § 18 Abs. 1 KSchG normierten Sperrfrist allerdings frühestens einen Monat nach Eingang der Anzeige wirksam. Ist die individuelle Kündigungsfrist kürzer, entfaltet die Kündigung damit zum Kündigungstermin noch keine Wirkung und der Vollzug der Entlassung wird entsprechend hinausgeschoben, sofern nicht die Agentur für Arbeit einer vorzeitigen Entlassung zustimmt, d.h. die Sperrfrist abkürzt. An die Sperrfrist schließt sich die Freifrist des § 18 Abs. 4 KSchG an. Sie beträgt 90 Tage. Sind die Entlassungen bis dahin nicht durchgeführt, bedarf es einer erneuten Anzeige4.

12.141

Der richtige Umgang mit den Vorgaben der §§ 17 ff. KSchG bleibt aber schwierig. Das hat gerade die jüngere Rechtsprechung bestätigt, die versucht das Massenentlassungsrecht, das auf Basis des Gesetzeswortlauts nicht richtig handhabbar ist, weiter zu konturieren. Die Urteile tragen in vielen Fällen zu mehr Rechtssicherheit bei, allerdings nicht immer5.

12.142

bb) Grundbegriffe Die Herausforderungen beginnen bereits bei den zentralen Begriffen des Massenentlassungsrechts.

12.143

aaa) Entlassung Die Verpflichtung zur Durchführung des Massenentlassungsverfahrens wird im Ausgangspunkt dadurch ausgelöst, dass der Arbeitgeber in einem Betrieb innerhalb von 30 Tagen eine 1 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 22 = ZIP 2017, 193; BAG v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, BAGE 151, 83 Rz. 14 = ZIP 2015, 1307. 2 S. zum Verhältnis zwischen Interessenausgleichs- und Massenentlassungsanzeigeverfahren näher Moll/Katerndahl, RdA 2013, 159 ff. 3 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 24 = ZIP 2017, 193. 4 Spelge, RdA 2018, 297 ff. 5 Vgl. bereits Mückl/Wittek, BB 2020, 1332.

Mückl | 517

12.144

§ 12 Rz. 12.144 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

von der Betriebsgröße abhängige Anzahl von Entlassungen vornehmen will (§ 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG). Geprüft werden muss dementsprechend zunächst, ob eine Entlassung i.S. des § 17 KSchG vorliegt. „Entlassung“ in diesem Sinne ist grundsätzlich insbesondere der Zugang der Kündigung bzw. das Zustandekommen des Aufhebungsvertrags. Wichtig für die betriebliche Praxis ist, dass § 18 KSchG mit demselben Begriff „Entlassung“ etwas anderes meint, nämlich die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses selbst und nicht die Erklärung, die zu dieser Beendigung führt. Wer diese Differenzierung kennt, ist allerdings noch lange nicht auf der sicheren Seite. So hat z.B1. das BVerfG2 im Jahr 2016 entschieden, dass bei verfassungskonformer Auslegung des Entlassungsbegriffs in § 17 KSchG bei Arbeitnehmern in Elternzeit für den erforderlichen Massenentlassungskontext nicht auf den Zugang der Kündigung, sondern auf den Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde abzustellen ist. Geht der Zustimmungsantrag im zeitlichen Zusammenhang von 30 Tagen mit einer Massenentlassung ein, wird der Massenentlassungskontext fingiert. Die betroffenen Arbeitnehmer werden in den Massenentlassungsschutz einbezogen. Unabhängig von den zahlreichen – vom BAG3 zutreffend aufgezeigten – Folgeproblemen, die diese verfassungskonforme Auslegung des Entlassungsbegriffs aufwirft, ist auch ihr Anwendungsbereich nicht geklärt. Bei welchen anderen Personengruppen mit Sonderkündigungsschutz als den Arbeitnehmern in Elternzeit und in welchen Fallkonstellationen diese verfassungskonforme Auslegung zu erfolgen hat, ergibt sich weder aus der Entscheidung des BVerfG noch aus dem ihr folgenden Urteil des BAG. Bis zu einer höchstrichterlichen Klärung der Frage, bei welchen Personengruppen mit Sonderkündigungsschutz es auf den Antrag auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde und nicht den Zugang der Kündigung ankommt, sollten sämtliche Personen mit Sonderkündigungsschutz für die im zeitlichen Zusammenhang von 30 Tagen mit einer Massenentlassung ein Zustimmungsantrag gestellt werden soll, vorsorglich mit in die Massenentlassungsanzeige aufgenommen werden4. bbb) Betrieb

12.145

Nicht weniger schwierig wird es bei dem zweiten maßgeblichen Anknüpfungspunkt für eine Massenentlassungsanzeige: dem Betrieb. Maßgeblich ist der Betrieb aus zwei Gründen: – Von seiner Größe hängt der anwendbare Schwellenwert ab. – Die örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit richtet sich nach der Lage des Betriebs, in dem die Entlassungen erfolgen. Das klingt einfach, ist es aber nicht, wie die Urteile des 6. und 8. Senats des BAG vom 13.2.20205 und vom 27.2.20206 noch einmal belegen. Danach handelte es sich – trotz abweichender tarifvertraglicher Regelung des betriebsverfassungsrechtlichen „Betriebs“ (§ 117 BetrVG) – ausgehend von dem durch die Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie – MERL) determinierten Betriebsbegriff bei den einzelnen Stationen der Air Berlin um Betriebe i.S. des § 17 Abs. 1 KSchG. Die Anzeige bei der örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit, die zudem nicht die erforderlichen Angaben enthielt, führt daher zur Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung nach § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB. Denn das BAG ent1 2 3 4 5 6

Weitere Zweifelsfragen werden bei Mückl/Wittek, BB 2020, 1332 ff. eingeordnet. BVerfG v. 8.6.2016 – 1 BvR 3634/13, NZA 2016, 939 = ZIP 2016, 1793. BAG v. 26.1.2017 – 6 AZR 442/16, NZA 2017, 577, 581 = ZIP 2017, 692. Mückl/Wittek, BB 2020, 1332. BAG v. 13.2.2020 – 6 AZR 146/19, ZIP 2020, 1569. BAG v. 27.2.2020 – 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303.

518 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.148 § 12

nimmt dem Massenentlassungsrecht in ständiger Rechtsprechung eine (zweifelhafte1) individualschützende Komponente. Das BAG hat in ständiger Rechtsprechung ferner angenommen, dass im Rahmen des § 17 KSchG nicht der kündigungsrechtliche, sondern der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff maßgeblich ist2. Hintergrund hierfür ist, dass das Konsultationsverfahren trotz seiner Regelung im KSchG im Kern betriebsverfassungsrechtlich ist. Allerdings beruht der Betriebsbegriff in § 17 KSchG auf der vom EuGH autonom ausgelegten RL 98/59/EG (MERL). Das hat insbesondere für Betriebsteile i.S. des § 4 BetrVG und für Zusammenschlüsse nach § 3 BetrVG bzw. Regelungen nach § 117 BetrVG erhebliche Konsequenzen, die sich den Beteiligten des Massenentlassungsverfahrens aber weder aus dem Wortlaut des § 17 KSchG noch dem der § 3, § 4 und § 117 BetrVG erschließen3. In seinen Entscheidungen vom 13.2.20204, 27.2.20205 und 14.5.20206 hat das BAG nunmehr die überfällige7 Klarstellung vorgenommen, dass der Betriebsbegriff des Massenentlassungsrechts als unionsrechtlicher Begriff allein vom EuGH autonom und losgelöst von den nationalen Begrifflichkeiten auszulegen ist.

12.146

Der EuGH hat insoweit klargestellt, dass der Begriff „Betrieb“ im Rahmen der MERL einheitlich auszulegen sei. Er bezeichne nach Maßgabe der Umstände die Einheit, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören8. Im Urteil Athinaiki Chartopoiia9 hat der EuGH dies dahingehend präzisiert, dass ein Betrieb im Rahmen eines Unternehmens u.a. eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität sein könne, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt sei und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfüge10.

12.147

Hiervon ausgehend kann die betriebsverfassungsrechtliche Definition des Begriffs Betrieb11 − wenn überhaupt – nur noch als Ausgangspunkt für die Prüfung dienen. In der betrieblichen Praxis muss die vom EuGH entwickelte Definition zwingend gegengeprüft werden: Erforderlich ist danach „lediglich eine örtliche Leitung, die für die ordnungsgemäße Durchführung der Arbeit und die Lösung etwaiger technischer Probleme sorgt“. Besteht eine solche Leitung, genügt es – wie Spelge zu Recht angenommen hat – für einen Betrieb, „wenn eine unterscheidbare Einheit von gewisser Dauerhaftigkeit und Stabilität besteht, in der bestimmte Aufgaben von einer Gesamtheit von Arbeitnehmern in einer organisatorischen Struktur und mit vorgegebenen Mitteln erledigt werden“12.

12.148

1 Vgl. Mückl, BB 2012, 2570, 2571 f. 2 Seit BAG v. 13.3.1969 – 2 AZR 157/68, AP KSchG § 15 Nr. 10 zu 1.a. der Gründe; BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 153/12, AP KSchG 1969 § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 201 Rz. 47. 3 Ebenso Spelge, RdA 2018, 297, 299. 4 BAG v. 13.2.2020 − 6 AZR 146/19, NZA 2020, 1006 Rz. 32. 5 BAG v. 27.2.2020 − 8 AZR 215/19, NZA 2020, 1303 Rz. 171. 6 BAG v. 14.5.2020 − 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1092 Rz. 115. 7 Spelge in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2021, § 121 Rz. 13. 8 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 – Rockfon, EWS 1996, 66 = NZA 1996, 471. 9 EuGH v. 15.2.2007 – Rs. C-270/05, ZIP 2007, 496. 10 Zur „Station“ eines Flugbetriebs vgl. über die Entscheidungen des BAG v. 13.2.2020 bzw. 27.2.2020 hinaus Hessisches LAG v. 23.9.2019 – 17 Sa 1528/18, BeckRS 2019, 37989 Rz. 107 ff. 11 Vgl. z. B. BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, NZA-RR 2012, 570 = ZIP 2012, 2080. 12 Spelge, RdA 2018, 297, 299.

Mückl | 519

§ 12 Rz. 12.149 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

cc) Konsultationsverfahren aaa) Zuständiger Betriebsrat

12.149

Das Konsultationsverfahren beginnt mit der Beteiligung des zuständigen Betriebsrats. Der Wortlaut des § 17 Abs. 2 KSchG differenziert dabei nicht nach Betriebsratsarten, sondern spricht nur davon, dass der Betriebsrat zu beteiligen ist. Zur Zuständigkeit von Gesamt- oder Konzernbetriebsrat schweigt das Gesetz ebenso wie zu Arbeitnehmervertretungsstrukturen nach § 3 BetrVG. Da die Beteiligung des falschen Betriebsrats aber wie eine Nichtbeteiligung zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, sind für die Praxis die Hinweise des 6. Senats des BAG in seinem Urteil vom 13.12.20121 besonders wichtig. Zunächst einmal ist danach der örtliche Betriebsrat im Rahmen von Massenentlassungen nicht generell zuständig. Vielmehr bestimmt sich die Zuständigkeit auch im Rahmen von § 17 Abs. 2, 3 KSchG nach den allgemeinen Grundsätzen, d.h. nach den §§ 50, 58 BetrVG2. Dies hat das BAG in seinem Urteil vom 13.12.20123 explizit klargestellt und für den Fall einer unternehmensinternen, aber betriebsübergreifenden Betriebsänderung die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nach § 50 BetrVG bejaht. Dass dies auch den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechen dürfte, zeigen die § 125 Abs. 2 InsO, § 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG. Ausgehend von den in §§ 50, 58 BetrVG zum Ausdruck gekommenen Wertungen ist damit der örtliche Betriebsrat für die Beteiligung nach § 17 Abs. 2, 3 KSchG nur dann zuständig, wenn der geplante Personalabbau nicht auf der Grundlage eines unternehmenseinheitlichen Konzepts durchgeführt werden soll und nicht mehrere Betriebe übergreifend von der Betriebsänderung betroffen sind. Denn dann ist nach § 50 Abs. 1 BetrVG der Gesamtbetriebsrat zuständig4. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck der Unterrichtung des Betriebsrats, die es ihm ermöglichen soll, konstruktive Vorschläge zur Vermeidung oder Einschränkung der Massenentlassungen zu unterbreiten. Sind mehrere Betriebe von einer nach einem einheitlichen Unternehmenskonzept durchgeführten Betriebsänderung betroffen, kann dies aber nur der Ge-samtbetriebsrat. Erforderliche Kenntnisse des Gesamtbetriebsrats über die betrieblichen und regionalen Verhältnisse sind dadurch gewährleistet, dass jeder örtliche Betriebsrat mindestens ein Mitglied in den Gesamtbetriebsrat entsendet. Daraus folgt die gleichzeitige Zuständigkeit für die Beteiligung nach § 17 Abs. 2, 3 KSchG5. Das Ergebnis dieser Konsultationen mit dem Gesamtbetriebsrat ist im Anschluss der Agentur für Arbeit mitzuteilen. Eine Zuständigkeit der örtlichen Betriebsräte scheidet schon deshalb aus, weil sie sich auf einen Vorgang beziehen müsste, an dessen Beratung sie nicht beteiligt waren6. Wird ein geplanter Personalabbau auf der Grundlage eines unternehmensübergreifenden Konzepts durchgeführt und sind mehrere Unternehmen mit ihren Betrieben von der Betriebsänderung betroffen, ist folgerichtig der Konzernbetriebsrat nach § 58 Abs. 1 BetrVG originär zuständig7. Denkbar ist trotz der Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats für den Interessenausgleich allerdings, dass mit Blick auf den Sozialplan der Gesamtbetriebsrat bzw. der örtliche Betriebsrat zuständig ist. Denn für Interessenausgleich und Sozialplan ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht notwendig derselbe Betriebsrat zuständig8. Eine 1 2 3 4 5 6

BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447. Vgl. bereits BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786; Mückl, ArbRAktuell 2011, 238. BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447. BAG v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447. Grau/Sittard, BB 2011, 1845 ff. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412; BAG v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786, dazu Mückl, EWiR 2011, 677. 7 A.A. (nicht rechtskräftig) LAG Düsseldorf v. 25.4.2013 – 15 Sa 1892/12, BeckRS 2013, 70903. 8 Vgl. BAG v. 23.10.2002 – 7 ABR 55/01, ZIP 2003, 1514; BAG v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498.

520 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.151 § 12

„Rückdelegation“ an den Gesamtbetriebsrat bzw. die örtlichen Betriebsräte, die das BetrVG auch in anderem Kontext nicht kennt, scheidet im Zusammenhang mit § 17 KSchG ebenfalls aus. Denkbar ist lediglich umgekehrt, dass bei einer originären Zuständigkeit der örtlichen Betriebsräte bzw. des Gesamtbetriebsrats eine Delegation an den Gesamt- bzw. Konzernbetriebsrat gemäß der § 50 Abs. 2, § 58 Abs. 2 BetrVG erfolgt. Dies sollte in der abgeschlossenen Vereinbarung und in den Erklärungen der Arbeitnehmervertreter gegenüber der Agentur für Arbeit klargestellt und ggf. vorsorglich der Agentur für Arbeit der Delegationsbeschluss (in Kopie) vorgelegt werden. Ist die Sach- und Rechtslage tatsächlich unklar oder schwierig feststellbar, wird man auf § 17 Abs. 2, 3 KSchG die Überlegungen des BAG im Urteil vom 24.1.19961 und im Urteil vom 30.3.20042 übertragen können. bbb) Inhalt der Unterrichtung des Betriebsrats Ist eine Massenentlassung gemäß § 17 Abs. 1 KSchG beabsichtigt, sind dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen. Darüber hinaus ist er schriftlich insbesondere zu unterrichten über

12.150

– die Gründe für die geplanten Entlassungen, – die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenen Arbeitnehmer, – die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, – den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, – die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenen Arbeitnehmer, – die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien. Arbeitgeber und Betriebsrat haben sodann insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern (§ 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG). Eine Abschrift dieser Mitteilung an den Betriebsrat ist durch den Arbeitgeber gleichzeitig der Agentur für Arbeit zuzuleiten. Sie muss zumindest die in § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben enthalten (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG). In der betrieblichen Praxis entspricht der Inhalt der den Betriebsräten bei Aufnahme von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen überlassenen Informationen über das Ob, Was, Wann und Warum der geplanten Maßnahme(n) häufig diesen Anforderungen nicht. Für die §§ 111, 112 BetrVG ist das unerheblich. Denn für die betriebsverfassungsrechtliche Beteiligung des Betriebsrats bestehen (ebenso wie für die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses nach § 106 BetrVG) inhaltlich keine konkreten gesetzlichen Vorgaben. Vielmehr ist einzelfallbezogen so zu informieren, dass die Arbeitnehmervertreter die beabsichtigten Maßnahmen verstehen und beurteilen können. Nach den § 80 Abs. 2 Satz 2, § 106 Abs. 2 Satz 1 BetrVG sind die zur Durchführung der Aufgaben des Betriebsrats erforderlichen Unterlagen erst auf Verlangen zur Verfügung zu stellen. Doch genügt der Arbeitgeber durch die dementsprechende Unterrichtung und Beratung des Betriebsrats im Rahmen von §§ 111, 112 BetrVG in der Regel nicht seiner Unterrichtungs- und Beratungspflicht aus § 17 Abs. 2 KSchG. Dies gilt – wie das BAG mit Urteil vom 20.9.20123 klargestellt hat – sogar, wenn durch den Betriebsrat im Rahmen des Interessenausgleichs erklärt wird, dass er rechtzeitig und umfassend 1 BAG v. 24.1.1996 – 1 AZR 542/95, ZIP 1996, 1391. 2 BAG v. 30.3.2004 – 1 AZR 7/03, ZIP 2004, 1823. 3 BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412.

Mückl | 521

12.151

§ 12 Rz. 12.151 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

über die anzeigepflichtigen Entlassungen unterrichtet worden sei. Denn die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist eigenständig. Sie muss deshalb ergänzend zur Erfüllung der Pflichten aus §§ 111, 112 BetrVG erfolgen. Allerdings ist eine Verbindung des Interessenausgleichsverfahrens mit der Erfüllung der Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG nach der Rechtsprechung des BAG zulässig. Soweit die gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Pflichten aus § 111 BetrVG mit denen aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und § 102 Abs. 1 BetrVG übereinstimmten, könne der Arbeitgeber sie gleichzeitig erfüllen1. Er müsse aber klarstellen, dass und welche Verfahren gleichzeitig durchgeführt werden sollen2. Das kann nicht nur auf den jeweils überlassenen Unterlagen geschehen. Denkbar ist auch, dass beide Parteien im Interessenausgleich ausdrücklich bestätigen, dass nicht nur das Verfahren nach §§ 111 f. BetrVG, sondern auch die das Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG erfüllt wurde. Damit kann und sollte zudem die Erklärung verbunden werden, dass der Interessenausgleich zugleich als Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG gilt3. Eine derartige Verbindung von Interessenausgleich und Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 KSchG ist zulässig4. ccc) Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrats

12.152

Wie im Rahmen von § 111 BetrVG auch muss die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG „rechtzeitig“ erfolgen. Das ist nur der Fall, wenn der Arbeitgeber dem zuständigen Betriebsrat die erforderlichen Informationen so früh mitteilt, dass er noch konstruktive Vorschläge zu denkbaren Änderungen der Pläne (Ob, Was, Wann und Wie der geplanten Maßnahme(n)) machen kann. Es muss eine realistische Chance bestehen, dass der Betriebsrat – soweit Alternativen denkbar sind – noch eine Änderung der Maßnahme in Bezug auf die geplanten Entlassungen erreichen kann5. Daraus folgt, dass jedenfalls vor einer strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidung informiert werden muss, um eine konstruktive Beratung zu ermöglichen. Liegen dem Arbeitgeber die nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG erforderlichen Informationen bei Einleitung des Konsultationsverfahrens noch nicht vollständig vor, müssen sie folgerichtig, sobald sie vorliegen, – ggf. auch während der laufenden Beratungen – ergänzt werden. Nach den Feststellungen des BAG ist dabei schon deshalb ein flexibler (proaktiver und reaktiver) Umgang notwendig, weil die Auskünfte zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Konsultationsprozesses zur Verfügung stehen können. Der Arbeitgeber habe deshalb die Möglichkeit und zugleich auch die Pflicht, seine Auskünfte im Laufe des Verfahrens zu vervollständigen6. Wie das LAG Düsseldorf7 zu Recht angenommen hat, ist für die Frage, ob die Konsultation des Betriebsrats „rechtzeitig“ i.S. von Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG und § 17 Abs. 2 KSchG erfolgt, allein entscheidend, dass der Arbeitgeber nicht durch den Ausspruch von Kündigungen unumkehrbare Fakten8 schafft.

1 2 3 4 5

BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412. Musterformulierung bei Mückl, ArbRAktuell 2011, 238. BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822. EuGH v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 = ZIP 2009, 2259 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto. 6 EuGH v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 = ZIP 2009, 2259 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto; BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412. 7 LAG Düsseldorf v. 12.9.2019 – 11 Sa 986/18, BeckRS 2019, 36392. 8 Vgl. zur Parallelproblematik im Rahmen von § 113 BetrVG unter Rz. 12.116.

522 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.156 § 12

ddd) Form der Unterrichtung

Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat die Auskünfte nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 Nr. 1 bis 6 KSchG „schriftlich“ zu erteilen. Die Unterrichtung muss entgegen einer im früheren Schrifttum – weitgehend begründungslos – vertretenen Auffassung nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG nicht den Anforderungen des § 126 BGB genügen. Die Wahrung der Textform entsprechend § 126b BGB reicht aus1. Denn die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 KSchG soll es der Arbeitnehmervertretung ermöglichen, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, um die geplante Massenentlassung zu verhindern oder einzuschränken2. Der Betriebsrat muss die gesetzlich vorgesehenen Angaben auf Vollständigkeit, inhaltlichen Abschluss und Urheberschaft prüfen können3. Daneben müssen die übermittelten Informationen für ihn dauerhaft verfügbar sein4. Dies ist bei einer Bereitstellung in Textform hinreichend gewährleistet.

12.153

dd) Anzeigeverfahren Die Massenentlassungsanzeige ist nach § 17 KSchG bei der Agentur für Arbeit zu erstatten, in deren Bezirk der Betrieb liegt; der Sitz des Unternehmens ist nicht maßgeblich5. Wenn es nur eine Betriebsstätte gibt, ist dies leicht zu ermitteln. Existieren mehrere Betriebsstätten, wird die Beurteilung der zuständigen Agentur für Arbeit schon deutlich schwieriger. Viele Arbeitgeber informieren sich deshalb dazu über eine kostenfreie Service-Rufnummer der Bundesagentur für Arbeit. Allerdings werfen die im Zusammenhang mit der Air Berlin-Insolvenz ergangenen Urteile des BAG die Frage auf, welchen Wert diese Auskunft hat6.

12.154

Parallel zum Ausreichen der Textform im Rahmen des Konsultationsverfahrens genügt diese nach der zutreffenden landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung auch für die Erstattung der Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit selbst. „Schriftlich“ i.S. des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG meint Textform i.S. des § 126b BGB. Dementsprechend ist nach umstrittener (aber zutreffender) Auffassung die Übersendung der Massenentlassungsanzeige per E-Mail ausreichend7. Unternehmen sollten bis zu einer Entscheidung des BAG allerdings weiterhin das von der Agentur für Arbeit bereitgestellte Formular zur formgerechten und vollständigen Anzeige der Massenentlassung nutzen.

12.155

Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrats i.S. des § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht vor, ist die Anzeige nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Umstritten ist in der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, ob der Umstand, dass der Arbeitgeber den Stand der Beratungen unzutreffend und damit für die Behörde irreführend dargestellt hat, zur Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige führt8. Das ist grundsätzlich naheliegend.

12.156

1 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 42 = ZIP 2017, 193. 2 EuGH v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 Rz. 51 und 64 = ZIP 2009, 2259 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto. 3 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 45 = ZIP 2017, 193. 4 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, BAGE 157, 1 Rz. 45 = ZIP 2017, 193. 5 Kiel in Erfurter Kommentar, 22. Aufl. 2022, § 17 KSchG Rz. 29; Spelge, RdA 2018, 297, 300 m.w.N. 6 Vgl. dazu Mückl/Wittek, BB 2020, 1332, 1336. 7 LAG Düsseldorf v. 13.3.2019 – 12 Sa 726/18, BeckRS 2019, 10174 Rz. 137; Hessisches LAG v. 23.9.2019 – 17 Sa 1528/18, BeckRS 2019, 37989 Rz. 105. 8 So LAG Berlin-Brandenburg v. 11.7.2019 – 21 Sa 1908/18, BeckRS 2019, 23169 Rz. 101 ff.; a.A. LAG Düsseldorf v. 13.3.2019 – 12 Sa 726/18, BeckRS 2019, 10174 Rz. 148 ff.; offen Hessisches LAG v. 23.9.2019 – 17 Sa 1528/18, BeckRS 2019, 37989 Rz. 106.

Mückl | 523

§ 12 Rz. 12.156 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

Richtigerweise wird man aber mit dem LAG Düsseldorf1 einzelfallbezogen differenzieren müssen2. ee) Fazit

12.157

Angesichts der fehlenden Kohärenz der §§ 17 ff. KSchG, einer kaum mehr zu überblickenden Flut an jüngeren Urteilen und anhängigen Verfahren zu einer Vielzahl von Rechtsfragen zu § 17 KSchG handelt es sich bei der Massenentlassungsanzeige um ein „Minenfeld“3. Der Arbeitgeber kann diesem Risiko insbesondere bei der Auslegung der „Grundbegriffe“ Arbeitnehmer, Betrieb und Entlassung nicht einmal dadurch ausweichen, dass er stets die vermeintlich arbeitnehmerfreundliche Auslegung wählt, da für den betroffenen Arbeitnehmer mal die Einbeziehung, mal die Nichteinbeziehung anderer Arbeitnehmer zur Erreichung bestimmter Schwellenwerte günstig ist. Wenn der Gesetzgeber keine Klarstellungen vornimmt, bleibt nur der Weg einer gerichtlichen Klärung, welches stets fragmentarisch ist und eine eingehende Beratung erfordert. Werden Maßnahmen strategisch mit hinreichendem Vorlauf geplant, können anzeigepflichtige Massenentlassungen und die mit ihnen verbundenen Risiken – z.B. durch eine entsprechende Staffelung von Entlassungen – aber ggf. sogar ganz vermieden werden4.

f) Rechtfertigung von Kündigungen nach dem KSchG 12.158

Im Stilllegungsfall werden die Arbeitsverhältnisse betriebsbedingt und daher sozial gerechtfertigt gekündigt. Die Stilllegung ist – arbeitsrechtlich – eine Entscheidung des für die Geschäftsführung zuständigen Gesellschaftsorgans5. Die Entscheidung der Geschäftsführung kann im Innenverhältnis einem Zustimmungsvorbehalt eines anderen Gesellschaftsorgans unterliegen. Dies berührt die Kündigungen wegen Betriebsstilllegung allerdings nicht6. Die Stilllegungsentscheidung ist von der Auflösung der Gesellschaft zu unterscheiden, für die in jedem Falle die Gesellschafter zuständig sind. Die Sozialauswahl entfällt bei einer Stilllegung zu einem einzigen Termin. Sie ist ansonsten, wenn der Betrieb stufenweise geschlossen wird, im Grundsatz einzuhalten7. Der Arbeitgeber kann die Sozialauswahl nicht mit der Begründung vermeiden, dass der Betrieb letztlich stillgelegt werde und es deshalb nicht darauf ankomme, wem früher und wem später gekündigt werde. Etwas anderes gilt allerdings, wenn der Stilllegungsbeschluss beinhaltet, dass allen Arbeitnehmern frühestmöglich gekündigt wird8, d.h., wenn der Betrieb schnellstmöglich stillzulegen ist und der Arbeitgeber die Entlassungen sukzessive entsprechend den in den einzelnen Arbeitsverhältnissen anwendbaren Kündigungsfristen vornimmt9. Bei der Stilllegung sind die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei Be1 LAG Düsseldorf v. 19.9.2019 – 11 Sa 1043/18, BeckRS 2019, 38772 Rz. 128 = ZIP 2020, 629. 2 Vgl. dazu Mückl/Wittek, BB 2020, 1332, 1337. 3 Spelge in EUArbR, 4. Aufl. 2022, RL 98/59/EG Art. 1 Rz. 10; Fuhlrott, BB 2013, 1152; Mückl/Vielmeier, NJW 2017, 2956, 2961. 4 Spelge in EUArbR, 4. Aufl. 2022, RL 98/59/EG Art. 1 Rz. 10. 5 Vgl. BAG v. 11.3.1998 – 2 AZR 414/97, DB 1998, 1568 = ZIP 1998, 1284. 6 Vgl. BAG v. 11.3.1998 – 2 AZR 414/97, DB 1998, 1568 = ZIP 1998, 1284; BAG v. 7.12.2000 – 2 AZR 391/99, DB 2001, 1154; BAG v. 5.4.2001 – 2 AZR 696/99, DB 2001, 1782. S. aber demgegenüber BAG v. 14.3.2013 – 8 AZR 153/12, AP Nr 201 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung (LS); a.A. Däubler, DB 2012, 2100, 2103 = ZIP 2001, 1731. 7 Vgl. BAG v. 16.9.1982 – 2 AZR 271/80, DB 1983, 504 = ZIP 1983, 205; BAG v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, BAGE 116, 19 = ZIP 2006, 631. 8 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, DB 2001, 1370 = ZIP 2001, 1022. 9 Vgl. BAG v. 18.1.2001 – 2 AZR 514/99, DB 2001, 1370 = ZIP 2001, 1022.

524 | Mückl

§ 12 Liquidation | Rz. 12.203 § 12

triebsänderungen (§§ 111 ff. BetrVG) sowie die Anzeige- und Konsultationspflichten nach §§ 17 ff. KSchG und die Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei personellen Einzelmaßnahmen (§§ 99 ff. BetrVG) zu beachten. Im Veräußerungsfall scheiden Kündigungen wegen einer Beendigung der Betriebstätigkeit dagegen aus. Die Arbeitsverhältnisse gehen gemäß § 613a Abs. Im Veräußerungsfall scheiden Kündigungen wegen einer Beendigung der Betriebstätigkeit dagegen aus. Die Arbeitsverhältnisse gehen gemäß § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB – vorbehaltlich § 613a Abs. 4 Satz 2 BGB – auf den Erwerber über. Einstweilen frei.

12.159

12.160–12.200

III. Steuerrecht in der Liquidation 1. Liquidationsbesteuerung der GmbH Die abschließende Besteuerung des Gewinns einer unbeschränkt oder beschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaft aus der Auflösung (§ 60 GmbHG) und Abwicklung (§§ 65 ff. GmbHG) oder aus der Auflösung durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens (s. Rz. 28.1) unterliegt besonderen Grundsätzen nach § 11 KStG. Grundsätzlich ist Voraussetzung, dass die Körperschaft sowohl aufgelöst als auch abgewickelt wird (sog. insolvenzfreie Liquidation). Nur im Fall der Insolvenz gilt die Liquidationsbesteuerung auch, wenn sich an die Auflösung keine Abwicklung anschließt (§ 11 Abs. 7 KStG). Der Sache nach bedeutet dies, dass der Liquidationszeitraum mit dem Beschluss der Gesellschafter zur Fortführung der Gesellschaft endet und die Gesellschaft von diesem Zeitpunkt an, gegebenenfalls durch Bildung eines Rumpfgeschäftsjahres, wieder in die normale Besteuerung zurückkehrt. Obgleich die Frage, ob § 3a EStG auch auf die GmbH in Liquidation (GmbH i.L.) Anwendung findet, nicht abschließend geklärt ist, sprechen gute Gründe für die Anwendbarkeit (s. Rz. 8.44).

12.201

Möglich ist im Zuge der Liquidation auch eine sog. Sachauskehrung in der Weise, dass Vermögensgegenstände der GmbH i.L. auf den Gesellschafter übertragen werden. Die Sondervorschrift über die Liquidation der Kapitalgesellschaften greift mit dem Beschluss der Auflösung ein. Das ist der Zeitpunkt des Gesellschafterbeschlusses über die Auflösung oder der Eintritt eines gesetzlichen Auflösungsgrundes. Die Sonderregeln des § 11 KStG ändern aber nichts daran, dass die GmbH i.L. solange körperschaftsteuerpflichtig ist, wie sie noch über Vermögen verfügt. Die GmbH verliert ihre Steuersubjektqualität mit der tatsächlichen Beendigung der geschäftlichen Betätigung, der Beendigung der Vermögensverteilung an die Gesellschafter und dem Ablauf des gesetzlichen Sperrjahres (§ 73 GmbHG; R 11 Abs. 2 KStR). Dabei wird der steuerpflichtige Gewinn (sog. Liquidationsgewinn) nicht aus dem handelsrechtlichen Jahresabschluss abgeleitet, sondern aus einem Bestandsvergleich eigener Art. Zweck der Vorschrift ist eine einheitliche und möglichst einfache Gewinnermittlung. Jährliche Körperschaftsteuererklärungen müssen nicht mehr abgegeben werden1.

12.202

Der zu besteuernde Liquidationsgewinn ist der Unterschied zwischen dem Abwicklungsendvermögen und dem Abwicklungsanfangsvermögen (§ 11 Abs. 2 KStG). Das Liquidationsanfangsvermögen ist aus der Liquidationseröffnungsbilanz abzuleiten; das Liquidationsendvermögen ist das zur Verteilung zur Verfügung stehende Vermögen, welches um steuer-

12.203

1 Vgl. Stalbold in Gosch, § 11 KStG Rz. 3.

Mückl und Crezelius/B. Westermann | 525

§ 12 Rz. 12.203 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

freie Vermögensmehrungen zu mindern ist, die dem Steuerpflichtigen in der Liquidationsphase zugeflossen sind. All dies führt dazu, dass eventuell gelegte stille Reserven innerhalb des Liquidationsraums aufgedeckt und besteuert werden. Der Grund dafür liegt darin, dass im unternehmerischen Bereich nicht realisierte Gewinne auf Grund des handelsrechtlichen Realisationsprinzips nicht ausgewiesen und damit auch nicht zur Körperschaftsteuer mit herangezogen worden sind (§ 8 Abs. 1 KStG, § 5 Abs. 1 EStG, §§ 238 ff. HGB). Im Rahmen der Liquidationsbesteuerung, der Endbesteuerung der Kapitalgesellschaft, soll sichergestellt werden, dass alle steuerpflichtigen Vermögensmehrungen einschließlich der durch die Auflösung stiller Reserven entstehenden Gewinne erfasst werden. Im Gegensatz zur Beendigung einer einzelunternehmerischen Tätigkeit oder zur Liquidation einer Personengesellschaft gibt es körperschaftsteuerrechtlich keine den §§ 16, 34 EStG entsprechenden Tarifvergünstigungen auf der Ebene der GmbH. Auf Ebene des Anteilseigners ist bei einer hundertprozentigen Beteiligung § 16 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG zu berücksichtigen.

12.204

Bei der Schlussbesteuerung einer Körperschaft ist zwischen der Besteuerung auf der Gesellschaftsebene und der Besteuerung auf der Ebene des Anteilseigners zu unterscheiden. Im Einzelnen:

12.205

Mit dem Übergang der werbenden Kapitalgesellschaft in das Liquidationsstadium endet regelmäßig noch nicht die unternehmerische Tätigkeit, vielmehr werden noch laufende Geschäfte abgewickelt und das Vermögen der Körperschaft wird veräußert. Von Beginn des Liquidationszeitraums an ist nicht mehr das Kalenderjahr, sondern der Abwicklungszeitraum Ermittlungs- und Veranlagungszeitraum für die Körperschaftsteuer. Der sich auf Grund der Gegenüberstellung des Abwicklungsendvermögens mit dem Abwicklungsanfangsvermögen ergebende Unterschiedsbetrag ist der zu besteuernde Liquidationsgewinn bzw. der endgültige Liquidationsverlust. Im Rahmen der Liquidationsbesteuerung geht es materiell um die vollständige Erfassung der in der Kapitalgesellschaft befindlichen stillen Reserven. Infolgedessen gilt die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz der § 8 Abs. 1 KStG, § 5 Abs. 1 EStG nicht; dem Handelsrecht ist ein Abwicklungsgewinn fremd1. Davon abgesehen gelten auch bei der Liquidation die allgemeinen Regeln (§ 11 Abs. 6 KStG). Inhaltlich kommen also alle Gewinnermittlungsvorschriften zur Anwendung, wenn sie nicht durch die abweichenden Bestimmungen des § 11 Abs. 1–5 KStG ersetzt werden. Zu den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften, die anzuwenden sind, gehören insbesondere auch die §§ 9, 10 KStG bezüglich der abzugsfähigen und nicht abzugsfähigen Ausgaben2.

12.206

Im Rahmen der allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften ist auch die Verlustausgleichsmöglichkeit nach § 10d EStG zu berücksichtigen. Aus dem Umstand, dass der Abwicklungszeitraum ein einziger Besteuerungsabschnitt ist, folgt, dass Verluste, die in früheren Veranlagungszeiträumen entstanden sind, in den Abwicklungszeitraum vorgetragen und mit dem im Abwicklungszeitraum erzielten Gewinn verrechnet werden können. Ein nicht genutzter Verlustvortrag, der auch nicht mit einem Liquidationsgewinn verrechnet werden kann, geht endgültig verloren, weil insoweit die Steuersubjektqualität der Kapitalgesellschaft beendet ist. Im Einzelfall sollte daher überprüft werden, ob nicht vor der Liquidation etwa durch eine Einlage einer gewinnbringenden Einnahmequelle der Verlustvortrag ausgenutzt wird, allerdings sind die Sonderregeln in § 8c KStG (Rz. 8.121) zu beachten.

12.207

Abwicklungsanfangsvermögen ist dasjenige Betriebsvermögen, welches am Schluss des der Auflösung vorangegangenen Wirtschaftsjahres der Veranlagung zugrunde gelegt worden ist 1 BFH v. 8.12.1971 – I R 164/69, BStBl. II 1972, 229. 2 BFH v. 21.10.1981 – I R 149/77, BStBl. II 1982, 177.

526 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.212 § 12

(§ 11 Abs. 4 Satz 1 KStG). Abwicklungsendvermögen (§ 11 Abs. 3 KStG) ist das an die Gesellschafter zur Verteilung kommende Vermögen, also dasjenige Substrat, welches nach Versilberung der Vermögensgegenstände/Wirtschaftsgüter und nach Begleichung der Schulden verbleibt. Kommt es zu Sachauskehrungen an den Kapitalgesellschafter, dann sind diese mit dem gemeinen Wert nach § 9 BewG anzusetzen. Ein entgeltlich erworbener, derivativer Geschäftswert ist ebenfalls zu berücksichtigen1, doch ist dies wohl nur dann zutreffend, wenn der derivativ erworbene Geschäftswert im Rahmen der Abwicklungsbesteuerung realisiert werden kann. Andernfalls ist der Wert Null. Der originäre Geschäftswert der zu liquidierenden Gesellschaft ist nicht Bestandteil des Endvermögens.

12.208

Da die GmbH als Kapitalgesellschaft Gewerbebetrieb kraft Rechtsform ist (§ 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG), ist auch der Abwicklungsgewinn der GmbH i.L. gewerbeertragsteuerpflichtig, obschon die werbende Tätigkeit eingestellt wird (R 2.6 Abs. 2 GewStR). Aber auch gewerbesteuerrechtlich gilt, dass der Gewerbebetrieb erst mit der tatsächlichen Beendigung der unternehmerischen Tätigkeit endet. Der Gewerbeertragsteuer ist der nach § 11 KStG ermittelte Gewinn zugrunde zu legen. Gewerbesteuerrechtlich ist § 16 GewStDV zu beachten, wonach der Gewerbeertrag, der bei einem in der Abwicklung befindlichen Gewerbebetrieb im Zeitraum der Abwicklung entstanden ist, auf die Jahre des Abwicklungszeitraums zu verteilen ist.

12.209

Für die Liquidationsbesteuerung auf der Ebene der Kapitalgesellschaft kann es zu Problemen kommen, wenn sich das Körperschaftsteuerrecht ändert bzw. geändert hat. Infolge der Abschaffung des körperschaftsteuerrechtlichen Anrechnungsverfahrens war etwa nach § 37 Abs. 1 KStG ein Körperschaftsteuerguthaben festgestellt worden. Dieses war letztmalig auf den Stichtag zu ermitteln, auf den die Liquidationsschlussbilanz erstellt wird (§ 37 Abs. 4 KStG). Nach § 37 Abs. 5 Satz 1 KStG hatte die Gesellschaft einen Anspruch auf Auszahlung des Körperschaftsteuerguthabens in zehn gleichen Jahresbeträgen innerhalb eines Zeitraums von 2008 bis 2017. Um eine langwierige Liquidation zu vermeiden, konnte der Anspruch auf Auszahlung dieses Guthabens abgetreten, verpfändet oder gepfändet werden (§ 37 Abs. 5 KStG).

12.210

Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 KStG soll der Besteuerungszeitraum für die Liquidation drei Jahre nicht übersteigen. Wenn der Liquidationszeitraum ausnahmsweise diese Frist überschreitet, muss die Gesellschaft nach Aufforderung durch das zuständige Finanzamt zur jährlichen Veranlagung übergehen. Nach Auffassung des BFH kann die Finanzverwaltung auch dann für längere Zeiträume einen Körperschaftsteuerbescheid erlassen, wenn für eine Steuerfestsetzung vor Abschluss der Liquidation kein spezieller Anlass besteht2. Ein derartiges Vorgehen muss nur dann begründet werden, wenn ein rechtliches Interesse der Gesellschaft an der Verlängerung des Besteuerungszeitraums über drei Jahre hinaus erkennbar ist. Nach Meinung des BFH gibt das Gesetz nichts dafür her, dass eine Zwischenveranlagung nur dann zulässig sein soll, wenn konkrete Schwierigkeiten drohen. Deshalb setzt die Zwischenveranlagung nicht voraus, dass eine Abwicklung von den Liquidatoren unangemessen hinausgezögert wird oder dass ohne eine Zwischenveranlagung der Ausfall von Steueransprüchen droht3.

12.211

Die vorstehend zitierte Entscheidung des BFH setzt sich auch mit der praktisch wichtigen Frage auseinander, welcher Körperschaftsteuersatz in Liquidationsfällen dem Abwicklungs-

12.212

1 BFH v. 14.2.1978 – VIII R 158/73, BStBl. II 1979, 99. 2 BFH v. 18.9.2007 – I R 44/06, GmbHR 2008, 160. 3 Vgl. auch Küster, DStR 2006, 209.

Crezelius/B. Westermann | 527

§ 12 Rz. 12.212 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

gewinn zugrunde zu legen ist. Der BFH1 steht auf dem Standpunkt, dass bei einer Liquidation der am Ende des Liquidationszeitraums geltende Steuersatz anzuwenden ist, auch wenn sich der Steuersatz während der Abwicklungsphase geändert hat. Daraus folgt, dass auch in Fällen der Zwischenveranlagung das im Zeitpunkt des Ablaufs des jeweiligen Zwischenveranlagungszeitraums geltende Steuerrecht anzuwenden ist2.

12.213

Bei der Liquidationsbesteuerung ist auch die sog. Mindestbesteuerung nach § 8 Abs. 1 KStG, § 10d Abs. 2 EStG zu beachten. Hier kann es aufgrund der eingeschränkten Verlustvortragsmöglichkeit des § 10d Abs. 2 EStG dazu kommen, dass im Zeitpunkt der Liquidation einer Kapitalgesellschaft ein Verlustvortrag nicht verbraucht werden konnte. Der I. Senat des BFH hat dem BVerfG § 10d Abs. 2 EStG nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgelegt3. Der vorlegende Senat ist der Auffassung, dass die Mindestbesteuerung des § 10d Abs. 2 EStG zwar in ihrer Grundkonzeption der zeitlichen Streckung des Verlustvortrags verfassungsgemäß ist, dass es aber zu einem Gleichheitssatzverstoß kommt, soweit durch den Ausschluss eines Verlustausgleichs der Kernbereich einer Nettoertragsbesteuerung verletzt wird. Das ist überzeugend, weil es nicht dem Sinn und Zweck der Mindestbesteuerung entspricht, vorhandene Verlustvorträge endgültig zu vernichten.

12.214

Schließlich ist auf ein Sonderproblem der Liquidationsbesteuerung hinzuweisen, welches sich bei Vorhandensein von Gesellschafterdarlehen ergibt. Vielfach wird es bei einer Liquidation so liegen, dass die Kapitalgesellschaft liquidiert wird, ohne dass irgendeine Vereinbarung über das früher ausgereichte und bei der GmbH passivierte (stehengelassene) Gesellschafterdarlehen getroffen wird. Hintergrund ist, dass Verbindlichkeiten gemäß § 12 Abs. 1 BewG grundsätzlich mit ihrem Nennwert zu bilanzieren sind. Hier ist zu entscheiden, ob im Rahmen der Liquidationsbesteuerung des § 11 KStG die gegenüber dem Gesellschafter bestehende Verbindlichkeit gewinnerhöhend aufzulösen ist. Dies hatte das FG Köln in der Vergangenheit verneint4. Der I. Senat des BFH hatte die Frage aber im Rahmen eines obiter dictum bewusst offengelassen5. Das ist deshalb bedenklich, weil die ertragswirksame Ausbuchung der Verbindlichkeit dann zu denselben Rechtsfolgen führt wie ein Forderungsverzicht6.

12.215

Die OFD Frankfurt a.M. vertritt in ihren Verfügungen vom 30.6.20177 und vom 26.7.20218 die Auffassung, dass eine stehengelassene Verbindlichkeit einer Gesellschaft gegenüber einem ihrer Gesellschafter im Fall der Liquidation der Gesellschaft nicht (gewinnwirksam) aufzulösen ist9. Allein in der Beantragung oder Zustimmung zur Liquidation ist kein Forderungsverzicht zu sehen. Etwas anderes gilt erst, wenn bei objektiver Würdigung der Verhältnisse angenommen werden kann, dass der Gläubiger seine Forderung nicht mehr geltend machen wird und die Gesellschaft daher die Verbindlichkeit nicht mehr erfüllen muss. Grundsätzlich beeinflussen daher weder die Vermögenslosigkeit der GmbH noch deren bevorstehende Existenz1 BFH v. 18.9.2007 – I R 44/06, GmbHR 2008, 160. 2 Näher Hofmeister in Brandis/Heuermann, § 11 KStG Rz. 40, 81; Lambrecht in Gosch, § 11 KStG Rz. 42; Korn, KÖSDI 2012, 18162. 3 BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, BStBl. II 2014, 1016 = GmbHR 2014, 1099; Verfahren anhängig unter dem Az. BVerfG 2 BvL 19/14. 4 FG Köln v. 6.3.2012 – 13 K 3006/11, GmbHR 2012, 977 m. Anm. Mückl/Frey. 5 BFH v. 5.2.2014 – I R 34/12, BFH/NV 2014, 1014. 6 Vgl. Kahlert, DStR 2014, 1906; Mayer/Betzinger, DStR 2014, 1573; vgl. auch Eller in Eller, Liquidation der GmbH, 4. Aufl. 2021, Kap. B Rz. 63. 7 OFD Frankfurt a.M. v. 30.6.2017, DB 2017, 1937. 8 OFD Frankfurt a.M. v. 26.7.2021, DB 2021, 1914. 9 Vgl. Schmidt, DB 2017, 1998.

528 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.219 § 12

beendigung den Wertansatz im Rahmen der Liquidationsbesteuerung1. Hieran ändert auch ein vereinbarter Rangrücktritt nichts, solange dieser nicht als steuerbilanziell qualifizierter Rangrücktritt gemäß § 5 Abs. 2a EStG zu einer Ausbuchung führt. Daraus folgt auch, dass die Verbindlichkeit in der Liquidationsschlussbilanz der GmbH i.L. trotz (endgültiger) Vermögenslosigkeit weiterhin zu passivieren ist2. Das FG Münster hat die Auffassung der OFD Frankfurt a.M. bestätigt3. Eine gewinnwirksame Ausbuchung kommt erst dann in Betracht, wenn mit einer Inanspruchnahme mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu rechnen ist4. Diese Auffassung ist zutreffend, da schon ausweislich des § 12 Abs. 1 und 2 BewG Forderungen und Verbindlichkeiten nicht korrespondierend zu bilanzieren sind. Ferner sind an die Annahme eines Erlasses hohe Anforderungen zu stellen. Einer entsprechenden Fiktion – ohne eine entsprechende Willensbildung der Parteien – fehlt jede gesetzliche Grundlage.

12.216

2. Steuerrechtliche Konsequenzen für den Anteilseigner a) Ertragsteuerrecht Im Rahmen der Besteuerung des Anteilseigners der GmbH in der Liquidation kommt es steuersystematisch darauf an, ob die Beteiligungen an der GmbH i.L. im Betriebsvermögen oder Privatvermögen gehalten werden (Rz. 8.4 ff.).

12.217

Befinden sich die in der Liquidation untergehenden Anteile an der GmbH in einem Betriebsvermögen des Anteilseigners, so kommt es grundsätzlich zu einem laufenden Gewinn oder einem Verlust in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen der Kapitalrückzahlung und dem Buchwert der (bilanzierten) GmbH-Geschäftsanteile. Ist der Anteilseigner eine natürliche Person, die den Anteil in ihrem Betriebsvermögen hält, dann ist dies insoweit eine Konstellation des Teileinkünfteverfahrens des § 3 Nr. 40 Buchst. b EStG bzw. bei einem Anteilseigner, der seinerseits Körperschaft ist, ein Anwendungsfall des § 8b KStG. Kommt es zu einem Liquidationsverlust des Anteilseigners mit Betriebsvermögen, greift insoweit § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG bei natürlichen Personen bzw. § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG bei Körperschaften ein.

12.218

Wird der GmbH-Geschäftsanteil in einem Privatvermögen gehalten und handelt es sich um eine Beteiligung, die nicht die Aufgriffsschwelle des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG erreicht, wird der gesamte Liquidationserlös außerhalb der Kapitalrückzahlung von § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG erfasst5. Hierbei handelt es sich i.d.R. um gegenwärtig seltene Splitterbeteiligungen, jedoch dürften entsprechende Fälle mit wachsender Relevanz von Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen zunehmen. In einer Verlustkonstellation, wenn also die Einlagen verloren gehen, ist das besondere Verlustausgleichssystem des § 20 Abs. 6 EStG maßgebend (s. hierzu ausführlich Rz. 8.14). Verluste, die von § 20 EStG erfasst werden, dürfen nur mit positiven Einkünften aus Kapitalvermögen und darüber hinaus auch nur innerhalb der gleichen Einkünfte Unterart verrechnet werden. Zudem droht auch die Verlustverrechnungsbeschränkung für den sonstigen Ausfall von Wirtschaftsgütern von jährlich 20.000 Euro nach § 20 Abs. 6 Satz 6 EStG, obgleich sich hier einwenden ließe, dass zumindest die insolvenzfreie Liquidation nicht als Ausfall im Sinne der Norm zu zählen ist6.

12.219

1 2 3 4 5 6

OFD Frankfurt a.M. v. 26.7.2021, DB 2021, 1914, 1915. Rotter, NWB 2018, 551, 561. FG Münster v. 23.7.2020 – 10 K 2222/19 K,G, DStRE 2021, 264. FG Münster v. 23.7.2020 – 10 K 2222/19 K,G, DStRE 2021, 264 Rz. 19. Eller in Eller, Liquidation der GmbH, Kap. C. Rz. 269. Vgl. zu verfassungsrechtlichen Zweifeln Stöber/Hornung/Westermann, RdF 2021, 106, 110 f.

Crezelius/B. Westermann | 529

§ 12 Rz. 12.220 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

12.220

Anders als bei § 17 Abs. 4 EStG sind bei § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG die Einlagen (vgl. § 27 KStG) gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 a.E. i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG herauszurechnen, so dass es insbesondere zur Besteuerung der Gewinnrücklagen kommt1. Daher sind auch Anschaffungskosten nicht zu berücksichtigen; es kommt zu einer reinen Besteuerung des erwirtschafteten Kapitalertrags. Für steuerrechtliche Zwecke wird der Liquidationserlös also gemäß § 17 Abs. 4 Satz 3 EStG aufgeteilt in einen Einlage- (inkl. Stammeinlage) und einen Gewinnbzw. Rücklagenanteil, sog. Spaltung des Liquidationserlöses2.

12.221

Der in der Praxis wichtigste Sachverhalt ist, dass der Gesellschafter in den letzten fünf Jahren in der zu liquidierenden GmbH eine qualifizierte Beteiligung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG (vgl. § 20 Abs. 8 EStG) innehat. Kommt es im Zuge der Liquidation zur Auskehrung von Gewinnrücklagen, dann führt dies zu Einkünften aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG, die prinzipiell der Abgeltungsteuer (Rz. 8.4) unterliegen; dies ergibt sich insoweit aus dem Rückverweis in § 17 Abs. 4 Satz 3 EStG. Somit unterfallen § 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 EStG die Rückzahlungen aus dem Einlagekonto (§ 27 KStG) und dem gezeichneten Kapital (Stammeinlage). Der gesonderte Steuertarif des § 20 EStG in § 32d EStG ermöglicht aber Ausnahmen. Auf Antrag kann der Anteilsinhaber etwa nach § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG bei einer Mindestbeteiligung von 25 v.H. bzw. 1 v.H. bei hinzutretender beruflicher Tätigkeit mit der er maßgeblichen unternehmerischen Einfluss auf die wirtschaftliche Tätigkeit der GmbH nehmen kann, mit seinem persönlichen Steuersatz versteuert werden. Dies kann vorteilhaft sein, um 60 v.H. der tatsächlichen Werbungskosten in Abzug zu bringen sowie die Verlustverrechnungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG auszuschalten3.

12.222

Liegen die Voraussetzungen des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG vor, dann stellt § 17 Abs. 4 Satz 1 EStG die Auflösung einer Kapitalgesellschaft einer Veräußerung gleich. Entsteht in Höhe der Differenz zwischen den Anschaffungskosten (inkl. nachträglicher Anschaffungskosten i.S. des § 17 Abs. 2a EStG) der Beteiligung und dem Veräußerungspreis ein Veräußerungsgewinn oder -verlust, dann besteht insoweit nicht die Möglichkeit einer Progressionsmilderung oder der Besteuerung mit einem ermäßigten Steuersatz nach § 34 EStG. Stattdessen greifen § 3 Nr. 40 Buchst. c, § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG (Teileinkünfteverfahren) mit der Folge ein, dass der Veräußerungsgewinn bzw. der Veräußerungsverlust jeweils nur zu 60 v.H. angesetzt oder abgezogen werden kann, weil § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG die Einkünfte als gewerbliche Einkünfte fingiert. Insoweit existiert in den hier interessierenden Krisen-Verlustsituationen unabhängig von § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG eine Verlustausgleichsbeschränkung in Höhe von 40 v.H. Als Veräußerungspreis ist gemäß § 17 Abs. 4 Satz 2 EStG der gemeine Wert des dem Steuerpflichtigen zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens der Kapitalgesellschaft anzusetzen.

12.223

Was den Besteuerungszeitpunkt nach § 17 Abs. 4 EStG angeht, so entstehen sowohl Gewinn als auch Verlust nicht schon mit Auflösung der GmbH, aber auch nicht erst mit ihrer Löschung im Handelsregister4. Sowohl ein Auflösungsgewinn als auch ein Auflösungsverlust werden im Ergebnis nach den bilanziellen Prinzipien der Gewinn- oder Verlustrealisierung behandelt. Maßgebend ist danach regelmäßig der Zeitpunkt, also der Veranlagungszeitraum, in dem das Gesellschaftsvermögen ausgekehrt wird bzw. in dem der Auflösungsverlust entsteht. Der Zeitpunkt der Entstehung des Auflösungsverlusts ist regelmäßig der Abschluss der 1 Vgl. zur Berechnung Schmidt in BeckOK/EStG, § 20 EStG Rz. 720.1. 2 Eller in Eller, Liquidation der GmbH, Kap. C. Rz. 260; Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 235 f. 3 Vgl. auch zu weiteren Konsequenzen Eller in Eller, Liquidation der GmbH, Kap. C. Rz. 283. 4 Näher Gosch in Kirchhof/Seer, § 17 EStG Rz. 127; Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 223.

530 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.226 § 12

Liquidation1. Von diesem Grundsatz gibt es allerdings Ausnahmen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein Auflösungsverlust nach § 17 EStG schon geltend zu machen (kein Wahlrecht), wenn der qualifiziert beteiligte Gesellschafter nicht mehr mit Zuteilungen und Rückzahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen rechnen kann und wenn zusätzlich feststeht, ob und in welcher Höhe noch nachträgliche Anschaffungskosten oder sonstige im Rahmen des § 17 Abs. 2 EStG zu berücksichtigende Größen anfallen werden2. Findet in Insolvenzsituationen eine Abweisung mangels Masse statt, dann ist der auf einen Zeitpunkt zu ermittelnde Auflösungsverlust schon bei Ablehnung des Antrags auf Insolvenzeröffnung entstanden (Rz. 28.8 ff.)3. Gleiches gilt bei eindeutiger Vermögenslosigkeit im Zeitpunkt des Auflösungsbeschlusses4 oder wenn der qualifiziert beteiligte Gesellschafter mit einer Auskehrung von Gesellschaftsvermögen nicht mehr rechnen kann5.

Die vorstehenden dogmatischen Regeln sind zwingend, so dass der nach § 17 EStG beteiligte Steuerpflichtige kein Wahlrecht hat6. Im Ergebnis ist der frühestmögliche Zeitpunkt der Verlustgeltendmachung die zivilrechtliche Auflösung oder die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, nicht jedoch schon der dahingehende Antrag. Letztmögliche Veranlagungsperiode der Verlustgeltendmachung ist der förmliche Abschluss der Liquidation. Allgemein sollten verfahrensrechtlich Bescheide bis zum Abschluss der Liquidation offengehalten werden. Denn anders als für die GmbH i.L. gilt kein abweichender Besteuerungszeitraum i.S. des § 11 Abs. 1 KStG. Und auch das endgültige Liquidationsergebnis wird nicht als rückwirkendes Ereignis anerkannt7.

12.224

b) Erbschaft- und Schenkungsteuer aa) Bedeutung und Überblick Nach §§ 13a, 13b ErbStG kommt es im Rahmen der Erbschaft- und Schenkungsteuer zu einer Verschonung für unternehmerisches Vermögen. Für die hier interessierenden Konstellationen der Krise, Liquidation bzw. der Insolvenz einer GmbH nach einer vorweggenommenen Erbfolge oder nach einem Erbfall ist § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG zu beachten, wonach eine etwaige Begünstigung rückwirkend im Wege einer späteren Veräußerung oder Restrukturierung entfallen kann.

12.225

Nach dem Grundmodell der Verschonung von Unternehmensvermögen bleiben 85 v.H. des begünstigten Vermögens bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer außer Ansatz, soweit das begünstigte Vermögen einen Wert von 26.000.000 Euro nicht übersteigt (§ 13a Abs. 1 Satz 1, § 13b Abs. 1 ErbStG). Es kommt somit grundsätzlich zu einer Sockelbesteuerung von 15 v.H. Bei Erwerben bis zu 3.000.000 Euro kommt nach § 13a Abs. 2 ErbStG ein abnehmender Abzugsbetrag zum Tragen. Bei Erwerben bis zu 90.000.000 Euro kommt ein Verschonungs-

12.226

1 Vgl. BFH v. 4.10.2007 – VIII S 3/07, BFH/NV 2008, 209; Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 224. 2 BFH v. 12.12.2000 – VIII R 52/93, BStBl. II 2001, 286 = GmbHR 2001, 257 = ZIP 2001, 927; BFH v. 4.10.2007 – VIII S 3/07, BFH/NV 2008, 209; BFH v. 30.5.2012 – IV B 138/11, BFH/NV 2012, 1783; BFH v. 2.12.2014 – IX R 8/14, BFH/NV 2015, 666; auch OFD Berlin v. 28.8.2000 – St 122-S 2244-7/96, GmbHR 2000, 1219; vgl. ausführlich Deutschländer, NWB 2018, 634. 3 BFH v. 13.3.2018 – IX R 38/16, NZI 2018, 574 = GmbHR 2018, 695; BFH v. 27.11.1995 – VIII B 16/95, BFH/NV 1996, 406. 4 BFH v. 4.11.1997 – VIII R 18/94, BStBl. II 1999, 344 = GmbHR 1998, 198. 5 BFH v. 12.12.2000 – VIII R 36/97, BFH/NV 2001, 761. 6 Statt aller Gosch in Kirchhof/Seer, § 17 EStG Rz. 127. 7 Eller in Eller, Liquidation der GmbH, Kap. C. Rz. 282; Jehke/Pitzal, DStR 2010, 256; Korn, DStR 2009, 2512.

Crezelius/B. Westermann | 531

§ 12 Rz. 12.226 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

abschlag nach § 13c ErbStG in Betracht. Insbesondere für Familienunternehmen kommt nach § 13a Abs. 9 ErbStG unter den dortigen Voraussetzungen ein Sondervorwegabschlag in Betracht.

12.227

Unmittelbare GmbH-Beteiligungen des Schenkers oder Erblassers sind unter den Bedingungen des § 13b Abs. 1 Nr. 3 ErbStG als begünstigungsfähiges Vermögen der Privilegierung zugänglich. Dazu muss es sich um eine Beteiligung von mindestens 25 v.H. an einer GmbH, die zur Zeit der Entstehung den Steuer Sitz oder die Geschäftsleitung im Inland oder in einem Mitgliedstaat der EU oder einem Staat der EWR hatte, handeln. Im Hinblick auf § 13b Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 ErbStG, der das gesamte Betriebsvermögen erfasst, wird deutlich, dass die Beteiligungen bei Nr. 3 im Privatvermögen oder Sonderbetriebsvermögen gehalten werden müssen1. Auch wenn die Mindestbeteiligungsquote nicht erreicht wird, kann es über § 13b Abs. 1 Nr. 3 Satz 2 ErbStG zu einer Begünstigung kommen: In einem sog. Pool gehaltene Anteile werden begünstigt, wenn die Summe der gepoolten Anteile die Beteiligungsquote von 25 v.H. überschreitet. Dazu muss sich der Erblasser oder Schenker gemeinsam mit anderen Anteilseignern einer einheitlichen Verfügungsbeschränkung und Stimmbindung unterwerfen2. Das begünstigungsfähige Vermögen ist nach § 13a Abs. 2 Satz 1 ErbStG soweit begünstigtes Vermögen, wie sein gemeiner Wert den um das unschädliche Verwaltungsvermögen i.S. des § 13b Abs. 7 ErbStG gekürzten Nettowert des Verwaltungsvermögens (vgl. auch § 13b Abs. 4 ErbStG) übersteigt.

12.228

Nach dem Grundmodell der Verschonung darf nach § 13a Abs. 3 Satz 1 ErbStG die Summe der maßgeblichen jährlichen Lohnsumme der Anteile an einer Kapitalgesellschaft des Betriebs der jeweiligen Gesellschaft innerhalb von fünf Jahren nach dem Erwerb insgesamt 400 v.H. der Ausgangslohnsumme nicht unterschreiten. Wird die Mindestlohnsumme unterschritten, führt dies gemäß § 13a Abs. 3 Satz 5 ErbStG zu einer Nachsteuer in Höhe der Quote, mit der die jeweils maßgebliche Mindestlohnsumme unterschritten wird.

12.229

Daneben besteht gemäß § 13a Abs. 6 ErbStG eine fünfjährige Behaltefrist. Schädlich sind demnach etwa Veräußerung oder Liquidation (§ 13a Abs. 6 Nr. 1 ErbStG) sowie Überentnahmen (§ 13a Abs. 6 Nr. 3 Satz 3 ErbStG). Entsprechende einen Nachsteuertatbestand des § 13a Abs. 6 ErbStG auslösende Ereignisse führen zu einem zeitlich bezogenen quotalen Wegfall des Verschonungsabschlags (§ 13a Abs. 6 Satz 2 ErbStG). Eine Ausnahme hiervon kommt aber nach § 13a Abs. 6 Sätze 3 und 4 ErbStG in Betracht, wenn etwa ein Veräußerungserlös innerhalb von sechs Monaten in begünstigtes Vermögen i.S. des § 13b Abs. 2 ErbStG reinvestiert wird.

12.230

Statt der Regelverschonung kann nach § 13a Abs. 10 ErbStG eine Option auf einen Verschonungsabschlag von 100 v.H. ausgeübt werden. An die Stelle der Lohnsummenfrist von fünf Jahren tritt dann eine Lohnsummenfrist von sieben Jahren. Im Übrigen wird auch die Behaltefrist auf sieben Jahre verlängert und das Verwaltungsvermögen darf nur 20 v.H. im Verhältnis zum Unternehmenswert betragen. bb) Wegfall der Begünstigungen

12.231

Für die hier interessierenden Konstellationen der Krise bzw. der Insolvenz einer GmbH nach einer vorweggenommenen Erbfolge oder nach einem Erbfall ist § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 1 Korezkij in BeckOK/ErbStG, § 13b ErbStG Rz. 42; ErbStR E 13b.5 Abs. 3 Satz 9. 2 Vgl. Korezkij in BeckOK/ErbStG, § 13b ErbStG Rz. 51.

532 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.234 § 12

ErbStG einschlägig. Sind die Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt, führt dies zu einem Wegfall des Verschonungsabschlags für die Vergangenheit, der sich aber auf den Teil beschränkt, der dem Verhältnis der im Zeitpunkt der schädlichen Verfügung verbleibenden Behaltensfrist einschließlich des Jahres, in dem die Verfügung erfolgt, zur gesamten Behaltensfrist entfällt (§ 13a Abs. 6 Satz 2 ErbStG). Es kommt also zu einer Art Abschmelzungsmodell. Zu beachten ist, dass die Behaltensregelung für kapitalgesellschaftsrechtliche Beteiligungen des § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG nur einschlägig ist, wenn die zunächst begünstigt erworbenen Anteile sich in einem Privatvermögen befinden. Handelt es sich um Anteile an einer Kapitalgesellschaft, die in einem Betriebsvermögen eines Einzelunternehmens oder einer Personengesellschaft liegen, greifen insoweit die Behaltensregelungen in § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 ErbStG ein1.

Schädlich ist nach § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG zunächst die teilweise oder komplette Veräußerung der begünstigt erworbenen Anteile. Gleiches gilt, wenn die Kapitalgesellschaft innerhalb der Behaltefrist aufgelöst oder ihr Nennkapital herabgesetzt wird, wenn wesentliche Betriebsgrundlagen veräußert werden und das Vermögen verteilt wird2. Insbesondere die Kapitalherabsetzung in der Krise ist eine praktisch relevante Konstellation, für die die Finanzverwaltung von einer Nachversteuerung absieht, wenn es sich lediglich um eine nominelle Kapitalherabsetzung zum Zweck der Sanierung der Gesellschaft handelt und kein Kapital an die Gesellschafter zurückgezahlt wird3. Unklar ist die Reichweite des Sanierungsbegriffs. Teilweise wird in der Literatur etwa auf das Merkmal der Sanierungsbedürftigkeit der Gesellschaft verzichtet4. Dies ist weniger überzeugend, da die Zwecksetzung der §§ 13a ff. ErbStG gerade den Unternehmenserhalt im Fokus hat. Eine hiervon losgelöste allgemeine Restrukturierungsklausel angesichts gebotener Belastungsgleichheit ist nicht erforderlich.

12.232

Auch die Auflösung der Kapitalgesellschaft/GmbH durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist damit nach dem Wortlaut des Gesetzes eine Konstellation, die zum teilweisen oder vollständigen Wegfall der zuvor gewährten Begünstigung führt. Man könnte allerdings an eine teleologische Reduktion des § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG denken, wenn denn die Auflösung der Kapitalgesellschaft nicht freiwillig erfolgt. Nach der einschlägigen und gefestigten Rechtsprechung des BFH ist dies unerheblich5. Dem ist zuzustimmen. Zum einen ist der Wortlaut des § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG eindeutig. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass die erbschaftsteuerrechtlichen Privilegien der §§ 13a, 13b ErbStG in erster Linie nicht (subjektive) Begünstigungen für den Erwerber darstellen sollen. Im Mittelpunkt der Begünstigungen steht der (objektive) Erhalt des begünstigten Unternehmensträgers. Fällt dieser – hier infolge Liquidation – weg, sieht der Steuergesetzgeber keinen Anlass mehr, es bei der vollen Begünstigung zu belassen. Der hiermit einhergehenden Härte – Anknüpfung der Erbschaft- und Schenkungsteuer an den Erwerbszeitpunkt im Vorfeld der Insolvenz – kann allenfalls mit §§ 28, 28a ErbStG begegnet werden.

12.233

Wird im Zuge einer Sanierung das Vermögen der Kapitalgesellschaft nach §§ 3 ff. UmwStG übertragen, dann ist zwar im Grundsatz der Nachversteuerungstatbestand des § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 ErbStG erfüllt, doch verweist § 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 Satz 2 a.E. ErbStG auf

12.234

1 2 3 4 5

Statt aller Weinmann in Moench/Weinmann, § 13a ErbStG Rz. 125. Vgl. ausführlich Claussen/Thonemann-Micker in BeckOK/ErbStG, § 13a ErbStG Rz. 339. ErbStR E 13a.16 Abs. 2. Söffing in Wilms/Jochum, § 13a ErbStG Rz. 199. BFH v. 21.3.2007 – II R 19/06, BFH/NV 2007, 1321; vgl. auch BFH v. 16.2.2005 – II R 39/03, BStBl. II 2005, 571; BFH v. 4.2.2010 – II R 25/08, BStBl. II 2010, 663 = GmbHR 2010, 671 = ZIP 2010, 937.

Crezelius/B. Westermann | 533

§ 12 Rz. 12.234 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

§ 13a Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 ErbStG. Daraus folgt, dass die Umwandlung in ein Einzelunternehmen oder in eine Personengesellschaft nicht von vornherein zur Nachversteuerung führt. Schädlich ist erst die Veräußerung bzw. einer der gleichgestellten Tatbestände des im Rahmen der Umstrukturierung erworbenen Einzelunternehmens oder der Beteiligung an einer Personengesellschaft1. Unschädlich ist außerdem ein Anteilstausch i.S. des § 21 UmwStG, also die Einbringung der begünstigt erworbenen GmbH-Beteiligung in eine andere Kapitalgesellschaft gegen Gewährung von Anteilen2. Eine Bindung an die Beteiligungsquote von 25 v.H. besteht dabei nicht mehr. Auch hier sind erst nachträgliche Veräußerungen schädlich. Damit sind im Ergebnis Umstrukturierungen des Unternehmens möglich. Die Finanzverwaltung fordert ferner, dass in Fällen einer Sacheinlage oder eines Anteilstauschs der gemeine Wert der erhaltenen Anteile nicht niedriger sein darf als der gemeine Wert des eingebrachten Vermögens. Anderenfalls soll eine anteilige schädliche Verfügung vorliegen3.

3. Liquidationsbesteuerung der GmbH & Co. KG a) Steuersystematische Grundlagen 12.235

Steuersystematisch muss die Liquidation/Beendigung einer gewerblich tätigen Personengesellschaft zu einer Schlussbesteuerung führen, die von der Idee getragen ist, dass die im gesamthänderisch gebundenen Vermögen aufgelaufenen (stillen) Reserven bzw. die Verluste erfasst werden. Der Grund dafür liegt darin, dass die Beendigung der Personengesellschaft/der steuerrechtlichen Mitunternehmerschaft nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 2 EStG zugleich die Einkunftsquelle des einzelnen Mitunternehmers bedeutet, so dass die während der Haltedauer der Einkunftsquelle aufgelaufenen Wertsteigerungen oder noch nicht realisierten Verluste erfasst werden müssen.

12.236

Kommt es bei einer Personengesellschaft (hier: der GmbH & Co. KG) zu einem Auflösungstatbestand, tritt die Gesellschaft zivilrechtlich in das Liquidationsstadium bis zur Vollbeendigung ein. Konsequenterweise hat der Eintritt eines Auflösungsgrundes zunächst auch steuerrechtlich keine Konsequenzen. Entscheidend für die Betriebsaufgabe, die steuerrechtliche Beendigung der mitunternehmerischen Verbundenheit, ist die Einstellung der werbenden Tätigkeit der Gesellschaft.

b) Betriebsaufgabe 12.237

Wenn nach § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG als Veräußerung auch die Aufgabe eines Gewerbebetriebs sowie eines Mitunternehmeranteils „gilt“, dann deutet der Wortlaut der Norm auf eine gesetzliche Fiktion hin, so dass danach ein gewinnrealisierender oder verlustrealisierender Tatbestand anzunehmen wäre, der sich aus allgemeinen Grundsätzen nicht ergäbe. Dann hätte der Betriebsaufgabetatbestand konstitutive Wirkung. Demgegenüber ist der BFH der Auffassung, dass eine Betriebsaufgabe eine besondere Form der Entnahme darstellt, nämlich eine Totalentnahme, so dass nach dieser Vorstellung schon aus § 4 Abs. 1 EStG abgeleitet werden kann, dass es bei einer Betriebsaufgabe zu einer Gewinnrealisierung oder Verlustrealisierung kommt4. 1 2 3 4

Vgl. auch Claussen/Thonemann-Micker in BeckOK/ErbStG, § 13a ErbStG Rz. 348. ErbStR E 13a.16 Abs. 3 Satz 1 ff. ErbStR E 13a.16 Abs. 4; kritisch Söffing in Wilms/Jochum, § 13a ErbStG Rz. 209.1. BFH v. 13.12.1983 – VIII R 90/81, BStBl. II 1984, 474, 478 = GmbHR 1984, 210; Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 150 ff.

534 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.243 § 12

Im Einzelnen ist die Betriebsaufgabe des § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG von folgenden Voraussetzungen abhängig1:

12.238

– Entschluss, den Betrieb aufzugeben; – Einstellung der bisherigen Tätigkeit; – Überführung aller wesentlichen Betriebsgrundlagen in das Privatvermögen; – innerhalb eines einheitlichen Vorgangs; – äußerliche Erkennbarkeit der Überführung in das Privatvermögen. – Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so handelt es sich um eine nicht privilegierte allmähliche Abwicklung2. Bei dieser bleibt das Betriebsvermögen bestehen, so dass die durch die Abwicklung veranlassten Aufwendungen und Erträge als Einkünfte aus dem insoweit – bis zur „endgültigen“ Aufgabe – fortbestehenden Gewerbebetrieb zu beurteilen sind.

c) Rechtsfolgen Der wesentliche Effekt der Qualifizierung eines Sachverhalts als Betriebsaufgabe des § 16 Abs. 3 Satz 1 EStG besteht in drei Rechtsfolgen:

12.239

Gibt eine Personengesellschaft/Mitunternehmerschaft ihren Betrieb auf, steht jedem Mitunternehmer, soweit es sich um eine natürliche Person handelt, der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG zu, wenn denn die dort genannten Voraussetzungen gegeben sind.

12.240

Da § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG u.a. auf § 16 EStG Bezug nimmt, besteht die wesentliche Funktion des § 16 EStG in Gewinnsituationen darin, dass er gleichsam Vorschaltnorm zu den Tarifbegünstigungen des § 34 EStG ist. Für Aufgabegewinne kommt die sog. Fünftelungsregelung in § 34 Abs. 1 EStG zum Zuge. Auf Antrag kann es auch zur ermäßigten Besteuerung nach § 34 Abs. 3 EStG kommen, wenn der Aufgabegewinn für den jeweiligen Mitunternehmer 5 Mio. Euro nicht übersteigt und wenn der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet hat oder wenn er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig ist. Der ermäßigte Steuersatz beträgt derzeit 56 v.H. des Durchschnittssteuersatzes, der sich ergibt, wenn die tarifliche Einkommensteuer nach dem gesamten zu versteuernden Einkommen zu bemessen wäre.

12.241

Für die GmbH & Co. KG ist von Bedeutung, dass § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG diejenigen Einkunftsteile aus den Tarifbegünstigungen des § 34 EStG ausklammert, die nach § 3 Nr. 40 Buchst. b, § 3c Abs. 2 EStG teilweise steuerbefreit sind. Bezogen auf eine (typische) GmbH & Co. KG bedeutet das, dass eine Gewinnrealisierung in Bezug auf die Anteile des Kommanditisten an der Komplementär-GmbH nicht den Tarifbegünstigungen des § 34 EStG unterliegt, vielmehr das Teileinkünfteverfahren des § 3 Nr. 40 Buchst. b EStG anzuwenden ist.

12.242

Da bei einer Betriebsaufgabe mangels entgeltlicher Veräußerung des gesamten Unternehmens ein einheitlicher Veräußerungspreis fehlt, muss das Gesetz auf Ersatzgrößen zurückgreifen. Wenn einzelne Wirtschaftsgüter der Mitunternehmerschaft im Rahmen der Aufgabe veräußert werden, ist der Veräußerungspreis anzusetzen (§ 16 Abs. 3 Satz 6 EStG). Werden die Wirtschaftsgüter nicht veräußert, kommt es auf den gemeinen Wert im Aufgabezeitpunkt an

12.243

1 Vgl. BFH v. 26.4.2001 – IV R 14/00, BStBl. II 2001, 798 = GmbHR 2001, 831; Stahl in Korn, § 16 EStG Rz. 234 ff. 2 Wacker in Schmidt, § 16 EStG Rz. 200.

Crezelius/B. Westermann | 535

§ 12 Rz. 12.243 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

(§ 16 Abs. 3 Satz 7 EStG). Sind bei der Aufgabe – wie bei der Mitunternehmerschaft – mehrere Steuersubjekte beteiligt, ist für jeden einzelnen Beteiligten der gemeine Wert der Wirtschaftsgüter anzusetzen, die er bei Auseinandersetzung erhalten hat (§ 16 Abs. 3 Satz 8 EStG).

12.244

Werden einzelne Wirtschaftsgüter im Rahmen der Betriebsaufgabe unter den Voraussetzungen des § 16 Abs. 3 Satz 5 EStG veräußert, dann handelt es sich nicht um einen Teil des begünstigten Aufgabegewinns, sondern um einen fiktiven laufenden Gewinn, nämlich dann, wenn auf Seiten des Veräußerers und auf Seiten des Erwerbers dieselben Steuersubjekte Unternehmer oder Mitunternehmer sind.

12.245

Kommt es im Zuge der Liquidation der GmbH & Co. KG – insbesondere in den hier in Rede stehenden Krisensituationen – zu einem Verlust des Gesellschafters, dann handelt es sich grundsätzlich um negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb des Personengesellschafters/Mitunternehmers, der nach den allgemeinen Verlustausgleichsregeln zu behandeln ist und dann insbesondere auch in den Anwendungsbereich des § 10d EStG fällt. Der bei einer typischen GmbH & Co. KG auf den Anteil an der Komplementär-GmbH entfallende Verlust unterliegt dem Teilabzugsverfahren des § 3c Abs. 2 EStG.

12.246

Bei einer GmbH & Co. KG kann im Zuge einer Betriebsaufgabe ein negatives Kapitalkonto des Kommanditisten auf der Gesamthandsebene – durch Kompensation der Erlöse aus der Aufdeckung stiller Reserven – wegfallen, ohne dass der Kommanditist das Verlustausgleichsvolumen auszugleichen hat. In diesem Fall gilt der Betrag, den der Mitunternehmer nicht ausgleichen muss, als Veräußerungsgewinn nach § 16 EStG1. Dabei ist wie folgt zu differenzieren: Liegt ein negatives Kapitalkonto durch Zurechnung von Verlusten vor, die nicht ausgleichsund abzugsfähig waren, weil § 15a EStG noch nicht anwendbar war, ist nicht geklärt, ob es sich um einen nach §§ 16, 34 EStG begünstigten Gewinn handelt oder um einen Vorgang der – nicht privilegierten – allmählichen Abwicklung2. Ist das negative Kapitalkonto durch Zurechnung nur verrechenbarer, also nicht unmittelbar ausgleichsfähiger Verlustanteile entstanden, dann ist der Wegfall des handelsrechtlichen negativen Kapitalkontos für den betreffenden Kommanditisten einkommensteuerrechtlich unerheblich, soweit das negative Kapitalkonto dem noch verrechenbaren Verlust entspricht.

12.247

Die Aufgabe des Gewerbebetriebs der Mitunternehmerschaft führt zu ihrer handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Beendigung. Es kann aber so liegen, dass noch nachträgliche positive oder negative Einkünfte anfallen. § 24 Nr. 2 EStG zeigt, dass die nachträglichen Einkünfte zu besteuern sind. Geht es um negative Größen, beispielsweise um noch nach Beendigung der Gesellschaft anfallende Schuldzinsen für betriebliche Verbindlichkeiten, dann sind Zinsen aus Schulden der Gesellschaft nachträgliche Betriebsausgaben des Gesellschafters/Mitunternehmers und nach § 4 Abs. 4 EStG abziehbar, wenn denn die Personengesellschaft abgewickelt worden ist und das liquidierte Gesamthandsvermögen nicht zur Tilgung der Gesellschaftsschulden ausgereicht hat3. Wenn jedoch die Aktiva der Gesellschaft im Rahmen der Liquidation nicht zur Schuldentilgung eingesetzt worden sind und deshalb Schulden bestehen bleiben, so sollen sie nach der Rechtsprechung des BFH ihre Qualität als Betriebsschulden verlieren4. Das ist nicht unbedenklich, weil es um einen Eingriff in die Finanzierungsfreiheit des Personengesellschafters geht, dem es freistehen sollte, ob er die betrieblichen Verbindlichkeiten im Rahmen der Liquidation ablöst oder nicht. 1 2 3 4

BFH v. 11.8.1994 – IV R 124/92, BStBl. II 1995, 253 = GmbHR 1995, 312. Näher Wacker in Schmidt, § 15a EStG Rz. 241. BFH v. 13.2.1996 – VIII R 18/92, BStBl. II 1996, 291 = GmbHR 1996, 544. BFH v. 21.11.1989 – IX R 10/84, BStBl. II 1990, 213.

536 | Crezelius/B. Westermann

§ 12 Liquidation | Rz. 12.249 § 12

d) Erbschaft- und Schenkungsteuer Kommt es zur Liquidation einer GmbH & Co. KG, dann sind auch eventuelle erbschaft- und schenkungsteuerrechtliche Konsequenzen zu bedenken. In der Sache geht es darum, ob zunächst nach §§ 13a, 13b ErbStG gewährte Vergünstigungen wegfallen und es nachträglich zu einer Höherbesteuerung kommt (näher Rz. 12.225 ff.).

12.248

Ist die Beteiligung an einer GmbH & Co. KG grundsätzlich steuerpflichtig i.S. des § 10 ErbStG (etwa unentgeltlich oder aufgrund eines Erbfalls) erworben worden, kommt gemäß § 13a ErbStG i.V.m. § 13b Abs. 1 Nr. 2 ErbStG eine Steuerbefreiung in Betracht. Diese ist allerdings mit Behaltensregelungen verknüpft. § 13a Abs. 6 Nr. 1 ErbStG übernimmt die einkommensteuerrechtliche Systematik, nach der eine Betriebsaufgabe als Veräußerung gilt. Infolgedessen fallen der erbschaftsteuerrechtliche Verschonungsabschlag mit Wirkung für die Vergangenheit weg, wenn der Erwerber innerhalb von fünf Jahren bzw. nach § 13a Abs. 10 ErbStG innerhalb von sieben Jahren den Anteil veräußert oder wenn (im vorliegenden Zusammenhang interessierend) die unternehmerische Tätigkeit der GmbH & Co. KG aufgegeben wird. Dabei beschränkt sich nach § 13a Abs. 6 Satz 2 ErbStG der Wegfall des Verschonungsabschlags auf den Teil, der dem Verhältnis der im Zeitpunkt der schädlichen Verfügung verbleibenden Behaltefrist einschließlich des Jahres, in dem die Verfügung erfolgt, zur gesamten Behaltefrist entspricht. Letztlich handelt es sich um ein sog. Abschmelzungsmodell (Rz. 12.231 ff.).

12.249

Crezelius/B. Westermann | 537

§ 13 Unternehmensabwicklung durch Insolvenzverfahren I. Liquidations- und Sanierungszweck 1. Gesetzliche Zwecke des Insolvenzverfahrens 13.1

Nach § 1 Satz 1 InsO dient das Insolvenzverfahren dazu, die Gläubiger eines Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem das Vermögen des Schuldners verwertet und der Erlös verteilt oder in einem Insolvenzplan eine abweichende Regelung, insbesondere zum Erhalt des Unternehmens, getroffen wird. Hierin kommen die Varianten des sog. Zerschlagungskonkurses und des insolvenzrechtlichen Reorganisationsverfahrens alternativ zum Ausdruck. Ein Zwischenmodell ist die übertragende Sanierung im Insolvenzverfahren (dazu Rz. 24.171). Bei ihr wird das von der Gesellschaft betriebene Unternehmen oder ein Teilbetrieb durch Veräußerung aus der Masse reorganisiert, die Gesellschaft als Rechtsträgerin dagegen abgewickelt, indem das Gesellschaftsvermögen in Geld umgesetzt (also im buchstäblichen Sinne liquidiert) wird1. Nicht von unmittelbarem Interesse ist bei der GmbH oder GmbH & Co. KG § 1 Satz 2 InsO, wonach dem redlichen Schuldner Gelegenheit gegeben wird, sich von seinen restlichen Verbindlichkeiten zu befreien, denn die Restschuldbefreiung kommt nach § 286 InsO nur natürlichen Personen zugute. Mit dieser Maßgabe – also für natürliche Personen als Gesellschafter und für Geschäftsführer – kann zwar das Verfahrens der Restschuldbefreiung auch im Gefolge einer GmbH-Insolvenz zum Zuge kommen (Rz. 37.6 ff.), aber auf die GmbH (bzw. GmbH & Co. KG) als solche ist es nicht anzuwenden. Diese wird im Insolvenzverfahren entweder liquidiert oder reorganisiert. Letzteres ist seit 2012 im reformierten Insolvenzplanverfahren nach dem ESUG wahrscheinlicher geworden. Rein quantitativ steht allerdings auch nach der Insolvenzrechtsreform, m.a.W. auch nach der Insolvenzordnung die Liquidation im Vordergrund, nicht die Sanierung2. Unternehmensrestrukturierungen im eröffneten Insolvenzverfahren bleiben zahlenmäßig die Ausnahme, sind also nicht die statistische Regel, zumal ihnen in Gestalt der nicht-insolvenzrechtlichen Restrukturierung nach dem StaRUG (Rz. 10.1 ff.) neue Konkurrenz erwachsen ist. Mehr und mehr werden jedoch die Sanierungsoptionen der Insolvenzordnung ernst genommen, und, wo dies ökonomisch angezeigt ist, genutzt, und es bleibt abzuwarten, ob sich der hier geschilderte Befund im Gefolge des StaRUG verändern wird.

2. Verhältnis zum gesellschaftsrechtlichen Liquidationsverfahren 13.2

a) Das Insolvenzrecht der Gesellschaften ist durch die Aufgabe einer Versöhnung von Insolvenzrecht und Liquidationsrecht geprägt3. Das bei Rz. 24.1 bemängelte frühere Versagen des Gesellschafts-Insolvenzrechts vor den sich an diesen Schnittstellen stellenden Anforderungen wird durch die Insolvenzgesetzgebung allein nicht effektiv überwunden. Dies ist vielmehr eine 1 Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass mit einer Reorganisation auch eine Teil-Übertragung des Unternehmens einhergehen kann. 2 Vgl. auch Flöther, ZIP 2012, 1833, 1838 ff.; nach wie vor unrealistisch die Einschätzung, das Insolvenzrecht sei nach der InsO „in erster Linie ein Sanierungsrecht“ (so Ehlers, ZInsO 2005, 169, 174 f.). 3 Vgl. zum Folgenden näher die These bei Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 26 f.; Karsten Schmidt, ZGR 1998, 633 ff.

538 | Karsten Schmidt

§ 13 Unternehmensabwicklung durch Insolvenzverfahren | Rz. 13.3 § 13

Aufgabe der das Gesetz ausfüllenden Praxis und Wissenschaft. Bis hinein ins Detail muss zur Kenntnis genommen werden, dass das Gesellschafts-Insolvenzverfahren auf Grund der ökonomischen Situation nach weitgehend zwingenden, der Insolvenzsituation angemessenen Regeln abzuwickeln, aber auch unternehmensrechtlich steuerbar ist. Die der Auflösung einer Gesellschaft folgende Abwicklung ist nicht unumkehrbar. Wie die gesellschaftsrechtliche Auflösung kann auch das Insolvenzverfahren (§§ 217 ff. InsO) und wie das Insolvenzverfahren kann auch die gesellschaftsrechtliche Auflösung statt in einer Vollabwicklung in eine Reorganisation der Gesellschaft münden1. Insofern tat der Gesetzgeber Recht daran, die Verfahrenseröffnung in § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG (im Fall der GmbH & Co. KG: § 131 Abs. 1 Nr. 3 bzw. § 138 Abs. 1 Nr. 2 HGB n.F., § 161 Abs. 2 HGB) zu einem Auflösungsgrund zu erklären. Die Abwicklungsprozedur ist allerdings unterschiedlich insofern, als die Insolvenz-Abwicklung strengeren Regeln folgt als die rein gesellschaftsrechtliche Abwicklung. Dagegen passt die Reorganisation der Gesellschaft im Insolvenzplanverfahren (§§ 217 ff. InsO) sehr gut zu der Einsicht, dass aufgelöste Gesellschaften auch sonst unter Behebung des zur Auflösung führenden Grundes fortgesetzt werden können (dazu Rz. 12.8). Insolvenzrechtliche und gesellschaftsrechtliche Abwicklung stehen also zueinander in einem stimmigen Verhältnis. Allerdings können die Gesellschafter in einem eröffneten Insolvenzverfahren nicht ohne weiteres über die Fortsetzung beschließen, sondern dies ist nach § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG nur möglich, wenn das Insolvenzverfahren auf Antrag der Schuldnerin nach §§ 212 ff. InsO eingestellt oder gemäß § 258 InsO nach Bestätigung eines Insolvenzplans aufgehoben worden ist. Das leuchtet ein. Bei der rein gesellschaftsrechtlichen Liquidation sind die Gesellschafter, soweit nicht zwingendes Recht entgegensteht, Herren der Abwicklung und damit auch der Fortsetzung der Gesellschaft, im Insolvenzverfahren sind sie es nicht. Wegen der auch hier zu beachtenden gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen der Fortsetzung einer aufgelösten Gesellschaft gelten die bei Rz. 30.31 ff. dargestellten Grundsätze. b) Umstritten und durchaus praxisrelevant ist die Frage, ob das Insolvenzverfahren, wenn es nicht in einem Insolvenzplan endet oder sonst eingestellt wird, auf Vollbeendigung der Gesellschaft zielt (vgl. auch Rz. 30.35). Dass es sich bei der Gesellschaftsinsolvenz so verhält, wurde vom Verfasser schon unter der Konkursordnung vertreten2 und ist erst recht unter der Insolvenzordnung für richtig zu halten3. Wenn das Insolvenzverfahren nicht eingestellt (§§ 207 ff. InsO) oder im Insolvenzplanverfahren aufgehoben wird (§ 258 InsO), endet es erst mit der Vollabwicklung der Gesellschaft. § 1 Abs. 2 Satz 3 des InsO-Regierungsentwurfs hatte sogar ausdrücklich gelautet: „Bei juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit tritt das (scl. Insolvenz-)Verfahren an die Stelle der gesellschafts- oder organisationsrechtlichen Abwicklung“. Diese Formulierung wurde bei der Verabschiedung der Insolvenzordnung nicht aus Sachgründen, sondern nur zum Zweck der redaktionellen Straffung gestrichen. Erhalten blieb vor allem die praktisch bedeutungslose, jedoch systematisch vielsagende Regelung, wonach ein Liquidations-Überschuss vom Verwalter an die Gesellschafter zu verteilen ist (§ 199 Satz 2 InsO)4. Die Einbeziehung dieser Liquidationsaufgabe in den Auf1 Vgl. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, InsO, Einl. Rz. 23 ff. 2 Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 151 ff.; Kilger/Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, InsO, § 1 InsO Rz. 23. 3 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 119 ff.; Karsten Schmidt, ZGR 1998, 633, 635; dazu Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 164, 234. 4 Vgl. dazu auch H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 13 ff.; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 62; Haas in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 91 Rz. 12; Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 147; Ganther/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 1 InsO Rz. 47; Pape in Uhlenbruck, § 1 InsO Rz. 11.

Karsten Schmidt | 539

13.3

§ 13 Rz. 13.3 | 4. Teil Unternehmensabwicklung

gabenkreis des Insolvenzverwalters ist vielsagend und durchaus sachgerecht. Gleichwohl halten der Bundesgerichtshof1 und das Bundesverwaltungsgericht2 daran fest, dass die Vollabwicklung nicht vom Zweck und Gegenstand des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Handelsgesellschaft erfasst ist3. Das hat Auswirkungen vor allem auf das Verständnis der Insolvenzmasse einer Gesellschaft (Rz. 24.21 ff.) und auf die Möglichkeit der Freigabe von Massebestandteilen aus dem Gesellschaftsvermögen (Rz. 24.32).

II. Insolvenzstrategien 13.4

Insolvenzanträge können unterschiedliche Strategien verfolgen. Nach schulmäßigem Gesetzesrecht haben sie ein einheitliches Ziel: die Eröffnung des gesetzlich geordneten Insolvenzverfahrens. De facto haben die Anträge unterschiedliche Ziele, wobei zwischen Gläubigerund Schuldneranträgen zu unterscheiden ist.

1. Gläubigerantrag 13.5

Der Gläubigerantrag (Rz. 15.42 ff.) wird typischerweise Befriedigungsinteressen der Insolvenzgläubiger verfolgen. Hierauf stützt sich das Rechtsschutzinteresse eines antragstellenden Gläubigers. Der Antrag ist wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig, wenn der antragstellende Gläubiger durch Absonderungsrechte hinreichend gesichert ist4. Im Übrigen schließt die Stellung eines Gläubigerantrags die Überleitung in ein Insolvenzplanverfahren nach §§ 217 ff. InsO keineswegs aus (zum Insolvenzplan vgl. Rz. 31.1 ff.). Ein nur als Druckmittel zur Leistungserzwingung gestellter, nicht wirklich auf die Verfahrenseröffnung zielender Antrag kann als unzulässig abgewiesen werden, weil er verfahrensfremde Zwecke verfolgt5. Dagegen ist ein Gläubigerantrag, der in der Erwartung einer möglichen Übernahme des Gesellschaftsunternehmens im Zuge des Insolvenzverfahrens gestellt wird – etwa wenn der Antragsteller schon eine Auffanggesellschaft bereithält –, nicht ohne weiteres unzulässig. Die bei einer übertragenden Sanierung im Insolvenzverfahren zu beachtenden Regeln (Rz. 24.171) bieten den Interessensträgern hinreichenden Schutz.

2. Schuldnerantrag 13.6

Der Fall eines Schuldnerantrags ist komplizierter. Hier ist zu unterscheiden zwischen insolvenztypischen Antragszielen und der Bewältigung von Interessenkonflikten im Unternehmen.

13.7

a) Als insolvenztypische Antragsziele sind diejenigen zu bezeichnen, die sich mit der Überwindung oder Sanktionierung von Liquiditätskrisen oder von Überschuldungssituationen verbinden, nach § 18 InsO allerdings auch bei bloß drohender Zahlungsunfähigkeit verfolgt werden können. Der Schuldnerantrag (zur Antragsberechtigung vgl. Rz. 15.32) kann auf Verwer1 BGH v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, BGHZ 148, 252, 258 = NJW 2001, 2966, 2968 = ZIP 2001, 1469; BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32, 53 = NJW 2005, 2005, 2006 = ZIP 2005, 1034. 2 BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145, 2147. 3 Dazu etwa Ganther/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 1 InsO Rz. 5. 4 BGH v. 29.11.2007 – IX ZB 12/07, ZIP 2008, 281; std. Rspr.; BGH v. 23.6.2016 – IX ZB 18/15, ZIP 2016, 1447 Rz. 17; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 14 InsO Rz. 151. 5 BGH v. 18.12.2003 – IX ZR 199/02, BGHZ 157, 242, 247; AG Duisburg v. 18.11.2002 – 62 IN 171/ 02, NZI 2003, 161; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, § 14 InsO Rz. 30; Wehr in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 14 InsO Rz. 52.

540 | Karsten Schmidt

§ 13 Unternehmensabwicklung durch Insolvenzverfahren | Rz. 13.8 § 13

tung der Insolvenzmasse zugunsten der Gläubiger, aber auch auf ein Insolvenzplanverfahren zielen (vgl. zum „prepackaged plan“ Rz. 32.13). Er kann den Verlauf eines Insolvenzverfahrens in Zerschlagungsrichtung oder in Reorganisationsrichtung auch zunächst offenlassen. Im günstigsten Fall geht der Geschäftsführer aufgrund einer mit Großgläubigern und mit den Gesellschaftern abgestimmten Strategie in das Insolvenzverfahren. Grundlage ist dann zweckmäßigerweise ein Beschluss der Gesellschafter über den Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO (dazu Rz. 14.68). In der Realität wird von dieser Möglichkeit allerdings zu wenig Gebrauch gemacht, weil Eigenanträge de facto meist unter dem Druck der Antragspflicht nach § 15a InsO und deshalb für eine Sanierung tendenziell zu spät gestellt werden (zur Antragspflicht vgl. Rz. 38.1 ff.). b) Diskutiert wird seit dem Suhrkamp-Verfahren die Zulässigkeit eines Insolvenzverfahrens zur Bereinigung von Gesellschafterstreitigkeiten im Insolvenzplanverfahren1. Mehr und mehr fällt der Blick jenseits der im vorliegenden Buch behandelten Sanierungsanstrengungen auf das Insolvenzverfahren als Mittel zur Verfolgung strategischer Ziele (strategische Insolvenz)2. Eine weitere Verfremdung des Insolvenzverfahrens wird von der Möglichkeit eines Übernahmeszenarios mit Hilfe eines Distressed Debt Purchase (dazu Rz. 7.42) und eines Debt Equity Swap im Insolvenzplanverfahren (dazu Rz. 31.31) befürchtet3. Einen gewissen Schutz der Minderheitsgesellschafter bietet die Abhängigkeit der Verfahrenseröffnung von den Tatbeständen der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit. Gegen einen auf drohende Zahlungsunfähigkeit gestützten Insolvenzantrag ist grundsätzlich nur die Mehrheit geschützt. Liegt wirklich nur drohende Zahlungsunfähigkeit vor und wird der Antrag nicht einmütig von den Gesellschaftern gestützt, so kann die Antragstellung ausnahmsweise missbräuchlich und unzulässig sein, wenn sie dem Ziel dient, das Unternehmen mit Squeeze-out-Effekt auf eine von der Gesellschaftermehrheit gegründete Auffanggesellschaft zu überführen, ohne dass den Minderheitsgesellschaftern eine Chance auf Beteiligung gegeben wird4.

1 Zu dieser Fragestellung vgl. etwa Karsten Schmidt in Priester et al., Praxis und Lehre im Wirtschaftsrecht, 10 Jahre Österberg-Seminare, 2018, S. 365 ff.; Undritz in Kübler, HRI, § 2 Rz. 4; Schäfer, ZIP 2014, 2417; Böcker, DZWIR 2015, 10; Westermann, NZG 2015, 134. 2 Eingehend dazu Bulgrin, Die strategische Insolvenz, 2016, passim; Eidenmüller, ZIP 2014, 1197. 3 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2012, 2085. 4 Die Frage wird, soweit ersichtlich, so noch nicht diskutiert.

Karsten Schmidt | 541

13.8

542 | Karsten Schmidt

5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

§ 14 Insolvenzgründe I. Die rechtliche und wirtschaftliche Relevanz der Insolvenztatbestände 1. Gesetzeslage: verfahrensrechtliche Sicht Die Insolvenzordnung beschreibt in den Tatbeständen der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) und der Überschuldung (§ 19 InsO) die sogenannte „Eröffnungsgründe“, ohne deren Vorliegen ein Insolvenzverfahren nicht eröffnet wird, ein Insolvenzantrag also unbegründet ist (§ 16 InsO). Diese rein prozedurale Sichtweise ist dem Gesetz als einer Verfahrensordnung des Insolvenzrechts angemessen und in diesem Sinne „richtig“. Das Insolvenzverfahren ist eine auf Gläubigerbefriedigung aus dem Schuldnervermögen oder (und) auf Restrukturierung bzw. Abwicklung des Schuldnervermögens zielende gesetzliche Prozedur, deren förmliche Eröffnung verfahrensrechtlich durch die §§ 17–19 InsO determiniert ist. Das Insolvenzverfahren (im Sprachgebrauch häufig ungenau als „Insolvenz“ bezeichnet) setzt materielle Insolvenz voraus, und diese Voraussetzung ist in den §§ 17–19 InsO tatbestandlich erfasst1. Doch gibt diese Sichtweise das rechtspolitische Gewicht der §§ 17–19 InsO nur sehr eingeschränkt wieder (dazu sogleich Rz. 14.2 f.). Die Prüfung dieser Tatbestände im Insolvenzeröffnungsverfahren ist notwendig, rechtspolitisch und insolvenzrechtlich jedoch eher marginal. Von großer Bedeutung sind die durch die Insolvenzordnung ausgeformten Tatbestände im Hinblick auf das Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG. Hier ist einerseits die drohende Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO „Eingangsschwelle“, der Schuldner muss also drohend zahlungsunfähig sein, damit er von den Stabilisierungsinstrumenten und dem präventiven Restrukturierungsrahmen Gebrauch machen kann (Rz. 10.1 ff. mit Erörterung der drohenden Zahlungsunfähigkeit in Rz. 10.6 ff.). Andererseits sind der Eintritt von Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit während des Verfahrens Gründe, dieses aufzuheben (§ 33 Abs. 2 StaRUG). Mehrfach verweist auch das Recht der Insolvenzanfechtung auf das Kriterium der Zahlungsunfähigkeit (§ 130 Abs. 1, § 131 Abs. 1 Nr. 2, § 132 Abs. 2 InsO) bzw. auf die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit (§ 130 Abs. 1 und 2, § 132 Abs. 2 InsO) oder der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO), als Beweisanzeichen im Rahmen der Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO spielt auch die Überschuldung eine Rolle2. Die Tatbestandsabgrenzung bleibt hier dieselbe wie in den §§ 17–19 InsO3. 1 Charakteristisch etwa Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 10. Aufl. 2021, Rz. 101 ff.; Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 6 Rz. 2; H.-Fr. Müller in Jaeger, § 16 InsO Rz. 1; Schmahl/Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 16 InsO Rz. 2. 2 BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 53/19, ZIP 2022, 704. 3 BGH v. 20.11.2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178, 184 = ZIP 2002, 87, 89; BGH v. 30.6.2011 – IX ZR 134/10, ZIP 2011, 1416, 1417; BGH v. 18.7.2013 – IX ZR 143/12, ZIP 2013, 2015, 2016 = GmbHR 2013, 1202 m. Anm. Blöse; Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, Rz. C 76 ff.

Brinkmann | 543

14.1

§ 14 Rz. 14.1 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Das sogenannte Zahlungsverbot des § 15b InsO (früher § 64 Satz 1 GmbHG und des § 130a Abs. 1 HGB jeweils a.F.) knüpft an die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung an, und wiederum sind die Tatbestandsmerkmale dieselben wie nach § 17 Abs. 2 und § 19 Abs. 2 InsO1, und doch ist die Perspektive in Anfechtungs- oder Haftungsprozessen eine andere als im Eröffnungsverfahren. So ist es kein Zufall, dass der BGH seine Grundlagenurteile zum Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit (Rz. 14.13 ff.) nicht im Rechtsmittelzug eines Eröffnungsverfahrens erlassen hat, sondern jeweils in einem auf das Zahlungsverbot des § 64 GmbHG a.F. gestützten Zivilprozess2.

2. Der „Trigger Effect“ der Eröffnungstatbestände: die unternehmensrechtliche Sicht der Praxis 14.2

Unternehmensrechtlich sind die insolvenzrechtlichen Eröffnungstatbestände – auch in rechtsvergleichender Sicht3 – ein großes und schwieriges Thema. Verharrt man in der aus § 16 InsO ablesbaren traditionellen verfahrensrechtlichen Sichtweise, so lautet die Frage lediglich: Welches ist der Zeitpunkt, in dem das Konzept des Gläubigerschutzes und der Gläubigerbefriedigung vom Prioritätsprinzip („Einzelvollstreckung“) zum Prinzip der Gläubigergleichbehandlung („Gesamtvollstreckung“) überzugehen hat?4 In unternehmensrechtlicher Perspektive erhält dieselbe Frage ohne Abstriche vom geltenden Recht eine andere Färbung. Sie lautet dann: Welches ist der Zeitpunkt, in dem der gesellschaftsrechtliche Verkehrsschutz (insbesondere Gläubigerschutz) nicht mehr ausreicht und die Liquidation oder Restrukturierung unter einem dem Primat der Gläubigerbeteiligung unterliegenden gesetzlichen Regime stattfinden soll?5 Diese Kernfrage der sog. „Eröffnungsgründe“ stellt sich ihrerseits wiederum in verschiedener Richtung, denn es ist eine durchaus unterschiedliche Frage, – von welchem Zeitpunkt an das Unternehmen (genauer: der Träger des Unternehmens) durch Gläubigerantrag (§ 14 InsO) bzw. durch obligatorischen Schuldnerantrag (§§ 15, 15a InsO) in ein Insolvenzverfahren hineingezwungen werden kann oder – von welchem Zeitpunkt an das Unternehmen (der Unternehmensträger) sich durch fakultativen Eigenantrag unter das Regime des Restrukturierungs- oder Insolvenzverfahrens stellen darf.

14.3

Mit der ersten Frage befassen sich die Tatbestände der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO) und der Überschuldung (§ 19 InsO), und diese Frage allein bestimmt die gesetzliche Formulierung wie auch die praktische Handhabung dieser beiden Tatbestände, sowohl im insolvenz- wie im restrukturierungsrechtlichen Kontext6. Mit der ganz anderen zweiten Frage befasst sich dage1 Vgl. statt vieler Arnold in Henssler/Strohn, § 64 GmbHG Rz. 22 f. 2 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062 = ZIP 2005, 1426 = GmbHR 2005, 1117 m. Anm. Blöse, dazu eingehend Karsten Schmidt in Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe, 2006, S. 144, 150 ff. Zur sog. „Bugwellentheorie“ BGH v. 19.12.2017 – II ZR 88/ 16, BGHZ 217, 130 = ZIP 2018, 283 Rz. 39 ff., hierzu Karsten Schmidt, EWiR 2018, 179. 3 Eingehend Karsten Schmidt, Grounds for Insolvency and Liability for Delays in Filing for Insolvency Proceedings, in Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe, 2006, S. 144 ff. 4 Vgl. Drukarczyk/Schüler in Kölner Schrift, Kap. 2 Rz. 2: „Terminierungsregeln“; ebenso zum Überschuldungsbegriff Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 1. 5 Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 487; zust. Haarmann/Vorwerk, BB 2015, 1603, 1604; ähnlich auch Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 6 Rz. 3. 6 So bereits im Vorfeld der Insolvenzrechtsreform Karsten Schmidt in 54. DJT Bd. I, 1982, Gutachten D, S. D 59 ff.; zuvor Karsten Schmidt, AG 1978, 334, 335; Karsten Schmidt, JZ 1978, 663 ff.

544 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.5 § 14

gen der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO). Der Tatbestand des § 18 InsO hat durch das SanInsFoG eine gegenüber der Vergangenheit erheblich erweiterte Bedeutung erlangt, da er nun die Eintrittsschwelle in das Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG markiert (Rz. 10.6 ff.). Die Bedeutung der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzantragsgrund wird dagegen auch künftig marginal bleiben.

3. Im Zentrum: Liquidität und Prognose Es gilt zu erkennen, dass alle drei Eröffnungstatbestände entgegen dem ersten Anschein von der Frage der Liquidität dominiert und durch unterschiedliche Prognoseelemente gekennzeichnet sind1. Ausgangspunkt ist eine ganz einfache, wenn auch in der Handhabung schwierige Versuchsanordnung: Wüsste man von einem Unternehmen, dass es seine Verbindlichkeiten ad infinitum bei Fälligkeit noch bedienen kann, so gäbe es keinen Grund, dieses Unternehmen in ein Insolvenzverfahren zu zwingen2 oder ihm auch nur den strategischen Gebrauch eines solchen gläubigerorientierten Verfahrens zu eröffnen3. Dies ist die rechtspolitische Aufgabe der Bestimmungen und der Kompass für ihre Anwendung. Diese rechtspolitische und betriebswirtschaftliche Aufgabe, nicht eine ziellose Wortlautinterpretation ist die Richtschnur für die §§ 17–19 InsO. Das gilt schon für § 17 Abs. 2 InsO (eine Gesellschaft kann „zahlungsunfähig“ sein, auch wenn sie noch Zahlungen leistet). Insbesondere für § 19 Abs. 2 InsO gilt: Nicht was der Name des Tatbestands („Überschuldung“) suggeriert, nämlich eine rein statisch-vermögensrechtliche Abgrenzung, gibt den Ausschlag4, sondern die Befriedigungserwartung der Gläubiger5. Hier muss das Gesetz unterscheiden, zwischen den Zielen optimaler Bestimmtheit (Zahlungseinstellung) und optimaler Prävention (prospektive Illiquidität)6.

14.4

Im Einzelnen gilt:

14.5

– Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit lässt in § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO das prognostische Element neben dem Liquiditätsbezug nicht erkennen. Das Grundlagenurteil des BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 = NJW 2005, 3062 = ZIP 2005, 1426 = GmbHR 2005, 1117 m. Anm. Blöse hat indes in Abgrenzung zur bloßen Zahlungsstockung ein – eher übermäßiges – Prognoseelement beigegeben (vgl. zur Kritik Rz. 14.13 ff.). – Der Tatbestand der Überschuldung in § 19 Abs. 2 InsO basiert – Bezeichnung hin oder her7 – wesentlich auf der Prognose8, die entgegen dem Gesetzeswortlaut („Fortführung des Unternehmens“) eine Liquiditätsprognose ist (dazu Rz. 14.157)9, die sich seit der Reform 1 Vgl. auch Drukarczyk in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 InsO Rz. 3: „konzeptionelle Nähe der drei Eröffnungsgründe der InsO“; Karsten Schmidt in 54. DJT Bd. I, 1982, Gutachten D, S. D 60: „Insolvenzgründe sind Illiquiditätstatbestände“. 2 Die Frage stand an der Wiege der gegenwärtig geltenden Überschuldungsdefinition nach § 19 Abs. 2 InsO; vgl. Karsten Schmidt, AG 1978, 334; Karsten Schmidt, JZ 1982, 165. 3 Zur strategischen Funktion des § 18 InsO vgl. Drukarczyk in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 InsO Rz. 3. 4 Für eine rein bilanzielle Sichtweise unter Ablehnung des Prognoseelements allerdings vereinzelt Wackerbarth, NZI 2009, 145 ff. 5 Vgl. Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 56: „Ein Insolvenztatbestand muss die Gefährdung von Gläubigeransprüchen anzeigen. Fortführung ist somit zulässig, wenn die Gläubigeransprüche erfüllt werden.“ 6 Näher Karsten Schmidt in 54. DJT Bd. I, 1982, Gutachten D, S. D 60. 7 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 490: „Name ist Schall und Rauch“. 8 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 490. 9 Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 InsO Rz. 56.

Brinkmann | 545

§ 14 Rz. 14.5 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

des § 19 InsO durch das SanInsFoG auf die nächsten 12 Monate bezieht. Dies macht den Überschuldungstatbestand zu einem vergleichsweise unbestimmten1 prospektiven Illiquiditätstatbestand2. – Der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit nach § 18 Abs. 2 InsO ist unter den Eröffnungsgründen der einzige, der beide Elemente der drei Tatbestände (das Liquiditätsund das Prognoseelement) gleichermaßen sichtbar macht. Über die drohende Zahlungsunfähigkeit entscheidet nicht das Fehlen einer positiven Fortführungsprognose i.S. des § 19 InsO, sondern die Annahme, dass der Schuldner voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen.

14.6–14.10

Einstweilen frei.

II. Zahlungsunfähigkeit 1. Die Bedeutung der Zahlungsunfähigkeit 14.11

Ab dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit sind die Handlungsmöglichkeiten der Geschäftsführer stark beschränkt (Rz. 14.42). Zugleich steigen die Haftungsrisiken erheblich (Rz. 38.1 ff. und Rz. 38.51). Vor diesem Hintergrund müssen die Organe die Liquiditätslage des Unternehmens ständig im Blick haben, um es gar nicht erst zur Zahlungsunfähigkeit und zur damit einhergehenden Einschränkung ihres Handlungsspielraums kommen zu lassen.

2. Der Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit 14.12

Zahlungsunfähigkeit bedeutet Illiquidität zu einem bestimmten Stichtag. Die Illiquidität ist durch die Erstellung einer Liquiditätsbilanz zu ermitteln, in der die zum jeweiligen Tag der Beurteilung fälligen (Rz. 14.17) Verbindlichkeiten den zur Verfügung stehenden Zahlungsmitteln gegenübergestellt werden. Die Praxis geht davon aus, dass Zahlungsunfähigkeit i.S. von § 17 Abs. 1 InsO erst dann vorliegt, wenn diese Illiquidität nicht nur vorübergehend ist. Die Zahlungsunfähigkeit ist insofern abzugrenzen von der Zahlungsstockung.

14.13

Der BGH führt dazu aus: „Eine bloße Zahlungsstockung ist anzunehmen, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die benötigten Mittel zu leihen. Dafür erscheinen drei Wochen erforderlich, aber auch ausreichend.“3

Allerdings soll nicht jede dreiwöchige Liquiditätslücke die Zahlungsunfähigkeit begründen. Der BGH meint, dass es auch verfassungsrechtlich geboten sei, bei einer geringfügigen Unterdeckung keine Zahlungsunfähigkeit anzunehmen, und setzt diese Erheblichkeitsschwelle bei 10 % der fälligen Forderungen an: „Beträgt eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners weniger als 10 % seiner fälligen Gesamtverbindlichkeiten, ist regelmäßig von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist bereits absehbar, daß die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.“4 1 Zur Rechtsnatur der Insolvenzverschleppung als echtem Unterlassungsdelikt Rönnau in Scholz, vor §§ 82 ff. GmbHG Rz. 30 ff. 2 Karsten Schmidt in 54. DJT Bd. I, 1982, Gutachten D, S. D 62. 3 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 = GmbHR 2005, 1117 Ls. 1 = ZIP 2005, 1426. 4 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 = GmbHR 2005, 1117 Ls. 2 = ZIP 2005, 1426.

546 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.16 § 14

Nach der Auffassung des BGH bleibt schließlich auch bei einer Liquiditätslücke von mehr als 10 % Raum für Ausnahmen, wenn nämlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass diese Lücke „demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist“1. Die herrschende Meinung in der Literatur hat sich dieser Eingrenzung des Zahlungsunfähigkeitstatbestands angeschlossen2, doch wurde auch Widerspruch geäußert. So wird eingewendet, dass die 10 % Grenze zu großzügig (aus Schuldnersicht) angesetzt sei und zu dem Gegenteil dessen führe, was der Gesetzgeber der InsO erreichen wollte, nämlich eine frühzeitige Einleitung des Insolvenzverfahrens3. Zutreffend ist insbesondere, dass im Rahmen der Anfechtungstatbestände nicht einsichtig ist, wieso die schlichte Illiquidität nicht genügen soll. Es geht gerade hier nicht an, „die prospektive Zahlungsfähigkeit einer gegenwärtigen Zahlungsfähigkeit“ gleichzustellen4. Überdies ist die prognostische Betrachtung im Rahmen der Anfechtungstatbestände problematisch, da der Anfechtungsgegner eine solche Prognose mangels Kenntnis der Umstände oft überhaupt nicht anstellen kann5.

14.14

Diese Kritik hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Auch der vom IDW entwickelte Standard zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzgründen (IDW S 11) folgt im Wesentlichen den vom BGH vorgezeichneten Grundsätzen (zu dem IDW Standard 11 im Hinblick auf die Überschuldungsprüfung s. Rz. 14.130)6. Daher soll im Folgenden dargestellt werden, wie auf Grundlage der von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien die Zahlungsunfähigkeit im Einzelnen zu ermitteln ist. Dazu ist zunächst zu klären, welche Verbindlichkeiten einerseits und liquiden Mittel andererseits im Liquiditätsstatus zu berücksichtigen sind.

14.15

a) Die zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten aa) Auf Zahlung von Geld gerichtete Forderung Anzusetzen sind auf der Passivseite der Liquiditätsbilanz nur gegen den Schuldner gerichtete Geldforderungen, also Ansprüche, die auf Zahlung, Hinterlegung von Geld oder Freistellung gerichtet sind. Ansprüche auf Lieferung oder Leistung bleiben solange unberücksichtigt, wie sie nicht in einen Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung (§§ 281, 283 BGB) übergegangen sind, da § 45 InsO nicht anwendbar ist. Die Forderungen sind mit ihrem Nennwert anzusetzen. Auch wenn andere Personen z.B. als Gesamtschuldner oder Bürgen für die Forde-

1 BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134 = GmbHR 2005, 1117 Ls. 3 = ZIP 2005, 1426. 2 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 17 InsO Rz. 29 f.; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 17 InsO Rz. 4 ff.; Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 20. Mit Anmerkung aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, § 17 InsO Rz. 18a f. 3 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 23; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 17 InsO Rz. 35. 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 29. 5 Um diesem Problem Rechnung zu tragen, stellt der BGH daher darauf ab, ob sich für den Anfechtungsgegner „die schleppende oder ganz ausbleibende Tilgung seiner Forderung bei einer Gesamtbetrachtung der ersichtlichen Umstände, insbesondere unter Berücksichtigung der Art der Forderung, der Person des Schuldners und dem Zuschnitt seines Geschäftsbetriebs, als ausreichendes Indiz für eine zumindest drohende Zahlungsunfähigkeit darstellt“, BGH v. 1.7.2010 – IX ZR 70/ 08, ZInsO 2010, 1598. 6 Zabel/Pütz, ZIP 2015, 912, 914 ff.

Brinkmann | 547

14.16

§ 14 Rz. 14.16 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

rung haften, müssen die Forderungen in voller Höhe passiviert werden, solange nicht ausgeschlossen ist, dass die Gesellschaft auf die volle Summe in Anspruch genommen wird1. bb) Fälligkeit der Forderung

14.17

Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO sind nur fällige Forderungen bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen. Der insolvenzrechtliche und der materiellrechtliche Fälligkeitsbegriff decken sich nach herrschender Meinung nicht2. Vielmehr ist „Fälligkeit“ i.S. von § 271 BGB eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Berücksichtigung der Forderung bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit3.

14.18

Eine Forderung ist grundsätzlich ab dem Tag ihrer materiellrechtlichen Fälligkeit anzusetzen, es sei denn, sie wurde konkludent oder ausdrücklich gestundet. Eine Stundung kann z.B. erfolgen im Zusammenhang mit der nachträglichen Stellung einer Sicherheit, im Rahmen eines pactum de non petendo, einer Besserungsabrede oder einer geduldeten Kontoüberziehung. Bei öffentlich-rechtlichen Forderungen beseitigt auch die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids die Fälligkeit der Forderung4.

14.19

Eine Stundung muss nicht zwingend auf einem Rechtsgeschäft beruhen, sondern kann auch durch tatsächliches Verhalten erfolgen. Bei der Annahme einer tatsächlichen Stundung ist aber Vorsicht geboten. In der Rechtsprechung heißt es, dass für die insolvenzrechtliche Fälligkeit ein „ernsthaftes Einfordern“ erforderlich sei. Diese Formulierung ist irreführend5, indem sie nahelegt, dass es notwendig sei, dass der Gläubiger die Forderung aktiv geltend macht. Das Gegenteil ist richtig: Auch nach der Rechtsprechung darf eine „tatsächliche“ Stundung nicht schon darin gesehen werden, dass der Gläubiger nach dem Eintritt der materiellrechtlichen Fälligkeit zunächst keine Anstalten macht, die Forderung einzuziehen6. Die Annahme einer tatsächlichen Stundung kommt grundsätzlich dann nicht mehr in Betracht, wenn der Gläubiger – etwa durch Übersendung einer Rechnung7 – zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Forderung einfordern wird8. Auch wenn der Schuldner selbst durch Kündigung die materiellrechtliche Fälligkeit herbeigeführt hat, gibt es keine Anhaltspunkte für eine tatsächliche Stundung der Forderung durch den Gläubiger9. Das Gleiche gilt bei Forderungen, die durch Zeitablauf fällig werden, wie z.B. Darlehen mit bestimmter Laufzeit oder Anleihen10. Hier, wie auch bei gesetzlich begründeten Forderungen, kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass der Gläubiger einstweilen darauf verzichtet, die Forderung geltend zu machen11. Das Erfordernis des „ernsthaften Einforderns“ – wie es die Rechtsprechung verwendet – sollte also 1 Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 11. 2 BGH v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, BGHZ 173, 286 Rz. 12 = NZI 2007, 579 Rz. 12 = ZIP 2007, 1666. 3 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 17 InsO Rz. 7 f.; Bremen in Graf-Schlicker, § 17 InsO Rz. 10. 4 BGH v. 22.5.2014 – IX ZR 95/13, ZIP 2014, 1289. 5 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 13. 6 BGH v. 14.2.2008 – IX ZR 38/04, ZIP 2008, 706 für die Nichtzahlung fälliger Löhne. 7 BGH v. 19.7.2007 – IX ZB 36/07, BGHZ 173, 286, 293 = ZIP 2007, 1666, 1668 Rz. 19; BGH v. 14.5.2009 – IX ZR 63/08, ZIP 2009, 1235 Rz. 23. 8 BGH v. 14.5.2009 – IX ZR 63/08, BGHZ 181, 132 = ZIP 2009, 1235 Rz. 22, 24. 9 BGH v. 14.5.2009 – IX ZR 63/08, BGHZ 181, 132 = ZIP 2009, 1235 Rz. 22, 24. 10 BGH v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, ZIP 2013, 79 Rz. 12; Malitz, BB 2013, 276; Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1007. 11 Zur Fälligkeit von Ansprüchen aus nur geduldeter Kontoüberziehung BGH v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, NZI 2007, 225, 229 = ZIP 2007, 435.

548 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.22 § 14

nicht überschätzt werden. Keinesfalls kann sich der Geschäftsführer, der die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft ermitteln will, damit begnügen, nur solche Forderungen anzusetzen, auf deren Erfüllung der Gläubiger drängt. Vielmehr hat er grundsätzlich alle materiellrechtlich fälligen und einredefreien Forderungen anzusetzen. cc) Berücksichtigung streitiger Forderungen Bei der Frage, inwieweit streitige Forderungen zu berücksichtigen sind, handelt es sich jedenfalls zum Teil um ein Scheinproblem. Unstreitig ist, dass Forderungen, die objektiv zu Unrecht geltend gemacht werden, nicht zu berücksichtigen sind und dass umgekehrt Forderungen, gegen die sich der Schuldner zu Unrecht verteidigt, in die Liquiditätsbilanz einzustellen sind. Im Ausgangspunkt sind daher nur objektiv bestehende oder rechtskräftig festgestellte Forderungen zu berücksichtigen, diese aber in voller Höhe1.

14.20

Die Probleme resultieren aus der (Prognose-) Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob eine Forderung „zu Recht“ oder „zu Unrecht“ geltend gemacht wird. Insoweit kann man bei der Prüfung, ob aktuell Zahlungsunfähigkeit vorliegt, wie sie z.B. vor Antragstellung durch die Geschäftsführung oder im Eröffnungsverfahren durch das Gericht vorzunehmen ist, ein Wahrscheinlichkeitsurteil gar nicht vermeiden2, da der Bestand der Forderung eben gegenwärtig ungewiss ist. Dieser Ungewissheit, die sowohl den Bestand wie die Höhe der Forderung betrifft, muss man durch etwaige Abschläge auf die Forderungen Rechnung tragen3. Abzulehnen ist es, bei überwiegender Wahrscheinlichkeit die Forderung vollständig und im Übrigen gar nicht zu berücksichtigen. Der Tatsache, dass die Wahrheit bezüglich der voraussichtlichen Belastung in der Mitte liegt, wird man durch den Ansatz von Wahrscheinlichkeiten gerecht: Der Nennwert der geltend gemachten Forderung ist zu multiplizieren zunächst mit der Wahrscheinlichkeit, dass es überhaupt zu einer Verurteilung kommt, und dann mit dem Anteil, zu dem eine Verurteilung voraussichtlich erfolgen wird.

14.21

Stellt sich nachträglich heraus, dass die wegen des schwebenden Verfahrens nur mit einem Teilbetrag angesetzte Forderung in voller Höhe besteht, so ist nunmehr gewiss, dass die Gesellschaft von vornherein zahlungsunfähig war. Es ist eine andere Frage, ob die Geschäftsführer die Prozessaussichten fahrlässig zu optimistisch eingeschätzt haben und sie deshalb ein Verschulden hinsichtlich der Insolvenzverschleppung trifft. Die Prognoseunsicherheit spielt insofern nicht bei der Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit eine Rolle, sondern nur auf der Verschuldensebene, wenn es um die Haftung nach § 15b InsO (Rz. 38.51 ff.) oder wegen Insolvenzverschleppung (Rz. 38.1 ff.) geht4. Ebenso ist die Prognoseunsicherheit bei der Frage

14.22

1 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 8; zur Berücksichtigung rechtskräftig titulierter Forderungen BGH v. 10.7.2018 – 1 StR 605/16, ZIP 2018, 2178 Rz. 6. 2 Anders ist es allerdings bei einem Insolvenzantrag eines Gläubigers, bei dem die Zahlungsunfähigkeit aus der Nichterfüllung einer einzigen Forderung abgeleitet wird. Wird diese Forderung bestritten, darf sich das Insolvenzgericht nicht mit einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung begnügen, vielmehr muss das Bestehen der Forderung im Prozesswege geklärt werden, BGH v. 29.3.2007 – IX ZB 141/06, ZIP 2007, 1226 f.; BGH v. 8.11.2007 – IX ZB 201/03, ZInsO 2007, 1275 Rz. 3. Dazu auch Henkel, ZInsO 2011, 1237. 3 Nick/Lamberti, Überschuldungs- und Zahlungsunfähigkeitsprüfung im Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2016, Rz. 171, 969; Pulte, ZInsO 2020, 2695. Zabel/Pütz, ZIP 2015, 912, 915 wollen bestrittene Forderungen mit dem „voraussichtlichen Erfüllungsbetrag“ ansetzen. 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 8. Dies übersieht Dittmer, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, 2013, S. 101, wenn sie stets für eine ex-ante Betrachtung mit dem Argument eintritt, dass nur so eine ungerechtfertigte Haftung der Geschäftsführer vermieden werden könne.

Brinkmann | 549

§ 14 Rz. 14.22 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

zu berücksichtigen, ob ein Dritter die auf der streitgegenständlichen Forderung beruhende Zahlungsunfähigkeit im Sinne der Anfechtungstatbestände „kannte“, bevor die Entscheidung rechtskräftig wurde. Diese Grundsätze gelten auch für Forderungen, für die ein vorläufig vollstreckbares Urteil besteht. Wird das Urteil später rechtskräftig, steht nunmehr fest, dass der Schuldner von vornherein zahlungsunfähig war, und zwar schon seit der Fälligkeit des titulierten Anspruchs.

14.23

Aus der ex-ante Sicht, die sowohl für die Frage des Verschuldens als auch für die Kenntnis im Rahmen der Anfechtungstatbestände maßgeblich ist, muss eine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung der Prozessaussichten vorgenommen werden, die der aktuellen Prozesslage laufend anzupassen ist. Sobald es nicht ausgeschlossen ist, dass die Forderung rechtskräftig festgestellt wird, muss die Forderung mit einem an der Wahrscheinlichkeit des endgültigen Prozessverlusts orientierten Abschlag bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit berücksichtigt werden. Nur wenn der Anfechtungsgegner die ungünstige Lage des Prozesses sowie die Liquiditätslage der Gesellschaft im Übrigen kennt, weiß er von der Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin.

dd) Berücksichtigung nachrangiger Forderungen

14.24

Nachrangige Forderungen sind grundsätzlich in die Liquiditätsbilanz einzustellen1, denn der Nachrang ist eine Eigenschaft der Forderung, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Rolle spielt. Der insolvenzrechtliche Nachrang begründet keine materiellrechtliche Einrede gegen die Forderung im Vorfeld der Eröffnung des Insolvenzverfahrens2. Eine Nachrangvereinbarung beseitigt daher als solche nicht die Zahlungs(un)fähigkeit der Gesellschaft3. (Zur Bedeutung für die Überschuldung Rz. 6.106 und Rz. 14.154.) Zur Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit ist vielmehr eine – jedenfalls dogmatisch von der Nachrangvereinbarung zu unterscheidende – Stundungsvereinbarung oder ein pactum de non petendo (Rz. 14.154) erforderlich4. Ob einer Nachrangvereinbarung konkludent ein Verzicht auf ein „ernsthaftes Einfordern“, also eine Stundung (Rz. 14.19), entnommen werden kann, ist eine Frage der Auslegung5. Jedenfalls dann, wenn die Nachrangvereinbarung der Vermeidung der Insolvenz der Gesellschaft dient, wird man annehmen können, dass zusammen mit dem Nachrang auch eine Stundung vereinbart wurde, denn nur dann erfüllt sie ihren Zweck (s. auch Rz. 14.154).

14.25

Bis zur Entscheidung des BGH vom 9.10.2012 war umstritten, wie sich für Ansprüche der Gesellschafter gegen die Gesellschaft, die unter § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO fallen, das Zahlungsverbot des § 15b Abs. 5 InsO (§ 64 Satz 3 GmbHG a.F.) auf die Behandlung der Gesellschafterforderung in der Liquiditätsbilanz auswirkt6. Der BGH entschied, dass bei „der Beurteilung der Verursachung der Zahlungsunfähigkeit in § 64 Satz 3 GmbHG (...) fällige Gesellschafter1 BGH v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, BGHZ 195, 42 = GmbHR 2013, 31 = ZIP 2012, 239 Rz. 12; AG Itzehoe v. 1.5.2014 – 28 IE 1/14, 28 IN 1/14 P – Prokon, ZIP 2014, 1038 (zu nachrangigen Forderungen aus Genussrechten), hierzu Jacoby, EWiR 2014, 427; G. Fischer in FS Kübler, 2015, S. 137 ff. 2 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 6; Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 6. 3 Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1007; Gero Fischer in FS Kübler, 2015, S. 137 ff.; Thole in FS Kübler, 2015, S. 681, 685. A.A. H.-F. Müller in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 64 GmbHG Rz. 13; H.-F. Müller in Jaeger, § 17 InsO Rz. 12; Haas, NZI 1999, 209, 214. 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 10; Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1007. 5 Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1012; Bork, ZIP 2014, 997, 1000 ff.; Thole in FS Kübler, 2015, S. 681, 686, alle zu nachrangigen Forderungen aus Genussrechten. 6 Gegen eine Berücksichtigung Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 10; Dahl/ Schmitz, NZG 2009, 567, 569 f.; Spliedt, ZIP 2009, 149, 160; Görg in FS Streck, 2011, S. 823, 828; Poertzgen/Meyer, ZInsO 2012, 249, 255.

550 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.26 § 14

forderungen nicht auszuklammern“ sind1. Danach ist eine Forderung auch dann im Liquiditätsstatus zu berücksichtigen, wenn sie unter § 15b Abs. 5 InsO fällt2. Kritisch anzumerken ist, dass der Anwendungsbereich des § 15b Abs. 5 InsO durch diese Rechtsprechung sehr stark begrenzt wird, denn die Begleichung einer fälligen Verbindlichkeit führt grundsätzlich nicht zur Zahlungsunfähigkeit3, denn hierdurch wird die Liquiditätsbilanz ja nur „verkürzt“. Anders ist es ausnahmsweise dann, wenn z.B. durch die vollständige Begleichung der Gesellschafterforderung aus einer unwesentlichen eine wesentliche (Rz. 14.13) Deckungslücke wird4 oder wenn auf Forderungen aus dem Gesellschaftsverhältnis geleistet wird, wenn die Zahlung also eine offene oder verdeckte Ausschüttung ist5. Nicht nur vor dem Hintergrund der sonst weitgehenden Funktionslosigkeit von § 15b Abs. 5 InsO wäre es überzeugender, aus der Vorschrift zu folgern, dass Ansprüche von Gesellschaftern nie bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen sind. Sofern die Erfüllung der Gesellschafterforderungen der Gesellschaft die Mittel entziehen würde, die sie benötigt, um die anderen fälligen Forderungen zu begleichen, ergibt sich – auch nach dem BGH6 – aus § 15b Abs. 5 InsO ein Leistungsverweigerungsrecht gegen Gesellschafterforderungen, so dass die Forderung nicht „fällig“ i.S. von § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO ist. Insofern geht es nicht um ein „Ausblenden“, sondern umgekehrt um die Frage, ob die Forderungen, obwohl sie nicht „fällig“ i.S. von § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO sind, bei der Zahlungsunfähigkeitsprüfung zu berücksichtigen sind. Weil für ein „Einblenden“ (Berücksichtigung trotz des Bestehens einer Einrede) keine Berechtigung besteht, sollten Gesellschafterforderungen hinsichtlich der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit wie Ansprüche auf Rückgewähr von Einlagen behandelt werden, die bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit mangels Fälligkeit gleichfalls nicht anzusetzen sind7. Die Entstehung der Insolvenzantragspflicht würde dadurch zwar hinausgeschoben8; dass diese Verschiebung zu Lasten der Gläubiger geht, ist aber nicht gesichert. In erster Linie ginge sie zu Lasten der Gesellschafter, die wegen des Zahlungsverbots keine Befriedigung verlangen können. Im Einzelnen zu § 15b Abs. 5 InsO (§ 64 Satz 3 GmbHG a.F.) bei Rz. 40.9 ff. 1 BGH v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, BGHZ 195, 42 = GmbHR 2013, 31 = ZIP 2012, 2391 Rz. 10. Anm. hierzu bei Knolle/Lojowsky, NZI 2013, 171; krit. H.-F. Müller in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 64 GmbHG Rz. 190. 2 So auch Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 6; Arnold in Henssler/Strohn, § 64 GmbHG Rz. 49; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 58 ff.; Schluck-Amend in FS Hommelhoff, 2012, S. 961, 970; Winstel/Skauradszun, GmbHR 2011, 185, 187; Dittmer, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, 2013, S. 187. Nach Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 82 ff. fallen Zahlungen auf fällige und einredefreie Ansprüche eines Gesellschafters von vornherein nicht unter § 64 Satz 3 GmbHG. 3 Spliedt, ZIP 2009, 149, 159. 4 Darauf weist Haas in Noack/Servatius/Haas, § 64 GmbHG Rz. 135 hin. 5 Altmeppen, § 64 GmbHG Rz. 89. 6 BGH v. 9.10.2012 – II ZR 298/11, GmbHR 2013, 31 = ZIP 2012, 2391 Rz. 18, wobei der BGH offenbar meint, zwischen „Einrede“ und „Leistungsverweigerungsrecht“ unterscheiden zu können (vgl. Rz. 12 des Urteils einerseits und Rz. 18 andererseits). Jedenfalls für die Frage der Zahlungsunfähigkeit kann dem nicht gefolgt werden, denn auch beim Bestehen eines „Leistungsverweigerungsrechts“ ist die Forderung grundsätzlich nicht in der Liquiditätsbilanz anzusetzen. Die nach dem BGH erforderliche Berücksichtigung von Ansprüchen von Gesellschaftern macht hiervon eine Ausnahme. 7 Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, § 30 GmbHG Rz. 52; Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 67. Zur alten Rechtslage H.-F. Müller in Jaeger, § 17 InsO Rz. 12. 8 Daher kritisch gegen die hier vertretene Auffassung Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 64 GmbHG Rz. 58.

Brinkmann | 551

14.26

§ 14 Rz. 14.27 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

b) Die zu berücksichtigenden Aktiva 14.27

Auf der Aktivseite sind im Liquiditätsstatus alle Mittel zu berücksichtigen, die zur Deckung der anzusetzenden Verbindlichkeiten zur Verfügung stehen. Das sind neben Barmitteln auch Buchmittel, wie sofort abrufbare Ansprüche auf Auszahlung eines Bankguthabens oder Ansprüche auf Auszahlung von Kreditmitteln1. Anders als ein eingeräumter und nicht ausgeschöpfter Dispositionskredit, bleibt die Möglichkeit der Duldung einer Kontoüberziehung außer Betracht, solange diese Möglichkeit nur hypothetisch ist, also noch keine entsprechende Duldungszusage seitens der Bank vorliegt. Nimmt die Gesellschaft an einem Cash Pool teil, kommt es darauf an, ob sie die notwendigen Mittel aus dem Cash Pool abrufen kann2. Ein Ansatz in voller Höhe setzt allerdings voraus, dass sich aus dem Cash Management System tatsächlich die erforderlichen Mittel ziehen lassen. Dies kann nur unter Berücksichtigung der konzernweiten Liquiditätslage beurteilt werden3.

14.28

Bei der Berücksichtigung von Anlagevermögen kommt es darauf an, um welche Stufe der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit es geht (zu den drei Stufen Rz. 14.32). Auf der ersten Stufe sind Gegenstände des Anlagevermögens nicht zu berücksichtigen, da hier nur die aktuell vorhandene Liquidität geprüft wird. Erst wenn es auf der zweiten Stufe darum geht, eine Prognose hinsichtlich der künftigen Zahlungsfähigkeit zu stellen, können erzielbare Erlöse für Gegenstände des Anlagevermögens angesetzt werden, soweit das Vermögen kurzfristig, also innerhalb von drei Wochen (Rz. 14.32), liquidierbar ist. Hierbei ist es unbeachtlich, ob der Verkauf betriebswirtschaftlich nicht ratsam ist, solange nicht die Bereitschaft zu sofortiger Umsetzung in Geld (deswegen) fehlt4. Auch fällige Forderungen gegen Dritte sind als Aktiva bei der Liquiditätsprognose anzusetzen. Hierbei ist aber neben der Verität der Forderung auch die Bonität des Drittschuldners zu berücksichtigen, gegebenenfalls müssen Abschläge vom Nennwert vorgenommen werden5.

14.29

Eine Patronatserklärung ist dann im Rahmen der Zahlungsunfähigkeitsprüfung zu berücksichtigen, wenn sie der Gesellschaft einen eigenen, durchsetzbaren Anspruch auf Freihaltung oder auf Verschaffung der notwendigen Mittel vermittelt und diese Liquiditätsgarantie auch tatsächlich vollzogen wird6. Daher beseitigt selbst eine harte Patronatserklärung die Zahlungsunfähigkeit nicht, wenn sie nur gegenüber dem Gläubiger abgegeben ist und der Tochtergesellschaft keine eigenen Rechte gegen den Patron begründet7.

3. Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit 14.30

Ob der Schuldner zahlungsunfähig ist, ist einerseits im Rahmen der Entscheidung über den Insolvenzantrag zu ermitteln, andererseits spielt die (ex post) Feststellung der Zahlungsunfähigkeit im Rahmen von Anfechtungs- und Haftungsprozessen eine große Rolle. In beiden Fällen erfolgt die Feststellung nach denselben Grundsätzen8. 1 2 3 4 5 6

BGH v. 20.1.2011 – IX ZR 32/10; Laroche in Kayser/Thole, § 17 InsO Rz. 16. Saenger/Koch, GmbHR 2010, 113. Vgl. auch IDW S 11 Rz. 48. BGH v. 3.12.1998 – IX ZR 313/97, NZI 1999, 70 = ZIP 1999, 76. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 14. BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, ZIP 2011, 1111 = GmbHR 2011, 769 m. Anm. Blöse; Blum, NZG 2010, 1331. 7 Zur Möglichkeit, eine Patronatserklärung als Mittel zur Suspendierung der Insolvenzantragspflicht einzusetzen, Ringstmeier in FS Wellensiek, 2011, S. 133 ff. 8 BGH v. 12.2.2015 – IX ZR 180/12, ZIP 2015, 585, Rz. 18. Zu Einzelheiten der Darlegungs- und Beweislast Brinkmann in FS Herbert Roth, 2021, S. 589 ff.

552 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.33 § 14

a) Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit mittels mehrerer Liquiditätsbilanzen Bei der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit geht es in erster Linie um die Frage, wie die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien im Einzelnen ineinander greifen, wie also die richtigen Testfragen lauten, die die Geschäftsführung zu stellen hat, wenn sie ermitteln will, ob die Gesellschaft zahlungsunfähig ist.

14.31

Die vom BGH entwickelten Kriterien lassen sich im Wege einer in drei Schritte gegliederten Prüfung umsetzen1:

14.32

– Zunächst sind die aktuell fälligen Verbindlichkeiten den aktuell verfügbaren liquiden Mitteln gegenüber zu stellen (Prüfung der aktuell vorhandenen Liquidität durch Aufstellung eines Liquiditätsstatus). – Ergibt sich hierbei, dass die verfügbaren Mittel nicht hinreichen, um mindestens 90 % der Verbindlichkeiten zu erfüllen2, ist eine Prognose im Rahmen eines Finanzplans3 vorzunehmen, ob diese Liquiditätslücke im Laufe der nächsten drei Wochen durch Zuflüsse in Form von Zahlungseingängen oder der Liquidation gebundenen Vermögens voraussichtlich geschlossen werden kann (Prognose der künftigen Liquidität durch Aufstellung eines Liquiditätsplans). – Wenn dies der Fall ist, wenn also die Liquiditätslücke innerhalb von drei Wochen voraussichtlich unter 10 % zurückgeführt werden kann, ist von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist absehbar, dass die Lücke demnächst wieder anwachsen wird. Beträgt die Liquiditätslücke dagegen 10 % oder mehr, so ist umgekehrt von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, es sei denn, sie kann voraussichtlich innerhalb eines zumutbaren Zeitraums4 vollständig oder fast vollständig geschlossen werden (Ausnahmekontrolle). Entgegen Kayser5 sind „kurzfristig verwertbare Vermögensgegenstände“ auf der ersten Stufe nicht zu berücksichtigen, da die entsprechenden Erlöse erst künftig zur Tilgung von Verbindlichkeiten zur Verfügung stehen und daher die aktuelle Illiquidität, die auf der ersten Stufe ermittelt werden soll, nicht beseitigen können6. Stellt sich die auf der zweiten Stufe vorzunehmende Prognose während des Dreiwochenzeitraums als falsch heraus, weil z.B. erwartete Liquidität in maßgeblichem Umfang doch nicht zur Verfügung steht, so tritt sofort Zahlungs1 Plagens/Wilkes, ZInsO 2010, 2107, 2111; Ganter, ZInsO 2011, 2297; Brahmstaedt, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, 2012, S. 213 f.; IDW S 11 Rz. 14–17. Anders aber Neu/Ebbinghaus, ZInsO 2012, 2229, 2234, die ohne eine Prognose auskommen wollen und stattdessen die Aufstellung zweier Liquiditätsbilanzen fordern, eine am Stichtag und eine weitere 21 Tage später. Wenn beide eine Lücke von jeweils mehr als 10 % ergeben, soll Zahlungsunfähigkeit zu bejahen sein. Dieser Ansatz würde in der Sache zu einer Verlängerung der Antragsfrist des § 15a InsO um 21 Tage führen. 2 Ergibt sich dagegen eine Deckungslücke von unter 10 % ist Zahlungsfähigkeit gegeben. Diese „kleine Bugwelle“ (Frystatzki, NZI 2010, 389, 391) kann der Schuldner vor sich herschieben; ebenso Meyer-Löwy/Fritz, ZInsO 2011, 662, 663. 3 Zu dessen Ausgestaltung Plagens/Wilkes, ZInsO 2010, 2107, 2119. 4 Konkrete Angaben zu dessen Länge finden sich in der Rechtsprechung nicht. Gero Fischer, unter dessen Vorsitz das Urteil ergangen ist, schreibt hierzu (ZGR 2006, 406, 408): „Man wird jedoch mit aller Vorsicht sagen können, dass als Ausnahmefälle in aller Regel nur Verzögerungen bis zu drei Monaten in Betracht kommen, und solche, die länger als sechs Monate dauern, generell undiskutabel sind.“ 5 Kayser in Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Insolvenzrecht, 6. Aufl. 2012, Rz. 16. 6 Ebenso IDW S 11 Rz. 32.

Brinkmann | 553

14.33

§ 14 Rz. 14.33 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

unfähigkeit ein. Die Gesellschaft wird aber nicht etwa „nachträglich zahlungsunfähig“1, sonst würde die in § 15a InsO vorgesehene Frist unberechtigter Weise verkürzt. Der Unterschied zur Behandlung streitiger Forderungen (Rz. 14.20) erklärt sich daraus, dass es bei der Unsicherheit hinsichtlich des Bestehens einer Forderung nicht um eine Unsicherheit im Hinblick auf künftige Entwicklungen geht (wie bei der Frage, ob Verwertungserlöse werden erzielt werden können), sondern um Umstände, die objektiv bereits im Beurteilungszeitpunkt vorliegen (Bestand/Nichtbestand der Forderung), die aber nur unbekannt sind.

14.34

Die Diskussion um die sogenannte „Bugwellentheorie“ hat der BGH im Jahr 2017 entschieden. Hierbei ging es um die Frage, inwieweit in die auf der zweiten Stufe anzustellende Liquiditätsprognose auch solche Forderungen einzustellen sind, die erst während des Prognosezeitraums fällig werden (sog. Passiva II). In Übereinstimmung mit der schon zuvor in der Literatur herrschenden Auffassung2 hat der II. Senat dies zu Recht bejaht, so dass diese Verbindlichkeiten grundsätzlich zu berücksichtigen sind3.

14.35

Es ist eine Anschlussfrage, ob auch hinsichtlich der Passiva II zu prüfen ist, ob diese erst dann in die Liquiditätsbilanz einzustellen sind, wenn sie ernsthaft eingefordert werden4. Dieser Ansatz verschiebt die Diskussion von der Frage, ob Zahlungsunfähigkeit überhaupt eintritt, auf die Frage, wann die Zahlungsunfähigkeit zu bejahen ist: Schon am Beginn des Dreiwochenzeitraums (weil mit dem ernsthaften Einfordern bezüglich der fällig werdenden Forderungen zu rechnen ist) oder erst dann, wenn die fraglichen Verbindlichkeiten tatsächlich eingefordert werden5. Eine Rechtfertigung für diese Verschiebung ist nicht erkennbar. Denn regelmäßig wird der Umstand, dass eine Forderung innerhalb des Dreiwochenzeitraums fällig und ernsthaft eingefordert werden wird, nicht schwer zu prognostizieren sein6, zumal ein ausdrückliches Zahlungsverlangen hierfür ja nicht erforderlich ist (vgl. Rz. 14.19). Wenn aber mehr oder weniger sicher davon auszugehen ist, dass eine Forderung während der Frist eingefordert werden wird, ist nicht einzusehen, warum es dann nicht dabei bleiben soll, dass die auf der ersten Stufe festgestellte Liquiditätslücke die Zahlungsunfähigkeit begründet. Die Prognose, mit der ermittelt werden soll, ob es sich vielleicht nur um eine Zahlungsstockung handelt, fällt dann ja gerade negativ aus, denn es ist eben nicht wahrscheinlich, dass die Liquiditätslücke geschlossen werden kann. Es wäre unrealistisch ohne Weiteres anzunehmen, dass fällig werdende Verbindlichkeiten tatsächlich gestundet werden.

b) Die Zahlungseinstellung als Indiz für die Zahlungsunfähigkeit 14.36

Die Zahlungsunfähigkeit hängt in tatsächlicher Hinsicht von Umständen ab, die von außen schwer zu beurteilen sind. Daher besitzen Indizien beim Beweis der Zahlungsunfähigkeit besondere Bedeutung7. Ein besonders starkes Indiz ist die Zahlungseinstellung, bei der nach § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO in der Regel Zahlungsunfähigkeit anzunehmen ist. 1 Ganter, ZInsO 2011, 2297, 2302. 2 Bork, ZIP 2008, 1749, 1752 f.; Plagens/Wilkes, ZInsO 2010, 2107, 2111; Ganter, ZInsO 2011, 2297, 2299 ff. Ebenso IDW S 11 Rz. 37; a.A. Fischer in FS Ganter, 2010, S. 153, 158. 3 BGH v. 19.12.2017 – II ZR 88/16, BGHZ 217, 130 = ZIP 2018, 283 Rz. 39 ff. = GmbHR 2018, 299 m. Anm. Münnich, hierzu Karsten Schmidt, EWiR 2018, 179. 4 Kayser in Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Insolvenzrecht, 6. Aufl. 2012, Rz. 16. 5 Prager/Jungclaus in FS Wellensiek, 2011, S. 101, 107. 6 Prager/Jungclaus in FS Wellensiek, 2011, S. 101, 109; Ganter, ZInsO 2011, 2297, 2301. 7 Nach OLG Düsseldorf v. 30.6.2011 – 12 U156, GWR 2011, 505 kann die Bitte eines Schuldners an das Finanzamt, eine nicht unerhebliche Steuerschuld in Raten zahlen zu wollen, als Anhaltspunkt für seine Zahlungsunfähigkeit zu sehen sein.

554 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.39 § 14

aa) Die Bedeutung der Zahlungseinstellung Die Zahlungseinstellung ist ein Indiz im Rahmen der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit. Die Feststellung der Zahlungseinstellung führt weder im Strafprozess noch im Rahmen des Eröffnungsverfahrens oder bei Haftungsprozessen1 zu einem Wechsel der (objektiven) Beweislast2. Vielmehr knüpft § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO für das Eröffnungsverfahren und für Zivilverfahren an die Zahlungseinstellung eine Beweisregel, so dass der Richter aus der Zahlungseinstellung auf die Zahlungsunfähigkeit schließen kann. Der Gegenbeweis kann geführt werden, indem der Antragsgegner z.B. durch Vorlage eines Liquiditätsplans beweist, dass trotz der Zahlungseinstellung keine Zahlungsunfähigkeit vorlag, weil die Zahlungen z.B. voraussichtlich nur für höchstens drei Wochen eingestellt werden mussten3.

14.37

Diese Beweiserleichterung ist vor allem für das Eröffnungsverfahren sowie für Anfechtungsund Haftungsprozesse bedeutsam. Der Nachweis der Zahlungseinstellung macht bei ex-post Betrachtung die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz entbehrlich, wenn im fraglichen Zeitpunkt in nicht unerheblichem Umfang4 fällige Verbindlichkeiten bestanden haben, die bis zur Verfahrenseröffnung nicht mehr beglichen worden sind. Dagegen besitzt die Zahlungseinstellung geringere Bedeutung im Rahmen der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit durch die Geschäftsführung: Zum einen dürfte die Gesellschaft schon länger zahlungsunfähig sein, wenn sie ihre Zahlungen eingestellt hat, zum anderen bedarf die Geschäftsführung nicht der durch § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO vermittelten Beweiserleichterung, da ihr die für die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz erforderlichen Informationen ohne Weiteres zugänglich sind, so dass sie nicht auf die indizielle Feststellung der Zahlungsunfähigkeit angewiesen ist.

14.38

bb) Der Tatbestand der Zahlungseinstellung

14.39

Nach dem BGH ist Zahlungseinstellung „dasjenige nach außen hervortretende Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise ausdrückt, daß er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen.“5

Zahlungseinstellung ist danach ein tatsächliches Verhalten des Schuldners, aus dem Dritte mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf die Zahlungsunfähigkeit schließen können. Das Verhalten kann die ausdrückliche oder konkludente Verweigerung der Zahlung sein, aber auch eine 1 Zur Anwendbarkeit des § 17 Abs. 2 Satz 2 InsO im Rahmen von Anfechtungsprozessen BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36 = ZIP 2006, 2222 Rz. 12. 2 Anders die h.M., die die Vorschrift als Vermutung – und damit als Beweislastregel – deutet, vgl. z.B. BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36 = ZIP 2006, 2222 Rz. 12; Bork, KTS 2005, 1, 2. Die h.M. geht damit über den Gesetzeswortlaut hinaus, der nur das Verständnis als widerlegliche Beweisregel stützt. Die hier vertretene Ansicht hat darüber hinaus den Vorteil, die Vorschrift im Rahmen von Straf- und Zivilverfahren gleich auslegen zu können. Die h.M. kommt dagegen zu einer „gespaltenen Auslegung“, da anerkannt ist, dass für den Strafprozess eine Umkehr der Beweislast nicht in Betracht kommt, Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 40. 3 BGH v. 26.3.2015 – IX ZR 134/13, NZI 2015, 511 = ZIP 2015, 1077; dazu Baumert, NZI 2015, 589; BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36 = ZIP 2006, 2222 Rz. 38. Zur Abgrenzung der Zahlungsstockung von der Zahlungseinstellung OLG Düsseldorf v. 8.3.2012 – 12 U 34/11, ZInsO 2012, 786 = GmbHR 2013, 88. 4 BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36 = ZIP 2006, 2222 Rz. 28. Umstritten ist, welchen Anteil die nicht beglichenen Forderungen ausmachen müssen. Vieles spricht dafür, dass auch hier auf die 10 %-Grenze zurückzugreifen ist, vgl. Brahmstaedt, Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, 2012, S. 202 ff. 5 BGH v. 20.11.2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178, 184 = ZIP 2002, 87, 89.

Brinkmann | 555

§ 14 Rz. 14.39 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

sonstige Erklärung des Schuldners oder eines Vertreters mit Vertretungsbefugnis über das konkrete Geschäft hinaus1. „Es muss sich mindestens für die beteiligten Verkehrskreise der berechtigte Eindruck aufdrängen, dass der Schuldner außerstande ist, seinen fälligen Zahlungsverpflichtungen zu genügen (BGH, Urteil vom 21. Juni 2007 – IX ZR 231/04, WM 2007, 1616 Rn. 28). Die tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten reicht für eine Zahlungseinstellung aus (BGH, Urteil vom 21. Juni 2007, aaO Rn. 29; vom 20. Dezember 2007 – IX ZR 93/06, WM 2008, 452 Rn. 21 jeweils mwN). Das gilt selbst dann, wenn tatsächlich noch geleistete Zahlungen beträchtlich sind, aber im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen (BGH, Urteil vom 21. Juni 2007, aaO Rn. 29; Urteil vom 11. Februar 2010 – IX ZR 104/07, WM 2010, 711 Rn. 42). Die Nichtzahlung einer einzigen Verbindlichkeit kann eine Zahlungseinstellung begründen, wenn die Forderung von insgesamt nicht unbeträchtlicher Höhe ist (BGH, Urteil vom 20. November 2001- IX ZR 48/01, BGHZ 149, 178, 185).“2

Neben derartigen einzelnen Anzeichen kann die Zahlungseinstellung auch aus einer Gesamtschau mehrerer Beweisanzeichen gefolgert werden3.

14.40

Die Zahlungseinstellung endet nicht schon dann, wenn der Schuldner einzelne Forderungen wieder begleicht, sondern erst dann, wenn er den Schuldendienst allgemein wieder aufgenommen hat4. cc) Die Abgrenzung zur Zahlungsunwilligkeit

14.41

Die Zahlungsunfähigkeit ist abzugrenzen von der Zahlungsunwilligkeit. Zahlungsunwilligkeit ist kein Insolvenzgrund. Bei der Zahlungsunwilligkeit beruht die Nichtzahlung nicht auf einem Mangel liquider Mittel, sondern ausschließlich auf der fehlenden Bereitschaft des Schuldners, seine Gläubiger zu befriedigen. Ein Fall der Zahlungsunwilligkeit kann z.B. vorliegen, wenn der Schuldner die Forderungen zu Unrecht für unbegründet hält, seine Mittel aber objektiv ausreichen, die fraglichen Forderungen zu tilgen. In einem solchen Fall besteht kein Anlass durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens für eine gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger zu sorgen. Diese können sich vielmehr im Wege der Einzelzwangsvollstreckung befriedigen. Unberührt davon bleibt freilich, dass die Zahlungsunwilligkeit eine Zahlungseinstellung sein kann und dann auch die entsprechenden beweisrechtlichen Konsequenzen auslöst5.

4. Handlungsoptionen der Geschäftsführung bei eingetretener Zahlungsunfähigkeit 14.42

Die Handlungsmöglichkeiten der Geschäftsführung einer zahlungsunfähigen Gesellschaft sind sehr begrenzt. Nach § 15a InsO besteht eine straf- und schadensersatzbewehrte Pflicht, innerhalb von längstens drei Wochen Insolvenzantrag zu stellen (ausführlich Rz. 38.1 ff.). Diese Frist beginnt nicht mit der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, sondern in dem Moment ihres Eintretens6. Stellt die Geschäftsführung also fest, dass die Gesellschaft schon seit zwei 1 Steffek in Kübler/Prütting/Bork, § 17 InsO Rz. 64; Kadenbach in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, § 17 InsO Rz. 22; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 17 InsO Rz. 39 ff. 2 BGH v. 30.6.2011 – IX ZR 134/10, ZIP 2011, 1416 Rz. 12. 3 BGH v. 8.1.2015 – IX ZR 203/12, ZIP 2015, 437 Rz. 16. 4 BGH v. 20.11.2001 – IX ZR 48/01, BGHZ 149, 100, 109 = ZIP 2002, 87, 90; BGH v. 12.10.2006 – IX ZR 228/03, NZI 2007, 36, 37. Zu den Auswirkungen der Erneuerung einer Ratenzahlungsvereinbarung nach Zahlungseinstellung BGH v. 27.9.2012 – IX ZR 24/12, ZInsO 2012, 2048. 5 BGH v. 12.10.2017 – IX ZR 50/15 Rz. 12 ff., ZIP 2017, 2368. 6 IDW S 11 Rz. 44.

556 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.62 § 14

Wochen zahlungsunfähig ist, beträgt die Frist nur noch eine Woche. Die verbleibende Frist können die Geschäftsführer nutzen, um entweder den Insolvenzantrag vorzubereiten oder die Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen. Die Zahlungsfähigkeit kann sowohl durch Maßnahmen wiederhergestellt werden, die die Passivseite betreffen – Stundungsvereinbarungen, Teilverzichte seitens der Gläubiger, debt to equity swap – als auch dadurch erfolgen, dass dem Unternehmen frische Liquidität zugeführt wird, etwa durch Kreditaufnahme bei Dritten, Nachschüsse seitens der Gesellschafter oder die Veräußerung von Gegenständen des Anlagevermögens. Letzteres verspricht allerdings nur dann Abhilfe im Hinblick auf die Zahlungsunfähigkeit, soweit die Erlöse nicht ohnehin schon bei der Aufstellung der Liquiditätsbilanz im Rahmen der zweiten Stufe (Rz. 14.32) berücksichtigt wurden. Ein Antrag auf Anordnung eines Schutzschirms nach § 270d InsO (n.F.) ist nach dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit unzulässig.

14.43

Tritt die Zahlungsunfähigkeit während eines Restrukturierungsverfahrens ein, greift eine Anzeigepflicht für den Schuldner (§ 32 Abs. 3 Satz 1 StaRUG) und seine Organe persönlich (§ 42 Abs. 2 Satz 2 StaRUG) (Rz. 14.101, 14.125). Die persönliche Anzeigepflicht der Geschäftsführer können diese auch durch die Stellung eines Insolvenzantrags erfüllen (§ 42 Abs. 2 StaRUG).

14.44

14.45–14.60

Einstweilen frei.

III. Drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) 1. Drohende Zahlungsunfähigkeit Drohende Zahlungsunfähigkeit ist noch nicht eingetretene, aber absehbare Zahlungsunfähigkeit. In einer solchen Situation können (nicht: müssen!) die Geschäftsführer gemäß § 18 InsO Insolvenzantrag stellen, praktisch bedeutsamer ist, dass sie stattdessen auch ein Restrukturierungsverfahren nach dem StaRUG einleiten können (Rz. 10.1 ff.). Eine verfahrensrechtliche Pflicht, das eine oder das andere zu tun, besteht nicht. Es ist eine andere Frage, inwieweit sich die Geschäftsführer schadensersatzpflichtig machen, wenn sie trotz der drohenden Zahlungsunfähigkeit keine Sanierungsbemühungen einleiten. Der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit sowie die gesellschaftsrechtlichen Konsequenzen ihres Eintritts werden unter Rz. 10.6 ff. dargestellt.

14.61

2. Die Bedeutung der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzantragsgrund a) Unattraktivität der Einleitung eines Insolvenzverfahrens aus Sicht der Gesellschafter und Geschäftsführer Die Möglichkeit, bei nur drohender Zahlungsunfähigkeit einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen, ist ein Angebot an die Gesellschaft, frühzeitig die Eröffnung des Insolvenzverfahrens einzuleiten. Von dieser Option wurde bis zum ESUG kaum Gebraucht gemacht. Selbst bei den wenigen Anträgen, die auf drohende Zahlungsunfähigkeit gestützt waren, dürfte in Wahrheit oft bereits Überschuldung oder sogar eingetretene Zahlungsunfähigkeit vorgelegen haben, so dass das Abstellen auf drohende Zahlungsunfähigkeit nur eine verwirklichte Insolvenzverschleppung verschleiern sollte1. Durch die Schaffung des StaRUG dürf1 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 6; auch bereits Karsten Schmidt in Kölner Schrift zur InsO, S. 1204 Rz. 11; Mock in Uhlenbruck, § 18 InsO Rz. 5.

Brinkmann | 557

14.62

§ 14 Rz. 14.62 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

te § 18 InsO in seiner Bedeutung als Insolvenzantragsgrund noch stärker in den Hintergrund treten. Denn nicht selten wird die Sanierung mit den Instrumenten des StaRUG vorzugswürdig sein, weil sie schneller und günstiger ist und mit geringen Verlusten hinsichtlich des Unternehmenswerts einhergeht.

14.63

Dass die Einführung der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Insolvenzgrund durch die InsO im Jahr 1999 so wenig Effekte im Hinblick auf den Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung hatte, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass die Stellung eines Insolvenzantrags – jedenfalls vor dem ESUG – aus Sicht der Gesellschafter und der Geschäftsführung kaum attraktiv war. Dies beruhte auf mehreren Gründen: Die Geschäftsführer mussten bei Anträgen wegen drohender Zahlungsunfähigkeit immer fürchten, sich gleichsam selbst zu entmachten, denn zwar konnte mit dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung verbunden werden, eine bedingte Antragstellung (Insolvenzantrag bedingt für den Fall der Anordnung der Eigenverwaltung) war jedoch nach h.M. nicht zulässig1. Daher liefen die Geschäftsführer Gefahr, dass das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter eingesetzt wurde, wodurch sie von der Unternehmensführung ausgeschlossen waren. Selbst wenn das Gericht eine Eigenverwaltung für denkbar hielt, drohte jedenfalls ein Kontrollverlust für die Zeit des Eröffnungsverfahrens, da die InsO bis zum ESUG die vorläufige Eigenverwaltung nicht vorsah, so dass die Gefahr bestand, dass ein vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt wurde. Entscheidend für die Unattraktivität der frühzeitigen Einleitung des Insolvenzverfahrens war schließlich die Stigmatisierung des Insolvenzverfahrens. Schon die Insolvenzantragstellung belastet die Geschäftsbeziehungen des Unternehmens so erheblich, dass sich viele Lieferanten und Kunden von dem Unternehmen abwenden, so dass allein hierdurch oft Sanierungschancen vereitelt werden.

14.64

Jedenfalls zum Teil wurden diese Effekte mit dem ESUG beseitigt oder jedenfalls gelindert: Zu nennen ist zunächst § 270c Abs. 5 InsO (§ 270a Abs. 2 InsO a.F.): „Hat der Schuldner den Eröffnungsantrag bei drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt und die Eigenverwaltung beantragt, sieht das Gericht jedoch die Voraussetzungen der Eigenverwaltung als nicht gegeben an, so hat es seine Bedenken dem Schuldner mitzuteilen und diesem Gelegenheit zu geben, den Eröffnungsantrag vor der Entscheidung über die Eröffnung zurückzunehmen.“

Ob diese Brücke allerdings wirklich eine Rückzugsmöglichkeit eröffnet, ist zweifelhaft. Denn wenn nach Stellung des Insolvenzantrags Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit eingetreten sind – und das dürfte nicht selten der Fall sein –, so ist der Schuldner nach § 15a InsO zur Antragstellung verpflichtet, so dass eine Rücknahme des Antrags automatisch eine Insolvenzverschleppung wäre2.

14.65

Durch die Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung schon im Eröffnungsverfahren, deren Voraussetzungen durch das SanInsFoG in §§ 270b ff. InsO neu geordnet und geschärft wurden, können die Gläubigerinteressen auch schon im Eröffnungsverfahren geschützt werden, ohne dass die Geschäftsführung fürchten muss, die Führung des Unternehmens aus der Hand zu geben. Auch baut die Regelung das Insolvenzstigma (ein wenig) ab, denn das Unternehmen bleibt nun aus der Sicht Dritter „in derselben Hand“. Die Geschäftspartner sehen sich nicht plötzlich einem (vorläufigen) Insolvenzverwalter gegenüber, so dass sie eher geneigt sein dürften, die Geschäftsbeziehung fortzusetzen. 1 Wittig/Tetzlaff in Münchener Kommentar zur InsO, 2. Aufl. 2008, § 270 InsO Rz. 17; Haas in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 85 Rz. 14; Schlegel, ZIP 1999, 954, 956 f. 2 Hölzle, NZI 2011, 124, 130; Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337, 1343.

558 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.69 § 14

Zur Frage der Planbarkeit des Verfahrens aus der Sicht der Gesellschafter und der Geschäftsführung sendet das ESUG widersprüchliche Signale. Einerseits stellt es in § 270d InsO (§ 270b InsO a.F.) ein Verfahren zur Vorbereitung einer Sanierung zur Verfügung (sog. Schutzschirmverfahren), das nur bei Überschuldung oder drohender Zahlungsunfähigkeit statthaft ist. Im Rahmen dieses Verfahrens wird vom Insolvenzgericht eine Frist angeordnet, während der die Geschäftsführung einen Insolvenzplan ausarbeiten kann und dabei weder Vollstreckungen noch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder die Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters fürchten muss (zum Schutzschirmverfahren im Einzelnen Rz. 35.101 ff.). Andererseits hat das ESUG aber auch die Gläubigerautonomie gestärkt und das Handlungsinstrumentarium sogar noch erheblich erweitert, indem es in § 225a InsO die Möglichkeit geschaffen hat, in die Stellung der Gesellschafter auch gegen deren Willen einzugreifen. Es ist bei allem „rechtspolitischen Gesäusel“1 für die Gesellschafter nicht attraktiv, ein Verfahren einzuleiten, in dem sie gegen ihren Willen ihre Anteile verlieren können2. Der Spagat, den das ESUG zwischen Schuldnerfreundlichkeit einerseits und Gläubigerautonomie mit der Möglichkeit des Eingriffs in Gesellschafterrechte andererseits versucht hat, musste misslingen. Insofern ist es nicht überraschend, dass sich auch nach dem ESUG nur ganz vereinzelt Gesellschafter „freiwillig“ für die Stellung eines (auf drohende Zahlungsunfähigkeit gestützten) Insolvenzantrags entschieden haben. Einzelne, besonders publikumswirksame Fälle – wie z.B. die Insolvenz der Suhrkamp Verlag GmbH & Co. KG – belegen nicht das Gegenteil, sondern zeigen eher, welche neuen Probleme das ESUG im Hinblick auf Instrumentalisierungsmöglichkeiten durch Gesellschafter oder Dritte geschaffen hat3.

14.66

b) Chancen und Risiken eines Eigenantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit Zwar hat der Gesetzgeber mit dem SanInsFOG in § 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG ausdrücklich klargestellt, dass die Geschäftsführer in der Krise eine Sanierungs- bzw. Solvenzsicherungspflicht trifft4. Um dieser Pflicht zu genügen, können die Geschäftsführer zwar auch den Weg ins Insolvenzverfahren wählen, doch meist wird es jedenfalls aus Sicht der Gesellschafter in einer reaktionsbedürftigen Situation attraktiver sein, die Sanierung außergerichtlich zu versuchen oder die Instrumente des StaRUG zu nutzen.

14.67

Welcher dieser Wege aus der Krise gewählt wird, ist eine Entscheidung, die grundsätzlich den Gesellschaftern obliegt. Die Geschäftsführer müssen daher vor Einleitung eines Restrukturierungs- oder Insolvenzverfahrens einen entsprechenden Beschluss der Gesellschafter herbeiführen (Einzelheiten bei Rz. 10.43 ff.).

14.68

Strategisch sinnvoll ist die Antragstellung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit (oder Überschuldung) seit dem StaRUG allenfalls dann, wenn die Sanierung nur unter Zuhilfenahme der Insolvenzgeldvorfinanzierung gelingen kann oder wenn Eingriffe in laufende Vertragsverhältnisse (Mietverträge etc.) zur Sanierung erforderlich sind, die das StaRUG nicht ermöglicht5. In solchen Situationen sollte überlegt werden, das Schutzschirmverfahren zu nutzen. Das Schutzschirmverfahren ist nicht nur mit einem im Vergleich zum Regelinsolvenzverfahren geringeren Maß an Reputationsverlust für das Unternehmen verbunden, dieses Verfahren ist aus Sicht

14.69

1 2 3 4 5

Karsten Schmidt, ZIP 2012, 2085, 2087. Ebenso Wertenbruch in Westermann/Wertenbruch, Handbuch Personengesellschaften, Rz. I 1846. Eidenmüller, ZIP 2014, 1197; Brinkmann, ZIP 2014, 197. Brinkmann, KTS 2021, 303. Dazu Bork, ZRI 2021, 345 ff.

Brinkmann | 559

§ 14 Rz. 14.69 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

der Gesellschafter vor allem besser planbar, weil das Insolvenzgericht regelmäßig die vom Schuldner benannte Person als vorläufigen Sachwalter ernennen wird (§ 270d Abs. 2 InsO). Auch bei einem Schutzschirmverfahren ist aber nicht gewährleistet, dass die Gläubiger tatsächlich den vom Schuldner erarbeiteten Insolvenzplan annehmen. Es bleibt die Gefahr, dass die Gläubiger im eröffneten Verfahren einen Insolvenzplan beschließen, der einen vollständigen Verlust der Geschäftsanteile der Altgesellschafter vorsieht1.

14.70

Vor diesem Hintergrund wird eine Antragstellung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit nur dann ratsam sein, wenn die Gesellschafter mit den Gläubigern verlässliche Absprachen über das Vorgehen nach Antragstellung getroffen haben. Dies setzt eine transparente Informationspolitik und Verhandlungsführung voraus, die den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Gesellschaftern und Gläubigern ermöglicht.

14.71–14.100 Einstweilen frei.

IV. Überschuldung 1. Rechtspolitische Bedeutung 14.101

a) Die rechtspolitische Bedeutung des Insolvenzgrunds Überschuldung ist größer als seine rechtspraktische2. Der Akzent des § 19 InsO in rechtspraktischer wie auch rechtspolitischer Hinsicht liegt nicht bei der gerichtlichen Prüfung gestellter Insolvenzeröffnungsanträge und voraussichtlich auch nicht bei Einstellungsentscheidungen nach § 35 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG, sondern bei den Selbstprüfungspflichten von Geschäftsführern und Liquidatoren (Rz. 3.1, 14.102). Überschuldung tritt typischerweise – keineswegs notwendigerweise! – vor der Zahlungsunfähigkeit ein und markiert die materielle Insolvenz der GmbH bzw. GmbH & Co. KG. Illiquiditätsinsolvenzen lassen häufig auf eine schon länger eingetretene Überschuldung schließen. Mit dem Eintritt der Überschuldung verwandelt sich die schon zuvor bestehende Solvenzsicherungspflicht der Organe (§ 1 Abs. 1 Satz 2 StaRUG) in eine Insolvenzantragspflicht (Rz. 38.1 ff.). Anders gewendet: Mit Eintritt der Überschuldung setzt typischerweise die Insolvenzantragspflicht ein (bzw. die Anzeigepflicht nach §§ 31, 42 StaRUG) und mit der Unternehmensfortführung trotz Überschuldung beginnt in der Mehrzahl der Haftungsfälle die Insolvenzverschleppungsphase, also das Wrongful Trading deutschen Rechts (Rz. 38.3). Das ist, weil der präzise Eintritt der Überschuldung i.d.R. nicht feststellbar ist (Rz. 14.124), vor allem im Hinblick auf das Geschäftsführerrisiko bedenklich, aber gewollt. Rechtspolitischer Sinn des Überschuldungstatbestands ist eine – obligatorische! – Vorverlegung des Insolvenzverfahrens vor den leichter erkennbaren Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit3. Hierauf beruht auch der unvermeidliche Prognosecharakter jeder Überschuldungsprüfung (dazu sogleich Rz. 14.108 ff., 14.157)4. Die Überschuldungsprüfung ist zwar nach dem Konzept des § 19 Abs. 2 InsO eine zeitpunktbezogene Vermögensbetrachtung, aber sie enthält in Gestalt der Fortführungsprognose ein dynamisches Element5, wie die Neufassung noch deutlicher macht, indem sie eine Prognose für die nächsten 12 Monate verlangt.

1 2 3 4 5

Geißler, ZInsO 2013, 919. Zur praktischen Bedeutung der Überschuldung Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 41. Karsten Schmidt, JZ 1982, 165, 168. Rechtsvergleichend Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2011, S. 105 ff. Rechtsvergleichend Steffek, Gläubigerschutz in der Kapitalgesellschaft, 2011, S. 96 ff.

560 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.104 § 14

b) Die Überschuldungsprüfung kommt im Wesentlichen in vier Situationen in Betracht (Rz. 14.122 ff.): (1.) bei der Selbstprüfung der Fortführungsfähigkeit der Gesellschaft seitens der Geschäftsführer und ihrer Berater, (2.) im StaRUG-Verfahren als Beendigungsgrund gemäß § 35 Abs. 2 Nr. 1 StaRUG, (3.) im Eröffnungsverfahren nach §§ 16, 19, 27 InsO sowie (4.) nachträglich in Zivil- oder Strafprozessen, insbesondere bei der Prüfung, ob und ab welchem Zeitpunkt Insolvenzverschleppung vorlag, also gegen § 15a InsO verstoßen wurde. Die Kommentarliteratur zu § 19 InsO nimmt, ebenso wie der Gesetzgeber, den Überschuldungstatbestand in erster Linie als Eröffnungsgrund für ein Insolvenzverfahren wahr, geht also von der Prüfung im Eröffnungsverfahren aus (dazu auch Rz. 15.56 ff.). Das ist juristisch nachzuvollziehen, weil ohne Insolvenzgrund kein Insolvenzverfahren eröffnet wird (§ 16 InsO). Der auf das Eröffnungsverfahren gerichtete Blick trifft aber die faktische Bedeutung des Überschuldungstatbestands nur teilweise (vgl. schon Rz. 14.1 ff.), denn die praktische Hauptbedeutung des Überschuldungstatbestands liegt nicht in der Befugnis des Gerichts, einen Eröffnungsbeschluss nach § 27 InsO zu erlassen, sondern in der Selbstprüfungspflicht der Geschäftsführer (Rz. 3.1 ff., 14.2 ff.), im Verbot der Insolvenzverschleppung (Rz. 38.1 ff.) und in den Insolvenzverschleppungssanktionen (Rz. 38.3 ff.)1. M.a.W.: Der Überschuldungstatbestand beschäftigt Geschäftsführer, Zivilgerichte und Strafgerichte weitaus mehr als Restrukturierungs- und Insolvenzgerichte (Rz. 14.2). Im Vordergrund steht der Geschäftsführer. An ihn ist das Insolvenzverschleppungsverbot (§ 15a InsO) gerichtet. Ihm obliegt die kontinuierliche Aufgabe der Selbstprüfung im Sinne der Solvenzüberwachung2 und ggf. der Überschuldungsprüfung. Die Anwendung des § 19 InsO in Zivil- und Strafprozessen besteht ihrerseits in nichts als der nachträglichen Prüfung, ob der Geschäftsführer den § 19 InsO richtig geprüft hat und seinen Pflichten aus § 15a InsO nachgekommen ist. Auf ihn müssen wir deshalb zuallererst blicken (vgl. auch Rz. 14.2 ff., 14.126).

14.102

c) Das rechtspraktische und zugleich rechtspolitische Hauptproblem der Überschuldungsprüfung wird mit Recht in einem Dilemma zwischen dem rechtlichen Gebot der Justiziabilität und der betriebswirtschaftlich unvermeidlichen Antizipation der Solvenzsituation gesehen3. Das prognostische Element jeder Überschuldungsfeststellung (Rz. 14.105) stellt die Gerichte vor die Aufgabe, den Überschuldungstatbestand manipulationsimmun und objektivierbar anzuwenden4, und zwar auch in der Rückschau auf die Krise. Von nichts anderem handelt der Streit um den richtigen „Überschuldungsbegriff“.

14.103

2. Der „Überschuldungsbegriff“ und § 19 Abs. 2 InsO: Kontinuität oder Rechtsänderung in der Methode der Überschuldungsprüfung? a) Der „Überschuldungsbegriff“ ist seit langer Zeit umstritten (zur Überschuldungsfeststellung vgl. Rz. 14.122 ff.). Bereits § 63 GmbHG a.F. verwendete den Begriff, jedoch ohne die Überschuldung zu definieren. Eine ältere Fassung des inzwischen weggefallenen § 64 Abs. 1 Satz 2 GmbHG sprach von dem Fall, dass „das Vermögen der Gesellschaft nicht mehr die Schulden deckt“. Die ausufernde Diskussion um den Überschuldungsbegriff und seine Änderungen soll hier nicht um ihrer selbst willen wiederholt werden5. Aber die Eckdaten bleiben für das Verständnis von Aufgabe, Methode und Schwierigkeit der Überschuldungsprüfung be1 2 3 4 5

Vgl. Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 56 f. Brinkmann, KTS 2021, 303. Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 56 f. Drukarczyk/Schüler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 2 Rz. 74. Zusammenfassend Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 24 ff.; Karsten Schmidt, DB 2008, 2467 ff. und Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485 ff.

Brinkmann | 561

14.104

§ 14 Rz. 14.104 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

deutsam. Die Kernfrage des Überschuldungstatbestands besteht im Verhältnis zwischen der rein bilanziellen und der prognostischen Überschuldungsfeststellung.

14.105

Weitgehend einig ist man sich darüber, dass der Überschuldungsbegriff bilanzielle (statische) und prognostische (dynamische) Merkmale enthält1. Was wirklich umstritten ist, ist die Prüfungsmethode, nicht ein bloßer „Begriff“. Ausgangspunkt war zunächst der „alte“ (rein bilanziell konzipierte) Überschuldungsbegriff: Als überschuldet galt die Gesellschaft, wenn ihr Vermögen die Schulden nicht deckte, doch wurde bei der Aktivenbewertung zwischen fortführungsfähigen und fortführungsunfähigen Unternehmen unterschieden2. Diese Methode war von wirtschaftswissenschaftlicher Seite her als inversiv gebrandmarkt worden, weil sie die rechtliche Fortsetzungswürdigkeit an die Prognose und damit an die Fortsetzungsfähigkeit anknüpfte3. Die kritische Frage lautete: Darf das Recht die Zulässigkeit der Fortsetzung eines Unternehmens von der Prognose seines Fortbestands abhängig machen? Karsten Schmidt hatte, bei dieser Kritik anknüpfend, genau diese inversive Methode zum Prinzip und die Prognose zu einem eigenständigen Schritt der Überschuldungsprüfung neben der auf Liquidationswerten aufbauenden Überschuldungsmessung erklärt4.

14.106

b) So entstand ein „neuer“ zweistufiger Überschuldungsbegriff5. Diese Methode der Überschuldungsprüfung war ein Bekenntnis zum dominierenden Wert der Prognoseentscheidung. Der Bundesgerichtshof hatte sich unter der Geltung des alten Konkurs- und Vergleichsrechts diesem „neuen zweistufigen Überschuldungsbegriff“ angeschlossen. Nach dieser Rechtsprechung sollte Überschuldung einer Kapitalgesellschaft grundsätzlich dann – und nur dann – vorliegen6, – „wenn das Vermögen der Gesellschaft bei Ansatz von Liquidationswerten die bestehenden Verbindlichkeiten nicht decken würde (rechnerische Überschuldung) und – die Finanzkraft der Gesellschaft mittelfristig nicht zur Fortführung ausreicht (Überlebensoder Fortbestehensprognose)“. Das Ergebnis entsprach – abgesehen von der mit dem SanInsFoG eingeführten Begrenzung des Prognosezeitraums auf zwölf Monate – dem heute geltenden § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

1 Gegen jede Prognose Wackerbarth, NZI 2009, 145 ff.; dazu aber Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 489. 2 Angaben bei Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 29 ff. 3 Egner/Wolf, AG 1978, 99 ff. 4 Vgl. Karsten Schmidt, AG 1978, 334 ff.; zur Weiterentwicklung Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 46 ff. 5 Eingehend Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 37 ff.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 5. 6 BGH v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 214 = GmbHR 1992, 659, 662 f.; BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 199 = GmbHR 1994, 539, 545; BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 154 = AG 1995, 368 = GmbHR 1995, 665 (LS); BGH v. 2.12.1996 – II ZR 243/95, NJW-RR 1997, 606, 607 = GmbHR 1997, 501, 503; BGH v. 16.6.1997 – II ZR 154/96, GmbHR 1997, 793, 794; BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, ZIP 1998, 776, 778 = GmbHR 1998, 594, 596; zusammenfassend Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, 17. Aufl., § 102 KO Anm. 2b; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 3; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 18 f.

562 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.111 § 14

Dieser „zweistufige Überschuldungsbegriff sollte den Geschäftsführer nicht in den Stand versetzen, eine rechnerisch überschuldete Gesellschaft auf Grund von Phantasieprognosen ohne Rechtsbruch fortzusetzen. Zugrunde lag die einfache rechtspolitische Überlegung, dass ein Unternehmen, das jetzt und in absehbarer Zukunft seine Verbindlichkeiten bedienen kann, nicht vom Gesetz in ein Insolvenzverfahren gezwungen werden soll. Gleichzeitig sollte die unvermeidliche Prognose aus ihrem Versteck in den Bewertungsprämissen der Überschuldungsbilanz herausgeholt und die Überschuldungsmessung vom falschen Anschein einer präzis lösbaren Rechenaufgabe befreit werden1.

14.107

Hieraus ergaben sich folgende Eckdaten für die Abgrenzung erlaubter und unerlaubter Unternehmensfortführung (vgl. auch Rz. 3.1 ff.)2:

14.108

– Wenn bei Zugrundelegung von Liquidationswerten alle Gläubiger befriedigt werden können, kann die Fortführung des Unternehmens vernünftigerweise nicht verboten, eine Überschuldung im Rechtssinne also nicht eingetreten sein (hierauf beruht das Element der rechnerischen Überschuldung). – Wenn die Gesellschaft nach objektivierbarer Prognose auf absehbare Zeit zahlungsfähig bleibt, kann die Fortführung gleichfalls nicht untersagt, ein Insolvenzantrag also nicht gesetzlich geboten, eine Überschuldung im Rechtssinne also nicht eingetreten sein (hierauf beruht das Prognoseelement).

Der Hauptunterschied gegenüber dem „alten“ Überschuldungsbegriff besteht darin, dass die Prognose der Unternehmensfortführung nicht mehr als bloße Bewertungsprämisse in der rechnerischen Überschuldungsfeststellung aufgeht, sondern von dieser getrennt wird (hierauf beruht die Zweiteiligkeit dieses Überschuldungsbegriffs). Aus der Sicht des Geschäftsführers drehte sich die vom BGH verwendete Formel um: Solange entweder jeder Gläubiger sogar unter Liquidationsbedingungen voll befriedigt werden oder der Eintritt von Zahlungsunfähigkeit als auf absehbare Zeit unwahrscheinlich gelten konnte, musste ein Insolvenzantrag nicht gestellt werden. In diesem Sinne entschied das OLG Hamburg im Jahr 20033: „Eine Überschuldungsbilanz muss nicht aufgestellt werden, wenn die Fortführung des Unternehmens ... ohne Eintritt der Zahlungsunfähigkeit überwiegend wahrscheinlich ist.“ Es versteht sich, dass eine solche Prognose objektivierbar und in der Nähe der Krise auch durch Finanzpläne belegt sein musste (vgl. dazu Rz. 14.160). Auch konnte eine positive Prognose nur auf die Wirtschaftskraft der Gesellschaft aus eigener Kraft, ggf. auch auf ein realisierbares Sanierungskonzept gestützt werden, nicht auf die bloße Erwartung von Sanierungshilfen seitens der Gläubiger4.

14.109

c) Die Insolvenzordnung definierte den Überschuldungsbegriff in der bis 2008 geltenden Fassung wieder anders, nämlich folgendermaßen (§ 19 Abs. 2 InsO a.F.):

14.110

„Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.“

Dies war eine planvolle Rückkehr zum „alten Überschuldungsbegriff“. Schon die Regierungsbegründung der Insolvenzordnung hatte sich mit diesem Überschuldungsbegriff aus1 2 3 4

Karsten Schmidt, AG 1978, 334, 338; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 50. Vgl. Karsten Schmidt, JZ 1982, 167 ff.; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 46 ff. OLG Hamburg v. 20.3.2003 – 10 U 37/02, GmbHR 2003, 587. BGH v. 23.2.2004 – II ZR 207/01, GmbHR 2004, 898 = ZIP 2004, 1049.

Brinkmann | 563

14.111

§ 14 Rz. 14.111 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

drücklich gegen die „neue zweistufige Methode“ gewandt1: „Die Feststellung, ob Überschuldung vorliegt oder nicht, kann ... stets nur auf der Grundlage einer Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden getroffen werden.“ Und zur Aktivenbewertung: „Betreibt der Schuldner ein Unternehmen, so dürfen nur dann Fortführungswerte angesetzt werden, wenn die Fortführung des Unternehmens beabsichtigt ist und das Unternehmen wirtschaftlich lebensfähig erscheint ...“ Sachlich übereinstimmend meinte der Rechtsausschuss2, „dass auch bei einer positiven Prognose für die Fortführung des Unternehmens nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass Überschuldung vorliegt. Allerdings ist bei einer solchen positiven Prognose das Vermögen mit Fortführungswerten anzusetzen. Dies wird häufig dazu führen, dass der Wert des Vermögens die Summe der Verbindlichkeiten übersteigt.“ Und sodann: „Der Ausschuss weicht damit entschieden von der Auffassung ab, die in der Literatur vordringt und der sich kürzlich auch der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGH v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 214 = GmbHR 1992, 659, 662 f.). Wenn eine positive Prognose stets zu einer Verneinung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – als falsch erweist.“

14.112

Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags hat die ursprüngliche Fassung sodann um den zweiten Satz ergänzt, wonach auch bei einer positiven Prognose für die Fortführung des Unternehmens nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass eine Überschuldung vorliegt. Die Fortbestehensprognose blieb damit, wie nach dem bis vor dreißig Jahren vorherrschenden „alten zweistufigen Überschuldungsbegriff“, nur eine Vorgabe bei der Aktivenbewertung.

14.113

Die auf die Zeit von 1999 bis 2008 bezogene Gerichtspraxis blieb zunächst unklar3. Im Urteil vom 5.2.2007 hatte der BGH dann entschieden4: „Mit der Neufassung des Überschuldungstatbestands in § 19 Abs. 2 InsO ist für das neue Recht der zur Konkursordnung ergangenen Rspr. des Senats zum sog. ‚zweistufigen Überschuldungsbegriff ‘ (BGH v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 214 = GmbHR 1992) die Grundlage entzogen.“ Das Urteil vom 5.2.2007 hat damit bekräftigt, dass die Fortführungsprognose allein keine Unternehmensfortführung mehr rechtfertigen konnte. Hinzu kam ein damals als elementar eingeschätzter Streit, ob nun die Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO „einstufig“, „zweistufig“ oder „dreistufig“ sei. Die vor allem vom Institut der Wirtschaftsprüfer empfohlene5 „dreistufige Methode“ begann mit der Überschuldungsbilanz nach Liquidationswerten (erste Stufe), korrigierte im Fall eines auf Überschuldung lautenden Ergebnisses die Aktiva unter der Fortführungsprognose (zweite Stufe) und schloss hieran die endgültige bilanzielle Überschuldungsmessung an (dritte Stufe). Ein Sachunterschied zwischen diesen Methoden war indes nicht zu erkennen.

1 BT-Drucks. 12/2443, S. 115, zu § 23 RegE-InsO. 2 BT-Drucks. 12/7302, S. 157, zu § 23 Abs. 2 RegE-InsO. 3 Vgl. für Altfälle BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 199 = GmbHR 1994, 539, 545; BGH v. 2.12.1996 – II ZR 243/95, GmbHR 1997, 501, 503; BGH v. 16.6.1997 – II ZR 154/96, GmbHR 1997, 793, 794; BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, ZIP 1998, 776, 778 = GmbHR 1998, 594, 596. 4 BGH v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 = LMK 2007, I 98 m. Anm. Eilmann = DZWiR 2007, 337 m. Anm. Böcker = EWiR 2007, 305 m. Anm. Haas = GmbHR 2007, 482; dazu statt vieler Gehrlein, BB 2007, 901; Poertzgen, GmbHR 2007, 485. 5 IdW, WPg 1997, 22 ff.

564 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.117a § 14

14.114

d) Im Jahr 2008 folgten zwei weitere Änderungen1: – Zunächst sollte nach dem MoMiG § 19 Abs. 2 InsO um folgenden Satz 3 erweitert werden, der als Satz 2 am 1.11.2008 in Kraft getreten ist: „Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen oder aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, für die gemäß § 39 Abs. 2 zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren hinter den in § 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Forderungen vereinbart worden ist, sind nicht bei den Verbindlichkeiten nach Satz 1 zu berücksichtigen.“

– Gegenüber dieser Regelung drängte sich dann aber das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, in Kraft getreten am 18.10.2008, vor2 und wechselte die Sätze 1–2 des § 19 Abs. 2 InsO gegen folgenden neuen Satz 1 aus: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“

Man hatte dies als eine Rückkehr zum „neuen“ (durch § 19 Abs. 2 InsO zwischenzeitlich „abgeschafften“) zweistufigen Überschuldungsbegriff zu verstehen3.

14.115

e) Diese zunächst nur für die Dauer der Finanzkrise formulierte Aussetzung des „alten“, rein bilanziellen Überschuldungstatbestands4 wurde durch das Gesetz vom 5.12.2012 entfristet, der „neue“ Überschuldungstatbestand also verstetigt5.

14.116

f) Die (vorläufig?) letzte Modifikation des § 19 InsO fand im Jahr 2020 im Rahmen des SanInsFoG, in Kraft getreten am 1.1.2021, statt. Durch eine Ergänzung in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO hat der Gesetzgeber den Prognosezeitraum auf 12 Monate begrenzt. Hierdurch sollte vor allem dem Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit ein eigenständiger Anwendungsbereich verschafft werden (zur Abgrenzung der Überschuldung von der drohenden Zahlungsunfähigkeit Rz. 10.10 ff.), wodurch den Unternehmen ein Restrukturierungsfenster, während dessen keine Insolvenzantragspflicht besteht, eröffnet wurde.

14.117

g) Eine nur vorübergehende und nicht an § 19 InsO selbst vorgenommene Anpassung des Überschuldungstatbestands ist als Reaktion auf die plötzliche Steigerung und erhöhte Volatilität der Energiepreise infolge des Ukraine-Kriegs vom Bundestag am 20.10.2022 verabschiedet worden. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 des aus dem CovInsAG hervorgegangenen SanInsKG (Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen) wird bis zum 31.12.2023 eine Verkürzung des Prognosezeitraums in § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO von zwölf auf vier Monate angeordnet, wie sie bereits § 4 Satz 1 CovInsAG für das Jahr 2021 regelte. Diese Maßnahme soll verhindern, dass Geschäftsleiter „im Kern gesunder Unternehmen“ angesichts der Prognoseunsicherheiten einen Insolvenzantrag stellen, um eine Haftung zu vermeiden. Ferner sieht das SanInsKG vor, dass die Insolvenzantragsfrist bei Überschuldung auf acht Wochen verlängert wird und die Zeiträume in § 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO und § 50 Abs. 2 Nr. 2 StaRUG auf vier Monate verkürzt werden.

14.117a

1 Eingehend Karsten Schmidt, DB 2008, 2567 ff.; Boecker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289 ff. 2 Gesetz vom 17.10.2008, BGBl. I 2008, 1982. 3 Karsten Schmidt, DB 2008, 2567, 2469; krit. Drukarczyk/Schüler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 2 Rz. 111; Haas, DB Status: Recht 2008, 359 ff.; Boecker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289, 1293 f. 4 Befristung zunächst bis zum 31.12.2010, dann bis zum 31.12.2013; vgl. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 5. 5 Gesetz vom 5.12.2012 (BGBl. I 2012, 2418).

Brinkmann | 565

§ 14 Rz. 14.118 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

3. Geltender Rechtszustand und rechtspolitische Beurteilung 14.118

a) Seit 2021 gilt nach alledem die folgende Fassung des § 19 Abs. 2 InsO: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Forderungen auf Rückgewähr von Gesellschafterdarlehen oder aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, für die gemäß § 39 Abs. 2 zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren hinter den in § 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Forderungen vereinbart worden ist, sind nicht bei den Verbindlichkeiten nach Satz 1 zu berücksichtigen.“

14.119

b) Rechtspolitisch stellt die wiederholte Änderung des – immerhin unter Straf- und Schadensersatzsanktion stehenden! – Überschuldungstatbestands dem Gesetzgeber ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Die Ausgangsfassung des § 19 Abs. 2 InsO (Rz. 14.110) basierte auf Missverständnissen über die bereits dem jetzigen Rechtszustand entsprechende BGH-Praxis zum „neuen zweistufigen Überschuldungsbegriff“1. Die Neufassung durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz wurde in einer Weise begründet, als wollte man während der im Herbst 2008 einsetzenden Finanzkrise den überschuldeten (Bank-)Unternehmen mit einem gesetzlichen Trick gestatten, auf Kosten der Gläubiger weiterzumachen2. Das war nicht zielführend. Angemessenes Ziel der Gesetzgebungsarbeit ist es nicht, den gerade einmal zur politischen Situation passenden, sondern den „richtigen“ Überschuldungstatbestand zu formulieren. Dieser Tatbestand muss die Methode der Überschuldungsprüfung beschreiben. Dass der Überschuldungstatbestand trotz aller Schwierigkeiten nicht vollständig abgeschafft wurde – auch diese Stimmen gab und gibt es – ist gleichwohl zu begrüßen. Als Korrelat der beschränkten Haftung ist er unverzichtbar.

4. Praxisfolgen für die Selbstprüfung der Geschäftsführer 14.120

Das Hauptproblem bei der Überschuldungsprüfung nach § 19 Abs. 2 InsO liegt darin, wie die Fortführungsprognose erstellt werden soll, sowie darin, unter welchen Voraussetzungen noch eine bilanzielle Überschuldungsprüfung und evtl. ein Rangrücktritt nach § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO ratsam ist. Es wird darauf ankommen, welches Merkmal leichter mit objektiver Überzeugungskraft geprüft werden kann. Die Feststellung der Überschuldung im Einzelfall wird bei Rz. 14.122 ff., 14.138 ff. näher behandelt.

14.121

Das Verfahren des Geschäftsführers bei der Überschuldungsprüfung wird sich typischerweise folgendermaßen gestalten3: – Regelmäßig steht eine kursorische Prognoseprüfung am Anfang4. Steht die Fortsetzungsfähigkeit außer Zweifel, aber nur in diesem Fall, kann eine bilanzielle Überschuldungsmessung entfallen. Diese Prognose zielt nicht einfach auf die Ausschließung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit. Es geht im Wesentlichen um die Ertragskraft auf der Basis von cash1 Vgl. 4. Aufl. Rz. 5.71. 2 Begr. RegE, BT-Drucks. 16/10600, S. 21; vgl. zur anfangs beabsichtigten Rückkehr zum „alten“ Tatbestand nach Überwindung der Finanzkrise die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/10651 unter III; krit. dazu Boecker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289, 1293 f. 3 Dazu eingehend Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 48 ff.; Harz/Baumgartner/Conrad, ZInsO 2005, 1304, 1308 f. 4 Vgl. Hess, § 19 InsO Rz. 25; Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 50; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 50.

566 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.123 § 14

flow-Informationen1. In einer ernsthaften Unternehmenskrise wird dagegen der Vorrang der Prognose – positive Prognose verdrängt bilanzielle Überschuldungsprüfung – zu bloßer Theorie, weil eine gerichtsfeste Prognose in der Krise ohne Grundlage in einem Vermögensstatus kaum möglich ist. Grundregel für die Überschuldungsprüfung in der Krise ist deshalb2: Keine Prognoseprüfung ohne Überschuldungsstatus (str.; vgl. auch Rz. 14.133)!

– Im Zweifelsfall wird ein Überschuldungsstatus aufgestellt. Darin sind auch nachrangige Verbindlichkeiten nach § 39 Abs. 1 InsO zu passivieren, nicht allerdings Verbindlichkeiten mit Rangrücktrittsvereinbarung nach § 39 Abs. 2 InsO (Rz. 14.147). – Bei Gesellschafterkrediten sind Rangrücktrittsvereinbarungen vor jeder Überschuldungsprüfung ratsam (vgl. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO; dazu Rz. 14.154). Es wäre in einer Krise des Unternehmens kurzsichtig, hierauf nur im Hinblick auf eine positive Prognose zu verzichten. – Lässt sich ohne Weiteres feststellen, dass die Gesellschaft selbst aus einem Zerschlagungserlös die Verbindlichkeiten begleichen könnte (ein seltener Fall!), so kann es der Geschäftsführer bei dieser – zweckmäßigerweise zu dokumentierenden – Feststellung belassen. Es gibt also sub specie § 19 Abs. 2 InsO keinen ausnahmslosen Zwang zur prognostischen Liquiditätsplanung.

5. Feststellung der Überschuldung a) Die Aufgabe aa) Unterschiedliche Prüfungsanlässe Die Kriterien der Überschuldung sind, unabhängig vom Prüfungsanlass, von Rechts wegen immer dieselben. Die Art und Weise der Überschuldungsprüfung ist jedoch anlassbezogen und durchaus unterschiedlich. Es macht einen großen Unterschied, ob die Überschuldung (sogar bezogen auf ein und denselben Sachverhalt)

14.122

– im Eröffnungsverfahren, – im Zivil- oder Strafprozess wegen der Sanktionierung von Insolvenzverschleppungsdelikten (§ 15a InsO) oder verbotenen Zahlungen (§ 15b InsO, § 64 Satz 1 GmbHG a.F., § 130a Abs. 2 HGB a.F.) oder schließlich – durch die Geschäftsführung, durch ihre Berater und durch Wirtschaftsprüfer während der Krise sowie innerhalb eines Restrukturierungsverfahrens. geprüft wird (vgl. bereits Rz. 14.102). aaa) Die Prüfung im Eröffnungsverfahren, im Zivil- oder im Strafprozess ist jeweils eine gerichtsförmige Prüfung, und doch gibt es hier bereits beträchtliche Unterschiede. Die Prüfung im Eröffnungsverfahren ist eine Prüfung von Amts wegen (§ 5 Abs. 1 InsO)3, bezogen auf den Insolvenzgrund Überschuldung als Verfahrensauslöser4 im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung5. Die Prüfung ist damit gegenwartsbezogen („Überschuldung jetzt?“) und verfahrens1 Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 56 ff.; Harz/Baumgartner/ Conrad, ZInsO 2005, 1304, 1309. 2 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 15; Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 489. 3 Dazu etwa Vuia in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 13 Rz. 1 ff. 4 Vgl. Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 22 ff. 5 BGH v. 27.6.2006 – IX ZB 204/04, BGHZ 169, 17 = NZI 2006, 693 = ZIP 2006, 1957; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 16 InsO Rz. 16; h.M.; anders noch BGH v. 5.2.2004

Brinkmann | 567

14.123

§ 14 Rz. 14.123 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

bezogen („Insolvenzantrag begründet?“). Ungeachtet der Ansiedelung des § 19 InsO im Regelungsbereich der Verfahrenseröffnung macht aber die Feststellung der Überschuldung, ist erst einmal ein zulässiger Antrag gestellt, hergebrachterweise die geringsten Schwierigkeiten, weil die negative Prognosewirkung des Insolvenzantrags selbst zum Überschuldungseintritt beiträgt. Das hat sich durch das ESUG nicht geändert und es ist erst recht nicht zu erwarten, dass das präventive Restrukturierungsverfahren der Überschuldung ihr Stigma nehmen wird.

14.124

bbb) Gleichfalls gerichtsförmig und rechtsfolgenbezogen, als Aufgabe aber doch andersartig ist die Prüfung im Zivil- oder Strafprozess aufgrund des Vorwurfs der Insolvenzverschleppung (bzw. verbotener Zahlungen), eventuell auch in Anfechtungsprozessen. Gemeinsam ist diesen Fällen die vergangenheitsbezogene Überschuldungsfeststellung mit der vieldiskutierten Gefahr eines gerichtlichen Rückschaufehlers (hindsight bias), weil die nach § 19 Abs. 2 InsO relevante Prognose ex post beurteilt werden muss. Gemeinsam ist diesen Verfahren auch die schwierige Prüfung nicht nur des Ob, sondern auch des Wann und Wielange der Überschuldung, also die Ermittlung der relevanten Überschuldungsperiode. Hierbei wiederum unterscheiden sich Strafprozess und Zivilprozess in ihren beweisrechtlichen Maximen: Amtsprüfung (Prinzip der „materiellen Wahrheit“) im Strafprozess vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung gegenüber dem Prinzip der „formellen Wahrheit“ mit Beweisführungslast und Beweislast im Zivilprozess (zur Beweislast vgl. Rz. 38.81 ff.)1.

14.125

ccc) Nur theoretisch hiermit vergleichbar ist die Feststellungsaufgabe der Unternehmensleitung und ihrer Berater während der Krise. Wie die Prüfung im Eröffnungsverfahren ist diese Feststellungsaufgabe gegenwartsbezogen. Der Unterschied gegenüber der gerichtlichen Feststellung liegt – in der Fragestellung (nicht die Überschuldung, sondern die Unternehmensfortführung ohne Insolvenzverschleppung bzw. Verletzung der Anzeigepflicht aus § 42 Abs. 1 Satz 2 StaRUG bestimmt die Prüfungsfrage, also die Klärung der Nicht-Überschuldung), – in der Anreizfunktion der Überschuldungsprüfung (bestehend z.B. im Bemühen um überschuldungsvermeidende Maßnahmen), – in der absoluten Formlosigkeit des bei der Selbstprüfung anzuwendenden Prüfungsverfahrens und doch auf der anderen Seite – in der für die Verwendung gegenüber Kontrollgremien und für den Fall eventueller Verschleppungsvorwürfe unerlässlichen Dokumentationsaufgabe.

14.126

Diesem dritten Bereich, also der rechtlich verantwortlichen Prüfung der Nicht-Überschuldung durch die Geschäftsleitung und ihre Berater, gebührt in diesem Werk der Vorrang. Charakteristisch ist der klare Gegenwartsbezug dieser Prüfung, durchmischt freilich mit Blicken in die Zukunft (wie lange kann ich ohne neuerliche Prüfung das Unternehmen fortsetzen? Kann ich noch ein präventives Restrukturierungsverfahren einleiten oder fortsetzen? Wie gerichtsfest ist mein Ergebnis im Fall künftiger Insolvenz?).

14.127

ddd) Die unterschiedliche Versuchsanordnung bei dieser unternehmerischen im Vergleich mit der gerichtlichen Überschuldungsprüfung besteht darin, dass das Gericht die bilanzielle Überschuldung feststellen und (!) eine positive Prognose ausschließen muss (vgl. § 19 Abs. 2 – IX FB 29/03, NZI 2004, 587; H.-F. Müller in Jaeger, § 16 InsO Rz. 16 (Zeitpunkt der letzten Tatsacheninstanz); krit. auch Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 16 InsO Rz. 7. 1 Dazu vgl. Rauscher in Münchener Kommentar zur ZPO, Einl. Rz. 361 ff.

568 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.129 § 14

InsO), während sich die unternehmerische Überschuldungsprüfung mit der Feststellung begnügen kann, ob – entweder eine bilanzielle Überschuldung ausgeschlossen – oder (!) eine positive Prognose angenommen werden kann. Hieraus ergibt sich, dass das Gesetz (für die Überschuldungsprüfung) keine feste Prüfungsreihenfolge vorschreibt1. Nur theoretisch ist allerdings daraus zu folgern, dass die Prüfungsreihenfolge im freien Belieben steht (vgl. Rz. 14.121). bb) Einstufige, zweistufige oder dreistufige Prüfung? Der Überschuldungstatbestand setzt sich aus unterschiedlichen Elementen und insofern zweistufig zusammen (Rz. 14.131 ff.). Richtig ist auch, wie bei jedem mehrgliedrigen Tatbestand, dass einmal der erste, dann wieder der zweite Tatbestandsteil vor dem jeweils anderen festgestellt ist. Auch hieraus ergibt sich aber kein schematisch vorgeschriebenes Prüfungsprogramm. Dass die Prüfung weder als eine zwingend in unterschiedliche Phasen aufgeteilte Prozedur abläuft noch im freien Belieben der Geschäftsführung steht, folgt aus drei ganz einfachen Überlegungen:

14.128

– Wenn das Prüfungsergebnis richtig (gewesen) ist, ist ganz ohne Belang, warum es richtig war, ob also die Nicht-Überschuldung auf der Bilanzebene oder auf der Prognoseebene ermittelt worden ist. – Wenn sich das Prüfungsergebnis später als unrichtig erweist, kommt es ganz wesentlich darauf an, ob die auf der einen oder (und) anderen Ebene vorgenommene Prüfung ausreichte. – Die im Prüfungszeitpunkt unvermeidbare Ungewissheit, ob das gegenwärtig für richtig gehaltene Prüfungsergebnis auch einer künftigen Prüfung ex post (insbesondere im Strafoder Haftungsprozess) standhalten wird, prägt die gegenwartsbezogene Prüfungsmethode: Ziel ist die Optimierung gegenwärtiger Richtigkeitserwartung und künftiger Gerichtsfestigkeit. Das bedeutet: Der kürzere und weniger aufwendige Weg zu einem Prüfungsergebnis ist nur der bessere, wenn und solange dies nicht auf Kosten der Gerichtsfestigkeit und der damit zusammenhängenden Sicherheit vor haftungsrechtlicher Inanspruchnahme geht. Für die Praxis ergibt sich hieraus, dass es darauf ankommt, wie die Prüfung möglichst rasch, möglichst kostensparend und möglichst gerichtsfest zum Prüfungsziel führt. Und weiter folgt hieraus, – dass eine bilanzielle Überschuldungsmessung, wenn sie die Nicht-Überschuldung zu belegen vermag, nur unter allgemeinen Governancegesichtspunkten (nicht wegen § 19 Abs. 2 InsO) durch Liquiditätspläne untermauert werden sollte und – dass eine prognostische Überschuldungsmessung um belastbar zu sein, auch durch einen Vermögensstatus unterlegt sein sollte (Rz. 14.121).

1 Vgl. statt vieler Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 41; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 14; a.A. Adolff in FS Hellwig, 2011, S. 433, 436 (Vorrang der bilanziellen Prüfung).

Brinkmann | 569

14.129

§ 14 Rz. 14.130 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

cc) IDW-Standard IDW S 11

14.130

Eine Hilfe bei der Selbstprüfung auf Überschuldung oder Nichtüberschuldung geben die IDW-Standards zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11)1, die in ihrer aktuellen Fassung auch die Änderungen durch das SanInsFoG berücksichtigen. aaa) Methodisches Vorgehen

14.131

Die IDW-Standards „Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11)“ gehen von den folgenden Grundsätzen aus: Regelmäßig erfordere die Überschuldungsprüfung ein zweistufiges Vorgehen, nämlich auf der ersten Stufe eine Fortbestehensprognose, im Fall einer negativen Prognose auf der zweiten Stufe eine bilanzielle Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden, aus der sich ggf. eine Überschuldung ergeben könne2. Die Häufigkeit, der Zeitpunkt, die Fortschreibung und der Detaillierungsgrad dieser Überschuldungsprüfung bestimmten sich nach dem Ausmaß und Stadium der Krise, was mit sich verschärfender Unternehmensgefährdung zu höheren Anforderungen auch an die Aktualisierung (die Standards sagen: „Fortschreibung“) der Überschuldungsprüfung führe3. Auf das zweistufige Verfahren könne verzichtet werden, wenn eine Überschuldung – gemeint offenbar: ungeachtet eingetretener und nicht beendeter Unternehmenskrise – aufgrund einfach zu beurteilender Sachverhalte ausgeschlossen werden kann (z.B. aufgrund von Bestandsgarantien im Konzern, Rangrücktritten oder stillen Reserven)4, was allerdings sorgfältig dokumentiert werden müsse5.

14.132

Stellungnahme: Der IDW-Standard IDW S 11 geht unausgesprochen, jedoch unverkennbar, von einer vorhandenen Krisensituation aus, deren Feststellung Resultat der ständigen Selbstprüfung („Solvenzüberwachungspflicht“, § 1 Abs. 1 Satz 1 StaRUG) seitens der Unternehmensleitung ist (Rz. 2.141, 12.1 ff.). Solange keinerlei Grund besteht, die Überschuldung zu prüfen, genügt diese allgemeine und generelle, durch Unternehmenskennzahlen belegbare Selbstprüfung, ohne dass über eine bestimmte Reihenfolge der Überschuldungsprüfung nachzudenken wäre6. Um eine Überschuldungsprüfung handelt es sich bei dieser Phase der kontinuierlichen Selbstprüfung nicht. Es gibt sie in jedem Unternehmen auch außerhalb einer Krisensituation.

14.133

Findet eine Überschuldungsprüfung statt, geht es also darum zu prüfen, ob die drohende Zahlungsunfähigkeit in eine Überschuldung umgeschlagen ist, so geht der IDW-Standard IDW S 11 davon aus, dass die Fortbestehensprognose die erste Stufe darstellt, der nur im Fall einer negativen Prognose eine bilanzielle Überschuldungsmessung zu folgen hat (Vorrang der Fortbestehensprognose)7. Dieser Versuchsanordnung wird in diesem Buch nicht gefolgt8. Der Grund liegt nicht in einem zwingenden Vorrang der bilanziellen Prüfung, sondern darin, dass eine belastbare Fortbestehensprognose – sofern im Einzelfall überhaupt erforderlich (Rz. 14.121) – in der Regel durch einen die bilanzielle Überschuldungsprüfung ausweisenden 1 Dazu ausführlich Lenger/Nachtsheim, NZI 2014, 992; Solmecke, DStR-Beih. 2014, 71; Steffan/Solmecke, WPg 2015, 429; Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 10. 2 IDW S 11 Rz. 53. 3 IDW S 11 Rz. 54. 4 IDW S 11 Rz. 55. 5 IDW S 11 Rz. 56. 6 Rz. 53 des IDW S 11 bezieht sich hierauf nicht. 7 IDW S 11 Rz. 53; dazu auch Nachtsheim, NZI 2014, 992, 994 f.; schematische Darstellung bei Solmecke, DStR-Beih. 2014, 71, 79. 8 Mit Recht relativierend auch Weber/Kübing/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1014.

570 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.136 § 14

Status unterlegt sein muss. Mit dieser Einschränkung erweist sich die Orientierung der Überschuldungsprüfung am Standard IDW S 11 als hilfreich. bbb) Zum Überschuldungsstatus Den Überschuldungsstatus beschreiben die Standards treffend anhand seiner Aufgabe, die rein bilanzielle Schuldendeckung zu belegen, und zwar richtigerweise unter der Zerschlagungsprämisse, also vom Grundsatz der Einzelbewertung aus1. Der bilanziellen Prüfungsmethode entsprechend unterscheiden die Standards auf der Aktivseite zwischen dem Ansatz und der Bewertung. Ansatzfähig sind alle einzeln verwertbaren Vermögensbestandteile2. Die Bewertung erfolgt einzelfallabhängig nach Liquidationswerten3, und zwar im Einklang mit der Liquidationsstrategie (Liquidationsintensität und Liquidationsgeschwindigkeit)4 und gemäß der wahrscheinlichsten Verwertungsart5, was für einzelne Aktiva besonders erläutert wird (vgl. dazu in diesem Buch Rz. 14.139 ff.)6. Ähnliches gilt für die Passivseite, für die insbesondere auf die Spezialbehandlung der nachrangigen Verbindlichkeiten, z.B. Gesellschafterdarlehen, hingewiesen wird (dazu Rz. 6.81 ff.)7.

14.134

ccc) Zur Fortbestehensprognose Die Fortbestehensprognose wird in den IDW S 11 als „reine Zahlungsfähigkeitsprognose“8 beschrieben, und zwar als „wertende[s] Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens ... auf Grundlage des Unternehmenskonzepts und des ... Finanzplans“9. Der Prognosezeitraum umfasst nach neuem Recht die nächsten zwölf Monate, der Prognosezeitraum rolliert somit kontinuierlich. Zu Recht wird in IDW S 11 auf die der Prognose inhärente Unsicherheit verwiesen10, außerdem auf die Notwendigkeit, die Fortbestehensprognose, sobald sich durch Änderung der Fakten oder sonstige Zweifel an ihrer Validität der Prognose ergeben, zu wiederholen (die Standards sprechen missverständlich von einer „Fortschreibung“ der Fortbestehensprognose)11. Dem Wortlaut des § 19 Abs. 2 InsO folgend, wird die Prognose als positiv bezeichnet, wenn der Fortbestand des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist, was ein Gesamturteil über den Unternehmensverlauf, bezogen vor allem auf die Zahlungsfähigkeit, voraussetze12. Eine Teilliquidation (Veräußerung von aufgrund des Unternehmenskonzepts nicht betriebsnotwendigen Unternehmensteilen) stehe nicht unbedingt entgegen13. Beabsichtigte Sanierungsmaßnahmen (z.B. Kapitalmaßnahmen, Gesellschafterdarlehen und sonstige Kredite) könnten einbezogen werden.

14.135

Stellungnahme: Ein Vorgehen nach den Standards IDW S 11 ist auch bezüglich der Prognose nützlich. Doch ist deren Ansatz sehr dem Gesetzeswortlaut verhaftet und nur begrenzt ergie-

14.136

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13

IDW S 11 Rz. 68 (nach den Standards ergibt sich dies aus dem angeblichen Vorrang der Prognose). IDW S 11 Rz. 70. IDW S 11 Rz. 73. IDW S 11 Rz. 74. IDW S 11 Rz. 75. IDW S 11 Rz. 76 ff. IDW S 11 Rz. 83 ff. IDW S 11 Rz. 59; dazu auch Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1014. IDW S 11 Rz. 58. IDW S 11 Rz. 63. IDW S 11 Rz. 67. IDW S 11 Rz. 62. IDW S 11 Rz. 65.

Brinkmann | 571

§ 14 Rz. 14.136 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

big. Über die Finanzplanrechnung, die den Ausschlag für die Prognose gibt, sagen die Standards nichts (dazu Rz. 14.157 ff.). Zu bedenken ist auch, dass die Überschuldung nicht des Unternehmens, sondern des Rechtsträgers geprüft wird, weshalb die vom Gesetz erwartete „Fortführung des Unternehmens“ nur von Interesse ist, sofern sie aufgrund von Zahlungsplänen eine dauerhafte Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft auch im Fall bilanzieller Überschuldung erwarten lässt. Eine Gesellschaft, die das Unternehmen durch Verkauf oder Ausgliederung in andere Hände gibt, ist einer positiven Prognose nur aufgrund ihrer eigenen Ertragslage zugänglich, nicht aufgrund der Fortführungsfähigkeit des Unternehmens. Als inaktiver GmbH-Mantel ist sie im Fall bilanzieller Überschuldung reif für die Insolvenz.

14.137

In der Begründung zum SanInsFoG hat der Gesetzgeber klargestellt, dass geplante Sanierungsmaßnahmen (z.B. Kapitalmaßnahmen, Gesellschafterdarlehen, sonstige Kredite oder auch ein Restrukturierungsverfahren) bei der Fortbestehensprognose einbezogen werden können1. Voraussetzung ist aber, dass hinreichende Aussicht für deren Erfolg besteht. Um einer späteren Haftung vorzubeugen, sollte der Geschäftsführer etwa die Bereitschaft wesentlicher Gläubiger, an der Sanierung mitzuwirken, dokumentieren. Fällt diese Bereitschaft im Laufe der Verhandlungen weg, kann das ein Umschlagen der Fortführungsprognose und damit den Eintritt von Überschuldung zur Folge haben.

b) Der Überschuldungsstatus 14.138

Nach dem geltenden, bilanzielle Überschuldungsermittlung und Prognose trennenden Überschuldungstatbestand (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO) unterliegt der Überschuldungsstatus grundsätzlich dem Prinzip der Einzelbewertung2. Ausgangspunkt der bilanziellen Überschuldungsmessung ist regelmäßig ein zeitnaher Jahres- oder Zwischenabschluss3, aber der Überschuldungsstatus selbst unterliegt wegen der unterschiedlichen Bilanzzwecke grundsätzlich nicht den der periodischen Rechnungslegung dienenden Regeln über die Handelsbilanz4. Die Vermögensgegenstände werden nach Liquidationswerten angesetzt, und zwar unter der Annahme einer gesellschaftsrechtlichen, nicht insolvenzrechtlichen Liquidation5. Stille Reserven werden aufgedeckt6, ebenso stille Lasten (etwa Abschläge bei zum Anschaffungswert bilanzierten Aktiva). Eine Gesamtbewertung des Unternehmens going concern kommt nur unter dem Gesichtspunkt einer konkret beabsichtigten Unternehmensveräußerung in Betracht7. Sinngemäß Gleiches gilt für Zweigniederlassungen und Betriebsstätten. Soweit Einzelaktiva und -passiva in eine solche Gesamtbewertung eingehen, erscheinen diese nicht auch noch gesondert im Insolvenzstatus (Rz. 14.140)8. Auf die Belegenheit der Vermögensgegenstände kommt es, soweit sie nicht die Verwertbarkeit berührt, nicht an. Auslandsvermögen wird demgemäß einbezogen9. 1 Begründung zu § 35 Abs. 2 RegE-StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 139. Dazu schon zuvor Brinkmann in FS Karsten Schmidt, 2019, S. 153 ff. 2 Vgl. hierzu und zum Folgenden Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 25. 3 Vgl. IDW S 11 Rz. 69; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 70; Weber/Küting/Eichenlaub, GmbHR 2014, 1009, 1015. 4 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 30. 5 Begr. RegE Finanzmarktstabilisierungsgesetz, BT-Drucks. 16/10600, S. 13; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 32. 6 Vgl. nur Hess, § 19 InsO Rz. 74; Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 121. 7 Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 13; vgl. auch Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 48. 8 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 25. 9 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 25; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 125.

572 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.141 § 14

Entscheidend sind die gegenwärtigen Aktiva und Passiva. Die abstrakte Gefahr schädlicher Maßnahmen der Geschäftsführung – Verschleuderung von Anlage- oder Umlaufvermögen, Verzicht auf Forderungen, Schuldanerkenntnisse, verbotene Ausschüttungen – berührt die Überschuldungsprüfung grundsätzlich nicht. Die Überschuldungsprüfung ist in erster Linie Aufgabe der unternehmerischen Selbstprüfung und geht vorbehaltlich konkreter Maßnahmen von der Annahme aus, dass die zur Überschuldungsabwendung verpflichtete Geschäftsführung die Überschuldung nicht durch vermögensschmälernde Handlungen herbeiführt oder verschärft1. Diese Überlegung wird sich auch für die Beurteilung des Rangrücktritts und seiner Aufhebbarkeit als bedeutsam erweisen (Rz. 14.154). aa) Die Aktivseite aaa) Immobilien und bewegliche Sachen werden nach ihrem gegenwärtigen Verkehrswert angesetzt2. Die Bewertung im Einzelfall, insbesondere die Grundstücksbewertung hängt stark von der im Liquidationsfall zu erwartenden Art der Verwertung ab3. Auch Vorräte und Halbzeug können nach der unter Liquidationsbedingungen erwartbaren Verwertungsart aktiviert werden4. Dieser Wert kann im Einzelfall zwischen dem Verschrottungswert und dem Fertigverkaufswert abzüglich Fertigstellungskosten liegen.

14.139

bbb) Immaterialgüterrechte (Schutzrechte) sind, soweit separat verwertbar, gemäß ihrem Veräußerungswert zu aktivieren5. Nach dem bei Rz. 14.138 zum Tatbestand des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO Gesagten geht es grundsätzlich nicht um die Verwertbarkeit im Zuge einer hypothetischen Gesamtveräußerung des Unternehmens, sondern um die Einzelbewertungen je nach der Möglichkeit separater Verwertung6. Nicht separat aktivierbar ist der sog. Firmenwert. Er geht im Ausnahmefall der Gesamtbewertung des Unternehmens (Rz. 14.138) in diese ein, sonst bleibt er auf der Ebene des Insolvenzstatus (im Gegensatz zur Fortführungsprognose) unberücksichtigt7.

14.140

ccc) Auch die Aktivierung von Beteiligungen richtet sich nach deren Verwertbarkeit und bejahendenfalls nach ihrem Verkehrswert (ggf. Kurswert)8. Eigene Anteile an der Schuldnerin selbst sind nicht aktivierbar9. Eine Gegenansicht lässt es auch hier auf die Verwertbarkeit ankommen10. Ihr ist nicht zu folgen. Erst wenn (unwahrscheinlicherweise) ein wirksamer Kaufvertrag abgeschlossen sein sollte, kann der Kaufpreisanspruch, sofern vollwertig, aktiviert werden.

14.141

1 Dazu Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 908. 2 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 48; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 59; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 65; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 54. 3 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 26. 4 Angaben bei Hess, § 19 InsO Rz. 76; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 57; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 43. 5 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz 47; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 40; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 62. 6 Die Gegenansicht bei Uhlenbruck in Uhlenbruck, 13. Aufl., § 19 InsO Rz. 5.66 bezog sich auf den bis 2008 geltenden Tatbestand. 7 A.A. Hess, § 19 InsO Rz. 89 f. 8 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 47; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 55; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 28. 9 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 39; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 28. 10 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 42; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 58; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 74.

Brinkmann | 573

§ 14 Rz. 14.142 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

14.142

ddd) Die Aktivierung von Forderungen ist bei börsennotierten Papieren einfach (Börsenkurs)1. Allgemein steht sie unter einem dreifachen Vorbehalt2: dem Vorbehalt des Veritätsrisikos bei bestrittenen oder sonst zweifelhaften Forderungen3 und dem Vorbehalt des Bonitätsrisikos4 sowie dem Vorbehalt des Realisierungswillens5. Das Veritätsrisiko betrifft den Bestand und die Höhe der Forderung6. Es sollte durch sorgsame rechtliche Prüfung minimiert und nur ausnahmsweise durch Wertberichtigungen korrigiert werden7. Der Grund besteht darin, dass Veritätsrisiken einer Einzelforderung i.d.R. nicht quantifizierbar sind, weil Bestand und Höhe in einer idealen Welt objektiv feststehen müssten (quantifizierbar kann beim Streit um die Verität nur das Prozessrisiko sein). Das Bonitätsrisiko (Werthaltigkeitsrisiko) ist dagegen in erster Linie ein Wertberichtigungsanliegen8. Insbesondere Schadensersatzforderungen gegen Geschäftsführer und Gesellschafter können nur nach strenger Veritäts- und Bonitätsprüfung und bei ernsthaftem Realisierungswillen aktiviert werden9. Das gilt auch für Forderungen aus Kreditverhältnissen gegenüber Gesellschaftern oder sonst der Gesellschaft nahestehenden Kreditnehmern. Nur ernsthafte Verfolgungs- oder Verwertungsabsicht macht diese Ansprüche aktivierbar. Dazu gehört, dass sie auch in der periodischen Rechnungslegung berücksichtigt und in Zweifelsfällen durch Schuldanerkenntnisse unterlegt oder eingeklagt werden. Auch betagte Forderungen können als ernsthaft verfolgt nur angesehen werden, wenn sie auch in die periodische Rechnungslegung der Schuldnerin eingehen. Forderungen, die erst in Zukunft fällig werden, werden abgezinst angesetzt10. Forderungen aus schwebenden Geschäften werden nur aktiviert, wenn und soweit auch unter Liquidationsbedingungen mit der Ausführung des zugrundeliegenden Geschäfts gerechnet werden kann11. Bankkonten werden nur aktiviert, soweit sie einen Habensaldo ausweisen. Eine offene Kreditlinie, deren Inanspruchnahme nur wieder Verbindlichkeiten begründen würde, genügt nicht. Im Cash Pool kommt es auf das Saldoguthaben und dessen Werthaltigkeit an12. Forderungen aus zugesagten Krediten können nur aktiviert werden, wenn sie liquide, vollwertig, mit einer Rangrücktrittserklärung verbunden und nicht wegen drohender Insolvenz kündbar sind13. Aktive Rechnungsabgrenzungsposten können als solche nicht aktiviert werden14.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

12 13 14

Statt vieler Hess, § 19 InsO Rz. 77. Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 30. Dazu sinngemäß Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 8. Dazu statt vieler Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 60. Vgl. auch Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 48. Dazu eingehend Poczka, Der bilanzielle Umgang mit Veritätsrisiken in der Handelsbilanz und der Überschuldungsprüfung, 2015. Auch dazu sinngemäß Karsten Schmidt, in Karsten Schmidt, § 17 InsO Rz. 8. Dazu Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 54; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 44. Frystatzky, NZI 2013, 161, 162 ff. H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 61; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 31. OLG Hamm v. 25.1.1993 – 8 U 250/91, NJW-RR 1993, 1445; Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 58 (auf § 103 InsO abstellend); Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 44; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 63; Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 17; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 32. Vgl. Uhlenbruck, 13. Aufl., § 19 InsO Rz. 71. Zum Rangrücktritt bei (Gesellschafter-)Darlehensversprechen s. auch Uhlenbruck, 13. Aufl., § 19 InsO Rz. 81. Missverständlich Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 45.

574 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.144 § 14

eee) Gesellschaftsrechtliche Ansprüche folgen im Grundsatz den allgemeinen Regeln. Einlageansprüche einschließlich wirksam übernommener Anteile aus Kapitalerhöhungen und verbindlich gezeichneter Nachschüsse werden grundsätzlich zum Nennwert aktiviert, jedoch ggf. mit Wertberichtigungen bei Zweifeln an der Beitreibbarkeit1. In Fällen möglicher Überschuldung spricht die Nicht-Begleichung der Forderung in der Krise häufig gegen eine Vollwertigkeit des Einlageanspruchs. Rückzahlungsansprüche wegen verbotener Ausschüttungen aus § 31 GmbHG sind im Grundsatz aktivierbar2, ebenso Ansprüche auf Unterbilanzausgleich aus dem Gründungsstadium der Gesellschaft3 und Bardeckungsansprüche bei überbewerteten Sacheinlagen4. Jedoch sind hier die Vorbehalte von Rz. 14.142 (Verität, Bonität und Realisierungsabsicht) besonders ernst zu nehmen. Forderungen, die die Gesellschaft nicht geltend macht und im Bestreitensfall durchsetzt, vielleicht nicht einmal in die Rechnungslegung einstellt, sind im Insolvenzstatus nicht aktivierbar. Über konzernrechtliche Ansprüche aus Verlustdeckungspflichten, aus Patronatserklärungen, aus der Existenzvernichtungshaftung und aus der Organhaftung vgl. Rz. 14.152 ff.

14.143

fff) Nicht aktivierbar sind Ansprüche, die erst nach dem Eintritt der materiellen Insolvenz (Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit) entstehen oder geltend gemacht werden können5. Insbesondere gilt dies für Ansprüche aus der Verletzung des § 15a InsO sowie Erstattungsansprüche wegen „verbotener Zahlungen“ (nach § 15b InsO, § 64 GmbHG a.F., § 130a HGB a.F.)6. Erst recht nicht aktivierbar sind Ansprüche, die erst im eröffneten Insolvenzverfahren, also vom Insolvenzverwalter oder nach § 280 InsO vom Sachwalter geltend gemacht werden können7. Hierher gehören insbesondere Anfechtungsansprüche nach §§ 129 ff., § 143 InsO8. Auch Ansprüche Dritter, die erst mit der Verfahrenseröffnung in die Empfangszuständigkeit des Verwalters übergehen (§§ 92, 93 sowie § 171 Abs. 2 HGB), können nicht als zum Vermögen der Gesellschaft gehörig aktiviert werden9. Von diesen Ansprüchen wären allerdings ohnedies allenfalls diejenigen des § 171 Abs. 2 HGB von praktisch relevanter Bedeutung für die Überschuldungsvermeidung bei einer GmbH & Co. KG10. Nicht einmal die Haftung der GmbH-Komplementärin (§§ 128 (ab 1.1.2024: § 126 HGB), 161 Abs. 2 HGB) kann im Überschuldungsstatus der Kommanditgesellschaft aktiviert werde. Anders verhält es sich, wenn ein Gesellschafter zugunsten der Gesellschaft ein mit Nachrang versehenes Freistellungsversprechen oder eine Patronatserklärung abgegeben hat (dazu Rz. 14.152).

14.144

1 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 34; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 29. 2 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 50; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 65. 3 H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 68. 4 § 9 GmbHG (ggf. i.V.m. § 56 Abs. 2 GmbHG). 5 Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 14; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33. 6 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33; Hess, § 19 InsO Rz. 80. 7 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 62; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33. 8 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 128. 9 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 55; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 60; Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 14; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33. 10 Auch dazu Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 33.

Brinkmann | 575

§ 14 Rz. 14.145 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

bb) Die Passivseite

14.145

aaa) Grundsätzlich sind alle gegenwärtigen Verbindlichkeiten zu passivieren1. Ausgenommen sind nur Verbindlichkeiten, die weder auf Geld gerichtet sind, noch nach § 45 InsO in Geld umgerechnet werden können2. Debitorische Bankkonten sind zu passivieren, auch wenn sie durch eine Kreditlinie gedeckt sind. Die Passivierungspflicht gilt für jede bestehende Verbindlichkeit unabhängig von ihrer Fälligkeit3. Betagte Verbindlichkeiten können zwar nicht die Zahlungsunfähigkeit begründen, wohl aber die Überschuldung4. Es kommt auch nicht darauf an, ob die Verbindlichkeiten von den Gläubigern eingefordert wurden. Die bloße Erwartung, ein Gläubiger werde seine Forderung verjähren lassen, befreit nicht vom Passivierungsgebot. Bedingte Verbindlichkeiten werden entsprechend der Wahrscheinlichkeit des Bedingungseintritts passiviert5, von der Gesellschaft übernommene Bürgschaften und Garantien nach der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme6. Auch passive Rechnungsabgrenzungsposten werden grundsätzlich passiviert7.

14.146

Eine Bewertung der Verbindlichkeiten findet grundsätzlich nicht statt8. Grundsätzlich ist zum Nennwert zu passivieren9. Es liegt auf der Hand, dass die Bonität der Gläubigerforderungen hier keine Rolle spielt. Insoweit macht es auch keinen Unterschied, ob die Verbindlichkeit durch Realsicherheiten am Vermögen der Gesellschaft besichert ist (s. auch Rz. 14.155). Auch Personalsicherheiten (Bürgschaften, Patronatserklärungen, Garantien) entlasten den Überschuldungsstatus nur, wenn der Gesellschaft ein Freistellungsanspruch gegen den sichernden Dritten oder mindestens ein Leistungsverweigerungsrecht gegen seinen Regressanspruch zusteht (vgl. hierzu und zum Rangrücktritt Rz. 14.147). Die Veritätsfrage (Verbindlichkeit begründet oder nicht?) stellt sich dagegen wie bei der Aktivseite (dazu Rz. 14.142), wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Streitige Verbindlichkeiten sind, ggf. mit vorsichtigen Abschlägen, grundsätzlich zu passivieren10. Ein Grundsatz, wonach eine ernsthaft und vertretbar bestrittene Verbindlichkeit außer Ansatz gelassen werden kann, wenn hiervon die Überschuldung oder Nicht-Überschuldung abhängt, ist nicht anzuerkennen. Naturgemäß darf aber auch nicht jede willkürliche Drohung mit einer Inanspruchnahme wegen angeblicher Forderungen die Gesellschaft in die Überschuldung treiben. Ein Nicht-Ansatz ist jedoch nur berechtigt, sofern nach Lage des Falls auch das Prozessrisiko der Gesellschaft vernachlässigt werden kann11. In diesem Fall empfiehlt es sich, die Veritätsprüfung und ihr Ergebnis zu dokumentieren. Ob hierfür ein Rechtsgutachten erforderlich ist, richtet sich nach der Lage des Falls.

14.147

Nachrangige Verbindlichkeiten (§ 39 Abs. 1 InsO) werden grundsätzlich passiviert. Für Gesellschafterdarlehen und gleichgestellte Forderungen lässt sich dies § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO 1 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63. 2 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 34. 3 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63; zur Abzinsung vgl. Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 88. 4 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63; Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 154. 5 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 52. 6 Hess, § 19 InsO Rz. 91; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 60. 7 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 76. 8 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 40. 9 Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 129; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63. 10 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63; Bußhardt in Braun, § 19 InsO Rz. 30; eingehend Hess, § 19 InsO Rz. 105; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 40; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 53. 11 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 40.

576 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.148 § 14

entnehmen. Für eine Nicht-Passivierung erforderlich ist eine mit dem Rangrücktritt zu verbindende und nach dem Willen der Beteiligten im Zweifel mit ihm verbundene Durchsetzungssperre (dazu Rz. 14.154)1. Dasselbe gilt für gleichgestellte Leistungen von Gesellschaftern oder ihnen nahestehenden Dritten (dazu Rz. 6.87 ff.). Sogar den Darlehensteil einer „gesplitteten Einlage“ hat der BGH diesen Regeln unterworfen2. Dieser Grundsatz hatte sich mit Recht bereits vor dem MoMiG für sog. eigenkapitalersetzende Darlehen durchgesetzt3. Seit dem MoMiG muss dies erst recht gelten, weil das Gesetz insoweit keine vor der Verfahrenseröffnung wirkenden Rückzahlungsverbote und keine Sonderbeurteilung „eigenkapitalersetzender“ Gesellschafterdarlehen mehr kennt (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG; zum Recht der Gesellschafterdarlehen Rz. 6.84 ff.). Die vereinbarte Durchsetzungssperre ist das A und O des überschuldungsvermeidenden Rangrücktritts. Das Urteil des BGH vom 5.3.2015 – IX ZR 133/ 14, BGHZ 204, 231 = GmbHR 2015, 472 = NJW 2015, 1672 = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/ Heim geht davon aus, dass der überschuldungsvermeidende Rangrücktritt mit einem Zahlungsverbot verbunden sein und auch in diesem Sinne ausgelegt werden muss4. Eine Aufhebung des Rangrücktritts darüber hinaus sogar während der Krise ist nach der diesem Urteil nur mit Zustimmung aller, auch künftigen, Gläubiger möglich, m.a.W. also unmöglich. Das ist eine für die Praxis vorerst maßgebliche, jedoch angreifbare Rechtsposition (Rz. 7.23, 14.154)5.

bbb) Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten (§ 249 HGB) schlagen auch auf den Überschuldungsstatus durch6, nicht dagegen Rückstellungen für drohende Verluste (str.)7. Pensionsrückstellungen werden unterschiedlich behandelt8. Bestehende Pensionsverpflichtungen und unverfallbare Anwartschaften werden abgezinst passiviert9. Ein faktischer Leistungszwang genügt10. Eine Kürzung, soweit das Schuldnerunternehmen in der Krise zu ihr berechtigt ist11, scheint bei Anwartschaften, deren Dauer über die Krise hinausreicht, nicht generell angängig. Laufende Pensionsverpflichtungen werden nach versicherungsmathematischen Grundsätzen passiviert12. Selbstverständlich kann eine Rückdeckungsversicherung berücksichtigt werden13. Auch Verbindlichkeiten aus schwebenden Geschäften sind zu passivieren14. Der Einfluss einer Insolvenzverfahrenseröffnung auf Verträge, insbesondere ein eventuelles Lösungsrecht des Insolvenzverwalters nach §§ 103 ff. InsO, kann hieran nichts 1 Dazu BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = NJW 2015, 1672 = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian; dazu eingehend Karsten Schmidt, ZIP 2015, 90 ff.; a.A. Adolff in FS Hellwig, S. 433, 441. 2 BGH v. 1.3.2010 – II ZR 13/09, GmbHR 2010, 752 = ZIP 2010, 1078. 3 BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264 = BB 2001, 430 = ZIP 2001, 235 = GmbHR 2001, 190 m. Anm. Felleisen. 4 Zust. Bitter/Heim, ZIP 2015, 644, 645 f.; Bork, EWiR 2015, 219, 220; Farian, GmbHR 2015, 478, 480. 5 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2015, 90 ff. 6 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 63, 66; Pape in Kübler/Prütting/ Bork, § 19 InsO Rz. 67; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 75. 7 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 34; a.A. Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 21 mit Hinweis auf BGH v. 1.3.1982 – II ZR 23/81, BGHZ 83, 341, 347 ff. = GmbHR 1983, 169 = ZIP 1982, 1077. 8 Vgl. Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 65. 9 Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 90. 10 Vgl. m.w.N. Hess, § 19 InsO Rz. 104. 11 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 65. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. ebd. 14 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 63; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 157.

Brinkmann | 577

14.148

§ 14 Rz. 14.148 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

ändern1. Ein Ausgleich kann sich allerdings aus einer noch ausstehenden verwertbaren Gegenleistung ergeben. Auch einredebehaftete Verbindlichkeiten werden grundsätzlich passiviert2. Ein noch nicht ausgeübtes Leistungsverweigerungsrecht befreit nicht generell von der Passivierung. Das gilt auch für Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen (§ 320 BGB) und für aufrechenbare, aber noch nicht aufgerechnete Verbindlichkeiten. In diesen Fällen kann aber der Gegenanspruch, soweit werthaltig, aktiviert werden.

14.149

ccc) Genussrechte werden passiviert3. Stille Einlagen sind zu passivieren, soweit sie im Insolvenzfall als – sei es auch nachrangige – Verbindlichkeiten geltend gemacht werden können4. Dies ist nach § 236 HGB die gesetzliche Regel. Eine Verlustbeteiligung des Stillen ändert hieran nichts und führt nur zum Abzug bereits realisierter Verluste des stillen Gesellschafters5. Die Nicht-Passivierung setzt grundsätzlich einen Rangrücktritt voraus. Das gilt im Grundsatz auch für atypische stille Beteiligungen, nicht allerdings bei der von Karsten Schmidt als „Innen-KG“ bezeichneten atypischen stillen Gesellschaft mit wirtschaftlicher Eigenkapitalqualität der stillen Einlagen (Rz. 6.243 f.)6.

14.150

ddd) Gesellschafterbesicherte Kreditforderungen Dritter (vgl. zu § 44a InsO Rz. 6.139) sind zu passivieren7. Sofern der Gesellschafter als Sicherungsgeber eine vollwertige Freistellungserklärung gegeben und bezüglich etwaiger Erstattung den Rangrücktritt erklärt hat8, kann der Freistellungsanspruch die Verbindlichkeit ausgleichen.

14.151

eee) Nicht als Passiva anzusetzen sind: Eigenkapital und sonstige mit dem Rang gemäß § 199 Satz 2 InsO zu bedienenden Liquidationsansprüche9. Zu diesen gehören atypische stille Einlagen, wenn ihnen Eigenkapitalqualität zukommt (dazu Rz. 14.149). Freie Rücklagen bilden keine Gesellschaftsschulden ab und werden nicht passiviert10. Dasselbe gilt für Rückstellungen, wenn sie nur drohende Verluste abbilden. cc) Ausgleich der Passivseite durch kompensierende Abreden

14.152

aaa) Patronatsvereinbarungen können die Überschuldung insgesamt beheben, wenn sie vollwertige Ansprüche der Gesellschaft auf Ausgleich aller ungedeckten Verbindlichkeiten gewähren (vgl. schon Rz. 6.251)11. Auch eine kurzfristig kündbare interne Patronatserklärung 1 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 75; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 157; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 71; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 69. 2 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 38. 3 Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 67; Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 20; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 36; Mock in Uhlenbruck, § 19 InsO Rz. 169; eingehend Bork in FS Röhricht, 2005, S. 47 ff. 4 H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 104; Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 20. 5 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 36. 6 Dazu eingehend Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl. 2019, § 236 HGB Rz. 37 ff. 7 OLG Jena v. 30.4.2009 – 1 U 657/06, NZG 2009, 1034. 8 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 44a InsO Rz. 17 f. 9 H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 85. 10 BGH v. 4.5.1959 – VII ZB 23/58, BB 1959, 754 = WM 1959, 914; Laroche in Kayser/Thole, § 19 InsO Rz. 20; H.-F. Müller in Jaeger, § 19 InsO Rz. 86; Dahl, NJW-Spezial 2008, 117, 118. 11 BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 69 = NJW 2010, 3442 = GmbHR 2010, 1204 m. Anm. Ulrich/Rath; Wagner, Haftungsrisiken aus Liquiditätszusagen und Patronatserklärungen in der Unternehmenskrise, 2011, S. 285 ff.; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht,

578 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.153 § 14

ist nach der STAR 21-Entscheidung des BGH1 dazu geeignet, die Überschuldung des Protegés zu vermeiden2. Dem ist zuzustimmen, weil die Kündigung nur für die Zukunft wirkt und alle bis zur Kündigung bestehenden Verbindlichkeiten durch die Patronatserklärung gedeckt sind (weshalb es auf die Prognoseverschlechterung durch das Kündigungsrecht vor dessen Ausübung nicht ankommt). Auf der Prognoseebene wirkt sich die bloße Möglichkeit einer weder schon ausgesprochenen noch akut bevorstehenden Kündigung grundsätzlich nicht negativ aus3. Dagegen ist eine externe Patronatserklärung (= Vertrag mit dem/den Gläubiger(n) des Protegés) nach herrschender Meinung mangels eigenen Anspruchs des Protegés nicht geeignet, die bilanzielle Überschuldung des Protegés zu verhindern4. Die externe Patronatserklärung kann auf der Prognoseebene von Bedeutung für die Überschuldungsfeststellung sein. Auf der Ebene der bilanziellen Überschuldungsmessung kann sie ebenso wenig aktiviert werden wie z.B. die einem Gesellschaftsgläubiger gegebene Bürgschaft (Rz. 14.146, 14.155). Anders verhält es sich, wenn auch die Schuldnerin selbst einen vertraglichen Anspruch auf den Schutz durch externe Patronatserklärung hat5. Zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit durch Patronatsvereinbarungen vgl. Rz. 14.29. bbb) Eine gesellschaftsrechtliche Innenhaftung hebt die bilanzielle Überschuldung nur auf, wenn sie alsbald aktivierbar und als Forderung vollwertig ist. Dies gilt z.B. für die periodische Verlustausgleichspflicht eines herrschenden Unternehmens nach bzw. analog § 302 AktG6. Sie genügt aber nur im Vertragskonzern, nicht im Fall einer bloß faktischen Konzernlage7. Bei faktischer Konzernlage ist deshalb eine isolierte Verlustdeckungsvereinbarung8 erforderlich, um den Effekt des § 302 AktG zu ersetzen. Auch die als Innenhaftung konzipierte9 Existenzvernichtungshaftung kommt, weil außerhalb eines Insolvenzverfahrens kaum realisierbar, für den Ausgleich der Überschuldung nicht ernsthaft in Betracht10. Organhaftungsansprüche, z.B. aus § 93 AktG, § 43 GmbHG, können in Abhängigkeit von Realisierungswillen und Realisierbarkeit aktiviert werden (zu den Veritäts- und Bonitätsanforderungen vgl. Rz. 14.142).

1 2 3 4

5 6 7 8 9 10

§ 19 InsO Rz. 36; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 42; Haußer/Heeg, ZIP 2010, 1427, 1431 f.; Raeschke-Kessler/Christopeit, NZG 2010, 1361; Rosenberg/Kruse, BB 2003, 641, 647; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 61. BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 69 = NJW 2010, 3442 = GmbHR 2010, 1204 m. Anm. Ulrich/Rath. Eingehend Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015, S. 92 ff.; kritisch Kaiser, ZIP 2011, 2136; Tetzlaff, DZWiR 2011, 181, 183. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 42; Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 492; a.A. Tetzlaff, DZWiR 2011, 181, 183. Z.B. BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, NZI 2011, 536 = GmbHR 2011, 769; Wagner, Haftungsrisiken aus Liquiditätszusagen und Patronatserklärungen in der Unternehmenskrise, 2011, S. 283 f.; Ringstmeier in FS Wellensiek, S. 135 f.; Förschle/Heinz in Deubert/Förschle/Stork, Sonderbilanzen, Rz. Q 131; Blöse, GmbHR 2011, 771, 772; Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1116; Haußer/ Heeg, ZIP 2010, 1427, 1431. Eingehend Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015, S. 102 ff. Für Aktivierbarkeit des Verlustausgleichsanspruchs Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 61. Näher Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 43. Karsten Schmidt in FS Werner, 1984, S. 777 ff. BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04 − „Trihotel“, BGHZ 173, 246 = NZG 2007, 667 = ZIP 2007, 1552 = GmbHR 2007, 927 m. Anm. Schröder. A.A. Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 38.

Brinkmann | 579

14.153

§ 14 Rz. 14.154 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

14.154

ccc) Nicht gegen die Überschuldung insgesamt, sondern nur gegen die Passivierung der jeweils einzelnen Verbindlichkeit hilft die Rangrücktrittsvereinbarung (Rz. 7.14 ff., 14.142)1. Die umstrittene Frage, ob die Rangrücktrittsvereinbarung nach § 39 Abs. 2 InsO, wie scheinbar aus § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO abzulesen, für sich allein genügt oder ob zusätzlich eine vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre vereinbart werden muss2, ist weitgehend akademischer Art3, weil ein insolvenzvermeidender Rangrücktritt nach dem Willen der Vertragsparteien die Durchsetzungssperre ohne weiteres enthält4. Praktisch bedeutsam ist dagegen die Frage, ob die Rangrücktrittsvereinbarung während der Krise durch Vereinbarung mit dem Gläubiger aufhebbar ist. Der BGH verneint diese Frage, weil er den Rangrücktritt als einen schuldabändernden Vertrag zugunsten aller – auch der noch unbekannten – Gläubiger ansieht (vgl. dazu schon Rz. 7.23, 14.147)5. Den Vorzug verdient die Einordnung der Rangrücktrittsvereinbarung als aufhebbares pactum de non petendo mit der in § 39 Abs. 2 InsO beschriebenen Wirkung im eröffneten Verfahren6. Die bloße Möglichkeit, das Reinvermögen der Gesellschaft durch Abreden zu beschädigen, schlägt sich im Überschuldungsstatus nicht nieder (vgl. auch zur Aktivseite Rz. 14.138). Die aus diesen Gründen schwerlich überzeugende Auffassung des BGH ist allerdings für die Praxis einstweilen ein Datum.

14.155

ddd) Nicht ausreichend ist die Besicherung einer Verbindlichkeit7. Das versteht sich bei dinglichen Sicherheiten am Vermögen der Schuldnerin von selbst8. Grundsätzlich gilt aber dasselbe bei von Dritten gegebenen dinglichen Sicherheiten (z.B. Grundschulden) bzw. persönlichen Sicherheiten, z.B. Bürgschaften, Garantien oder externen Patronatserklärungen9. Diese Sicherheiten gleichen die Gesellschaftsverbindlichkeit nur aus, wenn der Sicherungsgeber der Schuldnerin eine Freistellungsgarantie gibt und mit Regressansprüchen (§§ 774, 1143 BGB) gemäß § 39 Abs. 2 InsO im Rang zurücktritt. Dass die abstrakte Gefahr einer pflichtwidrigen Manipulation die Überschuldungsprüfung nicht automatisch berührt, zeigt das „STAR 21“-Urteil des BGH10 über die Überschuldungsvermeidung durch Patronatserklärungen (dazu Rz. 14.152). Eine interne Patronatserklärung generiert stets bis zum Jetzt-Zeitpunkt aktivierbare Forderungen und kann für die Zukunft prognosewirksam sein, ohne dass die abstrakte (!) Gefahr ihrer Kündigung der Überschuldungsvermeidung im Wege stehen könnte11.

14.156

eee) Bei einer Kapitalgesellschaft & Co. (typischerweise: GmbH & Co. KG) ist die Kommanditgesellschaft der Komplementärgesellschaft (typischerweise GmbH) nach § 110 HGB (ab 1.1.2024: § 716 BGB) bezüglich ihrer Gesellschaftsverbindlichkeiten freistellungspflichtig12. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Überblick bei Christian Mayer, Der vertragliche Nachrang von Forderungen, 2007, S. 202 ff. So Bitter/Rauhut, ZIP 2014, 1005, 1013 ff.; Bitter, ZIP 2015, 345, 346. Näher Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 904. Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901, 904. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = NJW 2015, 1672 = ZIP 2015, 638 m. Anm. Bitter/Heim = GmbHR 2015, 472 m. Anm. Farian; ähnlich schon Fleischer, DStR 1999, 1774, 1779. Zusammenfassend Karsten Schmidt, ZIP 2015, 901 ff. Vgl. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 61; Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 129. S. auch Bußhardt in Braun, Rz. 31 zu §§ 650 f. BGB. Vgl. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 19 InsO Rz. 61; Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 126. BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 69 = ZIP 2010, 2092 = GmbHR 2010, 1204 m. Anm. Ulrich/Rath; eingehend Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015. Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 492; eingehend Keßler, Interne und externe Patronatserklärungen als Instrumente zur Insolvenzvermeidung, 2015, S. 83 ff., 102 ff. Vgl. Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 12. Aufl. 2018, § 12 Rz. 33, 35.

580 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.157 § 14

Die hieraus resultierenden Freistellungsansprüche der Komplementärin, die im Kommanditgesellschaftsvertrag nicht explizit geregelt zu werden brauchen, verhindern, solange nicht die Kommanditgesellschaft ihrerseits überschuldet ist, eine Überschuldung der Komplementärin durch Gesellschaftsverbindlichkeiten der KG1. Gegen eine Simultaninsolvenz auch der Kommanditgesellschaft hilft dieser Freistellungsanspruch allerdings nicht. Noch weniger kann die persönliche Haftung der Komplementärin eine Überschuldung der Kommanditgesellschaft, also eine Unternehmensinsolvenz, verhindern (Rz. 14.144). dd) Die Fortbestehensprognose aaa) Die Fortbestehensprognose ist nicht an eine vorgeschriebene Prozedur gebunden (Rz. 14.136), also auch nicht an eine festgelegte betriebswirtschaftliche Methode2. Beispielsweise hat „richtig“ geprüft, wer auch ohne komplizierte Finanzpläne zum „richtigen“ Ergebnis gelangt ist. Doch ist die Geschäftsleitung bei der ihr obliegenden Prüfung umso mehr auf betriebswirtschaftliche Professionalität verwiesen, je unsicherer das Ergebnis ist. Das Prognoseerfordernis selbst, also das Ziel der Prüfung, ist dagegen rechtlich determiniert3. Essentiell ist zunächst die Fragestellung der Prognose. Da die Prognosefrage aus der Sicht der Geschäftsführung und ihrer Berater auf die belastungsfähige Feststellung der Nicht-Überschuldung gerichtet ist (Rz. 14.2 ff., Rz. 14.125 f.), ist sie nach dem Gesetzeswortlaut dahin zu stellen, ob „die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ... nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich“ ist. Diese unscharfe Formulierung ist anhand von folgenden Regeln zu konkretisieren:

– Die Prüfung ist, erstens, rechtsträgerbezogen, nicht unternehmensbezogen4. Diese Präzisierung wirkt sich vielfach nicht aus, wenn nämlich Schuldner und Unternehmen beisammenbleiben. Relevant ist der Unterschied aber, wenn z.B. das Unternehmen liquidiert oder von der Schuldnerin auf einen Erwerber übertragen werden soll. Dann entscheidet nicht einfach, was aus dem Unternehmen, sondern was aus der den Gegenstand der Prüfung bildenden Gesellschaft wird5. Nur eine Fortführung, die mit ihrem Fortbestand einhergeht, ist relevant. – Die Prüfung ist, zweitens, liquiditätsbezogen6. Es kommt also nicht darauf an, ob der Rechtsträger („das Unternehmen“) prosperiert7, sondern es genügt, wenn der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit vermieden werden kann. 1 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 19 InsO Rz. 63; vgl. auch Bußhardt in Braun, § 19 InsO Rz. 38. 2 In ähnlicher Richtung, wenngleich ganz gerichtsorientiert, Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 6 Rz. 42, im Anschluss an Bork, ZIP 2000, 1709 ff. 3 Eingehend (und lesenswert) Schröder in Meilensteine in Zeiten der InsO, FS Wehr, 2012, S. 27 ff.; vgl. auch Haarmann/Vorwerk, BB 2015, 1603, 1604 („überprüfende Prognose“). 4 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 46; Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 491. 5 Missverständlich insofern das Festhalten am Erfordernis eines „Fortführungswillens“; vgl. etwa BGH v. 9.10.2006 – II ZR 303/05, GmbHR 2006, 1334 = ZIP 2006, 2171; kritisch nun auch Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 54 f. 6 Vgl. OLG Köln v. 5.2.2009 – 18 U 171/07, ZIP 2009, 808, 809 = AG 2009, 703; OLG Hamburg v. 8.11.2013 – 11 U 192/11, ZInsO 2013, 2447 ff.; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 56; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 19 InsO Rz. 46; Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 491; Bitter/Kresser, ZIP 2012, 1733 ff.; Frystatzki, NZI 2013, 161; Haarmann/Vorwerk, BB 2015, 1603, 1608 ff.; vgl. auch bereits vor der InsO BGH v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 2014 = ZIP 1993, 1382, 1384 f. = GmbHR 1992, 659. 7 So aber AG Hamburg v. 2.12.2011 – 67c IN 421/11, ZIP 2012, 1776, 1777; vgl. auch Drukarczyk/ Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 69 ff.; eingehend Schröder in Meilensteine in Zeiten der InsO, FS Wehr, 2012, S. 27, 40 ff.

Brinkmann | 581

14.157

§ 14 Rz. 14.157 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

– Da die prognostische Prüfung zukunftsbezogen ist, stellt sich, drittens, die Frage, wie weit sie in die Zukunft hineinzuragen hat. Durch das SanInsFoG hat der Gesetzgeber hier Klarheit geschaffen und einen rollierenden Zwölfmonatszeitraum festgeschrieben. Zuvor wurde unter anderem in den IDW S 11-Standards die Daumenregel vorgeschlagen, dass die Prognose das jeweils dem laufenden folgende Geschäftsjahr umfassen müsse1. Das hätte bedeutet, dass die Geschäftsführung Anfang Januar etwa doppelt so weit in die Zukunft sehen müsste wie Ende Dezember. Diese von Zufälligkeiten abhängige Verlängerung des Prognosezeitraums „über Nacht“ hat der Gesetzgeber beseitigt2.

14.158

Von der auch im Rahmen von § 18 Abs. 2 InsO anzustellenden Liquiditätsprognose unterscheidet sich die Fortführungsprognose bei der Überschuldungsprüfung somit in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist der Betrachtungszeitraum bei der drohenden Zahlungsunfähigkeit ein anderer. Nach § 18 Abs. 2 Satz 2 InsO beträgt dieser in der Regel 24 Monate, während er bei der Überschuldungsprüfung seit der Reform durch das SanInsFoG auf 12 Monate fixiert wurde. Zum anderen unterscheiden sich die Prüfungen auch inhaltlich: Denn im Rahmen der Fortführungsprognose können auch etwaige Sanierungsmaßnahmen berücksichtigt werden, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit verhindern werden (Rz. 10.14 ff.)3. Demgegenüber geht es bei der Ermittlung der drohenden Zahlungsunfähigkeit nur darum, die Entwicklung der Liquidität in die Zukunft fortzuschreiben, indem man eine prospektive Kapitalflussrechnung vornimmt (Rz. 14.32). Klarzustellen bleibt: Der zwölfmonatige Prognosezeitraum entlässt das Management für die Zeit davor nicht aus der Selbstprüfungspflicht. § 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 StaRUG zwingt die Geschäftsführer auch vorher zu ständiger Prüfung und zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen, wenn künftige Zahlungsunfähigkeitsrisiken jenseits der nächsten zwölf Monate erkennbar werden.

14.159

bbb) Die prognostische Prüfung nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO ist von der handelsbilanzrechtlichen Fortführungsannahme zu unterscheiden, die über die Going-concern-Bewertung in der Handelsbilanz entscheidet (dazu § 252 Abs. 1 Nr. 2 HGB)4. Für eine positive insolvenzrechtliche Prognose muss die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit im Prognosezeitraum wahrscheinlicher sein als der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit5. Der Maßstab ist – selbstverständlich unter Mitberücksichtigung der dieser Prognose innewohnenden Unsicherheit – objektiv6 im Sinne vernünftiger unternehmerischer Zahlungsplanung7. Hinzu kommen muss nach h.M. der Fortführungswille8, der aber als Bestandteil der unternehmerischen Finanzplanung (Rz. 14.157) keine eigenständige Bedeutung hat.

1 Vgl. IDW S 11 Rz. 60; OLG Köln v. 5.2.2009 – 18 U 171/07, ZIP 2009, 808, 809 f. = AG 2009, 703; eingehend Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 36. 2 Dazu zuvor Brinkmann in Ebke/Seagon/Piekenbrock, Überschuldung: Quo vadis?, 2020, 67, 75 f.; Brinkmann, NZI 2019, 921, 924. 3 Begründung zu § 35 Abs. 2 RegE-StaRUG, BT-Drucks. 19/24181, S. 139. Auch diese Entkoppelung von drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung war zuvor in der Literatur vorgeschlagen worden: Brinkmann in FS Karsten Schmidt, 2019, S. 153 ff. 4 Eingehend Positionspapier des IDW über das Zusammenwirken von handelsrechtlicher Fortführungsprognose vom 13.8.2012; s. auch Zabel in Kübler, HRI, § 3 Rz. 52. 5 Zabel in Kübler, HRI, § 3 Rz. 57 sowie IDW S 11 Rz. 64. 6 A.A. IDW S 11 Rz. 64 („Sicht der gesetzlichen Vertreter“, „ein gewisser Beurteilungsspielraum“); der de facto bestehende Spielraum wird auf der Haftungsebene berücksichtigt. 7 Ähnlich wohl Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 59. 8 Angaben bei Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 54; ausführlich Haarmann/Vorwerk, BB 2015, 1603, 1605.

582 | Brinkmann

§ 14 Insolvenzgründe | Rz. 14.161 § 14

ccc) Instrument der Prognoseprüfung ist ein vom jeweiligen Stichtag aus blickender Finanzplan auf der Grundlage eines aussagekräftigen Liquiditätskonzepts1. Liquiditätszusagen, Patronatserklärungen, Standstill-Agreements und Rangrücktritte gehen in die Finanzplanung ein2. Die Aufhebbarkeit solcher Vereinbarungen nimmt ihnen nicht die Relevanz für die Liquiditätsplanung, solange sie hypothetisch bleibt (sehr str.; vgl. auch zum Rangrücktritt Rz. 14.154)3. Betriebswirtschaftliche Methoden der geforderten Finanzplanung (Netto-Cashflow, Periodenbedarf) sind der reichen Spezialliteratur zu entnehmen4.

14.160

ddd) Die nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO maßgebende „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ wird mathematisch i.S. von „mehr als 50 %“ verstanden5. Mit Recht wird aber vor der Annahme gewarnt, dass eine knappe Zufallswahrscheinlichkeit („Rot und die Null“ beim Roulette) im Interesse des Gläubigerschutzes nicht ausreichen sollte6. Zu verlangen ist eine belastbare „überprüfende Finanzplanprognose“7.

14.161

1 Vgl. auch Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 59 (Unternehmenskonzept). 2 Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 62. 3 Vgl. BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, BGHZ 187, 69 = GmbHR 2010, 1204 = ZIP 2010, 2092 „Star 21“; dazu Karsten Schmidt, ZIP 2013, 485, 492; kritisch Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 63. 4 Ausführlich und exemplarisch Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 61 ff. 5 Vgl. zu dieser Diskussion Drukarczyk/Schüler in Münchener Kommentar zur InsO, § 19 InsO Rz. 74 ff. 6 Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 61. 7 In diesem Sinne Haarmann/Vorwerk, BB 2015, 1603, 1611.

Brinkmann | 583

§ 15 Der Insolvenzantrag I. Zuständigkeit und Form 15.1

Soweit sich für den Geschäftsführer der GmbH die Notwendigkeit ergibt, einen Insolvenzantrag stellen zu müssen, hat er zunächst zu klären, welches Gericht für den Antrag sachlich und örtlich zuständig ist. Denn ein bei einem unzuständigen Gericht gestellter Insolvenzantrag1 ist unzulässig2 und birgt für den organschaftlichen Vertreter der Gesellschaft die Gefahr einer Strafbarkeit nach § 15a Abs. 4 oder 5 InsO in sich3. Danach kann sich der Geschäftsführer der GmbH strafbar machen, wenn er den Insolvenzantrag „nicht oder nicht rechtzeitig oder nicht richtig“ stellt. Davon umfasst ist nicht nur die Verpflichtung des Geschäftsführers zur Einhaltung der gesetzlichen Formbestimmungen oder zur Einreichung eines vollständigen Antrags, sondern auch die Antragstellung beim zuständigen Gericht. Wird der Insolvenzantrag bei einem unzuständigen Gericht eingereicht, ist dieses allerdings verpflichtet, den Antragsteller auf die eigene Unzuständigkeit hinzuweisen und die Stellung eines Verweisungsantrags anzuregen (§ 4 InsO i.V.m. § 139 ZPO4). Stellt dieser keinen Verweisungsantrag, ist der Insolvenzantrag als unzulässig zurückzuweisen5. Beantragt der Geschäftsführer innerhalb der richterlichen Frist die Verweisung an das zuständige Gericht, dürften weder die Straftatbestände der § 15a Abs. 4 oder 5 InsO greifen, noch dürfte die Gefahr einer Haftung nach § 15b InsO bestehen, wenn der Antrag im Falle der Zahlungsunfähigkeit innerhalb der Drei-Wochen-Frist und im Falle der Überschuldung innerhalb der Sechs-Wochen-Frist des § 15a Abs. 1 InsO (s. dazu § 4a SanInsKG: Verlängerung auf acht Wochen bis 31.12.2023) beim unzuständigen Gericht eingegangen, aber erst nach Ablauf dieser Fristen auf Grund des rechtzeitig gestellten Verweisungsantrags an das zuständige Gericht weitergeleitet worden ist. Zu beachten ist, dass nach § 15a Abs. 5 InsO auch fahrlässiges Handeln zur Strafbarkeit führen kann.

1. Sachliche Zuständigkeit 15.2

Nach § 2 Abs. 1 InsO ist für das Insolvenzverfahren das Amtsgericht, in dessen Bezirk ein Landgericht seinen Sitz hat, als Insolvenzgericht für den Bezirk dieses Landgerichts – sachlich – 1 Die Ersetzung des Wortes „Insolvenzantrag“ durch das Wort „Eröffnungsantrag“ in § 15a InsO auf Grund des ESUG (Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582) ist lediglich redaktioneller Natur und dient dem einheitlichen Sprachgebrauch innerhalb der Insolvenzordnung (BT-Drucks. 17/5712, S. 34). Im Folgenden wird aufgrund der allgemeinen Geläufigkeit und entgegen dem Gesetzeswortlaut gleichwohl durchweg der Begriff „Insolvenzantrag“ verwendet. 2 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 40. 3 Mit dem Gesetz zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und zur Begrenzung der Organhaftung bei einer durch die COVID-19-Pandemie bedingten Insolvenz (COVInsAG) hat der Gesetzgeber im Zeitraum ab dem 1.3.2020 weitreichende Ausnahmen von der Insolvenzantragspflicht beschlossen und in der Folgezeit wiederholt bis zum 31.1.2021 verlängert (vgl. BGBl. I 2020, 569; BGBl. I 2020, 2016; BGBl. I 2020, 3256); vgl. hierzu auch Heinrich, NZI 2021, 71). 4 Handelt es sich bei dem angerufenen Gericht um ein Gericht eines anderen Gerichtszweiges, verweist dieses Gericht gemäß § 17a Abs. 2 GVG in Verbindung mit § 48 Abs. 1 ArbGG, § 173 VwGO, § 155 FGO oder § 202 SGG von Amts wegen an das zuständige Insolvenzgericht. 5 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 40.

584 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.5 § 15

ausschließlich zuständig1. Aus diesem Grund ist es den Verfahrensbeteiligten nicht gestattet, im Wege einer Parteivereinbarung ein anderes Gericht zum Insolvenzgericht zu bestimmen (§ 4 InsO i.V.m. § 40 Abs. 2 ZPO). Beim Insolvenzgericht handelt es sich um die mit einem Einzelrichter besetzte Abteilung des Amtsgerichts, die nach dem Geschäftsverteilungsplan für Insolvenzverfahren zuständig ist2. Die Geschäftsverteilung innerhalb des Amtsgerichts bestimmt das Präsidium (§ 21e GVG). Üblicherweise überträgt es die Insolvenzsachen eigenen Abteilungen. Obwohl der Gesetzgeber mit der Regelung des § 2 Abs. 1 InsO eine Konzentration der Insolvenzgerichte angestrebt hat, haben die Landesregierungen von Bayern, Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein von der in § 2 Abs. 2 InsO vorgesehenen Ermächtigung Gebrauch gemacht und andere oder zusätzliche Amtsgerichte zu Insolvenzgerichten bestimmt3. Zwar mag mit dieser Verfahrensweise eine größere Bürgernähe erreicht werden. Das Abweichen von einer strikten Konzentration der Insolvenzgerichte am Sitz des Landgerichts birgt aber die Gefahr in sich, dass insbesondere an kleinen Amtsgerichten tätige Richter und Rechtspfleger angesichts geringer Verfahrenszahlen nicht hinreichend Erfahrung und Sachkunde in Insolvenzsachen erlangen können4. Diese ist aber gerade bei Unternehmensinsolvenzen besonders gefordert.

15.3

Die Professionalisierung der Insolvenzverfahren auf Seiten der Insolvenzgerichte bzw. -richter war ein besonderes Anliegen im Gesetzgebungsverfahren zum ESUG5. Nach den Vorstellungen der Bundesregierung sollte vor allem mit einer Konzentration der Zuständigkeit der Insolvenzgerichte sichergestellt werden, dass Richter und Rechtspfleger an den Insolvenzgerichten durch wiederholte Behandlung ähnlicher Fälle besondere Erfahrung und Sachkunde in Insolvenzsachen erwerben können6. Auf Betreiben des Bundesrats wurde die im Regierungsentwurf vorgesehene zwingende Konzentrationsregelung verworfen. Mit Recht hat die Bundesregierung in ihrer Gesetzesbegründung darauf hingewiesen, dass gerade bei Unternehmensinsolvenzen, bei denen eine Fortführung und Sanierung durch einen Insolvenzplan in Betracht kommt, eine zügige und sachkundige Begleitung durch das Insolvenzgericht unabdingbar ist. Dies erfordere, dass die beteiligten Gerichtspersonen Erfahrung auch mit den Sanierungsinstrumenten der Insolvenzordnung sammeln.

15.4

Durch das Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen vom 13.4.20177 hat der Gesetzgeber einen weiteren Versuch unternommen, die Konzentration der Insolvenzgerichte voranzubringen. § 2 Abs. 3 InsO sieht eine Zuständigkeitskonzentration auf der Ebene der Oberlandesgerichtsbezirke vor. Durch Rechtsverordnung soll je Bezirk eines Oberlandesgerichts ein Insolvenzgericht bestimmt werden, an dem ein Gruppen-Gerichtsstand nach § 3a Abs. 1 InsO begründet werden kann8. Ausweislich des § 2 Abs. 3 Satz 2 InsO

15.5

1 Die in der Praxis zuständigen Insolvenzgerichte lassen sich leicht über die Internetseite „www.in solvenzbekanntmachungen.de“ über die Registerkarte „Bekanntmachungen suchen“ und über die Funktion „Detailsuche“ für jedes einzelne Bundesland nachschlagen. 2 Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 2 InsO Rz. 4. 3 Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 2 InsO Rz. 7. 4 S. Begr. RegE, Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, Bd. I, S. 155 ff. 5 Hirte/Knof/Mock, Das neue Insolvenzrecht nach dem ESUG, 2012, S. 65. 6 BT-Drucks. 12/2443, S. 109. 7 BGBl. I 2017, 866. 8 Diesem Auftrag sind die Länder überwiegend nachgekommen. Vergleiche exemplarisch für NRW: Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit in Insolvenzsachen bei Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands nach § 3a Insolvenzordnung (KonzentrationsVO Gruppen-Gerichtsstand in Insolvenzsachen) v. 21.4.2018, GV. NRW S. 239.

Bast | 585

§ 15 Rz. 15.5 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

können die konzernspezifischen Zuständigkeiten eines Insolvenzgerichts innerhalb eines Landes auch über die Grenzen der Oberlandesgerichtsbezirke erstreckt werden, so dass insbesondere auch Lösungen möglich sind, bei denen je Land ein Insolvenzgericht für die konzernspezifischen Verfahren ausschließlich zuständig ist. § 3a InsO sieht einen Gruppen-Gerichtsstand1 vor, wenn der Schuldner, der einer Unternehmensgruppe i.S. des § 3e InsO angehört und der einen zulässigen Insolvenzantrag gestellt hat, den Antrag stellt, dass sich das angerufene Insolvenzgericht auch für die Insolvenzverfahren der anderen gruppenangehörigen Schuldner (sog. Gruppen-Folgeverfahren, vgl. § 3c InsO) für zuständig erklärt. Dieses Antragsrecht geht gemäß § 3a Abs. 3 InsO im Eröffnungsverfahren auf einen starken vorläufigen Insolvenzverwalter und mit Insolvenzeröffnung auf den Insolvenzverwalter über. Entscheidend für den Antrag ist jeweils, dass der Schuldner nicht offensichtlich von untergeordneter Bedeutung für die gesamte Unternehmensgruppe ist. § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO enthält insoweit eine Vermutung, die sich an der Anzahl der Arbeitnehmer, der Bilanzsumme und der Umsatzerlöse des Schuldners im Verhältnis zur gesamten Gruppe orientiert. Wird ein GruppenGerichtsstand gebildet, besteht dieser gemäß § 3b InsO auch dann fort, wenn es nicht zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des antragstellenden Schuldners kommt oder das Verfahren aufgehoben bzw. eingestellt wird, solange bei demselben Gericht noch ein Verfahren über einen anderen gruppenangehörigen Schuldner anhängig ist. Auch für alle Folgeverfahren bleibt gemäß § 3c InsO die Abteilung zuständig, die für das Verfahren zuständig ist, in dem der Gruppen-Gerichtsstand begründet wurde. Wird bei einem anderen Gericht als dem des Gruppen-Gerichtsstands ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines gruppenangehörigen Schuldners gestellt, kann das angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen oder auf Antrag an das Gericht des GruppenGerichtsstands verweisen, § 3d InsO.

2. Funktionelle Zuständigkeit 15.6

Nach § 3 Nr. 2e, § 18 RPflG sind dem Rechtspfleger grundsätzlich die Geschäfte des Amtsgerichts in Insolvenzsachen übertragen. Dem Richter bleiben kraft Gesetzes insbesondere2 vorbehalten das Verfahren bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag unter Einschluss dieser Entscheidung und der Ernennung des Insolvenzverwalters sowie das Schuldenbereinigungsplanverfahren nach den §§ 305–310 InsO (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 RPflG3). Seit dem ESUG ist der Richter u.a. auch für das Verfahren über einen Insolvenzplan nach den §§ 217–256 InsO und §§ 258–269 InsO zuständig4. Dieser hat die Möglichkeit, sich einzelne Verfahrensteile oder das gesamte Verfahren nach § 18 Abs. 2 Satz 1 RPflG vorzubehalten; stets hat er auch eine Rückholbefugnis gemäß § 8 Abs. 1 RPflG.

3. Örtliche Zuständigkeit 15.7

§ 3 InsO regelt die örtliche Zuständigkeit des nach § 2 InsO sachlich zuständigen Gerichts. Auf Grund des § 3 Abs. 3 InsO gilt das sog. Prioritätsprinzip, d.h. wenn mehrere Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt werden, schließt dasjenige Insolvenzgericht, bei dem zuerst ein Antrag gestellt worden ist, die übrigen angerufenen Gerichte aus. Die rechts1 S. hierzu: Laroche, ZInsO 2017, 2585. 2 Becker in Nerlich/Römermann, § 2 InsO Rz. 19, spricht insoweit zutreffend von „Kernangelegenheiten“. 3 S. ferner die weiteren Zuständigkeitszuweisungen in § 18 Abs. 1 Nr. 2 und 3 RPflG. 4 BGBl. I 2011, 2582.

586 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.10 § 15

kräftige – frühere – Insolvenzeröffnung durch ein Insolvenzgericht steht der Weiterführung eines Verfahrens auf Insolvenzeröffnung durch ein anderes Gericht entgegen1. Der allgemeine Gerichtsstand des Schuldners gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO bestimmt sich nach den §§ 13–17 ZPO. Der für das Insolvenzverfahren ausschlaggebende Gerichtsstand juristischer Personen wie der GmbH ergibt sich aus ihrem Sitz (§ 17 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Bei der an den allgemeinen Gerichtsstand des Schuldners geknüpften örtlichen Zuständigkeit handelt es sich um eine ausschließliche. Allerdings richtet sich die Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit in erster Linie nach dem Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners (§ 3 Abs. 1 Satz 2 InsO)2. Weicht dieser vom satzungsmäßigen Sitz der Gesellschaft ab, verdrängt § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO die Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO. Aus diesem Grunde hat das Insolvenzgericht stets vorrangig zu prüfen, wo sich bei der GmbH der Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit befindet. Diese Prüfung erfolgt von Amts wegen (§ 5 InsO).

15.8

Für die Bestimmung des Mittelpunkts der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners ist mit der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur3 auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen, nicht aber vordringlich auf gewisse Förmlichkeiten, wie etwa den aus dem Handelsregister ersichtlichen, dort eingetragenen Sitz4. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, wo die grundsätzlichen Entscheidungen der Unternehmensleitung in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden5. Hat die Schuldnerin mehrere Betriebsstätten, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts danach, wo das Unternehmen den Schwerpunkt seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Ist die eine Betriebsstätte zwar hinsichtlich ihres Jahresumsatzes und ihrer Mitarbeiterzahl größer als die andere, wird die Schuldnerin aber steuerlich an der anderen Betriebsstätte geführt und wird dort auch der gesamte Zahlungsverkehr abgewickelt sowie die Lohnbuchhaltung geführt und werden dort die Bilanzen erstellt, begründet dies die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts an der anderen Betriebsstätte6.

15.9

Die selbständige wirtschaftliche Tätigkeit muss bereits aufgenommen und darf noch nicht beendet sein. Sie endet mit der Einstellung der werbenden, nach außen gerichteten Tätigkeit des Schuldners, wofür aber greifbare Anhaltspunkte vorliegen müssen. Für die Abgrenzung zwischen noch wirtschaftlicher Tätigkeit und reinen Abwicklungsmaßnahmen wird man auf den konkreten Einzelfall abstellen müssen7. Allenfalls Abwicklungstätigkeiten mit Außenwirkung von einigem Gewicht sind einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit gleichzustellen. Diese liegen nur vor, wenn der Schuldner noch Tätigkeiten entfaltet, die gegenüber einer nicht unerheblichen Anzahl von außenstehenden Dritten und in einem erheblichen

15.10

1 2 3 4

OLG München v. 21.1.2014 – 34 AR 277/13, ZIP 2014, 741. Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 3 InsO Rz. 3. S. die Nachweise bei Sternal in Kayser/Thole, § 3 InsO Rz. 9 und 10. Vgl. Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 10; Becker in Nerlich/Römermann, § 3 InsO Rz. 23 ff.; Stephan in Karsten Schmidt, § 3 InsO Rz. 7; Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 3 InsO Rz. 8 m.w.N.; vgl. auch Brandenburgisches Oberlandesgericht v. 19.6.2002 – 1 AR 27/02, NZG 2003, 42; AG Köln v. 1.2.2008 – 73 IN 682/07, ZIP 2008, 982 – (PIN I), NZI 2008, 254, 255. 5 Vgl. BGH v. 21.3.1986 – V ZR 10/85, BGHZ 97, 272 = GmbHR 1986, 351; AG Köln v. 1.2.2008 – 73 IN 682/07 – (PIN I), NZI 2008, 254, 255 = ZIP 2008, 982. 6 AG Düsseldorf v. 4.6.2008 – 500 IE 1/08. 7 Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 3 InsO Rz. 12 m.w.N.

Bast | 587

§ 15 Rz. 15.10 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Umfang gegenüber solchen Dritten wirken, so etwa wenn noch restliche Warenbestände verkauft werden, Rechnungen erstellt und versandt werden, Forderungen eingezogen werden etc. Rein interne Vorgänge oder Verwaltungsmaßnahmen wie Buchungsarbeiten, Erstellung bzw. Berichtigung des Jahresabschlusses etc. sind dagegen unerheblich1. Dies gilt auch für schlichte Korrespondenz mit den Gläubigern2, oder die bloße Entgegennahme von Zustellungen.

15.11

Ist die werbende Tätigkeit beendet, kann der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der GmbH nicht mehr verlegt werden. Für das Insolvenzverfahren einer GmbH, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit bereits vor der Stellung des Insolvenzantrags eingestellt hatte, ist das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren satzungsmäßig festgelegten Sitz hat3. Dieser richtet sich bei einer GmbH nach dem im Gesellschaftsvertrag festgelegten und in das Handelsregister eingetragenen Sitz der Gesellschaft (s. schon Rz. 15.8)4.

15.12

Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG)5 hat der Gesetzgeber in § 3 Abs. 2 InsO aus Gründen der effizienteren und erleichterten Verfahrensbearbeitung sowie Kontinuität bei den Gerichten einen weiteren Wahlgerichtsstand eingefügt. Danach bleibt auch das Insolvenzgericht, bei dem der Schuldner als Restrukturierungsgericht in den letzten sechs Monaten vor der Antragstellung Instrumente gemäß § 29 StaRUG (Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz) in Anspruch genommen hat, örtlich zuständig. Da die Inanspruchnahme der Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens eine vertiefte Prüfung und Fallbefassung durch das Restrukturierungsgericht erfordern, zugleich aber nicht alle Insolvenzgerichte Restrukturierungsgerichte sind, wird dem Schuldner in den vorgesehenen Konstellationen ein Wahlrecht eingeräumt und ein zusätzlicher Gerichtsstand für ein Insolvenzverfahren an dem Insolvenzgericht begründet, das zugleich Restrukturierungsgericht ist. Die Sachkenntnis des Restrukturierungsgerichts aus einem vorangegangenen Restrukturierungsvorhaben kann so auch für ein nachfolgendes Insolvenzverfahren eingesetzt und nutzbar gemacht werden. Andernfalls wäre es denkbar, dass für ein nachfolgendes Insolvenzverfahren nicht das Insolvenzgericht zuständig ist, an dem zugleich das Restrukturierungsgericht seinen Sitz hat. Dies würde zu Synergieverlusten und Ineffizienzen führen6.

15.13

Grundsätzlich gilt: Ein Antragsteller, gleichgültig ob Gläubiger oder Schuldner, hat bei mehreren Zuständigkeiten die Wahl zwischen den einzelnen Gerichtsständen (§ 35 ZPO)7. Für die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit kommt es grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung an8. Ist im Antragszeitpunkt die örtliche Zuständigkeit gegeben, so sind später eintretende Veränderungen der Verhältnisse unerheblich, und zwar selbst dann, wenn sie noch vor der Entscheidung des Gerichts vollzogen werden. So bleibt etwa das zuerst angegangene 1 Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 7b m.w.N. 2 LG Bonn v. 13.1.2012 – 6 T 83/11, ZInsO 2012, 938; a.A. OLG Stuttgart v. 8.1.2009 – 8 AR 32/08, NZI 2009, 181 = GmbHR 2009, 608. 3 OLG Hamm v. 14.1.2000 – 1 Sbd 100/99, NZI 2000, 220, 221; OLG Braunschweig v. 13.4.2000 – 1 W 29/00, NZI 2000, 266, 267; OLG Zweibrücken v. 2.10.2001 – 2 AR 49/01, InVo 2002, 367 = GmbHR 2000, 826 = ZIP 2000, 1118; OLG Schleswig v. 4.2.2004 – 2 W 14/04, NZI 2004, 264; OLG Köln v. 22.3.2000 – 2 W 49/00, NZI 2000, 232; OLG Frankfurt v. 11.2.2014 – 11 SV 102/13. 4 OLG Köln v. 22.3.2000 – 2 W 49/00, NZI 2000, 232 = GmbHR 2000, 570. 5 BT-Drucks. 19/24181, S. 7 ff. 6 BT-Drucks. 19/24181, S. 191. 7 Pape in Uhlenbruck, § 3 InsO Rz. 6. 8 OLG Frankfurt v. 11.2.2014 – 11 SV 102/13; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 5 m.w.N.

588 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.16 § 15

Gericht auch zuständig, wenn der Schuldner seinen Wohnsitz noch vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens wechselt1. Ist hingegen die Zuständigkeit im Antragszeitpunkt nicht gegeben, sind, mit Ausnahme des § 3 Abs. 3 InsO, Änderungen noch bis zur Entscheidung des Gerichts zu berücksichtigen2. Denn bei gegenteiliger Auffassung ist es vor dem unzweideutigen Gesetzeswortlaut schlechterdings nicht vorstellbar, dass ein im Wege der Verweisung erstmals mit dem Insolvenzantrag befasstes Gericht gemäß § 4 InsO, § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO zuständig werden können sollte, obschon es im Zeitpunkt seiner ersten Befassung mit dem Antrag erkennbar unzuständig ist, wohingegen das verweisende Gericht seine Zuständigkeit im Verweisungszeitpunkt jedenfalls nicht mehr verneinen kann. Etwas anderes gilt indes dann, wenn die nachträglichen Umstände zum Zwecke der Gerichtsstandserschleichung rechtsmissbräuchlich vorgenommen worden sind3.

15.14

Bei konzernverbundenen Unternehmen gelten bezüglich der Frage der örtlichen Zuständigkeit der einzelnen Gesellschaften vorbehaltlich der Regelungen zum Gruppen-Gerichtsstand nach den §§ 2 Abs. 3, §§ 3a ff. InsO (näher dazu Rz. 15.5) grundsätzlich keine Besonderheiten. Das deutsche Recht sieht einen allgemeinen Konzerngerichtsstand nicht vor. Insbesondere kann durch die rechtliche Verbindung von Konzernunternehmen nicht zwingend darauf rückgeschlossen werden, dass ein identischer oder gemeinschaftlicher Gerichtsstand für alle verbundenen Unternehmen vorliegt oder stets der wirtschaftliche Mittelpunkt aller Konzernunternehmen an einem Ort besteht. Das deutsche Konzernverständnis setzt nämlich die Eigenständigkeit der jeweiligen konzerngebundenen Gesellschaften voraus4. Aus diesem Grunde findet eine Vereinheitlichung von Rechts wegen weder materiell-rechtlich noch verfahrensrechtlich statt. Folglich ist für jede konzerngebundene Gesellschaft individuell die örtliche Zuständigkeit nach Maßgabe des § 3 InsO festzustellen und zu bestimmen5.

15.15

Bei einem Verfahren mit Auslandsbezug (näher dazu Rz. 43.1 ff.) hat der Geschäftsführer der GmbH vor Antragstellung zu prüfen, ob nicht ein ausländisches Gericht für das einzuleitende Insolvenzverfahren international zuständig sein könnte. Soweit sich der satzungsmäßige Sitz der GmbH im Ausland befindet, wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 1 EuInsVO6 vermutet, dass die Gesellschaft dort auch den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen (COMI) hat und weder eine internationale noch eine örtliche Zuständigkeit eines deutschen Insolvenzgerichts gegeben ist. Der satzungsmäßige Sitz ist als formelles Kriterium transparent und vom Rechtsanwender durch einen Blick in die einschlägigen Register leicht festzustellen. Der Verordnungsgeber hat in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 EuInsVO eine „Suspektperiode“ eingeführt, wonach diese Vermutung nur gilt, wenn der Sitz nicht in einem Zeitraum von drei Monaten vor dem Insolvenzantrag in einen anderen Mitgliedsstaat verlegt worden ist. Die Vermutung gilt aber auch nur bis zum Beweis des Gegenteils7. Das Gericht darf sich nicht mit der Feststellung des satzungsmäßigen Sitzes begnügen, sondern hat von Amts wegen zu prüfen, welche Interessen des Schuldners im Mittelpunkt stehen und wo diese lokalisiert

15.16

1 Pape in Uhlenbruck, § 3 InsO Rz. 6 m.w.N. 2 Vgl. Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 5 m.w.N.; Sternal in Kayser/Thole, § 3 InsO Rz. 5. 3 Näher dazu Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 38 ff. 4 Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 3 InsO Rz. 15. 5 AG Köln v. 1.2.2008 – 73 IN 682/07, NZI 2008, 254 = ZIP 2008, 982. 6 Näher hierzu Knof in Uhlenbruck, InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 6, 23 ff. 7 Zur Widerlegung näher Knof in Uhlenbruck, InsO, Art. 3 EuInsVO Rz. 23 ff.

Bast | 589

§ 15 Rz. 15.16 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

sind. Versucht der Schuldner, seine Verlegung des COMI ins Ausland dem inländischen Insolvenzgericht entgegenzuhalten, trägt er für seine Behauptungen uneingeschränkt die Darlegungs- und Beweislast1.

4. Form 15.17

§ 13 Abs. 1 Satz 1 InsO sieht für den Insolvenzantrag eines Schuldners oder Gläubigers ausdrücklich die Schriftform vor. Ein per Telefax oder als elektronisches Abbild unter Wiedergabe der Unterschrift des Antragstellers gestellter Insolvenzantrag wird nicht allein deshalb unwirksam, dass der Antragsteller das Original nicht nachreicht2.

15.18

Ebenso wie für das Verbraucherinsolvenzverfahren (vgl. § 305 Abs. 1 Satz 1 InsO) hat der Gesetzgeber auch für das Regelinsolvenzverfahren in § 13 Abs. 4 InsO eine Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz normiert, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates für die Antragstellung durch den Schuldner ein – amtliches – Formular einzuführen, das zwingend zu verwenden ist. Da bislang von dieser Ermächtigung kein Gebrauch gemacht worden ist, hat der Geschäftsführer der GmbH lediglich die Schriftform zu wahren. Aufgrund der Begründung des Regierungsentwurfs zum ESUG3 besteht weiterhin die Erwartung, dass auf Basis dieser Regelung auch für das Regelinsolvenzverfahren ein Formular bzw. mehrere Formulare eingeführt werden4. Musterantragsformulare und Merkblätter für den Schuldnerantrag finden sich heute schon vereinzelt auf den JustizInternetseiten der Bundesländer5. Ein zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts gestellter Insolvenzantrag ist unzulässig und ggf. zurückzuweisen.

15.19

Für einen Antrag zur Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands (vgl. hierzu Rz. 15.5 bei Konzerninsolvenz sieht § 13a InsO neben der Schriftform weitere Pflichtangaben vor. Die Vorschrift dient der Prüfung des Gerichts, ob dem Antrag auf Bestimmung eines Gruppen-Gerichtsstands nach § 3a InsO zu entsprechen ist6. Neben den Angaben zu den übrigen Mitgliedern der Unternehmensgruppe, insbesondere zum Namen, Sitz, Unternehmensgegenstand, Bilanzsumme, Umsatzerlöse und durchschnittliche Zahl der Arbeitnehmer (Abs. 1 Nr. 1) ist darzulegen, aus welchen Gründen eine Verfahrenskonzentration am angerufenen Insolvenzgericht im gemeinsamen Interesse der Gläubiger liegt (Abs. 2 Nr. 2). Ferner ist anzugeben, ob eine Fortführung oder Sanierung der Unternehmensgruppe oder eines Teils davon angestrebt wird (Abs. 1 Nr. 3). Letztlich sind Angaben zur Beteiligung von gruppenangehörigen beaufsichtigten Finanzinstituten (Abs. 1 Nr. 4) und anhängiger Insolvenzverfahren anderer gruppenangehöriger Unternehmen einschließlich des zuständigen Insolvenzgerichts und des Aktenzeichens (Abs. 1 Nr. 5) erforderlich.

15.20–15.30

1 2 3 4 5 6

Einstweilen frei.

AG Köln v. 19.1.2012 – 74 IN 108/10, NZI 2012, 379. BGH v. 27.1.2004 – VI ZB 30/03, NJOZ 2004, 1430. BT-Drucks. 17/5712, S. 23. Gundlach in Karsten Schmidt, § 3 InsO Rz. 46. Exemplarisch: www.justiz.nrw.de; www.berlin.de. Brünkmans, ZIP 2013, 193, 196 ff.

590 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.33 § 15

II. Antragsberechtigte 1. Grundlagen Das Insolvenzrecht unterscheidet zwischen dem Eigenantrag des Schuldners und dem Gläubigerantrag (§ 13 Abs. 1 Satz 2 InsO). Antragsberechtigt nach § 13 Abs. 1 Satz 2 InsO sind nur solche Gläubiger, die (in Anlehnung an die Definition des Insolvenzgläubigers in § 38 InsO) einen zur Zeit der Entscheidung über den Insolvenzantrag begründeten persönlichen Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben1. Der Antrag eines Gläubigers – dies kann z.B. auch ein Gesellschafter oder ein Organmitglied der GmbH sein – ist nach § 14 Abs. 1 InsO zulässig, wenn der Gläubiger ein rechtliches Interesse an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat und seine Forderung und den Eröffnungsgrund glaubhaft macht. Der Gläubigerantrag setzt ein Rechtsschutzbedürfnis voraus2; er muss auf die Teilnahme an einem Insolvenzverfahren gerichtet sein und die mindestens anteilige Befriedigung der eigenen Forderung zum Ziel haben. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn dem antragstellenden Gläubiger ein einfacherer, schnellerer und günstigerer Weg zur vollständigen Befriedigung seiner Forderung zur Verfügung steht3.

15.31

2. Eigenantrag a) Für den Eigenantrag der GmbH gilt § 15 InsO: Jeder Geschäftsführer oder Liquidator kann den Eigenantrag stellen (§ 15 Abs. 1 InsO). Der Insolvenzantrag ist zulässig, wenn der Antrag beim zuständigen Gericht gestellt wurde, die allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen vorliegen und der Eröffnungsgrund in substantiierter, nachvollziehbarer Form dargelegt ist. Dabei ist keine Schlüssigkeit im zivilprozessualen Sinne zu verlangen. Der Bundesgerichtshof4 lässt es ausreichen, dass die dargelegten Tatsachen die wesentlichen Merkmale eines Eröffnungsgrundes erkennen lassen. Die tatsächlichen Angaben des Schuldners müssen die Finanzlage des Schuldners nachvollziehbar darstellen5.

15.32

Das ESUG hat die formellen Anforderungen, die an den Eigenantrag zu stellen sind, noch einmal deutlich verschärft6. Die Vorschrift des § 13 InsO enthält ein leicht verwirrendes und in sich nicht stimmiges Geflecht von Ist- und Sollbestimmungen hinsichtlich der vom Schuldner bei einem Eigenantrag vorzulegenden Unterlagen7. Eindeutig ist die Regelung in § 13 Abs. 1 Satz 3 InsO. Danach hat der Schuldner seinem Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Verzeichnis seiner Gläubiger und ihrer Forderungen beizufügen. Die Vorschrift soll einen ordnungsgemäßen Ablauf des Insolvenzverfahrens gewährleisten und es dem Gericht erleichtern, die Gläubiger bereits in einem frühen Verfahrensstadium einzubeziehen8.

15.33

1 Mitgliedsrechte der Aktionäre einer Aktiengesellschaft begründen keine Insolvenzforderung nach § 38 InsO (BGH v. 30.6.2009 – IX ZA 21/09, FD-InsO 2009, 285919). 2 BGH v. 5.5.2011 – IX ZB 250/10, NZI 2011, 632; BGH v. 13.6.2006 – IX ZB 214/05, ZIP 2006, 1456; BGH v. 29.6.2006 – IX ZB 245/05, ZIP 2006, 1452. 3 BGH v. 10.12.2020 – IX ZB 24/20, ZIP 2021, 136. 4 BGH v. 12.12.2002 – IX ZB 426/02, ZIP 2003, 358, 359. 5 LG Göttingen v. 22.12.2003 – 10 T 142/03, NZI 2004, 149 = ZIP 2004, 1427; Laroche in Vallender/ Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 16. 6 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 16. 7 Vallender, MDR 2012, 61. Angesichts der Komplexität der Vorschrift wäre es wünschenswert, dass das BMJV, wie angekündigt (BT-Drucks. 17/5712, S. 34), von seiner Verordnungsermächtigung nach § 13 Abs. 4 InsO Gebrauch macht und verbindliche Formulare für den Insolvenzantrag auch im Regelinsolvenzverfahren einführt. 8 BT-Drucks. 17/5712, S. 33.

Bast | 591

§ 15 Rz. 15.33 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 7 InsO ist dem Gläubigerverzeichnis die Erklärung beizufügen, dass die enthaltenen Angaben richtig und vollständig sind.

15.34

Auch diese Pflicht besteht für jeden Eigenantrag, unabhängig davon, ob der Geschäftsbetrieb noch nicht eingestellt ist oder ob qualifizierende Merkmale nach § 13 Abs. 1 Satz 6 InsO gegeben sind. Das Gläubigerverzeichnis muss grundsätzlich sämtliche Forderungen wiedergeben, einschließlich der noch nicht fälligen, der bedingten sowie der bestrittenen Forderungen, denn auch deren Inhaber sind Insolvenzgläubiger i.S. des § 38 InsO1. Anzugeben sind die vollständigen Namen bzw. Firmen der Gläubiger mit den ladungsfähigen Anschriften2. Da das Verzeichnis verpflichtend ist, hat das Insolvenzgericht den Insolvenzantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn der Schuldner es nicht innerhalb einer ihm nach § 13 Abs. 3 InsO gesetzten Frist nachreicht.

15.35

Hat der Schuldner einen Geschäftsbetrieb, der nicht eingestellt ist, sollen in dem Verzeichnis die höchsten Forderungen, die Forderungen der Finanzverwaltung, die Forderungen der Sozialversicherungsträger sowie die Forderungen aus betrieblicher Altersversorgung kenntlich gemacht werden (§ 13 Abs. 1 Satz 4 InsO). Obwohl die Bestimmung keine Verpflichtung normiert, hat der Schuldner nach § 13 Abs. 1 Satz 5 InsO in diesem Fall auch Angaben zur Bilanzsumme, zu den Umsatzerlösen und zur durchschnittlichen Zahl der Arbeitnehmer des vorangegangenen Geschäftsjahres zu machen3. Verpflichtend sind die in § 13 Abs. 1 Satz 4 InsO vorgesehenen Angaben nur unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Satz 6 InsO, d.h. wenn der Schuldner die Eigenverwaltung beantragt, die Merkmale des § 22a Abs. 1 InsO erfüllt sind oder die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses beantragt wurde. Genügt der Antrag nicht diesen Anforderungen, hat das Gericht den Schuldner gemäß § 13 Abs. 3 InsO unverzüglich darauf hinzuweisen und ihm Gelegenheit zu geben, binnen einer angemessenen Frist den Mangel zu beheben. Kommt der Schuldner dem nicht nach, ist der Antrag als unzulässig zurückzuweisen.

15.36

Wird der Insolvenzantrag nicht von allen Geschäftsführern oder Liquidatoren gestellt, so ist er nur zulässig, wenn der Eröffnungsgrund glaubhaft gemacht wird (§ 15 Abs. 2 Satz 1 InsO i.V.m. § 294 ZPO). Im Falle der Führungslosigkeit einer GmbH (§ 10 Abs. 2 Satz 2 GmbHG) hat der antragstellende Gesellschafter zusätzlich auch die Führungslosigkeit glaubhaft zu machen (§ 15 Abs. 2 Satz 2 InsO). Das Insolvenzgericht hat im Anschluss daran die übrigen Antragsberechtigten i.S. von Abs. 1 anzuhören.

15.37

Für den Eigenantrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gelten die Sonderregeln des § 18 InsO: Dieser Antrag muss nach § 18 Abs. 3 InsO von einer vertretungsberechtigten Anzahl von Geschäftsführern gestellt werden, und diese sind gesellschaftsrechtlich verpflichtet, vor der Stellung des Eigenantrags wegen drohender Zahlungsunfähigkeit – anders als in Fällen der Überschuldung oder der bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit – die Zustimmung der Gesellschafter einzuholen. Die Zulässigkeit des Antrags hängt aber hiervon nicht ab.

1 Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 13 InsO Rz. 106; Wegener in Uhlenbruck, § 13 InsO Rz. 101. 2 Wegener in Uhlenbruck, § 13 InsO Rz. 100 m.w.N. 3 Ob diese Angaben bei einem Geschäftsbetrieb, der nicht eingestellt ist, zwingend sind, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt (zwingend: Pape, ZInsO 2011, 2154, 2155; Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 17; nicht zwingend: Frind, ZInsO 2011, 2249, 2252 f.).

592 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.40 § 15

Abgesehen vom Fall des § 18 InsO kann jeder Geschäftsführer bzw. Liquidator den Antrag stellen, auch wenn er nur gesamtvertretungsberechtigt ist1. Jeder einzelne Geschäftsführer bzw. Liquidator muss auch ggf. gemäß § 15a InsO handlungsfähig sein. Allerdings ergibt sich aus dem soeben zu § 15 Abs. 2 InsO und zu § 18 Abs. 3 InsO Gesagten, dass ein Unterschied hinsichtlich der Glaubhaftmachung besteht: Nur der von allen Geschäftsführern gestellte Antrag ist ohne Glaubhaftmachung zulässig, und nur der in vertretungsberechtigter Anzahl gestellte Antrag kann auch auf drohende Zahlungsunfähigkeit gestützt werden.

15.38

Nach einer weit verbreiteten Auffassung soll den Antrag nur zurücknehmen können, wer ihn gestellt hat2. Diese Auffassung erscheint jedoch zu eng3. Ihr ist nur zu folgen, soweit es um einen Gläubigerantrag geht, nicht dagegen für den Eigenantrag. Die Rücknahme des Eigenantrags bei einer GmbH oder GmbH & Co. KG kann nicht an die Person des antragstellenden Geschäftsführers gebunden sein, anderenfalls könnte die Situation entstehen, dass der einmal gestellte Insolvenzantrag nicht mehr zurücknehmbar wäre, was zu entscheidenden Nachteilen für die Gesellschaft und deren Gläubiger führen könnte. Nach der hier vertretenen Ansicht können in vertretungsberechtigter Anzahl auch andere den Antrag zurücknehmen4. Dazu können die Gesellschafter sie auch anweisen. Nachträgliche Amtsniederlegung macht den Antrag nicht unwirksam. Jedenfalls für diesen Fall ist anerkannt, dass der verbliebende Geschäftsführer einer GmbH den Antrag zurücknehmen kann5.

15.39

b) Nicht antragsberechtigt sind sog. „faktische Organe“, wobei aber sorgsam zwischen fehlerhaft bestellten, ggf. sogar im Handelsregister eingetragenen und wirklich bloß „faktischen Geschäftsführern“ zu unterscheiden ist6. Wer fehlerhaft als Geschäftsführer bestellt ist, wird den Antrag stellen können, solange die Bestellung zum Geschäftsführer nicht widerrufen oder die Nichtigkeit der Bestellung evident ist. Wer dagegen nur faktisch eine geschäftsführerähnliche Position innehat – z.B. selbst einen ordnungsgemäß bestellten Geschäftsführer vorschiebt –, kann die Gesellschaft beim Insolvenzantrag nicht wirksam vertreten7. Das ändert allerdings nichts daran, dass auch der „faktische Geschäftsführer“ die sog. „Insolvenzantragspflicht“ verletzen kann, was richtigerweise bedeutet: Er kann wegen Insolvenzverschleppung haftbar und sogar strafbar sein8 (dazu Rz. 38.1). Es besteht keine Notwendigkeit, ihm nur um der

15.40

1 AG Göttingen v. 1.10.2010 – 74 IN 204/10, ZInsO 2011, 1114 = ZIP 2011, 394; Gundlach in Karsten Schmidt, § 15 InsO Rz. 3; ebenso schon die für § 208 KO h.M.; vgl. nur Delhaes, Der Insolvenzantrag, 1994, S. 108 m.w.N. 2 LG Tübingen v. 10.8.1960 – 1 T 67/60, KTS 1961, 158; LG Dortmund v. 23.9.1985 – 9 T 560/85, GmbHR 1986, 91 = ZIP 1985, 1341; LG Duisburg v. 3.11.1994 – 43 N 231/94, ZIP 1995, 582; AG Potsdam v. 11.4.2000 – 35 IN 110/00, NZI 2000, 328; Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15 InsO Rz. 83. 3 Offen gelassen hat dies: BGH v. 10.7.2008 – IX ZB 122/07, DB 2008, 1908 = GmbHR 2008, 987 m. Anm. Blöse. 4 Wegener in Uhlenbruck, § 13 InsO Rz. 161 m.w.N.; Karsten Schmidt, ZGR 1998, 633, 655. 5 BGH v. 10.7.2008 – IX ZB 122/07, DB 2008, 1908 = GmbHR 2008, 987 m. Anm. Blöse. 6 Streitig: Vgl. Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15 InsO Rz. 11 m.w.N.; Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 15 InsO Rz. 16; a.A. Gundlach in Karsten Schmidt, § 15 InsO Rz. 13; Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 23, wonach dem faktischen Geschäftsführer ein Antragsrecht zustehen soll, wenn er darlegt, dass er die maßgeblichen, für den wirtschaftlichen Fortbestand des Unternehmens entscheidenden Maßnahmen trifft. 7 A.A. Sternal in Kayser/Thole, § 15 InsO Rz. 10 mit Nachw. zum Streitstand. 8 BGH v. 18.12.2014 – 4 StR 323/14, 4 StR 324/14, GmbHR 2015, 191.

Bast | 593

§ 15 Rz. 15.40 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Strafbarkeit willen ein echtes Antragsrecht zuzuerkennen1. Im Übrigen sind die Rechte und Pflichten im Insolvenzeröffnungsverfahren bei Rz. 16.52 ff. dargestellt.

15.41

c) Der Aufsichtsrat hat kein Antragsrecht2, ebenso wenig eine Gesellschaftergruppe3. Aber das gilt nur für den Eigenantrag der GmbH. Aufsichtsrat und Gesellschafter sind m.a.W. nicht befugt, die Gesellschaft bei der Stellung eines Eigenantrags zu vertreten. Eigene Antragsrechte haben diese Beteiligten als Gläubiger. Ihr Antrag wird dann allerdings auch in jeder Hinsicht als Gläubigerantrag behandelt.

3. Gläubigerantrag a) Der Insolvenzantrag als Gläubigerkalkül 15.42

Die Stellung eines Insolvenzantrags gegen eine GmbH oder GmbH & Co. KG ist immer eine Frage des Gläubigerkalküls. Die Wahl der Vollstreckungsart ist nicht nur wichtig für die Realisierung der Forderung, sondern auch zugleich für die Kostenbelastung des Gläubigers mit weiteren Prozess- und Vollstreckungskosten gegen das Schuldnerunternehmen. So erspart z.B. die Titulierung von Forderungen im Insolvenzverfahren dem Gläubiger nicht selten die Kosten von Prozessen, für die er als Kläger trotz Obsiegens als Zweitschuldner haftet. Ein Nachteil des Insolvenzverfahrens liegt darin, dass der Gläubiger als Antragsteller zugleich mit anderen Gläubigern nur einen Anspruch auf quotale Befriedigung erlangt. Die Drohung mit einem Insolvenzantrag führt vor allem in Fällen von Zahlungsunwilligkeit oftmals dazu, dass das Schuldnerunternehmen seine Verbindlichkeiten erfüllt4. Der Gesellschafter-Gläubiger muss damit rechnen, dass sein Anspruch auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens im Insolvenzverfahren in den Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zurückgestuft wird, er also im Zweifel keine Befriedigung erlangt5.

15.43

Im Übrigen ist der Antrag eines Gläubigers gemäß § 14 Abs. 1 InsO nur zulässig, wenn der Gläubiger ein rechtliches Interesse (im Einzelnen s. Rz. 15.59) an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat und er seine Forderung und den Eröffnungsgrund glaubhaft macht. Ein missbräuchlicher – etwa zu insolvenzfremden Zwecken gestellter – Antrag ist unzulässig6.

b) Die ordnungsgemäße Antragstellung 15.44

Der Insolvenzantrag gegen eine GmbH oder GmbH & Co. KG bedarf nach § 13 Abs. 1 Satz 1 InsO ebenfalls der Schriftform. Unzulässig sind Eröffnungsanträge mit der Maßgabe, das Ge1 Wie hier auch Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15 InsO Rz. 11; anders Delhaes, Der Insolvenzantrag, 1994, S. 111. 2 Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 15 InsO Rz. 5; Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15 InsO Rz. 18. 3 RG v. 4.11.1895 – Rep. VI 191/95, RGZ 36, 27, 30; allg.M.; vgl. Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 15 InsO Rz. 14. 4 Vgl. Heinemann, ZInsO 2000, 492; Uhlenbruck, Gläubigerberatung in der Insolvenz, S. 223; Uhlenbruck, Die anwaltliche Beratung bei Konkurs-, Vergleichs- und Gesamtvollstreckungsantrag, S. 42 ff. Allerdings unterliegen Druckzahlungen innerhalb der gesetzlichen Krise nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH v. 9.9.1997 – IX ZR 14/97, BGHZ 136, 309, 312; BGH v. 21.3.2000 – IX ZR 138/99, ZIP 2000, 898; BGH v. 27.5.2003 – IX ZR 169/02, NZI 2003, 533; BGH v. 17.7.2003 – IX ZR 215/02, NZI 2004, 87; BGH v. 18.12.2003 – IX ZR 199/02, NZI 2004, 201, 202) der Anfechtung nach § 131 InsO. 5 Hat die Gesellschaft das Gesellschafterdarlehen im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag oder nach diesem Antrag zurückgezahlt, unterliegt es der Anfechtung (§ 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO). 6 Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 71, 72 m.w.N.

594 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.47 § 15

richt möge zunächst einmal den Geschäftsführer des Schuldnerunternehmens anhören. Auch bedingte oder befristete Eröffnungsanträge sind als unzulässig zurückzuweisen1. Dagegen kann das Insolvenzgericht einem Wunsch des Antragstellers entsprechen, die Behandlung des Antrags kurzfristig zurückzustellen2. Dies bedeutet aber nicht, dass der Antrag erst mit dem Zeitpunkt als gestellt gilt, zu dem das Insolvenzgericht mit seiner Bearbeitung beginnt. Die Bitte um kurzfristige Zurückstellung der Behandlung ist vielmehr nur als unverbindliche Anregung zu verstehen. Die Bezeichnung der Parteien (Antragsteller und Antragsgegner) ist zwingend. Es gilt insoweit die Vorschrift des § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO i.V.m. § 4 InsO entsprechend. Der Insolvenzantrag muss unbeschränkt sein. Er kann nicht etwa auf einen bestimmten Vermögensteil des Schuldners beschränkt werden, da der Insolvenzbeschlag das gesamte Schuldnervermögen erfasst3. Die Geschäftsführer brauchen nicht namentlich bezeichnet zu werden. Es genügt, wenn die Gesellschaft bezeichnet wird mit dem Zusatz „vertreten durch die Geschäftsführer“4. Weichen Sitz und Mittelpunkt der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners voneinander ab, ist der Insolvenzantrag an das Insolvenzgericht zu richten, an dem das Schuldnerunternehmen seinen wirtschaftlichen Mittelpunkt hat, weil sich hieraus die örtliche Zuständigkeit des Insolvenzgerichts nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO ergibt. Dem Antrag sind die erforderlichen zustellungsfähigen Durchschriften beizufügen (§ 133 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 4 InsO).

15.45

Ein Insolvenzantrag wegen eines Teilbetrages ist unzulässig und auch nicht sachdienlich, weil einmal sämtliche Forderungen in das eröffnete Verfahren in voller Höhe einbezogen werden, zum anderen gemäß § 58 Abs. 2 GKG die Gebühr für das gerichtliche Verfahren nach dem Betrag der Gläubigerforderung, wenn der Betrag der Insolvenzmasse jedoch geringer ist, nach diesem Betrag berechnet und erhoben wird. Nach heute allgemeiner Meinung finden die Vorschriften über die Gewährung von Prozesskostenhilfe bzw. Insolvenzkostenhilfe (§§ 114 ff. ZPO) über § 4 InsO – allerdings mit zahlreichen Einschränkungen – auf das Insolvenzverfahren Anwendung5.

15.46

Bei gewillkürter Vertretung ist grundsätzlich eine schriftliche Vollmacht mit dem Antrag zu den Insolvenzakten zu reichen (§ 80 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 4 InsO). Ein Rechtsanwalt muss dagegen seine Vollmachtsurkunde nur vorlegen, wenn dies vom Gegner gerügt wird (§ 88 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 4 InsO). Zwingende Voraussetzung für einen Insolvenzantrag ist die Prozessfähigkeit des Antragstellers. Wirksam einen Insolvenzantrag stellen kann somit nur ein Gläubiger, der partei- und prozessfähig ist (§§ 50 ff. ZPO i.V.m. § 4 InsO). Schließlich ist darzulegen, dass die GmbH oder GmbH & Co. KG insolvenzfähig i.S. von § 11 InsO ist. Dies bedeutet für den Fall, dass es sich um eine Vor- oder Nachgesellschaft handelt, dass die Vo-

15.47

1 BGH v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, NZI 2006, 469; Vallender, MDR 1999, 280, 282; Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 13 InsO Rz. 3; Mönning in Nerlich/Römermann, § 13 InsO Rz. 19. 2 BGH v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, NZI 2006, 469 = ZIP 2006, 1261. 3 BGH v. 20.3.1986 – III ZR 55/85, KTS 1986, 470; LG Dortmund v. 8.7.1980 – 9 T 340/80, ZIP 1980, 633; Uhlenbruck, MDR 1973, 636; Delhaes, Der Insolvenzantrag, 1994, S. 66; str., a.A. LG Braunschweig v. 23.1.1976 – 8 T 28/76, Rpfleger 1977, 140; OLG Hamburg v. 27.12.1972 – 6 W 74/72, KTS 1973, 189; LG Bremen v. 26.10.1971 – 8 T 608/71, Rpfleger 1972, 27; LG Würzburg v. 8.12.1983 – 3 T 2045/83, BB 1984, 95. 4 Sternal in Kayser/Thole, § 11 InsO Rz. 18; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 14 InsO Rz. 16. 5 Vgl. Uhlenbruck, ZIP 1982, 288; Rüther in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 4 InsO Rz. 27 f.

Bast | 595

§ 15 Rz. 15.47 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

raussetzungen darzutun und gegebenenfalls zu beweisen sind. Eine Vorgründungsgesellschaft ist nicht insolvenzfähig, sofern sie nicht im Vorgründungsstadium als mitunternehmerische Außengesellschaft in Erscheinung getreten ist1. Für den Insolvenzantrag gegen eine im Handelsregister gelöschte Gesellschaft ist erforderlich, dass nach der sog. Lehre vom Doppeltatbestand nachgewiesen wird, dass entweder eine Löschung im Handelsregister noch nicht erfolgt ist oder die Gesellschaft noch Vermögenswerte besitzt2. Ist die gelöschte GmbH noch insolvenzfähig, weil noch nicht vollbeendet, fehlt es aber an einem Geschäftsführer, so ist die Gesellschaft nicht prozessfähig mit der Folge, dass ein Insolvenzverfahren nicht eröffnet werden kann. Ein Antragsteller muss daher zunächst bei dem zuständigen Registergericht die Bestellung eines Notgeschäftsführers analog § 29 BGB oder eines Nachtragsliquidators beantragen, da die Liquidation der juristischen Person jeweils die Bestellung eines Abwicklers bzw. Liquidators verlangt3.

15.48

Sind mehrere Eröffnungsanträge von verschiedenen Antragstellern – hierzu zählt auch der Schuldner – gestellt, führt jeder der gesondert zu prüfenden Anträge zur Einleitung eines selbständigen Eröffnungsverfahrens. Kommt es zur Eröffnung des Verfahrens, werden die Verfahren regelmäßig verbunden (§ 147 ZPO i.V.m. § 4 InsO). Bei einem gleichzeitig gestellten Eigenantrag ist dieses Verfahren führend. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH ist ein weiterer Insolvenzantrag mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig4.

c) Der Insolvenzantrag gegen eine GmbH & Co. KG 15.49

Über das Vermögen einer GmbH & Co. KG findet jeweils ein gesondertes Insolvenzverfahren statt. Anders als nach früherem Recht empfiehlt sich die Stellung eines Insolvenzantrags gegen beide Gesellschaften für den Gläubiger nicht, da § 93 InsO die Komplementär-Haftung in das Verfahren über das Vermögen der KG einbezieht. Möglich ist aber auch ein Insolvenzantrag nur gegen die Komplementär-GmbH, wenn die Forderung des Gläubigers sich gegen diese richtet. Im Übrigen hat der Gesetzgeber die Frage offengelassen, wie zu verfahren ist, wenn sowohl über das Vermögen der KG als auch über dasjenige der Komplementär-GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Nach früherem Recht hatten die Gläubiger in beiden Verfahren ihre Forderungen zur Tabelle anzumelden. Dies ist im Hinblick auf die Regelung in § 93 InsO heute nicht mehr erforderlich, es sei denn, dass der Gläubiger nur eine Forderung gegen die Komplementär-GmbH hat. Im Übrigen wird das Vermögen der GmbH über § 93 InsO in das Insolvenzverfahren der KG haftungsmäßig einbezogen. Nicht zuletzt auch um die Sanierungsfähigkeit der GmbH & Co. KG zu erhalten, empfiehlt es sich auch für den Gläubiger, zunächst den Insolvenzantrag nur gegen die KG zu richten.

d) Forderung gegen die Gesellschaft 15.50

Der antragstellende Gläubiger muss gegen die GmbH oder GmbH & Co. KG eine Forderung haben, die zur Teilnahme am Insolvenzverfahren berechtigt. Er muss Insolvenzgläubiger sein. Unerheblich ist, ob es sich um eine Forderung i.S. von § 38 InsO handelt oder um eine nach1 BGH v. 7.5.1984 – II ZR 276/83, ZIP 1984, 950 = GmbHR 1984, 316; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 36. 2 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 10. 3 OLG Dresden v. 12.10.1999 – 7 W 1754/99, GmbHR 2000, 391; OLG Köln v. 3.1.2000 – 2 W 214/ 99, GmbHR 2000, 390; Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 10; Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 13 InsO Rz. 13. 4 BGH v. 18.5.2004 – IX ZB 189/03, ZInsO 2004, 739.

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§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.53 § 15

rangige Forderung i.S. von § 39 InsO1. Nachrangige Insolvenzforderungen nehmen indes nur am Insolvenzverfahren teil, wenn das Gericht besonders zur Forderungsanmeldung aufgefordert hat (§ 174 Abs. 3 InsO)2. Forderungen, die unter einer auflösenden Bedingung oder Befristung stehen, werden wie unbedingte Forderungen im Verfahren behandelt (§§ 41, 42, 77 Abs. 3 Nr. 1, § 191 InsO), so dass auch sie zum Insolvenzantrag berechtigten. Für den Insolvenzantrag eines Gläubigers einer nicht durchsetzbaren oder gestundeten Forderung besteht in der Regel kein Rechtsschutzinteresse3.

15.51

Häufig führt die Zustellung des Gläubigerantrags gemäß § 14 Abs. 2 InsO dazu, dass zunächst zahlungsunwillige Schuldner die dem Insolvenzantrag zugrundeliegende Forderung erfüllen. Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz vom 29.3.20174 hat der Gesetzgeber § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO für diese Fälle neugefasst und insbesondere das Antragsrecht für Sozialversicherungsträger effektiver ausgestaltet. Danach wird der – einmal zulässig gestellte – Insolvenzantrag nicht allein dadurch unzulässig, dass die Forderung erfüllt wird. Der Schuldner kann sich nicht durch die gezielte Begleichung offener Forderungen des antragstellenden Gläubigers einem geordneten Insolvenzverfahren entziehen und damit eine möglicherweise bereits eingetretene Insolvenz weiter verschleppen. Die Neuregelung verfolgt das Ziel, eine möglichst frühzeitige Abklärung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu fördern. Hierdurch kann insbesondere die Fortsetzung der wirtschaftlichen Aktivitäten insolvenzreifer Unternehmen rechtzeitig unterbunden und verhindert werden, dass Gläubiger wegen der Fortsetzung ihrer Geschäftsbeziehung zum Schuldner zu einem späteren Zeitpunkt insolvenzanfechtungsrechtlich in Anspruch genommen werden5. Aufgrund der Kostenregelung der § 14 Abs. 3 InsO, § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG muss der Gläubiger bei Fortführung des Verfahrens und Abweisung seines Antrags als unbegründet nicht befürchten, der Zweitschuldnerhaftung ausgesetzt zu werden. Alternativ steht es dem Gläubiger aber auch frei, seinen Insolvenzantrag im Falle der Erfüllung der Antragsforderung für erledigt zu erklären. Allein der Umstand, dass der Antrag nach § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht schon durch die Erfüllung unzulässig geworden ist, lässt dann im Rahmen der nach § 91a ZPO i.V.m. § 4 InsO zu treffenden Kostenentscheidung nicht schon den Schluss auf einen unzulässigen Druckantrag zu6.

15.52

Nach Erfüllung der Antragsforderung wird der Insolvenzantrag nicht von Amts wegen fortgeführt. Das Insolvenzgericht hat das Fortbestehen der Zulässigkeitsvoraussetzungen sehr genau zu prüfen7. Dies folgt aus der Formulierung, der Antrag werde nicht allein dadurch unzulässig, dass die Forderung erfüllt werde. Vielmehr sind in diesem Fall strenge Anforderungen an das

15.53

1 OLG Köln v. 28.3.2001 – 2 W 32/01, ZIP 2001, 975; Vallender, MDR 1999, 280, 282; Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 35; Mönning in Nerlich/Römermann, § 14 InsO Rz. 7. 2 Wird eine nachrangige Insolvenzforderung als normale Forderung zur Tabelle angemeldet, ist sie bei Vorliegen der formalen Anmeldevoraussetzungen in die Tabelle aufzunehmen (LG WaldshutTiengen v. 26.1.2005 – 1 T 172/03, ZInsO 2005, 557 = ZIP 2005, 499). Der Verwalter hat der Forderung dann jedoch zu widersprechen. 3 Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 78 m.w.N. 4 BGBl. I 2017, 654. 5 BT-Drucks. 18/7054, S. 16. 6 BGH v. 24.9.2020 – IX ZB 71/19, NZI 2020, 1043 m. Anm. Berner/Willmer = ZIP 2020, 2291; vgl. auch BGH v. 23.9.2021 – IX ZB 66/20, NZI 2022, 25 = ZIP 2021, 2399. 7 BT-Drucks. 18/7054, S. 16; Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 24 ff.; Laroche in Vallender/ Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 47.

Bast | 597

§ 15 Rz. 15.53 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Rechtsschutzinteresse und die Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes zu stellen. Ein rechtliches Interesse an einer Verfahrensfortführung wird regelmäßig nur bei Finanzbehörden und Sozialversicherungsträgern anzuerkennen sein, weil diese öffentlichen Gläubiger nicht verhindern können, dass sie weitere Forderungen gegen den Schuldner erwerben1. Wird die Forderung eines antragstellenden Sozialversicherungsträgers nach Stellung des Insolvenzantrages erfüllt, entfällt das Rechtsschutzinteresse dieses Gläubigers an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedenfalls dann, wenn der Schuldner das Arbeitsverhältnis des bei dem Gläubiger versicherten Arbeitnehmers gekündigt und er (kumulativ) die Betriebsstätte geschlossen hat2.

15.54

Der Gläubiger ist befugt, die durch Erfüllung erloschene Antragsforderung auszuwechseln3. Die GmbH ist ausreichend dadurch geschützt, dass für die nachgeschobene Forderung sämtliche Voraussetzungen des § 14 InsO neu zu prüfen sind4.

15.55

Im Falle der Fortführung des Verfahrens nach § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO hat der Gläubiger auch das Fortbestehen des Eröffnungsgrundes weiterhin glaubhaft zu machen5. Dabei ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen, wobei das Insolvenzgericht auf Indizien zurückgreifen kann. Bei der Beurteilung, ob nach dem Ausgleich der Forderung des antragstellenden Gläubigers die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners weiterhin wahrscheinlich ist, können bereits für erledigt erklärte Voranträge von Bedeutung sein. Liegt beispielweise ein Vorantrag nicht lange zurück, hatte der Schuldner seine Zahlungen offenkundig eingestellt und stellte der damalige Ausgleich der Forderung des Antragstellers nur eine gezielte Zahlung zur Erledigung des Insolvenzantrags dar, kann dies die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Schuldner, nachdem er innerhalb kurzer Zeit ein zweites Mal in dieser Weise vorgegangen ist, weiterhin zahlungsunfähig ist6. Verfolgt der Gläubiger in zulässiger Weise seinen Antrag weiter, hat das Gericht dem Schuldner in jedem Fall rechtliches Gehör zu gewähren. Damit wird ihm bei hinreichender Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes die Möglichkeit zur Gegenglaubhaftmachung gewährt7.

e) Glaubhaftmachung von Forderung und Insolvenzgrund 15.56

Nach § 14 Abs. 1 InsO hat der Gläubiger sowohl seine Forderung als auch den Eröffnungsgrund mit den Mitteln des § 294 ZPO i.V.m. § 4 InsO glaubhaft zu machen8. Der Gesetzgeber hat das Insolvenzeröffnungsverfahren bewusst als vereinfachtes Vollstreckungsverfahren ausgestaltet. Deshalb genügt es für die Einleitung des Verfahrens, dass der Antragsteller seine Forderung und den Insolvenzgrund glaubhaft macht. Zur Glaubhaftmachung kann sich der Antragsteller gemäß § 294 ZPO i.V.m. § 4 InsO aller präsenten Beweismittel bedienen. Welche Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Forderung im Rahmen des Insolvenzantrags zu stellen sind, richtet sich nach den Umständen des konkreten Einzelfalls9. Grundsätzlich ist der Insolvenzantrag eines Finanzamtes nur zulässig, wenn Steuerbescheide und gegebenenfalls etwaige Steueranmeldungen des Schuldners vorgelegt werden. Eine Liste der in der Voll1 BT-Drucks. 18/7054, S. 16; BGH v. 12.7.2012 – IX ZB 18/12, NZI 2012, 708 = ZIP 2012, 1674. 2 BGH v. 12.7.2012 – IX ZB 18/12, ZIP 2012, 1674. 3 BGH v. 9.2.2012 – IX ZB 188/11, ZInsO 2012, 593; BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466; AG Köln v. 15.11.1999 – 71 IN 160/99, NZI 2000, 94, 95. 4 BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466, 1467. 5 Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 24, 27; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 14 InsO Rz. 60; BGH v. 11.4.2013 – IX ZB 256/11, WM 2013, 1033 = ZIP 2013, 1086. 6 BGH v. 18.12.2014 – IX ZB 34/14, MDR 2015, 423 = ZIP 2015, 329. 7 AG Düsseldorf v. 13.8.2012 – 502 IN 51/12. 8 BGH v. 22.9.2005 – IX ZB 205/04, NZI 2006, 34. 9 BGH v. 22.9.2005 – IX ZB 205/04, NZI 2006, 34.

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§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.59 § 15

streckung befindlichen Rückstände reicht regelmäßig nicht aus. Eine Glaubhaftmachung der Forderungen durch das Finanzamt durch Vorlage der Bescheide oder der Steueranmeldungen kann ausnahmsweise entbehrlich sein, wenn das Finanzamt die ausstehenden Steuern genau beschreibt und der Schuldner diese Forderungen nicht bestreitet1. Ist die Forderung des antragstellenden Gläubigers, die zugleich den Insolvenzgrund bildet, nicht tituliert, kann das Insolvenzgericht den Antrag auf Grund der Einwendungen des Schuldners gegen die Forderung abweisen, ohne diese einer Schlüssigkeitsprüfung im technischen Sinne zu unterziehen. Auch in diesem Zusammenhang gilt, dass die Entscheidung schwieriger rechtlicher oder tatsächlicher Fragen nicht Aufgabe des Insolvenzgerichts ist. Zweifel gehen insoweit zu Lasten des antragstellenden Gläubigers2. Kann der antragstellende Gläubiger keine aktuelle Unpfändbarkeitsbescheinigung vorlegen, muss er Tatsachen darlegen und glaubhaft machen, die den Schluss auf die Zahlungsunfähigkeit – im Unterschied zur Zahlungsunwilligkeit oder zur bloßen Zahlungsstockung – des Schuldners zulassen. Dabei kann insbesondere von Bedeutung sein, ob der Schuldner die Forderung aus tatsächlichen Gründen oder aus Rechtsgründen bestreitet und deshalb nicht zahlt oder ob er die Berechtigung der Forderung nicht in Zweifel zieht, aber gleichwohl keine Zahlungen leistet3.

15.57

Wird der Eröffnungsgrund aus einer einzigen Forderung des antragstellenden Gläubigers abgeleitet und ist diese Forderung bestritten, muss sie für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewiesen sein4. Denn es gehört nicht zu den Aufgaben des Insolvenzgerichts, den Bestand ernsthaft bestrittener, rechtlich zweifelhafter Forderungen zu überprüfen. Fällt die tatsächliche und rechtliche Beurteilung nicht eindeutig aus, ist der Gläubiger schon mit seiner Glaubhaftmachung gescheitert. Die Parteien sind auf den Prozessweg zu verweisen5.

15.58

f) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse für den Antrag Das Rechtsschutzinteresse für den Insolvenzantrag ist in aller Regel indiziert6. Das Gericht hat trotzdem von Amts wegen zu prüfen, ob der Antragsteller für seine Person ein rechtliches Interesse an der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH oder GmbH & Co. KG hat. Entgegen dem früheren Recht ist nunmehr ein besonderes Rechtsschutzinteresse für den Gläubigerantrag erforderlich (§ 14 Abs. 1 InsO). Dieses fehlt z.B. bei der Verfolgung insolvenzfremder Zwecke. So etwa, wenn der Gläubiger in einem zu eröffnenden Verfahren mit Sicherheit keine Befriedigung erfahren würde. Dies ist aber nicht schon deshalb anzunehmen, weil die Forderung im Nachrang des § 39 InsO befriedigt würde7. Für einen Insolvenzantrag, der ausschließlich auf eine Abweisung mangels Masse gerichtet ist, fehlt das Rechtsschutzinteresse8. Gleiches gilt, wenn der Antragsteller mit dem Insolvenzantrag den Antragsgegner als Konkurrent aus dem Wettbewerb ausschalten will. Oder wenn er die schnelle und günstige Abwicklung eines Vertragsverhältnisses anstrebt9; ebenso, wenn 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BGH v. 12.7.2012 – IX ZB 264/11, ZInsO 2012, 1418. BGH v. 1.2.2007 – IX ZB 79/06, NZI 2007, 350. BGH v. 13.6.2006 – IX ZB 88/05, ZVI 2006, 565. BGH v. 8.11.2007 – IX ZB 201/03, ZInsO 2007, 1275; BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 207/04, ZInsO 2006, 145; BGH v. 19.12.1991 –III ZR 9/91, ZIP 1992, 947. BGH v. 5.8.2002 – IX ZB 51/02, ZIP 2002, 1695, 1696. Einzelheiten bei Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 67 ff. Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 35; Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 88. BGH v. 7.5.2020 – IX ZB 84/19, NZI 2020, 679 m. Anm. Laroche = ZIP 2020, 1250. BGH v. 21.6.2007 – IX ZB 51/06, NZI 2008, 121; BGH v. 29.6.2006 – IX ZB 245/05, WM 2006, 1632, 1634; Uhlenbruck, NJW 1968, 686; Mönning in Nerlich/Römermann, § 14 InsO Rz. 20.

Bast | 599

15.59

§ 15 Rz. 15.59 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

der Insolvenzantrag dazu dient, den Schuldner zur Anerkennung einer (mitunter sogar zweifelhaften) Forderung zu veranlassen1. Weiterhin kann es im Einzelfall am Rechtsschutzinteresse für den Insolvenzantrag fehlen, wenn die dem Antrag zugrunde liegende Forderung verjährt2, bedingt oder gestundet ist3. Das Insolvenzgericht hat die Verjährung einer Forderung von Amts wegen zu prüfen, da eine verjährte Forderung kein rechtliches Interesse an der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet4. Ob eine Verjährungseinrede zu Recht erhoben wird, hat jedoch in der Regel – wenn die Einrede nicht ersichtlich unbegründet ist und außer Acht gelassen werden kann – nicht das Insolvenzgericht zu entscheiden, sondern das Prozessgericht. Das gilt insbesondere dann, wenn bereits eine Klage anhängig gemacht und in erster Instanz wegen Verjährung abgewiesen worden ist. Nur diese Aufgabenverteilung ist sinnvoll. Das Urteil des Prozessgerichts erwächst in Rechtskraft zwischen den Parteien (§ 325 Abs. 1 ZPO). Es ist damit auch im Eröffnungsverfahren bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eröffnungsgrund vorliegt, zu beachten. Deshalb kann ein lediglich auf eine einzige Forderung gestützter Antrag nicht zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens führen, solange die diesen Anspruch betreffenden offenen Rechts- und Tatsachenfragen nicht im Prozesswege geklärt sind5. Ein rechtliches Interesse fehlt auch, wenn der Gläubiger auf einfachere und billigere Art und Weise zur Befriedigung seiner Forderung gelangen kann. Allerdings kann das Rechtsschutzinteresse für den Insolvenzantrag nicht deshalb verneint werden, weil der antragstellende Gläubiger nicht fruchtlos die Einzelzwangsvollstreckung versucht hat6. Denn mit dem Gesetz ist die Annahme einer allgemeinen Subsidiarität des Insolvenzverfahrens gegenüber anderen Vollstreckungsmöglichkeiten nicht vereinbar. Die Einzelzwangsvollstreckung gewährt nicht dieselben Sicherungsmöglichkeiten wie ein Insolvenzverfahren7.

15.60

Ein Aussonderungsrecht berechtigt nicht zu einem Insolvenzantrag, bei einem Absonderungsrecht ist zu differenzieren8. Ein zweifelsfrei dinglich voll gesicherter Gläubiger kann in der Regel keinen zulässigen Insolvenzantrag stellen, wenn die vollständige Befriedigung seiner Forderung auch ohne die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mit Sicherheit zu erwarten ist9. Ist die Befriedigung des voll gesicherten Gläubigers unsicher, dann darf sein Insolvenzantrag nicht wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis als unzulässig abgewiesen werden10. Das Rechtsschutzinteresse ist niemals von der Höhe der dem Antrag zugrunde liegenden Forderung abhängig. Auch eine geringfügige Forderung ist geeignet, ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH oder GmbH & Co. KG zu eröffnen11. Dagegen fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn der Insolvenzantrag als Druckmittel zu Ratenzahlungen missbraucht wird. Die Tatsache, dass rückständige Arbeitnehmeransprüche für die letzten drei Monate vor Verfahrenseröffnung durch das Insolvenzrecht abgesichert sind (§ 165 SGB III), vermag das Rechtsschutz1 Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 71; Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 14 InsO Rz. 52. 2 OLG Köln v. 1.9.1969 – 2 W 31/69, KTS 1970, 226. 3 LG Braunschweig v. 5.10.1959 – 8 T 683/59, NJW 1961, 2316; Uhlenbruck, DStZ 1986, 40. 4 OLG Köln v. 1.9.1969 – 2 W 31/69, KTS 1970, 226; Mönning in Nerlich/Römermann, § 14 InsO Rz. 22. 5 BGH v. 29.3.2007 – IX ZB 141/06, MDR 2007, 1100, 1101 = ZIP 2007, 1226. 6 BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466, 1467. 7 BGH v. 5.2.2004 – IX ZB 29/03, ZIP 2004, 1466, 1467. 8 BGH v. 29.11.2007 – IX ZB 12/07, ZIP 2008, 281 = MDR 2008, 344. 9 BGH v. 5.5.2011 – IX ZB 251/10, ZInsO 2011, 1216; BGH v. 29.11.2007 – IX ZB 12/07, WM 2008, 227 = ZIP 2008, 281. 10 BGH v. 10.12.2020 – IX ZB 24/20, ZIP 2021, 136. 11 Gerhardt in FS Friedrich Weber, 1975, S. 181, 189 ff.; Mönning in Nerlich/Römermann, § 14 InsO Rz. 22.

600 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.63 § 15

interesse für einen Insolvenzantrag der Arbeitnehmer nicht zu beseitigen. Zudem steht es einem Arbeitnehmer frei, ob er Insolvenzgeld in Anspruch nehmen will oder nicht1.

g) Haftung wegen fahrlässigen Insolvenzantrags Ein fahrlässig gestellter Insolvenzantrag führt nicht ohne weiteres zur Schadensersatzpflicht des Antragstellers, wenn sich herausstellt, dass die Eröffnungsvoraussetzungen nicht vorlagen2. Der Gläubiger ist nicht verpflichtet, vor Stellung des Antrags mit Sorgfalt zu prüfen, ob er sich hierzu für berechtigt halten darf, oder gar seine Interessen gegen die des Schuldners abzuwägen. Wer sich zum Vorgehen gegen seinen Schuldner eines staatlichen, gesetzlich eingerichteten und geregelten Verfahrens bedient, greift auch dann nicht unmittelbar und rechtswidrig in den geschützten Rechtskreis des Schuldners ein, wenn sein Begehren sachlich nicht gerechtfertigt ist und dem anderen Teil aus dem Verfahren Nachteile erwachsen. Etwas anderes gilt nur bei einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung durch ein mit unlauteren Mitteln betriebenes Verfahren, wie im Falle des Prozessbetrugs oder auch der mit unwahren Angaben erschlichenen Eröffnung des Insolvenzverfahrens3.

15.61

h) Das Zulassungsverfahren als quasi-streitiges Parteiverfahren Der Gesetzgeber hat das Insolvenzeröffnungsverfahren als quasi-streitiges Parteiverfahren ausgestaltet. Wird der Insolvenzantrag dem Geschäftsführer der GmbH (Antragsgegner) gemäß § 14 Abs. 2 InsO zugestellt, so ist dieser berechtigt, sich gegen den Antrag mit Einwendungen und Bestreiten zu wehren. So z.B. kann die Glaubhaftmachung des antragstellenden Gläubigers nach § 14 Abs. 1 InsO durch Gegenglaubhaftmachung des GmbH-Geschäftsführers erschüttert werden4. Allerdings wird die Antragszulassung durch das Gericht hierdurch nicht in Frage gestellt. Ist der Insolvenzantrag einmal zugelassen, so hat das Gericht von Amts wegen alle Umstände gemäß § 5 Abs. 1 InsO zu ermitteln5, um sich von der endgültigen Zulässigkeit des Antrags und von dem Vorliegen eines Eröffnungsgrundes (§ 16 InsO) zu überzeugen6.

15.62

4. Antragsrücknahme und Erledigungserklärung Der Antragsteller ist bis zur Verfahrenseröffnung oder rechtskräftigen Abweisung des Insolvenzantrags Herr des Verfahrens. Er kann deshalb seinen Insolvenzantrag jederzeit gemäß § 13 Abs. 2 InsO zurücknehmen, bis das Insolvenzverfahren eröffnet oder der Antrag rechtskräftig abgewiesen ist7. Nimmt der antragstellende Gläubiger seinen Insolvenzantrag gegen die GmbH oder GmbH & Co. KG zurück, so tritt entsprechend § 4 InsO die Kostenfolge aus § 269 Abs. 3 ZPO ein. Der Antragsteller ist Schuldner der gerichtlichen Gebühren und Aus1 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 223. 2 Vgl. hierzu Vuia in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 8 Rz. 57 m.w.N.; BGH v. 10.3.1961 – IV ZR 242/60, BGHZ 36, 18; BGH v. 15.2.1990 – III ZR 293/88, ZIP 1990, 805; OLG Koblenz v. 17.11.2005 – 10 W 705/05, ZInsO 2005, 1338, 1339; OLG Düsseldorf v. 28.6.1984 – 8 U 165/83, ZIP 1984, 1499; OLG Düsseldorf v. 28.10.1993 – 10 U 17/93, ZIP 1994, 479. 3 BGH v. 10.3.1961 – IV ZR 242/60, BGHZ 36, 21; Vuia in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 8 Rz. 56 m.w.N. 4 Vgl. Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 30. 5 BGH v. 12.12.2002 – IX ZB 426/02, NZI 2003, 147 = ZIP 2003, 358. 6 Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 50 ff.; s. auch BGH v. 13.6.2006 – IX ZB 214/05, NZI 2006, 590 = ZIP 2006, 1456. 7 OLG Celle v. 2.3.2000 – 2 W 15/00, NZI 2000, 265 = ZIP 2000, 673; Sternal in Kayser/Thole, § 13 InsO Rz. 32 ff.; Wegener in Uhlenbruck, § 13 InsO Rz. 159 ff.

Bast | 601

15.63

§ 15 Rz. 15.63 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

lagen (§ 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO, § 23 Abs. 1 GKG). Auf Antrag des Geschäftsführers des Schuldnerunternehmens sind die in § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO bezeichneten Wirkungen durch Beschluss des Insolvenzgerichts auszusprechen (§ 269 Abs. 4 ZPO).

15.64

Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Antragsteller, wenn z.B. die GmbH oder GmbH & Co. KG zahlt, die Hauptsache für erledigt erklärt. Bei einem Fremdantrag wird die Erledigungserklärung heute allgemein für zulässig gehalten, solange nicht das Gericht den Eröffnungsbeschluss erlassen hat1. Auch bei Abweisungsreife des Insolvenzantrages mangels Masse ist die Abgabe einer Erledigungserklärung zulässig2. Das Gericht muss immer prüfen, ob tatsächlich ein erledigendes Ereignis vorliegt. Allein die Feststellung der Masselosigkeit stellt kein erledigendes Ereignis im Sinne des § 91a ZPO dar3.

15.65

Nach Auffassung des BGH stellt das Schweigen keine Zustimmung zur Erledigungserklärung des Antragstellers dar. Etwas anderes gilt ausweislich der Regelung in § 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO i.V.m. § 4 InsO in den Fällen, in denen dem Schuldner die Erledigungserklärung zugestellt worden ist und er ihr nicht binnen zwei Wochen widerspricht, obwohl er auf diese Möglichkeit gerichtlich hingewiesen worden ist4. Bei übereinstimmender Erledigungserklärung ist das Eröffnungsbegehren nicht mehr anhängig und nur noch eine Kostenentscheidung zu treffen5.

15.66

Im Falle einer einseitigen Erledigungserklärung des antragstellenden Insolvenzgläubigers gelten die Grundsätze, die für den Zivilprozess zur einseitigen Erledigungserklärung des Klägers entwickelt worden sind6. Das Gericht hat zu prüfen, ob der Antrag bis zu der Erledigungserklärung zulässig und begründet war und sich durch ein nachträgliches Ereignis erledigt hat. Die Kostenentscheidung nach § 91 ZPO i.V.m. § 4 InsO richtet sich ausschließlich nach dem Verfahrensstand zum Zeitpunkt der Erledigungserklärung7. War der Antrag zulässig, so sind die Kosten des Verfahrens in der Regel dem Schuldner aufzuerlegen. Der Geschäftsführer der schuldnerischen GmbH muss also damit rechnen, dass der Gesellschaft die Kosten durch gerichtlichen Beschluss auferlegt werden8. Eine Kostenentscheidung zu Lasten des antragstellenden Gläubigers kommt hingegen in Betracht, wenn sich eine Zurückweisung des Insolvenzantrags als unzulässig abzeichnet oder die gerichtlichen Ermittlungen schwerwiegende Zweifel daran ergeben haben, dass zur Zeit der Antragstellung ein Eröffnungsgrund vorlag9. Dabei lässt allein der Umstand, dass der Antrag durch Zahlung der Antragsforderung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht unzulässig geworden ist, nicht schon den Schluss auf einen unzulässi1 BGH v. 24.9.2020 – IX ZB 71/19, NZI 2020, 1043 = ZIP 2020, 2291; BGH v. 11.11.2004 – IX ZB 258/03, NZI 2005, 108 = ZIP 2005, 91; OLG Köln v. 28.3.2001 – 2 W 39/01, NZI 2001, 318, 319; OLG Celle v. 2.11.2000 – 2 W 110/00, NZI 2001, 150; Wegener in Uhlenbruck, § 14 InsO Rz. 170 ff.; Sternal in Kayser/Thole, § 14 InsO Rz. 62 ff.; Mönning in Nerlich/Römermann, § 13 InsO Rz. 111. 2 AG Köln v. 26.10.2011 – 72 IN 30/11, NZI 2012, 194; vgl. auch LG Göttingen v. 23.3.1992 – 6 T 215/91, ZIP 1992, 572. 3 AG Köln v. 26.10.2011 – 72 IN 30/11, NZI 2012, 194. 4 BGH v. 4.11.2004 – IX ZR 82/03, NZI 2005, 108. 5 BGH v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, NZI 2008, 736 = ZIP 2008, 2285; Vuia in Gottwald/Hass, Insolvenzrechts-Handbuch, § 10 Rz. 14 ff.; Sternal in Heidelberger Kommentar zur InsO, § 14 InsO Rz. 66. 6 BGH v. 4.11.2004 – IX ZR 82/03, NZI 2005, 108; OLG Köln v. 28.3.2001 – 2 W 39/01, NZI 2001, 318, 319. 7 BGH v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, NZI 2008, 736 = ZIP 2008, 2285. 8 BGH v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, NZI 2008, 736 = ZIP 2008, 2285; Sternal in Heidelberger Kommentar zur InsO, § 14 InsO Rz. 66; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, § 13 InsO Rz. 134 ff. 9 LG Köln v. 21.6.2012 – 13 T 83/12, Verbraucherinsolvenz aktuell 2012, 62.

602 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.82 § 15

gen (Druck-)Antrag zu. Auch in diesem Fall werden regelmäßig dem Schuldner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen sein1. Lag bis zur Erledigungserklärung ein zulässiger Antrag nicht vor, so ist bei einseitiger Erledigungserklärung der darin liegende Antrag, die Erledigung festzustellen, mit der Kostenfolge gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 4 InsO abzuweisen, während bei der übereinstimmenden Erledigungserklärung die Kosten nach billigem Ermessen gemäß § 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO i.V.m. § 4 InsO durch Kostenbeschluss dem Gläubiger aufzuerlegen sind2.

15.67

Zur Insolvenzantragspflicht s. Rz. 3.1 ff., 38.1 ff.

15.68–15.80

Einstweilen frei.

III. Die geschäftsführerlose GmbH Nach der Legaldefinition des § 10 Abs. 2 Satz 2 InsO ist eine juristische Person führungslos, wenn sie keinen organschaftlichen Vertreter hat (ähnlich § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Der Begriff der Führungslosigkeit wird eng ausgelegt3. Führungslosigkeit liegt nicht vor, wenn der Geschäftsführer nur unerreichbar ist, weil sein Aufenthaltsort unbekannt ist4.

15.81

Die Führungslosigkeit, vor allem

15.82

– durch Abberufung der Geschäftsführung ohne gleichzeitige Neubestellung oder – durch Amtsniederlegung (dazu Rz. 6.201) wirft nicht zuletzt deshalb Probleme auf, weil dem Insolvenzgericht wegen der Eilbedürftigkeit des Insolvenzeröffnungsverfahrens verwehrt ist, die Frage der Rechtswirksamkeit der Abberufung oder Amtsniederlegung zu prüfen5. Die Bestellung eines Notgeschäftsführers auf Betreiben des Gläubigers durch das Registergericht stößt in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten6. Unseriöse „Firmenbestatter“, wie z.B. die „Marbella-Connection“, haben gewerbsmäßig insolvente Unternehmen aufgekauft und den Sitz ins Ausland verlegt, um die Gesellschaft dort still zu liquidieren und sich auf diese Weise ihrer Gläubiger bzw. Verbindlichkeiten zu entledigen7.

1 BGH v. 24.9.2020 – IX ZB 71/19, NZI 2020, 1043 mit Anm. Berner/Willmer = ZIP 2020, 2291; vgl. auch BGH v. 23.9.2021 – IX ZB 66/20, NZI 2022, 25 = ZIP 2021, 2399. 2 BGH v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, NZI 2008, 736 = ZIP 2008, 2285; Linker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 14 InsO Rz. 75. 3 Vgl. Mönning in Nerlich/Römermann, § 15 InsO Rz. 31. 4 AG Potsdam v. 24.1.2013 – 35 IN 978/12, ZInsO 2013, 515; AG Hamburg v. 27.11.2008 – 67c IN 478/08, NZI 2009, 63 m.N. auch zur a.A. von Gehrlein, BB 2008, 846, 848 = ZInsO 2008, 1331; Mönning in Nerlich/Römermann, § 15 InsO Rz. 32; h.M. nach Bußhardt in Braun, § 15 InsO Rz. 17. 5 Uhlenbruck hier in der 4. Aufl., Rz. 5.237. 6 Vgl. J.M. Bauer, Der Notgeschäftsführer in der GmbH, 2006, S. 86 ff. 7 Vgl. Hirte, ZInsO 2003, 833 ff.; Goltz/Klose, NZI 2000, 108 ff.; Hey/Regel, GmbHR 2000, 115 ff.; Pananis/Börner, GmbHR 2006, 513 ff.; BGH v. 22.12.2005 – IX ZR 190/02, ZIP 2006, 244 = ZInsO 2006, 140 = GmbHR 2006, 316 m. Anm. Blöse. Zur Gesetzwidrigkeit der Verweisung bei gewerbsmäßiger Firmenbestattung s. auch Pape, ZIP 2006, 877 ff.; zur Unzulässigkeit eines Insolvenzantrags aufgrund Firmenbestattung vgl. BGH v. 7.5.2020 – IX ZB 84/19, NZI 2020, 679.

Bast und Schluck-Amend | 603

§ 15 Rz. 15.83 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

15.83

Vor diesem Hintergrund war die partielle Einführung einer „subsidiären Selbstorganschaft“1 im Fall der Führungslosigkeit einer GmbH durch das MoMiG von großer praktischer Bedeutung. Der Gesetzgeber hat die Fälle der Führungslosigkeit minimiert, indem er neben der subsidiären Insolvenzantragspflicht der Gesellschafter (Aktivvertretung, dazu sogleich unter 1. (Rz. 15.84) auch die Möglichkeit einer erleichterten Zustellung (Passivvertretung, dazu sogleich unter 2. (Rz. 15.85) eingeführt hat.

15.84

Für den Fall der Führungslosigkeit einer GmbH sieht § 15 Abs. 1 Satz 2 InsO ein Antragsrecht für jeden Gesellschafter vor. Mit diesem Antragsrecht geht in Fällen der Führungslosigkeit auch eine Antragspflicht einher (vgl. § 15a Abs. 3 InsO und dazu Rz. 25.4). Für nichtgeschäftsführende GmbH-Gesellschafter kann es allerdings schwierig sein, alle gemäß § 13 Abs. 1 Satz 3–7 InsO erforderlichen Angaben beizubringen. Von nicht-geschäftsführenden GmbH-Gesellschaftern wird nur verlangt, dass sie „gebührende Anstrengungen“ unternehmen, um ein möglichst vollständiges Gläubigerverzeichnis zu erstellen. Fehlt ein solches jedoch vollständig, wird der Antrag regelmäßig als unzulässig abgewiesen2. Im Hinblick auf die Antragspflicht gemäß § 15a Abs. 3 InsO kann dies sogar strafrechtliche Konsequenzen für die Gesellschafter haben, da die Antragstellung in diesem Fall unrichtig erfolgte.

1. Insolvenzantragsrecht und Antragspflicht bei der führungslosen GmbH

2. Vereinfachte Zustellung an führungslose Gesellschaften 15.85

Durch das MoMiG wurden generell – nicht nur führungslose Gesellschaften betreffende – Vorschriften, die die Zustellung von Schriftstücken und den Zugang von Willenserklärungen an eine GmbH wesentlich erleichtern, eingeführt, wie z.B. die Pflicht zur Anmeldung einer inländischen Geschäftsanschrift zum Handelsregister (§ 10 Abs. 1 Satz 1 GmbHG), die Möglichkeit der Eintragung einer empfangsberechtigten Person (§ 10 Abs. 2 Satz 2 GmbHG) sowie die Empfangsvertretung durch GmbH-Gesellschafter (§ 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG). Durch die Änderung des § 185 ZPO bzw. des § 10 Abs. 1 Satz 1 VwZG3 wurde zudem die öffentliche Zustellung erleichtert.

15.86

Vor dem Hintergrund der Missbrauchs- und Bestattungsfälle, in denen die Geschäftsräume der insolventen Gesellschaften meist geschlossen und Geschäftsführer postalisch nicht zu erreichen sind, sieht § 185 Nr. 2 ZPO eine erleichterte öffentliche Zustellung bei juristischen Personen, die zur Anmeldung im Handelsregister verpflichtet sind, insofern vor, als dem Insolvenzantragsteller keine zeitaufwendigen und schwierigen Recherchen nach den Wohnanschriften der Vertreter der Gesellschaft zugemutet werden. Auch ist der Gläubiger nicht mehr verpflichtet, eine Zustellung im Ausland zu bewirken, selbst wenn ihm die ausländische Anschrift der Vertreter der Gesellschaft bekannt ist. Durch die Neuregelung soll eine erhebliche Beschleunigung der öffentlichen Zustellung erreicht werden. Vor allem in Missbrauchsfällen spielt der Zeitfaktor für die Zustellung von Klagen und Titeln eine erhebliche Rolle. Eine ins Ausland abtauchende GmbH muss also damit rechnen, dass im Inland an ihre Gesellschafter zugestellt wird oder aber eine öffentliche Zustellung erfolgt. Den Gesellschaften ist es damit nicht mehr möglich, sich den Zustellungen dadurch zu entziehen, dass ihre Vertreter und gegebenenfalls auch ihre Gesellschafter unbekannt verziehen oder ihren Aufenthalt ins Ausland verlegen. 1 Zu dem Terminus vgl. Karsten Schmidt in VGR, Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 49 f.; Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1, 2. 2 Vgl. insgesamt AG Mönchengladbach v. 4.10.2012 – 45 IN 90/12, ZIP 2013, 536. 3 Zu § 10 VwZG und der Zustellung von Steuerbescheiden: Wübbelsmann, DStR 2011, 126 ff.

604 | Schluck-Amend

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.90 § 15

Nach § 185 Nr. 2 ZPO muss zunächst versucht werden, der GmbH, vertreten durch ihre Geschäftsführer, oder im Fall der Führungslosigkeit ihren Gesellschafter, die nach § 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 GmbHG im Fall der Führungslosigkeit Empfangsvertreter für gegenüber der Gesellschaft abzugebende Willenserklärungen oder zuzustellende Schriftstücke sind, unter der eingetragenen inländischen Geschäftsanschrift zuzustellen. Für Zweigniederlassungen von Unternehmen mit Sitz im In- oder Ausland ist die inländische Geschäftsanschrift maßgeblich (§ 10 Abs. 1 Satz 1 GmbHG, § 13 Abs. 1 Satz 1, § 13d Abs. 2 HGB). Streitig ist, ob Erklärungen, die im Fall der Führungslosigkeit gegenüber dem Gesellschafter abzugeben sind, auch an dessen Privatanschrift abgegeben werden können1. Letztlich wird man, da nicht der Bereich der privaten Lebensführung betroffen ist, eine Zustellung an die Privatanschrift eines Gesellschafters zulassen müssen. Die inländische Privatanschrift des Gesellschafters lässt sich über das Einwohnermeldeamt feststellen. Von der Frage der Zulässigkeit der Zustellung an die Privatanschrift zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob eine solche Zustellung bzw. ein solcher erfolgloser Zustellungsversuch als Voraussetzung für eine öffentliche Zustellung nach § 185 ZPO anzusehen ist. Diese Frage ist jedenfalls zu verneinen, wenn eine solche Anschrift nicht ohne weiteres bekannt ist, denn jedenfalls verlangt § 185 ZPO keine Recherchen zur Feststellung einer anderen inländischen Anschrift2. § 185 Nr. 2 ZPO spricht ausdrücklich nur von der Zustellung an eine ohne Ermittlung bekannte inländische Anschrift. Auch mit dem Hinweis auf eine bekannte ausländische Wohnanschrift dürfte eine öffentliche Zustellung nach dem eindeutigen Wortlaut nicht abgelehnt werden.

15.87

Weiter muss versucht werden, die Zustellung an – sofern vorhanden – empfangsberechtigte Personen, die mit inländischer Anschrift im Handelsregister eingetragen sind, zuzustellen; es gelten die Vorschriften der § 10 Abs. 2 Satz 2, § 35 Abs. 2 Satz 4 GmbHG, § 13e Abs. 2 Satz 4, Abs. 3a HGB. Die Anschrift lässt sich aus dem Handelsregister in Erfahrung bringen.

15.88

Bleibt ein Zustellungsversuch unter der inländischen Geschäftsanschrift erfolglos, weil unter der eingetragenen Anschrift kein Geschäftslokal vorhanden ist, so steht der Weg zur öffentlichen Bekanntgabe (Zustellung) offen. Dies gilt aber nur, wenn eine andere inländische Anschrift eines Gesellschafters nicht bekannt ist „und auch die Zustellung an eine empfangsberechtigte Person erfolglos ist, weil eine solche schon nicht eingetragen oder aber gelöscht ist, und auch insoweit keine andere inländische Anschrift bekannt ist“.

15.89

Bei der führungslosen GmbH ist jedoch zu beachten, dass die öffentliche Zustellung nicht an die Gesellschaft selbst gerichtet werden kann, da diese prozessunfähig ist3 und eine Zustellung an diese, mag sie auch öffentlich erfolgen, mithin gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 ZPO unwirksam ist. Deshalb muss die öffentliche Zustellung im Fall einer führungslosen GmbH an die gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG empfangsvertretungsberechtigten Gesellschafter adressiert sein4. § 185 Nr. 2 ZPO würde demnach nur insofern eine Erleichterung bei der gerichtlichen Rechtsverfolgung bringen, als die Anschriften der Gesellschafter nicht bekannt sein müssen. Von der Anforderung, die Gesellschafter zumindest namentlich zu identifizieren, entbindet die Vorschrift hingegen nicht5. Auch die im Handelsregister aufgenommene Gesellschafterliste kann

15.90

1 Bejahend BGH v. 31.7.2003 – III ZR 353/02, NJW 2003, 3270; Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, § 185 ZPO Rz. 16; Altmeppen, § 35 GmbHG Rz. 65; verneinend Fleischer, NJW 2006, 3239, 3242. 2 Vgl. Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, § 185 ZPO Rz. 7, 12. 3 Stephan/Tieves in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 35 GmbHG Rz. 246, 247. 4 Altmeppen, § 35 GmbHG Rz. 30. 5 Schwab, DStR 2010, 333, 335; Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, § 185 ZPO Rz. 16.

Schluck-Amend | 605

§ 15 Rz. 15.90 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

hier nur bedingt helfen, da diese gemäß § 16 GmbHG nur im Innenverhältnis der Gesellschaft, nicht aber im Verhältnis zu den Gläubigern einen Gutglaubensschutz generiert1. Gerade bei den vom MoMiG ins Visier genommenen „Bestattungsfällen“ werden die Anteile häufig auf neue Gesellschafter übertragen worden sein, die nicht in die Gesellschafterliste aufgenommen worden sind2. Auf solche Fälle muss dann jedoch die Rechtsprechung des BGH3 Anwendung finden, wonach es den Zustellungsadressaten aufgrund des Verbots des Rechtsmissbrauchs versagt ist, sich auf die Unwirksamkeit der Zustellung zu berufen, wenn diese von ihnen zielgerichtet herbeigeführt wurde4.

15.91–15.100 Einstweilen frei.

IV. Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen 15.101

Nach § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO kann das Insolvenzgericht Maßnahmen der Zwangsvollstreckung, die häufig zur Zerschlagung der Masse im Eröffnungsverfahren beitragen, untersagen oder einstweilen einstellen, soweit nicht unbewegliche Gegenstände betroffen sind. Durch die Vorschrift wird das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO in das Eröffnungsverfahren vorverlagert5, sie ergänzt die Rückschlagsperre des § 88 InsO6. Die Einstellungsmöglichkeit bezieht sich auch auf Vollstreckungen auf Grund Arrests oder einstweiliger Verfügung7. Die einstweilige Einstellung oder Untersagung der Zwangsvollstreckung ist nicht auf Insolvenzgläubiger nach § 38 InsO beschränkt, sondern kann sich auch gegen Gläubiger richten, denen ein Absonderungsrecht an Gegenständen des schuldnerischen Vermögens zusteht8. In diesem Falle ist der Sicherungsnehmer allerdings weiterhin befugt, seine vertraglichen Rechte ohne Vollstreckungsmaßnahmen durchzusetzen z.B. durch Offenlegung einer Forderungsabtretung9. Dagegen ist sie grundsätzlich nicht bei Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zur Erwirkung von Handlungen oder Unterlassungen gemäß §§ 887 ff. ZPO zulässig10. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Maßnahme dem Erhalt der Masse dient. Ob das Insolvenzgericht auch gegenüber Aussonderungsberechtigten grundsätzlich zur Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen befugt ist, erscheint zweifelhaft11.

15.102

Für die Einstellung oder Untersagung der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen des Schuldners gelten die Vorschriften der §§ 30d ff., §§ 153b ff. ZVG. Zuständig ist insoweit das Vollstreckungsgericht12. Nach der gesetzgeberischen Vorstellung soll durch diese Regelung dem vorläufigen Insolvenzverwalter aber nicht die Möglichkeit genommen werden, 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Schwab, DStR 2010, 333, 335. Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, § 185 ZPO Rz. 12, 17. BGH v. 28.4.2008 – II ZR 61/07, NJW-RR 2008, 1310. Häublein/Müller in Münchener Kommentar zur ZPO, § 185 ZPO Rz. 17. Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 29. Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 59. AG Göttingen v. 14.8.2003 – 74 AR 16/03, ZInsO 2003, 770. Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 28; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 72; Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 32. BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, NZI 2003, 259 = ZInsO 2003, 318 = ZIP 2003, 632. LG Mainz v. 20.2.2002 – 8 T 302/01, ZInsO 2002, 639; a.A. AG Göttingen v. 14.8.2003 – 74 AR 16/03, ZInsO 2003, 770; Hölzle in Karsten Schmidt, § 21 InsO Rz. 69. Vgl. VG Düsseldorf v. 4.10.2010 – 5 K 4051/10, BeckRS 2015, 43901; AG Köln v. 29.6.1999 – 71 IN 143/99, NZI 1999, 333; Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 38g. Vallender, Rpfleger 1997, 353, 355; Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 38.

606 | Schluck-Amend und Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.104 § 15

Vollstreckungsmaßnahmen in das unbewegliche Vermögen zu verhindern. Er kann vielmehr bei dem für die Vollstreckung zuständigen Vollstreckungsgericht gemäß § 30d ZVG nur einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung stellen, sofern er glaubhaft macht, dass die einstweilige Einstellung der Verhütung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage des Schuldners erforderlich ist. Die Eintragung einer Zwangshypothek kann durch das Insolvenzgericht nicht verhindert werden, sondern allenfalls durch den vorläufigen Verwalter die Vollstreckung hieraus1. Schiffe sind grundsätzlich unabhängig von ihrer Registrierung als bewegliche Gegenstände anzusehen2. Vollstreckungsrechtlich sind sie aber weitgehend, sofern in einem Register eingetragen, dem unbeweglichen Vermögen gleichgestellt (§ 864 ZPO). Diese Gleichstellung gilt auch im Insolvenzrecht3. Angesichts dessen fallen registrierte Schiffe grundsätzlich in den Anwendungsbereich des § 21 Abs. 2 Nr. 3 Halbs. 2 InsO.

Soweit das Vollstreckungsgericht die Zwangsverwaltung angeordnet hat, kommt ebenfalls eine Einstellung des Verfahrens entsprechend § 30d Abs. 4 ZVG in Betracht4. Zwar erwähnt die Vorschrift ausdrücklich nur die Einstellung der Zwangsversteigerung. Dies beruht indes auf einem Versehen des Bundestags bei der Umgestaltung des § 25 Abs. 2 Nr. 3 RegE InsO. Diese Bestimmung sah ausnahmslos die Einstellung aller Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner vor, ohne zwischen dessen beweglichem oder unbeweglichem Vermögen zu unterscheiden.

15.103

Das Insolvenzgericht wählt das gebotene Sicherungsmittel nach pflichtgemäßem Ermessen aus, ohne an Anträge oder Anregungen gebunden zu sein; dabei hat es den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne zu beachten5. Vor diesem Hintergrund begegnet eine routinemäßige Untersagung der Zwangsvollstreckung Bedenken. Das Gericht hat vielmehr vor der Anordnung eine Interessenabwägung vorzunehmen. Sicherungsmaßnahmen gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO beeinträchtigen nämlich den Anspruch des Gläubigers auf effiziente Rechtsverwirklichung, der aus dem Grundsatz der staatlichen Justizgewährung folgt6. Deshalb bietet sich eine Untersagung der Zwangsvollstreckung nur im Einzelfall an, etwa wenn Gläubiger versuchen, den Schuldner mit sinnlosen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen unter Druck zu setzen oder durch Pfändungsmaßnahmen die Existenz des Schuldners gefährdet ist. Im Übrigen dürfte bereits wegen der Rückschlagsperre gemäß § 88 InsO ein erhöhtes Sicherungsbedürfnis nicht bestehen. Maßgeblich für das, was in die Rückschlagsperrfrist fällt, ist der Erwerbszeitpunkt. Ein Sicherungsrecht wird begründet, wenn die Vollstreckungsmaßnahme beendet ist. Maßgeblicher Zeitpunkt ist die Vollendung des Tatbestandes, welcher zur Sicherung führt7. Bei der Forderungspfändung ist für die Entstehung des Pfändungspfandrechtes auf den Zeitpunkt der Zustellung des Pfändungsbeschlusses an den Drittschuldner abzustellen (§ 829 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 ZPO). Wird eine künftige Forderung gepfändet, entsteht das Pfandrecht erst mit der Forderung selbst8. Bei einer Voraus-Dauerpfändung gemäß § 832 ZPO erstreckt sich das Pfändungspfandrecht auch auf die nach der Pfändung fällig werdenden Beträge. Jeweils bei Fälligkeit der Beträge entsteht ein neues Pfändungspfandrecht9.

15.104

1 Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 32. 2 Stresemann in Münchener Kommentar zum BGB, § 90 BGB Rz. 13; Vieweg/Lorz in jurisPK-BGB, 9. Aufl. 2020, § 90 BGB Rz. 26. 3 LG Bremen v. 14.8.2011 – 2 T 435/11, ZIP 2012, 1189. 4 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 39 m.w.N. 5 BGH v. 1.12.2005 – IX ZB 208/05, NZI 2006, 122, 123 = ZIP 2005, 2333. 6 Vallender, Rpfleger 1997, 353, 355. 7 Kuleisa in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 88 InsO Rz. 13 m.w.N. 8 BGH v. 20.3.2003 – IX ZR 133/02, NZI 2003, 320. 9 Elden/Frauenknecht in Kern/Diehm, Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2020, § 832 ZPO Rz. 2; Flockenhaus in Musielak/Voit, 19. Aufl. 2022, § 832 ZPO Rz 3; Herget in Zöller, § 832 ZPO Rz. 1 f.

Bast | 607

§ 15 Rz. 15.105 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

15.105

Abweichend von den vorigen Grundsätzen hat das Insolvenzgericht nach Anordnung des Schutzschirmschirmverfahrens gemäß § 270d Abs. 1 und 2 InsO auf Antrag des Schuldners die Einstellung oder Untersagung der Zwangsvollstreckung einzustellen (§ 270b Abs. 3 InsO). Ein Ermessen steht ihm nicht zu. Diese Maßnahme soll dazu beitragen, dass nicht aufgrund von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen von Gläubigern die Fortführung des Unternehmens gefährdet wird; dem Schuldner wird damit eine zusätzliche Planungssicherheit gewährt1.

15.106

Das Gericht hat das Vollstreckungsverbot gesondert auszusprechen. Es ist nicht in anderen angeordneten Sicherungsmaßnahmen enthalten. Bei der Untersagung von Rechtspfändungen kann dem Drittschuldner aufgegeben werden, den geschuldeten Betrag zu Gunsten des pfändenden Gläubigers und des Insolvenzschuldners zu hinterlegen oder auf ein Treuhandkonto einzuzahlen, nicht aber an den vorläufigen Insolvenzverwalter allein2.

15.107

Die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wirkt gemäß § 775 Nr. 2 ZPO, die Untersagung gemäß § 775 Nr. 1 ZPO3. Während die Einstellung der Zwangsvollstreckung den Rang des einmal erlangten Pfändungspfandrechts unberührt lässt4, hindert die Untersagung künftiger Vollstreckungsmaßnahmen die Rang wahrende Begründung eines Pfändungspfandrechts für die Zeit der Wirksamkeit des Vollstreckungsverbotes. Die Anordnung eines Vollstreckungsverbotes steht der Aufrechnung gemäß § 394 BGB nicht entgegen5. Die einstweilige Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO lässt grundsätzlich die Erzwingung der Abgabe der Vermögensauskunft des Schuldners gemäß §§ 802c ff., § 807 ZPO unberührt6. Die Untersagung von Maßnahmen der Individualvollstreckung dient dazu, eine nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners zu verhindern. Dem läuft die Abnahme der Vermögensauskunft durch den Gerichtsvollzieher regelmäßig nicht entgegen, weil damit lediglich der Vermögensbestand des Schuldners für alle Gläubiger festgestellt werden soll, ohne dass diese Vollstreckungsmaßnahme die Durchführung des Verfahrens beeinträchtigt7. Der Geschäftsführer einer GmbH bleibt auch nach Abberufung oder Niederlegung des Amts bis zur Bestellung eines neuen Geschäftsführers zur Abgabe der Vermögensauskunft verpflichtet8. Dies gilt auch bei einer sogen. Scheinniederlegung9.

15.108

Jedes Vollstreckungsorgan hat das Vollstreckungsverbot zu beachten. Eine trotz gerichtlicher Untersagung der Zwangsvollstreckungsmaßnahme durchgeführte Vollstreckungsmaßnahme ist nicht nichtig, sondern anfechtbar10. 1 2 3 4 5 6

7 8 9 10

Noch zu § 270b InsO: Zipperer in Uhlenbruck, § 270b InsO Rz. 65. Fuchs, ZInsO 2000, 432 ff.; Steder, ZIP 2002, 70 ff.; Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 29. Hölzle in Karsten Schmidt, § 21 InsO Rz. 68. Vgl. LG Trier v. 21.4.2005 – 4 T 1/05, NZI 2005, 405; Mönning in Nerlich/Römermann, § 21 InsO Rz 187. BGH v. 29.6.2004 – IX ZR 195/03, ZIP 2004, 1558 ff.; vgl. ferner BGH v. 21.3.1996 – IX ZR 195/ 95, ZIP 1996, 846; Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 30; a.A. KG v. 25.2.2000 – 7 W 602/00, ZInsO 2000, 229. Str.: vgl. LG Würzburg v. 21.9.1999 – 9 T 1930/99, NZI 1999, 504 = ZInsO 1999, 724; AG Heilbronn v. 6.8.1999 – 1 M 7322/99, DGVZ 1999, 187; AG Rostock v. 10.1.2000 – 64 M 6512/99, NZI 2000, 142; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 72; a.A. AG Wilhelmshaven v. 26.2.2001 – 14 M 979/00, NZI 2001, 436, 437; Steder, NZI 2000, 456. AG Rostock v. 10.1.2000 – 64 M 6512/99, NZI 2000, 142. OLG Stuttgart v. 10.11.1983 – 8 W 340/83, OLGZ 84, 177 = GmbHR 1984, 100 = ZIP 1984, 113; LG Hannover v. 13.6.1980 – 11 T 92/80, DGVZ 1981, 60; a.A. LG Bonn v. 28.2.1989 – 4 T 24/89, DGVZ 1989, 120. Behr, Rpfleger 1988, 1, 3 m.w.N. Vallender, ZIP 1997, 1993, 1996; a.A. Helwich, DGVZ 1998, 50.

608 | Bast

§ 15 Der Insolvenzantrag | Rz. 15.112 § 15

Gegen den Anordnungsbeschluss steht gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 InsO nur dem Schuldner das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu (näher dazu Rz. 16.5 und 16.14). Im Regelfall wird dieser nicht beschwert sein und kein Interesse daran haben, die gerichtliche Maßnahme anzugreifen, weil sie ihm die Möglichkeit verschafft, unliebsame Zwangsvollstreckungsmaßnahmen abzuwehren. Der vollstreckende Gläubiger ist dagegen nicht befugt, die Anordnung anzufechten.

15.109

Für die Entscheidung über die Erinnerung gemäß § 766 ZPO gegen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach Anordnung der einstweiligen Einstellung oder Untersagung der Zwangsvollstreckung gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO ist entsprechend dem Rechtsgedanken des § 89 Abs. 3 InsO das Insolvenzgericht1 und nicht das Vollstreckungsgericht sachlich und funktionell zuständig. Zuständig für die Abhilfeentscheidung ist dagegen der Rechtspfleger des Vollstreckungsgerichts, nicht der des Insolvenzgerichts2.

15.110

Erst der Ausgang des Insolvenzeröffnungsverfahrens entscheidet darüber, ob der von dem Einstellungsbeschluss erfasste Betrag zur gemeinsamen Befriedigung der Insolvenzgläubiger verwendet werden kann oder nicht. Kommt es zur Eröffnung des Verfahrens, fällt der hinterlegte oder vom Drittschuldner zurückbehaltene Betrag in die Masse, soweit er der Rückschlagsperre des § 88 InsO unterliegt. Bei einer Hinterlegung hat der Treuhänder den Pfändungsgläubiger zur Freigabe aufzufordern. Vor der Anordnung der Sicherungsmaßnahmen wirksam entstandene Pfandrechte nach § 50 InsO können nur durch Anfechtung beseitigt werden3. Hat der Drittschuldner trotz Kenntnis der Einstellung der Zwangsvollstreckung an den Pfändungsgläubiger geleistet, so kann er sich nicht auf die §§ 407 ff. BGB, § 836 ZPO berufen.

15.111

Kommt es nicht zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens, hat das Gericht angeordnete Sicherungsmaßnahmen mangels eines Sicherungsbedürfnisses aufzuheben. Das schuldnerische Vermögen unterliegt danach wieder dem ungeschützten Zugriff der Gläubiger. Die Pfändungsgläubiger dürfen sich aus dem zu ihren Gunsten entstandenen Pfandrecht befriedigen. Im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verliert der die Einzelzwangsvollstreckung einstellende Beschluss seine Rechtswirkung, weil nach diesem Zeitpunkt Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen auch ohne gerichtliche Anordnung verboten und materiellrechtlich wirkungslos sind (§§ 89, 81 InsO).

15.112

1 AG Köln v. 7.6.2018 – 75 IN 197/17, NZI 2018, 622, 623; AG Göttingen v. 30.6.2000 – 74 IK 49/ 00, NZI 2000, 493; AG Göttingen v. 14.8.2003 – 74 AR 16/03, ZInsO 2003, 770; Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 34; Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz 50; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 68; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 83b. 2 Entsprechend für § 89 Abs. 3 InsO: AG Köln v. 4.11.2010 – 73 IN 206/10, BeckRS 2011, 5602. 3 AG Hamburg v. 21.10.1999 – 68d IK 24/99, WM 2000, 895, 896.

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§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers I. Verfahrensrechte des Geschäftsführers 1. Grundsätzliches 16.1

Neben den unter Rz. 16.31 ff. und 16.51 ff. dargestellten Pflichten hat der Geschäftsführer im Insolvenzeröffnungsverfahren über das Vermögen der GmbH auch Verfahrensrechte. Die Ausübung dieser Rechte dient regelmäßig dem Gesellschaftsinteresse, das der Geschäftsführer zu wahren hat1. So ist er befugt, in den Fällen, in denen das Gesetz ein Rechtsmittel vorsieht, sofortige Beschwerde (§ 6 Abs. 1 InsO) einzulegen2. Sind mehrere Geschäftsführer bestellt, steht jedem Geschäftsführer ein individuelles Beschwerderecht zu3. Das Gleiche gilt für die Beschwerde gegen den Abweisungsbeschluss nach §§ 26, 34 Abs. 1 InsO, ohne Rücksicht darauf, ob der Geschäftsführer selbst oder ein anderes Mitglied der Geschäftsführung den Antrag gestellt hat4. Neben der formellen Beschwerdeberechtigung ist jedoch stets auch eine Beschwer erforderlich5.

16.2

In den Fällen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens steht dem oder den Geschäftsführern das Recht der sofortigen Beschwerde nach § 34 Abs. 2 InsO zu. Den Gesellschaftern ist diese Befugnis nicht eingeräumt. Bei einem Gläubigerantrag sind die Geschäftsführer als Antragsgegner anzuhören (§ 14 Abs. 2, § 10 Abs. 2 InsO). Bei einem Eigenantrag einer Gesellschaft mit mehrköpfiger Vertretung sind die übrigen Geschäftsführer anzuhören, wenn der Antrag nicht von allen organschaftlichen Vertretern gestellt ist (§ 15 Abs. 2 Satz 3 InsO). Als Verfahrensbeteiligter ist der Geschäftsführer ferner befugt, nach § 4 InsO i.V.m. § 299 Abs. 1 ZPO Akteneinsicht zu verlangen. Dieses Recht ist Teil des verfassungsrechtlich geschützten Anspruchs auf rechtliches Gehör6.

16.3

Dagegen steht dem Geschäftsführer kein allgemeiner Auskunftsanspruch gegen den vorläufigen Insolvenzverwalter zu7. Ob dieser im Einzelfall Auskunft erteilt, ist seinem pflichtgemäßen Ermessen überlassen. Weigert sich der vorläufige Insolvenzverwalter, einem konkreten Auskunftsbegehren des Geschäftsführers nachzukommen, hat er das Insolvenzgericht um ein Einschreiten zu ersuchen. Das Gericht wird im Rahmen seiner Aufsicht zu berücksichtigen haben, inwieweit eine Auskunftserteilung dem vorläufigen Insolvenzverwalter zumutbar ist und inwieweit sie zu einer Vermögensgefährdung führen könnte.

16.4

Der Geschäftsführer ist auch befugt, bereits mit seinem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder zu einem späteren Zeitpunkt einen Insolvenzplan vorzulegen (§ 218 InsO). 1 Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1303 Rz. 45. 2 BGH v. 20.7.2006 – IX ZB 274/05, NZI 2006, 700; Pape in Uhlenbruck, § 6 InsO Rz. 12; Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999, Rz. 829 ff. 3 LG Dessau v. 30.3.1998 – 7 T 123/98, ZIP 1998, 1006; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1303 Rz. 44 m.w.N. Näher dazu Ausführungen Rz. 16.5. 4 Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1303 Rz. 44; a.A. Grüneberg, Die Rechtspositionen der Organe der GmbH und des Betriebsrats im Konkurs, 1988, S. 137. 5 Pape in Uhlenbruck, § 6 InsO Rz. 12. 6 Näher dazu Vallender in Kölner Schrift zur InsO, S. 254 Rz. 11 ff. 7 Riedel in Kayser/Thole, § 58 InsO Rz. 5.

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§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.6 § 16

Von diesem Planinitiativrecht sollte in den Fällen Gebrauch gemacht werden, in denen eine gerichtliche Sanierung der Gesellschaft möglich erscheint oder eine günstigere, vom Regelverfahren abweichende Verwertungsmöglichkeit besteht1. Bei der Prüfung der Sanierung der Gesellschaft stellt sich häufig nicht nur die Frage nach der Ausarbeitung und Vorlage eines Insolvenzplans in einem späteren Insolvenzverfahren, sondern die weitere Frage, ob die Planvorlage nicht mit einem Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung begleitet werden sollte. Der Antrag kann gestellt werden, solange der Eröffnungsbeschluss noch nicht ergangen ist2.

2. Beschwerderechte Der Geschäftsführer ist gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, deren Interessen auch in einem Insolvenzeröffnungsverfahren zu wahren, wenn der Gläubigerantrag unzulässig oder unbegründet ist3. Diese Pflicht setzt ein, wenn das Gericht den Insolvenzantrag zugelassen hat und die Gesellschaft nach Maßgabe des § 14 Abs. 2 InsO anhört. In seiner schriftlichen Stellungnahme sollte der Geschäftsführer sämtliche Einwendungen gegen die Zulässigkeit des Antrags erheben. So kann er die allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen rügen. Darüber hinaus kann er sich gegen die besonderen Zulassungsvoraussetzungen des § 14 Abs. 1 InsO zur Wehr setzen und insbesondere durch eine Gegenglaubhaftmachung den ursprünglich zulässigen Insolvenzantrag unzulässig werden lassen. Er sollte zu diesem Zweck nach Möglichkeit bereits im Rahmen der Anhörung Unterlagen einreichen, aus welchen sich die Zahlungsfähigkeit bzw. die fehlende Überschuldung ergibt und deren Richtigkeit an Eides statt versichern4. Folgt das Gericht seinem Verteidigungsvorbringen nicht, stellt sich zunächst die Frage, ob die Zulassung des Insolvenzantrags angefochten werden kann. Darüber hinaus ist von entscheidender Bedeutung, welche Beschwerdemöglichkeiten dem Geschäftsführer der GmbH gegen Ermittlungs- und Sicherungsmaßnahmen des Insolvenzgerichts zustehen. Dies hängt allein davon ab, ob die Insolvenzordnung ein Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Insolvenzgerichts vorsieht. Als Träger der Schuldnerrolle kann der Geschäftsführer der schuldnerischen GmbH die vorgesehenen Rechtsmittel für die GmbH einlegen5. Ist der Geschäftsführer aus seinem Amt ausgeschieden, kann er die GmbH auch in Verfahren der sofortigen Beschwerde und der Rechtsbeschwerde nicht mehr vertreten. Eigene Verfahrensrechte stehen ihm weder vor noch nach seinem Ausscheiden zu6.

16.5

Grundsätzlich wird Rechtsschutz gegen unzulässige und unbegründete Insolvenzanträge im Insolvenzeröffnungsverfahren nur durch das Insolvenzgericht gewährt, so dass der Rechtsschutz durch Prozessgerichte in der Regel wegen der ausschließlichen Prüfungskompetenz der sich aus der Insolvenzordnung ergebenden Voraussetzungen für die Zulässigkeit und Begründetheit eines Insolvenzantrags ausgeschlossen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Geschäftsführer nicht im Einzelfall, wenn der antragstellende Gläubiger das Recht und die Möglichkeit, einen Insolvenzantrag gemäß § 14 InsO zu stellen, missbraucht, um mit einem unzulässigen oder unbegründetem Insolvenzantrag außerhalb des Insolvenzverfahrens liegende Ziele zu verfolgen, ausnahmsweise im Wege der einstweiligen Verfügung negatorischen Rechtsschutz begehren kann7.

16.6

1 2 3 4 5 6 7

Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999, Rz. 827. Riggert in Nerlich/Römermann, § 270 InsO Rz. 18. Vallender, ZIP 1996, 529, 530; Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz, 1999, Rz. 806. Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz, 1999, Rz. 817. BGH v. 20.7.2006 – IX ZB 274/05, NZI 2006, 700; Pape in Uhlenbruck, § 6 InsO Rz. 12. BGH v. 20.7.2006 – IX ZB 274/05, NZI 2006, 700. OLG Koblenz v. 17.11.2005 – 10 W 705/05, ZInsO 2005, 1338 = ZIP 2006, 1833.

Bast | 611

§ 16 Rz. 16.7 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

a) Zulassung des Insolvenzantrags durch das Insolvenzgericht 16.7

Dem Geschäftsführer ist es verwehrt, bereits die Zulassung des Insolvenzantrags durch das Insolvenzgericht anzufechten. Es handelt sich dabei lediglich um eine die Eröffnungsentscheidung vorbereitende Tätigkeit des Insolvenzgerichts, gegen die das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nicht gegeben ist, weil die InsO insoweit ein Rechtsmittel nicht vorsieht1. Das Enumerationsprinzip des § 6 InsO beschränkt die Anfechtungsmöglichkeiten auf die in der Insolvenzordnung ausdrücklich vorgesehenen Fälle. Dem liegt letztlich die Überlegung zugrunde, dass eine förmliche Entscheidung über die Zulassung des Insolvenzantrags nicht erforderlich ist und der Schuldner zudem erst dann beschwert ist, wenn das Insolvenzgericht seine Einwendungen gegen die Eröffnung des Verfahrens verwirft und den Eröffnungsbeschluss erlässt.

b) Ermittlungsmaßnahmen 16.8

Nach § 5 Abs. 1 InsO hat das Insolvenzgericht von Amts wegen alle Umstände zu ermitteln, die für das Insolvenzverfahren von Bedeutung sind. Es kann zu diesem Zweck insbesondere Zeugen und Sachverständige vernehmen. In der gerichtlichen Praxis ist die Bestellung eines Sachverständigen die häufigste und wichtigste Ermittlungsmaßnahme. Dabei beauftragt das Insolvenzgericht den Sachverständigen regelmäßig mit der Prüfung der Fragen, ob ein Insolvenzgrund besteht und eine die Kosten des Verfahrens deckende Masse vorhanden ist. Zwar setzt die Amtsermittlungspflicht des Gerichts erst ein, wenn der Antrag des Gläubigers zulässig ist2. Dies schließt indes nicht aus, dass – bei Verkennung der Rechtslage – trotz Unzulässigkeit des Insolvenzantrags Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet werden, denen es frühzeitig zu begegnen gilt (näher dazu sogleich Rz. 16.9. Bei zweifelhaftem Gerichtsstand können indes berechtigte Sicherungsinteressen der Insolvenzgläubiger es gebieten, Sicherungsmaßnahmen vor der Feststellung der Zuständigkeit des Insolvenzgerichts zu treffen, wenn sich das Insolvenzgericht letzte Gewissheit erst im weiteren Verfahrensablauf verschaffen kann3.

16.9

Die Beauftragung des Sachverständigen erfolgt durch Beschluss. Diese Entscheidung ist als vorbereitende Maßnahme nicht anfechtbar4. Die sich nur auf die geregelten Fälle beziehende Vorschrift des § 6 Abs. 1 InsO schließt es indes nicht aus, dem von einer generell unzulässigen Maßnahme Betroffenen ein Rechtsmittel zu eröffnen5. Werden dem Sachverständigen Befugnisse eingeräumt, die dem Gesetz fremd sind, ist der Grundsatz, dass vorbereitende Maßnahmen des Insolvenzgerichts i.S. des § 5 InsO nicht rechtsmittelfähig sind, verfassungskonform einzuschränken. Soweit das Insolvenzgericht z.B. mittels einer dem Sachverständigen erteilten Befugnis in den Wohn- und Geschäftsbereich des Schuldners eingreift, ist dieser berechtigt, dagegen analog § 21 Abs. 1 Satz 2 InsO im Wege der sofortigen Beschwerde vorzugehen. Denn die Insolvenzordnung hat dem Insolvenzrichter nicht die Möglichkeit eröffnet, einen Sachverständigen zu ermächtigen, die Wohn- und Geschäftsräume des Schuldners gegen dessen Willen zu betreten. Es handelt sich dabei um eine objektiv willkürliche Maßnahme, für die es an jeder rechtlichen Grundlage fehlt. Soweit sich in diesen Fällen das ursprüngliche Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers erledigt hat, ist regelmäßig ein Rechtsschutzinteresse 1 OLG Köln v. 1.12.2000 – 2 W 231/00, NZI 2001, 598. 2 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, NZI 2007, 344; BGH v. 12.12.2002 – IX ZB 426/02, ZIP 2003, 358. 3 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, NZI 2007, 344 = ZIP 2007, 878. 4 OLG Köln v. 1.12.2000 – 2 W 231/00, NZI 2001, 598. 5 BGH v. 4.3.2004 – IX ZB 133/03, NZI 2004, 312 = ZIP 2004, 915.

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§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.11 § 16

des Betroffenen anzuerkennen, die Rechtswidrigkeit der Anordnung feststellen zu lassen1. Demgegenüber ist in der Regel gegen die Anordnung des Insolvenzgerichts, ein Sachverständigengutachten darüber zu erheben, in welchem Staat sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners befindet, die sofortige Beschwerde nicht statthaft2.

c) Sicherungsmaßnahmen Vor allem bei einem unzulässigen Gläubigerantrag sollte der Geschäftsführer der GmbH alles daran setzen, Sicherungsmaßnahmen des Insolvenzgerichts (näher dazu Rz. 16.12) zu bekämpfen. Denn § 23 Abs. 1 InsO sieht zwingend die öffentliche Bekanntmachung der Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung vor. § 21 InsO gilt grundsätzlich in allen Arten von Insolvenzverfahren3 und ist anwendbar, sobald und solange ein Insolvenzantrag in zulässiger Weise anhängig ist, also im Zeitraum zwischen dem Eingang eines zulässigen Antrags und dessen Zurückweisung oder Rücknahme oder der Insolvenzeröffnung4. Die Gefahr, dass ein Gericht Sicherungsmaßnahmen bei substantiierten Einwendungen des Schuldners gegen den Insolvenzantrag erlässt, dürfte als gering einzustufen sein. Denn auch der Erlass von Sicherungsmaßnahmen setzt grundsätzlich die Zulässigkeit des Insolvenzantrags und die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes voraus5. Wendet sich der Schuldner in rechtserheblicher Weise gegen den Insolvenzantrag, wird das Gericht zunächst den antragstellenden Gläubiger zur ergänzenden Stellungnahme auffordern und im Anschluss daran das Weitere veranlassen. Dies unterstreicht umso mehr die Notwendigkeit, sich im Rahmen der Anhörung nach § 14 Abs. 2 InsO fristgerecht gegen einen – unzulässigen – Insolvenzantrag zur Wehr zu setzen. Weitere Möglichkeiten, die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen zu verhindern, stehen dem Geschäftsführer jedoch nicht zu. Ein selbständiges einstweiliges Rechtsschutzverfahren oder Eilrechtsschutzverfahren gegen Entscheidungen des Insolvenzgerichts sieht die Insolvenzordnung nicht vor6.

16.10

Ordnet das Gericht Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO an, steht dem Schuldner gegen den entsprechenden Beschluss nach § 21 Abs. 1 Satz 2 InsO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu. Mit seiner sofortigen Beschwerde kann der Schuldner jede Art von Sicherungsmaßnahme anfechten. Anfechtbar sind nur selbständige Sicherungsmaßnahmen, nicht dagegen einzelne Ausgestaltungen solcher – für sich nicht angegriffenen – Maßnahmen7. Die sofortige Beschwerde setzt wie jedes andere Rechtsmittel auch eine Beschwer des Rechtsmittelführers voraus, die im Zeitpunkt der Entscheidung noch gegeben sein muss8. Ihr Wegfall macht

16.11

1 BVerfG v. 30.4.1997 – 2 BvR 817/90, NJW 1997, 2163; BVerfG v. 5.12.2001 – 2 BvR 527/99, NJW 2002, 2456; BGH v. 4.3.2004 – IX ZB 133/03, NZI 2004, 313 = ZIP 2004, 915. 2 BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 6/12, NZI 2012, 823 = ZIP 2012, 1615. 3 Aus § 270b Abs. 1 und 4 InsO folgt, dass das Gericht bei nicht offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Antrags auf Anordnung der Eigenverwaltung im Eröffnungsverfahren von den Maßnahmen des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 InsO abzusehen und anstelle des vorläufigen Insolvenzverwalters einen vorläufigen Sachwalter zu bestellen hat. 4 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 2 m.w.N. 5 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, NZI 2007, 344 = ZIP 2007, 878; Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 2, 3 m.w.N. 6 Ausnahmsweise bleibt der Schuldner bei Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO für Eilrechtsschutzmaßnahmen prozessführungsbefugt, z.B. wenn ein Gläubiger nach Kündigung des Mietvertrags betriebsnotwendige Gegenstände im Wege der verbotenen Eigenmacht vom Betriebsgelände entfernt hat (LG Leipzig v. 26.5.2006 – 5 HK O 1796/ 06, ZInsO 2006, 1003 ff.). 7 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 60. 8 BGH v. 12.10.2006 – IX ZB 34/05, NZI 2007, 34 = ZIP 2006, 2233.

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§ 16 Rz. 16.11 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

das Rechtsmittel unzulässig. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erledigen sich Sicherungsmaßnahmen des Insolvenzgerichts; eine Sachentscheidung ist nicht mehr möglich1. Ein besonderes Verfahren, in dem die Rechtswidrigkeit einer bereits erledigten Sicherungsmaßnahme i.S. von § 21 InsO festgestellt werden kann, sehen weder die ZPO noch die InsO vor. In Betracht kommt allenfalls die Zulassung eines Fortsetzungsfeststellungsantrags, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist2.

d) Verfahrensabschließende Entscheidungen 16.12

Die letzte Möglichkeit, sich im Insolvenzeröffnungsverfahren gegen einen unzulässigen Gläubigerantrag erfolgreich zur Wehr zu setzen, besteht bei den verfahrensabschließenden Entscheidungen des Insolvenzgerichts. Nach § 34 Abs. 1 und 2 InsO steht dem Schuldner gegen die Abweisung des Insolvenzantrags mangels Masse und gegen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die sofortige Beschwerde zu. In beiden Fällen ist es dringend geboten, die Entscheidung anzufechten. Denn die Abweisung mangels Masse hat zur Folge, dass mit der Rechtskraft des Beschlusses die GmbH aufgelöst wird (§ 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG). Im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens besteht dieselbe Notwendigkeit, weil diese Entscheidung ebenfalls zur Liquidation der GmbH führt (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Ungeachtet der Regelung der Vertretungsbefugnis kann jeder Geschäftsführer die Ablehnung der Insolvenzeröffnung angreifen. Die Beschwerdebefugnis der GmbH folgt in einem solchen Fall aus der mit der Abweisung mangels Masse verbundenen Eintragung im Schuldnerverzeichnis (vgl. § 26 Abs. 2 InsO). Hat das Insolvenzgericht z.B. die Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Forderung des Antragstellers verkannt, kann der Schuldner die Aufhebung des Abweisungsbeschlusses mit dieser Begründung verlangen3.

16.13

Die Beschwerde gegen die Eröffnungsentscheidung kann grundsätzlich auf das Fehlen jeder Eröffnungsvoraussetzung gestützt werden. Bei Anträgen von Gläubigern hat das Gericht grundsätzlich die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 InsO zu prüfen4. So kann hinsichtlich der Forderung eines antragstellenden Gläubigers in der Regel nur deren mangelnde Glaubhaftmachung als Zulässigkeitsvoraussetzung des Insolvenzantrags gerügt werden, nicht weitergehend, dass sie materiell nicht bestehe5.

e) Beschwerdeverfahren 16.14

Das Beschwerdeverfahren richtet sich nach den §§ 567 ff. ZPO (§ 4 InsO), soweit § 6 InsO keine abweichenden Bestimmungen enthält. Die Beschwerde ist nach § 6 Abs. 1 Satz 2 InsO beim Insolvenzgericht einzulegen. Die Beschwerdefrist beträgt zwei Wochen (§ 569 Abs. 1 ZPO) und beginnt, wie Abs. 2 bestimmt, mit der Verkündung der Entscheidung, im Falle der Nichtverkündung mit der Zustellung6. Zum Nachweis der Zustellung an alle Beteiligte genügt gemäß § 9 Abs. 3 InsO aber auch die öffentliche Bekanntmachung. Diese erfolgt durch eine zentrale und länderübergreifende, auch auszugsweise Veröffentlichung im Internet. Die Bekanntmachung gilt als bewirkt, sobald nach dem Tag der Veröffentlichung zwei weitere Tage verstrichen sind (§ 9 Abs. 1 InsO). Für den Beginn der Beschwerdefrist gilt der Zeitpunkt i.S. 1 2 3 4 5 6

BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, NZI 2007, 231, 232 = ZIP 2007, 438. BVerfG v. 30.4.1997 – 2 BvR 817/90, 728/92, 802 und 1065/95, NJW 1997, 2163. OLG Celle v. 9.2.2000 – 2 W 101/99, NZI 2000, 214 = ZIP 2000, 1675. Laroche in Kayser/Thole, § 27 InsO Rz. 9. LG Göttingen v. 31.3.1998 – 10 T 18/98, NZI 1999, 30 = ZIP 1998, 1369. Stephan in Karsten Schmidt, 4. Aufl. 2019, § 6 InsO Rz. 38.

614 | Bast

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.31 § 16

des § 9 Abs. 1 Satz 3 InsO auch dann, wenn der Beschluss später noch per Aufgabe zur Post zugestellt wird1. Das Insolvenzgericht hat gemäß § 572 Abs. 1 ZPO die Befugnis, der Beschwerde abzuhelfen. Zwar hat die sofortige Beschwerde keine aufschiebende Wirkung (§ 570 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Sowohl das Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, als auch das Beschwerdegericht können aber die Aussetzung der Vollziehung anordnen (§ 570 Abs. 2 und 3 ZPO). Eine solche Maßnahme dürfte nur angezeigt sein, wenn die Beschwerde zulässig und die Rechtslage zweifelhaft ist und dem Beschwerdeführer durch die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung größere Nachteile drohen als den anderen Beteiligten im Falle der Aussetzung2. Davon ist bei einer Anordnung von Sicherungsmaßnahmen auf Grund eines unzulässigen Gläubigerantrags auszugehen. Ob es dem Geschäftsführer allerdings noch gelingt, die öffentliche Bekanntmachung zu verhindern, erscheint fraglich. Denn sie dürfte zum Zeitpunkt der Kenntnisnahme der erlassenen Sicherungsmaßnahme bereits schon erfolgt sein3.

16.15

Im Rahmen der Beschwerdeentscheidung gilt für das Landgericht als Beschwerdegericht (§ 72 GVG) die Amtsermittlungspflicht des § 5 Abs. 1 InsO4. Dem Landgericht als Beschwerdeinstanz kommt nach Streichung des § 7 InsO durch das Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung vom 27.10.20115 eine wesentlich größere Bedeutung in Insolvenzsachen zu, weil gegen Entscheidungen des Landgerichts nur noch eine Rechtsbeschwerde unter den Voraussetzungen des § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zulässig ist. Eine der Zulassungsvoraussetzungen ist, dass über eine Rechtsfrage und nicht über eine Tatfrage zu entscheiden ist. Im Gegensatz zur Klärung der internationalen Zuständigkeit sind Fragen der örtlichen Zuständigkeit nicht durch eine Rechtsbeschwerde zu klären. Eine Rechtsbeschwerde ist bei alternativem Vorliegen zweier Gründe zuzulassen. Zum einen kann es sich um eine Rechtsfrage von „grundsätzlicher Bedeutung“ handeln. Zum anderen ist sie zuzulassen, wenn es darum geht, die Rechtsfortbildung oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sicherzustellen. Lässt das Landgericht die Rechtsbeschwerde nicht zu, steht gegen diese Entscheidung ein weiteres Rechtsmittel nicht zur Verfügung.

16.16

16.17–16.30

Einstweilen frei.

II. Pflichten des Geschäftsführers vor Zulassung des Insolvenzantrags Das Insolvenzgericht darf Sicherungsmaßnahmen nur anordnen, wenn ein zulässiger Insolvenzantrag gestellt wurde (§ 20 Abs. 1 InsO). Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Insolvenzantrags ist ein interner Vorgang des Insolvenzgerichts. Äußerlich manifestiert sich die Zulassung des Antrags darin, dass das Gericht dem Schuldner den Antrag gemäß § 14 Abs. 2 InsO zustellt oder dass es Sicherungsmaßnahmen gemäß § 21 Abs. 2 InsO anordnet. Weil die Zulassung nicht im Wege eines förmlichen Beschlusses erfolgt, sind gegen sie keine Rechtsbehelfe statthaft6. 1 BGH v. 14.6.2012 – IX ZB 102/11. 2 BGH v. 21.3.2002 – IX ZB 48/02, ZInsO 2002, 370 = ZIP 2002, 718. 3 Der Schuldner ist allerdings nicht gehindert, Amtshaftungsansprüche gemäß Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB gegen das Insolvenzgericht geltend zu machen (vgl. dazu näher Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 56). 4 Becker in Nerlich/Römermann, § 6 InsO Rz. 75. 5 BGBl. I 2011, 2082. 6 Fuhst in Gogger/Fuhst, Insolvenzgläubiger-Handbuch, 4. Aufl./2020 § 2 Rz. 60 f.

Bast und Brinkmann | 615

16.31

§ 16 Rz. 16.31 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Diese gesetzliche Regelung ist problematisch, weil durch die Zulassung des Insolvenzantrags und die Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters eine faktische Kettenreaktion in Gang gesetzt wird, die mehr oder weniger unvermeidlich zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens führt. Denn auch der Schuldner, der bei Einsetzung eines vorläufigen Verwalters noch nicht insolvent war, wird es durch den Reputationsverlust, der mit der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen verbunden ist, werden1. Umso wichtiger ist, dass die Geschäftsführung die in der Phase vor der Zulassung des Antrags bestehenden Verfahrensrechte effizient wahrnimmt.

1. Pflichten gegenüber der Gesellschaft 16.32

Der Geschäftsführer ist – vorbehaltlich § 2 StaRUG – auch nach Stellung eines Insolvenzantrags aufgrund seiner Organstellung verpflichtet, die Interessen der Gesellschaft zu wahren2. Welche konkreten Konsequenzen sich aus dieser Ausrichtung auf das Gesellschaftsinteresse ergeben, hängt nicht zuletzt davon ab, ob es sich um einen Eigen- oder einen Gläubigerantrag handelt.

a) Gläubigerantrag 16.33

Bei einem Gläubigerantrag wird das Interesse der Gesellschaft regelmäßig darauf gerichtet sein, möglichst schon die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen, jedenfalls aber die Verfahrenseröffnung zu vermeiden. Hierfür stehen den Geschäftsführern in der Phase vor der Zulassung des Antrags keine formellen Rechtsbehelfe zur Verfügung. Zur möglichst frühzeitigen Abwehr des Gläubigerantrags kann der Geschäftsführer aber schon vor seiner Anhörung die Glaubhaftmachung der Forderung durch den Gläubiger mittels einer Gegenglaubhaftmachung erschüttern (Rz. 15.62). Ebenso kann er andere Voraussetzungen des Antrags bestreiten und so versuchen darauf hinzuwirken, dass der Antrag gar nicht erst zugelassen wird.

16.34

Ferner können die Geschäftsführer bei dem zuständigen Insolvenzgericht bereits vor der Stellung eines Insolvenzantrags eine Schutzschrift einreichen, in der sie zu dem erwarteten Insolvenzantrag Stellung nehmen3. So kann das Gericht dazu veranlasst werden, die Geschäftsführung der Antragsgegnerin vor der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen anzuhören, so dass die Geschäftsführer Gelegenheit haben, sich gegen den Antrag oder wenigstens gegen die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen zu verteidigen.

b) Eigenantrag 16.35

Wie sich der Geschäftsführer bei einem Eigenantrag zu verhalten hat, hängt davon ab, ob ein anderer Geschäftsführer den Antrag „im Alleingang“ gestellt hat, oder ob die Geschäftsführer den Antrag einvernehmlich gestellt haben. 1 Hierzu Brinkmann in FS Schilken, S. 631 ff. Die Bedeutung der Zulassung des Insolvenzantrags zeigt sich auch darin, dass die Einsetzung eines vorläufigen Verwalters als Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. von Art. 2 Buchst. f EuInsVO behandelt wird, Brinkmann in Karsten Schmidt, InsO, Art. 2 EuInsVO Rz. 8 m.w.N. 2 BGH v. 23.9.1985 – II ZR 246/84, NJW 1986, 585 = GmbHR 1986, 42 = ZIP 1985, 1484; Stephan/ Tieves in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 35 GmbHG Rz. 86; Lenz in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, § 35 GmbHG Rz. 131. 3 Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, 9. Aufl./2022 Rz. 354; Rein, NJW-Spezial 2013, 213; Tetzlaff, GWR 2011, 391. A.A. Pape in Uhlenbruck, § 10 InsO Rz. 11.

616 | Brinkmann

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.39 § 16

aa) Insolvenzantrag durch einen anderen Geschäftsführer „im Alleingang“ Ein Geschäftsführer kann den von einem anderen Geschäftsführer gestellten Antrag nicht zurücknehmen (Rz. 15.63)1. Hat der antragstellende Geschäftsführer seine Organstellung zwischenzeitlich verloren, kann der Antrag nur von allen verbliebenen Geschäftsführern gemeinsam zurückgenommen werden2.

16.36

Gegen einen Insolvenzantrag eines Mitgeschäftsführers kann sich ein anderer Geschäftsführer für die Gesellschaft zur Wehr zu setzen, indem er beispielsweise im Wege der Gegenglaubhaftmachung das Vorliegen eines Insolvenzgrunds in Zweifel zieht. Weist das Insolvenzgericht daraufhin den Antrag ab, so ist der antragsstellende Geschäftsführer der Kostenschuldner3.

16.37

Wurde der Antrag wegen drohender Zahlungsunfähigkeit gestellt, ohne dass ein entsprechender Gesellschafterbeschluss vorlag4, werden der oder die anderen Geschäftsführer das Insolvenzgericht über das Fehlen eines solchen Beschlusses informieren. Zwar ist der Insolvenzantrag nicht schon wegen des Fehlens eines Gesellschafterbeschlusses unzulässig5, allerdings überschreitet der Geschäftsführer hierdurch unter Umständen seine gesellschaftsrechtlichen Handlungsbefugnisse und macht sich dann gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig6.

16.38

bb) Einvernehmlicher Eigenantrag Bei einem einvernehmlichen Eigenantrag steht die Wahrung und Nutzung von Sanierungschancen im Vordergrund der Organpflichten des Geschäftsführers. Der Geschäftsführer wird insbesondere zu überlegen haben, ob es im Gesellschaftsinteresse geboten ist, einen Antrag 1 LG Dortmund v. 23.9.1985 – 9 T 560/85, NJW-RR 1986, 258 = GmbHR 1986, 91 = ZIP 1985, 1341 (zum Konkursantrag); Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 71; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 54; Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 51; Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, § 15 InsO Rz. 83; H.-F. Müller in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 64 GmbHG Rz. 55. 2 BGH v. 10.7.2008 – IX ZB 122/07, ZIP 2008, 1596 = GmbHR 2008, 987 mit der Einschränkung, dass die Rücknahme nicht rechtsmissbräuchlich sein dürfe; s. auch OLG Brandenburg v. 16.7.2001 – 8 W 165/01, NZI 2002, 44, 48; Sternal in Kayser/Thole, § 13 InsO Rz. 33; Klöhn in Münchener Kommentar zur InsO, § 15 InsO Rz. 84; Müller in Jaeger, § 15 InsO Rz. 58; kritisch Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 13 InsO Rz. 231 f. 3 Für die BGB-Gesellschaft und das Verhältnis der geschäftsführungsberechtigten Gesellschafter BGH v. 18.5.2017 – IX ZB 79/16, ZIP 2017, 1335. 4 Zur Schadensersatzpflicht des Geschäftsführers in diesem Fall OLG München v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121 = GmbHR 2013, 590 (zu einer GmbH & Co. KG); Schröder in Hamburger Kommentar zur InsO, § 18 InsO Rz. 17; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 29; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 168 f.; Tetzlaff, ZInsO 2008, 137, 139; Leinekugel/Skauradszun, GmbHR 2011, 1121, 1124; Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593; Geißler, ZInsO 2013, 919, 922; Thole, ZIP 2013, 1937, 1939; Lang/Muschalle, NZI 2013, 953, 955. A.A. Meyer-Löwy/Pickerill, GmbHR 2013, 1065, 1074 f.; Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1850; Gessner, NZI 2018, 185, 186 f.; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370. Zur Situation bei der AG Schäfer, ZIP 2020, 1950 ff. 5 H.-F. Müller in Jaeger, § 18 InsO Rz. 19; Laroche in Kayser/Thole, § 18 InsO Rz. 18; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 31. A.A. H.-F. Müller, DB 2014, 41, 44, der vertritt, dass ein solcher Antrag wegen Missbrauchs der Vertretungsmacht unzulässig sei. Dem ist nicht zu folgen, da diese Auffassung im Widerspruch zu § 18 Abs. 3 InsO steht. Dort regelt das Gesetz die Frage der Antragsbefugnis ausdrücklich und stellt klar, dass auch insoweit die allgemeinen Vertretungsregeln gelten. Hiermit ist es nicht vereinbar, die Zulässigkeit des Antrags an das Vorliegen eines Gesellschafterbeschlusses zu knüpfen. 6 Brinkmann, ZIP 2014, 197, 204.

Brinkmann | 617

16.39

§ 16 Rz. 16.39 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

auf Anordnung von Eigenverwaltung nach § 270a InsO und gegebenenfalls daneben einen Antrag auf Bestimmung einer Frist zur Vorlage eines Insolvenzplans nach § 270d InsO (Schutzschirm) zu stellen. Beide Anträge können auch noch nach Einreichung des Insolvenzantrags gestellt werden. Erscheint eine Sanierung möglich, muss der Gesellschafter auch nach der Stellung des Insolvenzantrags die (hoffentlich schon begonnene) Arbeit am Sanierungskonzept und dem Entwurf eines Insolvenzplans in Abstimmung mit den Gesellschaftern fortsetzen. Es besteht eine interne Pflicht zur Planinitiative1.

2. Mitwirkungslasten gegenüber dem Insolvenzgericht 16.40

Fordert das Insolvenzgericht den antragstellenden Geschäftsführer auf, den Insolvenzantrag nachzubessern, treffen den antragstellenden Geschäftsführer Mitwirkungslasten2. Kommt der Geschäftsführer diesen nicht nach, weist das Insolvenzgericht den Antrag als unzulässig ab, wodurch gegebenenfalls die Insolvenzantragspflicht des Organs wieder auflebt3. Bei einem Gläubigerantrag ist der Antragsgegner nach § 20 InsO erst nach der Zulassung des Antrags zu Auskunft und Mitwirkung verpflichtet (zu diesen Rz. 16.58, 16.68 ff.).

16.41–16.50

Einstweilen frei.

III. Pflichten des Geschäftsführers nach Zulassung des Insolvenzantrags 1. Einköpfige und mehrköpfige Geschäftsführung 16.51

Die Verfahrenspflichten der Geschäftsführer nach der Zulassung des Insolvenzantrags4 basieren auf ihrer Organstellung, nicht auf dem mit dem Geschäftsführer abgeschlossenen Dienstvertrag. Sie treffen den bzw. die Geschäftsführer als Organ. Für die Besetzung der Geschäftsführung bleiben nach § 46 Nr. 5 GmbHG die Gesellschafter zuständig. Im Fall der Führungslosigkeit (dazu Rz. 14.5, 38.121 ff.) obliegt den Gesellschaftern die Unternehmensleitung. Die in § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG sowie in § 15 Abs. 1 Satz 2, § 15a Abs. 3 InsO enthaltenen Regelungen beheben die Handlungsunfähigkeit der Gesellschaft nicht, sondern begründen nur singuläre Zuständigkeiten der Gesellschafter. Ein allgemeines Institut subsidiärer Selbstorganschaft5, also einen allgemeinen Anfall der Geschäftsleiterposition an die Gesellschafter, kennt das Gesetz nicht6. Ggf. muss also analog § 29 BGB ein Notgeschäftsführer bestellt werden7. Schwieriger ist die Frage der Pflichtzuständigkeit im Fall einer mehrköpfigen Geschäftsführung (Gesamtgeschäftsführung). Soweit eine Geschäftsführungshandlung in der Abgabe einer Willenserklärung besteht, bleibt § 35 Abs. 2 Satz 1 GmbHG maßgebend, so dass die Geschäftsführer als Gesamtvertreter gemeinsam handeln müssen, sofern dies nicht anders bestimmt worden ist (Gesellschaftsvertrag; wechselseitige Ermächtigung). Geschäftsführerpflichten, die auf reine Tathandlungen (z.B. Informationen) oder Unterlassungen hinaus1 Uhlenbruck, GmbHR 1999, 390, 398 f. 2 BGH v. 12.12.2002 – IX ZB 426/02, BGHZ 153, 205 = ZIP 2003, 358. 3 Hirte in Uhlenbruck, § 15a InsO Rz. 18; Karsten Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, § 15a InsO Rz. 28. 4 Zum unternehmerischen Begriff der „Zulassung“ vgl. Morgen in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 20 InsO Rz. 5. 5 Zu diesem Gedanken vgl. Karsten Schmidt in VGR (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 143, 149 f. 6 Karsten Schmidt in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 1157 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2007, 1, 2 f. 7 Vgl. hierzu auch LG Kleve v. 21.3.2017 – 4 T 577/16, NZI 2017, 996.

618 | Brinkmann und Bast

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.53 § 16

laufen, treffen jeden Geschäftsführer separat (vgl. zur Insolvenzverschleppung Rz. 38.12). Mehrere Geschäftsführer stehen gegenüber der Gesellschaft unter Gesamtverantwortung (§ 43 Abs. 2 GmbHG), aber diese trifft im Innenverhältnis jeden nach Maßgabe seiner individuellen Verantwortlichkeit1. Im Fall einer GmbH & Co. KG treffen diese Pflichten mittelbar gleichfalls die Geschäftsführer der persönlich haftenden Komplementär-GmbH. Solange nicht die GmbH nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB2 oder nach dem KG-Gesellschaftsvertrag als Komplementärin ausgeschieden ist, bleibt also die GmbH-Geschäftsführung für Geschäftsführungsund Vertretungshandlungen der Kommanditgesellschaft zuständig.

2. Pflicht zur Beachtung gerichtlicher Sicherungsmaßnahmen Da sich ein Insolvenzeröffnungsverfahren über eine geraume Zeit erstrecken kann, hat der Insolvenzrichter darauf zu achten, dass sich bis zu einer etwaigen Verfahrenseröffnung keine nachteiligen Veränderungen in der Vermögenslage des Schuldners ergeben. Um dies zu gewährleisten, sieht die Generalklausel des § 21 Abs. 1 InsO ausdrücklich vor, dass das Gericht insoweit alle erforderlich erscheinenden Maßnahmen zu treffen hat. Die Wahl der Sicherungsmaßnahmen unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Insolvenzgerichts3. Ein entsprechender Antrag des antragstellenden Gläubigers bedarf keiner Bescheidung durch das Gericht, sondern ist allenfalls als Anregung aufzufassen. Die wichtigsten konkreten – allerdings nicht abschließend geregelten – Sicherungsmaßnahmen finden sich in § 21 Abs. 2 InsO: Die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, die Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses, der Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots sowie die Untersagung oder Einstellung von Vollstreckungsmaßnahmen in das bewegliche Vermögen des Schuldners, die Anordnung einer Postsperre sowie die Anordnung eines Einziehungs- und Verwertungsverbotes gegenüber Gläubigern nach Maßgabe von Ziffer 54. Als ultima ratio kommen die zwangsweise Vorführung oder nach vorheriger Anhörung des Schuldners der Erlass eines Haftbefehls in Betracht (§ 21 Abs. 3 InsO). Das gilt auch für organschaftliche Vertreter.

16.52

Als Schuldnervertreter hat der Geschäftsführer der GmbH die vom Insolvenzgericht angeordneten Sicherungsmaßnahmen zu beachten. Durch den Insolvenzantrag ändert sich seine organschaftliche Stellung nicht; er bleibt im Amt. Es bleibt bei der Zuständigkeit der Gesellschafterversammlung für die Bestellung und die Abberufung der Geschäftsführer, soweit der Gesellschaftsvertrag nichts anderes vorsieht5. Allerdings darf der Geschäftsführer nur noch solche Aufgaben wahrnehmen, die nicht die Insolvenzmasse betreffen6. An seiner gesellschaftsrechtlichen Stellung ändert auch die Anordnung einer starken vorläufigen Insolvenzverwaltung nichts. Weder der starke vorläufige Insolvenzverwalter noch der mit einer entsprechenden Ermächtigung ausgestattete schwache vorläufige Insolvenzverwalter ist befugt, den Geschäftsführer abzuberufen (vgl. § 46 Nr. 5 GmbHG)7; er kann allenfalls dessen Anstellungsvertrag kündigen8.

16.53

1 Vgl. hierzu Schnorbus in Rowedder/Pentz, § 43 GmbHG Rz. 94 ff. 2 Nach dem zum 1.1.2024 in Kraft tretenden Gesetz zur Modernisierung des Personengesellschaftsrechts (MoPeG) zukünftig geregelt in § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F. (BGBl. I 2021, 3436, 3461). 3 BGH v. 1.12.2005 – IX ZB 208/05, NZI 2006, 122, 123 = ZIP 2005, 2333. 4 Eingefügt durch das Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens vom 13.4.2007, BGBl. I 2007, 509. 5 BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, NZI 2007, 231 = ZIP 2007, 438. 6 BGH v. 26.1.2006 – IX ZR 282/03, ZInsO 2006, 260. 7 BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, NZI 2007, 231, 233 m. zust. Anm. Gundlach/Frenzel = ZIP 2007, 438. 8 BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, NZI 2007, 231, 233 = ZIP 2007, 438; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1287 Rz. 10 ff.

Bast | 619

§ 16 Rz. 16.54 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

16.54

Eine – zulässige – erhebliche Einschränkung erfährt die Unternehmensleitungsbefugnis des Geschäftsführers insbesondere bei der Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung. § 22 InsO bestimmt dabei im Einzelnen das Verhältnis des Schuldners bzw. seines organschaftlichen Vertreters zum vorläufigen Insolvenzverwalter. Nach § 22 Abs. 1 InsO geht im Falle eines allgemeinen Verfügungsverbots die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über. Im Außenverhältnis erhält der vorläufige Insolvenzverwalter damit rechtlich bereits die Stellung des Insolvenzverwalters im eröffneten Verfahren nach §§ 80–82 InsO. Die „Entmachtung“ des Geschäftsführers bei Anordnung einer sog. „starken“ vorläufigen Insolvenzverwaltung wird insbesondere im Falle einer Unternehmensfortführung deutlich. Den vorläufigen Insolvenzverwalter trifft nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO die Pflicht, ein Unternehmen, das der Schuldner im Zeitpunkt der Anordnung betreibt, fortzuführen. Anstelle des Geschäftsführers übernimmt der vorläufige Insolvenzverwalter die Befugnis zur Leitung des Unternehmens und damit auch die Entscheidungsmacht über die üblichen betrieblichen Angelegenheiten wie z.B. die Aufrechterhaltung der Produktion, Ein- und Verkauf und Forderungseinziehung, Ausübung der Arbeitgeberbefugnisse. Dieser Wechsel lässt jedoch die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des organschaftlichen Vertreters der GmbH unberührt (näher dazu Rz. 16.58 ff.).

16.55

Die Befugnis, Betretungsverbote in Bezug auf die Betriebsgrundstücke auszusprechen, ist ein Ausschnitt aus dem Hausrecht, das dem vorläufigen Insolvenzverwalter dann, wenn ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet worden ist, schon nach § 22 Abs. 1 InsO zusteht. Damit ist dem starken vorläufigen Insolvenzverwalter oder dem entsprechend ermächtigten schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter die Rechtsmacht verliehen, auch gegenüber dem Geschäftsführer der Gesellschaft den Zutritt zum Betriebsgelände von seiner Zustimmung abhängig zu machen1.

16.56

Bestellt das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter, ohne dass dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird, so bestimmt gemäß § 22 Abs. 2 Satz 1 InsO das Insolvenzgericht die Pflichten des vorläufigen (sog. „schwachen“) Insolvenzverwalters2. Korrespondierend hiermit werden auch die vom Geschäftsführer zu beachtenden Duldungspflichten festgelegt3. So hat er dem vorläufigen Insolvenzverwalter zu gestatten, die Geschäftsräume der GmbH zu betreten und dort Nachforschungen anzustellen sowie Einsicht in die Bücher und Geschäftspapiere des Unternehmens zu nehmen (§ 22 Abs. 3 Satz 1 und 2 InsO). Behindert der Geschäftsführer den vorläufigen Insolvenzverwalter bei der Erfüllung seiner Pflichten, kann das Insolvenzgericht zur Durchsetzung dieser Pflichten Zwangsmaßnahmen anordnen (§ 22 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 98 InsO). Es kann aber auch von dem milderen Mittel der Herausgabevollstreckung Gebrauch machen4.

16.57

Vor allem bei Eigenanträgen liegt die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen regelmäßig auch im Interesse der Geschäftsführer, weil oft große Unkenntnis darüber entsteht, welche Befugnisse organschaftliche Vertreter des insolventen Schuldners im Insolvenzeröffnungsverfahren haben. Darüber hinaus sehen sie ihre eigene Rechtsposition im Hinblick auf mögliche Schadensersatzansprüche Dritter durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters besser gewahrt. 1 BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, NZI 2007, 231, 233 = ZIP 2007, 438. 2 In der insolvenzrechtlichen Praxis stellt die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt zur Sicherung der Masse die Regel dar (vgl. auch Fritsche, DZWIR 2005, 265 ff.). 3 Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999, Rz. 778. 4 Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 290.

620 | Bast

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.61 § 16

3. Auskunftspflichten Im Insolvenzeröffnungsverfahren ist der Geschäftsführer der GmbH nicht selbst Träger der Schuldnerrolle. Er nimmt vielmehr für die GmbH diese Position wahr und ist insoweit Schuldnervertreter1. Ihn trifft die Auskunftspflicht nach Maßgabe des § 20 Abs. 1 Satz 1 InsO2. Bei einer GmbH & Co. KG sind die Geschäftsführer der persönlich haftenden Komplementär-GmbH auskunftspflichtig.

16.58

a) Gegenüber dem Insolvenzgericht § 20 Abs. 1 Satz 1 InsO normiert die Auskunftspflicht des Schuldners im Eröffnungsverfahren gegenüber dem Insolvenzgericht. Sie trifft den Geschäftsführer höchstpersönlich. Er kann sich durch einen Rechtsanwalt zwar beraten, nicht aber vertreten lassen3. Das Insolvenzgericht kann jedoch gestatten, dass sich der Geschäftsführer fernmündlich oder schriftlich äußert oder dass die Auskunft durch einen Dritten erteilt wird4.

16.59

Das Entstehen der Auskunftspflicht gegenüber dem Insolvenzgericht setzt einen zulässigen Insolvenzantrag – gleichgültig, ob vom Gläubiger oder vom Schuldner gestellt – voraus. Seiner Auskunftspflicht genügt der Geschäftsführer der GmbH nur dann, wenn er umfassende Auskünfte über die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft erteilt5, insbesondere ein Verzeichnis der Gläubiger und Schuldner vorlegt und eine geordnete Übersicht der Vermögensgegenstände der GmbH bzw. der GmbH & Co. KG einreicht6. Die Verpflichtung zur Auskunft ist nicht davon abhängig, dass an den Schuldner entsprechende Fragen gerichtet werden. Der Schuldner muss vielmehr die betroffenen Umstände von sich aus, ohne besondere Nachfrage offenlegen, soweit sie offensichtlich für das Insolvenzverfahren von Bedeutung sein können und nicht klar zu Tage liegen7.

16.60

Die Auskunftspflicht erstreckt sich insbesondere auf die Umstände des Entstehens von Forderungen und Verbindlichkeiten8. Zu den Umständen, die für das Insolvenzverfahren von Bedeutung sein können, zählen u.a. auch solche, die eine Insolvenzanfechtung nach den §§ 129 ff. InsO begründen können, weil diese zur Mehrung der Insolvenzmasse führen kann. Die Pflicht zur Auskunft setzt in einem solchen Fall nicht voraus, dass die Voraussetzungen einer Insolvenzanfechtung tatsächlich vorliegen. Bereits konkrete Anhaltspunkte, die eine An-

16.61

1 Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1296 ff. 2 Vallender, ZIP 1996, 530 ff. 3 Mönning in Nerlich/Römermann, § 20 InsO Rz. 14a; Schmahl/Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 20 InsO Rz. 30. 4 Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 97 InsO Rz. 33. Die grundsätzliche Pflicht zur persönlichen und mündlichen Auskunftserteilung bleibt daneben bestehen. 5 In einem Insolvenzverfahren über sein persönliches Vermögen ist der Geschäftsführer der GmbH jedoch nicht verpflichtet, Auskünfte über das Vermögen der GmbH zu erteilen, damit ermittelt werden kann, ob Kosten für eventuelle Aushilfskräfte durch eine Übertragung dieser Arbeiten auf den Geschäftsführer vermeidbar wären. Nach zutreffender Ansicht des LG Dortmund (v. 23.5.2005 – 9 T 127/05, NZI 2005, 459) betreffen entsprechende Fragen die Organisation der GmbH und nicht die Arbeit oder das Einkommen des Geschäftsführers; vgl. auch: AG Köln v. 5.11.2003 – 71 IN 25/02, NZI 2004, 155, 156. 6 BGH v. 3.2.2005 – IX ZB 37/04, ZInsO 2005, 264; BGH v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, ZIP 2005, 722, 726. 7 BGH v. 13.1.2011 – IX ZB 163/10, ZInsO 2011, 396; Fortführung BGH v. 11.2.2010 – IX ZB 126/ 08, ZInsO 2010, 477 und BGH v. 15.4.2010 – IX ZB 175/09, ZInsO 2010, 926 = ZIP 2010, 1042. 8 AG Köln v. 5.11.2003 – 71 IN 25/02, NZI 2004, 155, 156.

Bast | 621

§ 16 Rz. 16.61 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

fechtbarkeit möglich erscheinen lassen, begründen die Pflicht des Schuldners, den Sachverhalt zu offenbaren1. Der Geschäftsführer ist hingegen nicht verpflichtet, über seine eigenen Vermögensverhältnisse und die Realisierbarkeit etwaiger gegen ihn gerichteter Ansprüche Angaben zu machen2.

16.62

Dem organschaftlichen Vertreter ist zuzumuten, nach vorhandenen Unterlagen zu forschen und diese zusammenzustellen3. Er darf sich nicht darauf beschränken, sein präsentes Wissen mitzuteilen. Vielmehr kann er auch verpflichtet sein, die Vorarbeiten zu erbringen, die für eine sachdienliche Auskunft erforderlich sind, wobei hierzu auch das Forschen nach vorhandenen Unterlagen und deren Zusammenstellung gehören kann4. Ebenso wie bei der Vollstreckung titulierter Ansprüche nach § 888 ZPO sind die vom Schuldner verlangten Auskunftsund Mitwirkungshandlungen inhaltlich nach Art und Umfang so bestimmt zu bezeichnen, dass die Aufforderung aus sich heraus verständlich ist und auch für den Schuldner erkennen lässt, was verlangt wird. So genügt die Aufforderung, die „angeforderten Einnahmen- und Ausgabenbelege“ sowie Kassenbücher „für den Zeitraum ab der Insolvenzeröffnung bis zum heutigen Tage vorzulegen, nicht den Bestimmtheitsanforderungen, die an eine mit Zwangsmaßnahmen zu vollstreckende Mitwirkungshandlung des Schuldners zu stellen sind. Vielmehr ist das Auskunftsersuchen in der Weise zu konkretisieren, dass die geforderten Belege näher bezeichnet werden5.

16.63

Für die GmbH ist jeder Geschäftsführer auskunftspflichtig6. Den faktischen Geschäftsführer trifft die Auskunftspflicht, wenn er tatsächlich eine Funktion ausübt, die einer der in § 15 InsO genannten Stellungen entspricht7. Nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO ist auch der Geschäftsführer auskunftspflichtig, der nicht früher als zwei Jahre vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus der Geschäftsführung ausgeschieden ist. Die Pflicht trifft die Ausgeschiedenen als frühere Organe, nicht als Zeugen8. Die Auskunftspflicht kann mit den Mitteln des § 98 InsO erzwungen werden. Das Insolvenzgericht wird den ausgeschiedenen Geschäftsführer jedoch nur dann heranziehen, wenn die Auskunft des gegenwärtigen organschaftlichen Vertreters nicht ausreicht oder nicht zu erlangen ist. Wer von mehreren Geschäftsführern die Auskunft erteilt, ist den organschaftlichen Vertretern der Gesellschaft überlassen, wenn das Gericht die Gesellschaft zur Auskunftserteilung aufgefordert hat. Entscheidend ist, dass die Auskünfte erteilt werden, die zur Entscheidung über den Insolvenzantrag erforderlich sind. Ein Aussageverweigerungsrecht steht dem Geschäftsführer nicht zu. Er hat auch die Tatsachen anzugeben, die ihn der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen9. Solche 1 BGH v. 8.3.2012 – IX ZB 70/10, ZInsO 2012, 751. 2 BGH v. 5.3.2015 – IX ZB 62/14, NZI 2015, 380 = GmbHR 2015, 536 m. Anm. Bormann = ZIP 2015, 791,. 3 So OLG Hamm v. 15.10.1979 – 8 U 149/78, ZIP 1980, 280 zu § 100 KO; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1301 Rz. 41; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 97 InsO Rz. 19. 4 BGH v. 19.1.2006 – IX ZB 14/03, ZInsO 2006, 264, 265; OLG Hamm v. 15.10.1979 – 8 U 149/78, ZIP 1980, 280, 281. 5 BGH v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, NZI 2005, 263 = ZIP 2005, 722. 6 OLG Köln v. 6.9.1999 – 2 W 163/99, NZI 1999, 459; Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 4; Uhlenbruck, GmbHR 1995, 195, 1999 = ZIP 1999, 1604. 7 Vallender, ZIP 1996, 530 ff.; Uhlenbruck, KTS 1997, 390; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 101 InsO Rz. 20; Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 4, § 15 InsO Rz. 6. 8 Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 101 InsO Rz. 25; Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 1154, 1184. 9 BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, NJW 1981, 1431 = ZIP 1981, 361.

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§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.67 § 16

Tatsachen dürfen jedoch in einem gegen den Schuldner (die auskunftspflichtige Person) gerichteten Verfahren nur mit seiner Zustimmung verwendet werden (§ 20 Abs. 1 Satz 2, § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO). Das Verwendungsverbot hat zur Folge, dass eine vom Geschäftsführer erteilte Auskunft auch nicht als Grundlage für weitere Ermittlungen mit dem Ziel der Schaffung selbständiger Beweismittel eingesetzt werden darf1. Dagegen vertreten Staatsanwaltschaften teilweise die Auffassung, § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO enthalte lediglich ein Beweisverwertungsverbot, nicht dagegen ein Beweiserhebungsverbot mit der Folge, dass die Strafverfolgungsbehörde sämtliche Informationen vollständig entnehmen, also auch Einsicht in das Gutachten eines Sachverständigen oder vorläufigen Insolvenzverwalters nehmen könne. Da der Geschäftsführer gegenüber einem gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht auskunftspflichtig ist, besteht nach Auffassung des Thüringer Oberlandesgericht hinsichtlich der durch auszugsweise Verlesung des Insolvenzgutachtens in das Verfahren eingeführten und im Urteil festgestellten Auskünfte des Angeklagten gegenüber dem Gutachter kein Verwendungsverbot nach § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO2. Tatsachen, die der Strafverfolgungsbehörde bereits vor der Auskunftserteilung bekannt waren, fallen nicht unter das Verwertungsverbot3. Der Geschäftsführer kann sich seiner Pflicht zur Auskunftserteilung nicht durch den Hinweis entziehen, die Geschäftsunterlagen befänden sich bei einem Dritten, etwa dem Steuerberater oder der Staatsanwaltschaft4.

16.64

b) Gegenüber dem vorläufigen Insolvenzverwalter Hat das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt, ist der Geschäftsführer verpflichtet, auch diesem alle erforderlichen Auskünfte zu erteilen (§ 22 Abs. 3 Satz 3, § 101 Abs. 1 Satz 1, 2 InsO)5. Darüber hinaus hat er ihm nach § 22 Abs. 3 Satz 2 InsO Einsicht in die Bücher und Geschäftspapiere der GmbH zu gestatten. Die Berechtigung zur Einsichtnahme erstreckt sich auf Datenträger, wenn die Gesellschaft ihre Bücher und Geschäftspapiere auch auf Datenträgern gespeichert hat6.

16.65

Die Auskunftspflicht besteht unabhängig davon, ob dem vorläufigen Insolvenzverwalter das Verwaltungs- und Verfügungsrecht über das Schuldnervermögen übertragen worden ist7.

16.66

Eine Auskunftspflicht des Geschäftsführers gegenüber einem vom Insolvenzgericht gemäß § 4 InsO i.V.m. § 404 ZPO bestellten Sachverständigen besteht – wie bereits ausgeführt – nicht. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass die Funktion des Sachverständigen im Insolvenz-

16.67

1 LG Stuttgart v. 21.7.2000 – 11 Qs 46/00, ZInsO 2001, 135; vgl. Bittmann/Rudolph, wistra 2001, 81 ff.; Richter, wistra 2000, 1 ff.; Weyand, ZInsO 2001, 108; Haarmeyer, Hoheitliche Beschlagnahme und Insolvenzbeschlag, 2000, Rz. 204; Uhlenbruck, GmbHR 2002, 941, 944. 2 OLG Jena v. 12.8.2010 – 1 Ss 45/10, NJW 2010, 3673. 3 LG Stuttgart v. 21.7.2000 – 11 Qs 46/00, ZInsO 2001, 135; Schmidt in Kayser/Thole, § 97 InsO Rz. 20. 4 Vallender, ZIP 1996, 529, 531. 5 Nach einer Verfügung der OFD Frankfurt a.M. v. 29.3.1999 – S 0130 A-115-St II42, DStR 1999, 938 = ZInsO 2001, 747 sind die Finanzämter berechtigt, dem vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis alle Auskünfte über Verhältnisse des Schuldners zu erteilen, die dieser zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten im Rahmen der Betriebsfortführung benötigt. Darüber hinaus dürften ihm keine Auskünfte erteilt werden. Mit dem Gesetzeswortlaut dürfte dies nicht in Einklang stehen (Uhlenbruck, GmbHR 2002, 941, 943). 6 Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 287; Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 68. 7 Böhm in Braun, § 22 InsO Rz. 31.

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§ 16 Rz. 16.67 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

eröffnungsverfahren nicht rein statisch, sondern tendenziell dynamisch ausgerichtet ist. Eine Erweiterung der auf Sichtung und Bewertung des schuldnerischen Vermögens angelegten Aufgaben des Sachverständigen kann mangels gesetzlicher Grundlage auch nicht im Beweisbeschluss des Insolvenzgerichts durch Zubilligung von Auskunftsansprüchen erreicht werden1. Weigert sich der Geschäftsführer, dem Sachverständigen die erbetenen Auskünfte zu erteilen, ist dieser auf die weitere Unterstützung des Insolvenzgerichts angewiesen. Eine Auskunftspflicht des organschaftlichen Vertreters der GmbH gegenüber dem Sachverständigen besteht allerdings dann, wenn das Insolvenzgericht den vorläufigen Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen übergegangen ist, zusätzlich beauftragt hat, als Sachverständiger zu prüfen, ob ein Eröffnungsgrund vorliegt und welche Aussichten für eine Fortführung des Unternehmens des Schuldners bestehen (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Halbs. 2 InsO)2. Die funktionale Trennung von Verwaltungs- und Sachverständigenaufgaben wirkt sich allein auf vergütungsrechtlicher Ebene aus3.

4. Mitwirkungspflichten 16.68

Den Schuldner trifft im Insolvenzeröffnungsverfahren auch eine Mitwirkungspflicht (§ 20 Abs. 1 Satz 2, § 22 Abs. 3 Satz 3 InsO). Sie ist besonders im Hinblick auf rasche und effektive Sanierungsbemühungen des Insolvenzverwalters eingeführt worden, soll aber auch der besseren Verwertung der Masse dienen4. Der Mitwirkungspflicht kann sich der Geschäftsführer der GmbH nicht durch Kündigung oder Niederlegung seines Amtes nach Insolvenzeröffnung entziehen (s. § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO).

16.69

Die Annahme einer Mitwirkungspflicht heißt indes nicht, dass den Geschäftsführer eine allgemeine Pflicht zur Mitarbeit trifft5. Wohl hat er aber den vorläufigen Insolvenzverwalter bei der Prüfung der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens und bei der Vorbereitung einzelner Sanierungsmaßnahmen aktiv zu unterstützen6. Darüber hinaus hat der Geschäftsführer den vorläufigen Insolvenzverwalter in ein unübersichtliches oder komplexes Buchführungs- und Belegwesen einzuführen7. Nach Auffassung des LG Mainz8 muss ein GmbH-Geschäftsführer, der für die von ihm zu erteilende Auskunft Buchhaltungsunterlagen benötigt, die sich beim Steuerberater befinden, ein wegen Honorarrückständen bestehendes Zurückbehaltungsrecht ggf. persönlich ablösen9. Auf Grund seiner Mitwirkungspflicht im Insolvenzeröffnungsverfahren hat der Geschäftsführer Personen oder Institutionen, die zur Verschwiegenheit verpflichtet sind (Banken, Steuerberater pp.), von der Verschwiegenheitspflicht zu befreien10. Bestehen 1 LG Göttingen v. 22.10.2002 – 10 T 57/02, NZI 2003, 38 = ZIP 2002, 2269; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 5 InsO Rz. 36; Vallender in FS Uhlenbruck, 2000, S. 137, 138; a.A. Wessel, DZWIR 1999, 230, 232. 2 Vallender in FS Uhlenbruck, 2000, S. 139 Fn. 30. 3 Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, Rz. 211. 4 BT-Drucks. 12/2443, S. 142. 5 Uhlenbruck, InVo 1997, 227. 6 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 257; Uhlenbruck, ZInsO 1999, 493, 494. 7 Morgen in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 97 InsO Rz. 31. 8 ZIP-Aktuell 1995 Nr. 243. 9 Zustimmend Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 17; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 20 InsO Rz. 14. 10 Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 17. Die sehr weite Auffassung des LG Köln (v. 5.7.2004 – 19 T 81/04, NZI 2004, 671), bei einem Eigenantrag könne ggf. davon ausgegangen werden, dass der Schuldner mit der Stellung des Antrags den Steuerberater von seiner berufsbedingten Schweigepflicht entbinde, dürfte im Gesetz keine hinreichende Grundlage finden.

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§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.71 § 16

Anhaltspunkte für Vermögen des Schuldners im Ausland und werden die Befugnisse des Insolvenzverwalters im Ausland nicht ohne weiteres anerkannt, umfasst die Mitwirkungspflicht auch die Erteilung einer so genannten Auslandsvollmacht1. Häufig wird dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter erst auf diese Weise der Zugang zu Registern bzw. den Vermögenswerten der Gesellschaft ermöglicht. Da der Geschäftsführer persönlich zur Mitwirkung verpflichtet ist, kann er diese Pflicht weder auf Angestellte noch auf Angehörige delegieren. Zur Konkretisierung der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten kann das Insolvenzgericht dem Schuldner die Auflage erteilen, geordnete schriftliche Aufzeichnungen über seine laufenden Geschäfte anzufertigen und sie dem vorläufigen Insolvenzverwalter in bestimmten Zeitabständen zur Verfügung zu stellen2. Eine Vergütung für seine Mitwirkung im Insolvenzeröffnungsverfahren erhält der Geschäftsführer nicht3. Ebenso wenig hat er Anspruch auf Ersatz von Aufwendungen4. Die passive Mitwirkungspflicht des Geschäftsführers bedeutet, dass er alles zu unterlassen hat, was dem gesetzlichen Verfahrenszweck bzw. den gerichtlich angeordneten Sicherungsmaßnahmen zuwider läuft5. Für einen Geschäftsführer, der vor Antragstellung aus dem Amt ausgeschieden ist, gilt die Regelung des § 97 Abs. 2 InsO nicht (s. § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO).

16.70

Kommt der Geschäftsführer bzw. faktische Geschäftsführer seiner gegenüber dem Insolvenzgericht bzw. dem vorläufigen Insolvenzverwalter bestehenden Auskunftspflicht – oder seiner Mitwirkungspflicht – nicht nach, eröffnet die Verweisung in § 20 Abs. 1 Satz 2, § 22 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 InsO auf die Vorschriften der § 98 Abs. 2, § 101 Abs. 1 Satz 1 InsO dem Insolvenzgericht die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen gegen den Geschäftsführer anzuordnen, wobei die Haftanordnung regelmäßig nur dann zulässig sein dürfte, wenn zuvor eine Vorführung nicht zum Erfolg geführt hat6. Die Nichterfüllung der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten rechtfertigt regelmäßig keine Zurückweisung des Insolvenzantrags mit der Begründung, die Eröffnungsvoraussetzungen seien nicht zu ermitteln, sondern verpflichtet das Insolvenzgericht, diese zwangsweise durchzusetzen7. Dieser Grundsatz erfährt auch keine Einschränkung dadurch, dass der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens von dem Schuldner selbst gestellt worden ist und von ihm ohne weiteres zurückgenommen werden kann. Solange das Antragserfordernis erfüllt ist, gilt die Amtsermittlungspflicht des Gerichts gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 InsO fort. Es reicht nicht aus, den Schuldner lediglich aufzufordern, sich mit dem Sachverständigen in Verbindung zu setzen und die von ihm geforderten Auskünfte vollständig zu erteilen. Dies würde die Entscheidungskompetenz in unzulässiger Weise auf den Sachverständigen verlagern8. Die Amtsermittlungspflicht endet erst dann, wenn der Geschäftsführer der Schuldnerin nicht erreichbar und der Aufenthalt des früheren Geschäftsführers nicht feststellbar ist9.

16.71

1 BGH v. 18.9.2003 – IX ZB 75/03, NZI 2004, 21 m. Anm. Uhlenbruck, NZI 2004, 22; Vallender, EWiR 2004, 293 = ZIP 2003, 2123. 2 LG Duisburg v. 2.5.2001 – 7 T 78/01, NZI 2001, 384 = ZIP 2001, 1065. 3 LG Köln v. 17.2.2004 – 19 T 262/03, ZInsO 2004, 756. 4 Jungmann in Karsten Schmidt, § 97 InsO Rz. 24. 5 Uhlenbruck, ZInsO 1999, 493, 495. 6 OLG Naumburg v. 24.8.2000 – 5 W 98/00, InVo 2001, 132, 133. 7 LG Köln v. 6.7.2001 – 19 T 103/01, NZI 2001, 559; Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 18; noch für den Fall der Eröffnung des Konkursverfahrens auch LG Göttingen v. 24.11.1995 – 6 T 277/95, ZIP 1996, 144, 145. 8 LG Köln v. 6.7.2001 – 19 T 103/01, NZI 2001, 559, 560. 9 BGH v. 13.4.2006 – IX ZB 118/04, NZI 2006, 405 = ZIP 2006, 1056.

Bast | 625

§ 16 Rz. 16.72 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

16.72

Die Vorführung und Anordnung der Haft dürfen jedoch nur erfolgen, wenn der angestrebte Zweck nicht mit anderen Mitteln zu erreichen ist. Abgesehen von der – gesetzlich vorgeschriebenen (§ 98 Abs. 2 InsO) – Anhörung vor dem Erlass eines Haftbefehls verbietet sich grundsätzlich die Gewährung rechtlichen Gehörs vor der Anordnung von Zwangsmaßnahmen schon im Hinblick auf den Zweck der Maßnahme1. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Insolvenzgericht dem Schuldner in einem besonderen Anschreiben auf die nach dem Gesetz vorgesehenen Zwangsmaßnahmen hingewiesen hat und dieser schuldhaft seiner Auskunftspflicht nicht nachkommt. In diesem Fall genügt das Gericht dem Anspruch des Schuldners auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 2 GG durch nachträgliche Gehörverschaffung2.

16.73

Die Anordnung der Haft nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 98 Abs. 2, § 101 Abs. 1 InsO steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Sofern dieses Ermessen im Einzelfall eröffnet ist, hat das Gericht unter Beachtung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes über die Frage der Haft zu entscheiden3. Eine Haftanordnung zur Erzwingung der in § 97 Abs. 2 InsO genannten Mitwirkungspflichten ist regelmäßig erforderlich, wenn eine Vorführung nicht zum Erfolg geführt hat. Davon umfasst ist auch der Fall, dass sich der Geschäftsführer der Vorführung entzogen hat4. Nichts anderes gilt, wenn der Schuldner bei seiner persönlichen Anhörung durch das Insolvenzgericht nach Hinweis auf die Möglichkeit der Anordnung von Beugehaft Auskünfte verweigert hat und auch schriftlich sowie gegenüber dem vom Insolvenzgericht bestellten vorläufigen Insolvenzverwalter nicht bereit gewesen ist, vorbehaltslos und umfassend über die Lage und den Verbleib seines Auslandsvermögens konkrete Auskünfte zu erteilen5. Hat das Gericht dem Schuldner zur Konkretisierung seiner Auskunfts- und Mitwirkungspflichten die Auflage erteilt, geordnete schriftliche Aufzeichnungen über seine laufenden Geschäfte anzufertigen und sie dem vorläufigen Insolvenzverwalter in bestimmten Zeitabständen zur Verfügung zu stellen, rechtfertigt eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht ebenfalls die Anordnung von Haft6. Für die Anordnung der Haft gelten die Vorschriften der § 802g Abs. 2, § 802h und § 802j Abs. 1 ZPO entsprechend (§ 98 Abs. 3 Satz 1 InsO). Funktionell zuständig für die Anordnung der Zwangsmaßnahmen ist der Insolvenzrichter. Dieser hat im anordnenden Teil des Haftbefehls die Mitwirkungspflichten des Schuldners, die mit der Haft durchgesetzt werden sollen, so bestimmt zu bezeichnen, dass der Schuldner ohne weiteres erkennen kann, durch welche Handlungen er seinen Mitwirkungspflichten genügt7. Gegen die Anordnung von Beugehaft zur Erzwingung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Schuldners im Eröffnungsverfahren steht dem Geschäftsführer gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2, § 98 Abs. 3 Satz 3 InsO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu. Das Beschwerdegericht hat den unter Missachtung der vorgenannten Vorgaben erlassenen Haftbefehl auch dann teilweise abzuändern, wenn sich die Haftanordnung gegen den Schuldner im Insolvenzverfahren hinsichtlich Einzelner von ihm verlangter Auskunftspflichten als unbegründet erweist, weil eine entsprechende Pflicht von vornherein nicht bestand oder sich zwischenzeitlich erledigt hat8. 1 Vallender, EWiR 1997, 1098; Vallender in Kölner Schrift zur InsO, S. 261 Rz. 36; Laroche in Kayser/Thole, § 20 InsO Rz. 21. 2 Vgl. BVerfG v. 8.1.1959 – 1 BvR 396/55, BVerfGE 9, 89, 102 ff.; BVerfG v. 9.3.1965 – 2 BvR 176/63, BVerfGE 18, 399, 404; BVerfG v. 11.10.1978 – 2 BvR 1055/76, BVerfGE 49, 329, 342; BVerfG v. 3.4.1979 – 1 BvR 994/76, BVerfGE 51, 97, 111; BVerfG v. 16.6.1981 – 1 BvR 1094/80, BVerfGE 57, 346, 358 = ZIP 1981, 1032. 3 OLG Celle v. 23.1.2002 – 2 W 135/01, NZI 2002, 271. 4 Offen gelassen von OLG Naumburg v. 24.8.2000 – 5 W 98/00, NZI 2000, 594. 5 OLG Celle v. 10.1.2001 – 2 W 1/01, NZI 2001, 149. 6 LG Duisburg v. 2.5.2001 – 7 T 78/01, ZInsO 2001, 522 = ZIP 2001, 1065. 7 BGH v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, NZI 2005, 263 = ZIP 2005, 722. 8 BGH v. 17.2.2005 – IX ZB 62/04, NZI 2005, 263 = ZIP 2005, 722.

626 | Bast

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.91 § 16

Der gegen den Geschäftsführer erlassene Haftbefehl umfasst nicht das Recht des Gerichtsvollziehers oder des mit der Verhaftung beauftragten Justizwachtmeisters, die Wohnung eines Dritten gegen dessen Willen zu betreten. Diese Berechtigung kann auch nicht durch einen richterlichen Beschluss erteilt werden, weil es insoweit an jeder rechtlichen Grundlage fehlt1.

16.74

Ein Geschäftsführer, der seinen verfahrensrechtlichen Pflichten nicht nachkommt oder in dem der Schuldnerin übersandten Fragebogen insoweit bewusst unrichtige Angaben macht, als diese einen geringeren Vermögensbestand als den wirklichen vortäuschen, läuft ferner Gefahr, sich gemäß § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar zu machen2. Darüber hinaus ist eine vom organschaftlichen Vertreter zur Bekräftigung seiner Angaben im Insolvenzverfahren gemachte falsche eidesstattliche Versicherung gemäß § 156 StGB strafbewehrt.

16.75

5. Bereitschafts- und Unterlassungspflichten Der Geschäftsführer der GmbH ist gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 97 Abs. 3, § 101 Abs. 1 Satz 1 InsO verpflichtet, sich auf Anordnung des Gerichts jederzeit zur Verfügung zu stellen, um seine Auskunfts- und Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Er kann sich nicht damit entschuldigen, dass er andere Pflichten zu erfüllen oder eine weite Anreise vor sich habe3. Die Präsenz kann auch nicht von einer Kostenerstattung abhängig gemacht werden. Der Geschäftsführer der GmbH hat ferner alle Handlungen zu unterlassen, die der Erfüllung dieser Pflichten zuwiderlaufen (§ 97 Abs. 3 Satz 2, § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO). Zur Erfüllung der Pflichten aus § 97 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO kann das Gericht eine orts- und zeitbezogene, auf den Einzelfall bzw. auf bestimmte Zeiträume sich erstreckende Anordnung treffen4. In Betracht kommt die Hinterlegung oder Einziehung des Reisepasses des Schuldners, was zu einem Ausreiseverbot führt. Die Einziehung des Reisepasses ist insbesondere dann geboten, wenn die Gefahr besteht, dass sich der Schuldner ins Ausland absetzt5. Die generelle Ausübung seines Freizügigkeitsrechts kann dem Geschäftsführer der GmbH nicht untersagt werden. Ist allerdings zu erwarten, dass der organschaftliche Vertreter untertauchen wird oder sich seiner Präsenzpflicht und dadurch seiner Auskunfts- und Mitwirkungspflicht durch Flucht ins Ausland zu entziehen versucht, kann das Gericht nach dessen Anhörung die Haft anordnen (§ 98 Abs. 2 Nr. 2 InsO).

16.76

Aus der allgemeinen Verfahrensförderungspflicht des Schuldners folgt gleichzeitig eine Unterlassungspflicht in Bezug auf alle Handlungen, die verfahrenshindernd oder verfahrensschädlich sind. Dazu zählt insbesondere das Beiseiteschaffen oder die Vernichtung von Unterlagen6.

16.77

16.78–16.90

Einstweilen frei.

IV. Verfahrensrechte und Pflichten des faktischen Geschäftsführers Faktischer Geschäftsführer7 ist, wer, ohne satzungs- oder sonst ordnungsgemäß zum Organ der Gesellschaft bestellt worden zu sein, nach außen hin wie ein Organmitglied auftritt und 1 2 3 4 5 6 7

LG Göttingen, v. 21.11.2005 – 10 T 148/05, ZInsO 2005, 1281. Vallender, ZIP 1996, 529, 533. Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 365 Rz. 42. LG Göttingen v. 21.8.2000 – 10 T 105/00, InVo 2001, 25, 26 = ZInsO 2001, 44, 45 = ZIP 2000, 2174. AG München v. 20.8.2013 – 1500 IN 1968/13, ZIP 2013, 2074. Schmidt in Kayser/Thole, § 97 InsO Rz. 49. Zum Begriff des faktischen Geschäftsführers eingehend: Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 51 ff.; Fleischer, GmbHR 2011, 337 ff.; Strohn, DB 2011, 157 ff.

Bast und Schluck-Amend | 627

16.91

§ 16 Rz. 16.91 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

handelt, d.h. die Geschicke der Gesellschaft lenkt. Zwingend erforderlich für die Stellung und Verantwortlichkeit ist, dass der faktische Geschäftsführer nach dem Gesamterscheinungsbild seines Auftretens die Geschicke der Gesellschaft – über die interne Einwirkung auf die satzungsmäßige Geschäftsführung hinaus – durch eigenes Handeln im Außenverhältnis, das die Tätigkeit des rechtlichen Geschäftsführungsorgans nachhaltig prägt, maßgeblich in die Hand genommen hat1. Es reicht aus, wenn der Betreffende in maßgeblichem Umfang Geschäftsführungsfunktionen übernommen hat, wie sie nach Gesetz und Gesellschaftsvertrag für einen Geschäftsführer kennzeichnend sind. Dies ist bereits der Fall, wenn er mindestens gleichberechtigt neben weiteren Geschäftsleitern Führungsaufgaben übernimmt. Abzustellen ist im Einzelfall auf das Gesamterscheinungsbild des Auftretenden.

16.92

Umstritten ist, ob der faktische Geschäftsführer bei Vorliegen eines zur Antragstellung verpflichtenden Insolvenzgrunds unverzüglich – spätestens aber innerhalb von drei Wochen bzw. im Falle der Überschuldung sechs Wochen (s. dazu § 4a SanInsKG: Verlängerung auf acht Wochen bis 31.12.2023) – zur Antragstellung verpflichtet ist, und weiter, ob er zur Antragstellung berechtigt ist. Hierzu finden sich in der Literatur zahlreiche Ansichten2. Dabei sollte sich die Problematik der faktischen Geschäftsführung durch die Einführung des Antragsrechts der Gesellschafter im Falle der Führungslosigkeit der Gesellschaft nach § 15 Abs. 1 Satz 2 InsO und der Antragspflicht nach § 15a Abs. 3 InsO (s. dazu Rz. 15.84) durch das MoMiG entschärft haben3, da mit den Gesellschaftern oder dem Alleingesellschafter in jedem Falle eine antragsverpflichtete Person zur Verfügung steht. Zu beachten ist jedoch, dass die Insolvenzantragspflicht nach § 15a InsO Kenntnis der Gesellschafter von der Insolvenzreife voraussetzt. Daher wird von Teilen der Literatur anstatt einer eigenen Antragspflicht und anstatt eines eigenen Antragsrechts die Pflicht des faktischen Geschäftsführers statuiert, die zuständigen Organe, sei es ein weiterer vorhandener ordnungsgemäß bestellter (Mit-)Geschäftsführer, seien es die Gesellschafter, zu informieren und diese zu veranlassen, ihrer originären oder subsidiären Antragspflicht zu entsprechen4. Die wohl herrschende Meinung hingegen nimmt eine eigene Antragspflicht des faktischen Geschäftsführers an5. Wohl überwiegend wird daher weiter angenommen, sofern eine eigene Antragspflicht bestehe, bestehe auch ein eigenes Antragsrecht, damit der Betroffene seiner Pflicht auch nachkommen kann6. Die Präventionswirkung der mit der unterlassenen Antragstellung verbundenen Strafbewehrung dürfte weiter gehen 1 BGH v. 11.7.2005 – II ZR 235/03, GmbHR 2005, 1187 = ZIP 2005, 1550; BGH v. 11.2.2008 – II ZR 291/06, GmbHR 2008, 702 = ZIP 2008, 1026. 2 Zum Antragsrecht vgl. Streitdarstellung von Gundlach/Müller, ZInsO 2011, 1055 f. m.w.N. und Bußhardt in Braun, § 15 InsO Rz. 17 ff. 3 S. auch 4. Aufl. Rz. 5.298. 4 Mönning in Nerlich/Römermann, § 15a InsO Rz. 34; Köhler in Beck/Depré, § 37 Rz. 27; Strohn, DB 2011, 157, 165. 5 BGH v. 11.7.2005 – II ZR 235/03, GmbHR 2005, 1187 = ZIP 2005, 1550; BGH v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44 = GmbHR 1988, 299 zur Rechtslage vor MoMiG, die der MoMiG-Gesetzgeber jedoch unberührt lassen wollte (BT-Drucks. 16/6140, S. 56); h.M. nach Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 59 m.w.N.; Nerlich in Michalski/Heidinger/Leible/ J. Schmidt, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 13; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, InsolvenzrechtsHandbuch, § 90 Rz. 50; Mohr in Tillmann/Mohr, GmbH-Geschäftsführer, 11. Aufl. 2020, C. VII. Rz. 580; Rhode in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 27 Rz. 12. 6 Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 15 InsO Rz. 21; für das Antragsrecht des faktischen Geschäftsführers auch: Gundlach/Müller, ZInsO 2011, 1055; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 50, 59; auch H.-F. Müller in Münchener Kommentar zum GmbHG, 4. Aufl. 2022, § 64 GmbHG Rz. 58, wenn das Fehlen der Organstellung auf einen fehlerhaften Bestellungsakt zurückzuführen ist, nicht aber, wenn ein Bestellungsakt ganz fehlt.

628 | Schluck-Amend

§ 16 Verfahrensrechte und Verfahrenspflichten des Geschäftsführers | Rz. 16.94 § 16

als die einer etwaigen Haftung wegen Verletzung der Pflicht zur Einwirkung auf die Organe. Auch dürfte hier die erfolgreiche Einwirkung für den Fall beratungsresistenter antragsberechtigter Personen nicht gefordert werden, so dass die Gefahr besteht, dass zu Lasten der Masse und damit zu Lasten der Gläubiger eine Antragstellung nicht frühzeitig erfolgt. Der wohl herrschenden Meinung zur Antragspflicht und der wohl überwiegenden Meinung zum Antragsrecht ist insoweit zuzustimmen. Nicht von der Hand zu weisen sind jedoch die in der Praxis aufkommenden Probleme, das Vorliegen der Voraussetzungen für eine faktische Geschäftsführerschaft und die hieraus resultierende Antragsberechtigung des faktischen Geschäftsführers gegenüber dem Insolvenzgericht glaubhaft zu machen1. Diese werden auch teilweise als praktische Erwägungen gegen die Annahme von Antragsrecht und Antragspflicht des faktischen Geschäftsführers angeführt2.

In einem Obiter Dictum spricht sich das OLG Köln3 in Anlehnung an die strafrechtliche Rechtsprechung4 dafür aus, die Antragspflicht und dem folgend auch die Antragsberechtigung des faktischen Geschäftsführers auf solche Fälle zu beschränken, in denen der Geschäftsführer mit dem Willen aller oder zumindest der Mehrheit der Gesellschafter tätig wurde. Begründet wird dies damit, dass der Geschäftsführer ohne den Willen oder die Duldung der Gesellschafter die Gesellschaft weder formell noch materiell vertreten dürfe. Anders sei hingegen die Pflicht zur Masseerhaltung aus – nunmehr – § 15b InsO zu beurteilen, auf den nach herrschender Auffassung im Wesentlichen das zu § 64 GmbHG a.F. Gesagte gelten soll (vgl. zu § 15b InsO bzw. § 64 GmbHG a.F. Rz. 38.53)5. Diese treffe auch den nicht vom Willen der Gesellschafter getragenen faktischen Geschäftsführer, so dass er für Zahlungen, die er nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Feststellung der Überschuldung leistet, der Gesellschaft gegenüber haftet.

16.93

Weiter ist fraglich, ob der faktische Geschäftsführer im Insolvenzeröffnungsverfahren auch die Verfahrensrechte und -pflichten eines Geschäftsführers wahrzunehmen berechtigt bzw. verpflichtet ist6. Für den Fall einer fehlerhaften Bestellung wird man zweifellos davon ausgehen können, dass den Geschäftsführer sämtliche Verfahrenspflichten treffen und er berechtigt ist, die Verfahrensrechte für die GmbH wahrzunehmen. Zweifelhaft ist dies bei einem faktischen Geschäftsführer, der die Geschicke der Gesellschaft nicht nur intern, sondern auch nach außen hin maßgeblich in die Hand genommen hat. Die bisherige Rechtsprechung hatte sich bislang ausschließlich mit Fragen der Haftung wegen Insolvenzverschleppung und deliktischer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 StGB zu befassen. Nach der nach hier vertretener Meinung bestehenden Antragspflicht und des damit einhergehenden Antragsrechts des faktischen Geschäftsführers ist es nur konsequent, vor allem in Fällen der „Alleingeschäftsführung“ durch den faktischen Geschäftsführer dessen Verfahrensrechte und -pflichten im Eröffnungsverfahren zu bejahen. Dies ist vor allem deshalb bedeutsam, weil den faktischen Geschäftsführer dadurch die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des § 20 Abs. 1 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 Satz 1, § 97 InsO treffen7 und Insolvenzgericht und -verwalter so eine geeignete

16.94

1 So auch Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 59; dazu eingehend: Gundlach/Müller, ZInsO 2011, 1055 f. 2 So von Bußhardt in Braun, § 15 InsO Rz. 17 ff. 3 OLG Köln v. 15.12.2011 – 18 U 188/11, GmbHR 2012, 1358. 4 BGH v. 10.5.2000 – 3 StR 101/00, BGHSt 46, 62 = GmbHR 2000, 878 = ZIP 2000, 1390. 5 Vgl. Baumert, NZG 2021, 443. 6 Dafür: Zipperer in Uhlenbruck, § 20 InsO Rz. 10 zur Auskunfts- und Mitwirkungspflicht; Böhm in Braun, § 20 InsO Rz. 5. 7 So auch Zipperer in Uhlenbruck, § 20 InsO Rz. 10; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 20 InsO Rz. 17; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 20 InsO Rz. 15; Morgen in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 20 InsO Rz. 3.

Schluck-Amend | 629

§ 16 Rz. 16.94 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Informationsquelle erhalten. Dies ist insbesondere wichtig, da auch der Alleingesellschafter einer Einmann-GmbH von der Vorschrift des § 101 Abs. 1 InsO nicht ohne Weiteres erfasst wird, wohl aber, wenn er als faktischer Geschäftsführer tätig wird1. Im Fall der Führungslosigkeit, die auch vorliegt, wenn nur ein faktischer aber kein organschaftlicher Geschäftsführer vorhanden ist2, finden die Vorschriften der §§ 97, 20, 101 Abs. 1 InsO unmittelbar Anwendung.

1 Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 20 InsO Rz. 17; Vallender, ZIP 1996, 529, 530. 2 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 59 zum fehlerhaft bestellten Geschäftsführer; Altmeppen, § 35 GmbHG Rz. 10; a.A. Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 15 InsO Rz. 51.

630 | Schluck-Amend

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren I. Zahlungsverkehr Wie schon bei der Abwicklung des Zahlungsverkehrs in der Krise der GmbH (s. Rz. 4.2 ff.) stellt sich auch für den Zeitraum nach dem Insolvenzantrag die Frage, ob und inwieweit das kontoführende Kreditinstitut die bei ihm zu Gunsten der GmbH eingehenden Zahlungen insolvenzfest verrechnen kann (s. Rz. 17.2 ff.) und inwieweit der spätere Insolvenzverwalter Zahlungsausgänge, die zu Lasten des Kontoguthabens oder aus einer Kreditlinie erfolgt sind, gegen die Masse gelten lassen muss (s. Rz. 17.5 ff.).

17.1

1. Zahlungseingänge nach Insolvenzantrag Ohne die Anordnung von vorläufigen Sicherungsmaßnahmen ändert die bloße Stellung eines Insolvenzantrags nichts an der grundsätzlichen Verrechnungsbefugnis des Kreditinstituts. Denn der Zahlungsdiensterahmenvertrag und das Kontokorrentverhältnis werden durch die Stellung eines Insolvenzantrags nicht berührt. Jedoch bleibt es dabei, dass die Verrechnung von Zahlungseingängen gemäß §§ 130, 131 InsO nach den schon erläuterten Grundsätzen der Deckungsanfechtung wie folgt anfechtbar ist (s. ausführlich dazu Rz. 4.30 ff.):

17.2

Erfolgen Zahlungseingänge zu Gunsten der insolventen GmbH auf einem Konto bei einem Kreditinstitut nach dem Insolvenzantrag, bleibt es bei inkongruenten Zahlungen wegen der Anfechtungsmöglichkeit nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO dabei, dass weder eine Aufrechnung noch eine Verrechnung insolvenzfest möglich sind. Bei kongruenten Deckungen scheidet eine insolvenzfeste Verrechnung wegen der Anfechtbarkeit nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO aus, wenn das kontoführende Kreditinstitut zum Zeitpunkt des Zahlungseingangs entweder die Zahlungsunfähigkeit des Kontoinhabers oder den Eröffnungsantrag kannte.

17.3

Diese Rechtslage ändert sich auch nicht mit Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots. Da das allgemeine Verfügungsverbot den Zahlungsdiensterahmenvertrag nicht beendet, bleibt das kontoführende Kreditinstitut verpflichtet, auch nach seiner Anordnung Überweisungseingänge für die insolvente GmbH ihrem Konto gutzuschreiben. Das Kreditinstitut kann die eingegangenen Gelder jedoch nicht mehr durch Einstellung in das Kontokorrent zur Verrechnung mit dem debitorischen Saldo bringen, da das Verfügungsverbot die Unwirksamkeit rechtsgeschäftlicher Verfügungen des Schuldners über Gegenstände der künftigen Insolvenzmasse zur Folge hat. Davon wird aber das Recht des Kreditinstituts zur Aufrechnung grundsätzlich nicht berührt. Daher wäre grundsätzlich eine Verrechnung des Zahlungseingangs mit einem debitorischen Saldo auf dem gleichen Konto oder mit Krediten auf anderen Konten der GmbH möglich. In aller Regel wird jedoch in einer solchen Situation die Wirksamkeit der Aufrechnung an § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO scheitern, da nach dem Insolvenzantrag regelmäßig ein Anfechtungsgrund vorliegen wird.

17.4

2. Ausführung von Zahlungsaufträgen nach Zahlungsunfähigkeit und Insolvenzantrag Auch nach einem Insolvenzantrag bleibt die GmbH zur Erteilung von Zahlungsaufträgen, insbesondere auch von Überweisungsaufträgen, berechtigt, sofern kein allgemeines VerKuder/Unverdorben | 631

17.5

§ 17 Rz. 17.5 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

fügungsverbot erlassen oder ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet worden ist (§§ 21, 24 InsO). Gemäß § 675n Abs. 1 Satz 1 BGB wird der Zahlungsauftrag wirksam, sobald er dem Kreditinstitut zugeht1. Das Verhalten des Kreditinstituts und die Folgen eines solchen Überweisungsauftrags hängen dann davon ab, ob das Kreditinstitut von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Insolvenzantrag Kenntnis hatte.

a) Ausführung ohne Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags 17.6

Hat das Kreditinstitut bei der Ausführung des Überweisungsauftrags von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Insolvenzantrag des überweisenden Auftraggebers keine Kenntnis, wird es den Auftrag ausführen und das Konto mit dem Überweisungsbetrag belasten. Ein etwaiger Guthabensaldo ermäßigt sich entsprechend; die Aufrechnungsverbote des § 96 InsO sind nicht einschlägig. Wird der Saldo dagegen debitorisch oder erhöht sich der Sollsaldo, so erwirbt das kontoführende Kreditinstitut eine entsprechende Forderung gegen den Kontoinhaber, die – sofern das Kreditinstitut keine Sicherheiten besitzt – eine einfache Insolvenzforderung darstellt2.

b) Ausführung in Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags 17.7

Hat das Kreditinstitut Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Insolvenzantrag, so ist zu unterscheiden, ob der Zahlungsauftrag aus Guthaben bzw. im Rahmen einer der GmbH zugesagten Kreditlinie ausgeführt werden kann oder ob das Konto – ohne dass eine entsprechende Kreditlinie zugesagt ist – einen debitorischen Saldo aufweist bzw. durch die Ausführung des Auftrages debitorisch werden würde. aa) Ausführung aus Guthaben

17.8

Ist auf dem Konto ein ausreichendes Guthaben zur Ausführung des Zahlungsauftrags vorhanden, muss das Kreditinstitut den Auftrag trotz Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags ausführen. Sobald der Zahlungsauftrag durch Zugang bei dem Kreditinstitut gemäß § 675n Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam geworden ist, ist das Kreditinstitut gemäß § 675o Abs. 2 BGB nicht berechtigt, die Ausführung zu verweigern, wenn die im Zahlungsdiensterahmenvertrag festgelegten Ausführungsbedingungen erfüllt sind und die Ausführung nicht gegen sonstige Rechtsvorschriften verstößt3 – selbst wenn das Institut inzwischen von der Zahlungsunfähigkeit oder dem Insolvenzantrag Kenntnis erlangt hat4. Das Institut darf die Ausführung auch nicht von der Zustimmung eines vorläufigen Sachwalters in einem Eigenverwaltungsverfahren (§§ 270 ff. InsO) oder eines vorläufigen Insolvenzverwalters im Regelinsolvenzverfahren, der nicht mit einem Zustimmungsvorbehalt oder einem Verfügungsverbot ausgestattet ist, abhängig machen. Sind die im Zahlungsdiensterahmenvertrag festgelegten Ausführungsbedingungen nicht erfüllt oder verstößt die Ausführung gegen sonstige Rechtsvorschriften, darf das Kreditinstitut die Ausführung des Zahlungsauftrags verweigern; dies muss es der GmbH unverzüglich, spätestens aber bis zum Ende des folgenden Geschäftstags mitteilen (§ 675o Abs. 1 Satz 1 BGB). 1 2 3 4

Vgl. Überblick bei Nobbe, WM 2011, 961. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.11. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.14 ff. BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, ZInsO 2012, 924 = ZIP 2012, 1038; Gehrlein, NZI 2012, 257.

632 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.12 § 17

Die Aufrechnungsverbote des § 96 InsO verhindern die Verrechnung mit dem Guthaben nicht. Zwar ist nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO die Aufrechnung ausgeschlossen, wenn ein Insolvenzgläubiger die Aufrechnungslage durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Das Kreditinstitut, bei dem der Überweisungsauftraggeber ein Guthaben unterhält, ist aber sein Schuldner und nicht Insolvenzgläubiger. Die allgemeinen Anfechtungsvorschriften (§§ 129 ff. InsO) können damit zwar den Überweisungsempfänger treffen, aber nicht im Verhältnis zu dem überweisenden Kreditinstitut eingreifen1. Selbst wenn man aber von der grundsätzlichen Anwendbarkeit des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ausgeht mit der Begründung, die Regelung erfasse entgegen ihrem Wortlaut alle Fälle der anfechtbaren Herstellung einer Aufrechnungslage, kommt man zum gleichen Ergebnis2. Denn jedenfalls liegt mit der Ausführung des Überweisungsauftrags Zug um Zug gegen Herstellung einer Aufrechnungslage mit einem vorhandenen Guthaben ein der Anfechtung entzogenes Bargeschäft i.S. von § 142 Abs. 1 InsO vor.

17.9

bb) Ausführung aus einer offenen Kreditlinie Ist auf dem Konto kein ausreichendes Guthaben vorhanden, kommt es darauf an, ob das Kreditinstitut der GmbH eine Kreditlinie zugesagt hat. Solange sich die Überweisung innerhalb einer zugesagten Kreditlinie bewegt und diese Kreditlinie nicht gekündigt ist, muss das Kreditinstitut gemäß § 675o Abs. 2 BGB den Überweisungsauftrag zu Lasten der Kreditlinie ausführen3. Ein generelles Leistungsverweigerungsrecht steht dem Kreditinstitut nicht zu. Etwas anderes kann aber gelten, wenn in dem Kreditvertrag über die Kreditlinie Inanspruchnahmevoraussetzungen definiert sind und diese etwa auf Grund des Insolvenzantrags nicht mehr erfüllt sind. Dann kann das Kreditinstitut die weitere Inanspruchnahme der Linie verweigern. Will es in den Fällen, in denen es die Inanspruchnahme der Kreditlinie nicht auf Grund einer ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarung verweigern kann, aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus den Überweisungsauftrag nicht ausführen, muss das Kreditinstitut durch die außerordentliche Kündigung der Kreditlinie die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen. Die Kündigung muss hierzu allerdings spätestens am Ende des folgenden Geschäftstags der Kreditnehmerin (und Überweisungsauftraggeberin) zugegangen sein (§ 675o Abs. 1 Satz 1 BGB)4.

17.10

cc) Debitorisches Konto ohne zugesagte Kreditlinie Weist das Konto einen debitorischen Saldo auf oder würde es durch die Ausführung des Zahlungsauftrags debitorisch werden und ist der GmbH von dem Kreditinstitut keine Kreditlinie eingeräumt, kann das Kreditinstitut die Ausführung des Zahlungsauftrags verweigern. Darüber muss das Kreditinstitut die GmbH wiederum unverzüglich, spätestens jedoch bis zum Ende des folgenden Geschäftstags informieren (§ 675o Abs. 1 Satz 1 BGB).

17.11

3. Ausführung von Zahlungsaufträgen nach der Anordnung vorläufiger Maßnahmen Hat das Gericht nach dem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zur Sicherung der Masse ein allgemeines Verfügungsverbot erlassen, einen vorläufigen Insolvenzverwalter eingesetzt oder angeordnet, dass Verfügungen des Schuldners nur noch mit Zustimmung des vor1 So Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.22 ff.; Obermüller, Insolvenzrechtliche Wirkungen des Überweisungsgesetzes, ZInsO 1999, 691 f. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.17. 3 BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, ZInsO 2012, 924 = ZIP 2012, 1038; Gehrlein, NZI 2012, 257. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.20.

Kuder/Unverdorben | 633

17.12

§ 17 Rz. 17.12 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

läufigen Insolvenzverwalters wirksam sind, hängt die Frage, ob das Kreditinstitut einen Überweisungsauftrag der GmbH noch ausführt, von den Anordnungen des Insolvenzgerichts und seiner Kenntnis hiervon ab.

17.13

Der Zahlungsdiensterahmenvertrag bleibt auch bei Anordnung solcher Maßnahmen bestehen; ein Zahlungsauftrag wird daher nach wie vor wirksam, sobald er dem Kreditinstitut zugeht (§ 675n Abs. 1 Satz 1 BGB).

17.14

Nach Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots oder eines Zustimmungsvorbehalts darf das Kreditinstitut einen neuen Zahlungsauftrag der insolventen GmbH grundsätzlich nicht mehr ausführen1. Sofern ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet wurde, ist der Zahlungsauftrag der GmbH unwirksam, da zu den rechtsgeschäftlichen Verfügungen, die durch das allgemeine Verfügungsverbot untersagt sind, auch die Einziehung von Forderungen durch den Schuldner gehört. Das kontoführende Institut erbringt mit der Ausführung eines Zahlungsauftrags eine Leistung an den Kontoinhaber; dies stellt eine Art der Einziehung der Guthabenforderungen dar und fällt damit unter das allgemeine Verfügungsverbot2. Wurde ein vorläufiger Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt eingesetzt, kann die GmbH zwar weiterhin verfügen und der Bank Weisungen erteilen, allerdings nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters3.

17.15

Liegt dem Kreditinstitut im Zeitpunkt der Anordnung der vorläufigen Maßnahmen bereits ein Zahlungsauftrag vor, der aber noch nicht ausgeführt ist, ist das Kreditinstitut trotz der Bestimmungen der § 675n Abs. 1, § 675o Abs. 2 BGB berechtigt, die Ausführung des Zahlungsauftrags zu verweigern. Zwar ist die Weisung der GmbH, da sie vor den Anordnungen des Gerichts dem Kreditinstitut zugegangen war, wirksam autorisiert (§ 675j Abs. 1 Satz 1 BGB). Für die Frage, ob das Kreditinstitut zur Ausführung des Zahlungsauftrags gemäß § 675o Abs. 2 BGB verpflichtet ist, kommt es allerdings darauf an, dass die im Zahlungsdiensterahmenvertrag festgelegten Ausführungsbedingungen im Zeitpunkt der Ausführung – und nicht im Zeitpunkt des Zugangs des Auftrags – erfüllt sind4. Dies ist nach der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots oder der Einsetzung eines vorläufigen Verwalters mit Zustimmungsvorbehalt nicht mehr der Fall5.

17.16

Die Konsequenzen, die sich daraus für die Ausführung einer Überweisung nach Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots oder eines Zustimmungsvorbehalts ergeben, unterscheiden sich je nach Kenntnis des Kreditinstituts von der Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots6. Obwohl die Anordnungen nach § 23 InsO öffentlich bekannt gemacht werden müssen, kann das Kreditinstitut dies übersehen und auch sonst keine Kenntnis von den Anordnungen erlangen. In diesem Fall wird es den Zahlungsauftrag ausführen. Das Kreditinstitut hat dann mit befreiender Wirkung aus einem etwaigen Guthaben des Kunden geleistet (§§ 21, 24,

a) Zahlungsauftrag der GmbH

1 Im Überblick dazu auch Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/172 f. (142. Lfg.). 2 BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138. 3 BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, ZIP 2012, 737. 4 Schmalenbach in BeckOK/BGB, 63. Edition 1.8.2022, § 675o BGB Rz. 23. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.33 ff.; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/173 (142. Lfg.); Schmieder in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 29 Rz. 44. 6 BGH v. 21.11.2013 – IX ZR 52/13, NZI 2014, 156 Rz. 9 = ZIP 2014, 32; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138.

634 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.21 § 17

82 InsO)1. Bei einer Ausführung vor der öffentlichen Bekanntmachung wird die Unkenntnis vermutet; andernfalls trägt das Kreditinstitut die Beweislast für seine Unkenntnis. Ist das Konto der insolventen GmbH dagegen debitorisch, kann das kontoführende Kreditinstitut seinen Aufwendungsersatzanspruch als Insolvenzforderung geltend machen. Weder das Verfügungsverbot noch der Zustimmungsvorbehalt stehen der Einbeziehung des Aufwendungsersatzanspruchs unter die Deckung von nichtakzessorischen Sicherheiten und Pfandrechten entgegen, sofern diese Sicherheiten schon vor Erlass des Verbots unanfechtbar bestellt wurden. Ist dem Kreditinstitut die Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots oder des Zustimmungsvorbehalts bekannt, muss und darf es die Ausführung des Zahlungsauftrags ablehnen. Hierüber ist die GmbH gemäß § 675o Abs. 1 Satz 1 BGB unverzüglich, spätestens jedoch bis zum Ende des folgenden Geschäftstags, zu informieren; sinnvoll ist es darüber hinaus, wenn das Kreditinstitut auch den vorläufigen Insolvenzverwalter informiert2.

17.17

Führt ein Kreditinstitut einen Zahlungsauftrag des Kontoinhabers trotz Kenntnis des allgemeinen Verfügungsverbots bzw. Kenntnis des Zustimmungsvorbehalts gleichwohl aus, so liegt darin gemäß § 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1, § 82 InsO keine wirksame Verfügung des Schuldners über sein Vermögen bzw. keine wirksame Leistung des Kreditinstituts an den Schuldner3. Deshalb kann ein Kreditinstitut seinen Aufwendungsersatzanspruch aus der Ausführung eines Zahlungsauftrags, obwohl die Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbots bekannt war, grundsätzlich nicht gegen eine etwaige Guthabenforderung des Kunden verrechnen. Ebenso kann das Kreditinstitut seine Aufwendungsersatzforderungen nicht mehr in das Kontokorrent einstellen und auch nicht später als Insolvenzforderung geltend machen, falls das Konto des Kunden debitorisch war. Dem Kreditinstitut bleibt allenfalls, einen Bereicherungsanspruch gegen den Empfänger der Zahlung geltend zu machen.

17.18

b) Zahlungsauftrag des vorläufigen Verwalters Sofern das Gericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter eingesetzt und ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt hat, geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Verwalter über (§ 22 Abs. 1 InsO). Dieser kann über die Konten der GmbH verfügen und dem Kreditinstitut Zahlungsaufträge erteilen und diese widerrufen.

17.19

Hat das Gericht den vorläufigen Verwalter lediglich mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestattet, geht die Verfügungsbefugnis nicht auf ihn über. In diesem Fall kann weiterhin die GmbH – allerdings nur mit Zustimmung des vorläufigen Verwalters – über das Konto verfügen und Zahlungsaufträge erteilen4.

17.20

4. Die Kontoführung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter Bis zum Jahr 2019 war es üblich, dass vorläufige Insolvenzverwalter (und Insolvenzverwalter) ihre Verfahrenskonten ganz überwiegend als offene Treuhandkonten geführt haben, die auf den Namen des Verwalters eröffnet wurden. Sofern der Verwalter als Rechtsanwalt zugelassen war, wurde für diese Konten teilweise auch die Sonderform des Anderkontos genutzt. Über 1 Für den Zustimmungsvorbehalt BGH v. 21.11.2013 – IX ZR 52/13, NZI 2014, 156 Rz. 9 = ZIP 2014, 32; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/172 (142. Lfg.). 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.32. 3 BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 ff. = ZIP 2006, 138. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.44 f.

Kuder/Unverdorben | 635

17.21

§ 17 Rz. 17.21 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

diese Konten wurden dann sämtliche das Verfahren betreffenden Zahlungen abgewickelt, und zwar sowohl der späteren Masse zugehörige Gelder als auch Guthaben, die Dritten zustanden. Zwei Urteile des BGH1 haben diese Praxis verändert und weitreichende Veränderungen im Umgang mit der Verwaltung von Geldern im Insolvenzeröffnungsverfahren (und im eröffneten Verfahren) mit sich gebracht2. Während der BGH das offene Treuhandkonto weiterhin als die richtige Form für die Verwaltung von Geldern ansieht, an denen Dritte Ansprüche geltend machen können, ist für die Verwaltung von Geldern, die zur (späteren) Insolvenzmasse gehören, die Eröffnung eines Insolvenz-Sonderkontos erforderlich.

a) Insolvenz-Sonderkonto 17.22

Nach Auffassung des BGH sei es unzulässig und pflichtwidrig, wenn der Insolvenzverwalter ein Insolvenzkonto führe, das nicht die Masse selbst als materiell berechtigt ausweise3. Die Gelder der Insolvenzmasse eigneten sich nicht zur Anlage auf einem offenen Treuhandkonto, da es sich dabei um ein Vollrechtstreuhandkonto handele, bei dem ausschließlich der das Konto eröffnende Rechtsanwalt persönlich der Bank gegenüber berechtigt und verpflichtet sei. Damit leite der Insolvenzverwalter Gelder der Insolvenzmasse in sein eigenes Vermögen über; das Guthaben auf einem Anderkonto sei kein Bestandteil der Masse4. Unabhängig davon, ob der Insolvenzverwalter einer Berufsgruppe angehöre, für die ein Anderkonto geführt werden kann, sei es unzulässig, ein Anderkonto zur Verwaltung der Insolvenzmasse zu führen. Bei einem Sonderkonto sei das Guthaben hingegen vermögensrechtlich der Masse zuzuordnen, während die Verfügungsbefugnis dem Insolvenzverwalter als Ermächtigungstreuhänder zukomme. Als Sonderkonto sieht der BGH dabei ein Konto an, bei dem die Verfügungsmacht einem anderen als dem Rechtsträger zusteht5. An dieser Entscheidung des BGH ist viel Kritik geäußert worden6; für die Praxis ist sie gleichwohl bindend.

17.23

Möglich sind daher grundsätzlich zwei Arten von Insolvenz-Sonderkonten7: Das Konto auf den Namen des Schuldners8 oder das Konto auf den Namen des (vorläufigen) Insolvenzverwalters9. In beiden Fällen ist der Schuldner der Kontoinhaber und der Insolvenzverwalter ist lediglich dazu ermächtigt, über das Konto zu verfügen10. Bei dem Insolvenz-Sonderkonto auf den Namen des Schuldners kann es sich um das fortgeführte Konto des Schuldners oder ein neu auf bzw. durch den Schuldner eröffnetes Konto handeln.

17.24

Voraussetzung dafür, dass der vorläufige Insolvenzverwalter ein Insolvenz-Sonderkonto eröffnen kann, ist allerdings, dass die Verfügungsbefugnis gemäß § 80 InsO auf ihn übergegangen ist. Dies ist nur beim vorläufigen starken Insolvenzverwalter der Fall oder dann, wenn das Insolvenzgericht den vorläufigen schwachen Insolvenzverwalter ausdrücklich zur Führung eines 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472; BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718. Dazu ausführlich d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280 ff. BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718 Rz. 31. BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718 Rz. 32. BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718 Rz. 27. Wischemeyer/Dimassi, ZIP 2020, 1210 ff.; Mitlehner, NZI 2019, 961 ff.; Ganter, NZI 2019, 873 ff.; Cranshaw, NZI 2019, 414 ff.; Schulte-Kaubrügger, EWiR 2019, 277 ff.; Commandeur/Brocker, NZG 2019, 895 ff.; Undritz, BB 2019, 1487 ff.; Zuleger, NZI 2019, 417. Zum Begriff des „Sonderkontos“ Saager/d’Avoine/Berg, ZIP 2019, 2041, 2044; Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1088. Von d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283, als „ISK Typ 1“ bezeichnet. Von d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283, als „ISK Typ 2“ bezeichnet. d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283; Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1089.

636 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.41 § 17

Insolvenz-Sonderkontos unter Ausschluss des Schuldners ermächtigt hat. Allein die Ermächtigung zum Einzug von Forderungen reicht dafür nicht aus1.

b) Offenes Treuhandkonto Bei dem offenen Treuhandkonto ist der vorläufige Insolvenzverwalter der Kontoinhaber als alleiniger Vollrechtsinhaber und Treuhänder2: Die Einrichtung und Führung eines solchen Kontos war in den vergangenen Jahrzehnten als geeignet und zulässig angesehen worden, um – neben den zur Masse gehörenden Geldern – (auch) Fremdgelder oder Sondervermögen, etwa von Sicherungsgläubigern oder sonstigen absonderungsberechtigten Gläubigern des Schuldners, zu separieren3. Das Gleiche galt für Anderkonten, die eine besondere Form des offenen Treuhandkontos für bestimmte Berufsträger sind4. Der BGH hat nunmehr zum einen bestätigt, dass das offene Treuhandkonto das zulässige und gebotene Konto zur Sicherung von Drittrechten insbesondere auch im Eröffnungsverfahren ist5. Gleichzeitig hat er aber mit der bereits dargestellten Entscheidung klargestellt, dass das offene Treuhandkonto ausschließlich zur Sicherung von Ansprüchen Dritter eingesetzt werden darf und nicht zur Verwaltung der (zukünftigen) Insolvenzmasse.

17.25

Der vorläufige Insolvenzverwalter sollte ein offenes Treuhandkonto auf jeden Fall dann führen, wenn er Forderungen einzieht, an denen Rechte Dritter bestehen oder bestehen könnten. Auch ein vorläufiger schwacher Verwalter ohne die Einzelermächtigung zur Verwaltung künftiger Massegelder, der kein Insolvenzverwalter-Sonderkonto eröffnen kann, wird auf diese Kontoform zurückgreifen müssen6. Das gleiche gilt in Fällen, in denen der vorläufige Verwalter das für das Verfahren eingerichtete Insolvenz-Sonderkonto wegen einer Pfändung und/ oder öffentlich-rechtlichen Verstrickung nicht nutzen kann7.

17.26

Einstweilen frei.

17.27–17.40

II. Besonderheiten im Lastschriftverkehr Im Lastschriftverfahren kann der Zahlungsempfänger durch die Vermittlung seines Kreditinstituts (sog. erste Inkassostelle) von seinem Schuldner, dem Zahlungspflichtigen, bei demselben oder einem anderen Kreditinstitut (der Zahlstelle) den geschuldeten Betrag auf Grund des von dem Zahlungspflichtigen vor dem Zahlungsvorgang erteilten SEPA-Lastschriftmandats im SEPA-Basislastschriftverfahren oder im SEPA-Firmenlastschriftverfahren einziehen. Mit dem SEPA-Lastschriftmandat erteilt der Zahlungspflichtige dem Zahlungsempfänger die Ermächtigung zur Einziehung des geschuldeten Betrags und autorisiert zugleich die Belastung seines Kontos gegenüber der Zahlstelle8. 1 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1284; Blankenburg/Godzierz, ZInsO 2019, 1092, 1094; Heerma/ Rinck, ZIP 2019, 2000, 2002. 2 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1281. 3 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1281. 4 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1281; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz 2.246; Kuder, ZInsO 2009, 584, 586. 5 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472 LS 2. 6 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1284. 7 Ausführlich zum Thema „Insolvenz-Sonderkonto und Pfändung“ Büchel, ZInsO 2020, 1513 ff. 8 Ellenberger in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 36 Rz. 125; Nobbe, ZIP 2012, 1937.

Kuder/Unverdorben | 637

17.41

§ 17 Rz. 17.42 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

1. Überblick über die Lastschriftverfahren a) Die Lastschriftverfahren 17.42

Beide Lastschriftverfahren, das SEPA-Basislastschriftverfahren für den Privatkunden und das SEPA-Firmenlastschriftverfahren, stehen seit dem 31.10.2009 zur Verfügung und haben die früher vorhandenen Verfahren, das Abbuchungsauftragsverfahren und das Einzugsermächtigungsverfahren abgelöst. Das Einzugsermächtigungsverfahren wird seit dem 1.8.2014 und das Abbuchungsauftragsverfahren seit dem 1.2.2014 nicht mehr angeboten1.

17.43

Die im Zusammenhang mit dem früheren Einzugsermächtigungsverfahren in der Insolvenz des Zahlungspflichtigen geführten zahlreichen Auseinandersetzungen, ob der Insolvenzverwalter den vom Schuldner noch nicht genehmigten Lastschriftbelastungen auch ohne das Vorliegen der anerkennenswerten Gründe pauschal widersprechen kann, was als konkludente Genehmigung anzusehen ist, und ob eine Genehmigung durch AGB fingiert werden kann, wenn ein starker oder schwacher vorläufiger oder der endgültige Insolvenzverwalter die Sechswochenfrist nach Zugang des Rechnungsabschlusses ohne Widerspruch verstreichen lässt, haben sich mit dem Ende des Einzugsermächtigungsverfahrens endgültig erledigt2. Das SEPA-Lastschriftmandat enthält nämlich neben der Ermächtigung des Zahlungsempfängers zur Einziehung des geschuldeten Betrags zugleich auch die Vorabautorisierung (§ 675j Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB) der Belastungsbuchung auf dem Konto des Zahlungspflichtigen gegenüber seinem Kreditinstitut3. Diese Vorabautorisierung ist eine Weisung (§ 675 Abs. 1, § 665 BGB) im Rahmen des Zahlungsdiensterahmenvertrages des Zahlungspflichtigen an sein Kreditinstitut. Dadurch ist die Belastungsbuchung von vornherein autorisiert und muss nicht im Nachhinein – im Wege einer Genehmigungsfiktion, ausdrücklich oder konkludent – genehmigt werden. Das Kreditinstitut erlangt bereits mit der Einlösung der Lastschrift einen Aufwendungsersatzanspruch gemäß § 670 BGB.

b) Das Lastschriftmandat 17.44

Das SEPA-Lastschriftmandat erteilt der Zahlungspflichtige dem Zahlungsempfänger. Für die formell wirksame Erteilung eines SEPA-Lastschriftmandats gibt es folgende Möglichkeiten4: – Eigenhändig unterschriebenes Schriftstück (Schriftform § 126 Abs. 1 Alt. 1 BGB). – Elektronisch übermitteltes Dokument mit qualifizierter elektronischer Signatur (§ 126a Abs. 1 BGB). – E-Mandat; hierbei handelt es sich allerdings um eine den Kreditinstituten eingeräumte Option zur Schaffung eines solchen Mandats, von der die Kreditwirtschaft bislang keinen Gebrauch gemacht hat5. 1 Art. 6 der Verordnung (EU) 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und § 7c ZAG. 2 Überblick bei Hadding, ZBB 2012, 149. 3 Ellenberger in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 36 Rz. 125; Nr. 2.2.1 Satz 4 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Basislastschriftverfahren; Nr. 2.2.1 Satz 4 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Firmenlastschriftverfahren. 4 SEPA Core Direct Debit Scheme Rulebook EPC016-06/2019 Version 1.1, Effective Date 01 April 2020, § 4.1 The Mandate, S. 26. 5 Annex VII to SEPA Core Direct Debit Scheme Rulebook EPC016-06/2019 Version 1.1, Effective Date 01 April 2020.

638 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.45 § 17

– In der Praxis häufig anzutreffen sind Lastschriftmandate, die beim Abschluss von Verträgen im Internet erteilt werden und daher nicht eigenhändig unterschrieben sind. Ob bei der Online-Zahlung per Internetlastschrift der Lastschrifteinzug auf Basis eines wirksam erteilten Lastschriftmandats erfolgt, ist umstritten. Es wird vertreten, dass – jedenfalls bei innerdeutschen Sachverhalten – auch die internetbasierte Erteilung des Lastschriftmandats ohne eine qualifizierte elektronische Signatur möglich ist. Im deutschen Recht reicht gemäß § 127 Abs. 2 BGB zur Wahrung der vertraglich vereinbarten Schriftform die telekommunikative Übermittlung aus. Zudem ist zwischen dem Zahlungsempfänger und der ersten Inkassostelle vereinbart, dass das Mandat „schriftlich oder in der mit seiner Bank vereinbarten Art und Weise“1 zu erteilen ist. Schließlich ist den SEPA-Rulebooks nicht zu entnehmen, dass Zahlungsempfänger und erste Inkassostelle eine solche von der Schriftform abweichende „Art und Weise“ vereinbaren können2. Letztlich trägt der Zahlungsempfänger das Risiko, dass das Lastschriftmandat nicht wirksam erteilt ist und der Zahlungspflichtige daher bis zum Ablauf von dreizehn Monaten nach Erhalt der Information über die Belastungsbuchung die Rückerstattung der Belastung verlangen kann (§ 676b Abs. 2 BGB, Nr. 2.6.5 Abs. 2 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren, Nr. 2.6.5 Abs. 2 der Bedingungen für das SEPA-Firmenlastschriftverfahren). Es liegt damit in seinem eigenen Interesse, sofern auf Grund seines Geschäftsmodells die Einholung eines schriftlichen Mandats in Papierform nicht möglich ist, für die Einholung von Internetlastschriftmandanten ein Verfahren zu wählen, das sämtliche Funktionen, die die Schriftform (Warnfunktion, Klarstellungs- und Beweisfunktion, Perpetuierungsfunktion) und die eigenhändige Unterschrift (Identitätsfunktion, Echtheitsfunktion, Verifikationsfunktion, Abschlussfunktion)3 erfüllen, ebenfalls gewährleistet4 und er somit gegenüber seinem Kreditinstitut jederzeit in der Lage ist, nachzuweisen, dass ihm ein wirksames Lastschriftmandat vorliegt. Das gewählte Verfahren muss sicherstellen, dass das Mandat rechts- und beweissicher aufbewahrt wird und eine Vorlage des Mandats im Streitfall möglich ist. Im Hinblick darauf, dass auch die erste Inkassostelle bei einem Kunden, der Lastschriften auf Grundlage unwirksamer Lastschriftmandate einzieht, ein Kreditrisiko (sog. Lastschriftobligo) eingeht, liegen wirksam erteilte Mandate im Übrigen auch im Interesse der Kreditinstitute5.

Die in dem Mandat zugleich enthaltene Autorisierung der Belastungsbuchung wird dem Kreditinstitut des Zahlungspflichtigen in elektronischer Form vom Zahlungsempfänger und dessen Kreditinstitut, die insoweit als Boten des Zahlungspflichtigen tätig werden, übermittelt6.

1 Nr. 2.2.1 Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Basislastschriftverfahren; Nr. 2.2.1 Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Firmenlastschriftverfahren. 2 Werner in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 675w Abs. 3 BGB Rz. 2 ff.; Hoeren, WM 2014, 1061; Zahrte, MMR 2014, 211; Weisser/Färber, CR 2014, 379; noch zur Einzugsermächtigungslastschrift: Mitterhuber/Mühl, WM 2007, 963, 969; Schneider, BKR 2002, 384, 387; a.A.: Walter, DB 2013, 385, 390; Werner, BKR 2002, 11, 12. 3 Einsele in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 126 BGB Rz. 11 ff.; Mansel in Jauernig, 18. Aufl. 2021, § 126 BGB Rz. 1 ff. 4 Hoeren, WM 2014, 1061, der dies für das für das „In-Account Flow“- und das „In-Transaction Flow“-Verfahren untersucht und bejaht. 5 So auch Zahrte, MMR 2014, 211. 6 Nr. 2.3 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Basislastschriftverfahren; Nr. 2.3 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Firmenlastschriftverfahren.

Kuder/Unverdorben | 639

17.45

§ 17 Rz. 17.46 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

2. Geltendmachung des Erstattungsanspruchs 17.46

Das SEPA-Basislastschriftverfahren und das SEPA-Firmenlastschriftverfahren unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich der Möglichkeiten des Zahlungspflichtigen, eine Lastschrift rückgängig zu machen: – Im SEPA-Basislastschriftverfahren kann der Zahlungspflichtige binnen einer Frist von acht Wochen ab der Belastungsbuchung die Rückerstattung des belasteten Betrags verlangen (§ 675x Abs. 2 BGB, Nr. 2.5 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren).

– Im SEPA-Firmenlastschriftverfahren hingegen kann der Zahlungspflichtige eine von dem Lastschriftmandat gedeckte Belastungsbuchung nicht wieder rückgängig machen (§ 675e Abs. 4 BGB, Nr. 2.5 der Bedingungen für das SEPA-Firmenlastschriftverfahren). – In beiden Verfahren gilt: Sofern die Lastschriftbelastung nicht durch ein SEPA-Lastschriftmandat gedeckt und autorisiert war, kann der Kontoinhaber von seinem Kreditinstitut bis zum Ablauf von dreizehn Monaten nach Erhalt der Information über diese Belastungsbuchung die Rückerstattung der Belastung verlangen (Ausschlussfrist gemäß § 676b Abs. 2 BGB, Nr. 2.6.5 Abs. 2 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren, Nr. 2.6.5 Abs. 2 der Bedingungen für das SEPA-Firmenlastschriftverfahren).

17.47

Bei dem Erstattungsanspruch nach § 675x Abs. 2 BGB handelt es ich um einen verhaltenen Anspruch, der erst auf Verlangen des Zahlers zu erfüllen ist1. Die Ansicht, es handele sich um ein Gestaltungsrecht, durch dessen Ausübung die ursprünglich durch das Lastschriftmandat erteilte Autorisierung nachträglich beseitigt werde2, findet im Gesetz keine Stütze3.

17.48

Der Erstattungsanspruch (§ 675x Abs. 2 BGB, Nr. 2.5 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren) fällt nicht in die Insolvenzmasse und kann daher weder vom vorläufigen noch vom endgültigen Insolvenzverwalter oder dem (vorläufigen) Sachwalter in einem Eigenverwaltungsverfahren geltend gemacht werden4. Vielmehr steht der Erstattungsanspruch auch nach der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen oder der Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem Schuldner selbst zu. Dieser darf den Erstattungsanspruch allerdings nach der bereits zum Einzugsermächtigungsverfahren ergangenen Rechtsprechung nur geltend machen, wenn er (a) überhaupt kein Lastschriftmandat erteilt hat, (b) dem Zahlungsempfänger zwar generell ein Lastschriftmandat erteilt hat, aber den eingezogenen Betrag nicht schuldet5 oder (c) sonstige anerkennenswerte Gründe hat, die ihn in diesem Zeitpunkt davon abgehalten haben würden, den entsprechenden Geldbetrag bar oder durch Überweisung zu bezahlen6.

1 Piepenbrock/Rodi/Aßflag, WM 2017, 2281, 2282. 2 Einsele, WM 2015, 1125, 1132 f. 3 Piepenbrock/Rodi/Aßflag, WM 2017, 2281, 2282; Ellenberger in Ellenberger/Bunte, BankrechtsHandbuch, 6. Aufl. 2022, § 36 Rz. 127. 4 BGH v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, ZInsO 2010, 1538; Ellenberger in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 37 Rz. 8 ff.; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/348e (142. Lfg.); Nobbe, ZIP 2012, 1937. A.A.: Einsele, WM 2015, 1125, 1134. 5 BGH v. 28.5.1979 – II ZR 85/78, WM 1979, 690; BGH v. 18.6.1979 – II ZR 160/78, WM 1979, 832; BGH v. 27.11.1984 – II ZR 294/83, WM 1985, 82; Hegel, Die Bank 1982, 74; Rottnauer, WM 1995, 272; Hadding, WM 2005, 1549; etwas unklar BGH v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, ZInsO 2010, 1538; s. auch Bitter, WM 2010, 1725. 6 BGH v. 28.5.1979 – II ZR 85/78, WM 1979, 690; BGH v. 18.6.1979 – II ZR 160/78, WM 1979, 832; BGH v. 27.11.1984 – II ZR 294/83, WM 1985, 82; Rottnauer, WM 1995, 272; Hegel, Die Bank 1982, 74; Bauer, WM 1981, 1186, 1198; Canaris, WM 1980, 354, 363.

640 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.51 § 17

Liegt keiner dieser Gründe vor, ist die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs rechtsmissbräuchlich und begründet eine Schadensersatzpflicht des Schuldners gegenüber dem Gläubiger oder dem Kreditinstitut des Gläubigers1. Das Gleiche gilt im Übrigen für denjenigen, der den Schuldner dazu anstiftet, einen unberechtigten Erstattungsanspruch geltend zu machen; aus diesem Grund kann etwa einem Sachwalter im Eigenverwaltungsverfahren oder dem Kreditinstitut des Zahlungspflichtigen nur dringend geraten werden, von solchen Anstiftungen abzusehen. Die Tatsache, dass der Erstattungsanspruch nicht in die Insolvenzmasse fällt, bedeutet aber nicht, dass auch der erstattete Betrag zum freien Vermögen des Schuldners gehört. Anders als im früheren Einzugsermächtigungsverfahren handelt es sich bei dem Erstattungsanspruch nicht um einen bloßen Berichtigungsanspruch; vielmehr gibt der Erstattungsanspruch gemäß § 675x Abs. 2 BGB einen eigenständigen Anspruch2. Gemäß § 675x Abs. 1 Satz 2 BGB muss die Wiedergutschrift auf dem Konto wertstellungsneutral erfolgen. Die Gutschrift auf dem Konto fällt aber in die Insolvenzmasse.

17.49

Erfolgt auf Grund der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs eine Rückerstattung an den Zahler, unterliegt diese Zahlung nicht der Insolvenzanfechtung, da schon keine Handlung des Schuldners vorliegt3. Dem Insolvenzverwalter stehen bei einer rechtsmissbräuchlichen Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nur die Rechte aus dem Valutaverhältnis zu, nicht aber die Möglichkeiten der Insolvenzanfechtung4.

17.50

3. Einlösung und Einzug von Lastschriften nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen a) Einlösung nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen Hat das Kreditinstitut Kenntnis von der Anordnung eines Zustimmungsvorbehalts oder eines Verfügungsverbots durch das Insolvenzgericht, darf es eine auf die GmbH gezogene Lastschrift nicht mehr einlösen und den Lastschriftbetrag dem Konto belasten. Dies gilt sowohl für bereits vorliegende, aber noch nicht gebuchte, als auch für nach Anordnung der Maßnahmen neu vorgelegte Lastschriften. Ohne die Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters ist die Belastungsbuchung unwirksam5. Dabei ist unerheblich, dass der Schuldner im SEPABasislastschriftverfahren selbst noch den Erstattungsanspruch nach § 675x Abs. 2 BGB, Nr. 2.5 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren geltend machen kann. Belastet das Kreditinstitut in Kenntnis der Anordnungen das Konto gleichwohl mit der Lastschrift, kann es seinen Aufwendungsersatzanspruch nicht mehr in das Kontokorrent einstellen und auch nicht gegen ein etwaiges Guthaben verrechnen6. 1 BGH v. 28.5.1979 – II ZR 85/78, WM 1979, 689; BGH v. 21.4.2009 – VI ZR 304/07, NJW-RR 2009, 1207; Hadding, WM 2005, 1549; Nobbe, ZIP 2012, 1937; dagegen billigt OLG Köln v. 26.10.2009 – 13 U 132/09, WM 2010, 652, Schadensersatz nur bei Kenntnis der bevorstehenden Insolvenz des Gläubigers zu. 2 Ellenberger in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 36 Rz. 142; Nobbe, ZIP 2012, 1937; Werner, BKR 2012, 221; Omlor, NJW 2012, 2150; Nobbe, WM 2011, 961; Obermüller/ Kuder, ZIP 2010, 349. 3 Ausführlich zur Anfechtbarkeit von Rückerstattungen im elektronischen Zahlungsverkehr Madaus/Knauth/Krafczyk, WM 2020, 1283 ff. 4 Madaus/Knauth/Krafczyk, WM 2020, 1283, 1286 ff. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.725. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.726.

Kuder/Unverdorben | 641

17.51

§ 17 Rz. 17.52 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

17.52

Löst das Kreditinstitut die Lastschrift ein, weil es keine Kenntnis von dem Beschluss des Insolvenzgerichts, durch den Verfügungsbeschränkungen angeordnet wurden, erlangt hat, gilt das zu Rz. 17.16 Gesagte1.

b) Einzug nach Anordnung von Verfügungsbeschränkungen 17.53

Hat das Insolvenzgericht ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet, kann die insolvente GmbH keine neuen Lastschriften mehr zum Einzug bei ihrem Kreditinstitut einreichen, da es sich auch bei der Einziehung von Forderungen und der Erteilung eines Einzugsauftrags an die erste Inkassostelle um eine – nunmehr untersagte – Verfügung handelt. An ihrer Stelle kann der vorläufige Insolvenzverwalter Lastschriften zum Einzug einreichen. Ordnet das Gericht einen Zustimmungsvorbehalt an, kann die GmbH nur mit Zustimmung des vorläufigen Verwalters Lastschriften zum Einzug einreichen. In beiden Fällen steht dies unter dem Vorbehalt, dass das Kreditinstitut die insolvente GmbH überhaupt noch ausnahmsweise zum Lastschrifteinzug zulässt2. In der Regel wird es schon im Hinblick auf die damit für es selbst verbundenen Risiken nur kreditwürdige Kunden zum Lastschrifteinzug zulassen.

4. Anfechtung von Lastschriftbuchungen 17.54

Für die Anfechtung einer Lastschriftbuchung müssen die Voraussetzungen des Anfechtungstatbestands in dem Zeitpunkt vorliegen, in dem das Kreditinstitut die Lastschrift einlöst3. SEPA-Basislastschriften und SEPA-Firmenlastschriften sind gemäß Nr. 2.4.2 i.V.m. Nr. 2.4.1 Absatz 2 der jeweiligen Bedingungen4 eingelöst, wenn die Kontobelastung nicht spätestens am zweiten Geschäftstag nach ihrer Vornahme rückgängig gemacht wurde5.

17.55–17.80

Einstweilen frei.

III. Kreditgeschäft 17.81

Erfolgt auf Grund eines zulässigen Insolvenzantrages, der für eine GmbH oder einen anderen Schuldner gestellt wird, keine sofortige Entscheidung, weil die Feststellung des Eröffnungsgrundes und der Kostendeckung eine gewisse Zeit erfordert, so hat das Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 1 InsO alle Sicherungsmaßnahmen zu treffen, die erforderlich erscheinen, um bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag eine den Gläubigern nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners zu verhüten (dazu auch Rz. 19.26 ff.)6. Die wichtigsten Sicherungsmaßnahmen sind beispielhaft („insbesondere“) in § 21 Abs. 2 InsO 1 S. auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.728 f. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.760. 3 So zum inzwischen abgelösten Abbuchungsauftragsverfahren BGH v. 17.1.2013 – IX ZR 184/10, NZI 2013, 182 Rz. 8 = ZIP 2013, 322. Diese Rechtsprechung ist wegen der ebenfalls vorhandenen Vorabautorisierung auf das SEPA-Basislastschriftverfahren und das SEPA-Firmenlastschriftverfahren anwendbar. 4 Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Basislastschriftverfahren, Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im SEPA-Firmenlastschriftverfahren. 5 So für Lastschriften im Abbuchungsauftragsverfahren auch OLG Düsseldorf v. 10.3.2016 – 12 U 36/15, ZInsO 2016, 968 = ZIP 2016, 1176. 6 Für einen Überblick zu den Sicherungsmaßnahmen Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 45.

642 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.83 § 17

aufgezählt1. Für das Schicksal bereits gewährter Kredite (abgesehen von der zwangsweisen Beitreibung) und die Gewährung neuer Kredite bleibt dabei die Untersagung oder einstweilige Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO ohne Auswirkungen2. Daneben oder stattdessen kann das Insolvenzgericht als Sicherungsmaßnahmen insbesondere einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO) und/oder dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO). Wenn Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, muss für die Beurteilung der Auswirkungen dieser Sicherungsmaßnahmen auf das Kreditgeschäft im Insolvenzeröffnungsverfahren unterschieden werden, welche der beiden Sicherungsmaßnahmen das Insolvenzgericht trifft. Sofern die GmbH einen Antrag auf Eigenverwaltung gemäß § 270a InsO gestellt hat, kann das Insolvenzgericht ebenfalls gemäß § 270c Abs. 3 Satz 1 InsO Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO anordnen. Die Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters sowie die Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots sind nicht vorgesehen, da sie mit der im Eigenverwaltungsverfahren vorgesehenen Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners nicht vereinbar sind3. Allerdings: Weist die Eigenverwaltungsplanung behebbare Mängel auf und ordnet das Gericht die vorläufige Eigenverwaltung gleichwohl gemäß § 270b Abs. 1 Satz 2 InsO an, kann das Gericht gemäß § 270c Abs. 3 Satz 2 InsO auch anordnen, dass Verfügungen der GmbH im Zeitraum der zur Behebung der Mängel gesetzten Frist der Zustimmung des vorläufigen Sachwalters bedürfen. Mit einer solchen Anordnung wird die Verfügungsbefugnis des Schuldners beschränkt. Dies ist aber im Interesse der Gläubiger angemessen, da noch nicht feststeht, ob die Mängel in der Eigenverwaltungsplanung innerhalb der gesetzten Frist behoben werden können oder ob das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren gemäß § 270e Abs. 1 Nr. 2 InsO aufzuheben ist4.

17.82

Liegen die Voraussetzungen des § 22a Abs. 1 InsO hinsichtlich Bilanzsumme, Umsatzerlöse und Anzahl der Beschäftigten vor, ist das Insolvenzgericht des Weiteren verpflichtet, einen vorläufigen Gläubigerausschuss nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO einzusetzen (sog. originärer Pflichtausschuss); liegen diese Voraussetzungen nicht vor, soll das Insolvenzgericht gemäß § 22a Abs. 2 InsO auf Antrag des Schuldners, des vorläufigen Insolvenzverwalters oder eines Gläubigers einen solchen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzen (sog. derivativer Pflichtausschuss). Das Gericht kann auch nach eigenem, pflichtgemäßem Ermessen einen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzen, ohne dass dies beantragt wurde oder die Schwellenwerte des § 22a Abs. 1 InsO erfüllt sind (sog. fakultativer Ausschuss). Der vorläufige Gläubigerausschuss gibt den Gläubigern die Möglichkeit, bereits im Eröffnungsverfahren Einfluss auf für das Verfahren bedeutende Weichenstellungen zu nehmen5. Neben den Rechten und Pflichten, die dem vorläufigen Gläubigerausschuss in gleicher Weise wie dem endgültigen Gläubi-

17.83

1 Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 21 InsO Rz. 6; zum Beispielscharakter der im Gesetz genannten und zu anderen denkbaren Sicherungsmaßnahmen s. auch Begr. RegE der Insolvenzordnung, BR-Drucks. 1/92, § 25 RegE S. 115 f.; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 44. 2 Zu den Auswirkungen dieser Sicherungsmaßnahmen auf Vollstreckungsmaßnahmen ungesicherter und gesicherter Gläubiger Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 21 InsO Rz. 28 ff.; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 70 ff.; Hörmann, MDR 2006, 601; Vallender, ZIP 1997, 1993; Lohkemper, ZIP 1995, 1641. 3 Begr. RegE zum SanInsFOG zu § 270c InsO, BT-Drucks. 19/24181 v. 9.11.2020. 4 Begr. RegE zum SanInsFOG zu § 270c InsO, BT-Drucks. 19/24181 v. 9.11.2020. 5 Zu den Aufgaben und Rechten des vorläufigen Gläubigerausschusses ausführlich Haarmeyer/ Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 123 ff.

Kuder/Unverdorben | 643

§ 17 Rz. 17.83 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

gerausschuss zustehen, hat der vorläufige Gläubigerausschuss gemäß § 56a InsO auch das Recht, an der Auswahl des vorläufigen Insolvenzverwalters mitzuwirken1. So hat das Gericht den vorläufigen Gläubigerausschuss vor der Bestellung des vorläufigen Verwalters anzuhören, § 56 Abs. 1 InsO. Unterbreitet der vorläufige Gläubigerausschuss dem Insolvenzgericht einen einstimmigen Vorschlag zur Person des Verwalters, darf das Gericht gemäß § 56a Abs. 2 Satz 1 InsO davon nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person nicht geeignet ist. § 56a Abs. 3 InsO gibt dem vorläufigen Gläubigerausschuss zudem ein Ersetzungsrecht, wenn das Gericht ihn nicht angehört hat.

17.84

Die Anordnung eines Verwertungs- und Einziehungsstopps nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO ist dagegen (nur) für die Verwertung bereits bestellter Kreditsicherheiten im Eröffnungsverfahren von Bedeutung (dazu im Einzelnen Rz. 17.138 ff.).

1. Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots 17.85

Wenn das Insolvenzgericht im Insolvenzeröffnungsverfahren dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt, richten sich dessen Wirkungen gemäß § 24 Abs. 1 InsO nach den Regelungen, die in §§ 81, 82 InsO hinsichtlich der Wirkungen der Verfahrenseröffnung auf Verfügungen des Schuldners und Leistungen an den Schuldner getroffen worden sind2. Diese Vorverlegung von Wirkungen des eröffneten Insolvenzverfahrens bereits in das Antragsverfahren hinein hat folgende Auswirkungen auf das Kreditgeschäft3:

a) Bestehende Kredite 17.86

Bestehende Kreditverträge mit einer insolventen GmbH (genauso wie mit einem anderen Kreditnehmer) werden durch die Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots nicht beendet. Denn § 24 Abs. 1 InsO verweist hinsichtlich der Wirkungen dieser Sicherungsmaßnahme nicht auf die §§ 103 ff. InsO, die das Schicksal von gegenseitigen Verträgen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens regeln, so dass der Bestand von Verträgen von der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbotes unberührt bleibt4. Auch der Zinslauf wird durch den Insolvenzantrag oder den Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots nicht unterbrochen. Daher können gemäß § 38 InsO die rückständigen ebenso wie die nach dem Insolvenzantrag auflaufenden Zinsen bis zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung, zu dem die Zinsansprüche dann gemäß § 41 Abs. 1 InsO als fällig gelten, im Insolvenzverfahren mit dem gleichen Rang wie die Hauptforderung eingefordert werden5.

17.87

Das Verfügungsverbot unterbindet aber Erfüllungshandlungen seitens des Schuldners. Denn Zahlungen, die der Kreditnehmer entgegen dem Verfügungsverbot leistet, sind gemäß § 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 InsO unwirksam. Wurden entgegen dem allgemeinen Verfügungsverbot unwirksame Tilgungsleistungen durch die insolvente GmbH erbracht, kann im Fall der Verfahrenseröffnung der Insolvenzverwalter vom Kreditgeber die Herausgabe der Gelder ver1 Zu den Mitwirkungsmöglichkeiten der Gläubiger bei der Auswahl des vorläufigen Insolvenzverwalters Graeber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 56a InsO Rz. 6 ff. 2 So die Begr. RegE der Insolvenzordnung, BR-Drucks. 1/92, § 28 RegE. 3 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.351 ff.; Wittig, DB 1999, 197 ff. 4 Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/187 (142. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.353. 5 Ehricke/Behme in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 39 InsO Rz. 14; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/187 (142. Lfg.).

644 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.88 § 17

langen, muss ihm jedoch gemäß § 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 Satz 3 InsO eine vom Kreditgeber erbrachte etwaige Gegenleistung erstatten, soweit die Masse durch sie bereichert ist. Dies kann für das Kreditgeschäft insbesondere relevant werden, falls der Kreditgeber Zug um Zug gegen den Zahlungseingang Sicherheiten, die aus dem Vermögen des Kreditnehmers bestellt waren, freigegeben hat. Diese wären zu Gunsten des Kreditgebers wiederherzustellen. Zweckmäßiger ist es jedoch bei Sicherheiten, deren Bestellung mit Aufwand und Kosten verbunden ist, wenn der Verwalter sich mit dem Kreditgeber dahingehend einigt, dass er den Sicherungsgegenstand verwertet und nur eine etwaige Differenz (nach Abzug der Kostenbeiträge gemäß §§ 170, 171 InsO, dazu ausführlich bei Rz. 27.57 f.; 27.89 ff.; 27.104) auszugleichen ist1. Der Kreditgeber bleibt trotz Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots zur Kreditkündigung berechtigt, falls ihm ein solches Kündigungsrecht nach den vertraglichen Abreden zusteht2. Kreditinstitute können eine solche Kündigung im Falle eines Insolvenzantrages auch ohne gesonderte Vereinbarungen im Kreditvertrag auf § 490 Abs. 1 BGB und die Regelungen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Kreditgewerbes stützen, wonach der Kreditgeber zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund3 insbesondere dann berechtigt ist, wenn eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage des Kreditnehmers eintritt und dadurch die Erfüllung seiner Verbindlichkeiten gefährdet ist (Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, Nr. 22 Abs. 2 AGB-Sparkassen)4. Die Zulässigkeit des außerordentlichen Kündigungsrechts ist von der Rechtsprechung allgemein anerkannt5. Daran hat auch die Entscheidung des BGH zur Unwirksamkeit insolvenzabhängiger Lösungsklauseln6 nichts geändert (s. ausführlich Rz. 4.208). Ist der Kreditnehmer zahlungsunfähig und wird deshalb ein Insolvenzantrag gestellt, liegt offensichtlich dieser Kündigungsgrund vor. Sogar die bloße Androhung des Kreditnehmers, er werde seine Zahlungen einstellen und die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragen, wird von der Rechtsprechung als ausreichend für die fristlose Kreditkündigung auf Grund Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, Nr. 22 Abs. 2 AGB-Sparkassen angesehen7. Angesichts dieser Rechtsprechung bietet der Insolvenzantrag einer GmbH dem Kreditgeber auch dann einen hinreichenden Grund zur Kreditkündigung, wenn die Antragstellung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit nach § 18 InsO (s. zu diesem Insolvenzgrund Rz. 14.61 ff.) erfolgt ist. An dieser Beurteilung ändert trotz § 490 Abs. 1 BGB auch die Besicherung des Kredits nichts. Denn das Interesse des Schuldners, bei ausreichender Besicherung nicht durch eine Kündigung in die Insolvenz getrieben zu werden, rechtfertigt den Ausschluss der Kündigung nicht mehr, wenn mit dem Insolvenzantrag manifest wird, dass es ohnehin zum Insolvenzverfahren und zur Verwer1 Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/188 (142. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.353. 2 Zur Kündigung von Kreditverträgen im Eröffnungsverfahren: Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.354 f.; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/189 (142. Lfg.); Wittig, NZI 2002, 633 ff.; Wittig, DB 1999, 197 ff. 3 Zum außerordentlichen Kündigungsrecht aus wichtigem Grund s. ausführlich Rz. 4.204 ff. 4 Zu diesem Kündigungsrecht bzw. seiner Vorgängerregelung in Nr. 17 AGB-Banken BGH v. 26.9.1985 – III ZR 229/84, WM 1985, 1437; BGH v. 6.3.1986 – III ZR 245/84, WM 1986, 605 = ZIP 1986, 770; BGH v. 26.5.1988 – III ZR 115/87, WM 1988, 1223; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/575 (108. Lfg.); Wittig, NZI 2002, 633 ff. 5 BGH v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519 Rz. 11 ff. (zum ordentlichen Kündigungsrecht gemäß Nr. 19 Abs. 1 AGB-Banken); BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/76, WM 1978, 234, 237; OLG Düsseldorf v. 21.4.2020 – 6 U 136/19, WM 2021, 70 ff. = ZIP 2020, 1654. 6 BGH v. 15.11.2012 – IX ZR 169/11, ZInsO 2013, 292 m. Anm. Raeschke-Kessler/Christopeit, WM 2013, 1592. 7 BGH v. 26.9.1985 – III ZR 213/84, WM 1985, 1493; OLG Hamm v. 12.9.1990 – 31 U 102/90, WM 1991, 402; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/588.

Kuder/Unverdorben | 645

17.88

§ 17 Rz. 17.88 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

tung der Sicherheiten kommt. Ab dann überwiegt das Interesse des Darlehensgebers, durch Kündigung weitere Auszahlungen zu verhindern und die Sicherheitenverwertung einzuleiten1.

17.89

Sind dem Kreditinstitut revolvierende Kreditsicherheiten wie eine Globalzession oder eine Raumsicherungsübereignung gestellt, ist eine Kündigung des Kredits, jedenfalls aber der Widerruf der Einziehungsbefugnis hinsichtlich der abgetretenen Forderungen bzw. der Verarbeitungs- und Veräußerungsermächtigung bezüglich der sicherungsübereigneten Sachen, geboten, sofern das Kreditinstitut ein Abschmelzen seines Sicherungsbestandes verhindern möchte. Im Normalfall des laufenden Geschäftsbetriebs werden die revolvierenden Kreditsicherheiten immer wieder aufgefüllt; den durch die GmbH eingezogenen und dadurch erloschenen Forderungen bzw. den veräußerten Sachen stehen die durch die Geschäftstätigkeit der GmbH neu entstehenden Forderungen und neu in den Sicherungsraum eingebrachten Sachen gegenüber, die auf Grund der Globalzession mit ihrer Entstehung an das Kreditinstitut abgetreten bzw. auf Grund des Raumsicherungsübereignungsvertrages mit ihrer Einbringung übereignet sind2. Ein weiterlaufender Einzug der bereits abgetretenen Forderungen und ein weiterlaufender Verkauf der bereits sicherungsübereigneten Sachen durch die GmbH führt nun dazu, dass der Wert der Sicherheiten abschmilzt: Neue Forderungen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, können zwar auch nach Anordnung eines Verfügungsverbots noch wirksam abgetreten werden3. Sie können aber nicht mehr insolvenzfest abgetreten und neue Sachen nicht mehr insolvenzfest übereignet werden. Der Erwerb sowie das Werthaltigmachen der nach dem Insolvenzantrag abgetretenen Forderungen und übereigneten Sachen in dem Fall, dass das Kreditinstitut den Insolvenzantrag oder die Zahlungsunfähigkeit kannte, ist nach der Rechtsprechung des BGH ohne Weiteres anfechtbar (§ 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO)4. Hat das Kreditinstitut die Einziehungsbefugnis bzw. die Verarbeitungsund Veräußerungsermächtigung widerrufen, muss der vorläufige Insolvenzverwalter die Erlöse auf ein zu Gunsten des Kreditinstituts eingerichtetes offenes Treuhandkonto einziehen. Der Einzug auf ein allgemeines Konto des Schuldners ist nicht zulässig5.

b) Neue Kredite 17.90

Nach dem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und nach Anordnung eines Verfügungsverbots wird die Vergabe neuer Kredite an die insolvente GmbH schon aus wirtschaftlichen Gründen grundsätzlich nicht in Betracht kommen. Nur in Ausnahmefällen könnte ein Kreditgeber an die Vergabe neuer Kredite direkt an die GmbH denken, so z.B. wenn neue Gelder zur Aufrechterhaltung des Betriebs, etwa für Energielieferungen oder Futterkosten bei landwirtschaftlichen Betrieben dringend benötigt werden, und die Fortführung des Betriebs im Hinblick auf die Erhaltung des Sicherungsguts des Kreditgebers notwendig ist. Aber auch dann wird der Kreditgeber vollwertige Sicherheiten für den Neukredit verlangen6.

17.91

An der Bestellung von Kreditsicherheiten durch die GmbH wird aber die Bereitstellung eines neuen Kredits für eine GmbH als Kreditnehmer im Insolvenzeröffnungsverfahren scheitern, wenn ein Verfügungsverbot ausgesprochen worden ist. Das Verfügungsverbot hat nämlich die 1 S. dazu auch Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/189a (142. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.355; Wittig, NZI 2002, 633 ff. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.350. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.341 ff. 4 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 204 = ZIP 2008, 183; ausführlich dazu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.348 ff. 5 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 ff. = ZIP 2019, 472. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.360, 5.365.

646 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.93 § 17

Unwirksamkeit aller nach seinem Erlass vorgenommenen rechtsgeschäftlichen Verfügungen des Schuldners über Vermögensgegenstände zur Folge, die zur Masse gehören würden (§ 24 Abs. 1, §§ 81, 82 InsO)1. Verfügungen sind Rechtsgeschäfte, die unmittelbar darauf gerichtet sind, auf ein bestehendes Recht einzuwirken, es zu verändern, zu übertragen oder aufzuheben2, also auch die Bestellung von Sicherheiten am Schuldnervermögen durch (Grund-)Pfandrechtsbestellung, Übereignung oder Abtretung. Verstößt der Schuldner gegen eine Verfügungsbeschränkung, so ist diese Verfügung und damit die Sicherheitenbestellung unwirksam (§ 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO). Nach herrschender Ansicht führt das allgemeine Verfügungsverbot im Insolvenzeröffnungsverfahren gemäß der Verweisung auf die §§ 81, 82 InsO nicht nur zur relativen, sondern zur absoluten Unwirksamkeit verbotswidriger Verfügungen des Schuldners schon vor Verfahrenseröffnung3. Damit scheidet schon im Insolvenzeröffnungsverfahren der gutgläubige Erwerb von Kreditsicherheiten aus, soweit nicht der gute Glaube an die Verfügungsbefugnis des Schuldners durch Registereintragungen geschützt ist, also insbesondere beim Erwerb einer Grundschuld oder Hypothek (§ 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 Satz 2 InsO).

2. Bestellung eines vorläufigen Verwalters Setzt das Insolvenzgericht als Sicherungsmaßnahme im Insolvenzeröffnungsverfahren einen vorläufigen Insolvenzverwalter ein, so hängen dessen Befugnisse gemäß § 22 InsO entscheidend davon ab, ob gegen den Schuldner zugleich ein allgemeines Verfügungsverbot ausgesprochen worden ist (§ 22 Abs. 1 InsO) oder nicht (§ 22 Abs. 2 InsO). Beispielsweise gehört zu den Aufgaben des vorläufigen Verwalters die Fortführung des Geschäfts (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 InsO) nach der gesetzlichen Regelung nur dann, wenn ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet worden ist. Demgegenüber bestimmt nicht die Insolvenzordnung, sondern das Insolvenzgericht die Pflichten und Aufgaben des vorläufigen Insolvenzverwalters, wenn dem Schuldner nicht zugleich ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird (§ 22 Abs. 2 InsO). Auch für das Kreditgeschäft ist in verschiedenen Bereichen von Bedeutung, ob neben der Einsetzung des vorläufigen Verwalters auch ein allgemeines Verfügungsverbot verhängt worden ist oder nicht, weil gemäß § 22 Abs. 1 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das gesamte Vermögen des Schuldners nur dann auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergeht, wenn auch ein allgemeines Verfügungsverbot ausgesprochen ist4.

17.92

a) Bestehende Kredite Bestehende Kreditverträge werden durch Einsetzung eines vorläufigen Verwalters nicht beendet. Dies gilt, wie bei Rz. 17.86 ff. ausgeführt, auch für den Fall, dass daneben ein allgemeines Verfügungsverbot ausgesprochen wird5. Bis zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung laufen auch die Zinsen trotz Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters weiter und können 1 Zur Unwirksamkeit von Sicherheitenbestellungen durch den Schuldner nach Anordnung des allgemeinen Verfügungsverbotes auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.361, 5.367; Wittig, DB 1999, 197 ff. 2 BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZInsO 2010, 133 = ZIP 2010, 138; BGH v. 4.5.1987 – II ZR 211/ 86, BGHZ 101, 26; BGH v. 18.6.1979 – VII ZR 187/78, BGHZ 75, 26 = NJW 1979, 2101; BGH v. 15.3.1951 – IV ZR 9/50, BGHZ 1, 294, 304. 3 So z.B. Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 24 InsO Rz. 10 m.w.N. zum Meinungsstand; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.361. 4 Zu dieser Unterscheidung für das Kreditgeschäft auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.362. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.364.

Kuder/Unverdorben | 647

17.93

§ 17 Rz. 17.93 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

mit dem gleichen Rang wie die Hauptforderung im Verfahren geltend gemacht werden1. Für die Kündigung bestehender Kredite durch den Kreditgeber gilt bei Einsetzung eines vorläufigen Verwalters das Gleiche wie bei der Anordnung allein eines Verfügungsverbots (s. Rz. 17.88). Rückzahlungen von Krediten werden nach Einsetzung eines vorläufigen Verwalters praktisch nicht mehr erfolgen. Auch die Kündigung von Kreditverträgen durch den vorläufigen Insolvenzverwalter, zu der er grundsätzlich berechtigt wäre, wenn wegen der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots die Verwaltungsbefugnisse auf ihn übergegangen sind2, spielt in der Praxis keine Rolle.

b) Neue Kredite 17.94

Auch im Insolvenzeröffnungsverfahren wird häufig Kreditbedarf bestehen. Denn soll nach dem Insolvenzantrag der Betrieb der GmbH – einstweilig oder bis zu einer Sanierung des Unternehmens aus dem Insolvenzverfahren heraus – aufrechterhalten werden, wie dies nach § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO zumindest bei Einsetzung eines vorläufigen Verwalters mit Verfügungsbefugnis regelmäßig der Fall ist, wird das Unternehmen fast ausnahmslos auf neue Liquidität angewiesen sein3 (zur Betriebsfortführung und ihrer Finanzierung im Insolvenzantragsverfahren s. auch Rz. 21.1 ff.). Solche Liquidität kann in Form von Massebarkrediten oder – was in der Praxis weitaus häufiger vorkommt – in Form von Massedarlehen durch die Überlassung von Verwertungserlösen (sogenannte unechte Massedarlehen) zur Verfügung gestellt werden. aa) Beweggründe für die Gewährung von Massedarlehen

17.95

Für ein Kreditinstitut, das bereits mit Krediten bei der GmbH engagiert ist, kann die Fortführung des Geschäftsbetriebs im vorläufigen, und später im eröffneten, Insolvenzverfahren wirtschaftlich sinnvoll sein. Durch eine Fortführung kann eine möglichst optimale Verwertung der Masse erreicht werden. Insbesondere wenn dem Kreditinstitut Sicherheiten aus dem Umlaufvermögen bestellt sind, wird sich beispielsweise die Aufarbeitung von Halbfertigerzeugnissen zu fertigen Waren meist lohnen, da diese einen höheren Verkaufswert haben werden, auch wenn das Kreditinstitut in der Regel nicht unmittelbar vom Werthaltigmachen der sicherungsübereigneten Waren und der Sicherungshalber abgetretenen Forderungen profitiert (s. Rz. 17.89). Durch die Abarbeitung bestehender Aufträge wird zudem das Risiko gesenkt, dass Vertragspartner der GmbH beim Einzug der Forderungen Aufrechnungs- und Zurückbehaltungsrechte geltend machen werden. Gegenstände des Anlagevermögens, zumal wenn sie speziell auf die besonderen Bedürfnisse des Unternehmens zugeschnitten sind, behalten ihren Wert eher als in einem Zerschlagungsszenario. Ebenso bleibt die Möglichkeit einer Sanierung des Unternehmens oder des Verkaufs seines Geschäftsbetriebs im Ganzen oder zumindest in Teilen im Rahmen einer übertragenden Sanierung erhalten. bb) Massebarkredit

17.96

Kann der vorläufige Insolvenzverwalter auf Grundlage einer überzeugenden Fortführungsplanung davon überzeugen, dass die Rückführung eines Barkredits gesichert ist, bestehen Chancen, 1 Ehricke/Behme in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 39 InsO Rz. 14. 2 Zum Recht des vorläufigen Insolvenzverwalters, schon im Eröffnungsverfahren Verträge des Schuldners zu kündigen, Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 59 f.; Vallender in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 54 f.; Uhlenbruck, KTS 1994, 169, 180. 3 Zur Kreditfinanzierung der Unternehmensfortführung im Insolvenzverfahren s. auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.365 ff.; Wittig, DB 1999, 197 ff.

648 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.99 § 17

dass Kreditinstitute bereit sind, die Sanierung durch die Gewährung eines Massebarkredits zu unterstützen. Sofern das Unternehmen noch neue werthaltige Sicherheiten stellen kann, erhöht das die Chancen. cc) Massedarlehen durch Überlassung von Sicherheitenerlösen Wie bereits dargestellt, ist ein Kreditinstitut, dem Umlaufsicherheiten bestellt sind, spätestens dann, wenn es Kenntnis von dem Insolvenzantrag erhalten hat, gezwungen, Kredite zu kündigen und erteilte Einziehungs-, Verarbeitungs- und Veräußerungsermächtigungen zu widerrufen, um ein Abschmelzen des anfechtungsfesten Sicherheitenbestandes zu verhindern1. In diesem Fall kann das Kreditinstitut die erforderliche Liquidität auch dadurch zur Verfügung stellen, dass es dem vorläufigen Insolvenzverwalter die Sicherheitenerlöse aus den Umlaufsicherheiten als Darlehen überlässt, als sog. unechtes Massedarlehen2.

17.97

dd) Voraussetzungen Allerdings wird ein Kreditinstitut sowohl einen Massebarkredit als auch ein unechtes Massedarlehen in der Regel nur gewähren, wenn die folgenden Voraussetzungen vorliegen3:

17.98

– Der vorläufige Insolvenzverwalter kann eine in sich schlüssige und plausible Planung für die Fortführung des Unternehmens vorlegen. Diese enthält insbesondere eine Strategie für die Sanierung des Unternehmens und einen realistischen Finanzplan, der die Finanzierung für die Fortführung des Unternehmens mindestens für die nächsten sechs Monate darstellt;

– In dem Fall, dass ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet wurde: Vertrauenswürdige Geschäftsführung der GmbH, die durch einen erfahrenen sachverständigen Restrukturierungsexperten verstärkt wurde oder von einem solchen unterstützt wird, ohne dass er in die Organstellung eingetreten ist; – Vertrauenswürdiger vorläufiger Insolvenzverwalter; – Ist ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt worden, sollte die Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses zum Kreditvertrag vorliegen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Gläubigervertreter von dem Massedarlehen positive Kenntnis haben und dieses mittragen; – Unabhängig davon ist gemäß § 160 Abs. 2 InsO analog die Genehmigung des vorläufigen Gläubigerausschusses bzw. wenn ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung einzuholen, wenn es sich bei dem Massedarlehen um ein Darlehen handelt, das die Insolvenzmasse erheblich belastet (§ 160 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 InsO). ee) Entstehen von Masseverbindlichkeiten Eine unabdingbare Voraussetzung für die Bereitschaft eines Kreditinstituts, in einem vorläufigen Insolvenzverfahren neuen Kredit zu gewähren, wird allerdings sein, dass die Forderungen aus einer solchen Kreditgewährung im anschließenden Insolvenzverfahren insoweit privilegiert sind, dass sie bei einer Liquidation des Schuldnervermögens bevorrechtigt befrie1 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 204 = ZIP 2008, 183. 2 Mustervertrag für einen unechten Massekredit bei Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.372c. 3 Im Wesentlichen wie hier: Huber, ZInsO 2013, 1, 10.

Kuder/Unverdorben | 649

17.99

§ 17 Rz. 17.99 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

digt werden bzw. von einer vergleichsweisen Herabsetzung der Verbindlichkeit des Schuldners im Insolvenzplan nicht betroffen sind1. Eine solche Privilegierung genießen Forderungen aus neuen Kreditverträgen, die mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter abgeschlossen werden, dann, wenn sie gemäß § 55 Abs. 2 InsO zu Masseverbindlichkeiten werden. Ob Forderungen aus neuen Kreditverträgen nach § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeiten privilegiert sind, hängt von der Stellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ab2. (1) Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter

17.100

Kennzeichnend für den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter ist, dass im Eröffnungsverfahren kein allgemeines Verfügungsverbot als Sicherungsmaßnahme angeordnet wird. Damit geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Insolvenzschuldners nicht nach § 22 Abs. 1 InsO auf den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter über; und Verbindlichkeiten, die im Eröffnungsverfahren begründet werden, gelten grundsätzlich nicht gemäß § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeiten, selbst wenn der schwache vorläufige Insolvenzverwalter am Abschluss der entsprechenden Verträge mitgewirkt hat3.

17.101

Das Insolvenzgericht kann aber den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter ermächtigen, bestimmte Verbindlichkeiten schon im Eröffnungsverfahren mit dem Status von Masseverbindlichkeiten im eröffneten Insolvenzverfahren zu begründen4. Dabei hat der BGH den Insolvenzgerichten aufgegeben, dass in einer entsprechenden Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters das jeweilige Insolvenzgericht selbst die einzelnen Maßnahmen bestimmt zu bezeichnen hat, zu denen der vorläufige Verwalter verpflichtet und berechtigt sein soll. Eine entsprechende Ermächtigung muss aus Gründen der Rechtsklarheit und des gebotenen Schutzes von Vertragspartnern in der gerichtlichen Anordnung selbst unmissverständlich zu erkennen geben, mit welchen Einzelbefugnissen – nach Art und Umfang – der vorläufige Insolvenzverwalter ausgestattet ist5. Eine pauschale Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters ist unzulässig6.

17.102

Für die Praxis der Kreditwirtschaft bedeutet dies einerseits, dass bei Vorliegen einer entsprechenden Ermächtigung im Einzelfall auch an einen schwachen Insolvenzverwalter Massekre1 Nach zutreffender Auffassung von Uhlenbruck, ZBB 1992, 284, wäre wegen des nicht zu deckenden Kreditbedarfs eine Sanierung von notleidenden Unternehmen in den meisten Fällen von vornherein ausgeschlossen, wenn die im Eröffnungsverfahren oder spätestens im eröffneten Insolvenzverfahren neu gewährten Kredite keine Privilegierung erführen. 2 Dazu auch Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 218 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.362 ff.; Undritz, NZI 2003, 136; Prütting/Stickelbrock, ZIP 2002, 1608; Haarmeyer/Pape, ZIP 2002, 845; Smid, DZWIR 2002, 444; Wittig, DB 1999, 197 ff. 3 BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 61/08, NZI 2009, 474 Rz. 13 = ZIP 2009, 1477; BGH v. 24.1.2008 – IX ZR 201/06, WM 2008, 742 Rz. 9 = ZIP 2008, 608; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, WM 2005, 240 = ZIP 2005, 314; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625. 4 Grundlegend BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888; ebenso BGH v. 4.12.2014 – IX ZR 166/14, ZInsO 2015, 261; BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, NZI 2012, 365; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, WM 2005, 240. Zu dieser Rechtsprechung auch Laroche, NZI 2010, 965; Undritz, NZI 2003, 136; Prütting/Stickelbrock, ZIP 2002, 1608; Haarmeyer/Pape, ZIP 2002, 845; Smid, DZWIR 2002, 444. 5 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 222. 6 BGH v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, ZIP 2016, 1295 Rz. 21.

650 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.104 § 17

dite ausgereicht werden können; also Kredite, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Rang von Masseverbindlichkeiten zu befriedigen sind. Andererseits wird die Kreditwirtschaft die Vorgabe des BGH nach einer möglichst präzisen Ermächtigung durch das jeweilige Insolvenzgericht sehr ernst zu nehmen haben und deshalb darauf bestehen, dass das Insolvenzgericht in seinem Beschluss zumindest den Betrag des Massekredits, zu dessen Aufnahme der schwache vorläufige Insolvenzverwalter ermächtigt werden soll, festlegt1. In der Praxis wird ein Kreditinstitut auf einer Ermächtigung des Insolvenzgerichts bestehen, die möglichst viele weitere Konditionen des genehmigten Massekredits bestimmt (z.B. Kreditart – Bar-, Diskont-, Avalkredit, Verwendungszweck, Betrag, Laufzeit, Zinskonditionen, Besicherung), um die Anforderungen des BGH an eine unmissverständliche Einräumung von Einzelbefugnissen mit Festlegung von Art und Umfang sicher zu erfüllen. Zu empfehlen ist, den ausgehandelten Vertrag dem Insolvenzgericht als Grundlage für seine Entscheidung zukommen zu lassen. (2) Vorläufiger Insolvenzverwalter mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt Fehlt eine spezielle Ermächtigung zur Kreditaufnahme durch das Insolvenzgericht, so kommt Verbindlichkeiten, die mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters begründet werden, auch dann keine Privilegierung als Masseverbindlichkeiten zu, wenn im Eröffnungsverfahren als Sicherungsmaßnahme zwar kein Verfügungsverbot, aber immerhin ein allgemeiner Zustimmungsvorbehalt durch das Insolvenzgericht angeordnet ist2. Nur der starke vorläufige Insolvenzverwalter kann auf Grund des allgemeinen Verfügungsverbots gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO umfassend für den Schuldner handeln. Dagegen bewirkt ein Zustimmungsvorbehalt gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO nur, dass der vorläufige Insolvenzverwalter wirksame rechtsgeschäftliche Verfügungen des Schuldners zu verhindern vermag. Allein auf Grund eines Zustimmungsvorbehalts ist der vorläufige Insolvenzverwalter jedoch rechtlich nicht in der Lage, den Abschluss rechtswirksamer Verpflichtungsgeschäfte durch den Schuldner während des Eröffnungsverfahrens zu verhindern. Dementsprechend können solche Verbindlichkeiten auch nur Insolvenzforderungen begründen. An dieser Beurteilung ändert auch eine pauschale gerichtliche Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters, „mit rechtlicher Wirkung für den Schuldner zu handeln“, nichts. Eine solche Ermächtigung ist vielmehr nach § 22 Abs. 2 Satz 1 InsO unzulässig, da das Insolvenzgericht selbst im Einzelnen die Rechte festlegen muss, die dem vorläufigen Verwalter eingeräumt werden, und schon aus Gründen der Rechtsklarheit Verfügungsermächtigungen nicht pauschal in das Ermessen des vorläufigen Insolvenzverwalters stellen darf3.

17.103

(3) Starker vorläufiger Insolvenzverwalter Wird ein Darlehen an einen starken vorläufigen Insolvenzverwalter i.S. von § 22 Abs. 1 InsO ausgereicht, ist also durch das Insolvenzgericht im Eröffnungsverfahren ein allgemeines Verfügungsverbot gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO angeordnet worden, so führt diese Kreditaufnahme bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 55 Abs. 2 InsO zu Massever1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.375; Kirchhof, ZInsO 2004, 57. 2 BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, NZI 2012, 365; BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 61/08, NZI 2009, 474 Rz. 13; BGH v. 24.1.2008 – IX ZR 201/06, WM 2008, 742 Rz. 9; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, WM 2005, 240; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888. Zu dieser Rechtsprechung auch Laroche, NZI 2010, 965; Undritz, NZI 2003, 136; Prütting/Stickelbrock, ZIP 2002, 1608; Haarmeyer/Pape, ZIP 2002, 845; Smid, DZWIR 2002, 444; Undritz, NZI 2003, 136. 3 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 222.

Kuder/Unverdorben | 651

17.104

§ 17 Rz. 17.104 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

bindlichkeiten1. Das Insolvenzgericht kann den starken vorläufigen Insolvenzverwalter auch nicht ermächtigen, nur Insolvenzforderungen zu begründen, die keine Privilegierung als Masseforderungen genießen2. In der Praxis zieht die Kreditwirtschaft für die Ausreichung eines Massekredits die Einzelermächtigung des schwachen Insolvenzverwalters dem allgemeinen Verfügungsverbot vor, um zu verhindern, dass die Forderungen aus den Massekrediten mit einer Vielzahl von anderen Masseverbindlichkeiten, die der starke vorläufige Insolvenzverwalter gemäß § 55 Abs. 2 InsO zwangsläufig begründet, konkurrieren (zum wirtschaftlichen Nutzen der Privilegierung als Massekredit angesichts dieser Konkurrenz zugleich bei Rz. 17.105 ff.).

(4) Wirtschaftlicher Nutzen der Privilegierung als Massekredit

17.105

Ist durch Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots oder durch die Ermächtigung des Insolvenzgerichts für den Einzelfall sichergestellt, dass aus der Kreditgewährung Masseverbindlichkeiten entstehen, die gemäß § 55 InsO aus der Insolvenzmasse vor den Forderungen aller Insolvenzgläubiger zu befriedigen sind, kann daran gemäß § 217 InsO auch ein Insolvenzplan nichts ändern, da der Insolvenzplan nach dieser Regelung nur die Befriedigung der absonderungsberechtigten Gläubiger und der Insolvenzgläubiger, nicht aber der Massegläubiger abweichend von den Vorschriften der Insolvenzordnung regeln darf.

17.106

Allerdings wird die Aufnahme neuer Kredite auch im Falle des vorläufigen Verwalters, auf den die Verfügungsbefugnis wegen der Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots übergegangen ist oder der vom Insolvenzgericht ausdrücklich zur Aufnahme von Massekrediten ermächtigt wurde, dadurch erschwert, dass die aus einer Gewährung neuer Kredite an den vorläufigen Verwalter resultierenden Masseverbindlichkeiten mit anderen Verbindlichkeiten konkurrieren. Insoweit kann auf die Ausführungen zu den Massedarlehen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (s. Rz. 27.27 ff.), wo es zur gleichen Konkurrenz kommt, verwiesen werden.

17.107

Diese Konkurrenz mit anderen Masseverbindlichkeiten birgt ein Ausfallrisiko für den Kreditgeber, weil im Fall der Einstellung des eröffneten Insolvenzverfahrens mangels Masse die Forderungen aus einem dem vorläufigen Insolvenzverwalter im Insolvenzantragsverfahren gewährten Neukredit unter den Masseverbindlichkeiten nur den 3. Rang nach den Kosten des Insolvenzverfahrens (gemäß § 54 InsO sind dies die Gerichtskosten sowie Vergütungen und Auslagen des Insolvenzverwalters und der Gläubigerausschussmitglieder) und den nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründeten Masseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) erhalten3. Der Insolvenzverwalter muss in diesem Fall diese Befriedigungsreihenfolge einhalten und darf die Forderungen des Kreditinstituts nicht in vollem Umfang bedienen, auch wenn er deswegen möglicherweise nach §§ 60, 61 InsO persönlich haftet4. Wird die Eröffnung mangels Masse abgelehnt, kommt es zu gar keiner Verteilung nach der Rangordnung, wie sie für das eröffnete Verfahren vorgesehen ist5 (vgl. zur Abweisung und Einstellung mangels Masse Rz. 22.1 ff.).

1 BGH v. 4.12.2014 – IX ZR 166/14, ZInsO 2015, 261; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625. 2 AG Hamburg v. 8.11.2002 – 67g IN 379/02, ZInsO 2002, 1197 = ZIP 2002, 2227. 3 Darauf weisen auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.367; Uhlenbruck, GmbHR 1995, 81, 195, 200, und Hess/Weis, InVo 1996, 225, 226, hin. 4 BGH v. 14.10.2010 – IX ZB 214/08, ZInsO 2010, 2188; Strotmann/Tetzlaff, ZInsO 2011, 559. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.367.

652 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.110 § 17

(5) Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters Einen gewissen Ausgleich für das Risiko, das somit dem Kreditgeber verbleibt, selbst wenn die im Insolvenzeröffnungsverfahren an den vorläufigen Verwalter gewährten Kredite den Vorrang von Masseverbindlichkeiten genießen, bietet die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 61 InsO (dazu auch Rz. 24.236 ff.). Danach hat der vorläufige Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis dafür einzustehen, dass die Masseverbindlichkeiten, die durch seine Rechtshandlungen begründet worden sind, aus der Insolvenzmasse voll erfüllt werden können. Könnte ein Neukredit wegen Massearmut nicht zurückgezahlt werden, hätte der vorläufige Verwalter dafür Schadensersatz zu leisten1. Allerdings trifft den vorläufigen Insolvenzverwalter diese Schadensersatzpflicht nach § 61 Satz 2 InsO dann nicht, wenn er bei Begründung der Masseverbindlichkeiten nicht erkennen konnte, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde2. Insoweit stellt die Rechtsprechung an die Entlastung des vorläufigen Verwalters relative hohe Anforderungen und verlangt u.a., dass regelmäßig bzw. bei Betriebsfortführung immer der Verwalter einen zur Liquiditätssteuerung geeigneten Finanzplan unter Gegenüberstellung von Mittelbedarf und den zu dessen Deckung vorhandenen und zu erwartenden Mitteln aufstellt und laufend fortschreibt, um zu prüfen, ob die Masseverbindlichkeiten voraussichtlich erfüllt werden können3. Wegen der Möglichkeit der Entlastung scheidet die Haftung des vorläufigen Verwalters dennoch häufig aus und kann für die Kreditentscheidung nicht mit der eines Bürgen verglichen werden kann. Darüber hinaus dürfte es für einen Kreditgeber, an den von einem vorläufigen Insolvenzverwalter die Bitte um einen Massekredit im Antragsverfahren herangetragen wird, angesichts des Missverhältnisses zwischen Kreditsumme und finanzieller Leistungsfähigkeit des Verwalters nahezu immer ausscheiden, die Kreditentscheidung auf die (mögliche) Haftung des Verwalters zu stützen.

17.108

(6) Besicherung neuer Kredite Wegen des wirtschaftlichen Risikos selbst bei Einordnung als Masseverbindlichkeit wird ein Kreditgeber, der sich, um die Fortführung des Unternehmens zu ermöglichen, zur Gewährung eines neuen (Masse-)Kredites schon im Insolvenzeröffnungsverfahren entscheidet, ein starkes Interesse an einer Besicherung des Neukredits haben. Für die Besicherung des Massedarlehens wird in der Regel auf die im Rahmen der Betriebsfortführung neu geschaffenen Vermögenswerte zurückgegriffen. Hierbei handelt es sich vor allem um die nach dem Widerruf der Veräußerungsermächtigung neu erworbenen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, die neu produzierten Waren und im vorläufigen Verfahren erbrachten Dienstleistungen. Über die Entwicklung des neuen Umlaufvermögens muss der vorläufige Insolvenzverwalter dem Kreditinstitut entsprechende Plan- und Ist-Zahlen zur Verfügung stellen.

17.109

Ist gegen den Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot erlassen, so ist der vorläufige Verwalter befugt, Sicherheiten aus dem Vermögen der insolventen GmbH zu bestellen4. Denn ge-

17.110

1 Bespiele für solche Haftungsfälle: BGH v. 17.12.2014 – IV ZR 90/13, NZI 2015, 271 = ZIP 2015, 184; BGH v. 13.2.2014 – IX ZR 313/12, NZI 2014, 400 = ZIP 2014, 736; OLG Brandenburg v. 3.7.2003 – 8 U 58/02, NZI 2003, 552; LG Cottbus v. 8.5.2002 – 3O 277/00, NZI 2002, 441; Strotmann/Tetzlaff, ZInsO 2011, 559; Kaufmann, NZI 2004, 117; Vallender, NZI 2003, 554. 2 Zur Auslegung dieser subjektiven Haftungsvoraussetzungen Begr. RegE der Insolvenzordnung, BR-Drucks. 1/92, § 72 RegE S. 129 f. 3 OLG Brandenburg v. 3.7.2003 – 8 U 58/02, NZI 2003, 552; OLG Hamm v. 28.11.2002 – 27 U 87/02, NZI 2003, 150; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 61 InsO Rz. 24 ff. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.367.

Kuder/Unverdorben | 653

§ 17 Rz. 17.110 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

mäß § 22 Abs. 1 InsO geht die volle Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über, wenn dem Schuldner ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird1.

17.111

Daneben steht den Insolvenzgerichten auch die Befugnis zu, ohne Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter nicht nur zur Aufnahme eines Massekredits, sondern auch zur wirksamen Besicherung dieses Massekredits aus dem Vermögen des Schuldners zu ermächtigen2. Wie bei der Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten ist aber auch dafür Voraussetzung, dass das Insolvenzgericht dem vorläufigen Insolvenzverwalter nach Art und Umfang unmissverständliche Einzelbefugnisse einräumt, also insbesondere die Art der Besicherung (z.B. Grundschuld auf dem Betriebsgrundstück, Globalzession der Forderungen aus Lieferung und Leistung, Sicherungsübereignung der Vorräte) und den Betrag (soweit einschlägig, also insbesondere bei einer Grundschuld) in dem Gerichtsbeschluss festlegt. Ist nur ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet, muss die Sicherheit dagegen durch den Schuldner selbst, also mit den Unterschriften der Geschäftsführung der GmbH oder der Vertretungsberechtigten bestellt werden. Dazu ist dann die Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters, dokumentiert durch Mitunterzeichnung des Sicherungsvertrages, erforderlich.

17.112

Die von dem vorläufigen Verwalter oder mit seiner Zustimmung bestellten Sicherheiten für einen Neukredit kann der spätere Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung dem Kreditgeber auch nicht etwa durch Anfechtung wieder entziehen. Rechtshandlungen eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters, auf den wegen Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis übergegangen ist, sind generell nicht anfechtbar3, weil seine Rechtshandlungen dem eröffneten Verfahren zugerechnet werden (§ 55 Abs. 2 InsO). Ein Insolvenzverwalter kann zwar grundsätzlich Rechtshandlungen des Schuldners anfechten, denen er selbst im Eröffnungsverfahren als vorläufiger schwacher Insolvenzverwalter zugestimmt hat4, jedoch schafft der vorläufige Insolvenzverwalter mit seiner Zustimmung zur Bestellung der Sicherheiten einen Vertrauenstatbestand, den er später als endgültiger Insolvenzverwalter nicht mehr zerstören kann. Das Kreditinstitut gibt im Vertrauen auf die Zusage des vorläufigen Insolvenzverwalters Sicherheiten auf und lässt den Schuldner über die Erlöse aus diesen Altsicherheiten verfügen. Im Gegenzug erhält das Kreditinstitut neue Sicherheiten, so dass sich letztlich der Bestand an Sicherheiten nicht ändert und die Position des Kreditinstituts sich nicht verbessert. Eine Anfechtung der Vereinbarung neuer Sicherheiten im Zusammenhang mit einem unechten Massedarlehen durch den Insolvenzverwalter ist daher ausgeschlossen, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt seine Zustimmung zu dem Vertrag erklärt hatte. Die Rechtsprechung schließt daher eine solche Anfechtung aus, wenn der schwache vorläufige Insolvenzverwalter vom Insolvenzgericht im Wege der Einzelermächtigung zur Bestellung von Sicherheiten ermächtigt wurde5 oder im Rahmen des Zustimmungsvorbehalts bei der Bestellung der Sicherheiten zugestimmt hat und 1 Dazu Begr. RegE der Insolvenzordnung, BR-Drucks. 1/92, § 26 RegE S. 116 f. 2 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625; Strotmann/Tetzlaff, ZInsO 2011, 559. 3 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, NZI 2014, 321 Rz. 11 = ZIP 2014, 584 = GmbHR 2014, 417; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, WM 2005, 240 = ZIP 2005, 314; Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 22 InsO Rz. 39; Thole in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 129 InsO Rz. 35 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.367. 4 BGH v. 30.9.2010 – IX ZR 177/07, ZInsO 2010, 2133. 5 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, NZI 2014, 321 Rz. 11 = GmbHR 2014, 417 = ZIP 2014, 584.

654 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.132 § 17

durch sein Handeln einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand beim Empfänger begründet hat, so dass dieser infolgedessen nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) damit rechnen durfte, ein nicht mehr entziehbares Recht erlangt zu haben1. Im Übrigen scheidet bei der Besicherung eines im Eröffnungsverfahren neu gewährten Kredits die Anfechtung gemäß § 142 InsO ohnehin aus, da in aller Regel ein Bargeschäft vorliegt, also der Kreditbetrag und der Wert der Sicherheiten in einem angemessenen Verhältnis stehen und die vertraglich vereinbarte Sicherheitenbestellung mit der Kreditauszahlung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang, nur durch die übliche Bearbeitungszeit voneinander getrennt, steht2. Die Besicherung wäre im eröffneten Verfahren nur anfechtbar, wenn die Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 bis 3 InsO vorlagen und das Kreditinstitut erkannt hat, dass der Schuldner unlauter handelte3.

17.113

17.114–17.130

Einstweilen frei.

IV. Verwertung von Kreditsicherheiten Mit Stellung des Insolvenzantrags stellt sich für den gesicherten Kreditgeber immer auch die Frage, ob und durch wen Sicherheiten verwertet werden können, die von der insolventen GmbH für bestehende Kredite bestellt worden sind4. In der Praxis konzentriert sich dies häufig auf die Verwertung von zur Sicherung abgetretenen Forderungen im Insolvenzeröffnungsverfahren, da der Einzug der abgetretenen Forderungen schnell und unkompliziert erfolgen kann. Entsprechend hat der gesicherte Kreditgeber ein großes Interesse daran, durch schnellen Forderungseinzug möglichst umgehend den gesicherten Kredit zurückzuführen, während umgekehrt der vorläufige Insolvenzverwalter daran interessiert ist, durch eigene Verwertung oder durch Inkasso im laufenden Geschäftsbetrieb die Liquidität für die Fortführung des Unternehmens im vorläufigen Insolvenzverfahren zu nutzen. Ähnliches gilt aber auch für die Verwertung von beweglichen Sachen im Umlaufvermögen, also vor allem für die Vorräte. Mit der Frage nach einer möglichst schnellen Verwertung zur Schaffung von Liquidität ist der Wunsch des vorläufigen Insolvenzverwalters verbunden, bereits für die Verwertungen im vorläufigen Insolvenzverfahren die Kostenbeiträge gemäß §§ 170, 171 InsO für die Masse zu vereinnahmen.

17.131

1. Verwertung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter a) Befugnis zur Verwertung Grundsätzlich besteht im Eröffnungsverfahren für den starken vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. für den Schuldner mit Zustimmung des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters eine Befugnis zur „Sicherheitenverwertung“ nur bei der Unternehmensfortführung im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsverkehrs, und nur soweit dies nicht gegen die Regelun1 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, NZI 2014, 321 Rz. 11 = GmbHR 2014, 417 = ZIP 2014, 584; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, WM 2006, 537 = ZIP 2006, 431; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, WM 2005, 240 = ZIP 2005, 314. 2 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, WM 2002, 1888 = ZIP 2002, 1625; Kirchhof/Piepenbrock in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 142 InsO Rz. 26. 3 Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.160 ff. 4 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1000 ff.; Ganter, NZI 2007, 549; Kuder, ZIP 2007, 1690.

Kuder/Unverdorben | 655

17.132

§ 17 Rz. 17.132 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

gen des Sicherungsvertrages verstößt1. Für den starken vorläufigen Insolvenzverwalter, auf den die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wegen Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots für den Schuldner übergegangen ist, ergibt sich dies aus § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 InsO, wonach er das Vermögen des Schuldners zu sichern und zu erhalten hat und dabei insbesondere das schuldnerische Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortführen soll. Diese Verwaltungsbefugnis berechtigt den starken vorläufigen Insolvenzverwalter zur „Verwertung“ von Sicherheiten insoweit, wie dies bei der Unternehmensfortführung im Rahmen des Geschäftsverkehrs erfolgt und nicht gegen die Regelungen des Sicherungsvertrages verstößt. Dabei erlischt die üblicherweise in Sicherungsübereignungs- und Sicherungszessionsverträgen für den Schuldner vorgesehene Verfügungs- bzw. Einziehungsbefugnis ohne ausdrücklichen Widerruf durch den Sicherungsnehmer weder mit dem Insolvenzantrag oder mit der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen im Insolvenzeröffnungsverfahren2. Daran hat auch die Schaffung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO nichts geändert. Der BGH hat dazu festgestellt, dass Sinn und Zweck der § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, § 157 InsO dagegen sprechen, dass Einziehungs-, Veräußerungs- und Verarbeitungsermächtigungen mit der Stellung des Insolvenzantrags oder der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen ohne Weiteres erlöschen, da die Produktion und der Verkauf sofort eingestellt werden müssten und eine Fortführung des Unternehmens in Folge dessen kaum möglich sei3.

17.133

Deshalb ist der starke vorläufige Insolvenzverwalter insbesondere berechtigt, bis zu einem ausdrücklichen Widerruf der Verfügungs- bzw. Einziehungsbefugnis weiterhin im ordnungsgemäßen Geschäftsverkehr sicherungsübereignete Sachen des Umlaufvermögens zu veräußern und als Sicherheit abgetretene Forderungen einzuziehen. Entsprechendes gilt bei Einsetzung eines schwachen Insolvenzverwalters ohne Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots für Veräußerungen sicherungsübereigneter Waren und den Einzug von Forderungen durch den Schuldner bzw. – bei Anordnung eines allgemeinen Zustimmungsvorbehalts gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO – durch den Schuldner mit Zustimmung des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters.

17.134

Allerding ist der vorläufige Verwalter verpflichtet, die Erlöse auf einem offenen Treuhandkonto zu Gunsten des Sicherungsnehmers zu separieren, da nur dann dem geänderten Sicherungsbedürfnis des Sicherungsnehmers ausreichend Rechnung getragen wird. Andernfalls erfolgt die Einziehung bzw. Veräußerung nicht im ordnungsgemäßen Geschäftsverkehr4. Bei der Sicherungsübereignung beinhaltet die Einwilligung in die Veräußerung im ordnungsgemäßen Geschäftsverkehr die Annahme, die Veräußerung sei mit dem Sicherungsbedürfnis des Zessionars vereinbar. Das Gleiche gilt für die Einziehungsermächtigung im Rahmen eines Globalzessionsvertrages. Nach Stellung des Insolvenzantrags ändert sich aber das Sicherungsinteresse des Sicherungsnehmers. Es ist die Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters, die Interessen der Sicherungsnehmer zu wahren. Deswegen darf die Einziehung sicherungshalber abgetretener Forderungen nur auf ein offenes Treuhandkonto des vorläufigen Insolvenzverwalters zu Gunsten des Sicherungsnehmers und nicht auf das allgemeine Geschäftskonto 1 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1006 ff. (Verwertung von Sicherungsübereignungen), Rz. 6.1060 ff. (Verwertung von Sicherungsabtretungen). 2 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274, Rz. 25 ff. = ZIP 2019, 472; BGH v. 6.4.2000 – IX ZR 422/98, NZI 2000, 306; OLG Frankfurt v. 6.12.2006 – 23 U 149/05, WM 2007, 1178 = ZIP 2000, 895; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1001; Kirchhof, ZInsO 1999, 436. 3 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 28 ff. = ZIP 2019, 472. 4 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 36 ff. = ZIP 2019, 472.

656 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.138 § 17

der Schuldnerin erfolgen. Die Einziehung von Forderungen auf ein allgemeines Geschäftskonto verhindert nämlich das Entstehen einer insolvenzfesten Rechtsposition des Sicherungsnehmers und ist damit unberechtigt im Sinne des § 48 InsO1. Sicherungsübereignete Sachen dürfen ebenfalls nur weiterveräußert werden, wenn das Entgelt dafür auf einem offenen Treuhandkonto des vorläufigen Insolvenzverwalters zu Gunsten des Sicherungsnehmers eingezogen wird2. Liegt eine unberechtigte Veräußerung im Sinne des § 48 InsO vor, steht dem betroffenen Gläubiger ein Ersatzaussonderungsanspruch gegen die Masse zu3. Kreditinstitute werden in der Regel nicht bereit sein, auf den Widerruf der Einziehungsbefugnis zedierter Forderungen und der Verarbeitungs- und Veräußerungsbefugnis zu verzichten. Denn mit einem solchen Verzicht würde infolge der Rechtsprechung des BGH4 der Bestand an Sicherheiten verringert werden. In der Praxis werden daher Kreditverträge außerordentlich gekündigt und Einzugs-, Verarbeitungs- und Veräußerungsermächtigungen widerrufen, sobald das Kreditinstitut Kenntnis von dem Insolvenzantrag bekommt.

17.135

Denkbar ist aber, dass das Kreditinstitut dem vorläufigen Insolvenzverwalter ein unechtes Massedarlehen zur Verfügung stellt. Das Kreditinstitut hält dabei die Einzugsermächtigung und die Veräußerungsbefugnis aufrecht bzw. räumt sie wieder ein und der vorläufige Insolvenzverwalter tritt im Gegenzug neu entstandene Forderungen sicherungshalber ab bzw. übereignet neu eingebrachte Sachen sicherungshalber.

17.136

Eine darüber hinausgehende, echte Verwertungsbefugnis im Insolvenzeröffnungsverfahren steht dem starken vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. dem Schuldner zusammen mit dem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter dagegen nicht zu5. Denn im Verhältnis zu Dritten, also auch zum gesicherten Gläubiger, sind selbst dem starken vorläufigen Verwalter keine weiter gehenden Rechte eingeräumt als dem Schuldner selbst, und die Einschränkungen der §§ 166 ff. InsO für die Rechte des Absonderungsberechtigten gelten erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens6. Deshalb dürfen durch den vorläufigen Insolvenzverwalter und den Schuldner im Insolvenzeröffnungsverfahren keine Verwertungshandlungen erfolgen, die über die normale Geschäftstätigkeit bei Fortführung des schuldnerischen Unternehmens hinausgehen; und selbst die Veräußerung bzw. der Forderungseinzug im Rahmen der Unternehmensfortführung wird unzulässig, wenn der gesicherte Gläubiger auf Grund der vertraglichen Regelungen berechtigterweise die Veräußerungsbefugnis oder die Einziehungsbefugnis widerrufen hat.

17.137

Unabhängig von den vertraglichen Regelungen kann das Insolvenzgericht gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO anordnen, dass Gegenstände, die im Falle der Eröffnung des Verfahrens

17.138

1 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 40 = ZIP 2019, 472. 2 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 79 = ZIP 2019, 472. Im entschiedenen Fall ergab sich diese Verpflichtung des vorläufigen Insolvenzverwalters schon daraus, dass aufgrund der Sicherungsvereinbarung die Forderung aus der grundsätzlich berechtigten Weiterveräußerung an den Sicherungsnehmer vorausabgetreten war. 3 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 18 = ZIP 2019, 472. 4 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, WM 2008, 204 = ZIP 2008, 183. 5 BGH v. 8.9.2016 – IX ZR 52/15, NZI 2016, 946 = ZIP 2016, 2131; BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, NZI 2012, 369 = ZIP 2012, 779; BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 2/06, WM 2007, 895 = ZIP 2007, 827; BGH v. 13.7.2006 – IX ZR 57/05, WM 2006, 1636 = ZIP 2006, 1641; BGH v. 15.5.2003 – IX ZR 218/02, WM 2003, 1367 = ZIP 2003, 1256; BGH v. 11.7.2002 – IX ZR 262/01, WM 2002, 1630 = ZIP 2002, 1630; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor § 166 InsO Rz. 33. 6 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 40; Laroche in Kayser/ Thole, 10. Aufl. 2020, § 22 InsO Rz. 12.

Kuder/Unverdorben | 657

§ 17 Rz. 17.138 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

von § 166 InsO erfasst würden, nicht vom Gläubiger verwertet werden dürfen, sondern von dem vorläufigen Insolvenzverwalter zur Fortführung des Unternehmens des Schuldners eingesetzt werden können1, und zwar sowohl beim starken wie beim schwachen vorläufigen Verwalter2. Dabei hat das Gericht zu beachten, dass es diesen Verwertungsstopp nicht pauschal anordnen darf, sondern nur für solche Vermögenswerte, bei denen nach seiner Überzeugung die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen3. Im Rahmen dieser Befugnis ist der vorläufige Insolvenzverwalter berechtigt zur Nutzung von Gegenständen des Anlagevermögens, die einem Gläubiger sicherungsübereignet sind, und zur Einziehung von Forderungen, die an einen Gläubiger als Sicherheit abgetreten sind. Die bislang strittige Frage, ob das Insolvenzgericht in entsprechender Anwendung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO auch die Verwertung sicherungsübereigneter Waren des Umlaufvermögens stoppen kann, hat der BGH für die Praxis inzwischen entschieden und klar verneint. Das Insolvenzgericht kann den vorläufigen Insolvenzverwalter nicht gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO ermächtigen, sicherungsübereignete Gegenstände zu verarbeiten und zu veräußern4.

17.139

Der Nutzen dieser Maßnahme für die Insolvenzmasse ist insoweit deutlich eingeschränkt, als sie nur soweit reicht, wie die Sache als solche erhalten bleibt und nicht im Rahmen der Verwendung verbraucht wird. Zu beachten ist weiterhin, dass die Verwertungserlöse nicht zur Fortführung des Betriebs eingesetzt werden dürfen5. Der vorläufige Insolvenzverwalter hat vielmehr den Verwertungserlös separiert von der Insolvenzmasse auf einem offenen Treuhandkonto für den Sicherungsnehmer zu verwalten und nach Abzug der Kostenbeiträge grundsätzlich unverzüglich auszukehren (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Satz 3, § 170 Abs. 1 Satz 2 InsO)6. Er darf jedoch in Fällen, in denen es zweifelhaft ist, ob und in welchem Umfang Aus- oder Absonderungsrechte des Gläubigers bestehen, dem (endgültigen) Insolvenzverwalter diese Klärung überlassen7.

17.140

Keinesfalls darf der vorläufige Insolvenzverwalter den Verwertungserlös zur Finanzierung des Insolvenzeröffnungsverfahrens einsetzen, sofern er nicht mit dem Sicherungsgläubiger zuvor eine entsprechende Vereinbarung geschlossen hat8. Der vorläufige Insolvenzverwalter haftet dem Gläubiger auf Schadensersatz gemäß § 60 InsO, wenn er den Auszahlungsanspruch des Gläubigers nicht erfüllen kann, weil er die Erlöse nicht separiert und für den Geschäftsbetrieb verbraucht hat9. 1 Dazu Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 96 ff.; Kuder, ZIP 2007, 1690; Kirchhof, ZInsO 2007, 227; Ganter, NZI 2007, 549; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1082 ff. 2 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 96; Ganter NZI 2007, 549; Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/ 3227, S. 16. 3 BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZInsO 2010, 136 = ZIP 2010, 141. 4 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 32, 35 = ZIP 2019, 472; Ganter, NZI 2020, 295, 296; A.A. Hölzle in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 166 InsO Rz. 27. 5 BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, ZIP 2012, 737. 6 Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 21 InsO Rz. 42; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1088. 7 BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739. 8 BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, ZIP 2012, 737; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1088 f.; Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 16; Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, vor §§ 49–52 InsO Rz. 177 ff.; a.A. für den Erlös aus Globalzessionen noch Ganter, NZI 2010, 551. 9 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 40 = ZIP 2019, 472; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1088.

658 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.143 § 17

Ordnet das Gericht einen Verwertungs- und Einziehungsstopp an, hat der vorläufige Insolvenzverwalter einen wirtschaftlichen Ausgleich an den betroffenen Gläubiger zu leisten. Der Kreditgeber kann zum einen nach § 169 Satz 2 und 3 InsO bei Absonderungsgütern die Zahlung der im ungestörten Vertragsverhältnis vertraglich geschuldeten Zinsen verlangen, jedoch erst ab drei Monaten nach gerichtlicher Anordnung der Nutzungsbefugnis und nur insoweit, wie die Kreditsicherheit als werthaltig anzusehen ist1. Daneben hat der vorläufige Verwalter gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Satz 1 Halbs. 3 InsO Wertersatz für einen etwaigen Wertverlust zu leisten, der durch die Benutzung der sicherungsübereigneten Sache eintritt. Hierbei kommt es auf den Wertverlust an, der nach der Anordnung in der Zeit der tatsächlichen Nutzung eingetreten ist2. Bei der Berechnung des Wertersatzanspruchs ist zu unterscheiden, ob dieser neben einer Nutzungsausfallentschädigung zu zahlen ist oder nicht. Da in den ersten drei Monaten noch keine Nutzungsausfallentschädigung zu leisten ist, ist im Rahmen des Wertersatzanspruchs auch die übliche Abnutzung auszugleichen3. Der eingetretene Wertverlust kann dabei anhand der Kauf- und Rückkaufspreise und nach der Gesamtlebensdauer des Gegenstands ermittelt werden. Dieser Anspruch auf Ausgleichszahlungen entsteht auf Grund besonderer Anordnung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO und ist daher eine Masseforderung im Rang des § 55 InsO4.

17.141

Eine Verwertungsbefugnis des vorläufigen Insolvenzverwalters (ggf. gemeinsam mit dem Schuldner) kann allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen bestehen, wenn bei weiterem Zuwarten mit der Verwertung bis zur Verfahrenseröffnung Gefahr im Verzuge ist5. Immer wieder fordern vorläufige Insolvenzverwalter Kreditinstitute unter Berufung auf die Rechtsprechung dazu auf, an Dritte verpfändete Guthaben an sie auszukehren. Grundsätzlich gewährt § 166 Abs. 2 InsO dem Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren die Verwertungsbefugnis zedierter Forderungen, nicht aber das Verwertungsrecht an Pfandrechten; dieses steht dem Gläubiger gemäß § 173 Abs. 1 InsO zu. Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil abweichend davon entschieden, dass bei Fälligkeit der verpfändeten, nicht aber der gesicherten Forderung, also bei fehlender Pfandreife, dem Insolvenzverwalter das alleinige Einziehungsrecht zustehe6. Diese Entscheidung kann aber nicht einfach auf das vorläufige Insolvenzverfahren übertragen werden, da nach der Systematik des Gesetzes die Sicherheitenverwertung grundsätzlich dem eröffneten Verfahren vorbehalten ist. Erst dann steht auch fest, welche der vom Bundesgerichtshof differenziert dargestellten Konstellationen vorliegt. Darüber hinaus ist selbstverständlich der vorläufige Insolvenzverwalter dann zur Verwertung schon im Insolvenzeröffnungsverfahren berechtigt, wenn er darüber mit dem gesicherten Gläubiger Einigkeit erzielt.

17.142

b) Kostenbeiträge Des Weiteren stellt sich die Frage, ob der vorläufige Insolvenzverwalter Kostenbeiträge für die Insolvenzmasse geltend machen kann. Gemäß §§ 170, 171 InsO erhält der Insolvenzverwalter 1 BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, ZInsO 2006, 433. Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Begrenzung s. BVerfG v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, ZIP 2012, 1252; Laroche in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 21 InsO Rz. 44. 2 BGH v. 8.9.2016 – IX ZR 52/15, NZI 2016, 946 Rz. 7 = ZIP 2016, 2131; BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, NZI 2012, 369 Rz. 14 = ZIP 2012, 779. 3 BGH v. 8.9.2016 – IX ZR 52/15, NZI 2016, 946 Rz. 8 = ZIP 2016, 2131. A.A. Mitlehner, NZI 2016, 946, 948 f. 4 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 101. 5 Sinz in K. Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 166 InsO Rz. 12; Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 325, 352 f. 6 BGH v. 11.4.2013 – IX ZR 176/11, WM 2013, 935 = ZIP 2013, 987.

Kuder/Unverdorben | 659

17.143

§ 17 Rz. 17.143 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

bei der Verwertung von beweglichen Sachen oder Forderungen, an denen Sicherungsrechte bestehen, Kostenbeiträge für die Insolvenzmasse (s. zu den Einzelheiten bei Rz. 27.57 f.; 27.89 ff.; 27.104). Voraussetzung für einen solchen Verwertungskostenbeitrag ist aber, wie die systematische Stellung der Regelungen zeigt, grundsätzlich die berechtigte Verwertung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Deshalb kann der vorläufige Insolvenzverwalter bei Veräußerung oder sonstiger Verwertung von Sicherungsgut grundsätzlich keinen Verwertungskostenbeitrag verlangen1. Eine Ausnahme sieht zum einen die gesetzliche Regelung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Satz 3 InsO vor. Danach stehen die Kostenbeiträge nach §§ 170, 171 InsO, d.h. 4 % Feststellungskosten und, sofern nicht im Einzelfall tatsächlich erheblich höher oder niedriger, pauschal 5 % Verwertungskosten, der Masse zu, wenn das Insolvenzgericht dem vorläufigen Insolvenzverwalter die Einziehungsbefugnis für sicherungszedierte Forderungen übertragen hat2. Zum anderen wird man der Insolvenzmasse in analoger Anwendung von §§ 170, 171 InsO den Kostenbeitrag wie bei Verwertung im eröffneten Insolvenzverfahren dann zugestehen müssen, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter ausnahmsweise wegen Gefahr im Verzug zu Verwertungen zur Sicherung des Schuldnervermögens berechtigt war3. Dagegen scheidet ein Verwertungskostenbeitrag bei zulässiger Veräußerung bzw. zulässigem Forderungseinzug im Rahmen der laufenden Geschäfte aus, da es sich nicht um eine Verwertung im Rechtssinne handelt. Gleiches gilt bei einer Liquidation im Einvernehmen mit dem gesicherten Gläubiger, wobei natürlich der vorläufige Insolvenzverwalter darin frei ist, mit dem Sicherungsnehmer eine einvernehmliche Regelung zum Ausgleich der Verwertungskosten zu Gunsten der Insolvenzmasse zu treffen. Verwertet der vorläufige Insolvenzverwalter schließlich unberechtigt und unter Verletzung der Rechte des absonderungsberechtigten Sicherungsnehmers, kann daraus zu Gunsten der Insolvenzmasse erst recht kein Anspruch auf Kostenausgleich entstehen4.

c) Rechtsfolgen unzulässiger Verwertung 17.144

Hinsichtlich der Rechtsfolgen einer unzulässigen Verwertung durch den vorläufigen Insolvenzverwalter muss zwischen dem Außenverhältnis gegenüber Erwerbern des Sicherungsgutes bzw. den Drittschuldnern bei Sicherungszession und dem Innenverhältnis gegenüber den Verfahrensbeteiligten unterschieden werden.

17.145

Im Außenverhältnis ist die Wirksamkeit der vorgenommenen Verwertungshandlungen, also der Veräußerung beweglicher Sachen oder des Einzugs von Forderungen, nach den allgemeinen Regelungen des Zivilrechts zu beurteilen. Dabei ist die unzulässige Veräußerung von sicherungsübereigneten Sachen grundsätzlich unwirksam, da mangels Eigentum dem Schuldner und damit selbst dem starken vorläufigen Insolvenzverwalter die Verfügungsbefugnis fehlt. Der Absonderungsberechtigte kann die Verfügung gemäß § 185 BGB genehmigen mit der Folge, dass ihm der Erlös nach § 816 Abs. 1 BGB zusteht5. Auch kann der Käufer nach den Regeln der §§ 932 ff. BGB gutgläubig Eigentum erwerben. Entsprechend wird vor Offenlegung der Forderungsabtretung der gute Glaube des Drittschuldners gemäß § 407 Abs. 1 BGB geschützt, so dass selbst ein unberechtigter Einzug zedierter Forderungen durch den vorläufigen 1 BGH v. 13.7.2006 – IX ZR 57/05, WM 2006, 1636 = ZIP 2006, 1641. 2 S. dazu Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 103; Begr. RegE Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens, BT-Drucks. 16/3227, S. 16. 3 A.A. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 170 InsO Rz. 21; offen gelassen durch BGH v. 13.7.2006 – IX ZR 57/05, WM 2006, 1636 = ZIP 2006, 1641. 4 BGH v. 13.7.2006 – IX ZR 57/05, WM 2006, 1636 = ZIP 2006, 1641; Obermüller, DZWIR 2000, 10, 13. 5 BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 2/06, WM 2007, 895 = ZIP 2007, 827.

660 | Kuder/Unverdorben

§ 17 Bankgeschäfte im Insolvenzeröffnungsverfahren | Rz. 17.149 § 17

Insolvenzverwalter im Eröffnungsverfahren gegenüber dem gesicherten Kreditgeber schuldbefreiende Wirkung hat1. Nach Offenlegung kann der Drittschuldner im Eröffnungsverfahren schuldbefreiend aber nur noch an den Sicherungsnehmer leisten. Im Innenverhältnis zu den Verfahrensbeteiligten setzt sich der vorläufige Insolvenzverwalter mit einer unzulässigen Verwertung der Haftung nach § 60 InsO wegen Verletzung seiner insolvenzspezifischen Pflichten aus. Gegenüber dem gesicherten Gläubiger kommt aber diese Haftung nur dann in Betracht, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter einen zu geringen Verwertungserlös erzielt, da das schützenswerte Interesse des gesicherten Gläubigers im Insolvenzverfahren auf den optimalen Verwertungserlös begrenzt ist. Dessen ungeachtet hat aber der gesicherte Gläubiger die Möglichkeit, dem vorläufigen Insolvenzverwalter im Wege der einstweiligen Verfügung die Verwertung, soweit sie nach den obigen Ausführungen unberechtigt wäre, untersagen zu lassen2. Außerdem muss der Insolvenzverwalter die Verwertungserlöse herausgeben, und zwar auch dann, wenn es nicht zur Verfahrenseröffnung kommt3.

17.146

2. Verwertung durch den gesicherten Gläubiger Der gesicherte Gläubiger verliert weder durch den Insolvenzantrag noch durch die Einsetzung eines vorläufigen Insolvenzverwalters die ihm grundsätzlich zustehende Verwertungsbefugnis4. Insbesondere wäre der Gläubiger entsprechend den regelmäßig getroffenen vertraglichen Abreden berechtigt, wegen des mit dem Insolvenzantrag manifestierten Vermögensverfalls des Schuldners bei einer Sicherungsübereignung die Veräußerungsbefugnis des Sicherungsgebers zu widerrufen, Herausgabe des Sicherungsgutes zu verlangen und nach Besitzergreifung das Sicherungsgut zu veräußern. Allerdings wird dies in der Praxis regelmäßig schon daran scheitern, dass weder der Schuldner noch der vorläufige Insolvenzverwalter zu einer Herausgabe im Eröffnungsverfahren bereit sein werden und dass die Zeit bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens für eine gerichtliche Durchsetzung des Herausgabeanspruches nicht ausreicht. Auch bei der Sicherungsabtretung darf der gesicherte Kreditgeber gemäß den üblicherweise getroffenen Regelungen des Sicherungsvertrages bei Insolvenzantrag unter Offenlegung der Zession mit der Einziehung der Forderung beim Drittschuldner beginnen.

17.147

Der Gläubiger darf ihm sicherungsübereignete Sachen und ihm sicherungszedierte Forderungen nicht selbst verwerten, wenn das Insolvenzgericht als Sicherungsmaßnahme einen Verwertungs- und Einziehungsstopp gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO angeordnet hat (s. hierzu ausführlich Rz. 17.138). Hat der Gläubiger bereits vor Ergehen der gerichtlichen Anordnung unmittelbaren Besitz erlangt, darf er verwerten5.

17.148

Nimmt der gesicherte Gläubiger vor dem oder im Insolvenzeröffnungsverfahren sicherungsübereignete Sachen zur Verwertung in Besitz oder zieht sicherungszedierte Forderungen ein und verhindert er damit den Übergang des Verwertungsrechts auf den Insolvenzverwalter bei Verfahrenseröffnung oder den Verwertungsstopp nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO, so kann die Inbesitznahme bzw. die Einziehung nicht angefochten werden mit der Begründung, der Masse seien dadurch die Kostenbeiträge für die Verwertung nach §§ 170, 171 InsO entgan-

17.149

1 2 3 4

BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 2/06, WM 2007, 895 = ZIP 2007, 827. OLG Köln v. 29.12.1999 – 11 W 81/99, NZI 2000, 267. BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 2/06, WM 2007, 895 = ZIP 2007, 827. BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, WM 2010, 662 Rz. 20 = ZIP 2010, 739; BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632. 5 Ganter, NZI 2007, 549, 551.

Kuder/Unverdorben | 661

§ 17 Rz. 17.149 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

gen1. Eine Anfechtung ist jedenfalls deshalb ausgeschlossen, weil der Umstand, dass der Masse der Anspruch auf die Verwertungskostenbeiträge entgeht, keine Gläubigerbenachteiligung i.S. des § 129 InsO darstellt. Denn diese Kostenbeiträge erstatten lediglich Kosten der Masse bei tatsächlicher Verwertung durch den Insolvenzverwalter. Daran ändert auch das vom Gesetzgeber gewählte Pauschalsystem nichts. Dessen Anwendung kann im Einzelfall ebenso zu einer Vermehrung wie zu einer Schmälerung der Masse führen. Dies ist jedoch systembedingt, so dass daraus keine Gläubigerbenachteiligung hergeleitet werden kann2.

1 BGH v. 29.3.2007 – IX ZR 27/06, WM 2007, 1129 = ZIP 2007, 1126; BGH v. 23.9.2004 – IX ZR 25/03, WM 2005, 126 = ZIP 2005, 40; BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42. Dazu auch Notthoff, DZWIR 2004, 207. 2 BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42.

662 | Kuder/Unverdorben

§ 18 Vorfinanzierung von Insolvenzgeld I. Grundstrukturen der Insolvenzgeldvorfinanzierung Der nach dem Insolvenzantrag regelmäßig eingesetzte vorläufige Insolvenzverwalter muss gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO das Unternehmen der insolventen GmbH fortführen, bis das Insolvenzgericht über die Verfahrenseröffnung entscheidet1. Dabei ist die Finanzierung der offenen und noch anfallenden Personalkosten von immenser Bedeutung. Denn nach dem Insolvenzantrag wird häufig allein die sofortige Zahlung der Löhne und Gehälter die Arbeitnehmer noch dazu motivieren können, in dem insolventen Unternehmen tätig zu bleiben, damit den Betrieb am Leben zu erhalten und so evtl. die Möglichkeit zu schaffen, die GmbH insgesamt zu sanieren oder zumindest Teile des Unternehmens im Wege der übertragenden Sanierung zu veräußern2.

18.1

Um die Lohnausfälle der Arbeitnehmer als Folge der Insolvenz des Arbeitgebers zu begrenzen, hat der Gesetzgeber bereits 1974 das Konkursausfallgeld geschaffen3, das heute in Form des Insolvenzgeldes im SGB III normiert ist4. Bei dem Insolvenzgeld handelt es sich letztlich um eine Sozialversicherung, die von den Arbeitgebern allein finanziert und von der Bundesagentur für Arbeit verwaltet wird (§§ 358, 360 SGB III)5. Allerdings entsteht der Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung des Insolvenzgelds nicht bereits mit der Stellung des Insolvenzantrags, sondern erst mit Eintritt eines „Insolvenzereignisses“ (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1–3 SGB III, zu den Insolvenzereignissen im Einzelnen s. Rz. 18.6). Deshalb hilft im Eröffnungsverfahren das Insolvenzgeld nicht unmittelbar. Um dieses Instrument gleichwohl zur Finanzierung der Personalkosten im Eröffnungsverfahren zu nutzen, arrangieren die vorläufigen Insolvenzverwalter in nahezu jeder Unternehmensinsolvenz im Eröffnungsverfahren die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld6 durch ein Kreditinstitut.

18.2

Damit wird dem insolventen Unternehmen in der Zeit zwischen dem Insolvenzantrag und der Eröffnung des Verfahrens zusätzliche Liquidität zugeführt. Diese Finanzierungsform hat dazu beigetragen, die Fortführung des Unternehmens im Insolvenzverfahren gleichwertig ne-

18.3

1 Ausführlich zu den Gründen für diese Regelung der Insolvenzordnung, die in §§ 157, 158 InsO weitergehend auch als Regel die Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs bis zum Berichtstermin vorsieht, und zu dem daraus resultierenden Finanzierungsbedarf in der Insolvenz Wittig, DB 1999, 197 ff. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.401; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 236; Fahlbusch, ZInsO 2015, 837; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493; Wiester, BB 1997, 949. 3 Gesetz über Konkursausfallgeld (Drittes Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes) vom 17.7.1974, BGBl. I 1974, 1481 ff.; §§ 141a ff. AFG. 4 4. Kapitel des SGB III (§§ 136–175) neu gefasst mit Wirkung vom 1.4.2012 durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl. I 2011, 2854). 5 Cranshaw, ZInsO 2013, 1493; Klüter, WM 2010, 1483. 6 Dazu auch Fachliche Weisungen Insolvenzgeld der Bundesagentur für Arbeit (FW-InsG), Fassung vom 20.12.2018, veröffentlicht auf den Web-Seiten der Bundesagentur für Arbeit, http://www.arbeits agentur.de; Huber in Langenbucher/Bliesener/Soindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 32. Kap. Rz. 167 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.400 ff.; Fahlbusch, ZInsO 2015, 837; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493.

Kuder/Unverdorben | 663

§ 18 Rz. 18.3 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

ben die Zerschlagung treten zu lassen1. Bei der Vorfinanzierung von Insolvenzgeld zahlt nach dem Insolvenzantrag ein finanzierungsbereites Kreditinstitut den Arbeitnehmern des insolventen Unternehmens Beträge in Höhe ihrer rückständigen und fälligen Nettolöhne aus, und im Gegenzug erwirbt das Kreditinstitut von den Arbeitnehmern deren Lohn- und Gehaltsansprüche gegen den insolventen Arbeitgeber. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird das Kreditinstitut als Zessionar des Arbeitsentgelts Inhaber der Insolvenzgeldansprüche und macht diese an Stelle der Arbeitnehmer geltend. Im Ergebnis kann in dieser Weise der vorläufige Verwalter in der Zeit zwischen dem Insolvenzantrag und der Verfahrenseröffnung die Finanzierung der Personalkosten – und damit die Unternehmensfortführung – zumindest für drei Monate sichern, während das finanzierende Kreditinstitut – bei sachgemäßer Abwicklung – kein Kreditrisiko läuft, da nach der Verfahrenseröffnung die Insolvenzgeldansprüche gegen die (zahlungskräftige) Bundesagentur für Arbeit auf das Kreditinstitut übergehen2.

18.4–18.5

Einstweilen frei.

II. Der Anspruch auf Insolvenzgeld 18.6

Voraussetzung für die Zahlung von Insolvenzgeld an die Arbeitnehmer ist der Eintritt eines Insolvenzereignisses beim Arbeitgeber. Ein solches Insolvenzereignis ist gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 SGB III die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Nr. 1), die Ablehnung der Eröffnung des Verfahrens mangels Masse (Nr. 2) oder die vollständige Einstellung des Betriebs ohne Insolvenzantrag im Inland, sofern die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Nr. 3).

18.7

Der Anspruch auf Insolvenzgeld steht den Arbeitnehmern und nach § 165 Abs. 4 SGB III ihren Erben zu. Arbeitnehmer sind nach den allgemeinen Grundsätzen des Arbeitsvertragsrechts alle Personen, die auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages gegenüber einem Dritten (Arbeitgeber) zur Leistung von Diensten in persönlich abhängiger Stellung gegen Entgelt verpflichtet sind3. Zu diesen Personen kann nach den tatsächlichen Verhältnissen des Einzelfalles und dem Inhalt seines Anstellungsvertrages auch der Geschäftsführer der GmbH zu rechnen sein. Das gleiche gilt für einen Gesellschafter-Geschäftsführer oder einen mitarbeitenden Gesellschafter. Voraussetzung bei diesen Personen ist, dass sie bei der Gesellschaft abhängig beschäftigt sind. Dies ist dann der Fall, wenn der Gesellschafter funktionsgerecht dienend am Arbeitsprozess der GmbH teilhat, für die Beschäftigung ein entsprechendes Arbeitsentgelt erhält und keinen maßgeblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft, insbesondere kraft seines Anteils am Stammkapital, hat. Nicht als Arbeitnehmer ist dagegen ein GesellschafterGeschäftsführer anzusehen, der als (Mehrheits-)Gesellschafter einen maßgeblichen Einfluss auf die GmbH geltend machen kann4. Die Entscheidung, ob eine Beschäftigung vorliegt, trifft 1 Wiester, BB 1997, 949, 950; Steinwedel, DB 1998, 822, 823. 2 Wiester, BB 1997, 949, 950, bezeichnet diesen Anspruchsübergang nicht unzutreffend als „Zwangsbürgschaft“. 3 Zum Begriff der Arbeitnehmer ausführlich FW-InsG, Fassung 20.12.2018 zu § 165 SGB III, Rz. 165.5 sowie Fachliche Weisungen Arbeitslosenversicherung zu § 25 SBG III, Fassung 07/2020, veröffentlicht unter http://www.arbeitsagentur.de; mit Nachweisen der Rechtsprechung Kühl in Brand, 8. Aufl. 2018, § 165 SGB III Rz. 9 f.; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 111 ff. 4 Fachliche Weisungen Arbeitslosenversicherung zu § 25 SBG III, Fassung 07/2020, veröffentlicht unter http://www.arbeitsagentur.de, Rz. 25.1.5.2; BSG v. 24.9.1992 – 7 RAr 12/92, ZIP 1993, 54 = GmbHR 1993, 355; BAG v. 13.5.1992 – 5 AZR 344/91, ZIP 1992, 1496 = GmbHR 1993, 35; Kühl

664 | Kuder/Unverdorben

§ 18 Vorfinanzierung von Insolvenzgeld | Rz. 18.13 § 18

für alle ab dem 1.1.2005 aufgenommenen Beschäftigungen die Deutsche Rentenversicherung Bund (§ 7a SGB IV), an deren Feststellung die Bundesagentur für Arbeit insoweit gebunden ist (§ 336 SGB III). Insolvenzgeld wird gezahlt, soweit die Arbeitnehmer bei Eintritt des Insolvenzereignisses offenstehende Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Zu den Ansprüchen auf Arbeitsentgelt gehören alle Ansprüche auf Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis (§ 165 Abs. 2 Satz 1 SGB III)1. Der Umfang der Insolvenzgeldzahlung ist dabei zum einen zeitlich begrenzt.

18.8

Gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 SGB III wird Insolvenzgeld nur für die Ansprüche auf Arbeitsentgelt gezahlt, die in den dem Insolvenzereignis, regelmäßig also der Verfahrenseröffnung, vorausgehenden letzten drei Monaten erarbeitet wurden2. Für den in Unkenntnis des Insolvenzereignisses weiterarbeitenden Arbeitnehmer erfolgt die Zahlung gemäß § 165 Abs. 3 SGB III für den dreimonatigen Zeitraum vor Kenntnisnahme vom Insolvenzereignis.

18.9

Zum anderen ist das Insolvenzgeld gemäß § 167 Abs. 1 SGB III der Höhe nach begrenzt: Berücksichtigt wird lediglich das Nettoarbeitsentgelt, das sich ergibt, wenn das auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung begrenzte Bruttoarbeitsentgelt um die gesetzlichen Abzüge vermindert wird.

18.10

Die Zahlung des Insolvenzgeldes erfolgt auf Antrag des Berechtigten. Der Antrag ist binnen zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis oder dem Wegfall des Hinderungsgrundes bei einer unverschuldeten Fristversäumnis zu stellen (§ 324 Abs. 3 SGB III). In der Regel kann daher der Antrag erst nach der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag gestellt werden.

18.11

Auch in Eigenverwaltungsverfahren ist die Zahlung von Insolvenzgeld möglich, sofern es zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens – und damit zum Eintritt eines Insolvenzereignisses – kommt. Dies ist insbesondere im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO nicht selbstverständlich, da eine Voraussetzung des Schutzschirmverfahrens ist, dass noch keine Zahlungsunfähigkeit bei dem Unternehmen eingetreten ist. Das Insolvenzgeld soll jedoch grundsätzlich den Zahlungsausfall als Folge der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitsgebers kompensieren3.

18.12

Weil es aber angesichts der Schwierigkeiten bei der Feststellung der Vermögenslage des Arbeitgebers zu Verzögerungen dieser Entscheidung über die Verfahrenseröffnung kommen kann, kann unter den Voraussetzungen des § 168 SGB III bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren vom Arbeitsamt ein Vorschuss auf das Insolvenzgeld gezahlt werden4. Eine der Voraussetzungen für die Vorschusszahlung gemäß § 168 SGB III ist jedoch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Neben § 168 SGB III findet aber ergänzend auch § 328 SGB III auf das

18.13

1 2 3 4

in Brand, 8. Aufl. 2018, § 165 SGB III Rz. 9; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 117. Ausführlich dazu und mit Nachweisen der Rechtsprechung Kühl in Brand, 8. Aufl. 2018, § 165 SGB III Rz. 40 ff.; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 121 ff. Vgl. BSG v. 2.11.2000 – B 11 AL 87/99 R, ZInsO 2002, 94; BSG v. 21.7.2005 – B 11a/11 AL 53/04 R, ZIP 2005, 1933; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 107 ff.; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1496. Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1494. Zu den Motiven des Gesetzgebers für diese Regelung s. Bericht des Ausschusses für Arbeits- und Sozialordnung zum Regierungsentwurf des AFRG, BT-Drucks. 13/5936, S. 29. S. zur Vorschusszahlung auch FW-InsG, Fassung 20.12.2018, zu § 168 SGB III; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 201 ff.

Kuder/Unverdorben | 665

§ 18 Rz. 18.13 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Insolvenzgeld Anwendung, der eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht als Tatbestandsmerkmal vorsieht1.

18.14–18.20

Einstweilen frei.

III. Zum Rang der auf die Bundesagentur für Arbeit übergehenden Lohn- und Gehaltsansprüche 18.21

Mit dem Antrag auf Insolvenzgeld gehen die Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf Arbeitsentgelt auf die Bundesagentur für Arbeit über (§ 169 Satz 1 SGB III). Gemäß § 55 Abs. 3 InsO können die gemäß § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeiten begründeten Ansprüche von Arbeitnehmern, soweit sie nach § 169 SGB III auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen sind, von dieser nur als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden2, und zwar selbst dann, wenn die Arbeitnehmer von einem starken Insolvenzverwalter mit Verfügungsmacht im Eröffnungsverfahren weiter beschäftigt worden sind, so dass den Ansprüchen eigentlich der Rang als Masseforderungen gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO zukäme. Dies soll verhindern, dass bei Einsetzung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalters die auf die Bundesagentur für Arbeit übergehenden Entgeltansprüche als Masseverbindlichkeiten die Masse aufzehren, was zur Einstellung der Insolvenzverfahren wegen Masseunzulänglichkeit und zum Scheitern der Sanierung führen und die Rettung von Arbeitsplätzen verhindern würde3.

18.22

Das Gleiche gilt, wenn die Arbeitnehmer in einem vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren gemäߧ 270b InsO weiter beschäftigt worden sind: Sofern der Schuldner gemäß § 270c Abs. 4 Satz 1 InsO vom Gericht zur Begründung von Masseverbindlichkeiten ermächtigt worden ist, stehen den Arbeitnehmern selbst die Lohnansprüche als Masseforderungen gemäß § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO zu; die auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangenen Lohnansprüche erhalten aber lediglich den Rang von Insolvenzforderungen (§ 55 Abs. 3 InsO).

18.23–18.25

Einstweilen frei.

IV. Die Rahmenbedingungen für die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld 1. Erwerb des Anspruchs auf Insolvenzgeld 18.26

Gemäß §§ 170, 171 SGB III ist eine Verfügung über den – isolierten – Anspruch auf Insolvenzgeld nicht möglich, bis der Antrag auf Insolvenzgeld gestellt worden ist. Soweit jedoch der Arbeitnehmer vor Antragstellung seine Ansprüche auf Arbeitsentgelt einem Dritten durch Abtretung übertragen oder verpfändet hat, steht dem Dritten auch der Anspruch auf Insolvenzgeld zu (so § 170 Abs. 1 SGB III).

18.27

Erforderlich für die Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ist damit, dass das Kreditinstitut im Gegenzug für die Finanzierung der laufenden Lohn- und Gehaltszahlungen von den Arbeitnehmern den Anspruch auf Arbeitsentgelt und damit auf Insolvenzgeld rechtswirksam erwirbt. 1 Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 202. 2 Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 236; Graf-Schlicker/ Remmert, NZI 2001, 569, 570 f. 3 Begr. RegE, BR-Drucks. 14/01 v. 5.1.2001, Allgemeine Begründung, Nr. 8b, S. 32 f.

666 | Kuder/Unverdorben

§ 18 Vorfinanzierung von Insolvenzgeld | Rz. 18.31 § 18

In der Praxis gestaltet sich die Vorfinanzierung folgendermaßen: Das Kreditinstitut kauft im Eröffnungsverfahren von den Arbeitnehmern der insolventen GmbH deren Lohn- und Gehaltsforderungen gegen Zahlung eines Kaufpreises in Höhe des Nettolohns. Die Arbeitnehmer erhalten einen Betrag in Höhe des Nettolohns von dem Kreditinstitut und treten ihre Ansprüche auf Zahlung der (rückständigen) Lohn- und Gehaltsforderungen an das Kreditinstitut ab. Das Kreditinstitut steht damit vor der Stellung des Antrags auf Insolvenzgeld eine Forderung gegen das insolvente Unternehmen zu. Mit dem Antrag auf Insolvenzgeld gehen die Lohnund Gehaltsforderungen auf die Bundesagentur für Arbeit über (§ 169 Satz 1 SGB III). Im Gegenzug erhält gemäß § 170 Abs. 1 SGB III das vorfinanzierende Kreditinstitut die Ansprüche gegen die Bundesanstalt für Arbeit auf Zahlung von Insolvenzgeld1.

18.28

Weil bei diesem Verfahren die Arbeitnehmer auf Grund des Forderungsankaufs Zahlungen im vollen Gegenwert der abgetretenen Lohn- und Gehaltsforderungen erhalten, gehen die abgetretenen Forderungen trotz § 400 BGB in voller Höhe auf das Kreditinstitut über2. Ein abgezinster Ankauf wäre wegen § 400 BGB auch nicht zulässig3. Das Risiko, dass das Insolvenzgeld nicht gezahlt wird, ist auf das Kreditinstitut verlagert. Insofern entspricht das Forderungskaufverfahren auch dem Interesse der Arbeitnehmer4.

18.29

Das früher übliche Kreditierungsverfahren kommt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts5 nicht mehr in Betracht. Bei diesem Verfahren hatten die Kreditinstitute den Arbeitnehmern an Stelle der fälligen Lohn- und Gehaltszahlungen Kredite gewährt, die durch die Abtretung der Ansprüche auf Arbeitsentgelt besichert wurden. Da die Arbeitnehmer Schuldner der ihnen gewährten Kredite waren, trugen sie aber das Risiko, dass das Insolvenzgeld tatsächlich zur Auszahlung kam6. Deshalb wäre trotz Auszahlung einer dem pfändungsfreien Betrag entsprechenden Summe die wirtschaftliche Gleichwertigkeit nicht gegeben und die Abtretung der Lohn- und Gehaltsansprüche gemäß § 400 BGB unwirksam7.

18.30

Da der Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld nicht von der Einleitung eines bestimmten Verfahrens abhängt, sondern von dem Eintritt eines Insolvenzereignisses i.S. von § 165 Abs. 1 Satz 2 SGB III, kommt eine Vorfinanzierung des Insolvenzgelds sowohl im (regulären) Eröffnungsverfahren und im eröffneten Insolvenzverfahren als auch in der vorläufigen Eigenverwaltung gemäß § 270b InsO und im Schutzschirmverfahren gemäß § 270d InsO in Betracht8. Wichtig für das Kreditinstitut ist in allen Verfahrensarten, dass die im jeweiligen Verfahren handelnden Personen Masseverbindlichkeiten zum Zweck der Insolvenzgeldvorfinanzierung begründen können. Das ist im eröffneten Verfahren und beim vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis ohne Weiteres gegeben; in den anderen vorläufigen Verfahren ist darauf zu achten, dass das Insolvenzgericht eine entsprechende Ermächtigung erteilt hat. Das finanzierende Kreditinstitut trägt allerdings in der vorläufigen Eigenverwaltung das Risiko einer Sanierung ohne Eröffnung des Insolvenzverfahrens (kein Insolvenzereignis) und der An-

18.31

1 Obermüller in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 97 Rz. 42; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 189. Ausführlich zu den Einzelheiten der Vertragsdokumentation und der Kontoführung Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.438 ff.; 5.441 ff. (Musterverträge); Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1498. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.421. 3 Klüter, WM 2010, 1483, 1486. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.405. 5 BSG v. 8.4.1992 – 10 RAr 12/91, ZIP 1992, 941. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.404. 7 BSG v. 8.4.1992 – 10 RAr 12/91, ZIP 1992, 941. 8 Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 179; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1494.

Kuder/Unverdorben | 667

§ 18 Rz. 18.31 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

tragsrücknahme. Ob das Kreditinstitut bereit sein wird, dieses Risiko einzugehen, wird deshalb auch von den Fähigkeiten und der Zuverlässigkeit der Geschäftsführung der eigenverwaltenden GmbH und des vorläufigen Sachwalters abhängen1.

2. Prüfung durch die Agentur für Arbeit zur Vermeidung von Rechtsmissbräuchen 18.32

Zur Vermeidung von Rechtsmissbräuchen ist die Zustimmung der Arbeitsagentur ein zwingendes Erfordernis für den Erwerb der Ansprüche auf Insolvenzgeld, sofern eine kollektive Vorfinanzierung auf Veranlassung des vorläufigen Insolvenzverwalters im überwiegenden Interesse des insolventen Unternehmens bzw. zum Zwecke der Durchführung des Insolvenzverfahrens erfolgen soll. Denn gemäß § 170 Abs. 4 SGB III hat in diesen Fällen der gebündelten Vorfinanzierung der Zessionar der Ansprüche auf Arbeitsentgelt keinen Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn ihm vor dem Insolvenzereignis (Verfahrenseröffnung oder Ablehnung der Verfahrenseröffnung mangels Masse) die Ansprüche auf Arbeitsentgelt zum Zwecke der Vorfinanzierung des Arbeitsentgelts übertragen worden sind, ohne dass dem die zuständige Agentur für Arbeit zugestimmt hat. Mit diesem Zustimmungserfordernis soll eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Insolvenzgeldversicherung verhindert werden2.

18.33

Allerdings steht die Zustimmung der Agentur für Arbeit nicht in deren freiem Ermessen, sondern die Agentur darf der Übertragung oder Verpfändung der Arbeitsentgeltansprüche, die dann den Übergang der Ansprüche auf Insolvenzgeld mit sich bringt, nur zustimmen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass durch die Vorfinanzierung der Arbeitsentgelte ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze erhalten bleibt (§ 170 Abs. 4 Satz 2 SGB III)3.

18.34

Weiterhin wird man die Regelung im Sinne einer Ermessensbindung so verstehen müssen, dass dann, wenn die Voraussetzungen des § 170 Abs. 4 Satz 2 SGB III erfüllt sind, also immer dann, wenn auf Grund von Tatsachen anzunehmen ist, dass die Vorfinanzierung der Erhaltung eines erheblichen Teils der Arbeitsplätze dient, die Agentur für Arbeit zustimmen muss4. Im Ergebnis fordert die Arbeitsverwaltung ein plausibles Sanierungskonzept für die insolvente Gesellschaft bzw. für eine übertragende Sanierung5. Dabei geht sie davon aus, dass die zu erhaltende Anzahl von Arbeitsplätzen im Sinne der Regelung erheblich ist, wenn unter Berücksichtigung des bisherigen arbeitstechnischen Zwecks die betriebliche Funktion erhalten bleibt6. Als Anhaltspunkt dienen dabei die für die Erzwingbarkeit eines Sozialplans maßgeblichen Größenverhältnisse des § 112a BetrVG; ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze bleibt danach erhalten, wenn deren Anzahl die Mindestgrenzen des § 112a Abs. 1 BetrVG erreicht oder überschreitet. Auch eine geringere Anzahl von Arbeitsplätzen kann ausreichend sein bei Betrieben in strukturschwachen Regionen, branchenspezifischen Einbrüchen in einer Region, regional besonders bedeutsamen Arbeitgebern oder sonst gesondert gelagerten Fällen. Wird die Zustimmung der Arbeitsverwaltung erteilt, führt sie im Übrigen zur sozialrechtlichen 1 Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 179. 2 Begr. RegE AFRG v. 16.8.1996, BR-Drucks. 550/96, S. 188; Klüter, WM 2010, 1483, 1485. 3 Dazu auch Kühl in Brand, 8. Aufl. 2018, § 170 SGB III Rz. 13 ff.; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 180 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.423; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1497 f.; Hase, WM 2000, 2231, 2232 f. 4 So Wiester, ZInsO 1998, 99, 104. 5 FW-InsG, Fassung 20.12.2018, zu § 170 SGB III, Rz. 170.6; Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1497 f.; Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 180 ff. 6 S. dazu FW-InsG, Fassung 20.12.2018, zu § 170 SGB III, Rz. 170.7.

668 | Kuder/Unverdorben

§ 18 Vorfinanzierung von Insolvenzgeld | Rz. 18.38 § 18

Wirksamkeit der Vorfinanzierung des Insolvenzgelds auch für denjenigen Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze absehbar nicht erhalten werden können1. Weitere Voraussetzung für die Zustimmung zur Vorfinanzierung von Insolvenzgeld ist nach Auffassung der Arbeitsverwaltung, dass die Arbeitsplätze auf Dauer erhalten werden2. Das setzt in aller Regel die zu erwartende Fortführung des insolventen Unternehmens im Rahmen einer erhaltenden oder übertragenden Sanierung voraus. Die bloße Ausproduktion genügt dagegen regelmäßig nicht, um den dauerhaften Erhalt von Arbeitsplätzen bejahen zu können.

18.35

Im Hinblick auf die Prognosequalität genügt für die Zustimmung der Agentur für Arbeit zur Vorfinanzierung, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass die Erhaltung eines erheblichen Teils der Arbeitsplätze überwiegend wahrscheinlich ist3. Beurteilungsgrundlage dafür sind die wirtschaftliche Lage des Schuldners und die Verhältnisse seines Unternehmens. Als Indizien, die eine Sanierung mit erheblichem Arbeitsplatzerhalt erwarten lassen, gelten insbesondere die Durchführung erster Maßnahmen zur Umsetzung eines konkreten Sanierungskonzepts oder das Übernahmeangebot eines potentiellen Interessenten, auch wenn dies noch von bestimmten Voraussetzungen abhängig ist. Häufig wird der Arbeitsverwaltung die Entscheidung aber nur auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens, z.B. des vorläufigen Insolvenzverwalters, möglich sein. Doch auch sonst kommt trotz der nach § 20 SGB X bestehenden Ermittlungspflicht des Arbeitsamtes der Stellungnahme des vorläufigen Insolvenzverwalters zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Schuldners und der sich abzeichnenden Abwicklung des Betriebes im Insolvenzverfahren herausragende Bedeutung zu4.

18.36

Weil das Zustimmungserfordernis eine missbräuchliche Inanspruchnahme der Insolvenzgeldversicherung verhindern soll5, bleibt die Insolvenzgeldvorfinanzierung aber unzulässig, wenn damit einzelnen Gläubigern oder Gläubigergruppen auf Kosten der Insolvenzgeldversicherung Sondervorteile verschafft werden sollen, also eine Insolvenzverschleppung bezweckt ist6. Insbesondere sollen die so genannten revolvierenden Vorfinanzierungen verhindert werden, durch die im Ergebnis der Zeitraum für die Inanspruchnahme des Insolvenzgelds auf mehr als drei Monate ausgedehnt wurde7.

18.37

3. Risiken der Insolvenzgeldvorfinanzierung Für das Kreditinstitut bestehen bei der Insolvenzgeldvorfinanzierung mehrere Risiken: Das größte Risiko verwirklicht sich dann, wenn der Insolvenzantrag zurückgenommen wird und als Folge dessen kein Insolvenzereignis eintritt und damit kein Anspruch auf Insolvenzgeld entsteht. Hiergegen kann sich das Kreditinstitut nur absichern, indem es sich – möglichst von anderen Personen als der den Insolvenzantrag stellenden GmbH – Sicherheiten bestellen lässt, die in der Regel aber nicht – oder jedenfalls nicht in dem benötigten Umfang – zur Verfügung stehen dürften8. 1 Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1497 f.; Hase, WM 2000, 2231, 2233. 2 FW-InsG, Fassung 20.12.2018, zu § 170 SGB III, Rz. 170.8; Hase, WM 2000, 2231, 2232. 3 Zu den Anforderungen der Arbeitsverwaltung an die Prognose FW-InsG, Fassung 20.12.2018, zu § 170 SGB III, Rz. 170.6. 4 Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 180 ff.; Hase, WM 2000, 2231, 2232. 5 Begr. RegE AFRG v. 16.8.1996, BR-Drucks. 550/96, S. 188. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.427; Wiester, ZInsO 1998, 99, 105. 7 Ausführlich zur revolvierenden Vorfinanzierung von Insolvenzgeld Sinz in FS Uhlenbruck, 2000, S. 157 ff. Zu dieser Praxis auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.408, 5.259; BSG v. 22.3.1995 – 10 RAr 1/94, WM 1995, 2198 = ZIP 1995, 935. 8 Cranshaw, ZInsO 2013, 1493, 1504.

Kuder/Unverdorben | 669

18.38

§ 18 Rz. 18.38 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Ein weiteres Risiko liegt darin, dass die Arbeitnehmer ihre Lohn- und Gehaltszahlungen bereits an einen Dritten abgetreten hatten. In diesem Fall erwirbt dieser Dritte und nicht das vorfinanzierende Kreditinstitut den Anspruch auf Zahlung des Insolvenzgeldes. Hat das Kreditinstitut Zahlungen auf die vermeintliche Forderung von der Arbeitsagentur erhalten, muss es diese an den Dritten herausgeben und Rückgriff bei dem Arbeitnehmer nehmen. Dieser haftet als Verkäufer für den Bestand der Forderung1. Eine weitere Gefahr liegt darin, dass das Insolvenzgeld letztlich in geringerer Höhe als von dem Kreditinstitut angenommen – und vorfinanziert – von der Arbeitsagentur festgesetzt wird. Aus diesem Grund muss das Kreditinstitut vor der Finanzierung sorgfältig ermitteln, in welcher Höhe Ansprüche auf Insolvenzgeld entstehen können.

1 Obermüller in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 97 Rz. 43.

670 | Kuder/Unverdorben

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss I. Einleitung Die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses schon im Eröffnungsverfahren und die Beteiligung dieses Ausschusses an der Bestellung des (vorläufigen) Insolvenzverwaltersbzw. Sachwalters sowie an der Entscheidung über die Anordnung der Eigenverwaltung und am Schutzschirmverfahren sollen den Einfluss der Gläubiger auf das Insolvenzverfahren stärken, um deren effektivere Beteiligung am Verfahren zu erreichen1. Mit der Aufnahme der § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a, § 22a in die Insolvenzordnung hat der Gesetzgeber für mehr Rechtssicherheit gesorgt. Denn bis zum Inkrafttreten des ESUG war in Literatur und Rechtsprechung umstritten, ob das Insolvenzgericht bereits vor der Eröffnungsentscheidung ein solches Gremium einzusetzen befugt ist2. Die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren hat keinen Sicherungscharakter. Vielmehr ist für die gerichtliche Anordnung das Beteiligungs- und Mitbestimmungsinteresse der Gläubiger maßgeblich3. Einstweilen frei.

19.1

19.2–19.5

II. Die Mehrfachstruktur der Gläubigerausschüsse Die Insolvenzordnung sieht insgesamt vier Gläubigerausschüsse vor. Zum einen den vorläufigen Ausschuss im Eröffnungsverfahren als Pflichtausschuss (§ 22a Abs. 1 InsO) oder den fakultativen Ausschuss im Eröffnungsverfahren auf Antrag eines Gläubigers oder nach Ermessen des Gerichtes nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a, § 22a Abs. 2 InsO sowie den Interimsausschuss vom Eröffnungsbeschluss bis zum Berichtstermin (§ 67 InsO) und den endgültigen Gläubigerausschuss (§ 68 InsO). Die vom Gericht gewählte Zusammensetzung nach der Eröffnungsentscheidung ist nicht bindend für die Gläubigerversammlung. In jedem Fall bedarf es auch bei Vorhandensein eines bisherigen einstweiligen Ausschusses (§ 67 Abs. 1 InsO) einer Entscheidung über dessen Fortführung bzw. dessen Neubestellung. Dies folgt aus der Sonderregelung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a Halbs. 2 InsO und der fehlenden Verweisung auf § 68 InsO4.

19.6

1. Der Pflichtausschuss nach § 22a Abs. 1 InsO Das Gericht ist gemäß § 22a Abs. 1 InsO von Amts wegen verpflichtet, einen Gläubigerausschuss einzusetzen, wenn der Schuldner im vorangegangenen Geschäftsjahr mindestens zwei der drei nachstehenden Merkmale erfüllt hat. Das schuldnerische Unternehmen muss eine Bilanzsumme (§ 267 Abs. 4a HGB) von mindestens 6.000.000 Euro, einen Umsatzerlös (§ 277 1 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 22. 2 Der BGH (v. 10.11.2011 – IX ZB 166/10, WM 2012, 141) hat vor Inkrafttreten des ESUG die Entscheidung des Insolvenzgerichts, im Eröffnungsverfahren einen vorläufigen Gläubigerausschuss einzusetzen, nicht als so schwerwiegenden Verstoß gegen die gesetzlichen Regelungen angesehen, dass die Entscheidung als nichtig anzusehen wäre. 3 Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 16b. 4 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 205, 208.

Bast | 671

19.7

§ 19 Rz. 19.7 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Abs. 1 HGB) in den letzten 12 Monaten vor dem Abschlussstichtag von mindestens 12.000.000 Euro und eine Beschäftigungszahl von mindestens 50 Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt aufweisen1. Obwohl sich die Schwellenwerte an den Größenklassen des § 267 Abs. 1 Nr. 1–3 HGB orientieren, fallen unter § 22a Abs. 1 Nr. 1–3 InsO alle Schuldner und nicht nur Kapitalgesellschaften. Denn die gewählten Schwellenwerte sollen sicherstellen, dass bei wirtschaftlich bedeutenden Unternehmen eine Gläubigerbeteiligung zum Tragen kommt2. Bei Gläubigeranträgen findet die Vorschrift des § 22a Abs. 1 InsO keine Anwendung3. Kann der Gläubiger keine Angaben nach § 13 Abs. 1 Satz 4 und 5 InsO machen, hat das Insolvenzgericht den Schuldner gemäß § 20 InsO zur Auskunft über die Schwellenwerte aufzufordern. Für den Pflichtausschuss gelten gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO der § 67 Abs. 2, 3 InsO und die §§ 69–73 InsO entsprechend.

19.8

Die in § 22a Abs. 1 InsO angeführten Werte müssen nicht bei Antragstellung vorliegen, sondern im vorangegangenen Geschäftsjahr4. Dies begegnet zwar aus insolvenzrechtlicher Sicht Bedenken, weil sich das Unternehmen in der Krise bereits deutlich verkleinert haben kann5. Sie erlaubt dem Gericht aber eine einfache und sichere Abgrenzung. Liegt für das vorangegangene Geschäftsjahr ein Jahresabschluss vor, enthält dieser die Bilanzsumme, regelmäßig die Umsatzerlöse und auch die Anzahl der Arbeitnehmer, so dass das Gericht anhand der ihm vom Schuldner unterbreiteten Unterlagen die notwendigen Feststellungen treffen kann. Der Schuldner darf die Angaben nach § 22a Abs. 1 Nr. 1–3 InsO schätzen, wenn ein Jahresabschluss nicht vorliegt6.

19.9

Hinsichtlich der Umsatzerlöse stellt § 22a Abs. 1 Nr. 2 InsO als vorrangige spezielle Regelung auf die letzten zwölf Monate vor dem Abschlussstichtag ab. Bedeutung erlangt diese Regelung bei einem Rumpfgeschäftsjahr7. Während dem Antrag stellenden Schuldner die Ermittlung der Umsatzerlöse anhand der Summen- und Saldenlisten der laufenden Buchhaltung keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, sieht dies hinsichtlich der Arbeitnehmerzahl bei Betrieben mit starker Fluktuation anders aus. Die Arbeitnehmereigenschaft ist nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen zu ermitteln8.

19.10

Um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Insolvenzverfahrens zu gewährleisten und die Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses zu erleichtern, hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 13 Abs. 1 InsO um die Sätze 3–7 ergänzt. So hat der Schuldner mit seinem Insolvenzantrag ein Verzeichnis der Gläubiger und ihrer Forderungen vorzulegen (§ 13 Abs. 1 Satz 3 InsO), das es dem Gericht erleichtert, die Gläubiger bereits in einem frühen Verfahrensstadium einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für die Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses nach § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO, der sich zur Auswahl des Insolvenzverwalters nach § 56 Abs. 2 InsO oder zur Anordnung der Eigenverwaltung (§ 270b Abs. 3 InsO) äußern soll. 1 Die Schwellenwerte wurden mit Wirkung zum 1.1.2016 im Gleichlauf mit den Werten des § 267 Abs. 1 HGB erhöht, vgl. Bilanzrichtlinie-Umsetzungsgesetz, BGBl. I 2015, 1245. 2 BT-Drucks. 17/5712, S. 24. 3 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 10; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 79; a.A. Pape, ZInsO 2011, 2154, 2156, der meint, der Schuldner könne bei nachträglicher Eigenantragstellung auf Gläubigerantrag die Angaben nachreichen. 4 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 217. 5 Frind, ZInsO 2011, 2249, 2252. 6 BT-Drucks. 17/5712, S. 23. 7 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 86 f. 8 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz 86.

672 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.14 § 19

Das Gericht hat nicht die Aufgabe, die Angaben im Insolvenzantrag zur Bilanzsumme, zu den Umsatzerlösen und zur durchschnittlichen Zahl der Arbeitnehmer des vorangegangenen Geschäftsjahres einzeln nachzuprüfen. Vielmehr beschränkt sich die Pflicht auf eine Plausibilitätsprüfung1. Dies folgt aus der Regelung des § 13 Abs. 1 Satz 7 InsO, nach der dem Verzeichnis nach Satz 3 und den Angaben nach den Sätzen 4 und 5 die Erklärung beizufügen ist, dass die enthaltenen Angaben richtig und vollständig sind2. Aus diesem Grunde sollte das Gericht grundsätzlich davon absehen, einen Sachverständigen mit der Überprüfung der vom Schuldner gemachten Angaben zu den Merkmalen des § 22a Abs. 1 InsO zu beauftragen3. Damit wäre eine unnötige Verfahrensverzögerung verbunden, die eine Mitwirkung des vorläufigen Gläubigerausschusses u.a. an der Bestellung des vorläufigen Sachwalters/vorläufigen Insolvenzverwalters unnötig erschweren würde.

19.11

Regt der Schuldner die Einsetzung eines vorläufigen Pflichtausschusses an, obwohl sein Insolvenzantrag keine Angaben zu den Kennzahlen des § 22a Abs. 1 Nr. 1–3 InsO enthält, ist er als unzulässig zurückzuweisen, wenn er der zuvor erfolgten gerichtlichen Beanstandung nicht innerhalb der richterlichen Frist nachkommt4. Um dem Gericht eine zügige Entscheidung über die Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses zu ermöglichen, sollte der Schuldner – soweit vorhanden – den Jahresabschluss vorlegen. Eine Zurückweisung hat auch dann zu erfolgen, wenn unvollständige Angaben es dem Gericht nicht ermöglichen, darüber zu befinden, ob ein Ausschuss nach § 22a Abs. 1 InsO zu bestellen ist5. Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, dass das Gericht jederzeit die Möglichkeit hat, Bilanzen im Unternehmensregister6 abzurufen, soweit die Gesellschaft der Veröffentlichungspflicht nachgekommen ist.

19.12

Es dürfte bei einer geplanten Sanierung des schuldnerischen Unternehmens in einem Insolvenzverfahren im ureigenen Interesse des Antragstellers und seiner Berater liegen, nicht nur die Reorganisation des Unternehmens sondern auch den Insolvenzantrag sorgfältig vorzubereiten. Bei Überschreiten der Schwellenwerte des § 22a Abs. 1 Nr. 1–3 InsO hat der Schuldner seinem Insolvenzantrag ein Verzeichnis der Gläubiger und ihrer Forderungen beizufügen, wobei in dem Verzeichnis die höchsten Forderungen, die höchsten gesicherten Forderungen, die Forderungen der Finanzverwaltung, die Forderungen der Sozialversicherung und die Forderungen aus betrieblicher Altersversorgung besonders kenntlich zu machen sind. Ferner hat er Angaben zur Bilanzsumme, zu den Umsatzerlösen und zur durchschnittlichen Zahl der Arbeitnehmer zu machen (§ 13 Abs. 1 Satz 3–6 InsO). Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass zahlreiche Eröffnungsanträge diesen formalen Erfordernissen nicht entsprechen und auf Grund von Beanstandungen durch die Gerichte eine unnötige Verzögerung beim Sanierungsprozess eintritt.

19.13

Auch wenn es für die Einsetzung eines Pflichtausschusses keines entsprechenden Antrags bedarf, sollte ein Schuldner bei Überschreiten der Schwellenwerte dessen Einsetzung zumindest anregen und dem Gericht Mitglieder für den Ausschuss vorschlagen sowie deren Einverständniserklärungen beifügen. Diese Verfahrensweise verhindert Verzögerungen bei der Bestellung des Ausschusses, die wiederum zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögens-

19.14

1 2 3 4

Ebenso Mönning in Nerlich/Römermann, § 22a InsO Rz. 19; a.A. Frind, ZInsO 2011, 2249, 2253. BT-Drucks. 17/5712, S. 33. Ebenso Mönning in Nerlich/Römermann, § 22a InsO Rz. 19; Obermüller, ZInsO 2012, 18, 19. Nach Ansicht des AG Ludwigshafen (Beschl. v. 2.10.2012 – 3a IN 186/12, ZInsO 2012, 2057) bedarf es für die Zulässigkeit eines Regelinsolvenzverfahrens nicht der Mitteilung der dritten Größe nach § 13 Abs. 1 Satz 6 Nr. 1–3 InsO, wenn zwei der drei Kennziffern des § 22a Abs. 1 InsO nicht vorliegen (können). 5 Ebenso Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 9; a.A. Pape, ZInsO 2011, 1033, 1037. 6 www.unternehmensregister.de.

Bast | 673

§ 19 Rz. 19.14 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

lage i.S. des § 22a Abs. 3 Alt. 3 InsO führen und damit einen Ausschlussgrund gemäß § 22a Abs. 3 InsO bilden1.

2. Der fakultative Ausschuss (§ 21 Abs. 1 Nr. 1a, § 22a Abs. 2 InsO) 19.15

Während der obligatorische Gläubigerausschuss das Erreichen bestimmter Kennzahlen voraussetzt, kann auch in „Kleinverfahren“ der Anstoß zur Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses als fakultative Möglichkeit der Gläubigerbeteiligung im Eröffnungsverfahren erfolgen. Die Regelung des § 22a Abs. 2 InsO soll bei kleineren als den in Absatz 1 bezeichneten Unternehmen eine frühzeitige Einbindung von Gläubigern ermöglichen2. Die Einsetzung erfolgt entweder nach freiem Ermessen des Gerichts oder auf Grund eines entsprechenden Antrags.

a) Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses auf Antrag aa) Antragsberechtigung

19.16

Antragsberechtigt sind der Schuldner, jeder Gläubiger und der vorläufige Insolvenzverwalter. § 22a Abs. 2 InsO unterscheidet nicht nach der Gläubigerstellung. Entsprechend dem Grundgedanken des § 1 InsO zählen mithin zu den antragsberechtigten Gläubigern im Sinne der Vorschrift die Insolvenzgläubiger (§§ 38, 39 InsO), die absonderungsberechtigten Gläubiger, soweit deren Recht auf vorzugsweise Befriedigung und entsprechende Verfahrensbeteiligung nicht ausreicht, und Massegläubiger nach Maßgabe des § 55 Abs. 2 InsO. Soweit bereits ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden ist oder der Schuldner im Eigenverwaltungsverfahren einen Antrag nach § 270c Abs. 4 InsO gestellt hat oder ihm eine Einzelermächtigung erteilt worden ist, erlangen die vom vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. Schuldner begründeten Verbindlichkeiten mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Qualität einer Masseverbindlichkeit. Zwar sind auch diese Forderungen dadurch gekennzeichnet, dass sie erst nach Insolvenzeröffnung entstehen. Begründet werden sie indes bereits durch die vorbezeichneten Rechtshandlungen im Insolvenzeröffnungsverfahren, so dass es gerechtfertigt erscheint, auch diesen Gläubigern das Antragsrecht einzuräumen3.

19.17

Die Frage, ob auch den Personen, die erst mit der Eröffnung des Verfahrens Insolvenzgläubiger werden, ein Antragsrecht zuzugestehen ist, wird unterschiedlich beantwortet4. Es begegnet keinen grundlegenden Bedenken, sie in Anlehnung an die Bestimmung des § 21a Abs. 1 Nr. 1a Halbs. 2 InsO als antragsberechtigt anzusehen, weil auch sie vom Verfahrenszweck des § 1 InsO erfasst werden. Da § 22a Abs. 1 InsO ebenso wie § 14 Abs. 1 InsO nur den Begriff „Gläubiger“ verwendet, sind auch aussonderungsberechtigte Gläubiger befugt, die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses zu beantragen5. bb) Zulässigkeit des Antrags

19.18

Der Antrag ist nur zulässig, wenn ein vollständiger Gläubigerausschuss unter Beachtung der Vorgaben der § 67 Abs. 2, 3 InsO benannt wird. Dem Antrag ist die Einverständniserklärung der benannten Personen entweder im Original oder in beglaubigter Abschrift beizufügen. Bei dieser 1 2 3 4 5

Obermüller, ZInsO 2012, 18, 20. Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 12. Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 12. Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 22; ablehnend Frind, ZInsO 2011, 2249, 2253. Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 22; Frind, ZInsO 2011, 2249, 2253; a.A. Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 12.

674 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.22 § 19

Erklärung handelt es sich nicht um eine vorweg erklärte Annahme der Bestellung. Das Gericht hat sich vielmehr davon zu überzeugen, dass der Vorgeschlagene tatsächlich bereit ist, sein Amt anzunehmen1. Der Antrag eines Gläubigers auf Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses vor Eingang des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei Gericht ist zwar unbeachtlich, verschafft aber dem Richter unter Umständen eine zusätzliche Erkenntnismöglichkeit. cc) Gerichtliche Entscheidung Trotz Verwendung des Wortes „soll“ in § 22a Abs. 2 InsO steht dem Gericht grundsätzlich kein Ermessen bei der Frage zu, ob ein vorläufiger Gläubigerausschuss zu bestellen ist2.

19.19

Der Richter ist jedoch an die Vorschläge des Antragstellers nicht gebunden3. Er sollte bei einer ungleichmäßigen Interessenrepräsentation davon absehen, dem Vorschlag vollumfänglich zu folgen. Er kann den Schuldner oder den vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter auffordern, weitere oder andere Personen zu benennen, die als Mitglieder des vorläufigen Gläubigerausschusses in Betracht kommen (§ 22a Abs. 4 InsO) und deren Bestellung die Gewähr dafür bietet, dass die Interessen aller beteiligten Gläubigergruppen angemessen vertreten sind (§ 21a Abs. 2 Nr. 1a Halbs. 1, § 67 Abs. 2, 3 InsO). Da es sich bei § 67 Abs. 2 InsO um eine Soll-Vorschrift handelt, müssen nicht alle dort genannten Gläubigergruppen im vorläufigen Gläubigerausschuss repräsentiert sein4.

19.20

b) Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses nach pflichtgemäßem Ermessen Auch ohne Antrag kann das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen einen vorläufigen Gläubigerausschuss einsetzen (§ 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO). Anlass hierzu besteht, wenn auf diese Weise – unabhängig von der Größe des Unternehmens – der Sanierungsprozess befördert werden kann5. Dabei hat das Gericht das Beteiligungs- und Mitbestimmungsinteresse gegen die mit einer Bestellung unter Umständen einhergehende Verzögerung des Verfahrens und die für die künftige Masse entstehenden Kosten abzuwägen. Bei einer beabsichtigten Sanierung des schuldnerischen Unternehmens ist die Einbindung der Gläubiger in diesen Prozess naheliegend. Bei leichtem Unterschreiten der Kennzahlen des § 22a Abs. 1 InsO oder bei einem Anstieg der Schwellenwerte während des Eröffnungsverfahrens kann die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses ebenfalls sinnvoll sein. Auch bei bestehenden Zweifeln an der Eignung des Schuldners für eine Eigenverwaltung erscheint es vertretbar, wenn ein Gericht einen vorläufigen fakultativen Gläubigerausschuss bestellt, um diesem die Möglichkeit einer einstimmigen Beschlussfassung nach § 270b Abs. 3 InsO zu eröffnen6.

19.21

3. Einsetzungssperre (§ 22a Abs. 3 InsO) Nach § 22a Abs. 3 InsO hat das Gericht von der Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses abzusehen, wenn der Geschäftsbetrieb des Schuldners eingestellt ist, die Einsetzung 1 Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 28. 2 Hölzle in Karsten Schmidt, § 22 InsO Rz. 8; Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 30; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 102. 3 BT-Drucks. 17/5712, S. 25. 4 Vgl. AG Köln v. 22.7.2003 – 71 IN 453/02, NZI 2003, 657. 5 Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 31. 6 Vgl. hierzu AG Essen v. 1.9.2015 – 163 IN 14/15, NZI 2015, 931.

Bast | 675

19.22

§ 19 Rz. 19.22 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

des vorläufigen Gläubigerausschusses im Hinblick auf die zu erwartende Insolvenzmasse unverhältnismäßig ist oder die mit der Einsetzung verbundene Verzögerung zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögenslage des Schuldners führt. Die Vorschrift umfasst die Einsetzung des Pflichtausschusses, des fakultativen Ausschusses und des auf freiem richterlichen Ermessen beruhenden Ausschusses1. Die Regelung in § 22a Abs. 3 InsO ist nicht abschließend. Liegen gewichtige Gründe vor, die mit den in der vorgenannten Bestimmung enthaltenen Fallgruppen vergleichbar sind, kann das Gericht von der Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses absehen. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen reichen indes nicht aus. So rechtfertigt allein der Umstand, dass die vom Antragsteller vorgeschlagenen Personen nicht der Vorstellung des Gerichts entsprechen, nicht die Zurückweisung des Antrags. In einem solchen Fall hat das Gericht vielmehr eigene Ermittlungen zur Bestellung anderer oder weiterer Personen einzuleiten2.

19.23

Es empfiehlt sich, dass Schuldner und Gläubiger das Gericht frühzeitig auf etwaige Ausschlussgründe hinweisen. Dies dient nicht nur der Entlastung des Gerichts, sondern erspart eine unangemessene Belastung der Masse mit Vergütungsansprüchen der Ausschussmitglieder. Allerdings rechtfertigt die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses trotz Vorliegens der Ausschlussgründe des § 22a Abs. 3 InsO keine vorzeitige Entlassung des gesamten Ausschusses, weil die Anordnung keine Sicherungsmaßnahme darstellt, die von Amts wegen nach pflichtgemäßem Ermessen aufzuheben oder zu ändern ist, wenn die Anordnungsvoraussetzungen weggefallen sind3. Dies gilt gleichermaßen, wenn die Einsetzungsvoraussetzungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entfallen sind4. Begehren indes sämtliche Ausschussmitglieder ihre Entlassung aus dem Amt bzw. die Auflösung des vorläufigen Gläubigerausschusses, erscheint es gerechtfertigt, entsprechend dem Grundgedanken des § 70 Satz 1 InsO diesem Ansinnen Folge zu leisten.

a) Eingestellter Geschäftsbetrieb 19.24

Da die Beteiligung der Gläubiger im Eröffnungsverfahren in erster Linie dazu dient, ihre Einflussnahme auf wichtige Entscheidungen zur erfolgreichen Sanierung eines insolventen Unternehmens und zum Erhalt der Betriebs- und Arbeitsstätte frühzeitig zu ermöglichen5, ist entsprechend dem Sinn und Zweck der Vorschrift bei einer Einstellung des Betriebes von der Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses abzusehen. Eine Einstellung des Geschäftsbetriebes liegt vor, wenn die Gesellschaft nicht mehr werbend am Markt tätig ist. Liquidations- oder Abwicklungsmaßnahmen stehen der Einstellung nicht entgegen6. Auch wenn der vom Gericht bestellte Sachverständige in seinem Gutachten zu der Erkenntnis gelangt, dass eine Wiedereröffnung des Geschäftsbetriebes wirtschaftlich sinnvoll erscheint oder der vorläufige Insolvenzverwalter eine solche Maßnahme näher in Erwägung zieht, kommt die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses nicht in Betracht.

1 A.A. wohl Frind in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 22a InsO Rz. 24, wonach die Vorschrift nicht auf den „amtswegigen“ Ausschuss anwendbar sei. 2 Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 52. 3 BGH v. 7.12.2006 – IX ZB 257/05, GmbHR 2007, 153 = ZIP 2007, 144. 4 A.A. Frind, ZInsO 2011, 2249, 2254; zurückhaltend insoweit auch Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 208 f. 5 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 12. 6 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 217; Frind, ZInsO 2011, 2249, 2254.

676 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.26 § 19

b) Unverhältnismäßigkeit der Einsetzung im Hinblick auf die zu erwartende Insolvenzmasse Da nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich nach einem Antrag eines hierzu Berechtigten ein vorläufiger Gläubigerausschuss eingesetzt werden soll, ist für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der zweiten Alternative des § 22a Abs. 3 InsO („unverhältnismäßig“) von einem Regel-Ausnahmeverhältnis auszugehen1. Letztlich kann die Frage, ob der Ausnahmetatbestand vorliegt oder nicht, nur im Einzelfall nach einer Kosten-Nutzen-Prognose beantwortet werden2. Dabei hat das Gericht zunächst zu ermitteln, mit welcher Teilungsmasse prognostisch ohne Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses zu rechnen ist. Sodann sind die Kosten für die Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses zu schätzen. Diese setzen sich aus der Vergütung der Ausschussmitglieder und den Kosten der Haftpflichtversicherung zusammen3. Mit welcher Gesamtdauer der Ausschuss zusammentreten wird, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab. Grundsätzlich sollte das Gericht anhand der ihm vorliegenden Unterlagen das Kosten-Nutzen-Verhältnis ermitteln. Die Beauftragung eines Sachverständigen zur Feststellung der Verhältnismäßigkeit der Kosten erscheint grundsätzlich nicht vertretbar, weil die erforderlichen Feststellungen eine geraume Zeit in Anspruch nehmen dürften und damit die Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses für diesen Zeitraum blockiert ist4. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die vom Gericht vorzunehmende Prognose gerade zu Beginn des Verfahrens schwierig ist. Ob die in der Literatur vorgeschlagene Größenordnung einer Belastung der freien Masse durch die Kosten des Gläubigerausschusses mit maximal 5 %5 sachgerecht ist, erscheint fraglich6. Jedoch sollten die Kosten nicht mehr als 10 % Anteil der zu erwartenden Masse darstellen. Soweit auf Grund der Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses Zweifel an der Verfahrenskostendeckung entstehen, liegt der Ausnahmetatbestand ohne weiteres vor7. Dagegen dürfte bei Erreichen der Kennzahlen des § 22a Abs. 1 InsO in der Regel davon auszugehen sein, dass die zu erwartende Teilungsmasse die Einsetzung rechtfertigt.

19.25

c) Nachteilige Veränderung der Vermögenslage (§ 22a Abs. 3 Alt. 3 InsO) Besondere praktische Bedeutung hat die 3. Alternative des § 22a Abs. 3 InsO, nach der das Gericht einen vorläufigen Gläubigerausschuss nicht zu bestellen hat, wenn die mit der Einsetzung verbundene Verzögerung offensichtlich innerhalb von zwei Werktagen zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögenslage des Schuldners führt. Diese Zwei-Tagesfrist, die in § 56a Abs. 1, § 270f Abs. 3, § 270b Abs. 3 InsO mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) eingefügt worden ist, soll zur Stärkung der Gläubigerautonomie bei der Bestellung eines (vorläufigen) Insolvenzverwalters und der Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung beitragen8. Verfügt der Schuldner jedoch bei Antragstellung über einen Geschäftsbetrieb, der nicht eingestellt ist, besteht im Regelfall die Not1 2 3 4 5 6 7 8

Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22a InsO Rz. 150. Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 2017. Römermann, NJW 2012, 645, 648. Ähnlich Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 17; a.A. BAK-InsO Entschließung Herbsttagung 2011, Ziffer II.1, ZInsO 2011, 2223. Frind, ZInsO 2011, 2249, 2255. Nach Ansicht des AG Ludwigshafen (v. 4.5.2012 – 3f IN 103/12, ZIP 2012, 2310) sind die Kosten unverhältnismäßig, wenn sie einen Anteil von 7% der Teilungsmasse übersteigen. Ebenso Smid, jurisPR-InsR 14/2012 Anm. 6. Entschließung BAK-InsO Herbsttagung 2011, Ziffer II.1, ZInsO 2011, 2223. BT-Drucks. 19/24181, S. 7 ff.

Bast | 677

19.26

§ 19 Rz. 19.26 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

wendigkeit, sogleich einen vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. bei einem zulässigen Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung einen vorläufigen Sachwalter zu bestellen. Denn bei Geschäftsführung, Kunden und Arbeitnehmern besteht insbesondere in Betriebsfortführungsfällen Bedarf an klaren und raschen Entscheidungen sowie an einer eindeutigen sanierungspositiven Nachricht1. Im Übrigen wird der Insolvenzrichter bei einem Sicherungsbedürfnis der Masse bereits aus Haftungsgründen eine Sicherungsmaßnahme nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO zu treffen haben. Dies dürfte auch weiterhin insolvenzgerichtlicher Praxis entsprechen. Auch wenn bei einer Erstbestellung des vorläufigen Verwalters die 3. Alternative in der Regel immer begründbar sein wird, ändert dies nichts an dem Umstand, dass das Gericht im Rahmen einer Prognose, und zwar anhand konkreter Umstände, festzustellen hat, ob die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögenslage führt.

19.27

Erscheint die sofortige Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bzw. vorläufigen Sachwalters unmittelbar nach Antragstellung geboten, hat das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 22a Abs. 1 InsO bzw. bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 22a Abs. 2 InsO sogleich die notwendigen Maßnahmen zur Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses einzuleiten. Da der Bestellungsvorgang geraume Zeit in Anspruch nehmen kann, ist die in § 56a Abs. 1 InsO2 vorgesehene Anhörung des Ausschusses vor der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters (Sachwalters) in der Regel schwierig umzusetzen. Wenn das Gericht mit der Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters (Sachwalters) bis zur Konstituierung des vorläufigen Gläubigerausschusses zuwartet, kann die damit einhergehende Zeitverzögerung schnell zu einer Schädigung der Masse führen3. Bereits aus Haftungsgründen wird der Insolvenzrichter daher häufig die Maßnahme treffen, die zur Sicherung der Masse unerlässlich ist. Der Gesetzgeber hat diese Konfliktsituation erkannt und versucht, den Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl des (vorläufigen) Insolvenzverwalters zu gewährleisten, indem § 56a Abs. 3 InsO vorsieht, dass ein später bestellter vorläufiger Gläubigerausschuss in seiner ersten Sitzung einstimmig eine andere Person als die bestellte zum (vorläufigen) Insolvenzverwalter wählen kann.

19.28

Die Vorschrift des § 56a Abs. 3 InsO berücksichtigt zwei Fallgestaltungen für ein Recht zur Neubestellung durch den vorläufigen Gläubigerausschuss: Einerseits, wenn das Gremium zwar vor der Anordnung der Sicherungsmaßnahme nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO bestellt wurde, aber wegen unaufschiebbarer notwendiger Sicherungsmaßnahmen keine Zeit (Zwei-Tagesfrist) für eine Anhörung der Ausschussmitglieder bestand, oder andererseits dieser Umstand bereits die Einsetzung des Gläubigerausschusses vor der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters verhindert hat4. Soweit die zunächst bestellte Person die wesentliche Weichenstellung für eine Betriebsfortführung bereits vorgenommen hat, dürfte das Interesse an ihrer Abwahl begrenzt sein5.

19.29

Wollen Gläubiger bzw. der Schuldner sicherstellen, dass die vorgeschlagene Person des (vorläufigen) Insolvenzverwalters (Sachwalters) tatsächlich durch das Gericht bestellt wird, bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung des Eigenantrags. So sollte der Schuldner bereits vor Antragstellung die für den Gläubigerausschuss geeigneten Personen auswählen und diese dem Gericht bei seiner Antragstellung mit entsprechenden schriftlichen Erklärungen zur Übernahmebereitschaft präsentieren. Folgt das Gericht dem Vorschlag des Schuldners, könnte es sogleich den vorläufigen Gläubigerausschuss bestellen. Dieser könnte in seiner sofort anzuberaumen1 2 3 4 5

Vallender, MDR 2012, 61. S. auch § 270b Abs. 3, § 270f Abs. 3 InsO. Ähnlich Steinwachs, ZInsO 2011, 410, 411; Riggert, NZI 2011, 121; Zuleger, NZI 2011, 136. Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 19. S. auch Steinwachs, ZInsO 2011, 410, 411.

678 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.43 § 19

den ersten Sitzung einen einstimmigen Beschluss zur Person des (vorläufigen) Insolvenzverwalters fassen und diesen dem Gericht präsentieren. Grundsätzlich ist eine solche Vorgehensweise noch am Tag der Antragstellung innerhalb weniger Stunden möglich, etwa mit Hilfe einer Video- oder Telefonkonferenz. Das Gericht darf von einem einstimmigen Beschluss des vorläufigen Gläubigerausschusses nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person für die Übernahme des Amtes nicht geeignet ist (vgl. § 56a Abs. 2 InsO). Allerdings kann der Antragsteller auch bei einem optimal vorbereiteten Antrag auf Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses nicht sichergehen, dass das Gericht den Ausschuss so rechtzeitig bestellt, dass ein bindender Beschluss noch vor Ernennung des vorläufigen Insolvenzverwalters bzw. vorläufigen Sachwalters ergeht. Denn die Bestellung der einzelnen Ausschussmitglieder unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Mithin kann es zu erheblichen Verzögerungen bei der Bestellung kommen, wenn die vorgeschlagenen Personen nicht der Vorstellung des Gerichts entsprechen und dieses weitere Ermittlungen einleitet, indem es den Schuldner oder vorläufigen Insolvenzverwalter auffordert, Personen zu benennen, die als Mitglieder des vorläufigen Gläubigerausschusses in Betracht kommen, vgl. § 22a Abs. 4 InsO. Anlass hierzu besteht indes nur dann, wenn Personen vorgeschlagen wurden, die erkennbar nicht die Gläubigergesamtheit repräsentieren oder mit dem Antrag rechtsmissbräuchliche Zwecke verfolgt werden.

Einstweilen frei.

19.30–19.40

III. Rechtsmittel Ein Rechtsmittel gegen die Zurückweisung des Antrags auf Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses, unabhängig davon, ob die Entscheidung durch Beschluss oder in Form einer Verfügung ergeht, steht dem Antragsteller mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung nicht zu1. Denn Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen die Insolvenzordnung die sofortige Beschwerde vorsieht (§ 6 InsO). Ebensowenig kann der Antragsteller bei Untätigbleiben des Gerichts eine gerichtliche Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen2.

19.41

Horstkotte3 hält dem entgegen, dass der Antrag auf Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses verfahrensrechtlich als ein das Verfahren betreffendes Gesuch i.S. des § 567 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu werten sei und deshalb dem Antragsteller das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegen die den Antrag zurückweisende Entscheidung zustehe. Ein Rückgriff auf die Regelungen des EGGVG, wie dies von Römermann/Praß4 vorgeschlagen worden sei, sei daher nicht erforderlich. Die Rechtsbehelfe des EGGVG würden sich in der Praxis als wenig hilfreich erweisen, weil das Insolvenzverfahren als „Eilverfahren“ keine in der Rechtsprechung der OLG regelmäßig anzutreffenden Entscheidungszeiträume dulde.

19.42

Obwohl es sich bei der Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses nicht um eine Sicherungsmaßnahme handelt, steht dem Schuldner gegen die Einsetzung grundsätzlich das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu (§ 21 Abs. 1 Satz 2 InsO)5. Fraglich erscheint, ob das Rechtsmittel auch zulässig ist, wenn der Schuldner selbst die Einsetzung nach § 22a Abs. 2

19.43

1 2 3 4 5

Vallender in Uhlenbruck, § 22a InsO Rz. 82; Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 49. Vgl. BGH v. 7.2.2013 – IX ZB 43/12, ZIP 2013, 525. Horstkotte, ZInsO 2012, 1930. Römermann/Praß, ZInsO 2012, 1923. Im Ergebnis ähnlich: Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 11.

Bast | 679

§ 19 Rz. 19.43 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

InsO beantragt hat. Zumindest dürfte es in diesem Fall an der formellen Beschwer des Schuldners fehlen1.

19.44–19.50

Einstweilen frei.

IV. Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren 19.51

Die Zusammensetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren hat sich auf Grund der Verweisung in § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO am Leitbild des § 67 Abs. 2 und 3 InsO zu orientieren, ohne dass daraus eine Verpflichtung für das Gericht erwächst, eine bestimmte Personenanzahl zu bestellen. Ein Gläubigerausschuss muss aus mindestens zwei Mitgliedern bestehen2. Der einzelne Gläubiger hat keinen Anspruch auf Berufung in den vorläufigen Gläubigerausschuss3. Vielmehr obliegt es dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, wen und wie viele Personen es zu Gläubigerausschussmitgliedern bestellt4. Bei seiner Bestellungsentscheidung sollte das Gericht darauf achten, dass in dem Ausschuss die unterschiedlichen Interessen der Gläubiger gebündelt werden.

19.52

Den Antragsberechtigten gemäß § 22a Abs. 2 InsO ist zu empfehlen, Mitgliedsvorschläge zu unterbreiten, insbesondere zu den in § 67 Abs. 2 InsO genannten vier Gruppen, um nicht die Zurückweisung des Antrags als unzulässig zu riskieren. Da Insolvenzgerichte üblicherweise einen Ausschuss mit einer ungeraden Personenzahl bilden, sollte aus Vorsichtsgründen noch eine fünfte Person benannt werden. Auch wenn § 67 Abs. 2 InsO nur vier Gläubigergruppen erwähnt, sollte das Gericht im Regelfall fünf5 oder zumindest drei Personen zu Gläubigerausschussmitgliedern bestellen, um Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen.

19.53

Die Vorschrift des § 67 Abs. 3 InsO ist mit dem Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungsund Insolvenzrechts – SanInsFoG6 – in § 21a Abs. 1 Nr. 1a InsO ausdrücklich eingefügt worden. Danach können jetzt auch Personen, die nicht Gläubiger des Schuldners sind, in den vorläufigen Gläubigerausschuss berufen werden. Durch den Verweis soll vor allem ermöglicht werden, dass Vertreter von Gewerkschaften als Mitglieder eines vorläufigen Gläubigerausschusses berufen werden können7. Damit dürfte die Regelung des § 21 Abs. 1 Nr. 1a InsO, wonach auch Personen bestellt werden können, die erst mit der Eröffnung des Verfahrens die Stellung eines Gläubigers erlangen, zukünftig an Bedeutung verlieren. Zu diesen Gläubigern zählen in der Regel der Pensionssicherungsverein (PSV), Kredit- und Kautionsversicherer und die Bundesagentur für Arbeit (BfA).

19.54

Eine wichtige Erkenntnisquelle für das Gericht, wer zum Mitglied des vorläufigen Gläubigerausschusses bestellt werden kann, bilden vor allem die vom Schuldner vorzulegenden vollständigen Antragsunterlagen nach § 13 Abs. 1 InsO, insbesondere das qualifizierte Gläubigerver1 2 3 4 5

Vgl. BGH v. 17.7.2008 – IX ZB 225/07, ZIP 2008, 1793 ff. BGH v. 5.3.2009 – IX ZB 148/08, ZInsO 2009, 716 = ZIP 2009, 727. Knof in Uhlenbruck, § 67 InsO Rz. 18. A.A. Haarmeyer, ZInsO 2012, 2109, 2113 ff. Das AG Ludwigshafen v. 4.5.2012 – 3f IN 103/12, ZIP 2012 2310, hält bei einer Betriebsfortführung die Zahl von 5 Mitgliedern für zwingend erforderlich. 6 BT-Drucks. 19/24181, S. 7 ff. 7 BT-Drucks. 19/24181, S. 197 ff.

680 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.61 § 19

zeichnis. Darüber hinaus kann das Gericht nach § 22a Abs. 4 InsO den Schuldner oder den vorläufigen Insolvenzverwalter auffordern, Personen zu benennen, die als Mitglieder des vorläufigen Gläubigerausschusses in Betracht kommen. Dabei sollte das Gericht konkretisieren, welche Gläubigermerkmale nach § 67 Abs. 2 und 3 InsO hinsichtlich der zu benennenden Personen erfüllt sein sollen. Im Rahmen seiner allgemeinen Auskunftspflicht hat der Schuldner zu der Aufforderung Stellung zu nehmen (§ 20 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 97 InsO). Während der Gesetzgeber dem Schuldner in § 22a Abs. 4 InsO eine direkte Einflussmöglichkeit auf die Bestellung des vorläufigen Gläubigerausschusses einräumt, fehlt es an einer entsprechenden Regelung für die Gläubiger. Vor allem professionelle Gläubiger könnten indes ein fallunabhängiges Schreiben an das Insolvenzgericht mit der Bitte richten, künftig in einen Gläubigerausschuss berufen zu werden. Im konkreten Fall hat der Gläubiger den Nachweis der Gläubigereigenschaft zu führen. Dagegen besteht bei der Bitte um Berücksichtigung in einem konkret drohenden Insolvenzfall die Gefahr, dass ein entsprechendes Gesuch eine mögliche Kreditgefährdung oder gar die Schädigung des schuldnerischen Unternehmens zur Folge haben kann. Darüber hinaus haben Gläubiger vor der Antragstellung die Möglichkeit, sich für ihre konstruktive Begleitung des außergerichtlichen Sanierungsversuchs des Schuldners eine Berücksichtigung im Schuldnervorschlag zum vorläufigen Gläubigerausschuss auszubedingen. Einstweilen frei.

19.55–19.60

V. Mitgliedschaft Die Mitglieder des Gläubigerausschusses haben ihr Amt höchstpersönlich auszuüben. Sie können Dritte grundsätzlich nicht mit ihrer Vertretung bevollmächtigen1. Ist das Mitglied aus persönlichen Gründen dauerhaft nicht in der Lage, seinen Pflichten nachzukommen, rechtfertigt dies seine Entlassung nach § 70 InsO. Nach überwiegender Meinung in der Literatur können auch juristische Personen in den Gläubigerausschuss berufen werden2. Diese werden durch ihr Organ vertreten, das wiederum einer bestimmten Person eine Einzelvollmacht zur ständigen Vertretung im konkreten Verfahren erteilen kann. Hinsichtlich Vorstandsmitgliedern und Arbeitnehmern von Gläubigern eröffnet § 21a Abs. 1 Nr. 1a i.V.m. § 67 Abs. 3 InsO weitere Möglichkeiten. Zwar kann die jeweils entsandte Person wechseln, weil nicht sie, sondern die juristische Person das Amt innehat. Entsendet die juristische Person jedoch laufend wechselnde Vertreter, erscheint es sachgerecht, die Entlassung dieses Mitglieds näher in Erwägung zu ziehen. Behörden und Ämter wie z.B. Finanzämter können nicht Mitglied des Gläubigerausschusses werden, weil ihnen das für den rechtlichen Personenbegriff entscheidende Merkmal der Rechtsfähigkeit fehlt3. Soweit die Finanzverwaltung in den Gläubigerausschuss berufen werden soll, ist deshalb das jeweilige Bundesland, vertreten durch die Oberfinanzdirektion (OFD) oder durch das jeweilige Finanzamt, zu bestellen4. Juristische Personen und 1 Str.: s. Jungmann in Karsten Schmidt, § 67 InsO Rz. 6; Knof in Uhlenbruck, § 67 InsO Rz. 13; a.A. Kind in Braun, § 67 InsO Rz. 9; Schmid/Burgk in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 67 InsO Rz. 25. 2 BGH v. 11.11.1993 – IX ZR 35/93, ZIP 1994, 46, 47; OLG Köln v. 1.6.1988 – 13 U 234/87, ZIP 1988, 992; Vallender, WM 2002, 2040; Kind in Braun, § 67 InsO Rz. 8; Schmid/Burgk in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 67 InsO Rz. 17. 3 BGH v. 11.11.1993 – IX ZR 35/93, ZIP 1994, 46, 47. 4 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 206 empfiehlt z.B. wie folgt zu bestellen: „(...) das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch die OFD, diese vertreten durch Herrn/Frau (...)“.

Bast | 681

19.61

§ 19 Rz. 19.61 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Anstalten des öffentlichen Rechts können hingegen Mitglied des Gläubigerausschusses werden, so etwa die Bundesagentur für Arbeit oder Sparkassen und Landesbanken1. Zuständig für die Entscheidung über Streitigkeiten darüber, wer Mitglied im vorläufigen Gläubigerausschuss ist, ist das Insolvenzgericht, nicht das Prozessgericht2.

19.62–19.65

Einstweilen frei.

VI. Amtsdauer 19.66

Die Amtsdauer des Mitglieds des vorläufigen Gläubigerausschusses im Insolvenzeröffnungsverfahren beginnt grundsätzlich mit der gegenüber dem Gericht erklärten Annahme des Amtes nach dem gerichtlichen Bestellungsbeschluss und endet mit der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens3. Individuell endet das Amt durch Tod oder durch Entlassung gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1a i.V.m. § 70 InsO durch das Gericht. Die Entlassung eines Mitglieds des Gläubigerausschusses auf seinen eigenen Antrag hin setzt einen wichtigen Grund voraus. Ein solcher liegt vor, wenn die Fortsetzung der Tätigkeit für das Mitglied des Ausschusses bei Abwägung der Interessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unzumutbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn nicht gesichert ist, dass die Kosten einer angemessenen Haftpflichtversicherung für diese Tätigkeit von der Masse getragen werden können4. Das Ausschussmitglied sollte vor Annahme des Amtes darauf achten, dass es bei der abzuschließenden Versicherung keine unangemessenen Ausschlusstatbestände für die Eintrittspflicht gibt. Auch ein Selbstbehalt der Mitglieder ist möglichst ganz auszuschließen; dies gilt insbesondere für natürliche Personen als Ausschussmitglieder.

19.67

In der Praxis üblich ist die Vorlage einer schriftlichen Erklärung des vorzuschlagenden Gläubigerausschussmitglieds, zur Übernahme des Amtes bereit zu sein. Fraglich erscheint, ob es trotz dieser antizipierten Annahmeerklärung noch einer besonderen Annahmeerklärung nach der Einsetzung des Ausschusses bedarf. Aus praktischen Gründen ist dies zu verneinen. Der Wille des Erklärenden ist darauf gerichtet, für den Fall der Bestellung sein Amt anzunehmen. Eine zusätzliche ausdrückliche Annahmeerklärung wäre reine Förmelei5. Spätestens mit der Aufnahme der Tätigkeit hat das Gläubigerausschussmitglied seine Bestellung angenommen6. Denkbar wäre aber in jedem Fall eine bestätigende Annahmeerklärung zu Protokoll der Gläubigerausschussversammlung.

19.68

Da die Vorschrift des § 21a Abs. 1a InsO nicht auf § 68 InsO verweist, findet ein automatischer Übergang in den Interimsausschuss nicht statt. Hält das Gericht die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses auch für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum Berichtstermin für erforderlich, hat es diesen erneut einzusetzen. Dabei wird es im Regelfall auf die zuvor bereits bestellten Personen zurückgreifen.

19.69–19.80

Einstweilen frei.

1 Knof in Uhlenbruck, § 67 InsO Rz. 15; Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl., § 2 Rz. 206. 2 Für den Gläubigerausschuss vgl. BGH v. 11.3.2021 – IX ZR 266/18, ZIP 2021, 859. 3 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 44 m.w.N. 4 BGH v. 29.3.2012 – IX ZB 310/112, ZIP 2012, 876. 5 A.A. Frind, ZInsO 2011, 2249, 2256. 6 Ganter in FS Fischer, 2008, S. 121, 127.

682 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.84 § 19

VII. Aufgaben und Befugnisse des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren Die Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses im Eröffnungsverfahren soll der Gläubigerautonomie bereits in diesem frühen Verfahrensstadium stärker Geltung verschaffen1. So wird dem Ausschuss insbesondere die Aufgabe zugewiesen, bei wichtigen, insbesondere für die Sanierung eines Unternehmens erheblichen Entscheidungen mitzuwirken2. Dem trägt zunächst § 56a Abs. 1 InsO dadurch Rechnung, dass dem vorläufigen Gläubigerausschuss Gelegenheit zu geben ist, sich zu den Anforderungen, die an den Verwalter zu stellen sind, und zur Person des Verwalters zu äußern, soweit dies nicht innerhalb von zwei Werktagen offensichtlich zu einer nachteiligen Veränderung der Vermögenslage des Schuldners führt. Von einem einstimmigen Vorschlag darf das Gericht nur abweichen, wenn die vorgeschlagene Person für die Übernahme des Amtes nicht geeignet ist (§ 56a Abs. 2 InsO). Dies gilt gleichermaßen bei der Bestellung eines vorläufigen Sachwalters (§ 270b Abs. 1, § 274 Abs. 1 InsO). Hat das Gericht vor seiner Bestellungsentscheidung von einer Anhörung des vorläufigen Gläubigerausschusses abgesehen, so hat es seine Entscheidung schriftlich zu begründen. Dieser kann dann in seiner ersten Sitzung einstimmig eine andere Person als die bestellte zum (vorläufigen) Insolvenzverwalter/Sachwalter wählen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 56a Abs. 3 Satz 2 InsO).

19.81

Den Besonderheiten eines Konzerninsolvenzverfahrens trägt die Vorschrift des § 56b InsO Rechnung. Wird über das Vermögen von gruppenangehörigen Schuldnern i.S. der §§ 3a ff. InsO die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt, so haben sich die angegangenen Insolvenzgerichte gemäß § 56b Abs. 1 InsO darüber abzustimmen, ob es im Interesse der Gläubiger liegt, lediglich eine Person zum Insolvenzverwalter zu bestimmen. Dabei kann das Gericht von einem Vorschlag oder den Vorgaben eines vorläufigen Gläubigerausschusses (i.S. des § 56a InsO) eines gruppenangehörigen Schuldners nach dessen vorheriger Anhörung abweichen, wenn der für einen anderen gruppenangehörigen Schuldner bestellte vorläufige Gläubigerausschuss einen für alle Verfahren der gruppenangehörigen Schuldner einheitlich geeigneten Verwalter einstimmig vorschlägt. Die Vorschrift des § 56a InsO ist im Falle einer Auflösung von Interessenskonflikten für die Bestellung eines Sonderinsolvenzverwalters entsprechend anzuwenden. Über die § 270b Abs. 1, § 270f Abs. 2 Satz 1, § 274 Abs. 1 InsO gelten diese Grundsätze auch für die Bestellung eines (vorläufigen) Sachwalters.

19.82

Nach Auffassung des BGH3 läuft es nicht allgemeinen Interessen zuwider, wenn nach Prüfung der Umstände des Einzelfalls in einem abändernden Beschluss auf Vorschlag des vorläufigen Sachwalters und entsprechend dem einstimmigen Votum des vorläufigen Gläubigerausschusses anstelle des vorläufigen Sachwalters ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt wird. Dies gilt vor allem, wenn die vorgenommene Bestellung des vorläufigen starken Insolvenzverwalters nach mehreren Monaten wieder rückgängig gemacht werden müsste, weil die Wirkungen von Rechtshandlungen, die von ihm oder ihm gegenüber vorgenommen worden sind, unberührt bleiben müssten (§ 34 Abs. 3 Satz 3 InsO entsprechend).

19.83

Bei einem Antrag des Schuldners auf Anordnung der Eigenverwaltung ist der vorläufige Gläubigerausschuss ebenfalls in die Entscheidung über diesen Antrag einzubinden. Dabei hat er die Möglichkeit, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht auf den Antrag Einfluss zu nehmen. Gründe, die gegen eine Anordnung sprechen (vgl. hierzu auch § 270b Abs. 1,

19.84

1 BT-Drucks. 127/11, S. 22; s. auch Rz. 19.26. 2 BT-Drucks. 17/5712, S. 24. 3 BGH v. 5.3.2015 – IX ZB 77/14, ZIP 2015, 648 Rz. 11.

Bast | 683

§ 19 Rz. 19.84 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

§ 270e Abs. 1 und 4 InsO) sollte er dem Gericht näher darlegen, ohne dass dieser Sachvortrag den Richter in seiner Entscheidung bindet. Bei Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung sieht § 270b Abs. 3 InsO1 eine Einbindung des vorläufigen Gläubigerausschusses nunmehr ausdrücklich dann vor, wenn Zweifel daran bestehen, dass der Schuldner seine Geschäftsführung an den Gläubigerinteressen ausrichten wird, insbesondere die in § 270b Abs. 2 InsO aufgezählten Bedenken gegen die Anordnung der Eigenverwaltung vorliegen. Die Konsultierung des vorläufigen Gläubigerausschusses darf dann nur unterbleiben, wenn die hierdurch bedingte Verzögerung offensichtlich innerhalb von zwei Werktagen zu einer nachteiligen Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners führt, die sich nur durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters abwenden lässt2. Bestellt das Gericht entgegen dem schuldnerischen Antrag einen vorläufigen Insolvenzverwalter, ist die Entscheidung zu begründen, § 270b Abs. 4 InsO. Hierdurch soll der Gläubigerversammlung ermöglicht werden, auf Basis der Begründung zu entscheiden, ob eine nachträgliche Anordnung der Eigenverwaltung gemäß § 271 InsO beantragt werden soll3. An einen die vorläufige Eigenverwaltung unterstützenden einstimmigen Beschluss des vorläufigen Gläubigerausschusses ist das Gericht jedoch gebunden. Diese Regelung hindert das Gericht daran, selbst bei Kenntnis von Tatsachen, die erwarten lassen, dass die Anordnung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird, den Antrag zurückzuweisen. Entsprechendes gilt, wenn der vorläufige Gläubigerausschuss einstimmig gegen die vorläufige Eigenverwaltung stimmt, § 270b Abs. 3 Satz 3 und 4 InsO. In der gerichtlichen Praxis empfiehlt es sich, die Anhörung des vorläufigen Gläubigerausschusses mit der Anhörung zur Auswahl des vorläufigen Sachwalters zu verbinden4.

19.85

Nach § 270e Abs. 1 Nr. 4 InsO ist die vorläufige Eigenverwaltung u.a. zu beenden, wenn dies von dem vorläufigen Sachwalter mit Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses oder vom vorläufigen Gläubigerausschuss beantragt wird. Das Zustimmungserfordernis wurde aufgenommen, um die Gläubigerautonomie nicht zu schwächen. Der vorläufige Gläubigerausschuss kann jedoch auch seinerseits ohne Abstimmung mit dem vorläufigen Sachwalter die Beendigung der vorläufigen Eigenverwaltung herbeiführen5.

19.86

§ 270e Abs. 4 Satz 1 InsO sieht für die Konstellation, dass das Gericht eine Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270e Abs. 1 Nr. 1 oder 3 InsO beabsichtigt, eine Konsultation des vorläufigen Gläubigerausschusses vor. Nach § 270e Abs. 4 Satz 2 InsO, der § 270b InsO für entsprechend anwendbar erklärt, kann die Konsultation nur unterbleiben, wenn die hierdurch bedingte Verzögerung offensichtlich innerhalb von zwei Werktagen zu einer nachteiligen Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners führt, die sich nicht anders als durch Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters abwenden lässt. In den übrigen Fällen des § 270e Abs. 1 InsO sowie in den Fällen des § 270e Abs. 2 InsO ist eine Konsultation des vorläufigen Gläubigerausschusses hingegen nie erforderlich6.

19.87

Neben diesen besonders zugewiesenen Aufgaben obliegen dem vorläufigen Gläubigerausschuss gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1a InsO alle Aufgaben nach § 69 InsO7. Danach hat er 1 Eingefügt durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG), BT-Drucks. 19/24181, S. 7 ff. 2 BT-Drucks. 19/24181, S. 206. 3 BT-Drucks. 19/24181, S. 206 unter Bezugnahme auf BT-Drucks. 17/5712, S. 39. 4 BT-Drucks. 17/5712, S. 60. 5 BT-Drucks. 19/24181, S. 207. 6 BT-Drucks. 19/24181, S. 208. 7 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 22a InsO Rz. 27.

684 | Bast

§ 19 Der vorläufige Gläubigerausschuss | Rz. 19.87 § 19

den vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. vorläufigen Sachwalter bei seiner Geschäftsführung zu unterstützen und zu überwachen. Darüber hinaus haben sich die Ausschussmitglieder über den Gang der Geschäfte zu unterrichten sowie die Bücher und Geschäftspapiere einzusehen und den Geldverkehr und -bestand prüfen zu lassen. Die Überwachungspflicht erstreckt sich sowohl auf die Rechtmäßigkeit als auch auf die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters1.

1 Vgl. OLG Rostock v. 28.5.2004 – 3 W 11/04, ZInsO 2004, 814.

Bast | 685

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung I. Zweck, Erscheinungsformen 20.1

Ein Insolvenzverfahren wird eröffnet, wenn ein Insolvenzgrund vorliegt (§ 16 InsO) und – falls kein Kostenvorschuss geleistet wird – die Verfahrenskosten durch das Vermögen des Schuldners gedeckt sind (§ 26 Abs. 1 InsO). Der Eröffnungsgrund ist bei einem Gläubigerantrag nur glaubhaft und bei einem Eigenantrag, wenn ihn alle vertretungsberechtigten Personen einreichen, sogar nur schlüssig vorzutragen (§§ 14 f. InsO). Deshalb bedarf es Zeit für Ermittlungen der Verfahrenskostendeckung1 und Eröffnungsgründe, die zur Überzeugung des Gerichts2 festzustellen sind. Dazu muss die gesamte Vermögens- und Finanzlage des Schuldners geprüft werden3. Die Ermittlungen erfolgen von Amts wegen. Das Gericht bedient sich regelmäßig des in § 5 Abs. 1 InsO vorgesehenen Sachverständigen, der bei Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung meist auch zum vorläufigen Verwalter bestellt wird. Die Personenidentität von Sachverständigem und Verwalter ist außer in konfliktträchtigen Grenzfällen trotz des Eigeninteresses des Sachverständigen an einer Amtsübernahme sinnvoll, weil dadurch Kosten gespart und die Informationsermittlung konzentriert wird.

20.2

Häufig sind Eröffnungsgrund und Verfahrenskostendeckung evident. Zu den Verfahrenskosten gehören nur die in § 54 InsO genannten Positionen, nicht aber auch die mit einer Fortführung oder Stilllegung des Unternehmens notwendigerweise verbundenen Masseschulden4. Gleichwohl dauert es in der Praxis bis zur Eröffnungsentscheidung geraume Zeit, weil die Personalkosten für drei Monate vor dem Insolvenzereignis5 als Insolvenzgeld gezahlt werden6 (zur Vorfinanzierung bis zur Auszahlung s. Rz. 18.1 ff.). Die mit dem Insolvenzantrag auf die Bundesagentur für Arbeit übergehenden7 Vergütungsansprüche der Arbeitnehmer sind nur Insolvenzforderungen (vgl. § 55 Abs. 3 InsO), so dass damit zwar keine Vermögens-, wohl aber ein erheblicher Liquiditätsvorteil verbunden ist, der es rechtfertigt, die Eröffnungsentscheidung auch dann erst nach dem Ablauf des Insolvenzgeldzeitraums zu treffen, wenn die Eröffnungsvoraussetzungen schon vorher feststehen8. Außerdem verlangen die Insolvenzgerichte regelmäßig, dass der Sachverständige sich nicht nur zu den entscheidungserheblichen Eröffnungsvoraussetzungen äußert, sondern auch zu sämtlichen wesentlichen Bestandteilen der künftigen Insolvenzmasse, um die Befriedigungsaussichten der Gläubiger abschätzen zu können9. Dazu 1 Sie muss gemäß § 26 Abs. 1 InsO nur „voraussichtlich“ und nicht auch sicher gegeben sein, BGH v. 13.4.2006 – IX ZB 118/04, ZIP 2006, 1056. 2 Lt. BGH v. 13.4.2006 – IX ZB 118/04, ZIP 2006, 1056 unter II.2. genügt „ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit“. 3 Laroche in Kayser/Thole, § 16 InsO Rz. 9. 4 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 15. 5 Insolvenzereignis ist nicht schon der Insolvenzantrag, sondern erst die Entscheidung über die Eröffnung oder Zurückweisung des Insolvenzantrags (§ 165 Abs. 1 SGB III). 6 Allerdings begrenzt auf die Beitragsbemessungsgrenze (§ 176 Abs. 1 SGB III). 7 § 169 SGB III. 8 AG Hamburg v. 21.1.2014 – 67g IN 428/13, ZIP 2014, 1091; AG Hamburg v. 1.6.2004 – 67g IN 97/04, ZInsO 2004, 630; AG Hamburg v. 1.10.2001 – 67g IN 195/01, ZIP 2001, 1885 m. Anm. Spliedt, EWiR 2001, 1099. 9 AG Hamburg v. 1.2.2012 – 67g IN 459/11, ZIP 2012, 339; Checkliste des BAKInsO, NZI 2009, 37 ff.

686 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.10 § 20

gehören die aus der Buchhaltung nicht sofort ersichtlichen insolvenzspezifischen Haftungsund Anfechtungsansprüche. Schließlich kann gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 3 InsO der Sachverständige mit einer Prüfung der Fortführungsaussichten eines vom Schuldner betriebenen Unternehmens beauftragt werden, was ebenfalls erhebliche Zeit in Anspruch nimmt. Währenddessen besteht die Gefahr, dass der Schuldner Vermögensgegenstände beiseiteschafft oder für sein späteres Fortkommen wichtige Gläubiger vorab befriedigt oder auch einfach nur „alles auf eine Karte“ setzt, damit er im Erfolgsfall den Insolvenzgrund beseitigen kann. Um eine nachteilige Veränderung in der Vermögenslage zu verhüten, kann das Insolvenzgericht gemäß §§ 21 f. InsO Sicherungsmaßnahmen anordnen. Sie müssen nicht zwingend mit der Bestellung eines vorläufigen Verwalters verbunden werden. Zulässig sind auch einzelne Beschränkungen der Befugnisse sowohl des Schuldners als auch der Gläubiger wie beispielsweise ein nur bestimmte Gegenstände betreffendes Verfügungsverbot oder die Untersagung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, ohne dass es eines vorläufigen Insolvenzverwalters bedarf. Umgekehrt ist es lt. § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO auch möglich, einen vorläufigen Insolvenzverwalter zu ernennen, ohne dass dies mit Beschränkungen des Schuldners korrespondiert1. Er ist dann nur eine Aufsichtsperson mit Redepflichten gegenüber dem Insolvenzgericht und den in § 22 Abs. 3 InsO genannten Befugnissen (Betreten der Geschäftsräume des Schuldners, Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen, Unterstützung vom Schuldners bzw. seiner Organe). In der Praxis sind isolierte Beschränkungen des Schuldners bzw. der Gläubiger oder die Berufung eines vorläufigen Verwalters ohne auf das Schuldnervermögen bezogene Kompetenzen selten. Bei erfolgversprechenden Eigenverwaltungsanträgen wird statt eines vorläufigen Verwalters ein vorläufiger Sachwalter bestellt, dem regelmäßig keine verfügungsbeschränkenden Befugnisse zustehen (Näheres s. Rz. 35.18).

20.3

Nachstehend werden die vorläufigen Verwaltungen erläutert, in denen Verfügungsbeschränkungen des Schuldners mit der Bestellung eines vorläufigen Verwalters verbunden werden. In der Praxis am häufigsten ist die sog. „schwache“ vorläufige Verwaltung, die deshalb so bezeichnet wird, weil der Verwalter nicht oder jedenfalls nicht umfassend verfügungsbefugt ist, während bei der „starken“ vorläufigen Verwaltung die Verfügungsbefugnis gemäß § 22 Abs. 1 InsO vom Schuldner auf den Verwalter übergeht. Diese Variante ist weniger verbreitet, weil der Übergang der Verfügungsbefugnis zur Folge hat, dass von dem Verwalter begründete Verbindlichkeiten und vor allem Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen, soweit der Verwalter die Gegenleistung in Anspruch nimmt, im eröffneten Verfahren als Masseverbindlichkeiten zu bedienen sind. Das ist in der Anfangsphase unerwünscht, weil die Erfüllbarkeit noch nicht absehbar ist. Umgekehrt ist auch die „schwache“ vorläufige Verwaltung ohne jegliche Verfügungsbefugnis des Verwalters selten. Am häufigsten ist die hybride Form einer Zustimmungsverwaltung mit partieller Verfügungs- und/oder Verpflichtungsermächtigung („halbstarke“ vorläufige Verwaltung). Darauf wird nach einer Darstellung der beiden puristischen Grundtypen eingegangen.

20.4

Einstweilen frei.

20.5–20.10

1 BGH v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 Rz. 48.

Spliedt | 687

§ 20 Rz. 20.11 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

II. Anordnung 1. Beschluss von Amts wegen 20.11

Die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen erfolgt von Amts wegen (§ 21 Abs. 1, § 5 Abs. 1 InsO) durch gerichtlichen Beschluss. Anträge von Verfahrensbeteiligten sind nur Anregungen1.

2. Voraussetzungen 20.12

Sicherungsmaßnahmen greifen in das grundrechtlich geschützte Eigentum sowohl des Schuldners als auch des Gläubigers ein2. Deshalb darf das Insolvenzgericht sie nur unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots beschließen3. Als Erstes muss der Insolvenzantrag zulässig sein4. Zwar spricht § 21 Abs. 1 InsO von Maßnahmen bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag, ohne zwischen Zulässigkeit und Begründetheit zu differenzieren. Nur ein zulässiger Antrag kann jedoch zu einer Insolvenzeröffnung und damit zu einer künftigen Insolvenzmasse führen, die des Schutzes durch Sicherungsmaßnahmen bedarf. Andererseits folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot auch, dass etwaige Zulässigkeitsmängel gegen das Sicherungsinteresse der Gläubiger abzuwägen sind. Ist zu erwarten, dass die Mängel kurzfristig behoben werden oder muss eine vorerst nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommene örtliche Zuständigkeit gerade bei internationalen Bezügen noch abschließend geklärt werden5, sind Sicherungsmaßnahmen gerechtfertigt, müssen aber bei Auftreten zulässigkeitshindernder Erkenntnisse unverzüglich aufgehoben werden6.

20.13

Als Zweites ist zu prüfen, ob eine nachteilige Veränderung der Vermögenslage einzutreten droht. Wegen der Eilbedürftigkeit kann keine Gewissheit verlangt werden. Lt. § 21 Abs. 1 Satz 1 InsO müssen die Sicherungsmaßnahmen nur als erforderlich „erscheinen“. Das hängt ab von der Komplexität der Vermögensverhältnisse und insbesondere dem Verhalten des Schuldners oder einzelner Gläubiger. Erfüllt der Schuldner schon die ihm gemäß § 20 InsO obliegenden Mitwirkungspflichten nicht, „erscheint“ eine Sicherungsmaßnahme als erforderlich. Aber auch bei kooperationsbereiten Schuldnern bedarf es häufig der Bestellung eines vorläufigen Verwalters als vertrauensbildende Maßnahme, um eine Geschäftsfortführung zu gewährleisten, mit der die in einem Unternehmen steckenden Werte erhalten werden. Ein anderes Motiv für Sicherungsanordnungen liegt vor, wenn zu befürchten ist, dass Gläubiger Vollstreckungsmaßnahmen ergreifen oder auf andere Weise wie beispielsweise durch das Herausverlangen von Aus- und Absonderungsgut eine vorzugsweise Befriedigung suchen. Die Anordnungen werden entweder unverzüglich nach Eingang des Insolvenzantrages unter Verwertung der daraus und einer Anhörung des Schuldners gemäß § 14 Abs. 2 InsO gewonnen Erkenntnisse getroffen oder später aufgrund einer Anregung des mit der weiteren Aufklärung beauftragten Sachverständigen. Um den Sicherungszweck nicht zu gefährden, reicht es aus, 1 Zur Diskussion über ein – abzulehnendes – Antragserfordernis bei § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO s. Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 53. 2 Selbst die isolierte Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit Einsichts- und Betretungsrechten greift in das Recht des Eigentümers ein, den Zugriff auf sein Eigentum selbst zu bestimmen. 3 BGH v. 1.12.2005 – IX ZB 208/05, ZIP 2005, 2333; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 23 ff.; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 15. 4 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, ZIP 2006, 878. 5 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, ZIP 2007, 878 Rz. 10; BGH v. 22.4.2010 – IX ZB 217/09, NZI 2010, 680 Rz. 5. 6 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 164/06, ZIP 2007, 878 Rz. 9.

688 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.21 § 20

dass dem Schuldner erst anschließend das nach Art. 103 Abs. 1 GG erforderliche rechtliche Gehör gewährt wird1, was insbesondere auch mit der dem Schuldner zustehenden Beschwerde (§ 21 Abs. 1 Satz 2 InsO) verbunden werden kann. Als Drittes schließlich ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Entscheidung über den konkreten Sicherungsumfang zu berücksichtigen. Der Regelfall ist die um einzelne Ermächtigungen ergänzte „schwache“ vorläufige Verwaltung. Ist der Schuldner nicht kooperativ und müssen Verfügungen insbesondere im Rahmen einer Unternehmensfortführung getroffen werden, bleibt nur die „starke“ vorläufige Verwaltung. Sie kann auch allein auf „Druck“ der Kunden und/oder Lieferanten in Betracht kommen, wenn sie nur noch mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter zu kontrahieren bereit sind2.

20.14

3. Rechtsmittel § 6 Abs. 1 InsO lässt eine sofortige Beschwerde gegen Entscheidungen des Insolvenzgerichts nur in den von der InsO vorgesehenen Fällen zu. Diese Voraussetzung ist für den durch eine Maßnahme belasteten Schuldner gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 InsO erfüllt3. Gläubiger haben keine Beschwerdemöglichkeit4, obwohl sie schon von simplen Verfügungsbeschränkungen des Schuldners betroffen sein können, erst recht aber von der Beschränkung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (§ 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO) und insbesondere von der Beschränkung der aus Aus- und Absonderungsrechten folgenden Befugnisse (§ 21 Abs. 1 Nr. 5 InsO). Sie können sich rechtliches Gehör aber durch eine formlose Gegenvorstellung verschaffen5. Ebenfalls keine Beschwerdemöglichkeit hat der vorläufige Insolvenzverwalter6. Zwar mag er ein Interesse daran haben, dass ihm keine zusätzlichen Pflichten auferlegt werden, wie es insbesondere durch einen Wechsel von der „schwachen“ zur „starken“ Verwaltung geschehen könnte. Betroffen ist er davon jedoch nicht in eigenen Rechten, sondern nur in seiner Rolle als Amtsträger. Er kann sich nur durch eine Ablehnung der Bestellung wehren, nicht aber durch eine Beschwerde gegen die Anordnung. Einstweilen frei.

20.15

20.16–20.20

III. Anordnungsvarianten 1. „Schwache“ vorläufige Insolvenzverwaltung a) Rechtsfolgen eines Zustimmungsvorbehalts Bei der „schwachen“ vorläufigen Verwaltung sind Verfügungen des Schuldners nur wirksam, soweit der vorläufige Verwalter zustimmt. Sie wird deshalb auch als Zustimmungsverwaltung bezeichnet. Dieser Vorbehalt gilt entweder für sämtliche Verfügungen oder ist auf einige we1 BGH v. 14.7.2011 – IX ZB 57/11, ZIP 2011, 1875 Rz. 13; BGH v. 15.12.2011 – IX ZB 139/11 Rz. 4 f., juris. 2 LG Halle v. 14.11.2014 – 3 T 86/14, ZIP 2014, 2355 m. Anm. Spliedt, EWiR 2014, 789. 3 Nach der Aufhebung des § 7 InsO a.F. kann gegen einen die sofortige Beschwerde zurückweisenden Beschluss nur noch Rechtsbeschwerde eingelegt werden, wenn das Beschwerdegericht dies ausdrücklich zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). 4 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 41. 5 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 63. 6 BGH v. 26.10.2006 – IX ZB 163/05, NZI 2007, 99 = ZIP 2007, 47.

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20.21

§ 20 Rz. 20.21 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

sentliche Vermögensgegenstände wie Immobilien oder Bankforderungen beschränkt, die dann genau bezeichnet werden müssen1. Verfügung2 ist jede Einwirkung auf ein bestehendes Recht, sei es in Form einer Übereignung, Abtretung, Belastung oder auch nur Kündigung. Keine Verfügungen sind Verpflichtungserklärungen des Schuldners. Von ihm begründete Verbindlichkeiten sind vorbehaltlich einer Insolvenzanfechtung3 wirksam4, bilden allerdings auch nur Insolvenzforderungen, soweit das Gesetz nicht in den §§ 108 ff. InsO ihre Fortdauer als Masseschuld nach Verfahrenseröffnung vorsieht.

20.22

Der BGH unterscheidet zwischen der Verfügungshandlung und dem Verfügungserfolg5. Der Zustimmungsvorbehalt soll nur die Verfügungshandlung betreffen. Wurde sie vor dessen Anordnung vorgenommen, hindere das den späteren Eintritt des Verfügungserfolgs nach Anordnung der Verfügungsbeschränkung nicht mehr. Bedeutung hat das insbesondere für künftige Forderungen, die der Schuldner abgetreten hat und die erst durch die Betriebsfortführung während der vorläufigen Verwaltung entstehen. Da die Entstehung nach Ansicht des BGH nicht zur Verfügungshandlung gehört, kann der Abtretungsempfänger auch ohne Zustimmung des vorläufigen Verwalters Forderungsinhaber werden6. Gleiches gilt, wenn die künftigen Forderungen im Wege der Zwangsvollstreckung gepfändet wurden7. Gerechtfertigt wird diese Auffassung u.a. mit § 91 InsO, der erst nach Verfahrenseröffnung8 einen Rechtserwerb ausschließt, auch wenn keine Verfügungshandlung des Schuldners vorliegt. Demgegenüber verweist § 24 InsO für die Rechtsfolgen von Verfügungsbeschränkungen vor Verfahrenseröffnung nur auf § 81 InsO. Für eine Vorverlagerung des § 91 InsO in das Eröffnungsverfahren fehle es an einer planwidrigen Gesetzeslücke9. Bei einem Vermieterpfandrecht an während der vorläufigen Verwaltung in die Räume verbrachten Sachen wird diese Unterscheidung hingegen nicht gemacht. Obwohl auch hier die Grundlage der vor Anordnung der Sicherungsmaßnahme geschlossene Mietvertrag ist, wird die Einbringung von Gegenständen nicht nur als Tathandlung bzw. Bedingung der zuvor vereinbarten Pfandrechtsentstehung angesehen, sondern als aktuelle Verfügung, so dass das Vermieterpfandrecht nur bei einer Zustimmung des vorläufigen Verwalters entstehen soll10. Anders wird die antizipierte Sicherungsübereignung behandelt. Bei ihr soll Sicherungseigentum aufgrund der zuvor getroffenen Vereinbarung auch an nach Anordnung einer Verfügungsbeschränkung hergestellten oder in einen Sicherungsraum verbrachten Sachen begründet werden können11. Im Unterschied zur Forderungsabtretung bedarf es jedoch zusätzlich eines fortbestehenden Besitzmittlungswillens zugunsten des Sicherungsgläubigers, an dem es jedenfalls dann fehlt, wenn das Insolvenzgericht die Inbesitznahme des Schuldnervermögens durch den vorläufigen Verwalter anordnet.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 16 ff. Wie im allgemeinen Zivilrecht, BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZIP 2010, 138 Rz. 26. Vgl. insbes. §§ 132, 133 Abs. 2 InsO. BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZIP 2010, 138 Rz. 26; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625 Rz. 26. BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 136/11, ZIP 2012, 1256 Rz. 10. BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZIP 2010, 138 Rz. 25; BGH v. 22.10.2009 – IX ZR 90/08, ZIP 2009, 2347 Rz. 9. BGH v. 20.3.1997 – IX ZR 71/96, ZIP 1997, 737. BGH v. 14.12.2006 – IX ZR 102/03, ZIP 2007, 191. S. zusammenfassend Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, vor §§ 49–52 InsO Rz. 30 f.; Gehrlein, ZIP 2011, 5, 6 f. Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, § 50 InsO Rz. 86a; a.A. Laroche in Kayser/Thole, § 24 InsO Rz. 4. Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, § 51 InsO Rz. 107a; vor §§ 49–52 InsO Rz. 30 f.

690 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.24 § 20

Ob der Vergleich zwischen §§ 24, 81 InsO und dem erst nach Verfahrenseröffnung eingreifenden § 91 InsO das Ergebnis trägt1, obwohl der BGH betont, dass der insolvenzrechtliche mit dem zivilrechtlichen Verfügungsbegriff identisch ist2, und zivilrechtlich die Verfügungsbefugnis noch im Zeitpunkt der Entstehung des Rechts vorhanden sein soll3, sei hier dahingestellt4. Immerhin kann sich diese Auffassung auf die Begr. RegE InsO stützen, in der als Anwendungsbeispiel für § 91 InsO gerade die Entstehung von im Voraus abgetretenen Forderungen genannt wird5, diese Vorschrift aber weitgehend unbestritten nicht während der vorläufigen Verwaltung gilt. Zumindest werden die für die Gläubigergesamtheit nachteiligen Konsequenzen durch die insolvenzrechtliche Anfechtung gemildert. Ihr unterliegen auch rein tatsächliche Handlungen, die die Befriedigungsmöglichkeiten eines einzelnen Gläubigers zu Lasten der übrigen verbessern6. Im Gegensatz zur Wirkung einer Verfügungsbeschränkung wird anfechtungsrechtlich bei mehraktigen Rechtshandlungen auf den letzten zur Erfüllung des Tatbestands erforderlichen Teilakt abgestellt7. Von Bedeutung ist das für das Werthaltigmachen einer zedierten Forderung durch den Abschluss neuer oder die Erfüllung alter Verträge mit Kunden8. Ohne Anfechtung würden die neuen oder aufgewerteten Forderungen auch alte Ansprüche der Sicherungsgläubiger abdecken9. Genauso verhält es sich mit anderen revolvierenden Sicherheiten bspw. Aufgrund von Raumsicherungsverträgen. Da es sich nach Ansicht des BGH um kongruente Deckungen handelt10, hat die Anfechtung jedoch nur Erfolg, wenn der Sicherungsgläubiger entweder die Zahlungsunfähigkeit oder den Insolvenzantrag bzw. zumindest zwingend darauf hindeutende Umstände kennt (§ 130 Abs. 1, 2 InsO). Bei Banken werden diese Voraussetzungen regelmäßig erfüllt sein. Lieferanten11 sollten jedoch gesondert informiert werden. Allein die nach § 23 Abs. 1 InsO erforderliche öffentliche Bekanntmachung von Verfügungsbeschränkungen begründet keine Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Insolvenzantrag12.

20.23

Verfügungen des Schuldners, die er ohne die Zustimmung des vorläufigen Verwalters tätigt, sind schwebend unwirksam. Die Unwirksamkeit tritt gemäß § 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 InsO absolut gegenüber jedermann ein13. Da die Verfügungsbefugnis fehlt, ist ein guter Glaube des

20.24

1 Kritisch u.a. Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 24 InsO Rz. 8 f. 2 BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZIP 2010, 138 Rz. 26. 3 BGH v. 30.5.1958 – V ZR 295/56, BGHZ 27, 360 unter III.3.b); anders demgegenüber schon zur KO BGH v. 20.3.1997 – IX ZR 71/96, ZIP 1997, 737, und zur KO BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/ 07, ZIP 2008, 183 Rz. 27. 4 Bestätigend: Gehrlein, ZIP 2011, 5 f. 5 BT-Drucks. 12/2443, S. 138 zu § 102 der Entwurfsfassung. 6 Im Gläubigerschutzsystem vor Eröffnung durch Anfechtung und erst nach Eröffnung durch Unwirksamkeit sieht der BGH eine zusätzliche Rechtfertigung für seine Ansicht, BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 1/09, ZIP 2010, 138 Rz. 27. 7 BGH v. 11.2.2010 – IX ZR 104/07, ZIP 2010, 682 Rz. 13. 8 BGH v. 26.6.2008 – IX ZR 144/05, ZIP 2008, 1435; BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, ZIP 2008, 183; BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 165/05, ZIP 2008, 372. 9 BGH v. 14.12.2006 – IX ZR 102/03, ZIP 2007, 191 zum Sicherungsumfang des Vermieterpfandrechts. 10 BGH v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, ZIP 2008, 183 Rz. 14 ff., was lt. Rz. 24 auch für Raumsicherungsverträge gilt. 11 Zum erweiterten und verlängerten Eigentumsvorbehalt während der vorläufigen Verwaltung: BGH v. 17.3.2011 – IX ZR 63/10, ZIP 2001, 773. 12 BGH v. 7.10.2010 – IX ZR 209/09, ZIP 2010, 2307. 13 BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 232/04, ZIP 2006, 479 unter II.2.b)dd); Laroche in Kayser/Thole, § 24 InsO Rz. 4.

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§ 20 Rz. 20.24 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Rechtserwerbers irrelevant; denn § 932 BGB schützt den guten Glauben nur hinsichtlich der Eigentümerstellung, nicht aber hinsichtlich der Verfügungsberechtigung. Anders soll es sein, wenn das Insolvenzgericht nur einzelne Zustimmungsvorbehalte hinsichtlich bestimmter Vermögensgegenstände anordnet. Das wird nur als relatives Veräußerungsverbot gemäß §§ 135 f. BGB angesehen1; denn § 24 InsO erfasse als lex specialis nur die allgemeine Verfügungsbeschränkung. Die Konsequenz ist, dass ein gutgläubiger Erwerb gemäß § 135 Abs. 2 BGB möglich ist2. Einmal davon abgesehen, dass die bloß relative Unwirksamkeit wegen der späteren Gesamtwirkung des Insolvenzbeschlags nach Verfahrenseröffnung unzweckmäßig ist3, trifft es auch nicht zu, dass nur allgemeine Verfügungsbeschränkungen vom Wortlaut des § 24 InsO erfasst sind; denn § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO, auf den dort Bezug genommen wird, unterscheidet zwischen einem „allgemeinen Verfügungsverbot“ und Verfügungen des Schuldners, die nur mit Zustimmung eines vorläufigen Verwalters wirksam werden sollen, ohne diese zweite Alternative ebenfalls auf „alle“ Verfügungen zu erstrecken. Deshalb ist es vom Wortlaut durchaus gedeckt, auch besondere Verfügungsverbote der allgemeinen Unwirksamkeit gemäß § 81 InsO ohne den Schutz eines gutgläubigen Erwerbs zu unterwerfen4, jedenfalls dann, wenn – wie in der Praxis regelmäßig und in § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorgesehen – das besondere Verfügungsverbot mit der Zustimmungsbefugnis eines vorläufigen Insolvenzverwalters verbunden wird.

20.25

Unwirksamkeit bedeutete keine Nichtigkeit. Anderenfalls würde eine Zustimmung des vorläufigen Verwalters ins Leere gehen. Sie kann gemäß §§ 182 ff. BGB dem Schuldner oder dem Vertragspartner gegenüber erteilt werden, und zwar sowohl vor als auch – außer bei einseitigen empfangsbedürftigen Willenserklärungen, § 182 Abs. 3 BGB – nach der Verfügung. Eine weitere Konsequenz der bloßen Unwirksamkeit ist, dass Verfügungen des Schuldners gemäß § 185 Abs. 1 BGB ex tunc wirksam werden, sollten die Sicherungsmaßnahmen aufgehoben werden5.

20.26

Auch der Einzug einer Forderung ist eine Verfügung6, gegen deren Unwirksamkeit ein Drittschuldner jedoch geschützt werden muss, zumal i.d.R. nicht aktiv eingezogen, sondern schlichtweg auf das in der Rechnung angegebene Konto gezahlt wird. Der Drittschuldner wird gemäß § 82 InsO von seiner Verbindlichkeit frei, wenn er entweder die Anordnung der vorläufigen Verwaltung nicht kannte oder der Verwalter der Erfüllung zustimmt. Die Zustimmung wird ein Verwalter nur erteilen, wenn die vereinnahmten Gelder der zukünftigen Insolvenzmasse nicht verloren gehen. Das hängt von der Auswirkung eines Verfügungsverbots auf die Geschäftsverbindung zwischen Schuldner und Bank ab.

20.27

Die Auswirkungen einer Verfügungsbeschränkung auf ein Bankkonto des Schuldners sind etwas kompliziert. In der Praxis „sperrt“7 die Bank ein Konto gegen Verfügungen des Schuldners, sobald sie von Verfügungsbeschränkungen Kenntnis erlangt hat. Unterlässt sie das, weil sie bspw. von der Anordnung noch nicht unterrichtet wurde, wird eine Überweisung des 1 Laroche in Kayser/Thole, § 24 InsO Rz. 4; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 24 InsO Rz. 2. 2 Vgl. BGH v. 15.11.1999 – II ZR 98/98, ZIP 2000, 146 zur konkursrechtlichen Sequestration. 3 Vgl. die Überlegung zur Gesamtwirkung der Rückschlagsperre gemäß § 88 InsO bei BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 232/04, ZIP 2006, 479. 4 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 60, 62, 63; unklar demgegenüber bei § 24 InsO Rz. 10. 5 BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 232/04, ZIP 2006, 479. 6 Deshalb begründet der unberechtigte Einzug einer Forderung auch eine Ersatzabsonderung gemäß § 48 InsO, Ganter, NZI 2010, 551. 7 D.h. sie kündigt den Zahlungsdienstrahmenvertrag (§ 675f Abs. 2 BGB) aus wichtigem Grund gemäß Ziff. 19 AGB-Banken.

692 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.28 § 20

Schuldners entgegen der umgangssprachlichen Bezeichnung1 nicht als die Verfügung über ein „Guthaben“ bzw. dem ihm zugrunde liegenden Anspruch angesehen, sondern als ein Verpflichtungsgeschäft2, das der Schuldner wirksam eingehen darf. Die Bank kann nur ihren durch die Ausführung entstandenen Aufwendungsersatzanspruch nach Anordnung der Zustimmungsverwaltung nicht mehr in das Kontokorrent einstellen3. Immerhin bleibt sie aber weiter zur Aufrechnung befugt4, weil es sich dabei um eine Verfügung über das Kontoguthaben5 durch sie, nicht durch den Schuldner handelt6. Vom Insolvenzgericht angeordnete Verfügungsbeschränkungen gelten nicht für Verfügungen Dritter7 (zu den Ausnahmen s. Rz. 20.50). Nur in der Kontokorrentabrede – im Unterschied zur Aufrechnung – wird eine nicht mehr wirksame Verfügung (auch) des Schuldners gesehen. Die weiterhin wirksam mögliche einseitige Aufrechnung unterliegt nach Verfahrenseröffnung der Insolvenzanfechtung, soweit die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO gegeben sind8. Ohne Aufrechnung9 oder nach einer Anfechtung10 ist der Anspruch der Bank aus der Ausführung des Überweisungsauftrags nur eine Insolvenzforderung11. Im Ergebnis wird also der Verwalter den Betrag, den ein Drittschuldner auf ein Schuldnerkonto zahlt, für die Masse „retten“ können. Um aber Unwägbarkeiten zu vermeiden, ist es sinnvoll, den vorläufigen Verwalter zum Forderungsinkasso zu ermächtigen und den Drittschuldnern zu untersagen, an den Schuldner zu zahlen (dazu Rz. 20.30).

„Verfügt“ der Schuldner über ein Kontoguthaben, ist diese Anweisung im Verhältnis zur Bank nach den oben dargelegten Gründen wirksam. Aus der Sicht des Zahlungsempfängers liegt eine Leistung des Schuldners, nicht der Bank vor. Die auf der Hand liegende Konsequenz wäre nach Verfahrenseröffnung eine Deckungsanfechtung gemäß §§ 130 f. InsO, wenn beim Zahlungsempfänger die dafür notwendigen subjektiven Voraussetzungen vorliegen. Demgegenüber verweist der BGH darauf, dass dem Schuldner wegen der Verfügungsbeschränkung das Recht zur Tilgungsbestimmung fehlt, so dass die Überweisung keinem Schuldgrund zugeordnet werden kann und der Empfänger den Betrag wegen ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB erstatten muss12. Das geschieht in der Regel erst nach Verfahrenseröffnung. Konnte die Bank mit ihrem aus der Überweisung folgenden Ersatzanspruch nicht aufrechnen, fließt der Betrag in die Masse, während die Bank aus der Zahlungsdienstleistung nur eine Insolvenzforderung erworben hat. Die Erstattung des Zahlungsempfängers verschafft ihr keine Masseforderung wegen ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO. Zwar mag die Masse den Bereicherungsanspruch gegen den Zah1 Und auch entgegen der Gesetzesformulierung, die in § 675g Abs. 1 BGB von Genehmigung und Einwilligung spricht. 2 Trotz des Wortlauts von § 675j BGB, der von Zustimmung spricht, also auf einen verfügungsrechtlichen Charakter hinweist. 3 BGH v. 5.2.2009 – IX ZR 78/07, ZIP 2009, 673. 4 BGH v. 29.6.2004 – IX ZR 195/03, ZIP 2004, 1558. 5 Genauer: den Anspruch des Schuldners gegen die Bank. 6 Laroche in Kayser/Thole, § 24 InsO Rz. 4, 7. 7 BGH v. 24.9.2009 – IX ZB 38/08, ZIP 2009, 2068 Rz. 14; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632. 8 Zu der dafür relevanten Frage, wann eine kongruente und wann eine inkongruente Deckung vorliegt, s. BGH v. 29.6.2004 – IX ZR 195/03, ZIP 2004, 1558 unter II.2.b). 9 Die auf der Vereinbarung mit dem Schuldner beruhende Verrechnung ist nicht mehr zulässig, BGH v. 4.5.1979 – I ZR 127/77, NJW 1979, 1658. 10 Zu den Rechtsfolgen s. § 144 Abs. 1 InsO. 11 Auch das im Übrigen nicht aus Vertrag, sondern aus ungerechtfertigter Bereicherung, soweit § 82 InsO einer wirksamen Leistung an den Schuldner gegenübersteht. 12 BGH v. 21.11.2013 – IX ZR 52/13, ZIP 2014, 32 Rz. 18 ff.

Spliedt | 693

20.28

§ 20 Rz. 20.28 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

lungsempfänger auf ihre Kosten erlangt haben. Das aber geschah schon vor Verfahrenseröffnung, während eine Masseforderung nur bei nach Verfahrenseröffnung eintretenden Bereicherungen entsteht1. Parallel besteht ein Anfechtungsanspruch gemäß § 134 InsO, der an keine weiteren Voraussetzungen gebunden ist.

20.29

Besitzrechtlich hat eine Verfügungsbeschränkung keine Auswirkung. Der Schuldner darf ohne Zustimmung des vorläufigen Verwalters Gegenstände, an denen Aus- oder Absonderungsrechte bestehen, an Gläubiger herausgeben. Er kann stattdessen auch freiwillig dem vorläufigen Verwalter den Besitz einräumen. Hierbei handelt es sich um ein tatsächliches Herrschaftsverhältnis (§ 854 Abs. 1 BGB, so dass der Eintritt der besitzrechtlichen Wirkungen keines gerichtlichen Beschlusses bedarf. Fraglich kann allenfalls sein, ob sich die Besitzübernahme dann noch im Aufgabenbereich des vorläufigen Verwalters bewegt (Rz. 20.31 ff.). Zudem ist zweifelhaft2, ob der Schuldner bei einem fortgeführten Geschäftsbetrieb trotz der fehlenden Publizität gewillkürt als Besitzdiener (§ 855 BGB) für den vorläufigen Verwalter auftreten kann. Eine gerichtliche Anordnung zur Besitzübernahme ist somit sinnvoll. Ihrer bedarf es auch, wenn der Schuldner nicht kooperationsbereit ist. Voraussetzung ist dann zusätzlich, dass der vorläufige Verwalter den Schuldner tatsächlich aus dem Besitz setzt oder ihn zum Besitzdiener – soweit zulässig – macht. Wurde dies versäumt, kann nur der Schuldner Besitzschutzansprüche (§§ 859, 861 f., § 1007 BGB) verfolgen, was bei einem einstweiligen Rechtsschutz gegen „Selbsthilfeaktionen“ von Gläubigern leicht übersehen wird.

b) Mitwirkungspflichten der Geschäftsführung 20.30

Die Pflichten des Schuldners bzw. der Geschäftsführung sind allgemein in § 20 InsO geregelt, wonach das Insolvenzgericht bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen ist. Danach hat er eine (ungefragte) Redepflicht über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse, mögen sie auch Straf- oder Ordnungswidrigkeitstatbestände erfüllen (§ 20 Abs. 1, § 97 Abs. 1, 101 Abs. 1 InsO). Zugunsten des vorläufigen Verwalters erweitert § 22 Abs. 3 InsO den Kreis der Adressaten, gegenüber denen die Pflichten zu erfüllen sind, auch noch ergänzt um die Gewährung des Zutritts zu Geschäftsräumen und der Einsicht in Geschäftsunterlagen. Nicht verpflichtet ist die Geschäftsführung zur Mitarbeit bei der Unternehmensfortführung. Das regelt sich allein nach einem Anstellungsvertrag. Gegenständlich ist die Grenze zwischen insolvenzverfahrensrechtlicher Unterstützung und Mitarbeit allenfalls so zu ziehen, dass Informationserteilung geschuldet wird, Informationsumsetzung hingegen nicht. Aber schon bei der Teilnahme an Verhandlungen, Betriebsversammlungen oder interner Absprachen versagt diese Abgrenzung, so dass nur das allgemeine Kriterium der Zumutbarkeit bleibt. Die Geschäftsführung hat für die insolvenzrechtlich geschuldete Mitwirkung weder einen Vergütungs- noch einen Auslagenanspruch3, so dass nur die Unterstützung geschuldet ist, die in Abwägung der Interessen der Gläubiger mit dem Interesse der Geschäftsführung an anderweitigem Erwerb angemessen ist.

c) Aufgaben des „schwachen“ Verwalters 20.31

Der „schwache“ vorläufige Verwalter hat in erster Linie eine Kontrollfunktion4. Da seine Bestellung der Verhinderung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage dient (§ 21 Abs. 1 InsO), muss er sich über die Vermögensverhältnisse sowie bei einem laufenden Ge1 2 3 4

BGH v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 2279 Rz. 9. Bejahend: Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 51. Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, § 97 InsO Rz. 62. Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 4.

694 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.33 § 20

schäftsbetrieb über dessen Abläufe informieren. Dazu stehen ihm die in § 22 Abs. 3 InsO genannten Befugnisse zu1. Stellt er fest, dass die angeordneten Sicherungsmaßnahmen unzureichend sind, trifft ihn eine Redepflicht gegenüber dem Gericht. Außerdem muss er den Schuldner bei der Geschäftsfortführung unterstützen2, was beim „schwachen“ Verwalter nur als Rat und mangels Verfügungsbefugnis nicht als Tat möglich ist. Die Initiativlast für Verfügungen bleibt beim Schuldner. Dem vorläufigen „schwachen“ Verwalter stehen nicht die Rechte des endgültigen Verwalters zu, also insbesondere weder das Erfüllungswahlrecht des § 103 InsO noch die abgekürzten Kündigungsfristen der § 109 Abs. 1, § 113 InsO noch die insolvenzrechtliche Anfechtung der §§ 129 ff. InsO. Sind somit die Grenzen der Rechtsmacht im Verhältnis zu Dritten klar gesteckt, ist der Umfang der intern geschuldeten Unterstützungsleistungen weniger klar. Konsequenzen hat das einerseits bei der Vergütung, bei der nur die Tätigkeiten berücksichtigt werden dürfen, die vom gesetzlichen Aufgabenbereich des vorläufigen Verwalters umfasst sind, und andererseits bei der Haftung. Ist die Mitwirkung des vorläufigen Verwalters bei der Erstellung eines Liquiditätsplans durch einen Zuschlag zu vergüten und haftet er bei Fehlern aufgrund von § 60 InsO oder nach allgemeinen Vorschriften? Kommt umgekehrt eine Haftung in Betracht, wenn der vorläufige Verwalter die Mitwirkung an einem Liquiditätsplan unterlässt? Die Antwort folgt aus dem Zweck der vorläufigen Verwaltung, eine nachteilige Veränderung in der Vermögenslage des Schuldners zu verhüten (§ 21 Abs. 1 InsO). Gelingt das nur durch die Anordnung der „starken“ Verwaltung mit den auch nach außen wirkenden Befugnissen des § 22 Abs. 1 InsO, muss der zunächst nur als „schwacher“ bestellte vorläufige Verwalter dies anregen. Davon darf er nur absehen, wenn das Verhalten der Geschäftsführung keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Gläubigerbelange gibt, muss dafür aber natürlich auch Liquiditätspläne erörtern und erkennbare Irrtümer beseitigen. Die interne Unterstützungsaufgabe kann also bis an die Obliegenheiten des „starken“ vorläufigen Verwalters heranreichen3.

20.32

Die Haftung des vorläufigen „schwachen“ Verwalters für einen Gesamtgläubigerschaden richtet sich nach §§ 60, 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO. Fortführungsbedingte Vermögenminderungen sind hinzunehmen, solange sie nicht gemäß § 22 Abs. 1 Nr. 2 InsO erheblich sind. Er darf durch die Zustimmungsverweigerung die Fortführung bis zu dieser Erheblichkeitsschwelle nicht blockieren, muss seine Zustimmung allerdings verweigern, wenn sich die vom Schuldner beabsichtigte Verfügung nicht als fortführungsbedingte Verwertungsmaßnahme darstellt4; denn die Entscheidung über die Art und Weise der Abwicklung obliegt allein der Gläubigerversammlung (§§ 157 ff. InsO). Wegen dieses Schutzzwecks des Verwertungsverbots ist nicht jede Veräußerung einzelner Vermögensgegenstände (z.B. Forderungseinzug, Verkauf von Umlaufvermögen im üblichen Rahmen) unzulässig, sondern nur diejenige, die eine noch sinnvolle Entscheidung der Gläubiger unterläuft, so dass je nach tatsächlicher Beschaffenheit – verderbliche Ware – oder wirtschaftlicher Besonderheit – z.B. Verlust von Schutzrechten, weil die Gebühren nicht gezahlt werden können – eine Verwertung zulässig sein kann. Erteilt der vorläufige Verwalter seine Zustimmung zu unerlaubten Veräußerungen, wird es freilich meist an einem Schaden fehlen. Er setzt damit aber einen wichtigen Grund zu seiner Abberufung (§ 59 InsO) oder Verweigerung seiner Bestellung zum endgültigen Verwalter.

20.33

1 Zur Abgrenzung zwischen (gesondert vergüteter) Tätigkeit als Sachverständiger und als vorläufiger Verwalter s. Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 6 f. 2 Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 48 ff. 3 Hölzle, ZIP 2011, 1889, 1891 ff. 4 BGH v. 14.2.2000 – IX ZB 105/00, ZIP 2001, 296.

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§ 20 Rz. 20.34 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

20.34

Bedeutsamer ist die Haftung gegenüber Aus- und Absonderungsgläubigern1. Über den Bestand von Drittrechten soll erst nach Verfahrenseröffnung entschieden werden2. Bis dahin erstreckt sich die Sicherungsaufgabe des Verwalters auf die davon erfassten Vermögensgegenstände, selbst soweit sie der Aussonderung unterliegen3, obwohl diese Gegenstände gemäß § 47 InsO rechtlich nicht zur künftigen Soll-Masse gehören. Entscheidend ist, ob sie sich tatsächlich in der Ist-Masse befinden. Stellt der vorläufige Verwalter fest, dass der Schuldner Sicherungsgüter beeinträchtigt, was aus Gläubigersicht auch durch eine Herausgabe von Sicherungseigentum an einzelne Gläubiger geschehen kann, muss er beim Insolvenzgericht weitere Maßnahmen anregen. Das Gleiche gilt auch im umgekehrten Fall, wenn Absonderungsgut nur zeitnah sinnvoll verwertet werden kann, der Schuldner aber hieran nicht mitwirkt4.

20.35

Eine Haftung gemäß § 61 InsO i.V.m. § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO für die Nichterfüllung von Masseverbindlichkeiten kommt nicht in Betracht, weil der „schwache“ vorläufige Verwalter solche Verbindlichkeiten ohne gesonderte Ermächtigung (s. dazu Rz. 20.61 ff.) nicht begründen kann. Lieferanten wird in der Praxis häufig versichert, dass die Zahlung „durch das Insolvenzsonderkonto“5 erfolgt oder „aus der Insolvenzmasse übernommen werde“6, oder schlicht, dass die „mangelfrei erbrachten Lieferungen fristgemäß und in voller Höhe bezahlt werden“7. Die Instanzgerichte neigen in solchen Fällen zur Annahme einer persönlichen Haftung aufgrund garantieähnlicher Erklärung8 oder culpa in contrahendo9, während der BGH eine Haftung für die Bestätigung ablehnte, dass die „Zahlung aller ... Lieferungen und Leistungen gesichert“ sei10. Diese Entscheidung wird zu Unrecht von den Kritikern der OLG-Urteile11 für sich in Anspruch genommen; denn im BGH-Fall ging es nur um eine über § 61 InsO hinausgehende Haftung12. Zwar wird man die Garantie nur unter sehr seltenen Umständen annehmen können. Es steht jedoch nicht im Widerspruch zur höchstrichterlichen Rechtsprechung, dem Verwalter im Wege der culpa in contrahendo eine an § 61 InsO angelehnte Haftung aufzuerlegen, wenn er Erklärungen zur Vertrauensbildung abgibt, wohl wissend, dass sonst nicht geliefert werden würde. Für den Inhaber eines gerichtlich verliehenen Amtes gilt im besonderen Maße, dass niemand „seine Vertragspartner ‚ins Messer‘ laufen lassen“ darf13. Er darf keine 1 Zur Verwertungsbefugnis und Haftung bei Absonderungsgut: BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472 = NZI 2019, 274. 2 BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, ZIP 2006, 621 (zur Aus- und Absonderung); BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZIP 2010, 141 Rz. 44 (zur Aussonderung). 3 BGH v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419 Rz. 29; BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, ZIP 2006, 621. 4 BGH v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419. 5 So der Fall bei OLG Celle v. 21.10.2003 – 16 U 95/03, NZI 2004, 89. 6 So der Fall bei OLG Schleswig v. 31.10.2003 – 1 U 42/03, NZI 2004, 92. 7 So der Fall bei AG Erfurt v. 25.4.2012 – 5 C 535/11, juris. 8 OLG Celle v. 21.10.2003 – 16 U 95/03, NZI 2004, 89. 9 OLG Schleswig v. 31.10.2003 – 1 U 42/03, NZI 2004, 92; OLG Rostock v. 4.10.2004 – 3 U 158/03, ZIP 2005, 220; OLG Frankfurt v. 8.3.2007 – 26 U 43/06, ZInsO 2007, 548; anders AG Erfurt v. 25.4.2012 – 5 C 535/11, juris. 10 BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, ZIP 2004, 1107. 11 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 22 InsO Rz. 224 m.w.N. 12 Deshalb ist auch das ebenfalls zur Haftungsbegrenzung angeführte, aber zur KO ergangene Urteil BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, ZIP 2005, 1327 keine Bestätigung für die haftungsablehnenden Ansichten. § 61 InsO hatte in der KO keinen Vorläufer. Außerdem hatte in dem dortigen UrteilsFall der Verwalter keine zusätzliche Erklärung abgegeben, die mit dem im Text beispielhaft genannten vergleichbar war. 13 Marotzke, ZInsO 2004, 178, 180.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.38 § 20

erkennbar falschen Vorstellungen erwecken. Umgekehrt kann ein Vertragspartner nicht erwarten, dass der Verwalter eine über § 61 InsO hinausgehende Einstandspflicht übernehmen will, falls nicht Gegenteiliges ausdrücklich vereinbart wird. Auswirkungen hat das vor allem auf die Möglichkeit der Exkulpation i.S. von § 61 Satz 2 InsO, dass die Masseinsuffizienz nicht erkannt werden konnte1. Erklärt der Verwalter hingegen nicht mehr als seine Bereitschaft, dem künftigen Rechnungsausgleich zuzustimmen, haftet er nur, wenn er diese Zustimmung später nicht erteilt, wobei auch hier der Rechtsgedanke des § 61 Satz 2 InsO ergänzend heranzuziehen sein sollte, dass eine Masseinsuffizienz nicht erkennbar war. Er sollte jedoch beachten, dass vor Verfahrenseröffnung begründete Verbindlichkeiten Insolvenzforderungen sind, die danach nicht mehr bedient werden dürfen (§§ 38, 87 InsO). Das ist den Geschäftspartnern häufig nicht klar. Sie vertrauen auf das Zustimmungsavis, zumal eine Verfahrenseröffnung für sie wegen der üblichen Personenidentität von vorläufigem und endgültigem Verwalter keine wirtschaftlich bedeutsame Zäsur darstellt. Der vorläufige Verwalter sollte deshalb entweder darauf hinweisen, dass seine Zustimmung zur Zahlung nur bis zur Verfahrenseröffnung ausreichend ist oder aber sich vom Gericht ermächtigen lassen, schon im Vorverfahren künftige Masseverbindlichkeiten zu begründen (Rz. 20.61 ff.).

d) Beendigung der vorläufigen Verwaltung Die vorläufige Verwaltung endet automatisch durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, weil dann die umfassende Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des endgültigen Verwalters gemäß §§ 80 ff. InsO eingreift2. Wird hingegen der Insolvenzantrag zurückgenommen oder mangels Verfahrenskostendeckung zurückgewiesen, müssen die Sicherungsmaßnahmen gemäß § 25 Abs. 1 InsO ausdrücklich aufgehoben werden3. Bis dahin unwirksame Verfügungen des Schuldners werden gemäß § 185 Abs. 1 BGB rückwirkend wirksam4.

20.36

Nach Beendigung seines Amtes hat der vorläufige Verwalter Rechnung zu legen (§ 21 Abs. 1 Nr. 1, § 66 InsO). Die Form der Rechnungslegung hängt von seinen Befugnissen ab. Ein „schwacher“ vorläufiger Verwalter, dessen Aufgabe sich auf die Zustimmungserteilung beschränkt und der auch keine Gelder vereinnahmt, nimmt die Rechnungslegung meist in Form eines Rechenschaftsberichts (Tätigkeitsbeschreibung) im Rahmen seines Gutachtens vor, das er als gleichzeitig bestellter Sachverständiger über die Insolvenzeröffnungsgründe und die Verfahrenskostendeckung zu fertigen hat. Formaljuristisch zutreffend ist diese Usance hingegen nicht. Auch der „Nur-Zustimmungsverwalter“ müsste eigentlich darlegen, über welche Vermögensgegenstände während der vorläufigen Verwaltung mit oder ohne seine Zustimmung verfügt wurde, so dass unmittelbar nach der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen eine Inventarisierung analog § 151 InsO erfolgen müsste, was ausdrücklich allerdings nur für den „starken“ vorläufigen Verwalter verlangt wird5.

20.37

e) Befugnisse der Gläubiger Für die Gläubiger ändert sich durch die Anordnung der „puristischen“ Zustimmungsverwaltung insofern etwas, als sie Leistungen des Schuldners rechtswirksam nur mit Zustimmung 1 Das gilt insbesondere im Hinblick auf nicht erkennbare Hindernisse gegen eine Betriebsfortführung: BAG v. 25.6.2009 – 6 AZR 210/08, ZIP 2009, 1772. 2 BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, ZIP 2007, 438 Rz. 9. 3 BGH v. 30.9.2007 – IX ZB 37/07, NZI 2008, 100 Rz. 7. 4 BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 232/04, ZIP 2006, 479. 5 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 42.

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20.38

§ 20 Rz. 20.38 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

des vorläufigen Verwalters erhalten können, solange es über reine Tathandlungen wie bspw. das Weiterarbeiten auf einer Baustelle hinausgeht. Ohne gesonderte Anordnung unterliegen die Gläubiger keinem Vollstreckungsverbot, sondern sind nur von der Rückschlagsperre des § 88 InsO betroffen, falls Vollstreckungsmaßnahmen bis zur Verfahrenseröffnung nicht abgeschlossen wurden. Wegen der Gefahr späterer Anfechtung lohnen sich Rechtsverfolgungskosten nicht. Üblicherweise wird die Anordnung der vorläufigen Verwaltung ohnehin mit einer Untersagung oder einstweiligen Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen (§ 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO) verbunden, was sich nach überwiegender Ansicht nicht nur auf Insolvenzforderungen, sondern auch auf die Durchsetzung von Aus- und Absonderungsansprüchen erstreckt1. Im Gegenzug haben die letztgenannten Gläubiger Ansprüche auf Zinsen und Wertersatz analog § 169 Satz 2 f., § 172 InsO2. Selbst ein Zwangsvollstreckungsverbot hindert die Gläubiger nicht, ihre Rechte ohne Zwangsvollstreckung durchzusetzen3. Die Herausgabe von Sicherungsgut an den absonderungsberechtigen Gläubiger ist als tatsächliche, nur die Besitzverhältnisse betreffende Handlung des Schuldners selbst dann wirksam, wenn der vorläufige „schwache“ Verwalter widerspricht, da der Verwalter regelmäßig keinen Besitz hat und keine Verfügung i.S. des § 21 Abs. 1 Nr. 2 InsO vorliegt. Ob darin eine anfechtungsrechtliche Gläubigerbenachteiligung liegt, so dass der Gegenstand nach Verfahrenseröffnung wieder zurückverlangt werden kann, um die Verwertung oder Nutzung durch den Verwalter (§§ 169, 172 InsO) zu ermöglichen, hat der BGH bisher offengelassen4, allerdings im anderen Zusammenhang mehrfach betont, dass wertausschöpfend belastete Gegenstände einen im Kern geschützten Vermögenswert des Schuldners repräsentieren. Das ergäbe sich zwar nicht aus den Kostenpauschalen des § 171 InsO, weil sie nur den Aufwand der Masse ausgleichen und nicht zu deren Mehrung führen sollen5. Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise scheide das Sicherungsgut aber erst mit der – vom Verwalter durchzuführenden – Verwertung aus der Insolvenzmasse aus6. Es ist deshalb naheliegend, die Anfechtung jedenfalls dann durchgreifen zu lassen, wenn der Gegenstand für eine Betriebsfortführung erforderlich ist. Praktische Bedeutung wird das wegen der Dauer einer prozessualen Auseinandersetzung aber nur im Hinblick auf einen Verzugsschaden haben, den der Anfechtungsgegner ausgleichen muss, falls der Verwalter die vereitelte Möglichkeit zur Nutzung oder Ablösung der Belastung teurer kompensieren musste.

20.39

Geschäftspartner, die für eine Unternehmensfortführung benötigt werden, versuchen häufig, neue Lieferungen von der Zahlung alter Forderungen abhängig zu machen. Stimmt der „schwache“ vorläufige Verwalter einer solchen Befriedigung ohne weitere Erklärung zu, ist die spätere Insolvenzanfechtung gleichwohl möglich. Der endgültige Verwalter ist zwar regelmäßig dieselbe Person, aber der Träger eines anderen Amtes als der vorläufige. Die Anfechtung ist nur ausgeschlossen, wenn der vorläufige Verwalter einen Vertrauenstatbestand gesetzt hat. Das soll nach Ansicht des BGH schon dann der Fall sein, wenn der „schwache“ Verwalter eine im Zusammenhang mit der Neulieferung getroffene Vereinbarung über die Zahlung von Altforderungen oder einen ausdrücklichen Anfechtungsausschluss gebilligt hat, es sei denn, dass die Zustimmung unter Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtstellung erwirkt wird7 oder mit der neuen Leistung in keinem Zusammenhang steht8 oder der vorläufige 1 2 3 4 5 6 7 8

Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 72. Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 72. BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632. BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 67/09, ZIP 2012, 1301. BGH v. 9.10.2003 – IX ZR 28/03, ZIP 2003, 2370. BGH v. 29.3.2007 – IX ZR 27/06, ZIP 2007, 1126 Rz. 26. BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, ZIP 2006, 431. BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, ZIP 2005, 314.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.40 § 20

Verwalter sich die Anfechtung ausdrücklich vorbehält1. Gegen diese Rechtsprechung sind insofern Zweifel anzumelden, als eine nach §§ 1, 87 InsO rechtswidrige Bevorzugung einzelner Gläubiger nur ausnahmsweise ein rechtlich geschütztes – und nicht nur faktisches – Vertrauen begründen darf2. Die Zahlung von Altforderungen wird regelmäßig auf eine Ausnutzung wirtschaftlicher Macht beruhen, mag sie auch nur darin bestehen, dass der Geschäftspartner in der gebotenen Eile nicht ausgewechselt werden kann. Ausnahmen von dieser Lebenserfahrung sollte entgegen der Ansicht des BGH3 der Lieferant beweisen. Selbst wenn ihm das gelingt, ist sein Vertrauen nur insoweit schutzwürdig, als ein neuer Nachteil vermieden wird. Wird beispielsweise seine Altforderung deshalb bedient, weil er die neue Ware an Dritte zu besseren Preisen hätte verkaufen können, oder weil sich die Neulieferung bei einer Einzelbetrachtung ohne (teilweisen) Ausgleich der Altforderung als Verlustgeschäft herausgestellt hätte, kann er auf den Anfechtungsausschluss vertrauen. Die Anfechtung muss keineswegs in Bausch und Bogen verneint werden. § 242 BGB setzt der Rechtsausübung eine flexible Schranke, die es durchaus ermöglicht, auch einen nur eingeschränkten Anfechtungsausschluss anzunehmen. Gänzlich einer Anfechtung entzogen sind natürlich gemäß § 142 InsO Bargeschäfte, die aber unter Berücksichtigung eines gewissen Beurteilungsspielraums eine Gleichwertigkeit von (neuer) Leistung und (neuer) Gegenleistung voraussetzen. Kein Bargeschäft liegt vor, wenn im Gegenzug zur Zahlung einer Altforderung eine Neuforderung durch eine neue Lieferung auf Ziel begründet wird4. Diese Auffassung beruht auf dem anfechtungsrechtlichen Grundsatz, dass jede Rechtshandlung für sich zu beurteilen ist. Insofern trifft es zu, dass die Neubelieferung keine Gegenleistung für die schuldrechtlich auf die Altforderung bezogene Zahlung ist. Gleichwohl könnte es zumindest bei § 133 InsO am Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners fehlen. Sinnvoll ist es, wie nunmehr bei der Geschäftsführerhaftung5 oder auch der Anfechtung einer Gesellschafterfinanzierung mithilfe eines Staffelkredits6 die mit der Gläubigerbenachteiligung im unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang stehenden Vorteile zu berücksichtigen.

2. „Starke“ vorläufige Verwaltung a) Befugnisse des Schuldners Die „starke“ vorläufige Verwaltung unterscheidet sich von der „schwachen“ in Bezug auf die Aktiva darin, dass der Schuldner nicht mehr verfügungsbefugt ist und gleichzeitig die Verfügungsbefugnis auf den Verwalter übergeht (§ 22 Abs. 1 InsO). Verfügungen des Schuldners sind absolut unwirksam (§§ 24, 81 InsO), aber nicht nichtig, so dass sie bei einer Genehmigung des Verwalters7 oder einer Aufhebung der Sicherungsmaßnahmen gemäß § 185 Abs. 2 BGB wirksam werden. Es gibt keinen Gutglaubensschutz. Insofern unterscheidet sich die Rechtslage nicht von einem Verstoß gegen den allgemeinen Zustimmungsvorbehalt im Rahmen der „schwachen“ vorläufigen Verwaltung. Die dortigen Ausführungen zur Bedeutung von Verfügungshandlung und Verfügungserfolg (Rz. 20.22) sowie zur Aufrechnung (Rz. 20.27) gelten entsprechend. Ebenso ha1 Die Voraussetzungen zusammenfassend: BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528. 2 Zutreffend deshalb die im weiteren Rechtsprechungsverlauf wieder eingeschränkte Auffassung von BGH v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, ZIP 2003, 810 und die Ansicht des BAG v. 27.10.2004 – 10 AZR 123/04, ZIP 2005, 86 für Zahlungszusagen an Arbeitnehmer. 3 BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, ZIP 2006, 431. 4 BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491 Rz. 19; BGH v. 23.9.2010 – IX ZR 212/09, ZIP 2010, 2009 Rz. 33; BGH v. 30.1.1986 – IX ZR 79/85, ZIP 1986, 448. 5 BGH v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, ZIP 2015, 71 = GmbHR 2015, 137. 6 BGH v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, ZIP 2013, 734 = GmbHR 2013, 464. 7 Laroche in Kayser/Thole, § 24 InsO Rz. 12; Kayser in Kayser/Thole, § 81 InsO Rz. 29 f.

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20.40

§ 20 Rz. 20.40 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

ben Leistungen an den Schuldner gemäß § 82 Satz 1 InsO nur noch befreiende Wirkung, wenn dem Leistenden die Anordnung der vorläufigen Verwaltung nicht bekannt ist (Rz. 20.26), wofür die Beweislast nach der öffentlichen Bekanntmachung der Verfügungsbeschränkung bei dem Drittschuldner liegt1. Anders als bei der „schwachen“ vorläufigen Verwaltung werden laufende Prozesse, die die Insolvenzmasse betreffen, nach § 240 Satz 2 ZPO unterbrochen.

20.41

Hinsichtlich der Passiva unterscheidet sich die „starke“ von der „schwachen“ Verwaltung dadurch, dass der Schuldner auch keine Verpflichtungsbefugnis mehr hat, weil die Verwaltungsbefugnis gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO ebenfalls auf den vorläufigen Verwalter übergeht. Da das Vertrauen des Rechtsverkehrs gestört wäre, wenn die von einem vorläufigen „starken“ Verwalter verursachten Verbindlichkeiten nach Verfahrenseröffnung gemäß § 38 InsO nur Insolvenzforderungen wären, begründet sein Handeln in den Grenzen des § 55 Abs. 2 InsO künftige Masseschulden. Davon erfasst werden auch die Leistungen aus Dauerschuldverhältnissen, die der vorläufige Verwalter in Anspruch nimmt. In der Praxis ist die Heraufstufung auch dieser Verbindlichkeiten ein wesentlicher Grund gegen die Anordnung der „starken“ vorläufigen Verwaltung. Allerdings ist der vorläufige Verwalter nicht verpflichtet, sämtlichen vergleichbaren Gläubigern für neue Leistungen den Status von künftigen Massegläubigern zu verschaffen. Namentlich kann er entscheiden, welche Arbeitnehmer weiterhin tätig werden sollen oder welche von mehreren Lieferanten gleichartiger Gegenstände neue Lieferungen tätigen sollen. Das Gebot der Gläubigergleichbehandlung (§ 1 InsO) betrifft ihre Stellung als Insolvenzgläubiger für bestehende Forderungen, nicht ihre Hervorhebung als Massegläubiger für künftige Ansprüche. Soweit der „starke“ vorläufige Verwalter allerdings die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 InsO erfüllt, ist ihm eine einseitige Herabstufung der Masseschuld durch Erklärung eines Vorbehalts nicht möglich. Eine Ausnahme macht § 55 Abs. 3 InsO für die auf die Bundesagentur für Arbeit wegen Insolvenzgeldzahlungen übergehenden Ansprüche: Sie sind trotz Inanspruchnahme der Arbeitsleistung nur Insolvenzforderungen2. Im Übrigen bleibt es Verwalter und Gläubiger unbenommen, eine Nachrangvereinbarung zu schließen, so dass bspw. eine Nutzungsvergütung wie eine Insolvenzforderung behandelt wird. Daran können insbesondere Vermieter von Spezialimmobilien durchaus ein Interesse haben, um sich langfristig den Schuldner als Mieter zu erhalten. Dagegen wird eingewandt, dass die Verfahrensrechte zwingendes Recht sind, einem Massegläubiger also nicht die Verfahrensstellung eines Insolvenzgläubigers eingeräumt werden kann3. Bedeutung hat das vor allem bei Abstimmungen der Gläubiger. Zumindest ist es aber möglich, einen Massegläubiger wirtschaftlich so zu behandeln, als wäre er Insolvenzgläubiger, ihn mithin nur in Höhe einer (hypothetischen) Quote zu befriedigen.

b) Befugnisse des Verwalters 20.42

Der „starke“ vorläufige Verwalter hat die in § 22 Abs. 1 Nr. 1–3 InsO genannten Aufgaben. Obwohl sie für den „schwachen“ Verwalter nicht ausdrücklich vorgeschrieben sind, sind die Pflichten für beide wegen des einheitlichen Zwecks der Sicherungsmaßnahmen, nachteilige Veränderungen zu vermeiden, weitgehend identisch, nur mit dem Unterschied, dass den „star1 BGH v. 12.11.1998 – IX ZR 145/98, ZIP 1998, 2162. 2 Das ist der schon zu Zeiten der KO begründete Sanierungsbeitrag des Staates, der sich aber nur liquiditäts- und nicht vermögensschonend auswirkt, weil der Aufwand nicht entfällt, sondern nur nicht (sofort) aus der Masse zu zahlen ist. Deshalb sind die Versuche von nachfragestarken Kunden, die Preise um den Liquiditätsbeitrag des Staates (teilweise) zu reduzieren, unter dem Gesichtspunkt der Gläubigergleichbehandlung kritisch zu sehen. 3 OLG Brandenburg v. 11.11.2020 – 7 U 87/18, NZI 2021, 134.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.45 § 20

ken“ Verwalter die Initiativlast für Verfügungen und ggfls. auch die Fortführung des Unternehmens trifft. Ihm stehen ebenso wenig wie dem „schwachen“ Verwalter die erst nach Verfahrenseröffnung eingreifenden Instrumentarien wie Erfüllungswahl oder Anfechtung oder abgekürzte Kündigungsfrist zur Verfügung. Verweigert er die Erfüllung von schwebenden Verträgen, ist der Schadensersatzanspruch des Lieferanten nur eine Insolvenzforderung, was auch bei einer erst nach Verfahrenseröffnung entschiedenen Erfüllungsablehnung der Fall wäre (§ 103 Abs. 2 InsO). Der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse hat in arbeits- sowie steuerrechtlicher Hinsicht zur Folge, dass der Verwalter als Amtsträger die Arbeitgeberstellung innehat und im Steuerschuldverhältnis gesetzlicher Vertreter des Schuldners ist (§ 34 AO)1. Die daraus resultierenden gesetzlichen Verbindlichkeiten stellen Masseschulden aber erst nach Verfahrenseröffnung dar.

20.43

Der „starke“ Verwalter darf genauso wenig wie der „schwache“ durch Verwertungsmaßnahmen das Entscheidungsvorrecht der Gläubigerversammlung über den Fortgang des Verfahrens (§§ 157 ff. InsO) unterlaufen. Deshalb kann er auch die Gläubiger, die Aus- und Absonderungsrechte geltend machen, auf die Zeit nach Verfahrenseröffnung verweisen, falls die Gegenstände nicht verderblich sind2. Schwebende Prozesse über Aus- und Absonderungsansprüche kann zwar der Gläubiger gemäß § 24 Abs. 2, § 86 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO aufnehmen. Der vorläufige Verwalter darf dann aber einwenden, dass der Anspruch zurzeit nicht durchsetzbar ist3. In der Praxis führt der Verweis der Gläubiger auf eine Entscheidung über den Bestand ihrer Rechte zu einer erheblichen Beeinträchtigung, für die das Gesetz – anders als bei einem Beschluss nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO (s. Rz. 20.57 f.) – keine Kompensation vorsieht. Zwar beginnt die lt. § 169 InsO normalerweise erst ab dem Berichtstermin laufende Verzinsungspflicht schon nach drei Monaten, wenn ein Gläubiger aufgrund einer Anordnung nach § 21 InsO an der Verwertung gehindert ist. Diese Anordnung muss sich jedoch auf den Gegenstand erstrecken, indem bspw. die Zwangsvollstreckung untersagt wird. In der Regel verfügt der Gläubiger über keinen auf den Gegenstand bezogenen Titel, so dass die Durchsetzung seines Rechts nicht an einer Anordnung nach § 21 InsO scheitert, sondern an der tatsächlich verweigerten Herausgabe. Das ist bei Gegenständen, die nur mit einem Absonderungsrecht belastet sind, noch hinnehmbar, weil anderenfalls das besagte Entscheidungsvorrecht der Gläubigerversammlung über den Gang des Verfahrens beeinträchtigt werden würde. Bei den einer Aussonderung unterliegenden Gegenständen ist diese Praxis hingegen außerordentlich zweifelhaft, so dass eine Haftung des die Herausgabe verweigernden Verwalters gemäß § 60 InsO durchaus nahe liegt.

20.44

Der „starke“ vorläufige Verwalter muss sämtliche Vermögensgegenstände in Besitz nehmen, um die auf ihn übergegangene Verwaltungsbefugnis ausüben zu können. Der gerichtliche Anordnungsbeschluss führt anders als beispielsweise bei einer Gesamtrechtsnachfolge im Wege der Erbschaft (§ 857 BGB) nicht zum automatischen Besitzübergang. Die Inbesitznahme ist mit einer Inventarisierung entsprechend § 151 InsO zu verbinden4. Die Inventarisierung ist zwar in § 22 Abs. 1 InsO nicht ausdrücklich genannt, folgt aber aus der Rechnungslegungspflicht, die gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO i.V.m. § 66 InsO auch jedem vorläufigen Verwalter obliegt.

20.45

1 FG Düsseldorf v. 12.3.2021 – 14 K 3658/16 H(L), BeckRS 2021, 10730 = ZIP 2021, 1410; Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 42. 2 Vgl. BGH v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419. 3 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 24 InsO Rz. 27. 4 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 42.

Spliedt | 701

§ 20 Rz. 20.46 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

c) Einschränkung der Insolvenzanfechtung 20.46

Die Handlungen eines „starken“ vorläufigen Verwalters sieht der BGH als absolut unanfechtbar (§§ 129 ff. InsO) an, weil seine Stellung derjenigen des endgültigen Verwalters angenähert ist, dessen Handlungen ebenfalls nicht der Anfechtung unterliegen1. Er begründet Masseschulden, der Anfechtung sollen hingegen nur Leistungen an Insolvenzgläubigern unterliegen2. Sie sollten auch nicht als Rechtshandlungen dem Schuldner zugeordnet werden dürfen3. In Betracht kam allenfalls eine Unwirksamkeit wegen evidenter Insolvenzzweckwidrigkeit4. Diese Auffassung überzeugt nicht5. Schon nach dem Wortlaut der §§ 130 f. InsO kommt es nicht darauf an, von wem die anfechtungsrelevante Rechtshandlung vorgenommen wurde. Entscheidend ist gemäß § 129 Abs. 1 Satz 1 InsO nur, dass sie vor Verfahrenseröffnung stattfand. Die zeitliche Zäsur ist das Kriterium, nicht die Ähnlichkeit des vorläufigen „starken“ mit dem endgültigen Verwalter6. Zuletzt hat der BGH die Unanfechtbarkeit etwas relativiert, indem er nicht mehr an die Rechtsstellung anknüpft, sondern an den Masseschuldcharakter der Zahlungszusage für Altforderungen. Danach ist eine Anfechtung möglich, wenn die Insolvenzforderung schon im Vorverfahren bezahlt wurde, nicht hingegen mehr, wenn ihre Aufwertung zur Masseschuld bei Verfahrenseröffnung noch bestand und die Zahlung erst – ggfls. zusammen mit Neulieferungen – nach Verfahrenseröffnung erfolgen sollte7. Die Fragwürdigkeit auch dieser Unterscheidung wird jedoch an dem vom BGH selbst angeführten Beispiel der Besicherung einer Altforderung deutlich. Für sie lässt das Gericht die Anfechtung zu, obwohl die Bestellung einer Sicherheit der Begründung einer Masseverbindlichkeit gleichkommt. Ein Absonderungsrecht ist gleichsam eine verdinglichte Masseschuld8. Sinnvoller wäre es deshalb, auch bei der „starken“ vorläufigen Verwaltung ebenso wie bei der „schwachen“ nur danach zu unterscheiden, ob mit der Anfechtung schutzwürdiges Vertrauen enttäuscht wird. Dafür aber gilt, dass ein Gläubiger nur sehr eingeschränkt darauf zählen darf, dass seine Insolvenzforderung nach Antragstellung befriedigt wird.

3. Mischformen der vorläufigen Verwaltung 20.47

Die „schwache“ vorläufige Verwaltung hat den Nachteil, dass das Initiativrecht für Verfügungen beim Schuldner bleibt und die während des Vorverfahrens begründeten Verbindlichkeiten nach Verfahrenseröffnung nicht mehr als Masseschuld erfüllt werden dürfen, obwohl nicht jeder während der vorläufigen Verwaltung geschlossene Vertrag bis zur Eröffnung vollständig abgewickelt werden kann. Demgegenüber hat die „starke“ vorläufige Verwaltung den Nachteil, dass schon vor einer Entscheidung über die Verfahrenseröffnung massiv in die Eigentümerbefugnisse des Schuldners eingegriffen wird und die mit dem Verwalterhandeln verbundenen 1 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 Rz. 11 = GmbHR 2014, 417; BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528 Rz. 17; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, ZIP 2005, 314. 2 BGH v. 22.11.2018 – IX ZR 167/17, NZI 2019, 236; BGH v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, NZI 2016, 779 = ZIP 2016, 1295. 3 Thole in Kayser/Thole, § 129 InsO Rz. 35 f. 4 Zu den Voraussetzungen: BGH v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, ZIP 2002, 1093, 1095 f. 5 Spliedt, ZInsO 2007, 405 ff. 6 Was jedoch wegen der evidenten Gesetzeslücke bei §§ 135, 143 Abs. 3 InsO eine analoge Anwendung der Anfechtungsvorschriften auf die Zeit nach Verfahrenseröffnung nicht sperrt: BGH v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, ZIP 2011, 2417 = GmbHR 2012, 86. 7 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, ZIP 2014, 584 Rz. 12 = GmbHR 2014, 417. 8 Das wird insbesondere auch daran deutlich, dass die Verletzung von Absonderungsrechten einen Schadensersatzanspruch als Masseschuld gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet, Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 31.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.49 § 20

Verbindlichkeiten in Bausch und Bogen später Masseschulden werden. Ein Nachteil beider „puristischer“ Alternativen ist überdies, dass Aus- und Absonderungsgegenstände zwar zu sichern sind, aber nur noch genutzt werden dürfen, solange der Schuldner dazu befugt ist, wobei auch dann die Rechte der Absonderungsgläubiger dem Werte noch erhalten und gegen die Masse durchsetzbar bleiben müssen1. In der Praxis haben sich deshalb Mischformen herausgebildet, die auch als „halbstarke“ Verwaltung bezeichnet werden: Die Basisanordnung bleibt die „schwache“ Zustimmungsverwaltung, die aber ergänzt wird, um Ermächtigungen auf der Aktiv- und meist auch auf der Passivseite sowie um Einschränkungen der Sicherungsrechte. Die Grundlage bildet § 22 Abs. 2 InsO, der dem Insolvenzgericht eine Gestaltungsmöglichkeit einräumt, soweit die einen „starken“ vorläufigen Verwalter zustehenden Befugnisse nicht überschritten werden. Von den Mischformen seien nachfolgend drei besonders häufig vorkommende Erscheinungsformen aufgezeigt:

a) Einzugsermächtigung Forderungen sind „verderbliche Ware“, da ein Abwarten mit dem Einzug häufig Einwände von Drittschuldnern provoziert. Deshalb wird den Drittschuldnern regelmäßig untersagt, noch an den Schuldner zu zahlen, was einem forderungsspezifischen Verfügungsverbot entspricht. Parallel wird der Verwalter zum Forderungseinzug ermächtigt. Allerdings wirken Sicherungsmaßnahmen – falls keine Anordnungen nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO getroffen wurden (dazu sogleich unter Rz. 20.50 ff.) – nur gegenüber dem Schuldner2. Die „normale“ Einzugsermächtigung erfasst deshalb abgetretene Forderungen nur, soweit die Inkassobefugnis des Schuldners noch fortbesteht3. Ist sie nicht (mehr) gegeben, hindert auch die Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen Dritte nicht, die Forderungsabtretung offenzulegen und Zahlung zu verlangen4, weil es sich dabei um keine Zwangsvollstreckungsmaßnahmen handelt.

20.48

Zieht der Verwalter Forderungen ein, muss er die von den Drittschuldnern zu leistenden Zahlungen natürlich auch entgegennehmen können. Entweder erteilt das Insolvenzgericht ausdrücklich eine Ermächtigung zum Geldempfang und der Einrichtung eines Kontos, oder man entnimmt diese Befugnis schon dem Sachzusammenhang mit der Inkassoermächtigung5. Für die insolvenzrechtliche Behandlung eines Kontos differenziert der BGH zwischen einem Vollrechts- und einem Ermächtigungstreuhandkonto6. Bei einem Vollrechtstreuhandkonto (u.a. Anderkonto) ist der Kontoinhaber persönlich berechtigt. Mit einem Ermächtigungstreuhandkonto verhält es sich hingegen wie mit anderen Vermögensgegenständen, bei denen der Schuldner Rechtsträger bleibt7, nur dass er in der Verfügungsbefugnis beschränkt ist. Die Ansprüche bezüglich eines solchen Sonderkontos gehören zur (künftigen) Masse, während bei einem Vollrechtstreuhandkonto der vorläufige Verwalter Rechtsträger ist, was namentlich bei

20.49

1 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2017, 274 Rz. 38 f., 79 = ZIP 2019, 472. 2 BGH v. 24.9.2009 – IX ZB 38/08, ZIP 2009, 2068 Rz. 14; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632. 3 Sie endet mangels gegenteiliger Vereinbarung nicht allein wegen des Insolvenzantrags oder der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen, solange der Forderungseinzug im ordnungsgemäßen Geschäftsverkehr stattfindet, was nur der Fall ist, wenn der Gläubiger ein Sicherungsrecht am Erlös erhält, BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 = ZIP 2019, 472. 4 BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, ZIP 2003, 632. 5 Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1403; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 22 InsO Rz. 184. 6 BGH v. 26.3.2015 – IX ZR 302/13, ZIP 2015, 1179 Rz. 8. 7 Buteröwe in Karsten Schmidt, § 35 InsO Rz. 1.

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§ 20 Rz. 20.49 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Fehlüberweisungen Konsequenzen zeigt. Den Betrag habe er persönlich zu erstatten, selbst wenn das Konto auch nach Verfahrenseröffnung als Massekonto behandelt wird, ohne jedoch die Kontobezeichnung zu ändern. Bei einem Ermächtigungstreuhandkonto hat ein vor Verfahrenseröffnung irrtümlich zahlender Gläubiger gemäß § 38 InsO lediglich eine Insolvenzforderung erworben1. Ein solches Konto kann nur ein zur Kontoeröffnung für den Schuldner verfügungsberechtigter vorläufiger Verwalter eröffnen2. Überzeugend ist die Unterscheidung zwischen beiden Kontoarten jedenfalls für die Erstattung einer Fehlüberweisung nicht. Weder hat der Drittschuldner einen an den Verwalter persönlich gerichteten Leistungswillen3, noch steht die Entscheidung, wie mit einem Kontoguthaben zu verfahren ist, im Belieben des vorläufigen Verwalters. Das Erstattungsverlangen des Gläubigers konfligiert nach Verfahrenseröffnung mit dem Herausgabeanspruch der „Masse“. In einer solchen Pflichtenkollision hat der Gläubiger bei wertender Betrachtungsweise mit Blick auf §§ 38, 87 InsO die schwächere Position, weil der Zweck des Kontos – und eben auch des Anderkontos – nicht sein Schutz ist, sondern eben der der künftigen Insolvenzmasse. Da aber die Einrichtung von Anderkonten immer noch sehr häufig vorkommt und auch Doppelüberweisungen gerade während der vorläufigen Verwaltung keine Seltenheit sind, birgt die Kontobezeichnung eine erhebliche Haftungsgefahr für den Verwalter, der einen Zahlungseingang eventuell längst auf ein späteres Massekonto weitergeleitet hat, sich aber u.U. auf einen Wegfall der Bereicherung gemäß § 819 BGB nicht berufen darf. Nach Ansicht des BGH4 sind Anderkonten nicht zulässig, weil Einzahlungen zur (künftigen) Insolvenzmasse gehören, das der (vorläufige) Verwalter nicht zum Vollrecht auf ein Anderkonto führen darf. Insolvenzrechtlich zulässig ist nur ein Sonderkonto, das er als Ermächtigungstreuhänder für den Schuldner einrichtet5.

b) Beschränkung von Drittrechten gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO 20.50

Sicherungsmaßnahmen sind, wie soeben erwähnt, gegen den Schuldner gerichtet, nicht gegen die Gläubiger, die dementsprechend in § 21 Abs. 1 Satz 2 InsO auch nicht als beschwerdebefugt aufgeführt werden6. Neben der Zwangsvollstreckungsuntersagung ist die einzige Ausnahme in § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO niedergelegt. Danach kann das Insolvenzgericht „anordnen, dass Gegenstände, die im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens von § 166 [Anm.: Verwertungsrecht des Verwalters für Absonderungsgut] erfasst würden oder deren Aussonderung verlangt werden könnte, vom Gläubiger nicht verwertet oder eingezogen werden dürfen und dass solche Gegenstände zur Fortführung des Unternehmens des Schuldners eingesetzt werden können, soweit sie hierfür von erheblicher Bedeutung sind.“ Der zitierte Gesetzestext ist nur die Rechtsgrundlage, nicht aber zulässiger Inhalt eines darauf basierendes Beschlusses. Vielmehr bedarf es einer Individualisierung der von der Anordnung betroffenen Gegenstände und Gläubiger. Das Gericht muss zu erkennen geben, dass es sich mit den besonderen Anordnungsvoraussetzungen auseinandergesetzt hat7. Dann genügt eine zusammenfassende Bezeichnung sowohl nach Art der Gläubiger als auch nach Art der Gegenstände8 wie beispiels1 BGH v. 19.12.2008 – IX ZR 192/07, ZIP 2009, 531 Rz. 10; BGH v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 227 Rz. 10. 2 BGH v. 26.3.2015 – IX ZR 302/13, ZIP 2015, 1179 Rz. 8. 3 BFH v. 31.8.2021 – VIII B 64/20, NZI 2021, 1061; a.A. BGH v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 227 Rz. 10. 4 Zu Recht kritisch Ganter, NZI 2019, 873. 5 BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18 Rz. 32, ZIP 2019, 718. 6 BGH v. 24.9.2009 – IX ZB 38/08, ZIP 2009, 2068 Rz. 14. 7 BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZIP 2010, 141 Ls. 1a. 8 BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZIP 2010, 141 Rz. 19.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.54 § 20

weise „sämtliche zur Sicherheit abgetretene Forderungen“1. Voraussetzung für die Anordnung ist, dass die Gegenstände für die Fortführung des Unternehmens von erheblicher Bedeutung sind, der Betriebsablauf ohne sie also nicht nur geringfügig gestört werden würde2. Im Hinblick auf zur Sicherheit abgetretene Forderungen wird das Einzugsverbot für den Gläubiger regelmäßig ergänzt um eine Einzugsermächtigung für den vorläufigen Verwalter. Er darf den Erlös nach Ansicht des BGH zwar nicht für die Fortführung verwenden (s. sogleich Rz. 20.54). Gleichwohl kann der Einzug als für die Fortführung von erheblicher Bedeutung angesehen werden, weil ein Streit über ggfls. schon offengelegte Zessionen das Inkasso erschwert und die Gelder der Masse erst verzögerlich zur Verfügung stünden, wenn sich herausstellen sollte, dass die Sicherungsrechte nicht bestehen oder anfechtbar sind3. Selbst bei wirksamen Sicherungsabtretungen wird der Ermittlungs- und Feststellungsaufwand der Masse durch die Kostenbeiträge der §§ 170 f. InsO ausgeglichen4, so dass sich zumindest daraus die Fortführungsunterstützung ergibt5. Als Voraussetzung bleibt aber stets, dass das Unternehmen überhaupt fortgeführt wird, so dass eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO in reinen Abwicklungsverfahren unzulässig ist6.

20.51

Leistet der Drittschuldner entgegen einem Einziehungsverbot an den Sicherungsgläubiger, weil die Zession schon vorher offengelegt worden war, findet § 24 Abs. 1, § 82 InsO entsprechende Anwendung7. Der Drittschuldner wird frei, wenn er die Anordnung nicht kannte, was er nach der öffentlichen Bekanntmachung des Verwertungsverbots zu beweisen hat. Der Verwalter kann die Zahlung genehmigen, was er tun wird, wenn sie in seinen Verfügungsbereich gelangt ist. Anderenfalls wird er erneut Zahlung verlangen müssen8.

20.52

Das Einziehungsverbot könnte nach dem Wortlaut des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO zwar auch Forderungen erfassen, die der Aussonderung unterliegen, wie es insbesondere beim echten Factoring der Fall ist. Unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien9 werden solche Ansprüche aber als nicht für eine Betriebsfortführung erforderlich angesehen, weil sich der Schuldner ihrer schon vollständig entäußert hatte10. Auch fallen für ihre Verwertung keine Kostenbeiträge an. § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO beschränkt sie ausdrücklich auf Absonderungsrechte.

20.53

Im Gegensatz zum Gebrauch körperlicher Vermögensgegenstände (dazu sogleich Rz. 20.57 f.) hat der BGH der „Nutzung“ der aus einem Forderungseinzug stammenden Gelder für die Betriebsfortführung einen Riegel vorgeschoben. Schon in den Motiven zu § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO heißt es, dass sie nicht für die Betriebsfortführung verwendet werden dürften. Gleiches

20.54

1 AG Hamburg v. 30.9.2011 – 67g IN 381/11, ZInsO 2011, 2045; enger hingegen Laroche in Kayser/ Thole, § 21 InsO Rz. 40 ff. 2 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 40; Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 79, 82. 3 Begr. RegE BT-Drucks. 16/3227, S. 15. 4 Begr. RegE BT-Drucks. 16/3227, S. 16; BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, NZI 2010, 339 Rz. 40 = ZIP 2010, 739. Ohne eine Anordnung gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 5 InsO sind die §§ 170, 172 InsO hingegen nicht anwendbar, BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 57 = ZIP 2019, 472. 5 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 87 ff. 6 BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZIP 2010, 141 Rz. 20. 7 Ganter, NZI 2007, 549, 552; Gehrlein, ZIP 2011, 5, 12. 8 Ganter, NZI 2007, 549, 552. 9 Begr. RegE BT-Drucks. 16/3227, S. 16. 10 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 39, 42 = ZIP 2019, 472; Ganter, NZI 2007, 549, 554.

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§ 20 Rz. 20.54 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

gelte für den Verbrauch von Gegenständen1, insbesondere Vorräten. Durch den Forderungseinzug dürfe der Sicherungsgläubiger deshalb, so der BGH, sein Absonderungsrecht nicht verlieren. Es müsse sich am Geldeingang fortsetzen, was nur dann gewährleistet sei, wenn der Betrag nach Verfahrenseröffnung noch unterscheidbar in der Masse vorhanden sei. Bei einer Summenschuld bedeute dies, dass das Guthaben auch nicht nur vorübergehend unter den eingezogenen Betrag sinken dürfe, beim Inkasso mehrerer Forderungen also nicht unter die Summe der daraus resultierenden Zahlungseingänge2. Deshalb muss der vorläufige Verwalter die Gelder auf einem Sonderkonto separieren und darf sie nicht für eine Finanzierung der Betriebsfortführung verwenden3. Nur so ist gewährleistet, dass an den Zessionar auch bei einer etwaigen Masseunzulänglichkeit der Erlös ausgekehrt wird, weil sich das Sicherungsrecht am Guthaben fortsetzt.

20.55

In der Praxis wird dieses Gebot vor allem in kleineren Fortführungsfällen mit schnellem Handlungsbedarf nicht immer berücksichtigt. Sollte sich das Sicherungsrecht des Gläubigers nicht am Erlös oder – bei Sicherungsübereignungen – an der Forderung aus dem Weiterverkauf fortsetzen, ist er bei einer Anordnung nach § 21 Abs. 1 Nr. 5 InsO aus der Masse entsprechend § 55 Abs. 2 InsO zu befriedigen. Auf Verwertungen des „schwachen“ vorläufigen Verwalters findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung4. Wird die Masse unzulänglich oder setzt sich das Sicherungsrecht nicht an einem Vermögensgegenstand der Masse fort, haftet der vorläufige Verwalter schon allein deshalb persönlich, weil er seiner Separierungsverpflichtung gegenüber dem Absonderungsgläubiger nicht nachgekommen ist (§ 60 InsO). Er kann sich nicht entsprechend § 61 Satz 2 InsO darauf berufen, dass er die drohende Unzulänglichkeit nicht hätte erkennen können, da er sehenden Auges Absonderungsrechte verletzt. Deshalb läuft er sogar Gefahr, seine Versicherungsdeckung zu verlieren und aus wichtigem Grund (§ 59 InsO) abberufen zu werden. Folgt man der Ausgangsthese des BGH, kann sich der vorläufige Verwalter diesem Dilemma nur entziehen, wenn mit den Sicherungsnehmern ein sog. unechter Massekredit vereinbart wird, der ihn berechtigt, die eingezogenen Gelder für die Unternehmensfortführung zu verwenden5. Das wird regelmäßig mit einem Sicherheitenrevirement verbunden, bei dem neues Umlaufvermögen den unechten Massekredit absichert, wobei häufig ein Sicherheitenpool zugunsten mehrerer Gläubiger gebildet wird. Soweit die neuen Sicherheiten schon bestehen, bedarf der ansonsten „schwache“ vorläufige Verwalter einer Mitwirkung des Schuldners, dessen Verfügungen er zu diesem Zweck ohne gesonderte Ermächtigung des Gerichts zustimmen kann, weil nur Ansprüche besichert werden, die aufgrund der Verpflichtung zur Erlösauskehr ohnehin Masseschulden sind. Soweit aber – wie meist – auch künftig entstehende Rechte, insbesondere aus der Geschäftsfortführung nach einer Verfahrenseröffnung erwachsende Forderungen, abgetreten werden, ist dazu eine Einzelermächtigung erforderlich, weil nur dann die Hürde des § 91 InsO überwunden und künftige Masseschulden begründet werden können.

20.56

Allerdings begegnet die Ansicht des BGH Bedenken, dass die eingezogenen Gelder nicht zur Betriebsfortführung verwendet werden dürfen6. Gerade die Unterstützung der Fortführung ist das Anliegen des Gesetzgebers für die Einfügung des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO gewesen7. Es wäre 1 2 3 4 5 6 7

Begr. RegE BT-Druck. 16/3227, S. 16. BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 Rz. 40 f. Flöther/Wehner, NZI 2010, 554, 557. BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17 Rz. 53 f., ZIP 2019, 472. Ganter, NZI 2020, 249, 252. Ganter, NZI 2019, 279. BT-Drucks. 16/3227, S. 15 f.

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§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.58 § 20

ein Wertungswiderspruch, die Abnutzung von Maschinen im Interesse der Fortführung gegen einen nur (masse-)schuldrechtlichen Ersatzanspruch zu akzeptieren (dazu sogleich Rz. 20.57), die Verwendung der Forderungseingänge aber zu verbieten, zumal weder § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO noch § 170 InsO eine solche dingliche Surrogation zu entnehmen ist, die den vorläufigen Verwalter zur Separierung der Zahlungseingänge verpflichtet1. Auch hilft die vom BGH zunächst angedeutete Ausnahme für Globalzessionen nicht weiter2. Sie wird deshalb für möglich gehalten, weil im Rahmen der Betriebsfortführung ständig neue Forderungen entstehen, für die trotz Anordnung einer Verfügungsbeschränkung die zuvor vom Schuldner erklärte Abtretung wirksam ist3. Diese Forderungen unterliegen jedoch der insolvenzrechtlichen Anfechtung, so dass der vermeintliche für den absonderungsberechtigten Gläubiger wirtschaftlich neutrale Sicherheitentausch keinen Bestand hat4, was den BGH bewogen hat, bei einer Globalzession keine Erleichterungen vorzusehen5. Aus- und Absonderungsgegenstände dürfen – anders als Forderungen, bei denen der Schuldner nicht mehr inkassoberechtigt ist – bei einem Zwangsvollstreckungsverbot nicht der Masse entzogen werden6. Zur Betriebsfortführung genutzt werden dürfen sie aber nur, wenn der Schuldner dazu noch befugt ist. Wurde ihm das untersagt, bleibt nur eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO. Sie begründet ein besonderes Rechtsverhältnis, aus dem der (Sicherungs-)Eigentümer zur Duldung der Nutzung verpflichtet ist gegen eine Nutzungsausfallentschädigung in Form laufender Zinsen gemäß § 169 InsO. Ihre Höhe richtet sich nach der vertraglichen Vereinbarung7, in Ermangelung derer nach der Verkehrsüblichkeit8. Außerdem muss der Verwalter einen Wertverlust ausgleichen.

20.57

Die Nutzungsvergütung ist erst ab Beginn des vierten Monats nach der Anordnung zu zahlen. Die bis dahin unentgeltliche Nutzung ist verfassungsgemäß9, wobei nicht übersehen werden darf, dass auf einem Vertrag beruhende Vergütungsansprüche als Insolvenzforderung bestehen bleiben. Der Wertverlust muss hingegen ab sofort kompensiert werden10. Es handelt sich um eine künftige Masseverbindlichkeit, und zwar auch dann, wenn der Verwalter ansonsten nur „schwacher“ vorläufiger Verwalter ist11. Die Ansprüche des Gläubigers treten neben etwaige vertragliche Ansprüche. Im Verhältnis zu dem bei einer „starken“ vorläufigen Verwaltung anwendbaren § 55 Abs. 2 InsO wird § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO als lex specialis angesehen12, mit der Konsequenz, dass ohne eine Anordnung die vertragliche Nutzungsvergütung sofort Masseschulden gemäß § 55 Abs. 2 InsO darstellen, mit Anordnung gemäß § 21 Abs. 2

20.58

1 S. die Anm. des an der Entscheidung aus 2010 beteiligten Senatsvorsitzenden Ganter, NZI 2008, 583, 588; sowie u.a. Flöther/Wehner, NZI 2010, 554, 557; Mitlehner, ZIP 2010, 1934, 1936 f.; Mitlehner, ZIP 2015, 60, 63 f. 2 BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010 739 Rz. 28. 3 Ganter, NZI 2007, 549, 551. 4 Flöther/Wehner, NZI 2010, 554, 556. 5 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274, Rz. 39 = ZIP 2019, 472. 6 BGH v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, ZIP 2010, 141 Rz. 44; BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, ZIP 2006, 621; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 72 m.w.N. in Fn. 342. 7 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 16. 8 Schröder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 21 InsO Rz. 83. 9 BVerfG v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, ZIP 2012, 1252 Rz. 21 f. 10 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 28. 11 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 24 ff. 12 Laroche in Kayser/Thole, § 21 InsO Rz. 43; wohl auch Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 101.

Spliedt | 707

§ 20 Rz. 20.58 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Nr. 5 InsO hingegen erst nach drei Monaten. Das steht weder mit der allgemeinen Bestimmung in § 22 Abs. 2 Satz 2 InsO in Einklang, wonach Sicherungsmaßnahmen nicht über die Rechte – und damit auch Lasten – einer „starken“ vorläufigen Verwaltung hinausgehen dürfen. Noch steht das im Einklang mit den Motiven zu § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO. Dem Gesetzgeber ging es darum, die Masse beisammenzuhalten1, nicht aber darum, die Masse von Verbindlichkeiten zu befreien. Kann also der Eigentümer beispielsweise einen Mietzins aufgrund vertraglicher Vereinbarungen verlangen, ist der Anspruch ab dem ersten Tag des konkurrierenden hoheitlichen Nutzungsverhältnisses bei einer ansonsten „schwachen“ vorläufigen Verwaltung eine Insolvenzforderung (§ 38 InsO), bei einer ansonsten „starken“ vorläufigen Verwaltung hingegen Masseschuld (§ 55 Abs. 2 InsO)2.

20.59

Ebenso, wie die vertraglichen Vergütungsansprüche unberührt bleiben, weil § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO allenfalls die insolvenzrechtliche Rangordnung betrifft, werden auch vertragliche Gestaltungsrechte nicht beeinträchtigt. Ein Vermieter verliert die Kündigungsbefugnis nicht, wenn nach – zum Rückstand davor s. § 112 InsO – dem Insolvenzantrag ein (neuer) Zahlungsrückstand auftritt3.

20.60

Von der Nutzungsvergütung zu unterscheiden ist der Wertverlust, den der Gegenstand durch Verbrauch, Beschädigung oder Zerstörung4 erleidet. Im Gegensatz zur Nutzungsentschädigung beginnt die Ausgleichspflicht sofort mit der Anordnung5 und ist, wie die Nutzungsentschädigung, eine künftige Masseverbindlichkeit, falls bis zur Eröffnung entgegen § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO nicht bezahlt wurde6. Obwohl nach dem Text des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO der Eindruck entstehen könnte, dass nur den absonderungsberechtigten Gläubigern ein Wertverlust auszugleichen ist, gibt es keinen Grund, die Aussonderungsberechtigten davon auszunehmen7. Während bei einer Immobilie wirtschaftlich der Nutzungszins als Verzinsung des Investitionskapitals überwiegt und die nutzungsbedingte Wertminderung in den Hintergrund tritt, ist es bei beweglichen Wirtschaftsgütern umgekehrt. Der Wertverlust kann sogar die aufgrund einer langfristigen Amortisation kalkulierten vereinbarten monatlichen Zahlungen übersteigen, bspw. bei Computer-Hardware, deren (Markt-)wert zu Beginn eines Nutzungszeitraums schneller sinkt als am Ende. Nach dem Wortlaut von § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO ist der durch die Nutzung eintretende Wertverlust auszugleichen. Darunter kann sowohl die wirtschaftliche Abnutzung verstanden werden, weil dieser Wertverlust durch die Nutzung adäquat kausal verursacht wurde, als auch nur die technische Abnutzung, die im Beispiel der Computer-Hardware am Beginn eines Nutzungsvertrages wesentlich geringer als die wirtschaftliche ist. § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO will zwar dem Gläubiger nicht mehr Rechte einräumen, als er vertraglich hätte. Ein Vergleich mit dem ungestörten Vertragsverhältnis ist jedoch gerade bei langfristigen Amortisationsverträgen nicht möglich. Der BGH hat dem Eigentümer eine Entschädigung neben der Nutzungsvergütung zugebilligt, wenn der tatsächlich eingetretene Wertverlust da1 BT-Drucks. 16/3227, S. 15 f. 2 Ob diese Betrachtungsweise mit der Begründung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO im Einklang steht, ist allerdings fraglich. Zwar stützt sich das Gericht darauf, dass eine Anordnung nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO den Gläubiger nicht schlechter stellt als ohne Anordnung, bezieht dies aber „zumindest“ nur auf die „schwache“ vorläufige Verwaltung, so dass es sich zur Konkurrenz mit § 55 Abs. 2 InsO nicht geäußert hat, BVerfG v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, ZIP 2012, 1252 Rz. 21. 3 A.A. Hölzle, ZIP 2014, 1155, 1157 ff. 4 BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 219/10, ZIP 2012, 1566 Rz. 22. 5 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 28. 6 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 24 ff. 7 BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 16 f.

708 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.61 § 20

durch nicht ausgeglichen wird1. Das Urteil betraf zwar eine technische Wertminderung. Der BGH betont aber den Schadensersatzcharakter des Anspruchs2, so dass es nur darauf ankommt, ob der Wertverlust dadurch verursacht wurde, dass die Gegenstände nicht herausgegeben wurden. Für den technischen Zustand der Sache am Beginn des Nutzungszeitraums obliegt dem Verwalter eine Dokumentation. Im Streit trägt er die sekundäre Behauptungslast dafür, dass eine Beschädigung schon vorher eingetreten war und deshalb ein darauf gestützter Schadensersatzanspruch nur eine Insolvenzforderung ist3.

c) Begründung von Masseverbindlichkeiten Der „schwache“ vorläufige Verwalter kann allein aus dieser Position heraus keine Masseverbindlichkeiten begründen4. Vielmehr sind sämtliche Schulden, die im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung noch vorhanden sind, Insolvenzforderungen (§ 38 InsO), mögen sie auch erst während der vorläufigen Verwaltung entstanden sein. Zwar darf der Verwalter der Begleichung solcher Neuschulden im Wege des Bargeschäfts zustimmen5, die Verfahrenseröffnung macht aber eine Zäsur6, die nach herrschender Meinung nur überbrückt werden darf, wenn der „schwache“ Verwalter mit zusätzlichen Befugnissen ausgestattet wird. Ein Ansatzpunkt ist auf der Aktivseite der partielle Übergang der Verfügungsbefugnisse auf ihn. Wird er beispielsweise ermächtigt, über bestimmte Gegenstände zu verfügen oder Forderungen einzuziehen, sind die damit verbundenen Verbindlichkeiten Masseschulden7. Eine andere in der Praxis zunehmend genutzte Möglichkeit betrifft allein die Passivseite durch eine gesonderte Ermächtigung zur Begründung künftiger Masseschulden8. Rechtsgrundlage ist § 22 Abs. 2 InsO, der es dem Gericht gestattet, die Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters zu bestimmen, wenn dem Schuldner kein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird. In erweiternder Auslegung lässt der BGH darunter auch das Recht fallen, Verbindlichkeiten zu begründen, die dann in analoger Anwendung von § 55 Abs. 2 InsO künftig Masseschulden sind. Da § 22 Abs. 2 InsO die Konkretisierung allein dem Gericht zuweist, müsse es nach Ansicht des BGH die Verbindlichkeiten im Einzelnen nennen. Daraus resultiert die Bezeichnung als „Einzelermächtigung“, wobei auch eine „Gruppenermächtigung“ für bestimmte abgrenzbare9 oder 1 2 3 4 5 6

BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 21 ff. BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, ZIP 2012, 779 Rz. 25. BGH v. 28.6.2012 – IX ZR 219/10, ZIP 2012, 1566 Rz. 27 ff. BGH v. 13.1.2011 – IX ZR 233/09, NZI 2011, 143. AG Hamburg v. 21.1.2014 – 67g IN 428/13, ZIP 2014, 1091. Büteröwe in Karsten Schmidt, § 38 InsO Rz. 14 ff.; Ries in Kayser/Thole, § 38 InsO Rz. 27 f. Gegen diese Meinung sind Vorbehalte angebracht; denn die Zäsur dient der Gläubigergleichbehandlung, Ehricke in Münchener Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 4, die auch dem Bargeschäftsprivileg zugrunde liegt, so dass Zufallsergebnisse nur über eine Einschränkung des § 38 InsO durch § 142 InsO vermieden werden. 7 Das ergibt sich zwar nicht allein aus dem Terminus der Verfügung, folgt aber daraus, dass jede Verfügung eines Verwalters einer Causa bedarf, deren Erfüllung rein faktisch nicht immer hic et nunc eintreten kann. Allerdings betonte der BGH mehrfach, dass § 55 Abs. 2 InsO ausschließlich den „starken“ vorläufigen Verwalter betreffe, BGH v. 7.5.2009 – IX ZR 61/08, ZIP 2009, 1477 Rz. 13; BGH v. 13.1.2011 – IX ZR 233/09, NZI 2001, 143, was jedoch in Abgrenzung zu dem „nur“ „schwachen“ Verwalter ausgeführt wurde. Dass die Rechtsfolgen der Verfügungsermächtigung Masseschuldcharakter haben müssen, wird an der simplen Kündigungsermächtigung deutlich: Ist sie unwirksam, dürfen daraus resultierende Schadensersatzansprüche nicht nur Insolvenzforderungen sein. 8 Grundlegend: BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625 unter IV.2.a) m. Anm. Spliedt, EWiR 2002, 919. 9 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625.

Spliedt | 709

20.61

§ 20 Rz. 20.61 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

im Rahmen des Verkehrsüblichen1 beschriebene Maßnahmen zulässig ist. Wichtig ist nur, dass das Insolvenzgericht die Verantwortung für die Anordnung der Maßnahme behält. Daraus2 wiederum hat sich die ständige Übung herausgebildet, dass der Verwalter, der eine Einzelermächtigung anregt, die voraussichtliche Erfüllung der infrage kommenden Masseschulden durch einen Liquiditätsplan darlegen muss3; denn das Insolvenzgericht werde, so die Begründung, seiner Verantwortung nicht gerecht, wenn es das Risiko für die Neugläubiger nicht in Grenzen halte. Entspricht die Ermächtigung nicht den Anforderungen des BGH, insbesondere weil sie nicht hinreichend konkretisiert ist, kommt gleichwohl ein Vertrauensschutz in Betracht, soweit die Unzulässigkeit nicht evident ist. Die Einzelermächtigung wirkt aber immer nur für künftig begründete Verbindlichkeiten4. Hat der vorläufige Verwalter schon vorher Zahlungszusagen erteilt, darf er sie im Nachhinein genauso wenig zu Masseschulden erheben wie er nach Verfahrenseröffnung Insolvenzforderungen bezahlen darf. Hat der Vertragspartner seine Leistung noch nicht erbracht, kann darüber allenfalls ein neuer Vertrag geschlossen werden.

20.62

Die inzwischen weithin geteilten Anforderungen an eine Masseschuldermächtigung sind kritisch zu beurteilen. So ist nicht ersichtlich, warum für die Masseschuldermächtigungen ein Liquiditätsplan erforderlich sein soll, nicht aber für die Anordnung der „starken“ vorläufigen Verwaltung, obwohl die Neugläubiger dort durch die Konkurrenz mit einer Vielzahl anderer wesentlich gefährdeter sind. Beides beruht auf einer Anordnung des Gerichts. Unklar ist auch, welches Schutzgut beeinträchtigt wird, wenn dem vorläufigen Verwalter ein großer Entscheidungsspielraum bei der Ausnutzung der Ermächtigung eingeräumt wird. Geht es um den Schutz des Schuldner, der Gläubigergesamtheit oder nur der Neugläubiger? Zwar trifft es zu, dass § 22 Abs. 2 InsO dem Gericht überantwortet, die Pflichten des vorläufigen Verwalters zu bestimmen. Das bedeutet aber nicht, dass der Verwalter nur noch als Bote ohne eigenen Entscheidungsspielraum fungieren darf und das Insolvenzgericht jede einzelne Forderung oder jeden Gläubiger benennen muss. Erst recht kann daraus nicht geschlossen werden, dass das Gericht auch die Erfüllbarkeit prüfen muss, zumal es einen Liquiditätsplan nur auf die rechnerische Richtigkeit kontrollieren kann. Ob bspw. der zum Bau einer Maschine für Personal und Material angesetzte Aufwand genügt, kann es nicht beurteilen. Allerdings hat der Gesetzgeber mit den am 1.1.2021 in Kraft getretenen Änderungen der Vorschriften über die Eigenverwaltung die bisherige Praxis übernommen, indem er in § 270c Abs. 4 InsO dem eigenverwaltenden Schuldner einen Anspruch auf eine Masseschuldermächtigung eingeräumt hat, aber nur für die Verbindlichkeiten, die im Finanzplan berücksichtigt sind. Je größer das Unternehmen, umso weniger ist ein Gericht in der Lage, die geplanten Geschäftsvorfälle im Einzelnen zu prüfen, zumal ein sehr kurzfristiger Handlungsbedarf besteht. De facto bedeutet die Masseschuldermächtigung also eine Summenermächtigung. Die Summenbegrenzung bindet nur den Schuldner, so dass die Überschreitung einen Grund für die Aufhebung der Eigenverwaltung begründen könnte. Eine Außenwirkung gegenüber den Neugläubigern ist nicht handhabbar, weil sie nicht wissen, ob ihre Forderungen noch innerhalb des Finanzplans liegen.

20.63

Für die Erfüllung der im Rahmen der Ermächtigung begründeten Masseschulden haftet der vorläufige Verwalter gemäß § 61 InsO5 auch dann, wenn er später nicht zum endgültigen Verwalter bestellt werden sollte. Seine Haftung kann nicht dadurch erleichtert werden, dass das Insolvenzgericht ihn zusätzlich zur Begründung von Neumasseschulden i.S. von § 209 Abs. 1 1 2 3 4 5

Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 53 f. Und bestätigt durch das Senatsmitglied Kirchhof, ZInsO 2004, 61. Zu Recht zweifelnd: Horstkotte/Martini, ZInsO 2010, 750, 751 f. Ganter, NZI 2020, 249, 251 f. Laroche in Kayser/Thole, § 22 InsO Rz. 80 f.

710 | Spliedt

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.82 § 20

Nr. 2 InsO für den Fall einer Masseunzulänglichkeit ermächtigt. Ebenso wie nach Verfahrenseröffnung gibt es auch vor der Eröffnung keine Superermächtigung für Neumasseschulden. Insofern bleibt nur die Möglichkeit, mit den Neugläubigern Sicherheiten an bestehenden oder im Rahmen der Betriebsfortführung neu geschaffenen Vermögensgegenständen des Schuldners oder eines Treuhänders1 zu vereinbaren. Von einer Masseschuldermächtigung für einen „echten“ Massekredit zu unterscheiden, ist die Inanspruchnahme eines „unechten“ Massekredits, bei dem vom Gläubiger keine neuen Leistungen erbracht werden, sondern Erlöse aus der Verwertung von Sicherheiten nicht an die gesicherten Gläubiger abgeführt werden. Hierzu bedarf es einer Vereinbarung mit dem Gläubiger, der an dem jeweiligen Gegenstand ein Absonderungs- oder Aussonderungsrecht – z.B. Ware unter Eigentumsvorbehalt – hat. Soweit das Sicherungsrecht an dem Gegenstand kraft dinglicher Surrogation2 fortbesteht, bedarf es außer der Vereinbarung mit dem jeweiligen Gläubiger keiner zusätzlichen Ermächtigung durch das Insolvenzgericht. Dann können aber die aus der Verwertung erzielten Erlöse auch nicht für die Betriebsfortführung genutzt werden. Deshalb ist auch bei einem unechten Massekredit regelmäßig eine Einzelermächtigung erforderlich, um neue Sicherheiten zu Lasten der Masse zu begründen und auf diese Weise auch eine spätere Insolvenzanfechtung auszuschließen3.

20.64

20.65–20.80

Einstweilen frei.

IV. Arbeitsrechtliche Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters/ vorläufigen Sachwalters Das Insolvenzeröffnungsverfahren hat arbeitsrechtlich betrachtet zwar weniger einschneidende Wirkungen als die Insolvenzeröffnung. Denn dem vorläufigen Insolvenzverwalter stehen die insolvenzrechtlichen Erleichterungen der §§ 113, 120 ff. InsO nicht zu4. Erst der Insolvenzverwalter tritt mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens definitiv an die Stelle des Schuldners und nimmt dessen Funktion und Rechtsstellung als Arbeitgeber wahr (§ 80 Abs. 1 InsO). Er kann einen vom vorläufigen Insolvenzverwalter abgeschlossenen Interessenausgleich mit Namensliste nach richtiger Ansicht genehmigen und dadurch die Rechtsfolgen des § 125 InsO herbeiführen5.

20.81

Erst der Insolvenzverwalter trifft mithin gegenüber den Arbeitnehmern und dem Betriebsrat uneingeschränkt die Arbeitgeberentscheidungen und gibt die rechtsgeschäftlichen Erklärungen ab. Dennoch werden in der Zeit der vorläufigen Insolvenzverwaltung in Sanierungsfällen die wesentlichen Weichenstellungen für das spätere Insolvenzverfahren vorgenommen6.

20.82

1 Zum „Treuhandkontenmodell“, bei dem ein Treuhänder Kundeneinzahlungen für Lieferanten entgegennimmt, s. Windel, ZIP 2009, 101 ff. 2 Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, § 47 InsO Rz. 31. 3 Ganter, NZI 2020, 249, 252 ff. 4 Vgl. BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, DB 2005, 1691; vgl. für § 125 InsO: BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029; Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 107 ff. 5 Mückl/Krings, ZIP 2012, 106 ff.; zustimmend z.B. Grosser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 35; zu Unrecht zweifelnd BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 m. Anm. Mückl, BB 2012, 2570 ff.; a.A. z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 17. 6 Grosser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 1.

Spliedt und Mückl | 711

§ 20 Rz. 20.83 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

20.83

Inwieweit der vorläufige Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberstellung eintritt, hängt demgegenüber von seiner Bestellung ab1. Solange das Insolvenzverfahren nicht eröffnet ist, übt der Schuldner die Arbeitgeberfunktionen in Abstimmung mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter2 aus. Die arbeitsrechtlichen Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters werden durch die Befugnisse bestimmt, die das Insolvenzgericht ihm bei seiner Bestellung im Rahmen der §§ 21, 22 InsO verleiht. Die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters hat keine Auswirkungen auf bestehende Arbeitsverhältnisse3.

20.84

Das Gesetz kennt vier Erscheinungsformen eines vorläufigen Insolvenzverwalters4: (1) § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO (Grundfall), (2) § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO (Zustimmungsrecht), (3) § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO („starker“), (4) § 21 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 22 Abs. 2 InsO (BGH). Das Arbeitsgericht prüft Berechtigung und Richtigkeit der Entscheidung des Insolvenzgerichts nicht nach. Es ist an den Beschluss des Insolvenzgerichts gebunden5.

1. „Schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter 20.85

Im Regelfall wird ein sog. „schwacher“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, ohne dessen Zustimmung Verfügungen des Arbeitgebers (Insolvenzschuldners) unwirksam sind (sog. „Zustimmungsvorbehalt“, § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO). Den Umfang seiner Rechte und Pflichten bestimmt das Insolvenzgericht in seinem Beschluss nach § 23 Abs. 1 Satz 1 InsO. Sie dürfen nicht über diejenigen eines sog. „starken“ Insolvenzverwalters hinausgehen (§ 22 Abs. 2 Satz 2 InsO). § 55 Abs. 2 InsO gilt für den nicht „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter nicht, auch nicht analog6.

20.86

Da der schwache vorläufige Insolvenzverwalter nicht in die Arbeitgeberstellung einrückt7, ist für den Ausspruch von Kündigungen und die Ausübung des Direktionsrechts weiterhin der Insolvenzschuldner zuständig8. Soweit der Insolvenzschuldner aber – trotz angeordneten Zustimmungsvorbehalts – Kündigungen ausspricht, sind diese als Verfügungen i.S. des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO9 nach §§ 24, 81 Abs. 1 Satz 1 InsO unwirksam10, während die Anhörung nach § 102 BetrVG als bloße Vorbereitungshandlung ohne Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters zulässig ist11. Der Arbeitnehmer kann eine vom Insolvenzschuldner mit 1 Mückl/Krings, BB 2012, 769; Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 3. 2 Vgl. Bertram/Künzl in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 102 Rz. 19 ff. 3 Grosser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 4. 4 S. dazu BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, DB 2002, 2100 = ZIP 2002, 1625. 5 Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 2 m.w.N. 6 Vgl. BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, DB 2002, 2100 = ZIP 2002, 1625; Moll in Kübler/Prütting/ Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 33. 7 Grosser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 5 m.w.N. 8 Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 7 m.w.N. 9 BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZA 2003, 909 = ZIP 2003, 1161. 10 Vgl. für viele Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 7. 11 BAG v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, NZA 2006, 658 = ZIP 2006, 631.

712 | Mückl

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.89 § 20

Einwilligung des vorläufigen Insolvenzverwalters erklärte Kündigung trotz sachlich vorliegender Zustimmung zurückweisen, wenn die Einwilligung nicht in schriftlicher Form vorgelegt wird (§ 182 Abs. 3 BGB i.V.m. § 111 Sätze 2 und 3 BGB)1. Es gelten entsprechende Grundsätze wie bei § 174 BGB2. Eine Klage gegen einen vorläufigen Insolvenzverwalter i.S. des § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO richtet sich gegen den falschen Beklagten3. Der schwache vorläufige Insolvenzverwalter wird, da er nicht der Arbeitgeber ist, nicht Partei arbeitsgerichtlicher Verfahren, die durch die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung auch dann nicht unterbrochen werden4, wenn sich eine baldige Unterbrechung durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abzeichnet5.

20.87

2. „Starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter Wird dem Insolvenzschuldner mit der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO), spricht man von einem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter. In diesem Fall geht die Verfügungs- und Verwaltungsbefugnis des Schuldners gemäß § 22 Abs. 1 InsO auf den vorläufigen Insolvenzverwalter über, was auch einen Übergang der Arbeitgeberfunktion auf den vorläufigen Insolvenzverwalter zur Folge hat, so dass dieser „Quasi-Arbeitgeber“ wird. Das Arbeitsverhältnis selbst besteht allerdings weiterhin mit dem Insolvenzschuldner. Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter ist wie der Insolvenzverwalter derjenige, der alle Erklärungen im Arbeitsverhältnis abgibt und entgegennimmt und der insbesondere auch Kündigungen auszusprechen berechtigt ist6. Er übt im Rahmen der ihm nach § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO verliehenen Rechte die Arbeitgeberbefugnisse aus, ohne dass es der Zustimmung des Schuldners bedarf7. Er hat dementsprechend auch die Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG zu erstatten8.

20.88

Kündigt ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter die Arbeitsverhältnisse wegen geplanter Betriebsstilllegung, ist die Kündigung nicht unwirksam, wenn im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Zustimmung des Insolvenzgerichts (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO) zur Betriebsstilllegung nicht vorliegt9. Die Zustimmung des Insolvenzgerichts zur Unternehmensstilllegung ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter wegen der beabsichtigten Stilllegung

20.89

1 2 3 4 5 6

Vgl. BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, DB 2003, 1523 = ZIP 2003, 1161. Vgl. zu ihnen nur Schubert in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl. 2021, § 174 BGB Rz. 19 ff. Vgl. LAG Hamm v. 2.2.2002 – 4 (14) Ta 24/02, NZA-RR 2003, 151 = ZIP 2002, 579. BGH v. 16.5.2013 – IX ZR 332/12, NZI 2013, 747 = ZIP 2013, 1493. Vgl. für viele Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 9 m.w.N. Vgl. BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, AP Nr. 232 zu § 613a BGB = ZIP 2002, 2003; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren, 1998, Rz. 493; Bertram/Künzl in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 102 Rz. 22 f.; Moll in Kübler/Prütting/ Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 66; Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, 1998, Rz. 504. 7 Vgl. BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, NZA 2002, 1207 = ZIP 2002, 2003; Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, 1998, Rz. 504. 8 Grosser in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 16 Rz. 40 m.w.N. 9 Vgl. BAG v. 27.10.2005 – 6 AZR 5/05, DB 2006, 955 = ZIP 2006, 585. Anders früher noch: BAG v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, AP Nr. 2 zu § 126 InsO; LAG Düsseldorf v. 8.5.2003 – 10 (11) Sa 246/ 03, NZA-RR 2003, 466 = ZIP 2003, 1811; Hessisches LAG v. 1.11.2004 – 7 Sa 88/04, LAGE § 22 InsO Nr. 2.

Mückl | 713

§ 20 Rz. 20.89 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

(§ 161 InsO). Die §§ 113, 120 ff. InsO gelten nicht für den (kündigungsbefugten) „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter1. Ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter ist allerdings auch Adressat des Zeugnisanspruchs2.

20.90

Eine Kündigungsschutzklage ist gegen den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter zu richten. Die Klagefrist wird nur durch eine Klage gegen ihn gewahrt. Laufende arbeitsgerichtliche Verfahren werden durch die Bestellung eines starken Insolvenzverwalters allerdings kraft Gesetzes unterbrochen (für das Urteilsverfahren vgl. § 46 Abs. 2, § 64 Abs. 6, § 72 Abs. 5 ArbGG i.V.m. § 240 Satz 2 ZPO, für das Beschlussverfahren vgl. § 80 Abs. 2, § 87 Abs. 2, § 92 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 240 Satz 2 ZPO)3. Der starke vorläufige Insolvenzverwalter kann unterbrochene Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 InsO nach Maßgabe von § 85 Abs. 1 Satz 1, § 86 Abs. 1 InsO aufnehmen, wobei das Rubrum dann auf ihn umzustellen ist4.

3. „Halb-starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter 20.91

Möglich ist dem Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 1 Satz 1, § 22 Abs. 2 InsO auch, den vorläufigen Verwalter maßgeschneidert mit Einzelbefugnissen auszustatten, die über einen Zustimmungsvorbehalt hinausgehen, ohne dass ein allgemeines Verfügungsverbot angeordnet wird. Man spricht dann von einem „halb-starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter5. In der Praxis wird er meist vom Insolvenzgericht dazu ermächtigt, bestimmte Masseverbindlichkeiten zu begründen. Der vorläufige Insolvenzverwalter kann insoweit auch nur speziell Arbeitgeberbefugnisse nach § 22 Abs. 2 InsO durch das Insolvenzgericht (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO) eingeräumt erhalten. Soweit dies geschieht, rückt der vorläufige Insolvenzverwalter dadurch in die Arbeitgeberstellung ein. Hat ihm das Insolvenzgericht die Kündigungsbefugnis übertragen, ist er als Partei kraft Amtes berechtigt, alle Entscheidungen im Zusammenhang mit der Kündigung von Arbeitsverhältnissen zu treffen und alle erforderlichen Maßnahmen umzusetzen. Die pauschale Übertragung der Arbeitgeberbefugnisse allein versetzt ihn allerdings nicht in die Lage, Masseverbindlichkeiten zu begründen6.

20.92

Wird dem halb-starken vorläufigen Insolvenzverwalter die Prozessführungsbefugnis übertragen, gelten für ihn prozessual dieselben Vorgaben wie für den starken vorläufigen Insolvenzverwalter.

4. Betriebsstilllegung 20.93

Hinsichtlich der Befugnis zum Treffen einer Entscheidung in der Insolvenz, den Betrieb stillzulegen, – im Innenverhältnis – ist nach der Rechtsprechung des BAG zwischen (i) dem Zeitraum vor und (ii) nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowie (iii) danach zu unterscheiden, ob ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt oder vorläufige Eigenverwaltung angeordnet ist7. 1 Vgl. BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, DB 2005, 1691 = ZIP 2005, 1289. Vgl. zur Genehmigungsmöglichkeit eines Interessenausgleichs nach § 125 InsO aber Rz. 20.81. 2 Vgl. BAG v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, DB 2004, 2438 = ZIP 2004, 1974. 3 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; BGH v. 16.5.2013 – IX ZR 332/12, NZI 2013, 747; BGH v. 22.6.2004 – X ZB 40/02, NJOZ 2004, 3419. 4 Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 15 m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 16.2.2012 – 6 AZR 553/10, ZD 2012, 478 = ZIP 2012, 1572; Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 20 m.w.N. 6 OLG Saarbrücken v. 22.5.2014 – 4 U 99/13, NZI 2014, 804; LAG Hamm v. 12.11.2003 – 2 Sa 844/ 03, ZInsO 2004, 576. 7 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771.

714 | Mückl

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.99 § 20

Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens richten sich die Entscheidungskompetenzen nach den durch das Insolvenzgericht getroffenen Anordnungen (§ 22 Abs. 1 InsO). Bestellt das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter, ist dieser nicht befugt, aus eigener Rechtsmacht die Stilllegung des Unternehmens zu beschließen und umzusetzen. Denn selbst ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter hat gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO die Pflicht, das Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen, soweit nicht das Insolvenzgericht einer Stilllegung zustimmt. Um eine Zustimmung des Gerichts zu einer Stilllegung zu erhalten (die allerdings nicht Kündigungsvoraussetzung ist, vgl. dazu Rz. 20.89), muss er plausibel vortragen, dass das Unternehmen auch bei Einleitung von Sanierungsmaßnahmen nicht kostendeckend arbeiten kann1. Das Gesetz geht davon aus, dass eine Zerschlagung des Unternehmens schon im Eröffnungsverfahren typischerweise nicht im Interesse der Gläubiger liegt. Diese sollen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vielmehr gemäß § 157 Satz 1 InsO im Berichtstermin selbst darüber entscheiden können, ob das Unternehmen stillgelegt oder fortgeführt werden soll2.

20.94

Anders verhält es sich, falls das Insolvenzgericht gemäß § 270 a Abs. 1 InsO im Eröffnungsverfahren die vorläufige Eigenverwaltung anordnet (vgl. dazu unter Rz. 20.101).

20.95

Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist die Entscheidung über Stilllegung oder Fortführung gemäß § 157 InsO der Gläubigerversammlung zugewiesen3.

20.96

5. Vorläufige Eigenverwaltung – Schutzschirmverfahren Sofern bei einem auf eine Eigenverwaltung gerichteten Insolvenzantrag (§ 270a InsO oder § 270b InsO – sog. „Schutzschirmverfahren“4) – ein vorläufiger Sachwalter bestellt wird, bleibt der Insolvenzschuldner Inhaber der Arbeitgeberstellung5. Im Unterschied zum regulären Insolvenzverfahren bleibt er nicht nur im Insolvenzeröffnungsverfahren, sondern auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens berechtigt, unter der Aufsicht des Sachwalters die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen6. Dies schließt eine weitgehend freie und nicht von der Zustimmung des Sachwalters abhängige Ausübung der Arbeitgeberrechte ein.

20.97

Denn nach § 275 Abs. 1 InsO soll der Insolvenzschuldner grds. nur bei Verbindlichkeiten, die nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehören, die Zustimmung des (vorläufigen) Sachwalters einholen. Auf Antrag der Gläubigerversammlung kann das Insolvenzgericht allerdings nach § 277 Abs. 1 InsO anordnen, dass bestimmte Rechtsgeschäfte des Insolvenzschuldners nur mit Zustimmung des Sachwalters wirksam sind.

20.98

Der vorläufige Sachwalter ist also – ebenso wie der „endgültige“ Sachwalter mit Verfahrenseröffnung – grds. „nur“ ein Kontrollorgan, das zur Überwachung der Geschäftsführung und zur beständigen Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Insolvenzschuldners verpflichtet ist

20.99

1 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; Voß/Lienau in Graf-Schlicker, 5. Aufl. 2020, § 22 InsO Rz. 5. 2 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 157 InsO Rz. 1. 3 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771. 4 Vgl. zu arbeitsrechtlichen Aspekten Frommhold in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 15 Rz. 11 ff. 5 Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 23 m.w.N. 6 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771.

Mückl | 715

§ 20 Rz. 20.99 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

(§ 270a Abs. 1 Satz 2, § 274 Abs. 2 InsO)1. Er hat ebenso wie der endgültige Sachwalter keine eigenen Eingriffs- und Sicherungsbefugnisse, sondern nur eine zukunftsorientierte Überwachungsfunktion2. Er tritt – ebenso wie der „endgültige“ Sachwalter3 – niemals in die Arbeitgeberstellung ein4. Konsequenterweise gelten die insolvenzrechtlichen Sondervorschriften der §§ 113, 120 ff. InsO für den vorläufigen Sachwalter nicht.

20.100

Die vorläufige Eigenverwaltung nach § 270 a Abs. 1 InsO ist Teil des Eröffnungsverfahrens; erst die Eigenverwaltung im eröffneten Insolvenzverfahren bewirkt dementsprechend die Unterbrechung arbeitsgerichtlicher Verfahren nach § 240 Satz 1 ZPO5.

20.101

Bei Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung werden die §§ 21, 22 InsO durch § 270a Abs. 1 InsO partiell verdrängt6. Dem Schuldner steht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über sein Vermögen im Außenverhältnis aus eigenem Recht weiterhin zu, soweit das Insolvenzgericht keine beschränkenden Anordnungen erlässt7. Der Schuldner kann daher nach der Rechtsprechung des BAG – entgegen dem Sanierungsziel – auch die Entscheidung treffen, sein Unternehmen stillzulegen. § 22 Abs. 2 Nr. 2 InsO findet auf ihn keine Anwendung8. Dabei ist er allerdings im Innenverhältnis verpflichtet, die Gläubigerinteressen zu berücksichtigen9. Ist der vorläufige Sachwalter der Auffassung, dass die Stilllegung im Eröffnungsverfahren nicht im Interesse der Gläubiger liegt, kann er gemäß § 270a Abs. 1 Satz 2, § 274 Abs. 3 Satz 1 InsO dem Insolvenzgericht anzeigen, dass die Fortsetzung der vorläufigen Eigenverwaltung erwartbar zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Das Insolvenzgericht kann dann die vorläufige Eigenverwaltung aufheben und einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen10. Dabei ist im Ergebnis nicht entscheidend, ob diese Befugnis aus § 270a Abs. 1 Satz 1 InsO, aus § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO oder aus § 21 InsO hergeleitet wird11. Ist gemäß § 22a, § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 a InsO ein vorläufiger Gläubigerausschuss gebildet, ist dieser jedenfalls zu unterrichten12.

20.102

Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist die Entscheidung über Stilllegung oder Fortführung gemäß § 157 InsO der Gläubigerversammlung zugewiesen. Daran ändert sich grundsätzlich nichts, wenn bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Eigenverwaltung angeord1 Riggert in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 274 InsO Rz. 2; Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 4 Rz. 24. 2 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; BGH v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, NZI 2016, 796. 3 Zobel in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017, § 28 Rz. 2. 4 Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 98. 5 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771. 6 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; Riggert in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 270 a InsO Rz. 16. 7 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091; BGH v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, NJW 2019, 224 = ZIP 2018, 2488. 8 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771. 9 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 270 a InsO Rz. 62; zum Streitstand einer möglichen Haftung des Schuldners in analoger Anwendung der §§ 60, 61 InsO bei Verletzung dieser Verpflichtung Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 270a InsO Rz. 63. 10 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; BGH v. 5.3.2015 – IX ZB 77/14, NZG 2016, 389. 11 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; vgl. zum Streitstand Zipperer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 270a InsO Rz. 13. 12 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091 = ZIP 2020, 1771; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 270a InsO Rz. 39, § 274 InsO Rz. 68.

716 | Mückl

§ 20 Vorläufige Insolvenzverwaltung | Rz. 20.106 § 20

net wird (§ 270 Abs. 1 Satz 2 InsO). In Ausübung seiner dann bei ihm verbleibenden Befugnisse kann es dem Schuldner allerdings obliegen, sein Handelsgeschäft im Interesse der Gläubiger an der bestmöglichen Verwertung der Masse im Ganzen zu veräußern1.

6. Vorfinanzierung von Insolvenzgeld Das klassische Mittel vor allem zum Liquiditätsgewinn, aber auch zur Verhinderung einer „Mitarbeiterflucht“ in der Insolvenz ist das Insolvenzgeld (§§ 165 SGB ff. III)2 bzw. dessen Vorfinanzierung3.

20.103

Dabei handelt es sich um eine Absicherung vermögensrechtlicher Arbeitnehmeransprüche durch die Agentur für Arbeit. Es wird nach §§ 358 ff. SGB III aus Mitteln bezahlt, die die Agentur für Arbeit aus einer Umlage der Unfallversicherungsträger finanziert. Durch das Insolvenzgeld soll der Entgeltanspruch des Arbeitnehmers (einschließlich des darauf entfallenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags) bei Insolvenz des Arbeitgebers und in einigen gleich gelagerten Fällen in gewissem Umfang gesichert werden. Dies geschieht durch einen Leistungsanspruch gegen die Agentur für Arbeit und soll gewährleisten, dass Arbeitnehmer bei Nichtzahlung der Vergütung gegenüber ihrem Arbeitgeber nicht von ihrem Zurückbehaltungsrecht (§§ 273, 320 BGB) Gebrauch machen. Denn dessen Ausübung würde dazu führen, dass der Betrieb nicht aufrechterhalten werden kann, sodass die bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch verstärkt werden4. Zur Aufrechthaltung des Betriebs soll durch das Insolvenzgeld ferner der zeitnahe Weggang von Schlüsselarbeitnehmern verhindert werden5.

20.104

Nachteil des Insolvenzgelds ist aber, dass es erst mit Insolvenzeröffnung fällig und zudem nur für den Zeitraum der letzten drei Monate vor Verfahrenseröffnung gewährt wird, so dass die Arbeitnehmer an sich zunächst ohne Gehaltszahlung tätig werden müssten. Hinzu kommt, dass die Abwicklung und Auszahlung in der Regel dauert und zu spät kommt6. § 168 SGB III sieht zwar einen Vorschuss durch die Agentur für Arbeit vor, der aber z.B. mit Blick auf Leistungs- und Know-How-Träger nicht praktikabel ist: Er setzt die Beendigung des Arbeitsverhältnisses voraus, die ja gerade vermieden werden soll. Losgelöst davon vermag das Insolvenzgeld keinen aktiven Einsatz für die Sanierung zu fördern.

20.105

Die Praxis hat deshalb die so genannte „Insolvenzgeldvorfinanzierung“ entwickelt, die nach folgendem Modell abläuft:

20.106

– Eine Bank kauft – nach Einwilligung der Agentur für Arbeit (§ 170 Abs. 4 SGB III) – die Nettogehaltsansprüche der Arbeitnehmer schon im Eröffnungsverfahren zeitnah zur Fälligkeit auf und zahlt dafür sofort den Kaufpreis. – Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens macht sie (ggf. nach Genehmigung der Agentur für Arbeit, wenn keine Einwilligung vorliegt) im Wege des Drittantrags den Insolvenz1 BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, NZA 2020, 1091; BGH v. 3.12.2019 – II ZR 457/18, NZG 2020, 318 = ZIP 2020, 263. 2 Näher Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 668 ff. 3 Näher Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 738 ff. 4 BAG v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366. 5 Beck/Wimmer in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017, § 5 Rz. 154. 6 Hunold, NZI 2015, 785, 787.

Mückl | 717

§ 20 Rz. 20.106 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

geldanspruch bei der Agentur für Arbeit geltend, die ihn in vollem Umfang an die vorfinanzierende Bank auszahlt.

20.107

Effekt dieser Gestaltung ist, dass die Arbeitnehmer in der Regel in den Genuss der zum Monatsende nach Insolvenzantragstellung fällig werdenden Gehälter kommen, während die Bank (zu Lasten der Masse) Zinsen verdient und der vorläufige Insolvenzverwalter auf die Arbeitskraft der Mitarbeiter zurückgreifen kann1. Dies hat zur Folge, dass ein insolventes Unternehmen einen Zeitraum von bis zu drei Monaten nutzen kann, um liquide Mittel zu sammeln. Gleichzeitig kann für diesen Zeitraum immerhin verhindert werden, dass Leistungs- und Know-How-Träger bereits deshalb ausscheiden, weil sie kein Gehalt erhalten. Eine längerfristige Bindung vermag die Insolvenzgeldvorfinanzierung allerdings ebenso wenig zu bewirken wie einen aktiven Einsatz für die Sanierung des Unternehmens.2

1 Statt vieler Bernsau in Bernsau/Dreher/Hauck, Betriebsübergang, 3. Aufl. 2010, InsO Rz. 30; Göttsch in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Teil 3 I Rz. 53 ff. 2 Zur Mitarbeiterbindung in Krise und Insolvenz vgl. den Überblick bei Mückl in Mückl/Fuhlrott/ Niklas/Otto/Schwab, Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 750 ff.

718 | Mückl

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen I. Betriebsfortführung/-stilllegung im Eröffnungsverfahren 1. Die Betriebsfortführung a) Die Pflicht zur Betriebsfortführung Hervorzuheben ist die in § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO positiv normierte Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Verfügungsbefugnis („starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter) zur einstweiligen Unternehmensfortführung1. Die Unternehmensfortführung steht damit nicht im Ermessen des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Verfügungsbefugnis.

21.1

Zur Sicherung des Schuldnervermögens ist es regelmäßig notwendig, ein werbendes Unternehmen des Schuldners im Insolvenzeröffnungsverfahren weiter zu betreiben2. Durch eine Betriebsstilllegung würden zunächst diejenigen Vermögenswerte vernichtet werden, die mit dem Unternehmen als solchem verbunden sind (Goodwill, Kundenstamm etc.). Sodann ginge der Wert des Betriebsvermögens auf den Zerschlagungswert der einzelnen Bestandteile zurück, der oftmals erheblich unter ihrem „going-concern-Wert“ liegt. Das Entstehen solcher irreversibler Schäden ist aber im Insolvenzeröffnungsverfahren besonders problematisch, da zu dieser Zeit über den Insolvenzantrag noch keine Entscheidung ergangen ist.

21.2

Daher kann der vorläufige Insolvenzverwalter den Geschäftsbetrieb des Schuldners nur nach ausdrücklicher Zustimmung des Insolvenzgerichts stilllegen (§ 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Halbs. 2 InsO; dazu näher Rz. 21.13 ff.). Die Pflicht zur Unternehmensfortführung ist damit institutionalisiert worden mit der Folge, dass der Verwalter auch gegen seinen Willen zur einstweiligen Betriebsfortführung verpflichtet ist, solange keine Schließungszustimmung des Gerichts vorliegt. Diese Pflicht ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass nach der InsO die Entscheidung über den Verfahrensfortgang der Gläubigerversammlung im Berichtstermin überlassen werden soll (§ 157 InsO).

21.3

Vor diesem Hintergrund wird aber auch zugleich deutlich, dass die Pflicht zur Fortführung des schuldnerischen Unternehmens entgegen des Wortlauts des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nicht auf den vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis beschränkt sein kann. Vielmehr muss jeder vorläufige Insolvenzverwalter im Rahmen seiner Befugnisse grundsätzlich dazu verpflichtet sein, auf die Fortführung des Unternehmens hinzuwirken und zu dieser beizutragen3.

21.4

1 Uhlenbruck in Uhlenbruck, 13. Aufl., § 22 InsO Rz. 27 erhebt die Vorschrift gar zur Schlüsselvorschrift des Eröffnungsverfahrens. Ist zum Zeitpunkt der Bestellung des Eröffnungsverfahrens der Geschäftsbetrieb schon eingestellt, besteht, da die betrieblichen Strukturen in der Regel bereits auseinander gefallen sind, keine Verpflichtung zur Wiederaufnahme, so Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 31; auch Mönning in Nerlich/Römermann, § 22 InsO Rz. 57; dazu auch Haarmeyer/ Wutzke/Förster, Handbuch der vorläufigen Insolvenzverwaltung, § 12 Rz. 16 ff. 2 So auch für die Rechtslage vor der InsO: Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, § 106 KO Anm. 4; Berscheid, ZIP 1997, 1570. Zur Geschäftsfortführung unter Verdrängung der bisherigen Geschäftsführung bedurfte es allerdings einer besonderen gerichtlichen Anordnung (Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. 1994, § 106 KO Rz. 13a). 3 Ganter, NZI 2012, 433 m.w.N.; Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 24.

Schluck-Amend | 719

§ 21 Rz. 21.4 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Soweit das Insolvenzgericht Verfügungen des Schuldners gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO lediglich unter einen Zustimmungsvorbehalt des „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwalters stellt, ist es diesem dementsprechend unter analoger Anwendung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO verwehrt, einer Betriebsstilllegung durch den Schuldner ohne vorherige Genehmigung des Insolvenzgerichts zuzustimmen1.

b) Schaffung von Anlaufliquidität 21.5

Die Liquiditätssituation eines Unternehmens nach Insolvenzantragstellung ist regelmäßig schlecht. Das Bekanntwerden des Insolvenzantrags führt meist zu einer Betriebsstockung, mit der erhebliche Umsatzeinbrüche einhergehen.

21.6

Liquidität kann aus eigener Kraft kurzfristig nur durch die Sicherstellung eingehender Außenstände des Unternehmens auf einem separaten Konto des vorläufigen Insolvenzverwalters erzeugt werden. Die hierdurch zu erwirtschaftenden Mittel reichen jedoch zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebes im Normalfall nicht aus, auch wenn kein Kapitaldienst mehr geleistet wird und auch auf sonstige Altforderungen keine Zahlungen mehr erfolgen. Bereits die Aufrechterhaltung der allgemeinen Versorgung des Unternehmens mit Energie und sonstigen Versorgerleistungen erfordert in der Regel die Erbringung beträchtlicher Vorschusszahlungen. Auch die sonstigen Lieferanten des Unternehmens leisten meist nur noch gegen Vorkasse, sobald sie von der Insolvenzantragstellung Kenntnis erhalten haben. Nicht selten wird die weitere Belieferung sogar von der Bezahlung noch rückständiger Forderungen abhängig gemacht. Je mehr der Betrieb von dem jeweiligen Lieferanten abhängig ist, desto schlechter ist die Position des vorläufigen Insolvenzverwalters2.

21.7

Zur Betriebsfortführung bedarf es somit grundsätzlich einer Finanzierungshilfe von dritter Seite, vor allem durch Kreditinstitute. Zu diesem Zweck erleichtert § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO dem vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis die Kreditaufnahme, indem er hieraus resultierende Verbindlichkeiten im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens den Masseverbindlichkeiten gleichstellt3. Auch dies motiviert potentielle Kreditgeber jedoch oftmals nicht hinreichend zur Bereitstellung der erforderlichen Finanzierungshilfen. Zum einen ist die Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten dem „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter vorbehalten, der jedoch in der Praxis nicht die Regel darstellt4. Zum anderen laufen auch Massegläubiger Gefahr, bei Unzulänglichkeit der Masse aufgrund der Nachrangigkeitsregelung des § 209 Abs. 1 InsO nicht vollständig befriedigt zu werden. Diskutiert werden deshalb andere Möglichkeiten zur Absicherung der Kreditgeber, insbesondere durch (Doppel-)Treuhandkonstruktionen5. 1 AG Hamburg v. 23.9.2005 – 67g IN 358/05, ZInsO 2005, 1056; Ganter, NZI 2012, 433; ähnlich Vallender in Uhlenbruck, § 21 InsO Rz. 24; a.A. Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 69. 2 Es ist allerdings u.U. möglich, die Bezahlung rückständiger Forderungen im späteren Hauptverfahren anzufechten. 3 Für den Fall der vorherigen Aufhebung der vorläufigen Insolvenzverwaltung vgl. § 25 Abs. 2 InsO. § 55 Abs. 2 InsO gilt dabei nur für den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter. Eine analoge Anwendung auf den „schwachen“ Insolvenzverwalter hat der BGH abgelehnt, BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353 = NJW 2002, 3326 = ZIP 2002, 1625; vgl. auch Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 21 InsO Rz. 68. 4 Windel, ZIP 2009, 101, 102 m.w.N. 5 Grundlage für diese Überlegungen ist häufig ein Urteil des BGH v. 12.10.1989 – IX ZR 184/88, BGHZ 109, 47 = NJW 1990, 45 = ZIP 1989, 1466, in dem dieser eine solche Treuhandkonstruktion als wirksam erachtet hat.

720 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.11 § 21

Die rechtliche Zulässigkeit und Wirksamkeit dieser Konstruktionen sowie ihre Risiken insbesondere in Hinblick auf eine mögliche Anfechtung sind bisher jedoch nicht hinreichend geklärt1, so dass auch auf diesem Wege kaum das notwendige Vertrauen der Kreditgeber generiert werden kann.

Eine Bank wird dem vorläufigen Insolvenzverwalter ein Darlehen zur vorläufigen Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren ohnehin aber nur dann geben, wenn sie an der Betriebsfortführung ein besonderes Interesse hat. Ein solches Interesse besteht nicht selten für Gläubigerbanken des Schuldners, da bestehende Sicherungsrechte im Falle einer Betriebsstilllegung grundsätzlich erheblich an Wert verlieren. Das gilt nicht nur für Betriebsgrundstücke, die im Falle einer Stilllegung zur wertlosen Industrieruine werden könnten und deren mithaftendes Zubehör nur noch Schrottwert hat, sondern auch für Halbfertigerzeugnisse, die einen Marktwert nur durch Fertigstellung erlangen und für Außenstände, die durch ein Kreditinstitut nur unter erheblichen Schwierigkeiten eingezogen werden könnten. Hierfür fehlen i.d.R. bereits die Verwaltungskapazitäten, vor allem aber das leistungsspezifische Know-how. Viele Drittschuldner, die von einem (offen legenden) Kreditinstitut zur Zahlung aufgefordert werden, verweigern zunächst Zahlungen, sei es auf Grund der aufgetretenen „Gläubigerverdopplung“ oder auf Grund von Einwendungen aus dem Grundverhältnis, deren Berechtigung ein Kreditinstitut nicht zu beurteilen vermag. Gegebenenfalls entstehen zusätzlich Aufrechnungslagen mit Gegenansprüchen aus insolvenzbedingter Nichterfüllung, die die Forderungen ganz zum Erlöschen bringen2.

21.8

Ein zunächst „stattliches“ Reservoir an Kreditsicherheiten kann auf diese Weise in erheblichem Maße zusammenschmelzen. Die vorläufige Betriebsfortführung wirkt dem entgegen. In diesem Fall kann der Forderungseinzug über die Buchhaltung des Schuldnerunternehmens erfolgen; Halbfertigerzeugnisse können fertigproduziert werden. Darüber hinaus besteht die Chance, dass das insolvenzbefangene Unternehmen nicht in Einzelteilen, sondern als Ganzes oder in überlebensfähigen Teileinheiten verkauft werden kann, was gegenüber der Einzelverwertung einen besseren Kaufpreis verspricht, den Verwertungsaufwand minimiert und nebenbei auch noch Arbeitsplätze erhält.

21.9

c) Deckung der Personalkosten durch Vorfinanzierung von Insolvenzgeld Inwiefern die Liquidität im Insolvenzeröffnungsverfahren durch Personalkosten belastet wird, hängt von der Realisierbarkeit des Insolvenzgelds ab. Bestenfalls erfolgt eine Vorfinanzierung des Insolvenzgeldes (dazu ausführlich Rz. 18.1 ff.). Der Betrieb kann hierdurch im Insolvenzeröffnungsverfahren für drei Monate praktisch personalkostenfrei gehalten werden3, sofern nicht bereits vor Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens rückständige Löhne aufgelaufen sind.

21.10

Das Insolvenzgeld sichert die Entgeltforderungen der Arbeitnehmer des Schuldners für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ab (§ 165 Abs. 1 SGB III). Gemäß § 170 Abs. 4 SGB III können die Leistungen der Insolvenzausfallversicherung auch vorfinanziert werden (dazu Rz. 18.32 ff.)4. Auch kann die Agentur für Arbeit nach ihrem Ermessen einen Vorschuss auf das Insolvenzgeld leisten (§ 168 SBG III).

21.11

1 Vgl. hierzu eingehend Ganter, NZI 2012, 433 und Windel, ZIP 2009, 101, jeweils m.w.N. 2 Zur Verwertung von Kreditsicherheiten vgl. Rz. 17.131 ff. 3 Es fallen insofern nur die spezifischen Finanzierungskosten, insbesondere die Zinsen, an; ausführlich zur Insolvenzgeldvorfinanzierung: Haarmeyer/Wutzke/Förster, Handbuch der vorläufigen Insolvenzverwaltung, § 12 Rz. 56 ff. 4 Vgl. Wiester, ZInsO 1998, 101; Hase, WM 2000, 2231; dazu auch: Frind in Borchardt/Frind, Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren, 3. Aufl. 2017, Rz. 462 f.

Schluck-Amend | 721

§ 21 Rz. 21.12 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

21.12

§ 55 Abs. 3 InsO regelt, dass die gemäß § 55 Abs. 2 InsO begründeten Ansprüche von Arbeitnehmern, soweit sie nach § 169 SGB III auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen sind, von dieser nur als Insolvenzforderung und nicht als Masseforderungen nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO geltend gemacht werden können1.

2. Die Betriebsstilllegung 21.13

Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO ist der vorläufige Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis zur Fortführung des Unternehmens verpflichtet. Danach bedarf der vorläufige Insolvenzverwalter zur Stilllegung des Schuldnerbetriebes der Zustimmung des Insolvenzgerichts. Das Gesetz will hierdurch verhindern, dass ein „übervorsichtiger“ vorläufiger Insolvenzverwalter aus Angst vor dem möglichen Auflaufen von Verlusten zu Lasten von Schuldner und Gläubigern vorschnell vollendete (und insbesondere irreversible) Tatsachen schafft2.

21.14

Einem Antrag des vorläufigen Insolvenzverwalters auf Betriebsstilllegung wird das Gericht auch nicht unbesehen folgen, sondern es wird zur eigenständigen Beurteilung der betriebswirtschaftlichen Lage des Schuldnerunternehmens vorher ggf. ein Sachverständigengutachten einholen3. Der Zustimmungsvorbehalt des Gesetzes erweist sich insofern als eine bürokratische Hürde für Fälle dringend angezeigter Stilllegung zur Vermeidung des Auflaufens weiterer erheblicher Verluste. Das Gesetz nimmt diese Gefahr einer möglichen „Betriebsfortführung ohne Rücksicht auf Verluste“ zu Gunsten des Erhalts einer (mehr oder weniger theoretischen) Sanierungschance trotz der in § 1 InsO zum Ausdruck gebrachten Gleichwertigkeit von Zerschlagung und Sanierung hin4. Dies mag zwar wegen der für den Schuldner irreversiblen Wirkungen einer Betriebsstilllegung im Eröffnungsverfahren gerechtfertigt sein. Allerdings ist dabei immer zu berücksichtigen, dass auch die deswegen möglicherweise eintretenden Verluste für die Gläubiger „irreversibel“ sind.

21.15

Aus der gesetzlichen Aufgabe des vorläufigen Insolvenzverwalters, das schuldnerische Vermögen zu sichern und zu erhalten, folgt jedoch, dass dann, wenn die Betriebsfortführung Verluste erwarten lässt, die das Haftungsvermögen erheblich angreifen würden, der vorläufige Insolvenzverwalter schnellstmöglich bei Gericht Antrag auf Zustimmung zur Betriebsstilllegung zu stellen hat.

21.16

Vor dem Hintergrund der durch das ESUG erfolgten Stärkung der Beteiligungsrechte der Gläubiger im Eröffnungsverfahren stellt sich die Frage, inwiefern das Insolvenzgericht gehalten ist, die Gläubiger bei seiner Entscheidungsfindung hinsichtlich der Betriebsstilllegung einzubeziehen. Eine solche Einbeziehung der Gläubiger kann für die vom Gericht vorzunehmende Einschätzung der Fortführungsfähigkeit des Unternehmens äußerst sinnvoll sein, da die Gläubiger oftmals über wertvolle Kenntnisse des schuldnerischen Unternehmens und der Marktsituation verfügen5. In der Literatur wird seit Inkrafttreten des ESUG teilweise ange1 Vgl. hierzu auch Graf-Schlicker/Remmert, NZI 2001, 565, 570; Braun/Wierzioch, ZIP 2003, 2001, 2004; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 234 ff. 2 Die gesetzliche Regelung lässt erkennen, dass – anders als nach früherem Recht – eine vorzeitige Zerschlagung des schuldnerischen Unternehmens vermieden werden soll; dazu auch BAG v. 27.10.2005 – 6 AZR 5/05, NZI 2006, 310 = ZIP 2006, 585. 3 S. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 238; Mönning in Nerlich/Römermann, § 22 InsO Rz. 177 f. 4 Kritisch dazu: Haarmeyer/Wutzke/Förster, Handbuch der vorläufigen Insolvenzverwaltung, § 12 Rz. 1 ff. 5 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 83.

722 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.20 § 21

nommen, dass das Insolvenzgericht nach dem Rechtsgedanken des § 158 Abs. 1 InsO zumindest dann zur Anhörung eines vorläufigen Gläubigerausschusses verpflichtet sei, wenn dieser aufgrund eines Antrags der Gläubiger gemäß § 22a Abs. 2 InsO einberufen wurde1. In der Rechtsprechung war diese Frage bisher jedoch – soweit ersichtlich – noch nicht zu entscheiden.

Fraglich ist, ob der gerichtliche Zustimmungsvorbehalt des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO auch für Teilbetriebsstilllegungen gilt. Dass vom Zustimmungsvorbehalt auch Teilstilllegungen erfasst werden, ist auf Grund der Gesetzesmaterialien2 anzunehmen3. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass diese Auffassung eine mögliche Sanierung des Unternehmens und den damit verbundenen Erhalt von Arbeitsplätzen erschwert. Zudem ergeben sich für den vorläufigen Insolvenzverwalter hierdurch Abgrenzungsprobleme gegenüber sonstigen Maßnahmen des Personalabbaus, zu denen er in vielen Fällen sogar verpflichtet sein kann, um die Kosten im späteren Insolvenzverfahren zu senken und die Sanierungschancen des Unternehmens zu erhöhen4.

21.17

Da insolvente Gesellschaften oftmals nur über einen geringen Auftragsbestand verfügen, gibt es in der Regel einen Personalüberhang. Im Eröffnungsverfahren schlägt dieser zwar wegen der Regelung des § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO5 bzw. der Möglichkeiten der Vorfinanzierung von Insolvenzgeld (vgl. dazu Rz. 21.10 ff. und 18.26 ff.) u.U. liquiditätsmäßig nicht zu Buche, jedoch ist dies spätestens ab Eröffnung des Hauptverfahrens der Fall6, wenn die Personalkosten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO als Masseverbindlichkeiten zu bezahlen sind. Personelle Überkapazitäten sind zudem jeder übertragenden Sanierung abträglich, da die Bestimmung des § 613a BGB (s. Rz. 26.211 ff.) auch im Insolvenzverfahren nach der InsO weitergilt. Danach übernimmt der Erwerber mit dem Unternehmen stets auch das komplette Personal. Hierzu wird sich ein Interessent – wenn überhaupt – nur bei deutlicher Kaufpreisminderung finden. Fällt der Kaufpreis aber unter den Zerschlagungswert der belasteten Vermögenswerte des Unternehmens, stimmen die Sicherungsgläubiger einer übertragenden Sanierung nicht mehr zu.

21.18

Der vorläufige Insolvenzverwalter sieht sich insoweit stets der Gefahr ausgesetzt, dass von ihm ergriffene Maßnahmen des Personalabbaus nachträglich als Teilbetriebsstilllegung bewertet werden, und wird deshalb insoweit besser Zurückhaltung üben bzw. sicherheitshalber grundsätzlich vorab um gerichtliche Zustimmung ersuchen. Eine sichere Abgrenzung beider Bereiche7 wird dem vorläufigen Insolvenzverwalter oftmals kaum möglich sein.

21.19

Wird die Zustimmung zur (Teil-)Betriebsstilllegung erteilt oder will der vorläufige Insolvenzverwalter in vorgenanntem Sinn nur Personal abbauen, muss er – ggf. in Kooperation mit der

21.20

1 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 111, 118; a.A. Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 68. 2 S. Begr. RegE zu § 26 (abgedruckt bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S. 325). 3 So auch Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 504; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 111. 4 Restriktiv insoweit: Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 505; dazu auch: Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 34. 5 Der vorläufige Insolvenzverwalter kann nicht benötigte Arbeitnehmer einfach von der Verpflichtung zur Arbeit freistellen. 6 Hierzu Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2016, § 21 Rz. 25. 7 Ggf. über die entsprechenden Begrifflichkeiten der § 613a BGB, § 111 Satz 2 Nr. 1 BetrVG und die Rechtsprechung des BAG hierzu (vgl. BAG v. 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144 [Betriebsund Teilbetriebseinstellung]; BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 375/96, ZIP 1998, 344, 346; BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 666/93, NZA 1994, 686); dazu auch Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 34.

Schluck-Amend | 723

§ 21 Rz. 21.20 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Geschäftsführung1 – alle nötigen arbeits- und betriebsverfassungsrechtlichen Schritte hierfür einleiten.

21.21

Soweit Maßnahmen des Personalabbaus eine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG darstellen und das Unternehmen einen Betriebsrat hat, muss das hierfür vorgesehene Verfahren beachtet werden, d.h. der Betriebsrat muss über die geplante Betriebsänderung rechtzeitig informiert werden, und diese ist mit dem Betriebsrat zu erörtern2. Sodann ist nach Maßgabe des § 112 BetrVG ein Interessenausgleich herbeizuführen; ggf. also über das sog. Einigungsstellenverfahren3. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Vorschriften der §§ 120 ff. InsO über die vereinfachte Durchsetzung von Betriebsänderungen im Insolvenzverfahren bereits im Insolvenzeröffnungsverfahren Anwendung finden4. Der Interessenausgleich nach Maßgabe des § 112 BetrVG kann insbesondere den Abschluss eines Sozialplans (§ 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG) vorsehen5. Da im eröffneten Hauptverfahren für Sozialplanforderungen besondere Vorschriften existieren (§§ 123 f. InsO), empfiehlt es sich, einen Sozialplan erst nach Verfahrenseröffnung abzuschließen (s. Rz. 26.161)6.

21.22

Sodann hat der vorläufige Insolvenzverwalter – nach Maßgabe des Interessenausgleiches – die erforderlichen Freistellungen durchzuführen und – ggf. nach Anzeige gemäß § 17 KSchG an die Agentur für Arbeit (Massenentlassungsanzeige) – die Kündigung der Beschäftigungsverhältnisse auszusprechen. Auch hierbei ist nicht davon auszugehen, dass die Arbeitsgerichte dem vorläufigen Insolvenzverwalter die Anwendbarkeit des § 113 InsO zugestehen7. Maßgeblich sind bis zur Verfahrenseröffnung somit die gesetzlichen Kündigungsfristen, die außerhalb des Insolvenzverfahrens gelten8.

21.23–21.30

Einstweilen frei.

1 Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 491. 2 S. auch § 102 BetrVG, § 17 Abs. 2 KSchG. 3 Fraglich ist insoweit allerdings, welche Folge die Nichtbeachtung dieses Verfahrens hat. Soweit dadurch nur Nachteilsausgleichsforderungen gegen den Gemeinschuldner nach § 113 BetrVG entstehen, wäre dies für den vorläufigen Insolvenzverwalter keine „spürbare“ Sanktion. Ob eine persönliche Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters hierfür begründet werden kann, ist aber zweifelhaft. 4 Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2016, § 22 Rz. 166, Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 44, und BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289, jeweils zu § 113 InsO; BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = ZInsO 2012, 1735; a.A. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, Vorbem. §§ 113 bis 128 InsO Rz. 30. 5 Der Abschluss eines Sozialplans kann im Rahmen des § 112a BetrVG aber auch unabhängig vom Zustandekommen eines Interessenausgleichs vom Betriebsrat erzwungen werden. 6 Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, 3. Aufl. 2016, § 22 Rz. 243 ff. 7 So die h.M.: BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, DZWIR 2005, 422 ff.; BAG v. 22.5.2003 – 2 AZR 255/02, ZIP 2003, 1670; Bertram, NZI 2001, 625, 626; Mönning in Nerlich/Römermann, § 22 InsO Rz. 105 f.; für die Anwendbarkeit der §§ 113, 120 ff. InsO im Falle der vorläufigen Insolvenzverwaltung nach § 22 Abs. 1 InsO; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 491, vgl. auch Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 238. 8 S. Weisemann, DZWIR 2005, 422 ff.; Berscheid, ZIP 1997, 1577.

724 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.32 § 21

II. Betriebsveräußerung im Eröffnungsverfahren Nationale und grenzüberschreitende Verkäufe von Unternehmen1 sind heutzutage keine Besonderheit mehr. Dies gilt gleichermaßen für den Erwerb eines Unternehmens aus der Insolvenz, bei dem die Verhandlungsmacht nicht mehr beim Management des Unternehmens, sondern beim (vorläufigen) Insolvenzverwalter liegt. So stellt sich in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH bereits für den vorläufigen Insolvenzverwalter die Frage, wie er eine bestmögliche Befriedigung der Insolvenzgläubiger erreichen kann. Bei einem Erwerb sämtlicher Geschäftsanteile („share deal“) des insolventen Rechtsträgers übernimmt der Erwerber das Unternehmen einschließlich der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zu der Unternehmenskrise geführt haben2. Im Falle einer übertragenden Sanierung3 wird das Unternehmen vom Unternehmensträger, der juristischen oder auch natürlichen Person, getrennt. Die Trennung erfolgt durch einen Verkauf des Unternehmens im Wege eines „asset deal“, d.h. einzelne Vermögenswerte des Unternehmens werden als Funktionseinheit im Paket an einen Erwerber verkauft4. Für eine Gesamtveräußerung im Wege des share deals sprechen die regelmäßig niedrigeren Verwertungskosten, der geringere mit dieser Verwertungsart verbundene Verwertungsaufwand und reduzierte Masseverbindlichkeiten5.

21.31

Die Verkaufssituation im Insolvenzeröffnungsverfahren ist vielfach dadurch geprägt, dass der potentielle Käufer davon ausgeht, unter den Rahmenbedingungen eines Insolvenzverfahrens ein Unternehmen günstiger kaufen zu können als bei einem „going concern“6. Gleichwohl kann sein Angebot für die künftige Masse vorteilhafter sein als eine Verwertung der einzelnen Vermögensbestandteile7. So ist aus der insolvenzrechtlichen Praxis bekannt, dass dem vom Gericht bestellten vorläufigen Insolvenzverwalter unmittelbar nach Antragstellung besonders günstige Angebote für eine Gesamtveräußerung des Unternehmens unterbreitet werden8. Dies ist nachvollziehbar, weil zu diesem Zeitpunkt das Unternehmen noch werbend am Markt aktiv ist, die durch die Insolvenz verursachte Beeinträchtigung der Bonität noch nicht allgemein bekannt ist und Arbeitnehmer und Geschäftspartner noch zu dem Unternehmen stehen9. Erfahrungsgemäß brauchen die Kunden im Regelfall nicht mehr als drei Monate, bis sie einen neuen Lieferanten als Ersatz für das insolvente Unternehmen gefunden haben10.

21.32

1 Unter einem Unternehmen ist ein organisatorisches Gebilde zu verstehen, das sämtliche vermögenswerten Rechte umfasst, die zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Tätigkeit notwendig sind, Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 160 InsO Rz. 14. 2 Menke, NZI 2003, 525. 3 Der Begriff geht auf Karsten Schmidt (ZIP 1980, 328, 337) zurück. Dass die übertragende Sanierung eine legitime Verfahrensoption ist, lässt sich der Allgemeinen Begr. RegE, BT-Drucks. 12/ 2443, S. 94 entnehmen: „Die übertragende Sanierung von Betrieben und Unternehmen hat sich bereits nach dem geltenden Recht als Sanierungsinstrument außerordentlich bewährt. Sie soll den Verfahrensbeteiligten auch künftig zur Verfügung stehen“. 4 Wellensiek, NZI 2002, 233, 234; Zipperer in Uhlenbruck, § 157 InsO Rz. 7. 5 Van Betteray/Gass, BB 2005, 2309, 2313; zu weiteren Vorteilen Beck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 1 Rz. 14. 6 Schneider in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 2. 7 Vallender, GmbHR 2004, 543, 544. 8 Vgl. Marotzke, Das Unternehmen in der Insolvenz, 2000, Rz. 44 ff. m.w.N. 9 Begr. zu Nr. 7 des DiskE eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung, des Bürgerlichen Gesetzbuches und anderer Gesetz vom April 2003. 10 Bülow, DZWIR 2005, 192, 193.

Schluck-Amend | 725

§ 21 Rz. 21.33 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

21.33

Ist bereits ein allgemeiner Vertrauensverlust der Geschäftspartner eingetreten, nehmen die ursprünglichen Interessenten meist Abstand von ihren Erwerbsabsichten und -angeboten. Das schuldnerische Unternehmen kann zu diesem Zeitpunkt in der Regel nur noch im Wege der Veräußerung der einzelnen Vermögensbestandteile verwertet werden. Regelmäßig dürfte der dabei zu erzielende Veräußerungserlös erheblich niedriger sein als der Veräußerungserlös, der im Rahmen einer übertragenden Sanierung zu einem früheren Zeitpunkt zu realisieren gewesen wäre. Dass ein Absehen von einer günstigen Verwertungsmöglichkeit sich als Sanierungshemmnis erweisen kann, liegt auf der Hand, wenn eine Fortführung durch einen Dritten bei einer raschen Veräußerung hätte sichergestellt werden können.

21.34

Soweit für das Unternehmen nach Einleitung des Insolvenzverfahrens nicht sogleich ein Käufer gefunden werden kann, der Verkauf des Unternehmens aber gleichwohl möglich erscheint, erfolgt üblicherweise die Gründung einer „Auffanggesellschaft“1 durch sanierungswillige Verfahrensbeteiligte, auf die zum Zwecke der Sanierung die Unternehmensaktiva übertragen werden2. Dabei hat der vorläufige Insolvenzverwalter sein Augenmerk insbesondere auf die Solidität des potentiellen Erwerbers zu richten und – soweit möglich – Einblick in dessen finanzielle Verhältnisse zu nehmen3. Unabhängig davon, welche Form der Unternehmensveräußerung letztlich gewählt wird, ist entscheidend für das Gelingen der Transaktion, dass die haftungsrechtliche Situation endgültig bereinigt ist.

1. Betriebsveräußerung durch den sog. „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter 21.35

In Rechtsprechung und Literatur wird die Frage, ob eine übertragende Sanierung des schuldnerischen Unternehmens im Insolvenzeröffnungsverfahren zulässig sei, unterschiedlich beantwortet4. Einem Verkauf des Unternehmens durch den sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter steht grundsätzlich die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO entgegen. Die Vorschrift verpflichtet ihn, das schuldnerische Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens fortzuführen (dazu bereits Rz. 21.1 ff.). § 159 InsO erlaubt eine Verwertung der Insolvenzmasse und damit auch eine übertragende Sanierung erst nach dem Berichtstermin. Jedoch stellt nicht jeder Verkauf von Gegenständen oder jeder Einzug von Forderungen eine Verwertungshandlung dar5. Soweit es um die Veräußerung wesentlicher Teile des Anlagevermögens oder gar des gesamten schuldnerischen Betriebes an Dritte geht, ist die Grenze zur zulässigen Verwaltungsmaßnahme allerdings überschritten.

21.36

Es entspricht der überwiegenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur, dass der sog. starke vorläufige Insolvenzverwalter zur Veräußerung wesentlicher Teile des Anlagevermögens

1 Diese Gesellschaft, ihrem Wesen nach eine Gesellschaft „auf Zwischenzeit“, übernimmt weder die Verpflichtungen des Krisenunternehmens insgesamt noch die Kaufpreisverpflichtungen aus dem Erwerb des ganzen Betriebsvermögens (näher dazu Groß, Sanierung durch Fortführungsgesellschaften, S. 440 ff.). 2 So schon Wellensiek, WM 1999, 405, 408. 3 Kübler, ZGR 1982, 501, 511. 4 Zu Streitstand und Argumentationslinien: Schneider in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 6 ff.; Beck/Wimmer in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 5 Rz. 95 ff. 5 Zur Abgrenzung von Verwertung einerseits und Verwaltung, Erhaltung und Fortführung andererseits vgl. Kirchhof, ZInsO 1999, 436; Kirchhof, ZInsO 2001, 1, 2 ff.; Mönning in Nerlich/Römermann, § 22 InsO Rz 38 ff.; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 77.

726 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.38 § 21

oder gar des gesamten Unternehmens an Dritte nicht befugt ist1. Auch eine Unternehmensfortführung – so der BGH2 – rechtfertige es nicht, schon dem vorläufigen Insolvenzverwalter regelmäßig Verwertungsbefugnisse i.S. der §§ 159 ff. InsO zuzuerkennen. Zwar dürfe und müsse ein vorläufiger Verwalter zur Erfüllung einer solchen Aufgabe im Rahmen seiner Verwaltungstätigkeit unter anderem die aus dem Unternehmen erwirtschafteten Forderungen zügig einziehen, um das Unternehmen unter Einsatz des Erlöses fortführen zu können. Dies sei aber keine unzulässige „Verwertung“ im bezeichneten, funktionalen Sinne3. Demgegenüber vertraten einige Stimmen in der Literatur4 die Ansicht, das Interesse der Gläubiger an einer optimalen Befriedigung würde ins Gegenteil verkehrt, wollte man eine für die Masse wirtschaftlich vorteilhafte Verwertung mit Blick auf Sicherungscharakter und Beteiligungsrechte ablehnen5. Veräußere der sog. starke vorläufige Insolvenzverwalter das Unternehmen, um eine erhebliche Verminderung des Schuldnervermögens zu vermeiden, habe das Interesse des Schuldners, unumkehrbare Maßnahmen vor Verfahrenseröffnung zu vermeiden, hinter das Gläubigerinteresse zurückzutreten. Um den Interessen der Beteiligten hinreichend gerecht zu werden, wird vorgeschlagen, ihnen Zustimmungsvorbehalte oder sonstige Mitspracherechte einzuräumen6.

21.37

Es ist nicht zu verkennen, dass im Einzelfall die Unternehmensveräußerung im Insolvenzeröffnungsverfahren im dringenden Interesse aller am Insolvenzverfahren Beteiligten liegen kann. Gleichwohl haben die gesetzlichen Vorgaben Richtschnur des Handelns zu sein7. Danach ist dem sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter nur bei „Gefahr im Verzug“ eine Verwertungsmaßnahme erlaubt8. Diese Gefahr muss sich aus der Natur des Vermögensguts selbst ergeben9. Will man die nötige Handlungsfreiheit des vorläufigen Insolvenzverwalters nicht übermäßig einschränken, sollte der Begriff der Gefahr, die mit der Verzögerung einer Verwertung verbunden ist, nicht eng ausgelegt werden. In jedem Fall bedarf es jedoch der Einbindung des Schuldners in die Verwertungsmaßnahme.

21.38

1 BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 2/06, NZI 2007, 338; BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 265/04, NZI 2006, 284, 285; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, NZI 2003, 259, 260; BGH v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, BGHZ 146, 165 = ZIP 2001, 296; BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, ZIP 1988, 727; BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 496/01, NZI 2003, 222, 225 = ZIP 2003, 222; Vallender, RWS-Forum Bd. 14, 1998, S. 71, 73; Foltis, ZInsO 1999, 386 ff.; Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 39; einschränkend Fröhlich/Köchling, ZInsO 2003, 923, 924; Maus, DStR 2002, 1104; Marotzke, Das Unternehmen in der Insolvenz, 2000, Rz. 60 ff. 2 BGH v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, NZI 2006, 284, 285; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, NZI 2003, 259, 260; BGH v. 14.12.2000 – IX ZB 105/00, BGHZ 146, 165 = ZIP 2001, 296; BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, ZIP 1988, 727. 3 Das OLG Düsseldorf (v. 13.12.1991 – 22 U 202/91, ZIP 1992, 344, 346) hatte zurzeit der Geltung der Konkursordnung entschieden, dass im Einzelfall auch die Veräußerung eines Betriebs eine im Antragsverfahren zulässige Maßnahme sein könne, wenn es sich dabei um eine „vernünftige, im Interesse der Konkursgläubiger geradezu zwingend gebotene Maßnahme zur Sicherung des Schuldnervermögens“ handele. 4 Spieker, Die Unternehmensveräußerung in der Insolvenz, 2001, S. 40 ff.; Kammel, NZI 2000, 102; Menke, NZI 2003, 522, 525. 5 Kammel, NZI 2000, 103. 6 Menke, NZI 2003, 522, 525. 7 Vallender, GmbHR 2004, 543, 545. 8 Vgl. Begr. RegE zu § 26, BR-Drucks. 1/92, S. 116, 117; dazu auch Vallender in Uhlenbruck, § 22 InsO Rz. 47 ff.; Mönning in Nerlich/Römermann, § 22 InsO Rz. 39. 9 Kirchhof, ZInsO 1999, 436, 437.

Schluck-Amend | 727

§ 21 Rz. 21.39 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

21.39

Bei Veräußerungsmaßnahmen, die nicht unter den Begriff „Gefahr im Verzug“ zu fassen sind, schafft die Zustimmung des Schuldners keine ausreichende Legitimation für eine Unternehmensveräußerung im Eröffnungsverfahren. Dies zeigt bereits die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO, nach der ein vorläufiger Insolvenzverwalter bei einer Maßnahme, welche die Zweckrichtung des schuldnerischen Unternehmens vollständig aufhebt, allein der Zustimmung des Insolvenzgerichts bedarf1. Nichts anderes gilt für eine etwaige Zustimmung des Insolvenzgerichts zur Veräußerung. Der Ausnahmecharakter des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO gestattet keine Erweiterung des Zustimmungsvorbehalts des Insolvenzgerichts auf Verwertungshandlungen des vorläufigen Insolvenzverwalters2.

21.40

Auch wenn es im Eröffnungsverfahren in Ermangelung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 22a Abs. 1 Nr. 1–3 InsO an einer verfassten Gläubigerschaft mit gesetzlich verbrieften Rechten fehlen sollte, sollte sich das Insolvenzgericht bei einem – zulässigen – Verkauf des Unternehmens im Insolvenzeröffnungsverfahren dem Anliegen des vorläufigen Insolvenzverwalters auf Bestellung eines vorläufigen Gläubigerausschusses nicht verschließen3. Nach § 22a Abs. 1 InsO hat das Insolvenzgericht einen vorläufigen Gläubigerausschuss nach § 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO einzusetzen, wenn der Schuldner im vorangegangenen Geschäftsjahr mindestens zwei der folgenden drei Merkmale erfüllt hat: (1) mindestens 6.000.000 Euro Bilanzsumme nach Abzug eines auf der Aktivseite ausgewiesenen Fehlbetrags im Sinne des § 268 Abs. 3 HGB, (2) mindestens 12.000.000 Euro Umsatzerlöse in den zwölf Monaten vor dem Abschlussstichtag und (3) im Jahresdurchschnitt mindestens fünfzig Arbeitnehmer. § 22a Abs. 2 InsO eröffnet dem vorläufigen Insolvenzverwalter zudem die Möglichkeit, die Einsetzung eines vorläufigen Gläubigerausschusses gegenüber dem Insolvenzgericht zu erzwingen (s. hierzu Rz. 17.83)4. Voraussetzung ist ein entsprechender Antrag des vorläufigen Insolvenzverwalters, der hierfür geeignete Personen benennt und dem die Einverständniserklärungen der betreffenden Personen beigefügt sind. In einem solchen Fall dürfte dieses Gremium weniger der Unterstützung und Überwachung des vorläufigen Insolvenzverwalters dienen als der Vorbereitung der späteren Entscheidungen der Gläubigerversammlung.

21.41

Unabhängig davon, ob man dem vorläufigen Insolvenzverwalter – ausnahmsweise – die Befugnis zur Veräußerung des schuldnerischen Unternehmens im Ganzen bzw. von Betriebsteilen zubilligt, muss er sich der Tatsache bewusst sein, dass er sich insoweit „auf rechtlich ungewissem Terrain bewegt“5. Durch Einbindung des Schuldners und sämtlicher Beteiligter kann er etwaige Haftungsrisiken allerdings erheblich minimieren.

2. Betriebsveräußerung bei Anordnung einer sog. „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung 21.42

Bei Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung mit Zustimmungsvorbehalt (dazu Rz. 17.103) besitzt der vorläufige Insolvenzverwalter weder die Rechtsmacht zum Vertragsabschluss noch zur Übertragung der Vermögensbestandteile. Soweit sich die Notwendigkeit 1 2 3 4

Vallender, RWS-Forum, Bd. 14, 1998, S. 84. A.A. Menke, NZI 2003, 522, 526. Vallender, WM 1998, 2040, 2043. Trotz des Wortlauts („soll“) ist allgemein anerkannt, dass das Gericht bei Vorliegen des Tatbestandes zur Einsetzung des vorläufigen Gläubigerausschusses verpflichtet ist, soweit keine atypischen Ausnahmefälle vorliegen oder die Ausnahmeregelung des § 22a Abs. 3 InsO eingreift, vgl. hierzu Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22a InsO Rz. 102 m.w.N. 5 Beck/Wimmer in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 5 Rz. 97; Schneider in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 19.

728 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.44 § 21

einer Veräußerung des Betriebes ergibt, ist zu berücksichtigen, dass die Befugnis des Schuldners zum Abschluss von Verpflichtungsgeschäften von den Verfügungsbeschränkungen des § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO nicht berührt wird1. Die wirksame Übertragung der einzelnen Vermögensbestandteile des schuldnerischen Unternehmens durch die Unternehmensleitung auf den Käufer kommt indes nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters zu Stande (§§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2, 24, 81 InsO)2. Da die Ansprüche des Unternehmenskäufers, der das Unternehmen oder einzelne Unternehmensteile vom Schuldner mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters erwirbt, im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur Insolvenzforderungen sind, dürfte das Interesse des Käufers an einem Erwerb des Unternehmens vom Schuldner nur gering sein. Hinzu kommt, dass das Rechtsgeschäft der Anfechtung unterliegt (näher dazu Rz. 21.45 ff.). Mit Urteil vom 18.7.2002 hat der BGH3 entschieden, dass das Insolvenzgericht – jedenfalls in Verbindung mit dem Erlass eines besonderen Verfügungsverbots – den vorläufigen Insolvenzverwalter ohne begleitendes allgemeines Verfügungsverbot ermächtigen kann, einzelne, im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zu Lasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen4. Die insoweit begründeten Verbindlichkeiten sind nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten zu erfüllen. Soweit das Insolvenzgericht den vorläufigen Insolvenzverwalter dazu ermächtigt, Teilbereiche eines Unternehmens oder gar das ganze Unternehmen zu veräußern5, stellen sich bei einer solchen Anordnung dieselben Zweifelsfragen wie bei einer Veräußerung des schuldnerischen Unternehmens durch den sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter6.

21.43

3. Haftungsrechtliche Risiken Da Grundvoraussetzung für das Gelingen einer übertragenden Sanierung die endgültige Bereinigung der haftungsrechtlichen Situation ist, bedarf es vor allem bei einem Verkauf im Insolvenzeröffnungsverfahren, in dem keineswegs feststeht, ob es überhaupt zu einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommen wird, einer sehr sorgfältigen Untersuchung, welchen Gefahrenlagen die Beteiligten ausgesetzt sind7. Als nachteilig für den Erwerber des Unternehmens können sich unter Umständen die sich aus § 613a BGB ergebenden Rechtsfolgen8, eine mögliche Haftung gemäß § 25 Abs. 1 HGB, eine Haftung wegen Steuerverbindlichkeiten gemäß § 75 Abs. 1 AO und die Rechtsfolgen einer Anfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO erweisen9. Will der Käufer eine wirtschaftlich sinnvolle Kaufentscheidung treffen, ist eine exakte Untersuchung des insolventen Unternehmens und eine Abwägung der Risiken unabdingbar10. 1 Vallender, GmbHR 2004, 543, 545; Mönning in Nerlich/Römermann, § 21 InsO Rz. 156. 2 Das BAG hat nicht nur ausdrücklich eine Betriebsveräußerung im Eröffnungsverfahren durch den sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter abgelehnt, sondern hält auch eine Veräußerung durch den Schuldner mit Zustimmung des sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters für unzulässig (BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 496/01, ZIP 2003, 222, 227). 3 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, NZI 2002, 543 = ZIP 2002, 1625. 4 Vgl. auch BGH v. 4.12.2014 – IX ZR 166/14, ZInsO 2014, 4315; Laroche, NZI 2010, 965, 966. 5 Vgl. AG Duisburg v. 28.7.2002 – 62 IN 167/02, NZI 2002, 614 = ZIP 2002, 1700. 6 Um den Belangen der Praxis entgegenzukommen, sieht § 158 InsO, vor, dass der Insolvenzverwalter bereits vor dem Berichtstermin das Unternehmen des Schuldners mit Zustimmung des Gläubigerausschusses veräußern darf. 7 Vallender, GmbHR 2004, 543, 546. 8 Näher dazu Wellensiek, NZI 2005, 603 ff. 9 Schluck-Amend/Meyding in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. XIII. Rz. 5. 10 Bernsau/Höpfner/Rieger/Wahl, Handbuch der übertragenden Sanierung, 2002, S. 8.

Schluck-Amend | 729

21.44

§ 21 Rz. 21.44 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

Will der vorsichtige Käufer sein eigenes Risiko minimieren, sollte er sich das Testat eines (neutralen) Wirtschaftsprüfers einholen, um den angemessenen Wert des zu erwerbenden Betriebes feststellen zu lassen1.

a) Anfechtung 21.45

Veräußert der Schuldner mit Zustimmung des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters das Unternehmen, trägt der Käufer das Risiko einer Anfechtung dieses Rechtsgeschäfts gemäß §§ 129 ff. InsO durch den endgültigen Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung2. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Anfechtungsgegner berechtigterweise auf die Insolvenzfestigkeit der Rechtshandlungen vertrauen durfte und dieses Vertrauen schutzwürdig ist (Grundsatz der unzulässigen Rechtsausübung)3. Auf dieses unsichere Rechtsinstitut sollte sich der Erwerber jedoch im Zweifelsfall nicht verlassen4.

21.46

Im Falle der Veräußerung des Betriebes durch den Schuldner mit Zustimmung des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters nach Antragstellung findet die Vorschrift des § 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO Anwendung. Danach ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, wenn sie nach dem Insolvenzantrag vorgenommen worden ist und wenn der Gläubiger zur Zeit der Handlung die Zahlungsunfähigkeit oder den Insolvenzantrag kannte. Der Käufer dürfte in diesen Fällen regelmäßig Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners oder dem Insolvenzantrag haben; auch wird der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit oder des Insolvenzantrags die Kenntnis von Umständen, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit oder den Insolvenzantrag schließen lassen, nach § 130 Abs. 2 InsO gleichgesetzt. Darüber hinaus besteht auch die Gefahr einer Anfechtung nach § 132 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Danach ist ein Rechtsgeschäft des Schuldners, das die Insolvenzgläubiger unmittelbar benachteiligt, anfechtbar, wenn es nach dem Insolvenzantrag vorgenommen worden ist und wenn der andere Teil zur Zeit des Rechtsgeschäfts die Zahlungsunfähigkeit oder den Insolvenzantrag kannte. Eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung i.S. der Vorschrift liegt vor, wenn sich die Befriedigungsmöglichkeit der Insolvenzgläubiger aus der Insolvenzmasse ohne das anfechtbare Rechtsgeschäft günstiger gestaltet hätte.

21.47

Wenn der Schuldner für den Verkauf des Unternehmens eine angemessene, gleichwertige Gegenleistung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang erhalten hat5, unterliegt der Kauf als 1 Undritz in Runkel/Schmidt, Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, § 15 Rz. 140. 2 BGH v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, ZIP 2003, 810; BGH v. 11.6.1992 – IX ZR 255/91, ZIP 1992, 1005, 1007; BGH v. 22.12.1982 – VIII ZR 214/81, ZIP 1983, 191; OLG Celle v. 12.12.2002 – 13 U 56/02, NZI 2003, 95. Heute wird die Unternehmensveräußerung in toto (vgl. Karsten Schmidt, BB 1998, 5; Gerhardt in FS Gaul, 1997, S. 148; Nerlich in Nerlich/Römermann, § 129 InsO Rz. 95) für anfechtbar gehalten, weil die Anfechtung der Einzelübertragungen in ihrer Summe die Anfechtung der Unternehmensveräußerung darstellt. Classen, BB 2010, 2898, 2900; Menke, BB 2003, 1133; Borries/Hirte in Uhlenbruck, § 129 InsO Rz. 391; Kayser in Münchener Kommentar zur InsO, § 129 InsO Rz. 94; a.A. BGH, WM 1962, 1316, wonach nur die Veräußerung der einzelnen Vermögensbestandteile der Anfechtung unterliege. 3 BGH v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, BGHZ 154, 190, 194 = NZI 2003, 314 = ZIP 2003, 810; BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, NZI 2005, 218, 219; OLG Celle v. 21.10.2004 – 13 U 113/04, NZI 2005, 38; AG Hagen v. 16.12.2002 – 10 C 492/02, NZI 2003, 211; dazu auch: Schneider in SchluckAmend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 24 ff. 4 Undritz in Thierhoff u.a., Unternehmenssanierung, 2011, Kap. 9 Rz. 370; Schneider in SchluckAmend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 26. 5 Vgl. BGH v. 15.12.1994 – IX ZR 18/94, ZIP 1995, 297, BGH v. 11.2.2010 – IX ZR 104/07, NZI 2010, 985.

730 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.50 § 21

„Bargeschäft“ i.S. des § 142 InsO nicht der Anfechtung nach den vorerwähnten Bestimmungen. Die Grundsätze des Bargeschäftsprivilegs dürften auch auf die Unternehmensveräußerung Anwendung finden. Nach dem Bargeschäftsprivileg ist in den Fällen der §§ 130 bis 132 InsO das Vorliegen einer mittelbaren oder unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung ausgeschlossen, wenn dem Vermögen des insolventen Veräußerers für die durch die Übertragung des Betriebes entzogene Haftungsmasse unmittelbar ein adäquater Gegenwert zugeflossen ist. Soweit für den Betrieb ein nach sorgfältiger Ermittlung angemessener Kaufpreis gezahlt wird, kann das Anfechtungsrisiko durch entsprechende Gestaltung des Unternehmensverkaufs minimiert werden. Hinzukommen muss jedoch auch die vollständige Erbringung sämtlicher gegenseitig geschuldeter Leistungen in engem zeitlichem Zusammenhang (Unmittelbarkeit des Leistungsaustauschs i.S. des § 142 Abs. 1 InsO). Letzteres wird beim Unternehmenskauf kaum darzustellen sein, denn die Rechtsprechung akzeptiert in der Regel nur kurze Zeiträume (zwei bis drei Wochen beim Kauf beweglicher Sachen, ausnahmsweise wenige Monate in Einzelfällen, z.B. bei Grundstücksbelastungen)1. Ebenfalls ausgeschlossen ist die Anwendung des Bargeschäftsprivilegs regelmäßig in den bereits erwähnten Fällen der Übertragung der Unternehmensaktiva auf eine Auffanggesellschaft zur Vorbereitung eines späteren Verkaufs, da in diesen Fällen naturgemäß kein Kaufpreis gezahlt werden soll2. Als weiterer Anfechtungstatbestand kommt die Vorschrift des § 133 Abs. 1 InsO in Betracht. Sie setzt u.a. eine vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung voraus. Ein solcher Vorwurf ist dann schnell erhoben, wenn sich im weiteren Verlauf des Insolvenzverfahrens zeigt, dass andere Interessenten zu einem höheren Kaufpreis erworben hätten3. Die Grundsätze über das Bargeschäft (§ 142 InsO) finden bei einer Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO nur dann keine Anwendung, sofern der andere Teil erkannt hat, dass der Schuldner unlauter handelte (§ 142 Abs. 1 Halbs. 2 InsO)4.

21.48

Eine Vereinbarung zwischen vorläufigem Insolvenzverwalter und Käufer, die vorsieht, dass der Verkäufer auf sein Anfechtungsrecht verzichtet, ist unwirksam und bindet den (endgültigen) Verwalter nicht. Sie liefe dem Zweck des Insolvenzverfahrens entgegen5.

21.49

Ob eine Anfechtung durch den Insolvenzverwalter auch bei einer Veräußerung des Unternehmens durch den sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter in Betracht kommt, ist – soweit ersichtlich – höchstrichterlich noch nicht entschieden. Regelmäßig dürften solche Rechtshandlungen nicht nach §§ 129 ff. InsO angefochten werden6. Denn mit der gesetzlichen Regelung des § 55 Abs. 2 InsO soll das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Handlungen des mit

21.50

1 Schluck-Amend/Krispenz in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. VIII. Rz. 18; Borries/Hirte in Uhlenbruck, § 142 InsO Rz. 27 ff. m.w.N. aus Rspr. 2 Lachmann in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 8 Rz. 56. 3 Kammel, NZI 2000, 102, 103; die Beweislast für die Anfechtungsvoraussetzungen (insbesondere für den Vorsatz) trägt der Insolvenzverwalter, vgl. hierzu sowie zu etwaigen Beweisanzeichen, Kayser/ Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 133 InsO Rz. 22 ff. 4 Durch die seit dem 5.4.2017 geltende Neufassung des § 142 Abs. 1 InsO wollte der Gesetzgeber bewirken, dass die Vorsatzanfechtung bei einem bargeschäftlichen Leistungsaustausch eingeschränkt und ein bargeschäftlicher Austausch grundsätzlich ohne Ausnahmen vom Bargeschäftsprivileg erfasst wird, vgl. Borries/Hirte in Uhlenbruck, § 133 InsO Rz. 146a f. sowie zur Bestimmung des Tatbestandsmerkmal der Unlauterkeit. 5 Vgl. dazu BGH v. 17.7.2003 – IX ZR 272/02, DZWIR 2003, 20, 22 ff. = ZIP 2003, 1799 = MDR 2004, 174; vgl. auch Bork, ZIP 2006, 589, 598. 6 BGH v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, NJW 2014, 1737, 1738 = ZIP 2014, 584 = GmbHR 2014, 417; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 129 InsO Rz. 38.

Schluck-Amend | 731

§ 21 Rz. 21.50 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

einer Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis ausgestatteten vorläufigen Insolvenzverwalters gestärkt werden. Die Regelung wäre sinnlos, wenn die Masseverbindlichkeiten nach einer Verfahrenseröffnung wiederum im Wege der Anfechtung beseitigt werden könnten1. Dies gilt gleichermaßen für den Fall, dass das Gericht im Wege eines besonderen Verfügungsverbots dem vorläufigen Insolvenzverwalter die alleinige Verfügungsbefugnis über bestimmte Teilbereiche des schuldnerischen Vermögens übertragen und ihn zur Veräußerung eines bestimmten Konzerngeschäftsbereichs sowie zum Abschluss entsprechender Verträge ermächtigt hat2.

21.51

Eine Anfechtung der im Eröffnungsverfahren erfolgten Betriebsveräußerung durch den Insolvenzverwalter hat zur Folge, dass die Wirtschaftsgüter, die durch das angefochtene Rechtsgeschäft erlangt worden sind, herauszugeben sind. Bei einem Unternehmenskauf ist danach das gesamte Unternehmen als Einheit in die Masse zurückzuführen3. Der Käufer kann bei einer Anfechtung zwar die Gegenleistung als Wertersatz fordern. Er fällt mit seiner Forderung unter Umständen vollständig aus, wenn seine Leistung, der erbrachte Kaufpreis, nicht mehr unterscheidbar in der Masse vorhanden ist. Denn in diesem Fall bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Gegenforderung zur Tabelle anzumelden, und er ist insofern nur einfacher quotal – nicht vorrangig – zu befriedigender Insolvenzgläubiger gemäß § 38 InsO (§ 144 Abs. 2 InsO).

b) Haftung des Erwerbers bei Firmenfortführung 21.52

Erwirbt der Käufer ein Handelsgeschäft und führt es unter der bisherigen Firma4, gegebenenfalls mit einem Nachfolgezusatz (z.B. GmbH5), weiter, so haftet er gemäß § 25 Abs. 1 HGB für alle im Betrieb des Geschäfts begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers (vgl. auch Rz. 6.222). Die Vorschrift gilt auch beim Erwerb eines Unternehmensteils6, insbesondere einer zwar weisungsabhängigen, aber im Verkehr selbstständigen Zweigniederlassung7. Nach Ansicht des BGH8 ist für den Haftungstatbestand des § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB allein die durch die Firmenfortführung nach außen dokumentierte Kontinuität des in seinem wesentlichen Bestand fortgeführten Unternehmens entscheidend. Diese Erwägungen gelten auch bei Unternehmensveräußerung im Insolvenzeröffnungsverfahren9, z.B. durch den vorläufigen Insolvenzverwalter, wenn der Veräußerung keine Insolvenzeröffnung folgt10. Ob die zur Konkurs1 OLG Celle v. 21.10.2004 – 13 U 113/04, NZI 2005, 38; OLG Celle v. 12.12.2002 – 13 U 56/02, NZI 2003, 95 = ZIP 2003, 412; Kirchhof, ZInsO 2000, 297; Kammel, NZI 2000, 102, 103; so auch Undritz in Thierhoff u.a., Unternehmenssanierung, 3. Aufl. 2022, Kap. 10 Rz. 392; Schneider in SchluckAmend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 22. 2 Vgl. dazu AG Duisburg v. 28.7.2002 – 62 IN 167/02, NZI 2002, 614 = ZIP 2002, 1700; Schneider in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 23. 3 Menke, BB 2003, 133, 134 m.w.N.; Schneider in Schluck-Amend/Meyding, Unternehmenskauf in Krise und Insolvenz, 1. Aufl. 2012, Kap. X. Rz. 27. 4 Die Firma der GmbH ist ihr Name. Die GmbH kann nur einheitlich eine Firma führen. Das gilt auch, wenn sie mehrere getrennte, auch verschiedenartige Handelsgeschäfte betreibt oder diese mit Firma erwirbt (Servatius in Noack/Servatius/Haas, § 4 GmbHG Rz. 2 m.w.N.). 5 RGZ 131, 29. 6 Sofern dieser den Kern des Unternehmens ausmacht, BGH v. 16.9.2009 – VIII ZR 321/08, NJW 2010, 236, 237 = ZIP 2009, 2244. 7 Merkt in Hopt, § 25 HGB Rz. 6; Thiessen in Münchener Kommentar zum HGB, § 25 HGB Rz. 39. 8 BGH v. 16.9.2009 – VIII ZR 321/08, NJW 2010, 236, 238 = ZIP 2009, 2244; BGH v. 5.7.2012 – III ZR 116/11, MDR 2012, 1176 f. = ZIP 2012, 2007. 9 BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151 = ZIP 1988, 727 (zum Erwerb vom Sequester). 10 Auch bei einer Abweisung des Insolvenzantrags mangels Masse kann sich nach Auffassung des BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151 = ZIP 1988, 727 (noch zum Konkursantrag),

732 | Schluck-Amend

§ 21 Betriebsbezogene Maßnahmen | Rz. 21.55 § 21

ordnung ergangene höchstrichterliche Rechtsprechung auch bei Anordnung einer starken vorläufigen Insolvenzverwaltung nach Maßgabe des § 22 Abs. 1 InsO Anwendung findet, erscheint fraglich. Das Risiko der Haftung nach § 25 Abs. 1 HGB kann durch Vereinbarung eines Haftungsausschlusses beseitigt werden (§ 25 Abs. 2 HGB). Dritten gegenüber ist er nur dann wirksam, wenn er in das Handelsregister eingetragen und bekannt gemacht oder dem Dritten von Veräußerer oder Erwerber mitgeteilt worden ist (§ 25 Abs. 2 HGB).

c) Zur steuerlichen Haftung des Käufers Nach § 75 Abs. 1 AO haftet der Käufer grundsätzlich für solche Steuern, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet und die seit Beginn des letzten vor der Übertragung liegenden Kalenderjahres entstanden sind (vgl. auch Rz. 6.222). § 75 Abs. 2 AO schließt die Haftung des Käufers beim Erwerb aus der Insolvenzmasse, also nach Verfahrenseröffnung, aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs gilt die Haftungsfreistellung nach Abs. 2 auch für den Unternehmenskauf vor Verfahrenseröffnung, sofern anschließend die Eröffnung des Verfahrens erfolgt. Denn Zweck dieses Haftungsausschlusses – so der Bundesfinanzhof – sei die Erleichterung der zwangsweisen Vermögensverwertung im Hinblick auf eine bestmögliche Liquidation im Gläubigerinteresse. Die bestmögliche Liquidation würde erschwert, wenn der Käufer noch mit betrieblichen Steuerschulden rechnen müsste. Das Haftungsrisiko würde den Käufer entweder vom Erwerb abhalten oder zu erheblichen Kaufpreisabzügen veranlassen1. Dieser Zweck spreche für die Anwendung des Haftungsausschlusses auch beim Erwerb aus dem Insolvenzeröffnungsverfahren. Auch in diesen Fällen sei die Erleichterung der Verwertung sachgerecht.

21.53

Es spricht vieles dafür, dass der BFH bei einer Unternehmensveräußerung durch den „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalter nicht anders entscheiden dürfte. Allerdings sollte der vorläufige Insolvenzverwalter sicherstellen, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Unternehmensveräußerung steht. Darüber hinaus sollte er das Insolvenzgericht von der Veräußerung vorab informieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass dem Unternehmensverkauf der Einwand der Steuerrechtsgestaltung durch den Insolvenzrichter oder den vorläufigen Insolvenzverwalter entgegengesetzt wird und eine Haftungsfreistellung des Käufers scheitert2.

21.54

d) Haftung des Erwerbers gemäß § 613a BGB In seinem Urteil vom 20.6.2002 hat das BAG3 seine zur Konkursordnung entwickelte Rechtsprechung zur teleologischen Reduktion des § 613a BGB bei einem Betriebsübergang4 im Konkursverfahren auf die Insolvenzordnung übertragen (vgl. auch Rz. 12.46 ff.). Liege der Zeitpunkt des Betriebsübergangs vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, hafte der Be-

1 2 3 4

der Erwerber nicht auf eine teleologische Reduktion des § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB berufen (Erwerb vom Sequester); so auch BGH v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, ZIP 1992, 398. BFH v. 23.7.1998 – VII R 143/97, BStBl. II 1998, 765 = ZIP 1998, 1845 zu 2a. Vallender, GmbHR 2004, 543, 548. BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, NZI 2003, 222, 225 = DB 2003, 100 = ZIP 2003, 222; so auch die Vorinstanz LAG Schleswig Holstein v. 5.7.2001 – 1 Sa 430a/00, ZInsO 2002, 248. Ein Betrieb ist die organisatorische Zusammenfassung von sachlichen und immateriellen Mitteln, die einem bestimmten arbeitstechnischen Zweck dienen. Das Unternehmen dient dagegen einem wirtschaftlichen Zweck und kann grundsätzlich mehrere Betriebe umfassen, ausführlich Joost, Betrieb und Unternehmen als Grundbegriffe im Arbeitsrecht, 1988, S. 33 ff. jeweils m.w.N.

Schluck-Amend | 733

21.55

§ 21 Rz. 21.55 | 5. Teil Das Insolvenzeröffnungsverfahren

triebserwerber voll. Der Betriebserwerber trete in alle Rechte und Pflichten aus den zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein, unabhängig davon, ob es sich um Arbeiter, Angestellte oder leitende Angestellte handelt1. Das BAG begründet seine Auffassung im Wesentlichen mit der unterschiedlichen Stellung und den unterschiedlichen Befugnissen des vorläufigen Insolvenzverwalters im Vergleich zum Insolvenzverwalter. Der Zeitpunkt der Antragstellung sei als Differenzierungskriterium nicht praktikabel und eine Gleichstellung des Betriebsübergangs im Antragsverfahren sachlich nicht gerechtfertigt. Aus der Auslegung des § 75 Abs. 2 AO durch den BFH ließen sich keine Schlussfolgerungen für die Auslegung des § 613a BGB ziehen, weil sich die Zwecke der Vorschriften voneinander unterschieden. Zu den Zielen des § 613a BGB gehöre es, die Forderungen der durch den Betriebsübergang betroffenen Arbeitnehmer durch Regelung der haftungsrechtlichen Fragen sicherzustellen (Haftung von Übernehmer und altem Arbeitgeber). Seine Aufgabe sei es dagegen nicht, Sanierungen im Falle von Betriebsübernahmen zu ermöglichen oder zu erleichtern2.

21.56

Neben dem in § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB normierten Übergang der Rechte und Pflichten aus Arbeitsverhältnissen auf den Betriebserwerber ordnet Abs. 4 der Vorschrift die Unwirksamkeit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den bisherigen Arbeitgeber oder den neuen Inhaber an, wenn diese wegen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils ausgesprochen wird3.

1 BAG v. 13.2.2003 – 8 AZR 59/02, NJW 2003, 2930. 2 BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, BAGE 58, 176 = ZIP 1988, 989, dazu EWiR 1988, 767 (v. Stebut). 3 Beruft sich der Arbeitnehmer bei einer Kündigung, auf die das Kündigungsschutzgesetz zwingend Anwendung findet, darauf, dass ein Betriebsübergang vorliege, so hat der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass dies nicht der Fall ist, sondern eine (beabsichtigte) Betriebsstilllegung die Kündigung sozial rechtfertigt (LAG Köln v. 21.1.2005 – 4 Sa 1036/04, ZInsO 2005, 1344 [LS]).

734 | Schluck-Amend

6. Teil Abweisung mangels Masse

§ 22 Insolvenzrechtliche Regelungen I. Gerichtliche Entscheidung nach § 26 InsO 1. Die kostendeckende Masse als Eröffnungsvoraussetzung Das Gericht eröffnet das Insolvenzverfahren nur, wenn das Vermögen des Schuldners voraussichtlich ausreichen wird, um die Kosten des Insolvenzverfahrens zu decken (§ 26 InsO). Genügt die Masse hierfür nicht und leistet auch kein Gläubiger einen Kostenvorschuss, weist das Gericht den Insolvenzantrag ab. Der insolvenzrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz findet dann keine Anwendung und es wird auch kein Verwalter eingesetzt, der etwaige Haftungsund Anfechtungsansprüche geltend machen könnte (zur rechtspolitischen Bewertung und zur möglichen Abhilfe Rz. 23.7). Gesellschaftsrechtlich hat die Abweisung des Insolvenzantrags wegen ungenügender Masse zur Folge, dass die Gesellschaft nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG aufgelöst wird (hierzu näher unter Rz. 23.1 ff.).

22.1

2. Die Prüfung der Kostendeckung Der Gesetzgeber hat mehrfach – schon mit der Einführung der InsO1 und zuletzt mit dem ESUG2 – versucht, die Zahl der masselosen Verfahren zu senken. Diese Bemühungen haben insofern gefruchtet, als sich die Situation im Vergleich zu den letzten Jahren unter der KO deutlich verbessert hat. Im Jahr 1994 wurden noch nahezu drei Viertel aller Konkursanträge mangels Masse abgewiesen. Demgegenüber liegt bei GmbHs die Quote der mangels Masse nicht eröffneten Verfahren seit einigen Jahren nur noch bei rund einem Drittel3. Die durch das ESUG gesetzten Anreize zur früheren Stellung der Insolvenzanträge und die Einforderung eines Kostenvorschusses nach § 26 Abs. 4 InsO (dazu Rz. 22.13) haben allerdings nicht zu einem weiteren Rückgang der Abweisungen mangels Masse geführt.

22.2

Bei der Prüfung, ob die Kosten aus der Masse gedeckt werden können, sind grundsätzlich drei Ansätze denkbar: Man könnte meinen, dass schon zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung genügend Liquidität vorhanden sein muss, um alle während des Verfahrens voraussichtlich entstehenden Kosten zu begleichen. Ein solcher Ansatz überzeugt nicht, denn er blendet aus,

22.3

1 BT-Drucks. 12/2443, S. 72–108. 2 Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582; BT-Drucks. 17/5712, S. 17–66. 3 Statistisches Bundesamt, Fachserie 2 Reihe 4.1 „Unternehmen und Arbeitsstätten – Insolvenzen“, 2021, abrufbar unter www.destatis.de. Bei UGs liegt die Quote der mangels Masse nicht eröffneten Verfahren bei fast 60 %. Bezogen auf alle Unternehmen werden etwas mehr als ein Viertel aller Insolvenzanträge nach § 26 InsO abgewiesen.

Brinkmann | 735

§ 22 Rz. 22.3 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

dass in der Masse möglicherweise erhebliche Vermögenswerte verborgen sind (z.B. Ansprüche gegen Dritte), die zur Kostenbegleichung herangezogen werden können, nachdem der Verwalter sie liquidiert hat. Die Eröffnung des Verfahrens würde dann lediglich an einem Mangel an Barmitteln scheitern, nicht jedoch an einem unzureichenden Vermögen des Schuldners1. Es läge nur eine „scheinbare Masselosigkeit“2 vor. Von dieser Sichtweise hat sich die Praxis daher zu Recht abgewendet. Doch auch die Gegenposition, nach der sämtliche Aktiva den Kosten gegenüberzustellen sind, greift zu kurz. Denn sie berücksichtigt nicht, dass bestimmte Aktiva möglicherweise nicht „rechtzeitig“, nämlich zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Kostenansprüche, liquidiert werden können. Überzeugend ist daher allein eine Betrachtung, die bei der Prüfung der Kostendeckung grundsätzlich das gesamte liquide oder liquidierbare Vermögen ansetzt.

22.4

Umstritten ist, in welchem Zeitraum die Vermögenswerte liquidierbar sein müssen. Nach herrschender Meinung genügt es, wenn die in der Masse vorhandenen Aktiva „in angemessener Zeit“3 nach Verfahrenseröffnung liquide gemacht werden können. Diese Ansicht berücksichtigt nicht, ob die Liquidität auch zu dem Zeitpunkt zur Verfügung steht, zu dem die Kostenansprüche fällig werden. Die herrschende Meinung nimmt dadurch eine temporäre Masselosigkeit hin4. Vorzugswürdig ist es, die Prüfung nach § 26 InsO als Liquiditätsprognose zu verstehen, bei der die fälligen Kostenansprüche im Rahmen eines Liquiditätsplans den jeweils zu ihrer Deckung zur Verfügung stehenden Aktiva gegenübergestellt werden5. Hierbei ist auf der Passivseite zu beachten, dass die Verfahrensgebühr nach § 6 GKG schon mit der Eröffnung des Verfahrens fällig wird, außerdem kann der Insolvenzverwalter gemäß § 9 InsVV jedenfalls nach sechs Monaten einen Vorschuss auf seine Vergütung verlangen. Auf der Aktivseite kommt es darauf an, ob die vorgefundenen Gegenstände hinreichend schnell verwertet werden können, so dass ihr Haftungswert tatsächlich zur Verfügung steht6.

a) Voraussichtliche Masse 22.5

Der vom Gericht mit der Prüfung beauftragte Sachverständige7 verschafft sich zunächst einen Überblick über die Aktivmasse unter Berücksichtigung von Aus- und Absonderungsrechten. Gegenstände, an denen Absonderungsrechte bestehen, können nur mit einem etwaigen Überschuss über die gesicherte Forderung angesetzt werden.

22.6

Bei Forderungen der Masse gegen Dritte – insbesondere bei Anfechtungsansprüchen oder Ansprüchen, die § 92 InsO unterfallen – muss zunächst das Durchsetzungsrisiko (Prozessrisiko und Bonitätsrisiko) in Form von Abschlägen vom Nennwert berücksichtigt werden. Ferner ist zu überlegen, ob etwaige zur Durchsetzung der Forderung voraussichtlich notwendige Kosten aus der Masse gedeckt werden können. Wenn das nicht der Fall ist, muss geprüft werden, 1 Hierzu Metzger, Verfahrenskostendeckende Masse, 2002, S. 25. 2 Karsten Schmidt, JZ 1985, 301, 306. 3 BGH v. 17.6.2003 – IX ZB 476/02, ZIP 2003, 2171; Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 15. Vgl. ferner Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 4; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 26 InsO Rz. 7; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 23; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 7.28; Mönning/Zimmermann in Nerlich/Römermann, § 26 InsO Rz. 40 f. 4 Schilken in Jaeger, § 26 InsO Rz. 16, 29; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 23; Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 16. 5 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 23; Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 17. 6 Keller in Karsten Schmidt, § 26 InsO Rz. 17; Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 8. 7 Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 19; Mönning/Zimmermann in Nerlich/Römermann, § 26 InsO Rz. 17; Keller in Karsten Schmidt, § 26 InsO Rz. 22.

736 | Brinkmann

§ 22 Insolvenzrechtliche Regelungen | Rz. 22.9 § 22

ob ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe1 besteht oder ob andere Prozessfinanzierungsmöglichkeiten existieren. Ansprüche der Insolvenzgläubiger gegen Dritte können im Rahmen von § 26 InsO richtigerweise nicht angesetzt werden. Hieran ändert auch § 93 InsO nichts, der dem Insolvenzverwalter nur die Einziehungsbefugnis für bestimmte Ansprüche vermittelt. Denn die von § 93 InsO erfassten Ansprüche aus § 128 HGB (§ 126 HGB i.d.F. MoPeG) sind – anders als die § 92 InsO unterfallenden Ansprüche – haftungsrechtlich massefremd, so dass sie auch nicht im Rahmen des § 26 InsO masseerhöhend zu berücksichtigen sind. Denn sonst müssten die Gesellschaftergläubiger mit ihren massefremden Ansprüchen für (Gesamt-)Vollstreckungskosten des Gesellschaftsverfahrens einstehen, wodurch der in § 788 ZPO angelegte Grundsatz verletzt würde, dass Vollstreckungskosten stets dem Vermögen des Vollstreckungsschuldners zur Last fallen. Daher ist es ausgeschlossen, die Haftungsansprüche zur Tilgung von solchen Masseverbindlichkeiten zu verwenden, für die der Gesellschafter materiellrechtlich nicht haftet2. Diese Auffassung führt insbesondere dann zu stimmigen Ergebnissen, wenn der Gesellschafter nicht allen Gläubigern haftet (wie etwa der Altgesellschafter für nach seinem Ausscheiden begründete Verbindlichkeiten). Die Gegenansicht3 beruft sich insbesondere auf die Gesetzesbegründung, nach der § 93 InsO auch dem Zweck diene, die Eröffnungsaussichten zu verbessern4. Der BGH hat die Frage bisher ausdrücklich offen gelassen5.

22.7

b) Voraussichtliche Kosten des Verfahrens Zu den Kosten gehören sowohl die Kosten des eröffneten Verfahrens als auch die des Eröffnungsverfahrens. Zu passivieren sind gerichtliche Kosten, die Vergütung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters und der Mitglieder des Gläubigerausschusses sowie zu ersetzende Auslagen. Die gerichtlichen Kosten umfassen die Antrags- und die Verfahrensgebühr (KV GKG 2320 oder 2330). Gemäß § 58 GKG richtet sich die Höhe der Verfahrensgebühr nach der Höhe der Aktivmasse. Da deren Umfang im Zeitpunkt der Entscheidung über die Verfahrenseröffnung naturgemäß nur geschätzt werden kann, sind auch hinsichtlich der Kostenhöhe nur Schätzungen möglich. § 39 Abs. 2 GKG deckelt die Höhe der Gerichtskosten, indem die Vorschrift den Höchstwert der Aktivmasse auf 30.000.000 Euro festlegt6.

22.8

Auch die Vergütung des (vorläufigen) Insolvenzverwalters bestimmt sich nach der Aktivmasse (§§ 2, 11 InsVV). Bei den zu erwartenden Auslagen sind auch die Beträge für etwaige

22.9

1 Massearmut steht der Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Durchsetzung massezugehöriger Forderungen dann nicht entgegen, wenn die Massearmut im Falle der erfolgreichen Beitreibung des Klagebetrages abgewendet würde; BGH v. 22.11.2012 – IX ZB 62/12, ZIP 2012, 2526 für die Verfahrenseinstellung gemäß § 207 InsO. 2 Brinkmann, Die Bedeutung der §§ 92, 93 InsO für den Umfang der Insolvenz- und Sanierungsmasse, 2000, S. 102 f. Gegen eine Einbeziehung der Ansprüche auch Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2022, § 158 HGB Anhang Rz. 39; Oepen, Massefremde Masse, 1999, Rz. 225 ff.; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 31.16. 3 Für eine Aktivierung AG Hamburg v. 27.11.2007 – 67g IN 370/07, ZInsO 2007, 1283; Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 6; J. Schmidt in Kayser/Thole, § 93 InsO Rz. 32; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 10; Pohlmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 93 InsO Rz. 21; Pohlmann, ZInsO 2008, 21 ff.; Karsten Schmidt, KTS 2011, 161, 168 = ZIP 2007, 2428. 4 BT-Drucks. 12/2443, S. 140. 5 BGH v. 24.9.2009 – IX ZR 234/07, NJW 2010, 69 = ZIP 2009, 2204 Rz. 25; s. auch BGH v. 17.12.2015 – IX ZR 143/13, ZIP 2016, 274 Rz. 11. 6 OLG Frankfurt v. 17.4.2014 – 18 W 28/14, ZInsO 2014, 959; s. auch Schoppmeyer, ZIP 2013, 811, 812; Rauscher, ZInsO 2013, 869, 870; Grub, ZInsO 2013, 313, 314; a.A. Nicht/Schildt, NZI 2013, 64, 65 f.

Brinkmann | 737

§ 22 Rz. 22.9 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

Haftpflichtversicherungen für den Insolvenzverwalter (im Falle besonderer Haftungsrisiken) sowie hinsichtlich der Mitglieder des Gläubigerausschusses zu berücksichtigen. De lege ferenda sollte der Gesetzgeber in § 22a Abs. 3 InsO ausdrücklich regeln, dass ein vorläufiger Gläubigerausschuss nicht einzusetzen ist, wenn hierdurch Massearmut ausgelöst wird. De lege lata bleibt nur, die Einsetzung eines Gläubigerausschusses in derartigen Fällen als „unverhältnismäßig“ i.S. von § 22a Abs. 3 Alt. 3 InsO zu behandeln1.

3. Der Prüfungsmaßstab des Gerichts 22.10

Das Gericht entscheidet über das Vorliegen einer kostendeckenden Masse auf der Grundlage der von einem Sachverständigen ermittelten Zahlen. Angesichts der Prognoseunsicherheiten genügt es, wenn das Insolvenzgericht es für wahrscheinlich hält, dass die Masse hinreichen wird2. Die volle richterliche Überzeugung nach § 286 ZPO ist nicht erforderlich3. Zweifelt das Gericht, ob es überwiegend wahrscheinlich ist, dass die Masse zur Deckung der Kosten ausreichen wird, muss es das Verfahren gleichwohl eröffnen4.

4. Die Abwendung der Nichteröffnung durch Einzahlung eines Kostenvorschusses 22.11

Ein sich bei der Prognose nach § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO ergebender Fehlbetrag kann durch die Einzahlung eines Kostenvorschusses ausgeglichen werden. Eine Abweisung des Antrags mangels Masse wird so vermieden. Der eingezahlte Vorschuss wird nicht Teil der Insolvenzmasse, sondern wird treuhänderisch vom Insolvenzverwalter gehalten, der den Betrag ausschließlich zur Deckung der Verfahrenskosten verwenden darf5.

a) Freiwillige Vorschusszahlung 22.12

Grundsätzlich kann jede Person den Vorschuss leisten. Der Vorschusszahlende muss kein besonderes Interesse an der Verfahrenseröffnung haben oder gar glaubhaft machen. Daher kann nicht nur der Antragsteller selbst (handelt es sich um einen Fremdantrag, muss das Gericht auf diese Möglichkeit hinweisen), der Schuldner und alle Insolvenzgläubiger einen Vorschuss zahlen, sondern auch ab- und aussonderungsberechtigte Gläubiger oder Gesellschafter der schuldnerischen Gesellschaft6. Nur der vorläufige Insolvenzverwalter ist nicht berechtigt, (in der Erwartung im Insolvenzverfahren als Verwalter bestellt zu werden) einen Vorschuss zu zahlen. Dies wäre mit seiner Unabhängigkeit nicht zu vereinbaren7.

b) Vorschusspflicht nach § 26 Abs. 4 InsO 22.13

Nach § 26 Abs. 4 InsO ist eine Person, „die entgegen den Vorschriften des Insolvenz- oder Gesellschaftsrechts pflichtwidrig und schuldhaft keinen Antrag auf Eröffnung des Insolvenz1 2 3 4 5 6

Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22a InsO Rz. 157. Schilken in Jaeger, § 26 InsO Rz. 27. A.A. Keller in Karsten Schmidt, § 26 InsO Rz. 30. A.A. Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 23. Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 26; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 26 InsO Rz. 21. Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 24; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 27. 7 Häsemeyer in Leipold u.a. (Hrsg.), Insolvenzrecht im Umbruch, 1991, S. 101, 109; Schilken in Jaeger, § 26 InsO Rz. 55; Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 25; Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 31.

738 | Brinkmann

§ 22 Insolvenzrechtliche Regelungen | Rz. 22.30 § 22

verfahrens gestellt hat“, verpflichtet einen Kostenvorschuss zu leisten (rechtspolitische Kritik bei Rz. 23.19). Der Anspruch kann sowohl vom vorläufigen Insolvenzverwalter als auch von einem Insolvenzgläubiger geltend gemacht werden. Klarzustellen ist, dass der Vorschussanspruch keine Bedeutung hat für die Frage, ob die Masse die Kosten decken wird. Der Vorschussanspruch kann im Rahmen der nach § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO anzustellenden Liquiditätsprognose nicht aktiviert werden1, denn er dient ja gerade dazu, die Verfahrenseröffnung trotz unzureichender Masse zu ermöglichen (§ 26 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 InsO). Die Vorschusspflicht setzt eine schuldhafte Insolvenzverschleppung durch den oder die Geschäftsführer voraus, bei einer führungslosen Gesellschaft auch der Gesellschafter (s. Rz. 15.84)2. Gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 InsO tragen die Geschäftsführer bzw. die Gesellschafter die Beweislast hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit sowie des Verschuldens3. Trotz dieser Beweislastumkehr wird in der Praxis kaum ein Gläubiger bereit sein, den Anspruch klageweise durchzusetzen, denn es verbleibt ein erhebliches Prozessrisiko. Realistisch erscheint allein ein Vorgehen des vorläufigen Insolvenzverwalters im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes unter Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 ZPO4.

22.14

c) Erstattungs- und Rückgriffsansprüche Der Insolvenzverwalter zahlt einen geleisteten Vorschuss zurück, sobald die erwirtschaftete Masse dafür ausreicht. Hat jemand freiwillig einen Vorschuss gezahlt, kann er daneben gemäß § 26 Abs. 3 InsO von denjenigen, die nach § 26 Abs. 4 InsO zur Vorschusszahlung verpflichtet waren, Ersatz verlangen. Insoweit hat wiederum der Geschäftsführer zu beweisen, dass er nicht pflichtwidrig oder nicht schuldhaft gehandelt hat. Trotz des so erleichterten Rückgriffs leisten Gläubiger nur selten einen Vorschuss. Es fehlt an einem Anreiz, „mit eigenen Mitteln die Gleichbehandlung aller Gläubiger zu finanzieren“5.

22.15

Gegen den Anspruch auf Rückzahlung des Kostenvorschusses, der auch in den Fällen des § 26 Abs. 4 InsO besteht, kann der Insolvenzverwalter gegenüber den Geschäftsführern mit einem Schadensersatzanspruch wegen Insolvenzverschleppung nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 15a InsO oder mit Ansprüchen nach § 15b InsO aufrechnen.

22.16

5. Der Abweisungsbeschluss Bevor das Gericht den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 26 InsO abweist, hört es sowohl den Schuldner als auch den Antragsteller an6 und weist auf die Möglichkeit der Vorschusszahlung innerhalb einer vom Gericht bestimmten Frist hin. Einstweilen frei.

22.17

22.18–22.30

1 So aber Foerste, ZInsO 2012, 532, 533; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 64. 2 Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 61; Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, S. 52. 3 Marotzke, DB 2012, 560, 567. 4 Paul, ZInsO 2008, 28, 31. 5 Karsten Schmidt, NJW 2011, 1255, 1256. 6 BGH v. 15.1.2004 – IX ZB 478/02, NZI 2004, 255 = ZInsO 2004, 247 Rz. 4 = ZIP 2004, 724; Laroche in Kayser/Thole, § 26 InsO Rz. 19; Mönning/Zimmermann in Nerlich/Römermann, § 26 InsO Rz. 125; Schilken in Jaeger, § 26 InsO Rz. 35.

Brinkmann | 739

§ 22 Rz. 22.31 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

II. Verfahrensrechtliche Folgen 22.31

Gegen den Abweisungsbeschluss ist gemäß § 34 Abs. 1 InsO die sofortige Beschwerde für den Antragsteller und den Schuldner statthaft. Die Geschäftsführer bzw. – im Fall der Führungslosigkeit – die Gesellschafter üben das Beschwerderecht für die Schuldnerin aus1. Mit der Rechtskraft des Abweisungsbeschlusses endet eine nach § 21 Abs. 2 Nr. 3 InsO angeordnete Vollstreckungssperre. Die Schuldnerin ist von Amts wegen in das Schuldnerverzeichnis nach §§ 882b ff. ZPO einzutragen. Zu den gesellschaftsrechtlichen Folgen des Abweisungsbeschlusses s. Rz. 12.5.

22.32

Die Kosten trägt der Antragsgegner, wenn der Antragsteller auf den gerichtlichen Hinweis, dass Masselosigkeit vorliegt, den Antrag für erledigt erklärt2. Das Insolvenzgericht setzt die Vergütung des vorläufigen Verwalters gemäß § 26a InsO fest.

22.33

Ein erneuter Eröffnungsantrag ist zulässig, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass nunmehr ausreichendes Schuldnervermögen vorliegt, oder er einen Vorschuss einzahlt3.

1 BGH v. 13.6.2006 – IX ZB 262/05, ZIP 2006, 1454; BGH v. 20.7.2006 – IX ZB 274/05, NZI 2006, 700; Uhlenbruck, GmbHR 1999, 390, 396; Laroche in Kayser/Thole, § 34 InsO Rz. 7; Schilken in Jaeger, § 34 InsO Rz. 18; Pape in Uhlenbruck, § 34 InsO Rz. 6; Keller in Karsten Schmidt, § 34 InsO Rz. 9. 2 Näheres bei Keller in Karsten Schmidt, § 26 InsO Rz. 45 ff. 3 BGH v. 5.8.2002 – IX ZB 51/02, ZIP 2002, 1695.

740 | Brinkmann

§ 23 Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen I. Masselose Liquidation: Gesellschaftsrecht versus Insolvenzrecht? 1. Die Tatbestände Von den insolvenzrechtlichen sind die gesellschaftsrechtlichen Fragen und Rechtsfolgen zu unterscheiden. Die Gesellschaft ist

23.1

– im Fall der Verfahrensablehnung mangels Masse (§ 26 InsO) mit der Rechtskraft des Beschlusses aufgelöst, – im Fall ihrer Vermögenslosigkeit von Amts wegen im Register zu löschen. Die gesellschaftsrechtlichen Folgen dieser Tatbestände1 sind in § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG (Masselosigkeit) bzw. § 60 Abs. 1 Nr. 7 GmbHG, (Vermögenslosigkeit) für die GmbH geregelt und durch § 131 Abs. 2 HGB auf Personengesellschaften ohne natürlichen Komplementär, typischerweise also auf die GmbH & Co. KG, ausgedehnt2. Ein Pendant der Verfahrensablehnung nach § 26 InsO ist die Einstellung eines eröffneten Insolvenzverfahrens mangels Masse (§ 207 InsO)3. Doch ist in diesem Fall schon der Auflösungstatbestand des § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG (Insolvenzverfahrenseröffnung) erfüllt, und die Gesellschaft wechselt nur aus dem Insolvenzverfahren in das gesellschaftsrechtliche Abwicklungsverfahren4. Nicht mit Vermögenslosigkeit und Masselosigkeit gleichzustellen ist die sog. Masseunzulänglichkeit nach § 208 InsO5. Sie führt zum sog. „Konkurs im Konkurs“ (§ 209 InsO) und zur Haftung des Insolvenzverwalters (§ 61 InsO). Das Insolvenzverfahren als solches wird nach Maßgabe der §§ 209 ff. InsO fortgeführt (dazu Rz. 30.11).

23.2

a) Der Fall der Vermögenslosigkeit ist für das vorliegende Werk und für die Unternehmenspraxis nur von sekundärem Interesse. Nach § 394 FamFG können nicht nur Kapitalgesellschaften und Genossenschaften im Fall ihrer Vermögenslosigkeit im Handelsregister gelöscht werden, sondern dasselbe gilt, wenn auch die Komplementärgesellschaft vermögenslos ist, auch für offene Handelsgesellschaften und Kommanditgesellschaften, bei denen kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürliche Person ist. Die Vorschrift gilt damit für die typische GmbH & Co. KG ebenso wie für die GmbH. Die auf § 394 FamFG gestützte Löschung der Gesellschaft im Handelsregister löst i.d.R. kein Abwicklungsverfahren aus. § 60 Abs. 1 Nr. 7 GmbHG spricht zwar von einer Auflösung der Gesellschaft, aber diese ist im Fall ihrer Löschung regelmäßig vollbeendigt und damit erloschen (Rz. 12.3). Vollbeendigung der Gesellschaft tritt nach der vom Verfasser herausgearbeiteten6, heute vorherrschenden Ansicht ein,

23.3

1 Ursprünglich §§ 1 und 2 des Gesetzes über die Auflösung und Löschung von Gesellschaften und Genossenschaften vom 9.10.1934 (RGBl. I 1934, 914), aufgehoben durch Art. 2 Nr. 9 EGInsO. 2 Einzelheiten bei Karsten Schmidt, GmbHR 1994, 829 ff.; ab 1.1.2024 gelten für Personengesellschaften nach dem MoPeG die § 729 Abs. 3 BGB n.F., § 138 Abs. 2 HGB n.F. 3 Vgl. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 207 InsO Rz. 8d. 4 Vgl. Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 233. 5 Dazu auch Beck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 13 Rz. 1 ff., 23 ff. 6 Zur Grundlegung Karsten Schmidt, GmbHR 1988, 209 ff.; jetzt h.M., vgl. nur BGH v. 20.5.2015 – VII ZB 53/13, ZIP 2015, 1334, 1336; BAG v. 22.3.1988 – 3 AZR 350/86, GmbHR 1988, 388; BAG

Karsten Schmidt | 741

§ 23 Rz. 23.3 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

wenn ein Doppeltatbestand vorliegt: Löschung und Vermögenslosigkeit sind kumulative Voraussetzungen der Vollbeendigung. Beide Voraussetzungen müssen zusammentreffen und dies ist im Fall einer Löschung nach § 394 FamFG typischerweise der Fall. Die Frage nach den Voraussetzungen und Folgen der Vollbeendigung spielt vor allem für das Schicksal laufender Prozesse eine erhebliche Rolle1,so wie auch umgekehrt die Führung laufender Prozesse ein Hindernis für die Löschung sein kann2. Sie ist aber auf Fälle beschränkt, in denen an Sanierung oder Abwicklung nicht mehr zu denken ist. Das ist im vorliegenden Werk nicht zu vertiefen. Die vermögenslos gelöschte Gesellschaft ist i.d.R. ein Fall für die Staatsanwaltschaft3. Stellt sich nachträglich vorhandenes Vermögen heraus, so wird die versäumte Liquidation nachgeholt (vgl. rechtsähnlich § 66 Abs. 5 GmbHG)4 und die Gesellschaft ist mitsamt ihren Liquidatoren (wieder) in das Handelsregister einzutragen.5

23.4

b) Im Fall der sog. Masselosigkeit (§ 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG) pflegt noch verteilbares Vermögen vorhanden zu sein, allerdings nicht genug für eine Abwicklung nach der Insolvenzordnung. Ein Insolvenzantrag wird mangels Masse abgelehnt (§ 26 InsO), oder ein schon eröffnetes Insolvenzverfahren wird mangels Masse eingestellt (§ 207 InsO). Die Schuldnerin kann gegen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sogar mit der Beschwerde vorgehen, um die Ablehnung des Eröffnungsantrags mangels Masse durchzusetzen6. Die Ablehnung oder Einstellung des Insolvenzverfahrens mangels Masse führt nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG im Gegensatz zum Fall der Vermögenslosigkeit (Rz. 23.3) zu einer echten Liquidation. Die Gesellschaft besteht einstweilen als Liquidationsgesellschaft fort7 und müsste nach allgemeinem Gesellschaftsrecht sogar durch Kapitalerhöhung und Fortsetzungsbeschluss wiederbelebt werden können8. Dass eine solche Möglichkeit dennoch abgelehnt wird9, hat nicht grundsätzliche,

1

2 3 4 5 6 7 8 9

v. 4.6.2003 – 10 AZR 448/02, GmbHR 2003, 1009, 1010; OLG Stuttgart v. 28.2.1986 – 2 U 148/85, GmbHR 1986, 269; KG v. 8.2.1991 – 1 W 3357/90, NJW-RR 1991, 933; OLG Düsseldorf v. 14.11.2003 – 16 U 95/98, GmbHR 2004, 572 m. Anm. Römermann; OLG Koblenz v. 14.3.2016 – 14 W 115/16, NZG 2016, 750; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 66, 68; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 70, § 74 GmbHG Rz. 16; Anh. § 77 GmbHG Rz. 16; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 74 GmbHG Rz. 14 f.; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 74 GmbHG Rz. 7; Uhlenbruck, ZIP 1996, 1648; Vallender, NZG 1998, 249, 250. Vgl. nur BGH v. 29.9.1981 – VI ZR 21/80, GmbHR 1983, 20; BGH v. 6.2.1991 – VIII ZR 26/90, NJW-RR 1991, 660; BGH v. 18.1.1994 – XI ZR 95/93, GmbHR 1994, 260; BGH v. 28.1.2003 – XI ZR 243/02, BGHZ 153, 337 = NJW 2003, 1250 = GmbHR 2003, 417; BGH v. 20.5.2014 – VII ZB 53/13, ZIP 2015, 1334; BAG v. 9.7.1981 – 2 AZR 329/79, NJW 1982, 1831 = GmbHR 1982, 114; BFH v. 18.3.1986 – VII R 146/81, GmbHR 1986, 401 = ZIP 1981, 1382; BFH v. 18.1.1988 – I B 154/87, GmbHR 1988, 448; eingehend Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 73 ff. KG v. 10.9.2021 – 22 W 51/21, GmbHR 2021, 1335 = NZG 2022, 125 = ZIP 2021, 2486; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 74 GmbHG Rz. 18 ff., 26. Eingehend Kögel, GmbHR 2003, 460 ff. Dazu ausführlich Galla, Nachtragsliquidation bei Kapitalgesellschaften, 2005; Karsten Schmidt/ Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 66 GmbHG Rz. 56. Vgl. nachdrücklich BGH v. 26.7.2022 – II ZB 20/21, BB 2022, 1938 = DB 2022, 2086 = ZIP 2022, 1806. BGH v. 15.7.2004 – IX ZB 172/03, ZIP 2004, 1727. Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 92 Rz. 256; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 23. So Altmeppen, § 60 GmbHG Rz. 55; s. auch Hacker/Petsch, ZIP 2015, 761, 768. BayObLG v. 14.10.1993 – 3 Z BR 116/93, DB 1993, 2523 = NJW 1994, 594 = GmbHR 1994, 189; KG, DR 1941, 1543; KG v. 1.7.1993 – 1 W 6135/92, DB 1993, 1918 = GmbHR 1993, 822 = NJWRR 1994, 229; KG v. 22.9.1998 – 1 W 2161/97, DB 1998, 2409 = GmbHR 1998, 1232 = NZG 1990, 359 m. Anm. Boujong; OLG Köln v. 22.2.2010 – 2 Wx 18/10, ZIP 2010, 1183 = GmbHR 2010, 710

742 | Karsten Schmidt

§ 23 Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen | Rz. 23.6 § 23

sondern rechtspolitische Gründe1: Die Missbrauchsgefahr etwa durch das Fortleben massearmer Gesellschaftsmäntel wird als zu groß eingeschätzt2. Im Grundsätzlichen überzeugt diese h.M. nicht3, doch ist die Reanimierung masseloser Gesellschaften als unternehmensrechtliche Strategie nicht zu empfehlen.

2. Liquidation nach Insolvenzrechtsgrundsätzen? a) Die masselose Liquidation ist nach wie vor ein „Stiefkind des Insolvenzrechts“4. Ist die Gesellschaft wegen Masselosigkeit aufgelöst, so greift das formelle Insolvenzrecht nicht ein. Die Gesellschaft wird nach gesellschaftlichen Regeln abgewickelt5. Dies bedeutet vor allem, dass die Geschäftsführer als Liquidatoren berufen sind (§ 66 GmbHG) und dass keine Bindung an die Gleichbehandlung der Gläubiger besteht6. Die Verfahrensablehnung oder Verfahrenseinstellung mangels Masse gibt den Geschäftsführern (Liquidatoren) Kompetenzen, die sie nach insolvenzrechtlichen Regeln selbst im Fall der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO nicht hätten. Auch bleiben, anders als nach § 276a InsO, die Gesellschafter weisungsbefugt. Das Verbot, Zahlungen an einzelne Gläubiger zu leisten (§ 15b InsO), kommt bezüglich der nach einer Verfahrensablehnung mangels Masse geleisteten Zahlungen nicht zum Zuge. Den Vorteil kann etwa die Hausbank oder der Steuerfiskus haben oder der Geschäftsführer selbst.

23.5

b) Die Unausgewogenheit der bisherigen Praxis zeigt sich auch bei der Pfändung von Forderungen7. Die bisher bei den Gerichten und in großen Teilen der Literatur herrschende Meinung steht auf dem Standpunkt, dass insbesondere Forderungen auf offene Einlagen der Gesellschafter oder aus ihrer Kapitalschutzhaftung (§ 31 GmbHG) an einen Gläubiger der GmbH grundsätzlich nur abgetreten oder von ihm gepfändet werden können, wenn die Forderung dieses Gläubigers gegen die GmbH vollwertig und liquide ist, weil der Gesellschaft nur dann ein entsprechender Vermögenswert zufließe8. Eine Ausnahme macht der Bundes-

23.6

1 2 3 4 5

6 7 8

m. Anm. Blöse; KG v. 17.10.2016 – 22 W 70/16, GmbHR 2017, 196; OLG Frankfurt v. 27.7.2017 – 20 W 112/14, GmbHR 2018, 808; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 116 f. Vgl. statt vieler BGH v. 8.10.1979 – II ZR 257/78, BGHZ 75, 178, 180 = GmbHR 1980, 83, 84 = ZIP 1980, 44. Hiergegen Hacker/Petsch, ZIP 2015, 761, 768 (aber mit schlecht recherchiertem Meinungsbild). Ausführlich Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 116 f.; Altmeppen, § 60 GmbHG Rz. 55 f.; s. auch Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 96; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/ Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 283 ff. So Karsten Schmidt, ZIP 1982, 9 und öfter; dazu auch Uhlenbruck, ZIP 1996, 1641; Burgard/Gundlach, ZIP 2006, 1568 ff. OLG Nürnberg v. 11.8.1988 – 3 U 1460/88, GmbHR 1988, 399; OLG Koblenz v. 21.6.1990 – 5 U 1065/89, GmbHR 1991, 315; Haas/Kolmann/Kunz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 303; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 67; Keller in Karsten Schmidt, § 26 InsO Rz. 59, 64. Vgl. nur Konzen in FS Ulmer, 2003, S. 323, 325; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 67; unergiebig Budde, Die Haftungsverwirklichung in der masselosen Insolvenz der Kapitalgesellschaft, 2006 (Forderungseinzug bei Zweitinsolvenz). Ausführlich Stobbe, Die Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Ansprüche der insolventen GmbH, 2001, Abschnitt 5; Veil in Scholz, 12. Aufl., § 19 GmbHG Rz. 105 ff. RG v. 22.5.1931 – II 299/30, RGZ 133, 81, 82 ff.; RG v. 12.11.1935 – II 48/35, RGZ 149, 293, 295; BGH v. 18.11.1969 – II ZR 83/68, BGHZ 53, 71, 72 f. = GmbHR 1970, 122, std. Rspr.; OLG Celle v. 13.10.1993 – 9 U 44/92, GmbHR 1994, 246; OLG Köln v. 6.4.1995 – 5 U 224/94, NJW-RR 1996, 939, 940; zust. etwa Fastrich in Noack/Servatius/Haas, § 19 GmbHG Rz. 42; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 19 GmbHG Rz. 49; Altmeppen, § 19 GmbHG Rz. 21 f.; Casper in Großkommentar zum GmbHG, § 19 GmbHG Rz. 102.

Karsten Schmidt | 743

§ 23 Rz. 23.6 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

gerichtshof, wenn die Gesellschaft ihren Geschäftsbetrieb eingestellt hat, außer der gepfändeten Forderung kein nennenswertes Gesellschaftsvermögen vorhanden ist und der pfändende Gläubiger nicht mit anderen Gläubigern konkurriert1. Diese Rechtsprechung macht nachdenklich, denn man fragt sich, weshalb die Kapitalschutzregeln des GmbH-Rechts auf den pfändenden Gläubiger durchschlagen sollen2. Dieser Effekt wurde hier schon in den Vorauflagen kritisiert, und diese Kritik beginnt Wirkung zu zeigen3. Das Problem liegt nicht bei den Grundsätzen der Kapitalaufbringung, sondern bei der Gläubigerkonkurrenz: Nicht weil der Gläubiger einer GmbH zu deren Kapitalaufbringung beizutragen hätte, sondern weil er sich im Insolvenzfall keinen unerlaubten Vorsprung verschaffen soll, bestehen gerade im Fall der masselosen Insolvenz besondere Bedenken gegen seinen Zugriff auf das Einlagekapital. Ist die Forderung des pfändenden Gläubigers vollwertig, die Gesellschaft also solvent, so ist dieser Zugriff unbedenklich. Ist die Gesellschaft insolvent, so ist im eröffneten Insolvenzverfahren dem einzelnen Gläubiger der Zugriff auf Forderungen der Gesellschaft gegen die Gesellschafter selbstverständlich versagt (§ 89 InsO). Dagegen herrscht im Fall der Masselosigkeit nach h.M. wieder das Prioritätsprinzip (krit. Rz. 23.5). Dem kann nicht, wie es die bisher herrschende Auffassung will, mit Mitteln des gesellschaftsrechtlichen Kapitalaufbringungsrechts begegnet werden, sondern nur mit Mitteln des Insolvenzrechts4.

23.7

c) Ein Gegenmodell hat vor geraumer Zeit Wolf Schulz vorgelegt5. Nach Wolf Schulz muss im Fall der Masselosigkeit ein Quasi-Insolvenzverfahren stattfinden, das durch eine Art Insolvenzkostenhilfe vom Staat vorfinanziert werden kann (vgl. Rz. 23.23). Dieses in erster Linie als rechtspolitischer Aufruf entworfene Konzept hat sich allerdings nicht etablieren können6. Immerhin hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft gegen Geschäftsführer im Fall ihrer Masselosigkeit ebenso wenig der Beschlussfassung nach § 46 Nr. 8 GmbHG bedarf wie im Fall der Geltendmachung durch einen Insolvenzverwalter (vgl. dazu Rz. 24.22)7. Diesem Ansatz ist zuzustimmen.

3. Rechtsfolgen bei der GmbH & Co. KG 23.8

Im Fall einer GmbH & Co. KG ist eine konsolidierte Abwicklung der Gesellschaften anzustreben (Rz. 29.8 ff.). Die Masselosigkeit wirft hier besondere Probleme auf. Nach § 131 Abs. 2 HGB (ab 1.1.2024 § 138 Abs. 2 HGB n.F.) i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB gelten die Grundsätze über die Auflösung bei Insolvenzablehnung mangels Masse (§ 26 InsO) bzw. Löschung wegen Vermögenslosigkeit (§ 394 Abs. 4 FamFG) auch für die KG ohne natürlichen Komplementär. 1 BGH v. 15.6.1992 – II ZR 229/91, GmbHR 1992, 522; zuletzt OLG Köln v. 6.4.1995 – 5 U 224/94, NJW-RR 1996, 939, 940 = ZIP 1992, 992. 2 So zuerst Karsten Schmidt, ZHR 157 (1993), 291 ff. 3 Karsten Schmidt, ZHR 157 (1993), 291 ff., 300 ff.; zust. Wertenbruch, Die Haftung von Gesellschaften und Gesellschaftsanteilen in der Zwangsvollstreckung, 2000, S. 355 ff., 387 ff.; Altmeppen, § 19 GmbHG Rz. 24; Ebbing in Michalski, § 19 GmbHG Rz. 84 ff.; Pentz in Rowedder/Pentz, § 19 GmbHG Rz. 256; Veil in Scholz, 12. Aufl., § 19 GmbHG Rz. 108 ff.; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 295 ff. 4 Karsten Schmidt, ZHR 157 (1993), 319 ff. 5 Schulz, Die masselose Liquidation der GmbH, 1986; dazu Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 177 ff.; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 39 f. (de lege ferenda); Konzen in FS Ulmer, 2003, S. 323, 334, 344; ablehnend Buchner, Amtslöschung, Nachtragsliquidation und masselose Liquidation, 1988, S. 77 ff.; Gesell in Rowedder/Schmidt-Leithoff, § 60 GmbHG Rz. 24; Uhlenbruck, ZIP 1993, 24 f. 6 Vgl. nur Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 67. 7 BGH v. 14.7.2004 – VIII ZR 224/02, GmbHR 2004, 1279 = ZIP 2004, 1708.

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§ 23 Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen | Rz. 23.16 § 23

Nicht selten wird hier das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Komplementär-GmbH mangels Masse abgelehnt, weil sich die Liquidität der GmbH im Vermögen der Kommanditgesellschaft befindet. Anzustreben, wenn auch praktisch nicht immer erreichbar, ist eine Verfahrenseröffnung bei beiden Gesellschaften, sofern nicht auch die KG masselos ist. Zu den Rechtsfolgen der Simultaninsolvenz beider Gesellschaften vgl. Rz. 29.5 ff.

4. Insolvenzverschleppungshaftung bei Masselosigkeit a) In den meisten Fällen der Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens wegen Masselosigkeit ist mit einer Haftung der Geschäftsführer wegen Insolvenzverschleppung zu rechnen. In Anbetracht der Nicht-Verfahrenseröffnung fehlt es in diesen Fällen allerdings an einem Verwalter, der den Quotenschaden nach § 92 InsO geltend macht (zu dieser stark vernachlässigten Bestimmung vgl. Rz. 23.21 ff.). Hier liegt der wahre Grund für den vom BGH gegen die alte Quotenschadensrechtsprechung erhobenen Einwand, dass es Klagen auf Quotenersatz in der Praxis praktisch nicht gebe1. Im Fall der Masselosigkeit ist ernsthaft nur mit Schadensersatzklagen der Neugläubiger zu rechnen, während die Haftung gegenüber den auf Quotenschadensersatz verwiesenen Altgläubigern im Wesentlichen brach liegt2. Der Mangel liegt allerdings nicht in der Rechtsfigur des Quotenschadens begründet, sondern in der Verfahrensablehnung mangels Masse (Rz. 38.17).

23.9

b) Hinzuweisen ist allerdings auch darauf, dass der BGH den Anspruch aus § 15b Abs. 4 InsO (§ 64 GmbHG a.F.) in der masselosen Insolvenz für pfändbar erklärt hat3. Gläubiger titulierter Forderungen können sich also für ihre Ausfälle beim Geschäftsführer schadlos halten, solange bei ihm etwas zu holen ist. Doch ist dies ein dorniger Weg, und mit einer Gleichbehandlung der Gläubiger hat diese Abhilfe nichts zu tun.

23.10

23.11–23.15

Einstweilen frei.

II. Abhilfemöglichkeiten? 1. Ersatz des Massekostenvorschusses nach § 26 Abs. 3, 4 InsO bei Insolvenzverschleppung a) § 26 Abs. 3 InsO besagt Folgendes4: „Wer nach Absatz 1 Satz 2 [scl.: um die Abweisung des Insolvenzantrags mangels Masse zu verhindern] einen Vorschuss geleistet hat, kann die Erstattung des vorgeschossenen Betrages von jeder Person verlangen, die entgegen den Vorschriften des Insolvenz- oder Gesellschaftsrechts den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens pflichtwidrig und schuldhaft nicht gestellt hat. Ist streitig, ob die Person pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt hat, so trifft sie die Beweislast.“ Der Gesetzgeber wollte mit dieser Vorschrift im Kampf gegen die Masselosigkeit gleichzeitig einen Anreiz für die Vorschuss1 BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181, 197 f. = GmbHR 1994, 539, 544 = ZIP 1994, 1103; zuvor Mertens in FS Lange, 1992, S. 577. 2 Karsten Schmidt, InsO, 19. Aufl., § 92 InsO Rz. 16 ff.; Karsten Schmidt, NZI 1998, 11; ausführlich Budde, Die Haftungsverwirklichung in der masselosen Insolvenz der Kapitalgesellschaft, 2006, S. 84 ff. 3 BGH v. 11.9.2000 – II ZR 370/99, NZI 2001, 87 = ZIP 2000, 1896 = GmbHR 2000, 1149. 4 Dazu Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 271 f.; Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 15 Rz. 25 ff.; Haarmeyer/Wutzke/Förster, Handbuch zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., Rz. 3/558 ff.; Karsten Schmidt in Kölner Schrift zur InsO, S. 1217; Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 1171 f.

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23.16

§ 23 Rz. 23.16 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

leistung schaffen und die Sanktion für Insolvenzverschleppungsfolgen verschärfen1. Es muss sich hierbei um den gesetzlich vorgeprägten Vorschuss i.S. von § 26 Abs. 1 Satz 2 InsO handeln; andere Aufwendungen eines Gläubigers, auch Zahlungen an den späteren Verwalter, stehen nicht gleich2. Die Rechtsnatur des in § 26 Abs. 3 InsO geregelten Anspruchs – Aufwendungsersatz wegen Geschäftsführung ohne Auftrag im öffentlichen Interesse? Schadensersatz? Anspruch eigener Art3? – wird die Praxis weniger beschäftigen als der von der neuen Bestimmung ausgehende Effekt. Dieser ist gering4, denn die Leistung eines Massekostenvorschusses ist und bleibt ein wenig attraktives Opfer: Derjenige Gläubiger, der einen solchen Vorschuss aufzubringen vermag, wird lieber auf Kreditsicherheiten zurückgreifen oder Forderungen der massearmen Schuldner-GmbH pfänden statt zum Vorteil anderer Gläubiger einen Vorschuss um den Preis eines riskanten Prozesses aus § 26 Abs. 3 InsO zu leisten5. Es handelt sich um eine weitgehend wirkungslose Norm6, auch wenn es vereinzelte Prozesse um § 26 Abs. 3 InsO gibt7.

23.17

Mit dem geltenden § 26 Abs. 3 InsO ist der Masselosigkeit nicht beizukommen, weil die Vorschrift als Leistungsanreiz versagt (Rz. 22.15). Rechtspolitisch wäre angezeigt, die Geltendmachung der Haftung nach § 26 Abs. 3 InsO in die Hände des Insolvenzverwalters zu geben8. Der Vorschuss hätte dann jedenfalls teilweise einen ähnlichen Effekt wie die bei Rz. 23.7 erwogene Insolvenzverfahrenskostenhilfe: Der Verwalter hätte als Erstes die Aufgabe, zugunsten des Vorschusszahlers eine Erstattung der für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgebrachten Vorfinanzierung sicherzustellen.

23.18

b) Den § 26 Abs. 3 InsO ergänzt seit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)9 der folgende § 26 Abs. 4 InsO: „Zur Leistung eines Vorschusses nach Absatz 1 Satz 2 ist jede Person verpflichtet, die den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens entgegen den Vorschriften des Insolvenz- oder Gesellschaftsrechts pflichtwidrig und schuldhaft nicht gestellt hat. Ist streitig, ob die Person pflichtwidrig und schuldhaft gehandelt hat, so trifft sie die Beweislast. Die Zahlung des Vorschusses kann der vorläufige Insolvenzverwalter sowie jede Person verlangen, die einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner hat.“

23.19

Auch von dieser Bestimmung ist wenig zu halten10. Sie läuft darauf hinaus, dass die Masse eine Art Vorschuss auf den vom Geschäftsführer zu ersetzenden Insolvenzverschleppungsschaden 1 Vgl. Begr. RegE zu § 30 InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 118 = Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 1995, S. 104. 2 BGH v. 14.11.2002 – IX ZR 40/02, NZI 2003, 324; Vorinstanz OLG Brandenburg v. 17.1.2002 – 8 U 53/01, NZI 2003, 203; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 26 InsO Rz. 67 f. 3 Dazu Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 26 InsO Rz. 162; Vallender in Uhlenbruck, § 26 InsO Rz. 59. 4 Vgl. nur Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 15 Rz. 22. 5 Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 15 Rz. 22; Pape in Kübler/Prütting/ Bork, § 26 InsO Rz. 20; Karsten Schmidt in Aktuelle Probleme des neuen Insolvenzrechts, 2000, S. 95 f.; Karsten Schmidt in Kölner Schrift zur InsO, S. 1217. 6 Herzig in Braun, 8. Aufl. 2020, § 26 InsO Rz. 47; Karsten Schmidt in VGR (Hrsg.), Die GmbHReform in der Diskussion, 2006, S. 143, 163; Uhlenbruck, KTS 1994, 175. 7 Beispiele: BGH v. 14.11.2002 – IX ZR 40/02, NZI 2003, 324; BGH v. 15.1.2009 – IX ZR 56/08, NZI 2009, 233; OLG Hamm v. 10.4.2002 – 11 U 180/01, NZG 2002, 782 = ZIP 2009, 571. 8 Karsten Schmidt in Aktuelle Probleme des neuen Insolvenzrechts, 2000, S. 95 f.; Karsten Schmidt, KTS 2001, 392 f. 9 Gesetz vom 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 10 Denkhaus in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 26 InsO Rz. 55a; Gundlach in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 15 Rz. 38; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 26 InsO

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§ 23 Gesellschaftsrechtliche und haftungsrechtliche Rechtsfolgen | Rz. 23.21 § 23

erhält, dessen Zahlung er unter den Voraussetzungen des § 43 GmbHG bzw. nach § 15a InsO, § 823 Abs. 2 GmbHG in der Tat schuldet. Aber diese Ansprüche werden in langwierigen Prozessen eingeklagt, in denen der Haftungstatbestand festgestellt werden muss. Die bloße Verschuldensvermutung nach Satz 2 hilft nicht genug. Wenn es eine Lösung in dieser Hinsicht gibt, kann diese nur darin bestehen, dass die Geschäftsführer (einschließlich der faktischen oder in einer Karenzzeit vor dem Eröffnungsantrag ausgeschiedenen Geschäftsführer), möglicherweise auch die an der Gesellschaft mit 10 % oder mehr beteiligten Gesellschafter ohne Entlastungsmöglichkeit zur Vorschusszahlung herangezogen werden können1.

2. Geltendes Recht und Rechtspolitik a) Die Anwendung des § 26 InsO ist zunächst eine Frage der Kostendeckungsprüfung2. Wo diese Prüfung die Verfahrenseröffnung verhindert, kann Abhilfe nur auf der Sanktionsseite erwartet werden:

23.20

– Die – leider nicht immer hinlänglich funktionierende – Strafjustiz muss die generalpräventive Aufgabe der in § 15a Abs. 4, 5 InsO enthaltenen Strafdrohung ernst nehmen. – Jedenfalls Neugläubiger sollten bei Masselosigkeit Schadensersatzforderungen wegen Insolvenzverschleppung geltend machen (Rz. 38.18 ff.). – Beträchtliche präventive Wirkung könnte bei aller juristischen Bedenklichkeit die scharfe Praxis des BGH zu dem gegenwärtigen § 15b InsO (vormals § 64 GmbHG a.F.) haben, und zwar einschließlich der Befugnis jedes Gläubigers, diesen Anspruch bei Masselosigkeit zu pfänden3. – Bei der Abwicklung der Gesellschaft in Fällen der Masselosigkeit sollten die Liquidatoren auf den Grundsatz der par condicio creditorum eingeschworen werden4: Es geht nicht an, die Verteilung des Restvermögens wieder der Willkür der Geschäftsführer als Liquidatoren (§ 66 GmbHG) zu überlassen, wenn der Vermögensverfall der Gesellschaft über den Eintritt der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit hinaus bis zur Masselosigkeit gediehen ist. Wer diese Maxime als Liquidator nicht beachtet, muss mit einer Inanspruchnahme auf Schadensersatz rechnen. Die Funktionslosigkeit des Insolvenzverfahrens aufgrund eines Übermaßes an masselosen Gesellschaftsinsolvenzen ist kein Naturgesetz. Die rechtstatsächliche Entwicklung lässt einen deutlichen Rückgang der Fälle der Masselosigkeit erkennen5. Es ist nicht auszuschließen,

1

2 3 4 5

Rz. 21 ff., 25 ff.; Foerste, ZInsO 2012, 532; Karsten Schmidt, NJW, 2011, 1255; Pape, ZInsO 2011, 1038; Franc Zimmermann, ZInsO 2012, 396. Karsten Schmidt in VGR (Hrsg.), Die GmbH-Reform in der Diskussion, 2006, S. 143, 163, 168; Karsten Schmidt, NJW 2011, 1255, 1257 ff.; der Einwand, dass die Geschäftsführer so viel nicht haben (Burgard/Gundlach, ZIP 2006, 1568, 1571), greift zu kurz, weil er die Präventionswirkung dieses Kostenrisikos vernachlässigt. Für weitgehende Einbeziehung der nach §§ 92, 93 InsO einklagbaren Forderungen Budde, Die Haftungsverwirklichung in der masselosen Insolvenz der Kapitalgesellschaft, 2006, S. 68 ff. BGH v. 11.9.2000 – II ZR 370/99, GmbHR 2000, 1149 = ZIP 2000, 1896; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 38; dazu Karsten Schmidt, GmbHR 2000, 1225. Dazu Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 38; sympathisierend Uhlenbruck, ZIP 1996, 1646; Vallender, NZG 1998, 250 f.; krit. J. Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 1191. Im Jahr 2007 dürfte die Zahl der eröffneten Verfahren bei Unternehmensinsolvenzen bei etwa 50 % gelegen haben (vgl. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 26 InsO Rz. 2; s. auch Haarmeyer/Beck,

Karsten Schmidt | 747

23.21

§ 23 Rz. 23.21 | 6. Teil Abweisung mangels Masse

dass eine scharfe Praxis zur Insolvenzverschleppungshaftung (Rz. 38.18 ff.) sowie eine Erhöhung der Strafbarkeitsrisiken hierzu beigetragen hat.

23.22

b) Rechtspolitisch wurde eine Insolvenz-Pflichtversicherung vorgeschlagen, in die alle Gewerbetreibenden einzuzahlen hätten und die die fehlende Kostendeckung noch während des eröffneten Insolvenzverfahrens im Umfang des § 54 InsO ausgleichen solle1. Dieser Vorschlag überzeugt nicht. Er setzt, indem er die Insolvenzverwaltungsvergütung sozialisiert, falsche Anreize. Auch ist der Kreis der in einem solchen Feuerwehrfonds Zwangszuversichernden inhomogen und kaum überzeugend abzugrenzen (warum alle Gewerbetreibenden und warum nur Gewerbetreibende und nicht auch Freiberufler sowie gemeinnützige Körperschaften und Stiftungen?).

23.23

Nochmals sei deshalb an die rechtspolitische Radikallösung erinnert, die vor Jahrzehnten von Wolf Schulz vorgelegt wurde (Rz. 23.7)2. Sie besteht darin, in Fällen der Masselosigkeit von Gesellschaften eine Art staatliche „Insolvenzkostenhilfe“ zu gewähren, mit deren Hilfe ein obligatorischer Notliquidator zu bestellen wäre, der die Gesellschaft nach Insolvenzrechtsgrundsätzen abwickelt. Dieser Gedanke hat sich rechtspolitisch nicht durchzusetzen vermocht3. Er ist unpopulär, wirkt auf den ersten Blick sogar bizarr: Verwendung von Steuermitteln für die Abwicklung maroder Gesellschaften? Umso mehr seien folgende Hinweise wiederholt4: Es geht bei dem Vorschlag nicht um eine Subventionierung masseloser Gesellschaften oder ihrer Gläubiger. Die gesamt- und einzelwirtschaftlichen Schäden masseloser Insolvenzen (Steuerausfälle mitgerechnet) sind so hoch einzuschätzen, die durch Nichtgeltendmachung gesellschaftsrechtlicher Haftungsansprüche entstehenden Insolvenzausfälle so gravierend, die generalpräventiven Wirkungen von Insolvenzausfallprozessen so bedeutsam, dass eine Vorfinanzierung masseloser Insolvenzen eine volkswirtschaftlich sinnvolle Investition sein könnte, vor allem im Vergleich mit den Millionenbeträgen, mit denen jedes Bundesland durch Kleininsolvenzen und durch die Prozesskostenhilfe in Zivilprozessen belastet ist. Der Insolvenzkostenvorschuss bei masselosen Insolvenzen wäre auch kein verlorenes Geld. Was in Fällen der sog. Masselosigkeit fehlt, ist häufig nicht Gesellschaftsvermögen, sondern Liquidität. Werthaltige Ansprüche, die für die Gläubigerbefriedigung liquide gemacht werden sollten, liegen brach. Durch Insolvenzverwalterklagen aus § 31 GmbHG, § 43 GmbHG und wegen Verfahrensverschleppung (§§ 15a, 15b, § 92 InsO), evtl. auch wegen Existenzvernichtungshaftung der Gesellschafter könnte ein erheblicher Teil der Insolvenzkostenhilfe mit Hilfe von Haftungsprozessen wieder hereingeholt werden. Aus diesen Mitteln wäre vorrangig der Staatsvorschuss zurückzuerstatten. Auch würden volkswirtschaftliche Schäden großen Ausmaßes vermieden, wenn Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH wüssten, dass sie solchen Haftungsprozessen nicht entrinnen können, indem sie die Gesellschaft über die Insolvenzreife hinaus bis zur Masselosigkeit fortführen und sodann das Restvermögen selbst verwerten.

1 2 3

4

ZInsO 2007, 1065, 1066); in den Jahren 2019-2021 lag die Eröffnungsquote bei Unternehmensinsolvenzen durchgehend um 70 % (vgl. die Angaben des Statistischen Bundesamts, Fachserie 2, Reihe 4.1, Ausgaben 12/2019, 12/2020, 12/2021, jeweils S. 11). Burgard/Gundlach, ZIP 2006, 1568 ff. Schulz, Die masselose Liquidation der GmbH, 1986, S. 106 ff.; dazu auch Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 329 f.; Scheller in Scholz, 12. Aufl., § 60 GmbHG Rz. 39; s. auch Konzen in FS Ulmer, 2003, S. 346 f. Vgl. nur Buchner, Amtslöschung, Nachtragsliquidation und masselose Insolvenz von Kapitalgesellschaften, 1988, S. 48 ff., 58 ff., 65 ff.; Haas in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 302 ff.; Heller, Die vermögenslose GmbH, 1989, S. 150 ff.; J. Uhlenbruck in Kölner Schrift zur InsO, S. 1191; Uhlenbruck, ZIP 1993, 241; Burgard/Gundlach, ZIP 2006, 1568, 1571. Karsten Schmidt, ZHR 157 (1993), 321 f.; zuvor Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 188 ff.; Karsten Schmidt, KTS 1988, 16 ff.

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7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung I. Das Verhältnis von Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht 1. Schulenstreit oder Sachproblem? a) Das Verhältnis von Insolvenzrecht und Gesellschaftsrecht war über lange Zeit hinweg durch Unterlassungssünden der Rechtswissenschaft geprägt: Das traditionelle Konkursrecht wurde in Deutschland – anders als in anderen Ländern – zur Domäne der Prozessrechtswissenschaft. Diese begriff das Konkursrecht exekutorisch – als reines Gesamtvollstreckungsrecht1 – und befasste sich mit wenigen Ausnahmen2 nicht mit den für die Praxis besonders bedeutsamen Fragen der Gesellschaftsinsolvenz. Die Gesellschaftsrechtsliteratur ihrerseits begnügte sich überwiegend damit, die Eröffnung des Gesellschaftskonkurses unter den Auflösungsgründen aufzuzählen. Eine wissenschaftliche Entwicklung des Unternehmensinsolvenzrechts ließ auf diese Weise lange auf sich warten3. Als die Aufmerksamkeit auf diesen Tatbestand gelenkt wurde4, nahm die akademische Insolvenzrechtsliteratur dies zunächst als einen Versuch wahr, dem Prozessrecht seinen Rang streitig zu machen5. Es geht jedoch nicht um einen Schulenstreit zwischen Rechtsdisziplinen, nicht um akademische Eifersüchteleien, sondern um eine Hinwendung der Insolvenzrechtsliteratur zu den Problemen der Praxis und um Sachfragen der Unternehmensinsolvenz. Doch im Lauf der Jahrzehnte hat sich die Szene beruhigt6. Das Recht der Unternehmensinsolvenz ist zum Gegenstand einer anerkannten Literaturgattung geworden7 und hat Eingang in die Kommentierungen sowohl des Insolvenzrechts als 1 Nachweise bei Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 10. Aufl. 2020, Rz. 160. 2 Hervorhebung verdient die Kommentierung der §§ 207 ff. KO durch Friedrich Weber in der 8. Auflage des Jaeger’schen Kommentars. 3 Den Blick auf die Betriebswirtschaftslehre richtete allerdings bereits Wilhelm Uhlenbruck. 4 Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 19 ff.; Karsten Schmidt, KTS 1988, 1 ff. 5 Vgl. Henckel in FS Merz, 1992, S. 157 ff. 6 Charakteristisch Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 1.08. 7 Vgl. nur die Publikationen von Acher (Vertragskonzern und Insolvenz, 1987); Ampferl (Der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter in der Unternehmensinsolvenz, 2002); Berthold (Unternehmensverträge in der Insolvenz, 2004), Braun/Uhlenbruck (Unternehmensinsolvenz, 1997); Brünkmans (Die Koordinierung von Insolvenzverfahren konzernverbundener Unternehmen, 2009); Burkert (Der Debt-to-Equity-Swap im Spannungsverhältnis von Gesellschafts- und Insolvenzrecht, 2014); Buth/Hermanns (Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022); Ehricke (Das abhängige Konzernunternehmen in der Insolvenz, 1998); Fink (Maßnahmen des Verwalters zur Finanzierung in der Unternehmensinsolvenz, 1998); Finke (Kollision von Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht: die Organkompetenzen der Aktiengesellschaft in Eigenverwaltung, 2011); Fleischer (Finanzplankredite und Eigenkapitalersatz im GmbH-Recht, 1995); Götker (Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999); Haas (in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 89;

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24.1

§ 24 Rz. 24.1 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

auch des Gesellschaftsrechts. Dieser seit Jahrzehnten fortschreitende Sinnwandel1 ist für die Unternehmens- und Insolvenzrechtspraxis von prägender Bedeutung. Aber noch längst sind nicht alle Fragen geklärt.

24.2

b) Drei Reformgesetze haben das Verhältnis zwischen dem Insolvenzrecht und dem Gesellschaftsrecht maßgeblich verändert: das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) von 2008, das am 1.3.2012 in Kraft getretene Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) und das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) vom 22.12.2020. Das MoMiG hat namentlich das Recht der Insolvenzverschleppung neu geordnet und redaktionell der Insolvenzordnung zugewiesen (§ 15a InsO) sowie das vormalige Eigenkapitalersatzrecht (insbesondere §§ 32a, 32b GmbHG a.F.) durch ein rein insolvenzrechtliches Regime der Gesellschafter-Fremdfinanzierung ersetzt (§ 39 Abs. 1 Nr. 5, §§ 44a, 135 InsO)2. Das ESUG hat zu tiefen Einschnitten in das Recht der Unternehmensinsolvenz geführt, namentlich durch die Einführung des Schutzschirmverfahrens (§ 270b InsO), durch sonstige Veränderungen im Verfahren der Eigenverwaltung (z.B. § 276a InsO) und durch gesellschaftsrechtlich relevante Änderungen des Insolvenzplanverfahrens (vgl. namentlich §§ 225a, 238a, 245 Abs. 3, §§ 246a, 254 Abs. 4 InsO)3. Das SanInsFoG schließlich hat dem Insolvenzverfahren nicht nur ein vor-insolvenzliches Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungskonzept zur Seite gestellt (zu dem im SanInsFoG enthaltenen StaRUG vgl. namentlich Rz. 10.1 ff.); es hat auch die Aufteilung des gesellschafts- und insolvenzrechtlichen Regimes in verschiedener Hinsicht bereinigt und die Fachliteratur in Erwartung künftig praktischer Relevanz inspiriert4.

2. Organisationsrecht 24.3

a) Man muss sich darüber klar sein, dass sich die gesellschaftsrechtlichen Organisations-, Finanzierungs- und Haftungsregeln und das Insolvenzrecht im eröffneten Insolvenzverfahren auf sachbedingte Weise ergänzen und wechselseitig durchdringen. Die Insolvenzverfahrenseröffnung hat nachhaltige Auswirkungen auf Zuständigkeiten und finanziellen Abläufe in der Gesell-

1 2 3 4

Haas/Kolmann/Kürz, ebd., § 91; Haas/Mock, ebd., § 94; Mock, ebd., §§ 91–93); Jungmann (Grundpfandgläubiger und Unternehmensinsolvenz, 2004); Kesseler (Das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Partnerschaftsgesellschaft, 2003); Kübler (Handbuch Restrukturierung in der Insolvenz, 3. Aufl. 2018); H.-F. Müller (Der Verband in der Insolvenz, 2002); Noack (Der Aufsichtsrat in der Insolvenz der Kapitalgesellschaft, 2003); Rittscher (Cash-Management-Systeme in der Insolvenz, 2007); Rotstegge (Konzerninsolvenz – Die verfahrensrechtliche Behandlung von verbundenen Unternehmen nach der Insolvenzordnung, 2007); Karsten Schmidt (in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 1199 ff.); Stephan Schneider (Gesellschafter-Stimmpflichten bei Sanierungen, 2014); Patrick Schulz (Der Debt Equity Swap in der Insolvenz, 2015); Specovius/von Wilken (in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 95); Terbrack (Die Insolvenz der eingetragenen Genossenschaft, 2002); Thole (Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, 3. Aufl. 2020); Uhlenbruck (in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl. 2000, S. 1157 ff.); Walker (Die GmbH-Stammeinlageforderung in der Insolvenz, 2004); Wilms (Die englische Ltd. in deutscher Insolvenz, 2006). Vgl. nur Karsten Schmidt, KTS 1988, 1 ff. und 2001, 373 ff. Überblick bei Goette/Habersack, Das MoMiG in Wissenschaft und Praxis, 2009. Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, 2010; Willemsen/Rechel, Kommentar zum ESUG, 2012. Vgl. Braun, StaRUG, 2021; Flöther, StaRUG, 2021; Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 5. Aufl. 2022; Jacoby/Thole, Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz, 2022; Morgen, StaRUG, 2021; Pannen/Riedemann/Smid, StaRUG, 2021; Seibt/Westpfahl, StaRUG, 2023; Stürner/Eidenmüller/Schoppmeyer/Madaus, StaRUG (= Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung Band V), 2023.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.11 § 24

schaft, so wie umgekehrt die Insolvenzabwicklung auch bei der Anwendung von Regeln der Insolvenzordnung nicht davon unberührt bleibt, dass die Schuldnerin eine GmbH bzw. GmbH & Co. KG ist. Die gläubigerorientierte Verfahrens- und Exekutionsseite der Insolvenzabwicklung, in der deutschen Literatur früher stark überbetont, spielt daneben nur eine dienende Rolle. Insbesondere der Insolvenzverwalter (oder Sachwalter) steht in der Gesellschaftsinsolvenz im Schnittfeld zwischen der insolvenzrechtlichen und der gesellschaftsrechtlichen Organisation. Der Verfasser dieses Textes ordnet den Insolvenzverwalter unkonventionell als Gesellschaftsorgan, nämlich als obligatorischen Drittliquidator der Gesellschaft, und zugleich als Organ des Insolvenzverfahrens ein1. Um Theorie kann es hier nicht gehen, wohl aber um Wirkungsmechanismen zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht. b) Eine Hauptfrage lautet: Inwieweit tritt der Insolvenzverwalter organisationsrechtlich an die Stelle der Geschäftsführer? Folgende Themenbereiche stehen im Mittelpunkt:

24.4

– Wie verhalten sich Insolvenzverwalterbefugnisse und Geschäftsführerbefugnisse zueinander?

– Inwieweit bestehen korporative Gesellschafterrechte, insbesondere die Befugnisse der Gesellschafterversammlung, fort? Können der von den Organen des Insolvenzverfahrens (Insolvenzverwalter, Gläubigerversammlung, Gläubigerausschuss) beherrschte „Gläubigerbereich“ und der korporative „Gesellschafterbereich“ (Gesellschafterversammlung, Geschäftsführung) klar voneinander getrennt werden? – Können die Gesellschafter ihr Informationsrecht (§ 51a GmbHG) im eröffneten Insolvenzverfahren statt gegenüber dem Geschäftsführer gegenüber dem Insolvenzverwalter ausüben2? Einzelne Gerichte haben dies bereits bejaht3. Diese Auffassung verdient Beifall, soweit es um betriebsbezogenes „Insolvenzverwalterwissen“ geht. Auch das Verständnis der Eigenverwaltung durch die Organe der insolventen Handelsgesellschaft und ihr Verhältnis zum Sachwalter wirft nicht zuletzt seit dem Inkraftttreten des ESUG Abgrenzungsfragen auf (vgl. Rz. 35.188). Einstweilen frei.

24.5–24.10

II. Die Gesellschaft als Rechtsträgerin und als Organisation 1. Auflösung und Organisation der Gesellschaft im Regelinsolvenzverfahren a) Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird die GmbH oder GmbH & Co. KG aufgelöst (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG, § 131 Abs. 1 Nr. 3 bzw. § 138 Abs. 1 Nr. 2 HGB n.F. i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB). Die Gesellschafter können die Fortsetzung der Gesellschaft beschließen, 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 326 f.; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 107 ff.; Scholz/Karsten Schmidt, 9. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 60; abwartend jetzt Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 175 f. 2 Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 198; Karsten Schmidt in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 51a GmbHG Rz. 16; Robrecht, GmbHR 2002, 692 ff.; Bruns/Heese, KTS 2006, 72, 78 ff. 3 OLG Hamm v. 25.10.2001 – 15 W 118/01, GmbHR 2002, 163 = NJW-RR 2002, 1396; OLG Zweibrücken v. 7.9.2006 – 3 W 122/06, GmbHR 2006, 1272 = ZIP 2006, 2047 zu § 166 Abs. 3 HGB; LG Wuppertal v. 10.12.2002 – 11 O 121/00, NJW-RR 2003, 332; einschr. BayObLG v. 8.4.2005 – 3 Z BR 246/04, GmbHR 2005, 1360, 1362 = ZIP 2005, 1087, 1089 = KTS 2006, 68, 70 f., m. abl. Anm. Bruns/Heese (nicht für Vorkommnisse nach Verfahrenseröffnung).

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24.11

§ 24 Rz. 24.11 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

wenn das Verfahren auf Antrag des Schuldners eingestellt wird (§§ 212 f. InsO) oder wenn das Insolvenzgericht einen Insolvenzplan bestätigt (§ 248 InsO), der den Fortbestand der Gesellschaft vorsieht (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG bzw. § 144 HGB [§ 142 HGB n.F.] i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB)1. Die aufgelöste Gesellschaft besteht – auch im Fall ihrer Auflösung durch Insolvenzverfahrenseröffnung – als Rechtsträgerin fort: Sie bleibt Inhaberin des Gesellschaftsvermögens (der Insolvenzmasse), Gläubigerin der dazugehörigen Ansprüche, Schuldnerin ihrer Verbindlichkeiten, Trägerin des von ihr – jedenfalls einstweilen – betriebenen Unternehmens, Arbeitgeberin usw. Allerdings wird die Insolvenzverfahrenseröffnung in das Handelsregister, das Grundbuch und in das Register für Schiffe und Luftfahrzeuge eingetragen (§§ 31 ff. InsO). Nach herkömmlicher Auffassung ändert sich mit der Auflösung und damit auch mit der Insolvenzverfahrenseröffnung der Gesellschaftszweck2. Dem ist nicht zu folgen3: Zu unterscheiden ist zwischen den Zwecken des Insolvenzverfahrens (§ 1 InsO) und dem Gesellschaftszweck der GmbH bzw. GmbH & Co. KG als Rechtsträgerin und ggf. Insolvenzschuldnerin. Der Gesellschaftszweck bleibt als Verbandszweck unverändert; nur seine Verwirklichung wird durch den Zweck des Insolvenzverfahrens (Rz. 13.1) überlagert. Die herkömmlich entgegenstehende Sichtweise resultiert aus einer veralteten, den Insolvenzverfahrenszweck und den korporativen Zweck der insolventen Gesellschaft unzulässig vermischenden Doktrin, die den durch Insolvenzverfahrenseröffnung aufgelösten Rechtsträger GmbH als Subjekt und als satzungsmäßige Organisation nicht ernst nahm4.

24.12

b) Die Gesellschaft als Rechtsträgerin unterliegt ungeachtet der Insolvenzverfahrenseröffnung einer sich aus dem Gesellschaftsrecht und aus der Satzung (dem Gesellschaftsvertrag) ergebenden Verfassung. Die Gesellschaftsorgane – Gesellschafter, Geschäftsführer und ggf. ein Aufsichtsrat oder Beirat – bestehen als Elemente der gesellschaftsrechtlichen Organisation fort5, wenn auch nicht mit unveränderten Rechten und Pflichten. Sofern nicht ein Insolvenzplanverfahren betrieben wird (dazu Rz. 31.1 ff.), entscheiden die Gesellschafter weiterhin allein über Satzungsänderungen, Kapitalmaßnahmen oder Umwandlungen. Der Insolvenzverwalter und die Gläubiger haben hierauf keinen direkten Einfluss. Auch für Firmenänderungen hat der BGH im Jahr 2019 in diesem Sinne entschieden: Nur die Gesellschafter sind für die Änderung einer satzungsmäßigen Gesellschaftsfirma zuständig: dem über die Insolvenzmasse verfügungsberechtigten Insolvenzverwalter steht diese Befugnis nach der Ansicht des BGH nicht zu (dazu auch Rz. 24.13)6. Unzulässig und unwirksam sind allerdings Gesellschafterbeschlüsse, die in die Masse (§ 35 InsO) und damit in die Verfügungsbefugnis des Verwalters (§ 80 InsO) eingreifen. Das gilt vor allem für die Firmenänderung, die unter dem Regime des Insolvenzverfahrens schwierige Streitfragen aufwirft. Zwar können die Gesell1 Dazu Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 114 f.; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 144 HGB Rz. 8 ff. 2 Vgl. statt vieler Altmeppen, § 60 GmbHG Rz. 60; Grunewald, Gesellschaftsrecht, 11. Aufl. 2020, § 13 Rz. 210. 3 Vgl. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 313; Karsten Schmidt in Scholz, 10. Aufl., § 69 GmbHG Rz. 3 (vermittelnd jetzt Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, 12. Aufl. 2021, § 69 GmbHG Rz. 3); Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, § 145 HGB Rz. 28 ff. 4 Zur Überwindung dieses Konzepts vgl. Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 99 ff. 5 Vgl. BGH v. 18.12.1980 – II ZR 140/79, KTS 1981, 234, 235 = AG 1981, 223; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 203 ff.; Uwe H. Schneider/Seyfarth in Scholz, 12. Aufl., § 52 GmbHG Rz. 682 ff.; a.M. Wolf Schulz, KTS 1986, 389 ff. 6 BGH v. 26.11.2019 – II ZB 21/17, BGHZ 224, 72 = AG 2020, 2015 = JZ 2020, 513 m. Anm. Karsten Schmidt = NJW-RR 2020, 431 = NZG 2020, 223 = ZIP 2020, 266; a.M. Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 185a; Priester/Tebben in Scholz, 12. Aufl., § 53 GmbHG Rz. 129a; Priester, EWiR 2020, 103.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.13 § 24

schafter, wenn das Unternehmen mit Firma veräußert wird, für die noch bestehende Gesellschaft eine Ersatzfirma bilden (die Zuständigkeit des Verwalters hierfür ist lediglich subsidiär) (s. auch Rz. 25.123)1, ebenso, wenn der Verwalter einer Änderung zustimmt2. Sie können aber die Firma der insolventen Gesellschaft, die als Massebestandteil gilt (Rz. 24.22), der Masse nicht gegen den Willen des Verwalters durch Firmenänderung entziehen3. Auch die Geschäftsführer bleiben ungeachtet der Insolvenzverfahrenseröffnung im Amt (Rz. 25.123)4. Für ihre Abberufung und Berufung bleiben die Gesellschafter zuständig (§ 46 Nr. 5 GmbHG). Selbst ihr Dienstverhältnis endet nicht automatisch. Es belastet allerdings die Masse und kann nach § 113 InsO gekündigt werden5. Im insolvenzrechtlichen Regelverfahren hat die GmbH als Schuldnerin Rechte und Pflichten, für deren Wahrnehmung ihre Organe zuständig sind. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Insolvenzverwalter und Geschäftsführer ist bei Rz. 25.81 ff. dargestellt. Auch ein etwa vorhandener Aufsichtsrat bleibt vorbehaltlich seiner Abberufung oder seines Rücktritts mit reduzierten Aufgaben im Amt6. Gegenüber dem Insolvenzverwalter hat der Aufsichtsrat dagegen nicht die gegenüber der Geschäftsführung bestehenden Rechte. Auch Vorlagepflichten der Geschäftsführer gegenüber der Gesellschafterversammlung und dem Aufsichtsrat gelten nicht für den Insolvenzverwalter. c) Bezüglich der Zuständigkeit des Verwalters für Fortführung, Einstellung oder Veräußerung des Unternehmens geht es dagegen in erster Linie um das Verhältnis des Verwalters zum Gläubigerausschuss. Dessen Zustimmung muss der Verwalter vor dem Vollzug einer Maßnahme von besonderer Bedeutung einholen (§ 160 Abs. 1 InsO), insbesondere vor einer Unternehmensveräußerung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 InsO). Vor dem Berichtstermin und vor der Verständigung mit dem Gläubigerausschuss muss er unter Umständen auch die Schuldnerin unterrichten, wenn er das Unternehmen stilllegen oder veräußern will (§ 158 InsO)7. Für die Veräußerung an Insider gilt die besondere Zustimmungsregelung des § 162 InsO. Nach näherer Maßgabe dieser Bestimmung muss der Verwalter die Zustimmung sogar der Gläubigerversammlung einholen. Diese Fragen sind vor allem bei der übertragenden Sanierung im Insolvenzverfahren von Bedeutung (Rz. 24.171)8. In der Praxis versteht sich eine ständige Fühlungnahme mit den Geschäftsführern als Gebot des Common Sense von selbst.

1 Nachweise bei Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 359. 2 OLG Karlsruhe v. 8.1.1993 – 4 W 28/92, ZIP 1993, 133, 134 = GmbHR 1993, 101; Haas/Kolmann/ Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 359; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 197. 3 OLG Karlsruhe v. 8.1.1993 – 4 W 28/92, ZIP 1993, 133, 134 = GmbHR 1993, 101; Haas/Kolmann/ Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 359; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 197. 4 Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 320; Grüneberg, Die Rechtspositionen der Organe der GmbH und des Betriebsrates im Konkurs, 1988; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 200. 5 Vgl. nur Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 321 ff.; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 200; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, § 113 InsO Rz. 10; vgl. zum früheren § 22 KO BGH v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, BGHZ 79, 291 = GmbHR 1981, 1270 = ZIP 1981, 367; Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, 17. Aufl. 1997, § 22 KO (§ 113 InsO) Anm. 3c; Kuhn/Uhlenbruck, KO, 11. Aufl. 1994, § 22 KO Rz. 5. 6 Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 361; H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 148 ff.; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 203. 7 Die Vorschrift wurde geändert durch Gesetz vom 1.7.2007. 8 Zu § 162 InsO in diesem Zusammenhang vgl. besonders Falk/Schäfer, ZIP 2004, 1337, 1339 ff.

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24.13

§ 24 Rz. 24.14 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

2. Veränderte Zuständigkeitsordnung bei Eigenverwaltung und im Insolvenzplanverfahren 24.14

a) Die hier skizzierte Organisation der insolventen Gesellschaft im Regelinsolvenzverfahren erfährt eine erhebliche Änderung, wenn nach §§ 270 ff. InsO die Eigenverwaltung durch die Geschäftsführung unter der Aufsicht eines Sachwalters angeordnet ist (dazu im Einzelnen Rz. 35.6 ff.). Gerade im Bereich der Gesellschaftsinsolvenzen hat die Bedeutung der Eigenverwaltung seit dem ESUG signifikant zugenommen. Die korporativen Zuständigkeiten der Gesellschafter – z.B. für Satzungsänderungen und Kapitalmaßnahmen – bleiben im Kern auch hier bestehen. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben durch die Geschäftsführung entfallen allerdings die Aufsichts- und Weisungsrechte der Gesellschafter (§ 276a InsO).

24.15

b) Im Insolvenzplanverfahren kann seit 2012 unter Einschluss der Gesellschafter auch über gesellschaftsrechtlich zulässige Maßnahmen entschieden werden (§ 225a InsO und dazu Rz. 31.29). Diese Prozedur ersetzt die aus gesellschafts- und insolvenzrechtlichen Elementen zusammengefasste Technik eines bedingten Insolvenzplans (§ 249 InsO) insbesondere bei Kapitalmaßnahmen (Rz. 32.101). Der bedingte Insolvenzplan lässt eine rein insolvenzrechtliche Entscheidung zu, deren Wirksamwerden von einer rein gesellschaftsrechtlichen Maßnahme abhängt. Diese etwas akademische Aufgabentrennung ließ dem Gesellschaftsrecht, was des Gesellschaftsrechts ist. Doch das Konzept erscheint vor dem Hintergrund des § 225a InsO als ein zögerlicher Schritt der Insolvenzrechtsreform, und es verwundert nicht, dass die Praxis diesem Konzept die kalte Schulter gezeigt hat.

24.16–24.20

Einstweilen frei.

III. Die Insolvenzmasse 1. Grundlagen 24.21

a) Insolvenzmasse ist nach § 35 InsO das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Verfahrenseröffnung gehört und das er während der Verfahrenseröffnung erlangt. Im Gegensatz zum früheren § 1 KO beschränkt § 35 InsO den Begriff der Insolvenzmasse nicht auf das im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung vorhandene Schuldnervermögen. Beendet ist damit die bei Unternehmen unsachgemäße1 Diskussion um die Massezugehörigkeit des nachträglichen Hinzuerwerbs2. Nach § 35 InsO gehört auch das, was der insolventen GmbH nachträglich zufließt oder durch Rechtsgeschäft des Verwalters als Recht der Schuldner-GmbH begründet wird, in die Masse3. Vor allem beim Umlaufvermögen ist diese Sichtweise unerlässlich.

24.22

aa) Bestandteile der Masse sind vor allem: – das Sachvermögen der Gesellschaft (Immobiliar- und Mobiliarvermögen)4, einschließlich etwaigen Auslandsvermögens5, 1 Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, 17. Aufl. 1997, § 1 KO Anm. 3 D; eingehend Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 69 ff. 2 Dazu etwa Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. 1994, § 1 KO Rz. 94 ff. 3 Statt vieler Holzer in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 9 Rz. 3; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 43 ff. 4 Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 35 InsO Rz. 122 ff.; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 166. 5 Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 16 ff.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.24 § 24

– die der Gesellschaft zustehenden Forderungen aus dem Gesellschaftsverhältnis, z.B. auf ausstehende Einlagen (§§ 5, 7, 9, 19 GmbHG), auf Rückerstattung unerlaubter Ausschüttungen (§ 31 GmbHG) und verbotener Zahlungen (§ 15b Abs. 4 InsO, vormals § 64 GmbHG a.F.) oder auf Schadensersatz gegen Geschäftsführer (§ 43 GmbHG), ggf. auch gegen Gesellschafter aus Existenzvernichtungshaftung (Rz. 40.1 ff.)1,

– die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen, soweit Verträge nach §§ 103 ff. InsO erfüllt werden oder vom Insolvenzverwalter abgeschlossen werden2, einschließlich Versicherungen und Forderungen z.B. aus Umsatzsteuervergütungen3, – gesetzliche Ansprüche, z.B. auf Steuerrückerstattung4, – verwertbare immaterielle Güter5, darunter auch Firmen6 und Markenrechte7, – Beteiligungen, insbesondere an Tochtergesellschaften8, – Geschäftsbücher, insbesondere die Buchführungsunterlagen und die Rechnungslegungswerke9. bb) Auch unübertragbare Rechte können zur Masse gehören10. Lehnt man die Existenz massefreien Gesellschaftsvermögens ab (Rz. 24.29), so ist dies nur konsequent. Aber auch nach der h.M. übt der Insolvenzverwalter der Gesellschaft nicht nur deren übertragbare Rechte aus.

24.23

b) aa) Überholt und überflüssig scheint aus heutiger Sicht der Meinungsstreit darüber, ob die aus einer Kapitalerhöhung resultierenden Einlageforderungen und Einlagen in der Insolvenz der Gesellschaft Bestandteile der Insolvenzmasse sind und ob es darauf ankommt, ob der Kapitalerhöhungsbeschluss und die Zeichnungsverträge aus der Zeit vor oder nach der Verfahrenseröffnung stammen11. Unter der Geltung der Insolvenzordnung wurde noch behauptet, solches Neuvermögen sei „konkursfrei“, gehöre also nicht in die Masse12. Aber nach § 35 InsO sind Gesellschaftsvermögen und Masse kongruent. Eine Kapitalerhöhung gegen Einlagen (effek-

24.24

1 Für viele Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 91 Rz. 372 ff., 385 ff., 396 ff. m.w.N.; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 789. 2 Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 35 InsO Rz. 150 ff. 3 Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 39; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 409 ff. 4 Vgl. Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 421. 5 Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 283–330. 6 BGH v. 27.9.1982 – II ZR 51/82, BGHZ 85, 221 = GmbHR 1983, 195 = ZIP 1983, 193 m. Anm. Wolf Schulz (GmbH); BGH v. 14.12.1989 – I ZR 17/88, BGHZ 109, 364 = GmbHR 1990, 211 = ZIP 1990, 388 (GmbH & Co. KG); Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 370 f.; Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 20 f.; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 274. 7 Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 388 ff.; Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 37 f. 8 Vgl. etwa Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 35 InsO Rz. 137 ff.; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 194 ff.; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 256 ff.; Ries in Kayser/Thole, § 35 InsO Rz. 25 ff. 9 Vgl. Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 63; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 150. 10 Im Ausgangspunkt a.M. Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 409 m.w.N. 11 Überblick bei Kuntz, DStR 2006, 519 f.; eingehend H.-F. Müller, ZGR 2004, 842, 845 ff.; der Text folgt den auf die AG bezogenen Ausführungen des Verf. in AG 2006, 597, 604. 12 Vgl. nur Schlitt, NZG 1998, 701, 755 f.

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§ 24 Rz. 24.24 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

tive Kapitalerhöhung), in der älteren Gerichtspraxis als konkurszweckwidrig abgelehnt1, wird heute mit Selbstverständlichkeit im eröffneten Verfahren zugelassen (Rz. 35.168). Seit 2012 kann sie sogar Bestandteil eines Insolvenzplans sein (vgl. § 225a InsO). Die Inanspruchnahme der aus Kapitalerhöhungen stammenden Einlagen für die Masse ist durch § 35 InsO gesetzlich geklärt2. Sie wird zwar als Sanierungshemmnis kritisiert, aber diese Kritik ist verfehlt3. Das Sanierungsziel gebietet es nicht, das durch Kapitalerhöhung vermehrte Gesellschaftsvermögen der Insolvenzbefangenheit zu entziehen. Auch bei einer vor der Verfahrenseröffnung beschlossenen Kapitalerhöhung können die Gesellschafter nur durch Verhinderung der Registereintragung etwas daran ändern, dass die Kapitalerhöhung wirksam wird und die Insolvenzmasse mehrt4.

24.25

bb) Nicht durchgesetzt hat sich auch der von Hüffer vorgeschlagene Ausweg, durch die Verbindung der Kapitalerhöhung mit einem bedingten Insolvenzplan (§ 249 InsO) unter Zustimmung der Gläubiger gleichsam eine Sanierungs-Sondermasse zu schaffen, um die neuen Mittel als Liquidität speziell für den Sanierungszweck zu reservieren5. Grundlage von Hüffers Vorschlag war eine teleologische Reduktion des ihm fragwürdig scheinenden § 35 InsO in dem Sinn, dass nach § 217 InsO im Insolvenzplan eine abweichende – nämlich die Insolvenzforderungen vom Zugewinn durch Kapitalerhöhung ausschließende – Verteilung der Masse bestimmt und dann die Kapitalerhöhung im Rahmen eines bedingten Insolvenzplans (§ 249 InsO) von den Gesellschaftern beschlossen werden könnte6. Diese Herauslösung des erhöhten Kapitals aus der zu verteilenden Masse sollte eine „konkursfreie“, also vom Insolvenzbeschlag nicht betroffene Sanierungsmasse herbeiführen. Doch kennt die Insolvenzordnung eine solche Sondermasse nicht. Nach ihr ist das Gesellschaftsvermögen ganzheitlich als Insolvenzmasse zu sehen.

24.26

cc) Eine eher wohl akademische, aber doch zweifelhafte Frage ist, ob auch die nach § 92 InsO (Liquidation eines Gesamtschadens) bzw. nach § 93 InsO (Geltendmachung der Gesellschafterhaftung) vom Insolvenzverwalter zu verfolgenden Ansprüche zur Insolvenzmasse gehören7. Richtigerweise wird dies zu verneinen sein8, denn der Verwalter macht in diesen Fällen Ansprüche der Gesellschaftsgläubiger geltend, die nur um der Gleichbehandlung Willen gebündelt werden, nicht Ansprüche der Gesellschaft9. Ob der Insolvenzverwalter die eingezogenen Beträge dann separat als Sondermasse verwalten muss oder jedenfalls faktisch der Masse zuführen darf, ist eine andere Frage. Im Fall des § 93 InsO ist die Einziehung zur Masse unschädlich, solange nicht Altgesellschafter im Spiel sind, die nicht für alle Verbindlichkeiten haften. Im Fall des § 92 InsO kann der Verwalter in Konsequenz einer hier kritisierten Recht1 Vgl. noch RG v. 20.10.1911 – II 68/11, RGZ 77, 152, 155; RG v. 26.6.1914 – II 109/14, RGZ 85, 205, 207 f.; OLG Bremen v. 5.7.1957 – 1 U 351/56, NJW 1957, 1560 f.; OLG Hamm v. 19.3.1979 – 8 U 151/78, AG 1981, 53 (zur GmbH). 2 Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 121; ausführlich H.-F. Müller, ZGR 2004, 842, 845 ff. 3 Vgl. Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 604 (betr. AG). 4 BGH v. 7.11.1994 – II ZR 248/93, AG 1995, 133 = GmbHR 1995, 113 = DStR 1995, 498 m. Anm. Goette; OLG Düsseldorf v. 17.12.1999 – 16 U 29/99, GmbHR 2000, 569 = ZIP 1995, 28; KG v. 19.7.1999 – 23 U 3401/97, NZG 2000, 103, 104; Priester in Scholz, § 55 GmbHG Rz. 33; krit. m.w.N. Haas/Holmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 376. 5 Dagegen jetzt Koch, 16. Aufl. 2022, § 182 AktG Rz. 32a; distanziert hier schon die 4. Aufl., Rz. 7.15; Karsten Schmidt, AG 2006, 597, 604; Hess in Kölner Kommentar zur Insolvenzordnung, §§ 35, 36 InsO Rz. 533 führt den Vorschlag auf den Verf. zurück. 6 Koch, 16. Aufl. 2022, § 182 AktG Rz. 32b. 7 Dazu Oepen, Massefremde Masse, 1999, Rz. 11. 8 A.M. Wimmer in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 26 Rz. 18 f. 9 Vgl. BGH v. 8.5.2003 – IX ZR 334/01, NJW-RR 2003, 1042, 1044; BGH v. 22.4.2004 – IX ZR 128/ 03, ZIP 2004, 1218, 1220.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.29 § 24

sprechung zu getrennter Verwaltung für die haftungsbegünstigten Gläubiger angehalten sein (dazu vgl. Rz. 38.27). c) Bei öffentlich-rechtlichen Genehmigungen wird üblicherweise zwischen personenbezogenen Erlaubnissen (z.B. der gewerberechtlichen Erlaubnis) und Sachgenehmigungen (z.B. für den Betrieb einer Anlage) unterschieden1. Diese Unterscheidung führt nicht viel weiter2, schon gar nicht bei einer Handelsgesellschaft. Hier kann es nur darum gehen, ob die Erlaubnis unternehmensbezogen ist und trotz Insolvenz fortbesteht, was i.d.R. der Fall ist. Ob sie dann mit dem Betrieb oder der Anlage auf einen Dritten übergehen kann, ist im Fall einer übertragenden Sanierung von Belang (zu dieser Rz. 24.171 ff.). Solange sie der Gesellschaft noch zukommt, gilt sie unter der Leitung des Insolvenzverwalters fort.

24.27

2. Massefreies Gesellschaftsvermögen? a) Umstritten ist, ob es massefreies Gesellschaftsvermögen gibt. Die herrschende Auffassung bejaht diese Frage3. Nach § 36 InsO umfasst die Masse nicht die unpfändbaren Gegenstände mit Ausnahme wiederum der Geschäftsbücher. Die Regelungen über die Unpfändbarkeit (§§ 811, 850 ff. ZPO) sind aber ganz auf natürliche Personen zugeschnitten. Eine Ausnahme für Handelsgesellschaften enthält § 36 InsO nicht. Deshalb ist auch unter der Geltung der Insolvenzordnung immer noch davon die Rede, dass es auch im Insolvenzverfahren der Gesellschaft massefreies Vermögen gibt4. Massefreies Vermögen entsteht bei Handelsgesellschaften nach der herrschenden Auffassung zwar nicht durch Unpfändbarkeit (§ 36 InsO), wohl aber durch Freigabe, also durch Rechtsgeschäft des Insolvenzverwalters (dazu Rz. 24.30 ff.).

24.28

b) Stellungnahme: Nach der hier vertretenen – unter der Geltung der Konkursordnung noch fast einmütig bestrittenen5 – Gegenauffassung gab es schon vor dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung im Gesellschaftskonkurs kein massefreies Vermögen6. Die Begründung war auf die Natur der Sache gestützt sowie darauf, dass die Formulierung des § 1 KO (Rz. 24.21) nicht auf das Abwicklungsverfahren in der Insolvenz einer Gesellschaft, sondern ganz auf das als Gesamtvollstreckung verstandene Konkursverfahren über das Vermögen einer natürlichen Person zugeschnitten war. Dieser gesetzliche Mangel ist, was den Hinzuerwerb anlangt, durch den Wortlaut des § 35 InsO behoben, während § 36 InsO immer noch von der Nicht-Massezuge-

24.29

1 Hirte in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 270; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 511 ff.; Bitter/Laspeyres, ZIP 2010, 1157, 1158 ff. 2 Vgl. auch Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 11. 3 Vgl. nur BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32 = NJW 2005, 2015 = ZIP 2005, 1034; BVerwG v. 22.10.1998 – 7 C 38/97, NJW 1999, 1416; BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, NZI 2005, 51 = NVwZ 2004, 1505; VGH Kassel v. 11.9.2009 – 8 B 1712/09, NJW 2010, 1545; OVG Lüneburg v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, NJW 2010, 1546; Haas/Kohlmann/Kurz in Gottwald/Haas, InsolvenzrechtsHandbuch, § 90 Rz. 369; Schumacher in Münchener Kommentar zur InsO, § 85 InsO Rz. 26 ff. 4 Vgl. nur BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32, 34 f. = ZIP 2005, 1034, 1035; Braun/ Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 73 f.; Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 35 InsO Rz. 69 f.; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 166; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 72; Eickmann in Kayser/Thole, § 35 InsO Rz. 47 f.; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 104 ff.; Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 55. 5 Vgl. nur BGH v. 28.3.1996 – IX ZR 77/95, GmbHR 1996, 462 = NJW 1996, 2035, 2036 = ZIP 1996, 842, 844; unentschieden BGH v. 21.3.1995 – XI ZR 189/94, NJW 1995, 1483, 1484 = ZIP 1995, 659, 660; BVerwG v. 26.9.1996 – 7 C 61/95, ZIP 1996, 1991, 1992. 6 Kilger/Karsten Schmidt, Insolvenzgesetze, 17. Aufl. 1997, § 1 KO Anm. 3 D a; Scholz/Karsten Schmidt, 8. Aufl. 1995, § 63 GmbHG Rz. 54; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 70 f., 99 ff.; zust. OVG Mecklenburg-Vorpommern v. 16.1.1997 – 3 L 94/96, ZIP 1997, 1460.

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§ 24 Rz. 24.29 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

hörigkeit unpfändbarer Gegenstände spricht. Trotzdem ist nach dem Recht der InsO der herrschenden Auffassung noch entschiedener zu widersprechen als nach dem alten Konkursrecht (vgl. Rz. 24.33)1: Das Insolvenzverfahren zielt, wie nicht zuletzt § 199 Satz 2 InsO zeigt, auf Vollabwicklung der Schuldnergesellschaft (vgl. Rz. 13.3; str.)2, macht also – vorbehaltlich einer Verfahrenseinstellung oder Sanierung im Insolvenzplan – die Abwicklung des ungeteilten Gesellschaftsvermögens zur Aufgabe des Insolvenzverwalters. Die Annahme, es gebe massefreies Vermögen, für dessen Verwaltung die Geschäftsführer zuständig seien, ist entgegen der vorerst noch herrschenden Meinung mit den Grundregeln der Gesellschaftsinsolvenz unvereinbar. Insbesondere eine Freigabe aus der Masse ist deshalb entgegen der herrschenden Ansicht im Verfahren der Gesellschaftsinsolvenz nicht anzuerkennen (Rz. 24.33). Vor allem im Problemkreis der Umwelthaftung wird sich diese Überlegung als folgenreich erweisen (vgl. Rz. 24.41 ff.).

3. Die Freigabe von Massegegenständen a) Terminologie 24.30

Die Frage, ob es massefreies Vermögen gibt, hat erhebliche praktische Bedeutung in Bezug auf die Freigabe von Massegegenständen aus der Masse. Die Praxis unterscheidet zwischen der echten Freigabe und Sonderformen der Freigabe. Die echte Freigabe löst den freigegebenen Gegenstand aus dem Insolvenzbeschlag und lässt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners insoweit wieder aufleben. Mit der Freigabe wird der freigegebene Gegenstand massefreies Vermögen. Nur von dieser Variante ist die Rede, wenn darüber gestritten wird, ob es die Freigabe in der Gesellschaftsinsolvenz überhaupt „gibt“. Eine ausdrückliche Regelung fehlt, doch setzt § 32 Abs. 3 InsO die Freigabe aus der Masse als grundsätzlich möglich voraus. Für natürliche Personen als Schuldner ist dies denn auch unbestritten.

24.31

Grundsätzlich anerkannt ist auch die – zulässige – „erkaufte“ Freigabe, d.h. die Freigabe gegen ein vom Schuldner in die Masse zu zahlendes angemessenes Entgelt3. Ein weiterer gesetzlich geregelter Fall der Freigabe ist die sog. Prozessfreigabe (§ 85 Abs. 2 InsO4). Ließe man diese nicht zu, wäre der Verwalter daran gehindert, die Aufnahme eines Aktivprozesses abzulehnen. Die Ablehnung ist notwendig mit der Freigabe verbunden5. Sonderformen der Freigabe, die hier nicht weiterverfolgt werden, sind die „unechte“ und die „modifizierte“ Freigabe. Als „unechte Freigabe“ wird die Freigabe eines in Wahrheit der Freigabe gar nicht bedürftigen, weil ohnedies massefremden Gegenstands bezeichnet6. Dieser Sachverhalt ist nichts anderes als eine vom Insolvenzverwalter konzedierte freiwillige Aussonderung. Auch die Herausgabe an den Schuldner in der Annahme, der Gegenstand sei pfändungs- und deshalb massefrei (§ 36 1 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 325; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 73 ff.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 1 InsO Rz. 14; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1493 f.; Karsten Schmidt, NJW 2012, 344; H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 36 ff.; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, § 35 InsO Rz. 32; Karsten Schmidt, ZGR 1998, 636 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913, 1916 f.; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1493; sympathisierend H.-F. Müller in Jaeger, § 35 InsO Rz. 145 ff. 2 Hiergegen freilich BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 22, 34 = ZIP 2005, 1034; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 167 m.w.N. 3 Vgl. Uhlenbruck, KTS 2004, 275, 279 m.w.N. 4 BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, NZI 2005, 387 = ZIP 2005, 1034. 5 Henckel in FS Kreft, 2004, S. 291, 303/304. 6 Vgl. Adolphsen in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 40 Rz. 3; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 114 f.; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 85; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 86.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.32 § 24

InsO), kann der „unechten Freigabe“ zugeordnet werden: ein bei Privatinsolvenzen sicherlich alltäglicher, aber rechtlich belangloser Fall und vollends kein Thema für die Gesellschaftsinsolvenz. Ganz auf die Insolvenz einer natürlichen Person zugeschnitten ist auch die Freigabe einer gewerblichen Tätigkeit des Schuldners nach § 35 Abs. 2 InsO, die in diesem Werk nicht zu behandeln ist. Unproblematisch ist sodann auch die Freigabe von Sicherungsgut zwecks Verwertung durch den Sicherungsgläubiger (§ 168 Abs. 3 Satz 1 InsO i.V.m. § 170 Abs. InsO). Nicht mit diesen Fragen zu verwechseln ist schließlich die – irreführend sog. – „modifizierte Freigabe“, durch die der Verwalter den Schuldner – im Fall einer GmbH also deren Geschäftsführer – ermächtigt, bestimmte zur Masse gehörige Rechte geltend zu machen1. Diese Ermächtigung ist keine Freigabe der betroffenen Rechte aus der Masse2, sondern eine Art partielle Eigenverwaltung. Sie ist zulässig, sofern dadurch nicht Prozesskostenerstattungsansprüche eines Prozessgegners sittenwidrig vereitelt werden (sonst § 138 BGB)3. Die Ausübung der hiermit auf die Schuldnergesellschaft rückübertragenen Prozessführungsbefugnis setzt ein Eigeninteresse der Gesellschaft an der Prozessführung voraus4. Die geltend zu machenden Ansprüche bleiben Massebestandteile, und die vom Geschäftsführer eingeklagten Beträge fallen ebenso in die Masse, wie zuvor schon die „freigegebenen“ Forderungen dazu gehört haben5.

b) Der Streit um die Zulässigkeit der „echten“ Freigabe Die herrschende Auffassung hält die Freigabe einzelner Gegenstände aus der Masse auch im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer juristischen Person oder Personengesellschaft für möglich6. Hierfür werden im Wesentlichen folgende Gründe angeführt7: Aus dem in § 1 InsO normierten Grundsatz der bestmöglichen Befriedigung folge, dass das Ziel der Vollbeendigung der Gesellschaft im Insolvenzverfahren jedenfalls dort zurücktreten müsse, wo es in Widerspruch zu dem Belangen der Gläubigergesamtheit gerate. Ein rechtlich schutzwürdiges Bedürfnis, dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit der Freigabe einzuräumen, bestehe regelmäßig dort, wo zur Masse Gegenstände gehören, die wertlos sind oder das Gesellschaftsvermögen mit unverhältnismäßigen Kosten belasten. Das berechtigte Interesse der Gläubiger, aus der Masse eine Befriedigung ihrer Ansprüche zu erhalten und deshalb möglichst die Entstehung von Verbindlichkeiten zu vermeiden, die das zur Verteilung zur Verfügung stehende 1 Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 161; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 87 („fiduziarische Freigabe“); Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 102. 2 Missverständlich Holzer in Kübler/Prütting/Bork, § 35 InsO Rz. 26. 3 Vgl. Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 102 a.E. mit Hinweis auf BGH v. 19.3.1987 – III ZR 2/86, BGHZ 100, 217 ff. = ZIP 1987, 793. 4 Vgl. auch hierzu BGH v. 19.3.1987 – III ZR 2/86, BGHZ 100, 217 ff. = ZIP 1987, 793. 5 Vgl. Bäuerle in Braun, § 35 InsO Rz. 20 f. 6 BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32 = ZIP 2005, 1034 = NZI 2005, 387; BGH v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, NZI 2001, 531; BGH v. 7.12 2006 – IX ZR 161/04, NJW-RR 2007, 845, 847 = ZIP 2007, 194, 196; BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, NZI 2005, 51 = NVwZ 2004, 1505; OLG Naumburg v. 1.3.2000 – 5 U 192/99, NZI 2000, 322; OLG Rostock v. 12.10.2000 – 7 U 125/ 99, NZI 2001, 96 = VIZ 2001, 276; VGH Kassel v. 11.9.2009 – 8 B 1712/09, NJW 2010, 1545; OVG Lüneburg v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, NJW 2010, 1546; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 369; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 167; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 72, 305; Lüke in Kübler/Prütting/Bork, § 80 InsO Rz. 9 ff.; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 118 ff.; Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 55; Schumacher in Münchener Kommentar zur InsO, § 85 InsO Rz. 26 ff.; Andres in Nerlich/Römermann, § 36 InsO Rz. 48 ff.; Smid, § 80 InsO Rz. 30; Uhlenbruck, KTS 2004, 275; Henckel in FS Kreft, 2004, S. 291; Lwowski/Tetzlaff, WM 1999, 2336, 2345 ff. 7 Vgl. schon Vallender in der 4. Aufl., Rz. 7.18.

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24.32

§ 24 Rz. 24.32 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Vermögen schmälern, habe im Rahmen der insolvenzrechtlichen Abwicklung unbedingten Vorrang, insbesondere bei wertausschöpfend belasteten oder erheblich kontaminierten Grundstücken1. Es sei mit dem Ziel der Gläubigerbefriedigung nicht zu vereinbaren, Gegenstände, die nur noch geeignet sind, das Schuldnervermögen zu schmälern, allein deshalb in der Masse zu behalten, um eine Vollbeendigung der Gesellschaft zu bewerkstelligen2.

24.33

Richtigerweise ist eine echte Freigabe von Massegegenständen aus der Masse einer Gesellschaft abzulehnen, weil sie mit den Besonderheiten der Unternehmensinsolvenz nicht in Einklang zu bringen ist (vgl. allgemein schon zur Frage des massefreien Vermögens bei insolventen Gesellschaften Rz. 24.29)3. Das gilt unabhängig von der Frage, ob das Ordnungsrecht (früher: Polizeirecht) eine solche Maßnahme als enthaftend anerkennen könnte. Die Zustandsverantwortlichkeit der insolventen Gesellschaft im Insolvenzverfahren wird bei Rz. 24.43 ff. besonders behandelt. Nach der hier vertretenen Auffassung kann die Zustandsverantwortlichkeit der Masse nicht durch Freigabe aus der Masse beendet werden, weil eine solche Freisetzung aus der Masse bzw. der insolventen Gesellschaft rechtlich nicht anzuerkennen ist.

24.34–24.40

Einstweilen frei.

IV. Das Altlastenproblem 24.41

Die umweltrechtliche Verantwortung in der Insolvenz einer Handelsgesellschaft, insbesondere die rechtliche und wirtschaftliche Behandlung der sog. Altlasten, ist zu einer komplizierten Spezialmaterie geworden4. Abgesehen von den schwer übersehbaren öffentlich-rechtlichen Belangen spielt sie auch für die Beurteilung der Befriedigungschancen der Gläubiger eine große Rolle. Hiermit zusammenhängend schlägt sich die schwierige Beurteilung in den Strategien des Insolvenzverwalters nieder. Ihm obliegt die Entscheidung, ob er – jede Zustandshaftung der Gesellschaft auf Kosten der Masse beenden, insbesondere jede Bodenverunreinigung unter Begründung von Masseschulden (§ 55 InsO) beheben bzw. von Spezialunternehmen beheben lassen soll oder – alles tun wird, um diese Last – im Zweifel auf Kosten des Fiskus – von der Masse fern zu halten. Hier wird für die erste dieser Maximen plädiert.

1 BGH v. 21.3.2005 – IX ZR 281/03, NZI 2005, 388. 2 Henckel in FS Kreft, 2004, S. 302 ff.; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 114; Smid, § 80 InsO Rz. 30. 3 Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 73 ff.; zuletzt Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 1 InsO Rz. 14; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1492; zuerst Karsten Schmidt in GS W. Martens, 1987, S. 714 f.; Karsten Schmidt, KTS 1984, 345, 366; Karsten Schmidt, KTS 1988, 1, 6 f.; Karsten Schmidt, ZIP 1997, 1441 ff. 4 Umfassend Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 13.13–13.20; Lüke in Kölner Schrift, 3. Aufl. 2009, § 22; Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002; Henckel in Jaeger, § 38 InsO Rz. 26 ff.; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 88–109; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 64 ff., 72; Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 50–76; Sinz in Uhlenbruck, § 55 InsO Rz. 29 ff.; Mock in Uhlenbruck, § 80 InsO Rz. 245 ff.; dort jeweils umfassende Nachw.; zusammenfassend Vierhaus, ZInsO 2007, 127; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489; Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.43 § 24

1. Abgrenzung des Problems a) Gefahrverursachung nach der Verfahrenseröffnung Unstreitig sind die Fälle, in denen die Ordnungspflicht auf einem Verhalten des Insolvenzverwalters selbst (Handlungshaftung) oder einem nach Insolvenzverfahrenseröffnung entstandenen ordnungswidrigen Zustand (Zustandshaftung) beruht1. Hier gibt es zwar Meinungsverschiedenheiten in der Begründung, doch steht im Ergebnis fest, dass der Verwalter der Ordnungspflicht mit Mitteln der Masse nachkommen muss2. Ob er auch persönlich – gewissermaßen „als Mensch“ – ordnungspflichtig ist3, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Eine Frage des Einzelfalls ist, ob der Verwalter bei der Begründung der Ordnungspflicht pflichtwidrig gehandelt und sich hierdurch nach § 60 InsO schadensersatzpflichtig gemacht hat. Ist dies der Fall, so muss er im Verhältnis zur Masse für die Beseitigungskosten aufkommen. Charakteristisch für die persönliche Ordnungspflicht des Verwalters ist der vom Bundesverwaltungsgerichts im sog. Schmelzhüttenfall von 1998 formulierte Leitsatz4:

24.42

„Führt ein Konkursverwalter eine immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlage des Gemeinschuldners fort, muss er als Betreiber der Anlage Reststoffe auch dann nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG a.F. als Abfälle beseitigen, wenn diese bereits vor Konkurseröffnung im Betrieb angefallen waren.“

b) Gefahrverursachung vor der Verfahrenseröffnung Umstritten ist die ordnungsrechtliche Behandlung derjenigen Fälle, in denen die Ordnungspflicht bereits vor der Verfahrenseröffnung entstanden war. Spezialregelungen sind nicht vorhanden. Neben den allgemeinen ordnungsrechtlichen Bestimmungen spielt aus dem Bundes-Bodenschutzgesetz vor allem dessen § 4 eine Rolle, der auszugsweise mitgeteilt sei: „(1) Jeder, der auf den Boden einwirkt, hat sich so zu verhalten, dass schädliche Bodenveränderungen nicht hervorgerufen werden. (2) Der Grundstückseigentümer und der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück sind verpflichtet, Maßnahmen zur Abwehr der von ihrem Grundstück drohenden schädlichen Bodenveränderungen zu ergreifen. (3) Der Verursacher einer schädlichen Bodenveränderung oder Altlast sowie dessen Gesamtrechtsnachfolger, der Grundstückseigentümer und der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück sind verpflichtet, den Boden und Altlasten sowie durch schädliche Bodenveränderungen oder Altlasten verursachte Verunreinigungen von Gewässern so zu sanieren, dass dauerhaft keine Gefahren, erheblichen Nachteile oder erheblichen Belästigungen für den einzelnen oder die Allgemeinheit entstehen. Hierzu kommen bei Belastungen durch Schadstoffe neben Dekontaminations- auch Sicherungsmaßnahmen in Betracht, die eine Ausbreitung der Schadstoffe langfristig verhindern. Soweit dies nicht möglich oder unzumutbar ist, sind sonstige Schutz- und Beschränkungsmaßnahmen durchzuführen. Zur Sanierung ist auch verpflichtet, wer aus handelsrechtlichem oder gesellschaftsrechtlichem Rechtsgrund für eine juristische Person einzustehen hat, der ein Grundstück, das mit einer schädlichen Bodenveränderung oder einer Altlast belastet ist, gehört, und wer das Eigentum an einem solchen Grundstück aufgibt. (4) ... (5) ...

1 BVerwG v. 22.10.1998 – 7 C 38/97, ZIP 1998, 2167. 2 Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 94; Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 45 ff.; Sinz in Uhlenbruck, § 55 InsO Rz. 30. 3 Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 90a. 4 BVerwG v. 22.10.1998 – 7 C 38/97, ZIP 1998, 2167.

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24.43

§ 24 Rz. 24.43 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren (6) Der frühere Eigentümer eines Grundstücks ist zur Sanierung verpflichtet, wenn er sein Eigentum nach dem 1. März 1999 übertragen hat und die schädliche Bodenveränderung oder Altlast hierbei kannte oder kennen musste. Dies gilt für denjenigen nicht, der beim Erwerb des Grundstücks darauf vertraut hat, dass schädliche Bodenveränderungen oder Altlasten nicht vorhanden sind, und sein Vertrauen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles schutzwürdig ist.“

24.44

Nahezu jede Frage im Umgang mit den Ordnungspflichten in der Insolvenz ist umstritten. Die folgende Darstellung kann schon wegen der Vielfalt der Probleme nur skizzenhafte Orientierungen vermitteln, zumal auch die Entwicklung der Rechtsprechung noch immer im Fluss ist.

2. Die Grundlinien: „massefreundliche“ und „massefeindliche“ Auffassungen 24.45

Die schlagwortartige Überschrift soll nicht als Einladung zu emotionaler Parteinahme missverstanden werden, etwa in dem Sinne, es gehe um „gute“ und „böse“ Auffassungen. Worum es geht, ist eine nüchterne Sachfrage1: Kann die Masse von den aus dem Ordnungs- und Umweltrecht resultierenden finanziellen Lasten freigehalten werden („massefreundliche“ Lösung), oder muss die Masse ohne Wenn und Aber für die auf ihr lastenden Umwelthaftungen geradestehen („massefeindliche“ Lösung)? Es versteht sich, dass die „massefreundliche“ Lösung in der Sanierungs- und Insolvenzpraxis Freunde hat: die um die Sanierungskasse besorgten Gesellschaft, die jede Schmälerung der Masse fürchtenden Insolvenzgläubiger, die absonderungsberechtigten – z.B. durch Grundschulden gesicherten – und jede Entwertung eines kontaminierten Grundstücks fürchtenden dinglichen Gläubiger, die an einer Sanierung interessierten Arbeitnehmer und mit ihnen allen die Verwalter. Die schwankende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hat sich, wie noch zu zeigen sein wird, von einer „massefreundlichen“ allmählich in eine „massefeindliche“ Richtung entwickelt. Die Streubreite der weit ausdifferenzierten Literatur soll hier anhand von typischen Exponenten dargestellt werden.

a) „Massefreundliche“ Lösungen 24.46

Charakteristisch für die „massefreundlichen“ Lösungen ist neben den Äußerungen aus der Verwalterprofession2 und zahlreichen Beiträgen aus der Wissenschaft3 das monographische Handbuch von Lwowski/Tetzlaff4. Diese Sicht der Dinge dominierte noch über die Jahrhundertwende hinweg in der Rechtsprechung5. Im Wesentlichen läuft die „massefreundliche“ Auffassung auf folgende Eckpunkte hinaus: – Die Rechtsprechung unterscheidet streng zwischen einer Ordnungspflicht nur der Gesellschaft oder des Insolvenzverwalters als des „Betreibers“6. 1 Ausführlicher Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913, 1915; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1491. 2 Vgl. nur Kilger in FS Merz, 1992, S. 267 ff.; Petersen, NJW 1992, 1205 ff. 3 Vgl. mit erheblichen Unterschieden im Detail; Häsemeyer in FS Uhlenbruck, 2000, S. 97 ff.; Lüke in Kölner Schrift zur InsO, S. 859 ff.; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 89 ff.; Henckel in Jaeger, § 38 InsO Rz. 27; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 64 ff.; Mock in Uhlenbruck, § 80 InsO Rz. 248 ff.; Sinz in Uhlenbruck, § 55 InsO Rz. 30 ff.; Smid, § 35 InsO Rz. 12; Westpfahl, Umweltschutz und Insolvenz, 1998, S. 85 ff., 111 ff.; v. Wilmowsky, ZIP 1997, 389 ff. 4 Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002; vgl. auch Lwowski/Tetzlaff, WM 2005, 921 ff. 5 Nachweise und Kritik hier in der 2. Aufl., Rz. 758 f. 6 Charakteristisch BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, BVerwGE 122, 75 = NZI 2005, 51 = ZIP 2004, 2145; OVG Magdeburg v. 19.7.2012 – 1 L 67/11, NJOZ 2012, 1949; Lüke in Kölner Schrift, 3. Aufl., Kap. 22 Rz. 22.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.47 § 24

– Störungen, die nach der Verfahrenseröffnung im Herrschaftsbereich des Verwalters als des „Betreibers“ entstanden sind, sind auf Kosten der Masse zu beseitigen (vgl. schon Rz. 24.42). „Die Masse“ („der Verwalter“) ist, wie immer man dies rechtlich konstruiert, ordnungspflichtig und kann Adressat von Ersatzvornahmeverfügungen sein. Ersatzvornahmekosten sind in diesen Fällen als Masseschulden zu begleichen (unstreitig)1.

– Störungen, die zwar der GmbH, aber nicht „dem Verwalter“ (der Masse) zuzurechnen sind, begründen keine Ordnungspflicht „der Masse“ („des Verwalters“)2. Die Ordnungspflicht ist in diesem Fall Insolvenzverbindlichkeit. Auch Ersatzvornahmekosten brauchen nur als Insolvenzverbindlichkeiten beglichen zu werden3. – Sofern keine eigene Ordnungspflicht der Masse („des Verwalters“) begründet ist, kann der Verwalter die Masse durch Freigabe kontaminierter und somit ordnungswidriger Sachen von der Ordnungspflicht und damit auch von Ersatzvornahmekosten befreien4.

b) „Massefeindliche“ Lösungen Eine klare Gegenposition, also eine konsequent „massefeindliche“ Lösung, wird seit geraumer Zeit vom Verfasser vertreten5. Sie ist sich mit der „massefreundlichen“ Lösung selbstverständlich darin einig, dass eine vom Verwalter als „Betreiber“ nach der Verfahrenseröffnung begründete Umwelthaftung mit Mitteln der Masse zu erfüllen ist (Rz. 24.42) und dass im Insolvenzverfahren anfallende Ersatzvornahmekosten in diesem Fall Masseschulden begründen (Rz. 24.56). Dasselbe nimmt aber die hier vertretene Auffassung auch für den Fall an, dass die Ordnungspflicht bereits vor der Insolvenzeröffnung bestanden hatte. Die Altlastenhaftung belastet die Masse und schmälert deren Nettowert. Es ist deshalb ökonomisch einleuchtend, aber auch juristisch wohlbegründet, wenn der Insolvenzverwalter unter Begründung von Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) für Beseitigung der in der Masse begründeten Störung sorgt und auch die Kosten einer nach Verfahrenseröffnung angeordneten und vor-

1 BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, BVerwGE 122, 75, 80 = NZI 2005, 51, 52 = ZIP 2004, 2145, 2146; s. auch Plathner in Kölner Kommentar zur InsO, § 80 InsO Rz. 107 ff.; Sternal in Karsten Schmidt, § 80 InsO Rz. 70. 2 Vgl. BVerwG v. 22.10.1998 – 7 C 38.97, BVerwGE 107, 299 = NJW 1999, 1416 = NZI 1999, 37; BVerwG v. 10.2.1999 – 11 C 9/97, BVerwGE 108, 269 = NVwZ 1999, 653 = NZI 1999, 246 = ZIP 1999, 538; ganz ähnlich BGH v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, BGHZ 148, 252, 258 = ZIP 2001, 1469; zust. für viele Bäuerle/Miglietti in Braun, § 55 InsO Rz. 23; Mock in Uhlenbruck, § 80 InsO Rz. 245 f.; Sternel in Karsten Schmidt, § 80 InsO Rz. 70. 3 Vgl. VGH Mannheim v. 11.12.1990 – 10 S 7/90, BB 1991, 237; dazu Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz. E 156; Sinz in Uhlenbruck, § 55 InsO Rz. 30; Kritik bei Karsten Schmidt, BB 1991, 1273 ff.; zusammenfassend Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3346. 4 BVerwG v. 20.1.1984 – 4 C 37/80, NJW 1984, 2427; dazu Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz. C 36 ff., F 1 ff., F 90 ff.; s. auch VGH Kassel v. 11.9.2009 – 8 B 1712/09, NJW 2010, 1545; OVG Lüneburg v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, NJW 2010, 1546 = ZIP 2010, 999; Kritik bei Karsten Schmidt in GS W. Martens, 1987, S. 178 f. und öfter. 5 Vgl. 3. Aufl., Rz. 758 f.; Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 70 ff.; Karsten Schmidt in GS W. Martens, 1987, S. 699 ff.; Karsten Schmidt in Jahrbuch des Technik- und Umweltrechts 1990, S. 235 ff.; Karsten Schmidt, NJW 1993, 2833 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 1997, 1441 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913 ff.; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489 ff.

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24.47

§ 24 Rz. 24.47 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

genommenen Ersatzvornahme als Masseverbindlichkeiten beglichen werden müssen1. Diese Lösung basiert auf einer Reihe von – Stück für Stück umstrittenen – Annahmen2: – Erstens geht es nicht, wie die „Amtstheorie der Insolvenzverwaltung“ suggeriert, um eine Ordnungspflicht des Verwalters, sondern es geht um die kontinuierlich die GmbH und ihr Vermögen treffende Ordnungspflicht3. – Zweitens ist die Annahme verfehlt, es handle sich bei der Ordnungspflicht selbst entweder um eine Insolvenzverbindlichkeit oder um eine Masseschuld der GmbH4. Die Ordnungspflicht ist eine objektivrechtliche Pflicht und als solche überhaupt keine durch Leistung an irgendwelche „Gläubiger“ zu tilgende „Schuld“, also auch keine Insolvenz- oder Masseverbindlichkeit5. Die Ordnungspflicht kann zwar Verbindlichkeiten (z.B. zur Entrichtung von Ersatzvornahmekosten) auslösen, unrichtig ist aber die Annahme, dass sie selbst eine Verbindlichkeit ist. Schon die Frage, wie diese vermeintliche Verbindlichkeit bei der Rechnungslegung passiviert werden soll, zeigt die Unhaltbarkeit eines solchen Ansatzes. Als objektivrechtliche Pflicht trifft sie die GmbH vor und nach der Insolvenz und schmälert den Wert der kontaminierten Masse durch den von ihr drohenden Aufwand (Kontinuität der Ordnungspflicht). – Drittens ist der Insolvenzverwalter, weil er das Management im Außenverhältnis aus seinen Aufgaben verdrängt hat (nach der vom Verfasser vertretenen Ansicht sogar als Insolvenzorgan der GmbH agiert), verpflichtet, der die Masse belastenden Ordnungspflicht der GmbH nachzukommen6. Diese Pflicht ist nicht in seiner Person, sondern bei der GmbH als Rechtsträgerin begründet, aber sie trifft ihn aus organisationsrechtlichen Gründen in dem Sinne, dass er, wie außerhalb der Insolvenz die Geschäftsführer oder Liquidatoren, für die Pflichterfüllung zuständig ist. Diese Zuständigkeit des Verwalters wirkt sich auch auf sein Verhältnis zu den Gläubigern aus: Er darf durch sein Tun (Beseitigung) oder Unterlassen (Ersatzvornahme) Masseverbindlichkeiten begründen, ohne sich einer Schädigung der Masse und Schmälerung der Gläubigerrechte schuldig zu machen. – Viertens begründet nicht nur eine vom Verwalter selbst in Auftrag gegebene Beseitigung, sondern auch eine staatliche Ersatzvornahme eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, denn diese ist durch ein schuldbegründendes Verhalten des Verwalters (nämlich ein gesetzwidriges Unterlassen, das einer Handlung gleichsteht) entstanden7. – Fünftens kann der Insolvenzverwalter die geschilderte Verantwortung „der Masse“ auch nicht durch eine echte Freigabe von Vermögensgegenständen aus der Masse einer insolventen GmbH beseitigen, denn diese Freigabe ist rechtlich ausgeschlossen (Rz. 24.33) und wenn sie zulässig wäre, würde sie ordnungsrechtlich weder die Gesellschaft noch die Masse entlasten. 1 Zusammenfassend Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913 ff. mit umfassenden Angaben. 2 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913 ff.; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489 ff.; Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344 f.; Gegenpositionen in nahezu jedem Punkt bei Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz. C 36 ff., F 1 ff., F 90 ff. 3 Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913, 1916, 1918; Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3345. 4 Zum diesbezüglichen Streitstand vgl. Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 64 ff. 5 OVG Greifswald v. 16.1.1997 – 3 L 94/96, ZIP 1997, 1460, 1462; Karsten Schmidt, zuerst BB 1991, 1273, 1278, zuletzt Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3346; zust. Ehricke/Behme in Münchener Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 45. 6 Vgl. Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913, 1918; Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1492. 7 Wie hier insofern jetzt Ries in Kayser/Thole, § 35 InsO Rz. 55; Lohmann in Kayser/Thole, § 55 InsO Rz. 13.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.51 § 24

Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine Altlastenbeseitigung mit den Mitteln und auf Kosten der Masse zu geschehen hat. Doch ist dies, wie schon herausgestellt, nicht herrschende Meinung (vgl. Rz. 24.45 f. zu den Konsequenzen für das Verhalten des Verwalters Rz. 24.57). Diese h.M. bedarf dringend einer Korrektur im Grundsätzlichen1.

24.48

3. Stand der Rechtsprechung zur Ordnungspflicht Die Rechtsprechung ist unübersichtlich, die Kasuistik kompliziert. Tendenziell kommt aber die Gerichtspraxis dem Bestreben nach „massefreundlichen“ Lösungen entgegen, dies allerdings auf verschlungenen Pfaden.

24.49

a) Begründung der Ordnungspflicht Der IV. Senat des Bundesverwaltungsgerichts – vormals ganz „massefreundlich“2 – hat im Jahr 1999 in Bestätigung eines Urteils des OVG Greifswald3 einen durchaus „massefeindlichen“ Ansatz verfolgt4:

24.50

„Die an einen Gesamtvollstreckungsverwalter gerichtete Anordnung zur Beseitigung einer Störung, die von Massegegenständen ausgeht, ist unabhängig vom Entstehungszeitpunkt dieser Störung keine Gesamtvollstreckungsforderung, sondern wie eine Masseverbindlichkeit zu behandeln.“

Sieht man einmal von der Fehlkonstruktion der Ordnungspflicht als Verbindlichkeit ab (dazu Rz. 24.47), so geht der Grundgedanke dahin, dass der Verwalter die ordnungsrechtlichen Pflichten erfüllen muss, die von der Masse ausgehen. Eine gegen dieses – nach Einschätzung des Verfassers zutreffende – Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde5 wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat den hier schon erkennbaren „massefeindlichen“ Ansatz bezüglich der Ordnungspflicht aus der Zustandshaftung durch ein Urteil vom 23.9.2004 teilweise bestätigt6: „Der Insolvenzverwalter kann nach § 4 Abs. 3 Satz 1 BBodSchG als Inhaber der tatsächlichen Gewalt für die Sanierung von massezugehörigen Grundstücken herangezogen werden, die bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kontaminiert waren. Eine solche Verpflichtung ist eine Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO (Bestätigung von BVerwG v. 10.2.1999 – 11 C 9.97, BVerwGE 108, 269 = ZIP 1999, 538).“ Dieselbe Entscheidung beschreitet dann allerdings bezüglich der Enthaftung durch Freigabe wieder einen ganz „massefreundlichen“ Weg (dazu Rz. 24.55). Vor 1 Vgl. zusammenfassend den Aufruf in NJW 2010, 1489, 1493 unter IV 1 sowie NJW 2012, 3344, 3347 unter V 2. 2 BVerwG v. 20.1.1984 – 4 C 37/80, NJW 1984, 2427 = ZIP 1984, 722; dazu neuerlich Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz. C 36 ff., F 1 ff., F 90 ff.; dagegen hier schon durchgehend seit der 2. Aufl., Rz. 759. 3 OVG Greifswald v. 16.1.1997 – 3 L 94/96, ZIP 1997, 1460 = EWiR 1997, 989 (Pape); dazu kontrovers Karsten Schmidt, ZIP 1997, 1441; v. Wilmowsky, ZIP 1997, 1445. 4 BVerwG v. 10.2.1999 – 11 C 9/97, BVerwGE 108, 269 = ZIP 1999, 538 = EWiR 2000, 629 (Lüke/ Blenske); dazu Jarchow in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 55 InsO Rz. 84; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 93; kritisch Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 13.13a; Lwowski/Tetzlaff, Umweltrisiken und Altlasten in der Insolvenz, 2002, Rz. C 3 ff.; Depré/Kothe in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 36 Rz. 53 ff. 5 Dazu Tetzlaff, ZIP 2001, 10. 6 BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, BVerwGE 122, 75 = NZI 2005, 51 m. Anm. Segner = ZIP 2004, 2145; dazu etwa Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 51; Seidel/Flitsch, DZWiR 2005, 278, 280.

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24.51

§ 24 Rz. 24.51 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

allem aber hat das Bundesverwaltungsgericht zur Verhaltenshaftung ganz „massefreundlich“ ausgeführt1: „Soweit die Ordnungspflicht sich nicht aus der Verantwortlichkeit für den aktuellen Zustand von Massegegenständen ergibt, sondern an ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten anknüpft“ [...] „kann die (bloße) Besitzergreifung von vornherein nicht zur persönlichen Inanspruchnahme des Insolvenzverwalters führen“.

24.52

Hier und in anderen Entscheidungen offenbart sich wieder der verhängnisvolle Blick auf die vermeintliche Betreibereigenschaft bzw. Ordnungspflicht des Insolvenzverwalters statt der Gesellschaft (dazu Rz. 24.47). Als Spezifikum der Rechtsprechung erweist sich hier wieder die auf der Deutung des Insolvenzverwalteramts basierende Diskontinuitätsbetrachtung2. Diese Rechtsprechung wird deshalb zutreffend dahingehend geschildert, dass die Störerhaftung der Gesellschaft erlischt und durch die Haftung des Verwalters ersetzt werden muss3.

24.53

Eine ganz „massefreundliche“ Richtung, freilich bezogen auf die zivilrechtliche Haftung, hat auch der IX. Zivilsenat des BGH eingeschlagen. Er hat schon im Jahr 2001 ausgesprochen, dass die Insolvenzmasse im Insolvenzverfahren eines Mieters für einen vertragswidrigen Zustand der Mietsache nur insoweit haftet, als der Verwalter den Zustand durch ihm selbst zuzurechnende Handlungen verursacht hat4. Im Jahr 2002 hat er darüber hinaus entschieden, dass zivilrechtliche Ansprüche wegen Umweltschäden, die bereits vor der Verfahrenseröffnung bestanden, nur als Insolvenzforderungen zur Tabelle angemeldet werden können5. Beide Entscheidungen gehen zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf Distanz. Sie haben Zustimmung gefunden6. Überzeugen können sie aber nicht, weil sie eben nur von Forderungen gegen die Schuldnerin und nicht von der Ordnungspflicht sprechen. Deshalb geht auch die Überlegung fehl, der Staat dürfe gegenüber anderen Gläubigern nicht privilegiert werden7. Es geht nicht um Forderungen und ihren Rang, sondern schlicht um die Durchsetzung rechtmäßigen Verhaltens der insolventen Gesellschaft8.

b) Befreiung durch Freigabe? 24.54

aa) Nach der immer noch herrschenden Auffassung kann „sich“ (vgl. Rz. 24.42) der Insolvenzverwalter durch Freigabe des kontaminierten Erdreichs aus der Masse von der ordnungsrechtlichen Zustandshaftung befreien (genauer: Er befreit nach der h.M. die Masse von der Umwelthaftung)9. Das OVG Lüneburg hat sogar eine nach dem Zugang der Entsorgungsver1 BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, BVerwGE 122, 75 = NZI 2005, 51, 52 = ZIP 2004, 2145, 2147; zust. Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 77. 2 Gesamtkritik bei Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3346. 3 Mock in Uhlenbruck, § 80 InsO Rz. 247. 4 BGH v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, BGHZ 148, 252 = ZIP 2001, 1469. 5 BGH v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, ZIP 2001, 1043. 6 Vgl. nur Lüdtke in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 38 InsO Rz. 38. 7 So etwa Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 13.13a; Häsemeyer in FS Uhlenbruck, 2000, S. 97, 103. 8 OVG Greifswald v. 16.1.1997 – 3 L 94/96, ZIP 1997, 1460; näher Karsten Schmidt, ZIP 1997, 1437, 1444; Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913, 1919; dort umfassende Nachw. 9 Zusammenfassend BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22/03, BVerwGE 122, 75 = NZI 2005, 51 = ZIP 2004, 2145; ergänzend VGH Kassel v. 11.9.2009 – 8 B 1712/09, NJW 2010, 1545; OVG Lüneburg v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, NJW 2010, 1546; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 105 ff.; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 54; Kuleisa in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 80 InsO Rz. 39; Sinz in Uhlenbruck, § 55 InsO Rz. 31; Sternel in Karsten Schmidt, § 80 InsO Rz. 71.

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§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.56 § 24

fügung vorgenommene Freigabe hierfür ausreichen lassen1, so dass ein gut informierter Anwalt Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Inanspruchnahme nicht nur einlegen, sondern auch durch klugen Rechtsrat begründet machen kann. Im Ergebnis bedeutet dies: Der Insolvenzverwalter trifft eine rechtsgebundene Entscheidung. Er steht nach der h.M. vor der Wahl – entweder der Ordnungspflicht Genüge zu tun, und zwar im Zweifel mit Hilfe eines Spezialunternehmens, dessen Beauftragung Masseschulden generiert (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO), – oder die Ersatzvornahme abzuwarten (zur Klassifikation der Ersatzvornahmekosten vgl. Rz. 24.56), – oder schließlich die Störerhaftung der Masse durch Freigabe zu beenden. bb) In einem Nichtannahmebeschluss vom 5.10.2005 hatte das Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu den ordnungsrechtlichen Wirkungen der Freigabe zu relativieren2. Es ging um die Heranziehung des klagenden Insolvenzverwalters zu Beseitigungs- und Reinigungsmaßnahmen sowie die Kosten einer Ersatzvornahme, die ihm als Konkursverwalter über das Vermögen des Unternehmens zur Glasherstellung auferlegt worden waren. Die Klage war in zwei Instanzen erfolglos geblieben. Der VGH hatte sich auf den Standpunkt gestellt, die umstrittenen Handlungsverpflichtungen, Ersatzvornahmeanordnungen und -androhungen seien rechtmäßig gewesen. Die vom Insolvenzverwalter eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision war erfolglos. Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts wurde in der ZInsO mit folgenden, nicht amtlichen Leitsätzen veröffentlicht:

24.55

„1. An seine Stelle als Betreiber einer Anlage anknüpfende Ordnungspflichten treffen den Insolvenzverwalter persönlich, sind also als Masseverbindlichkeiten zu erfüllen. 2. Die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters in Bezug auf Abfälle kann seine Ordnungspflicht entfallen lassen. 3. Eine Freigabeerklärung entfaltet keine Wirkungen auf die Ordnungspflicht des Insolvenzverwalters, wenn sich trotz der Freigabeerklärung an den faktischen Besitzverhältnissen nichts ändert, die Freigabeerklärung also tatsächlich folgenlos bleibt.“

Dieser Beschluss weist in die richtige Richtung, packt aber das Problem noch immer nicht bei seiner Grundsätzlichkeit. Dies zeigt ein vom VGH Kassel entschiedener Fall, bei dem der Insolvenzverwalter die Freigabe durch Übergabe der Schlüssel zum kontaminierten Grundstück an den Geschäftsführer unterstrichenund sich dadurch auch aus der Zustandshaftung herausgestohlen hatte3. Nach der hier vertretenen Auffassung wäre die Freigabemöglichkeit mitsamt der ihr zugedachten Befreiung aus der Ordnungspflicht ganz abzulehnen gewesen.

c) Ersatzvornahme und Ersatzvornahmekosten in der Insolvenz Nach der auf die 90er Jahre zurückgehenden Rechtsprechungstradition braucht der Insolvenzverwalter, um die Masse nicht mit den vollen Beseitigungskosten zu belasten, nicht einmal das kontaminierte Erdreich freizugeben. Selbst wenn er dies nicht tut, wäre ihm auf der Basis der h.M. immer noch davon abzuraten, einer Ordnungsverfügung unter Begründung von Masseschulden nachzukommen. Im Fall einer behördlichen Ersatzvornahme werden nämlich die Ersatzvornahmekosten herkömmlich als bloße Insolvenzforderungen eingeordnet4. Richtig 1 2 3 4

OVG Lüneburg v. 3.12.2009 – 7 ME 55/09, NJW 2010, 1546 = ZIP 2010, 999. BVerwG v. 5.10.2005 – 7 B 65/05, ZInsO 2006, 495, 496. VGH Kassel v. 11.9.2009 –8 B 1712/09, NJW 2010, 1545 = ZIP 2010, 92. Vgl. nur VGH Mannheim v. 11.12.1990 – 10 S 7/90, BB 1991, 237 = ZIP 1991, 393 = NJW 1992, 64; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, § 38 InsO Rz. 68 ff.

Karsten Schmidt | 767

24.56

§ 24 Rz. 24.56 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

und allein mit dem insolvenzrechtlichen Zurechnungssystem in Einklang zu bringen scheint demgegenüber die Behandlung der Ersatzvornahmekosten als Masseschuld (Rz. 24.47): Die Ersatzvornahme ist – wie eine Notgeschäftsführung nach §§ 679, 683 Satz 2 BGB – eine durch rechtswidriges Unterlassen des Insolvenzverwalters begründete Ersatzgeschäftsführung des Staates (§ 35 Abs. 1 Nr. 1 InsO)1.

4. Verhaltensempfehlung und rechtspolitische Beurteilung 24.57

a) Vor dem Hintergrund der geschilderten Rechtsprechung und mit Blick auf die drohende Insolvenzverwalterhaftung nach § 60 InsO ist klar, wie sich der Verwalter in Kenntnis der h.M. verhalten wird. Er wird die haftungsbegründenden Gegenstände – meist: das kontaminierte Erdreich – freigeben2. Rechtspolitisch ist diese Praxis allerdings kaum tolerabel3. Sie ist auch juristisch abzulehnen, weil eine Freigabe in der Gesellschaftsinsolvenz nicht anzuerkennen ist (Rz. 24.33). Im Übrigen wäre auch ihre befreiende Wirkung zu bestreiten, wenn man die Freigabe mit der h.M. als vermögensrechtlich wirksam behandeln wollte4.

24.58

b) Die hier vertretene Auffassung zum öffentlichen Recht hindert den Verwalter selbstverständlich auch nicht, in der Behandlung privatrechtlicher Ansprüche nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats zu verfahren. Er wird diese Ansprüche als bloße Insolvenzforderungen bedienen, soweit sie nicht auf eigenen Handlungen beruhen. Dasselbe gilt für Ersatzvornahmekosten aus der Zeit vor der Verfahrenseröffnung. Sie sind auch nach der hier vertretenen Ansicht bloße Insolvenzforderungen. Zweifelhaft ist die Behandlung von Schäden, die erst durch Nichtbeseitigung einer Störung während des Insolvenzverfahrens entstehen. Hier scheint sich eine echte Divergenz der höchstrichterlichen Rechtsprechung abzuzeichnen, es sei denn, man spricht der mit dem Bundesverwaltungsgericht anzunehmenden Handlungspflicht eine privatschützende Wirkung ab.

24.59

c) Die offenkundige Uneinigkeit selbst unter den obersten Gerichtshöfen des Bundes – eine Anrufung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes hat nicht stattgefunden – und das offenkundige Ungenügen am vorherrschenden Diskontinuitätsmodell sollte zur Anerkennung des hier vertretenen Kontinuitätsmodells führen5. Es gibt keinen Grund, die vom Insolvenzverwalter geführte Gesellschaft gegenüber einer durch einen Liquidator abgewickelten Gesellschaft zu privilegieren6. Dieser Appell sollte bedeuten: – Der Insolvenzverwalter ist gehalten, Altlasten ebenso zu beseitigen wie die von ihm selbst zu verantwortenden Störungen (Rechtsbehelfe gegen die Inanspruchnahme sind nach der hier vertretenen Auffassung unbegründet, allerdings angesichts des anhaltenden Streits praktisch nicht völlig aussichtslos). – Der Insolvenzverwalter macht sich deshalb nicht nach § 60 InsO schadensersatzpflichtig, wenn er von einer Freigabe absieht und zur Beseitigung Masseschulden begründet (nach 1 Näher Karsten Schmidt, NJW 1993, 2833, 2836; krit. Röpke in Kölner Kommentar zur InsO, § 55 InsO Rz. 55 ff. 2 Folgerichtig Depré/Kothe in Beck/Depré, § 36 Rz. 108. 3 Karsten Schmidt, ZIP 1997, 1437 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1913 ff.; Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3347: „Skandalon“. 4 Vgl. auch OVG Lüneburg v. 7.1.1993 – 7 M 5684/92, ZIP 1993, 1174, 1175; Petersen, NJW 1992, 1202, 1208; v. Wilmowsky, ZIP 1997, 389. 5 Zusammenfassend Karsten Schmidt, NJW 2012, 3344, 3346 f. 6 Zusammenfassend Karsten Schmidt, NJW 2010, 1489, 1493.

768 | Karsten Schmidt

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.72 § 24

der hier vertretenen Auffassung ist die Freigabe sogar rechtlich ausgeschlossen, jedenfalls aber ohne ordnungsrechtlich entlastende Wirkung). Schadensersatzklagen wegen dieser Schmälerung der Masse, mit denen der Verwalter in Anbetracht der h.M. rechnen muss, sollten als unbegründet abgewiesen werden. – Beseitigt der Verwalter die Störung nicht, so muss er nunmehr anfallende Ersatzvornahmekosten richtigerweise als Masseschulden begleichen (Rechtsbehelfe gegen die Inanspruchnahme sind wiederum nach der hier vertretenen Ansicht unbegründet, wenn auch in Anbetracht des fortbestehenden Meinungsstreits nicht völlig aussichtslos). – Die unsichere Rechtslage lässt eine Verständigung mit dem Gläubigerausschuss ratsam erscheinen. Die seit dem ESUG gestärkte Eigenverwaltung durch die Gesellschaftsorgane (Rz. 35.1 ff.) belegt vollends die Stimmigkeit dieser Lösung.

24.60

24.61–24.70

Einstweilen frei.

V. Betriebsfortführung und Betriebseinstellung 1. Die Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren a) Allgemeines Durch die Formulierung des § 1 InsO hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass das Ziel des Insolvenzverfahrens, als Gesamtvollstreckungsverfahren die Vermögenshaftung des Schuldners zu verwirklichen, auch durch einen Erhalt des schuldnerischen Unternehmens verwirklicht werden kann. Die Entscheidung hierüber obliegt der Gläubigerversammlung im Berichtstermin (§ 157 InsO). Bis zum Berichtstermin hat der Insolvenzverwalter das schuldnerische Unternehmen damit zwangsläufig fortzuführen (s. auch Rz. 21.1 ff.)1.

24.71

Das Insolvenzverfahren ist somit nicht auf bloße Zerschlagung ausgerichtet; auch nach der vor dem Inkrafttreten der InsO am 1.1.1999 bestehenden Rechtslage war dies nicht der Fall2. Die Betriebsfortführung in der Insolvenz war nicht nur Leitbild der Vergleichsordnung3, sondern war auch schon in der Konkursordnung vorgesehen (§ 129 Abs. 2, § 130, § 132 Abs. 1 KO). Mit § 1 InsO ist die Betriebsfortführung zu einem der Ziele des Insolvenzverfahrens erhoben worden. Dabei kann die Betriebsfortführung auf verschiedene Arten verwirklicht werden: Sanierung im Wege eines Insolvenzplanverfahrens oder übertragende Sanierung mit der Konsequenz der Liquidation des Rechtsträgers des Unternehmens. Beide Varianten erfordern jedenfalls eine einstweilige Fortführung des schuldnerischen Unternehmens durch den Insolvenzverwalter4. Da allein die Gläubigerversammlung über die zu wählende Verwertungs- und Handlungsalternative zu entscheiden hat, ist es vordringliche Aufgabe des Insolvenzverwalters bis zum Berichtstermin durch die Betriebsfortführung alle Alternativen offen zu halten.

24.72

1 Allg.M., vgl. nur Beck/Pechartscheck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 18 Rz. 10; Schmerbach in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 50 ff.; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 2. 2 Vgl. BGH v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, BGHZ 99, 151, 155 = ZIP 1987, 115. 3 S. Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 3 Rz. 1 ff. 4 Etwas anderes gilt im Falle der übertragenden Sanierung nur, wenn diese auf den Zeitpunkt der Insolvenzverfahrenseröffnung erfolgt, vgl. auch Rz. 6.221.

Karsten Schmidt und Schluck-Amend | 769

§ 24 Rz. 24.73 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

b) Gründe für eine Unternehmensfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren 24.73

Für eine Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren sprechen insbesondere zwei Gründe.

24.74

Zunächst ist eine befristete Betriebsfortführung im eröffneten Insolvenzverfahren meistens ökonomisch sinnvoll, weil durch eine geregelte „Ausproduktion“ in der Regel noch erhebliche Vermögenswerte zur Masse gezogen werden können.

24.75

So lohnt sich meist die Fertigstellung von Halbfertigerzeugnissen, die an sich oftmals keinen oder nur einen äußerst geringen Verkaufswert haben. Je mehr Aufwand für diese Halbfertigerzeugnisse bereits erbracht wurde, desto mehr lohnt sich in der Regel die Fertigstellung (vorausgesetzt, es gibt für diese Erzeugnisse noch einen Markt).

24.76

Durch die Abwicklung bestehender Aufträge, für die ggf. Sicherheiten bestellt waren oder die über Aufrechnungslagen geltend gemacht werden können, wird des Weiteren das Auflaufen von Schadensersatzansprüchen vermieden.

24.77

Von großem Vorteil ist es in der Regel aber auch, wenn die Außenstände weiterhin über eine funktionierende Debitorenbuchhaltung des Unternehmens eingezogen werden können, da dort die gesamten hierzu erforderlichen Daten, insbesondere aber auch alle erforderlichen Informationen über die zugrunde liegenden Rechtsverhältnisse vorliegen. Im Falle der Betriebseinstellung kommt es hingegen regelmäßig zu erheblichen Reibungsverlusten im Hinblick auf die Aufarbeitung der Unterlagen, die für einen effizienten Forderungseinzug erforderlich sind. Auch wenn nach Betriebseinstellung in der Buchhaltung noch Personal weiterbeschäftigt werden kann, so ändert dies nichts an der nachlassenden Motivation der noch verbliebenen Beschäftigten und der Problematik, dass Detailinformationen zu etwaigen Einwendungen der Drittschuldner nicht mehr bei den jeweiligen Fachabteilungen abgefragt werden können.

24.78

Auch aus Sicht der Sicherungsgläubiger1 ist die Einziehung von Außenständen durch das Unternehmen (bzw. den Insolvenzverwalter) während einer Betriebsfortführung wirtschaftlich am sinnvollsten. Die Einziehung von Forderungen durch den Sicherungsgläubiger selbst ist für diesen demgegenüber nur von eingeschränktem Nutzen. Erfahrungsgemäß lässt die Zahlungsbereitschaft der Schuldner abgetretener Forderungen nach Offenlegung erheblich nach. Auch können Einwendungen aus dem Grundverhältnis ohne Informationen aus dem Unternehmen kaum geprüft werden.

24.79

Des Weiteren repräsentiert ein werbendes Unternehmen grundsätzlich einen höheren wirtschaftlichen Wert als die Summe seiner veräußerbaren Einzelteile. Diese Differenz kommt (unvollkommen) zum Ausdruck in der bilanziellen Unterscheidung zwischen Fortführungsund Zerschlagungswerten.

24.80

Gegenstände des Anlagevermögens verlieren bei einer Zerschlagung umso mehr an Wert, je spezifischer diese auf die besonderen Unternehmensbedürfnisse zugeschnitten sind. Mit zunehmender Komplexität steigt danach der Wertverlust bei einer Einzelverwertung bis hin zum Verbleiben eines reinen Schrottwerts, der u.U. noch von den Demontagekosten aufgezehrt wird.

24.81

Die Zerschlagung eines laufenden Unternehmens stellt demnach eine bereits vom Absatz her ungünstige Verwertungsart dar, zumal auch der Verwertungsaufwand bei einer Unterneh1 Lieferanten mit verlängerten Eigentumsvorbehaltsrechten und Banken mit Globalzessionen als Sicherungsmittel.

770 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.88 § 24

menszerschlagung insgesamt erheblich höher ist als bei einer Gesamtveräußerung des Unternehmens, der sog. übertragenden Sanierung (s. Rz. 24.171 ff.). Durch eine übertragende Sanierung bleiben darüber hinaus auch Arbeitsplätze erhalten; entsprechend geringer fällt etwa der Umfang erforderlicher Sozialpläne oder das Maß von Massebelastungen wegen Entgeltzahlungspflichten bis zum Ablauf der einschlägigen Kündigungsfristen aus. Auch kann die gesamte Insolvenz durch eine übertragende Sanierung einigermaßen „geräuschlos“ abgewickelt werden, was oftmals auch im Interesse einzelner Gläubiger liegt.

24.82

c) Maßnahmen der Betriebsfortführung Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren wird durch einige Umstände erleichtert. Insbesondere muss kein Kapitaldienst mehr geleistet werden und auch sonstige offene Verbindlichkeiten sind vom Grundsatz her nicht mehr zu bezahlen.

24.83

Sodann stehen dem Verwalter nach Maßgabe der §§ 103 ff. InsO Mittel zur Verfügung, sich von bestehenden Vertragsverpflichtungen zu lösen. Auch hat er nach den Regelungen der §§ 120 ff. InsO verbesserte Möglichkeiten, Betriebsänderungen durchzuführen (dazu näher Rz. 26.51 ff.).

24.84

Hinzu kommt, dass die Insolvenzsituation bei den Arbeitnehmervertretern in aller Regel die Einsicht begünstigt, dass an ggf. drastischen Sanierungsmaßnahmen auf Grund der eingetretenen Unternehmenskrise nun kein Weg mehr vorbeiführt, will man wenigstens einige der betroffenen Arbeitsplätze retten. In der Insolvenzsituation zeigt sich deswegen oftmals bei den Arbeitnehmern eine Flexibilität, deren Fehlen zuvor einer Abwendung der Krisensituation entgegengestanden hat.

24.85

Gleichwohl ist die Liquiditätssituation für den Verwalter ab Verfahrenseröffnung grundsätzlich problematisch. In der Regel verfügt der Insolvenzschuldner nicht mehr über freie Kreditlinien oder sonstiges freies Vermögen (nicht an Dritte verpfändetes oder sicherungsübereignetes Anlage- oder Umlaufvermögen oder abgetretene Forderungen), das versilbert werden könnte. Die Betriebsfortführung kann daher in der Regel nur bewerkstelligt werden, wenn es dem Insolvenzverwalter gelingt, ein so genanntes Massedarlehen aufzunehmen. Das Darlehen ist als Masseverbindlichkeit gemäß § 55 Abs. 1 InsO zurückzuzahlen, wofür der Insolvenzverwalter persönlich haftet (§§ 60, 61 InsO). Da die Banken meist auch ein großes Interesse an der Betriebsfortführung haben und dem Insolvenzverwalter im Zeitpunkt der Darlehensaufnahme noch kein vollständiger Überblick über die finanziellen Verhältnisse des schuldnerischen Unternehmens vorliegen wird, gelingt es ihm häufig, eine Haftung nach § 61 InsO abzubedingen. Als Sicherheit für das Massedarlehen werden oft nur durch die Betriebsfortführung neu entstehende Forderungen oder Waren in Betracht kommen.

24.86

Mit Bekanntwerden der Insolvenz ist für das ohnehin krisengeschüttelte Unternehmen eine Ausnahmesituation zutage getreten, die eine erhebliche Verunsicherung der Kunden, Lieferanten und Beschäftigten des Unternehmens zur Folge hat. Auch dadurch wird die Betriebsfortführung nicht unerheblich erschwert.

24.87

Die Kunden müssen um die reibungslose Fortführung der geschäftlichen Beziehungen fürchten, da das Schicksal des insolvenzbefangenen Unternehmens offen ist. Aus diesem Grund besteht für sie hinreichende Veranlassung, sich um Ausweichmöglichkeiten zu kümmern, um im Falle einer Betriebsstilllegung nicht selbst in eine Krisensituation zu geraten. Die Gefahr, dass die Einleitung eines Insolvenzverfahrens deshalb mit einem massiven Umsatzeinbruch für das insolvente Unternehmen einhergeht, ist groß und realisiert sich nur allzu oft. Bereits während

24.88

Schluck-Amend | 771

§ 24 Rz. 24.88 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

des vorläufigen Insolvenzverfahrens gehört es daher zu den vordringlichsten Aufgaben des Insolvenzverwalters, das geschwächte Vertrauen der Kunden wieder zu stärken, um so die Grundlagen für eine Betriebsfortführung zu erhalten.

24.89

Die Lieferanten müssen den Verlust ihrer Forderungen gegen den Schuldner hinnehmen. Dies führt nicht selten zu einer erheblichen Anspannung der Geschäftsbeziehungen. Die Weiterbelieferung erfolgt ggf. nur noch gegen Vorkasse. Der Ausfall mit den Außenständen gegenüber dem Schuldner führt aber oftmals auch eine ernste Krisensituation bei den Lieferanten nach dem „Dominoeffekt“ herbei, die dann u.U. in einer Folgeinsolvenz mündet.

24.90

Besondere Probleme entstehen durch die Insolvenzsituation im Personalbereich. Diese ist für die Arbeitnehmer des Schuldners ein Alarmsignal für den drohenden Verlust des Arbeitsplatzes und den Ausfall mit den laufenden Entgeltzahlungen. Folge hieraus ist in der Regel eine erhebliche Verunsicherung unter der Belegschaft, die den weiteren Arbeitsablauf im Unternehmen in erheblichem Maße gefährden kann. Hinzu kommen regelmäßig die Versuche von Wettbewerbern, qualifiziertes Personal gerade in dieser Phase der Verunsicherung abzuwerben. Insbesondere die Leistungs- und Know-how-Träger, die einen wesentlichen Teil des Unternehmenswertes verkörpern, werden oftmals schnell die sich ihnen bietenden Möglichkeiten anderweitiger beruflicher Absicherung wahrnehmen und das Unternehmen verlassen, welches dadurch in seinen Kapazitäten empfindlich getroffen werden kann. Verstärkt wird diese Problematik dadurch, dass die regelmäßig höher dotierten Leistungsträger bereits während des Insolvenzantragsverfahrens dadurch finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, dass die Insolvenzgeldansprüche nunmehr an die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung gekoppelt wurden. Die oft zitierte „Versorgungslücke“ greift im Insolvenzfall für diesen Personenkreis sofort und motiviert nicht dazu, die weitere Betriebsfortführung zu begleiten.

24.91

Hinzu kommt, dass in einem insolventen Unternehmen die Buchhaltung oftmals nicht auf aktuellem Stand ist und der Verwalter nicht mit den näheren betrieblichen Hintergründen vertraut ist (s. auch Rz. 24.77). Der Verwalter steht somit grundsätzlich vor einer schwierigen unternehmerischen Gesamtsituation.

2. Pflichten des Insolvenzverwalters a) Verfahrensrechtliche Pflichten 24.92

Bis zum Berichtstermin, in dem die Gläubigerversammlung über die Betriebsfortführung erstmals befindet, hat der Verwalter das schuldnerische Unternehmen grundsätzlich fortzuführen. Diese Verpflichtung lässt sich aus der Bestimmung des § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO (Fortführungspflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters mit Verfügungsbefugnis) ableiten, die ohne eine weitere Fortführungspflicht des Verwalters nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum Berichtstermin sinnlos wäre. Eine Stilllegung des Betriebes ist regelmäßig irreversibel, so dass in diesem Fall der Gläubigerversammlung die ihr nach § 157 InsO eingeräumte Wahlmöglichkeit über den weiteren Verfahrensfortgang genommen werden würde1.

24.93

Diese Pflicht zur Betriebsfortführung bedeutet zugleich ein vorläufiges Verwertungsverbot bezüglich der Vermögensgegenstände, die zur Fortführung benötigt werden2. Davon nicht er1 S. dazu auch Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 1 Rz. 41; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, § 22 InsO Rz. 2. 2 Ebenso Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 13.34; Beck/Pechartscheck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 18 Rz. 11.

772 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.99 § 24

fasst sind aber Verkauf, Verarbeitung und Verbrauch im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsganges, wie z.B. der Verbrauch und die Verarbeitung von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen oder der Verkauf von verderblicher Ware oder von Vermögensgegenständen, die nicht für die Betriebsfortführung benötigt werden. Des Weiteren ist die Verwendung zulässig, wenn dadurch entweder betriebsnotwendige Liquidität geschaffen wird oder Gefahr im Verzug ist1. Ebenso wenig ist von dem Verwertungsverbot der Einzug von Forderungen erfasst, da dieser keinerlei Einfluss auf die Entscheidung der Gläubigerversammlung im Berichtstermin hat.

§ 158 InsO regelt insoweit, dass die Unternehmensstilllegung vor dem Berichtstermin von der Zustimmung des Gläubigerausschusses abhängt, sofern ein solcher bestellt wurde. Des Weiteren hat der Verwalter den Schuldner vorab von dem Vorhaben der Stilllegung zu unterrichten. Das Gericht ist auf Antrag des Schuldners dazu verpflichtet, die Betriebsstilllegung zu untersagen, wenn diese ohne größere Masseverluste bis zum Berichtstermin aufgeschoben werden kann.

24.94

Gegenüber der Rechtslage im Eröffnungsverfahren (Rz. 21.13 ff.) fällt auf, dass die Voraussetzungen für eine Betriebsschließung im eröffneten Insolvenzverfahren herabgesetzt sind. Dies rechtfertigt sich daraus, dass im eröffneten Hauptverfahren das Bestandsschutzinteresse des Schuldners an der Erhaltung seines Geschäftsbetriebes vermindert und durch das Interesse der Gläubiger an der Haftungsverwirklichung verdrängt wird.

24.95

Nach Abhaltung des Berichtstermins ist die Betriebsfortführung nicht auf Fälle beschränkt, in denen die Erstellung eines Insolvenzplans zur Sanierung des Schuldners oder zur Übertragung seines Unternehmens beschlossen wurde, sondern diese ist auch nach den Vorschriften über das Regelverfahren weiter zulässig2. Die Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren ist jedoch kein Selbstzweck, sondern hat sich stets dem primären Verfahrensziel der Haftungsverwirklichung unterzuordnen3. Eine unbegrenzte Betriebsfortführung läuft daher dem Zweck der Gläubigerbefriedigung aus dem Vermögen des schuldnerischen Unternehmens zuwider.

24.96

Der Insolvenzverwalter trägt insoweit ein nicht unerhebliches persönliches Risiko, das daraus resultiert, dass das Insolvenzverfahren streng auf die Haftungsverwirklichung durch die Verwertung des Schuldnervermögens ausgerichtet ist, soweit nicht die Gläubiger durch einen (gerichtlich bestätigten) Insolvenzplan etwas anderes beschließen (§ 1 InsO). Für vermeidbare Masseschmälerungen haftet der Verwalter nach Maßgabe der §§ 60 f. InsO den Gläubigern persönlich (dazu näher Rz. 24.221 ff.).

24.97

In vielen Fällen laufen während der Betriebsfortführung im Insolvenzverfahren jedoch weitere Verluste auf. Damit ist ein Tatbestand erfüllt, der den Verwalter grundsätzlich zur Betriebsschließung verpflichtet4.

24.98

Aus diesem Grund ist der Verwalter gehalten, fortlaufend zu prüfen, ob die Fortführung des Unternehmens noch mit den vermögensrechtlichen Interessen der Gläubiger zu vereinbaren ist. Hierzu sind für die voraussichtliche Zeit der Betriebsfortführung vom Verwalter Finanzund Ergebnispläne (Liquiditätsplan, Plan-Gewinn- und -Verlustrechnung)5 zu erstellen sowie

24.99

1 Beck/Pechartscheck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 18 Rz. 11; zum Begriff „Gefahr im Verzug“, s. auch Rz. 21.38. 2 Das ergibt sich aus § 160 Abs. 2 Nr. 1 InsO. 3 Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 1 Rz. 43. 4 Vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO; s. BGH v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, BGHZ 99, 151, 156 = ZIP 1987, 115 zur Rechtslage nach der KO; Beck/Pechartscheck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 18 Rz. 12 ff. 5 Vgl. Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 12 Rz. 182 f.

Schluck-Amend | 773

§ 24 Rz. 24.99 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

fortlaufend an die tatsächlichen Entwicklungen anzupassen1. Des Weiteren sind die Veräußerungschancen sorgfältig zu beurteilen. Durch die Publizität des Insolvenzverfahrens werden potentielle Erwerbsinteressenten schnell auf die Möglichkeit eines Unternehmenskaufs aufmerksam und melden ein etwaiges Kaufinteresse meistens schon im Eröffnungsverfahren an. Soweit sich bis zum Berichtstermin noch kein ernsthafter Kaufinteressent gemeldet haben sollte, sind die Chancen auf eine übertragende Sanierung insgesamt als schlecht zu bewerten. Gleichwohl kann diese Tatsache nur als Indikator, nicht jedoch als feste Regel begriffen werden. Denn gerade bei größeren Wirtschaftseinheiten sind oftmals erst einschneidende Sanierungsmaßnahmen während der Betriebsfortführung erforderlich, um das Unternehmen wieder für potentielle Investoren attraktiv zu machen.

24.100

Decken die laufenden Einnahmen die Ausgaben nicht mehr, ist eine weitere Betriebsfortführung grundsätzlich nur noch dann gerechtfertigt, wenn davon auszugehen ist, dass das Unternehmen später zu einem Preis veräußert werden kann, der abzüglich der aufgelaufenen Verluste den Zerschlagungswert des Unternehmens übersteigt2.

b) Pflichten aus übergegangener Unternehmerstellung 24.101

Zum Verwalter kann nach § 56 Abs. 1 InsO nur eine natürliche Person ernannt werden. Mit Bestellung geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das insolvenzbefangene Vermögen auf den Verwalter über3. Die bisherige Geschäftsleitung wird aus ihren Kompetenzen, soweit sie die Unternehmensführung betreffen, vollständig verdrängt. Der Verwalter übernimmt also schlagartig die gesamte Unternehmensführung. Für die Erfüllung sämtlicher Pflichten haftet er den Beteiligten persönlich (§ 60 InsO).

24.102

Den Verwalter treffen damit auch alle Pflichten des Arbeitgebers, d.h. insbesondere die Lohnzahlungspflicht (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 1 InsO), die allgemeine Fürsorgepflicht und alle betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitgeberpflichten (näher dazu Rz. 26.1).

24.103

Im Falle einer Unternehmensfortführung treffen den Insolvenzverwalter des Weiteren höchstpersönlich alle handels- und steuerrechtlichen Pflichten des Schuldners in Bezug auf die Insolvenzmasse (§ 155 Abs. 1 Satz 2 InsO). Der Insolvenzverwalter hat somit gemäß §§ 238 ff. HGB Handelsbücher nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung zu führen und nach § 242 HGB i.V.m. §§ 264 ff. HGB Jahresabschlüsse zu fertigen. Daneben obliegt ihm zum Zweck der steuerlichen Gewinnermittlung nach § 140 AO die Erstellung der gesetzlich vorgeschriebenen Steuerbilanzen. Der Insolvenzverwalter hat insbesondere aber auch Steueranmeldungen und -erklärungen (§ 149 AO) abzugeben.

24.104

In der Rolle des Unternehmers haftet der Insolvenzverwalter beispielsweise auch für die unbefugte Benutzung fremder Patente4.

24.105

Mit Amtsübernahme hat er aber nicht nur alle Unternehmensfragen von Bedeutung eigenverantwortlich zu entscheiden, sondern ihm obliegt auch jeder einzelne Verfügungsakt über das verwaltete Vermögen im Rahmen des Tagesgeschäfts. 1 S. Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 12 Rz. 182, 187. 2 Vgl. Mönning, Betriebsfortführung in Restrukturierung und Insolvenz, § 12 Rz. 187 f. 3 Sie kann bereits zuvor im Eröffnungsverfahren auf einen vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis übergegangen sein (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO). 4 BGH v. 5.6.1975 – X ZR 37/72, NJW 1975, 1969 zur Rechtslage unter der KO.

774 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.111 § 24

Um sich einen Einblick in die herrschenden Produktionsbedingungen des insolventen Unternehmens zu verschaffen, steht dem Verwalter praktisch keine Einarbeitungszeit zur Verfügung. Der Verwalter steht in größeren Insolvenzen somit regelmäßig vor einer Aufgabe, die er unmöglich im Alleingang bewältigen kann.

24.106

Der Verwalter ist deswegen in größeren Verfahren einerseits auf ein kompetentes Team aus Spezialisten des Insolvenzrechts und geübten Unternehmenssanierern angewiesen, andererseits aber auch auf die Kooperation der Mitarbeiter des insolvenzbefangenen Unternehmens.

24.107

Die Vielzahl der zu erfüllenden Aufgaben muss der Verwalter zu großen Teilen auf das danach zusammengestellte Führungsteam delegieren, das den Verwalter auch im Außenverhältnis vertritt. Eine derartige Vertretung ist in der InsO zwar nicht näher geregelt, jedoch wird sie in § 60 Abs. 2 InsO zumindest angesprochen. Nicht zuletzt aus dem evidenten praktischen Bedürfnis heraus wurde eine Vertretung des Verwalters schon unter Geltung der KO für zulässig gehalten1.

24.108

Dies gilt allerdings nicht für die spezifisch verfahrensrechtlichen Rechte und Pflichten wie z.B. die Ausübung des Wahlrechts nach den §§ 103 ff. InsO oder die Insolvenzanfechtung2. Dagegen können Rechtsgeschäfte außerhalb dieses Bereichs wirksam auch durch Vertreter des Verwalters vorgenommen werden3. Insbesondere in Fällen längerdauernder Betriebsfortführung kann es dazu auch notwendig sein, die Mitglieder des Mitarbeiterteams mit einer förmlichen Handlungsvollmacht oder Prokura auszustatten4.

24.109

Nach § 60 Abs. 2 InsO haftet der Verwalter für von ihm eingesetzte Hilfspersonen grundsätzlich nach § 278 BGB5 (s. hierzu ausführlich Rz. 24.228). Eine Ausnahme hiervon bilden Angestellte (und vermutlich auch sonstige Beschäftigte) des Schuldners, die im Rahmen einer Betriebsfortführung weiterbeschäftigt werden; für deren Verschulden haftet er nur nach den Grundsätzen des § 831 BGB. § 60 Abs. 2 InsO belässt dem Verwalter jedoch die volle Verantwortung für Entscheidungen von besonderer Bedeutung.

24.110

3. Betriebseinstellung a) Allgemeines Die Betriebseinstellung des Schuldnerunternehmens ist als Gegenstück zum Betriebsübergang und der Fortführung anzusehen6. Relevant ist sie immer in den Fällen, in denen eine Fortführung oder Veräußerung rechtlich oder wirtschaftlich nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll ist (Stilllegung in der Liquidation, vgl. Rz. 12.104 f.).

1 Vgl. Eickmann, KTS 1986, 199 ff.; zur aktuellen Rechtslage: Heckschen in Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Gestaltungspraxis, 3. Aufl. 2022, § 7 C. Rz. 16. 2 Zobel in Uhlenbruck, § 113 InsO Rz. 29. 3 Eickmann, KTS 1986, 202 f.; Heckschen in Reul/Heckschen/Wienberg, Insolvenzrecht in der Gestaltungspraxis, 3. Aufl. 2022, § 7 C. Rz. 16; Zobel in Uhlenbruck, § 113 InsO Rz. 29. 4 S. zur KO Kuhn/Uhlenbruck, 11. Aufl. 1994, § 23 KO Rz. 7b; Karsten Schmidt, BB 1989, 233 ff.; Krafka, Registerrecht, 11. Aufl. 2019, Rz. 360; a.A. für die Prokuraerteilung offenbar Mohrbutter in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch der Insolvenzverwaltung, S. 235. 5 S. Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 6.41 ff.; Baumert in Braun, § 60 InsO Rz. 33; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 98. 6 Vgl. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93.

Schluck-Amend | 775

24.111

§ 24 Rz. 24.112 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

24.112

Betriebsstilllegung beschreibt die Zerschlagung des Unternehmens in ernstlicher und endgültiger Absicht der dauerhaften Aufgabe der Betriebs- und Produktionsgemeinschaft1. Dabei ist nicht nur die Produktion einzustellen, sondern auch die dem Betriebszweck dienende Organisation aufzulösen2. Die Stilllegung darf nicht nur vorübergehender Natur sein: sie unterscheidet sich vom Betriebsübergang und von Produktionsausfällen eben durch die Erheblichkeit der Zeitspanne der Betriebseinstellung3. Eine Stilllegung des gesamten Unternehmens ist nicht erforderlich, sie kann sich auch nur auf einzelne Betriebsteile beschränken4.

b) Stilllegung vor dem Berichtstermin (§ 158 InsO) aa) Allgemeines

24.113

Grundsätzlich gewährt das Gesetz den Gläubigern in § 157 Satz 1 InsO Freiheit bezüglich der Art der Verwertung der Insolvenzmasse. Sie sollen frei zwischen dem Fortführungswert und dem Liquidationswert wählen dürfen5. Da diese reversible Entscheidungskompetenz erst im Berichtstermin zum Tragen kommt, besteht für den Insolvenzverwalter im Regelfall mindestens bis zu diesem Zeitpunkt die Pflicht, das schuldnerische Unternehmen fortzuführen6. Die Gläubigerversammlung hat jedoch dann keinen Entscheidungsspielraum über die Zukunft des Schuldners mehr, wenn der Betrieb schon vor Antragsstellung eingestellt wurde oder der Verwalter ausnahmsweise noch vor dem Berichtstermin gemäß § 158 Abs. 1 InsO die Stilllegung betreibt. Weil eine solche Betriebseinstellung nach § 158 InsO einen gravierenden Einschnitt in die Gläubigerrechte darstellt, unterliegt sie strengen Voraussetzungen. bb) Voraussetzungen und die Pflicht zur Stilllegung

24.114

Die Gründe, die eine Stilllegung des Betriebes vor dem Berichtstermin durch den Insolvenzverwalter rechtfertigen, können wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur sein7. Zwingend ist die Betriebseinstellung aus rechtlicher Sicht jedenfalls dann, wenn eine zur Fortführung erforderliche Gewerbeerlaubnis unanfechtbar widerrufen wurde oder keine Stellvertretung nach 1 Vgl. BAG v. 17.9.1957 – 1 AZR 352/56, NJW 1957, 1855; BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, 170, 171 = ZIP 1987, 1478; BAG v. 27.11.2003 – 2 AZR 48/03, NZA 2004, 477, 478 = ZIP 2004, 966; BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 1043/06, NZA 2007, 1431, 1435 = ZIP 2007, 2233; Höfer in Runkel/Schmidt, Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2022, § 15 Rz. 624; Beck/Pechartscheck in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, § 18 Rz. 20. 2 Auch BAG v. 13.11.1986 – 2 AZR 771/85, NZA 1987, 458 = ZIP 1987, 525; BAG v. 3.7.1986 – 2 AZR 68/85, NZA 1987, 123, 124 = ZIP 1986, 1595; BAG v. 12.2.1987 – 2 AZR 247/86, NZA 1988, 170, 171 = ZIP 1987, 1478; Höfer in Runkel/Schmidt, Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2022, § 15 Rz. 624. 3 Zwei Monate für ungenügend haltend BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, NZA 1985, 493, 495 = ZIP 1985, 698; Höfer in Runkel/Schmidt, Anwalts-Handbuch Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2022, § 15 Rz. 624. Zum tatbestandlichen Ausschluss von Stilllegung und Betriebsübergang BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. 4 Vgl. Zipperer in Uhlenbruck, § 158 InsO Rz. 4; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 7; Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 1; zur Einstellung im vorläufigen Insolvenzverfahren Rz. 21.13 ff. 5 Auch Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 1. 6 Auch Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 1; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 1 f.; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 1. 7 Vgl. Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 13 ff.; Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 1.

776 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.116 § 24

§§ 46, 47 GewO möglich ist1. Problematisch ist auch immer die Fortführung des Unternehmens eines Freiberuflers, wenn hierfür besondere berufliche Zulassungsvoraussetzungen erforderlich sind oder wichtige Unterlagen einem Berufsgeheimnis unterliegen und der Schuldner nicht bereit ist, weiter mitzuarbeiten2. Ein wirtschaftlicher Grund für die Einstellung des Betriebes kann die negative Auswirkung der Fortführung auf die Masse sein. Weil die gesetzliche Wertung des § 158 Abs. 2 Satz 2 InsO auch für den Verwalter gilt, muss der Masse hierfür aber eine erhebliche Minderung drohen3. cc) Der Gläubigerausschuss Gemäß § 158 Abs. 1 InsO muss der Insolvenzverwalter vor der Stilllegung des Betriebes die Zustimmung des Gläubigerausschusses einholen, sofern ein solcher nach § 67 InsO bestellt worden ist. Existiert kein Ausschuss, so kommt die Stilllegung ohne Beteiligung der Gläubiger zu Stande: Es ist nicht etwa eine Zustimmung der Gläubigerversammlung erforderlich4. Zwar gilt das Schweigen des Gläubigerausschusses, wie auch ein entsprechender negativer Beschluss, als Ablehnung der Stilllegung, nichtsdestotrotz sind entgegenstehende Handlungen des Insolvenzverwalters aber gemäß § 164 InsO wirksam5. Unter Umständen tauscht der Insolvenzverwalter sein Haftungsrisiko wegen pflichtwidrigen Verhaltens nach §§ 60, 61 InsO nur gegen ein anderes Haftungsrisiko nach §§ 60, 61 InsO aus6.

24.115

dd) Der Schuldner Obwohl eine Zustimmung des Schuldners zur Einstellung des Betriebes nicht erforderlich ist, muss dieser unabhängig vom Bestehen eines Gläubigerausschusses vom Verwalter gemäß § 158 Abs. 2 Satz 1 InsO über die beabsichtigte Stilllegung unterrichtet werden. Dies hat ohne Einhaltung einer besonderen Form, dafür aber so frühzeitig zu erfolgen, dass dem Schuldner genügend Zeit verbleibt, einen Antrag auf Untersagung der Betriebsstilllegung nach § 158 Abs. 2 Satz 2 InsO beim zuständigen Insolvenzgericht zu stellen7. Die Unterrichtung des Schuldners ist entbehrlich, wenn sie zu einer erheblichen Verzögerung der Betriebseinstellung zu Lasten der Masse führen würde, etwa wegen Unzustellbarkeit der Unterrichtung8. 1 S. Hess, § 158 InsO Rz. 9; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 15; Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 1. 2 Vgl. Tetzlaff, ZInsO 2005, 393 ff.; Schick, NJW 1990, 2359 ff.; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 14; Balthasar in Nerlich/Römermann, § 158 InsO Rz. 16; Ries in Kayser/ Thole, § 158 InsO Rz. 1. 3 S. Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 16; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 4; Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 1. 4 S. auch Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 3; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 7. 5 So Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 5; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 22, 20; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 7; Zipperer in Uhlenbruck, § 158 InsO Rz. 10; Andres in Andres/Leithaus, § 158 InsO Rz. 8; zur KO BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 241/93, DtZ 1995, 169 = ZIP 1995, 290. 6 Auch Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 7; Zipperer in Uhlenbruck, § 158 InsO Rz. 9. 7 S. Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 24; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 8; Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 6. 8 Auch Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 6; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 25.

Schluck-Amend | 777

24.116

§ 24 Rz. 24.117 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

24.117

Kommt es auf Grund der Antragsstellung des Schuldners zu einem Untersagungsverfahren, hat das Gericht den Insolvenzverwalter anzuhören. Die Stilllegung wird vom Gericht gemäß § 158 Abs. 2 Satz 2 InsO untersagt, wenn eine Fortführung des Unternehmens die Masse bis zum Berichtstermin nur unerheblich schmälert. Eine eventuell vorliegende Einwilligung des Gläubigerausschusses ist für die Stilllegungsentscheidung des Gerichtes unbeachtlich1. Dem Untersagungsantrag des Schuldners wird das Gericht aber nicht stattgeben, wenn der Insolvenzverwalter für die Fortführung des Betriebes nicht gedeckte Masseverbindlichkeiten begründen müsste2. Die sofortige Beschwerde gegen das Urteil des Gerichtes ist gemäß § 6 Abs. 1 InsO unzulässig3, jedoch verliert der Untersagungsbeschluss mit der Gläubigerversammlung im Berichtstermin seine Wirkung und legt die Entscheidung über die Stilllegung in die Hände der Gläubiger4.

c) Stilllegung nach dem Berichtstermin (§ 157 Satz 1 InsO) 24.118

Im gesetzlichen Regelfall beschließt die Gläubigerversammlung im Berichtstermin nach § 157 Satz 1 InsO, ob das Unternehmen stillgelegt oder fortgeführt werden soll. Weil sie die Konsequenzen einer eventuellen Fehlentscheidung selbst tragen müssen, können die Gläubiger völlig frei über das angestrebte Verfahrensziel entscheiden5. Das Insolvenzgericht hat bei einem Beschluss der Gläubigerversammlung, der offensichtlich einer bestmöglichen Gläubigerbefriedigung entgegensteht, grundsätzlich keine Möglichkeit, eigeninitiativ gegen den Versammlungsbeschluss vorzugehen6. Eine gerichtliche Kontrolle kann allenfalls auf Antrag eines absonderungsberechtigten Gläubigers, eines nicht nachrangigen Insolvenzgläubigers oder des Insolvenzverwalters nach § 78 InsO erfolgen. Ein entsprechender Antrag muss jedoch bereits in der Gläubigerversammlung gestellt werden7. Dafür besteht für die Gläubigerversammlung gemäß § 157 Satz 3 InsO das Recht, den im ersten Berichtstermin festgesetzten Beschluss in späteren Terminen zu ändern. Diese Möglichkeiten der Entscheidungsrevision nach § 78 InsO und § 157 Satz 3 InsO helfen jedoch nur eingeschränkt gegen den Beschluss der Gläubigerversammlung. § 78 InsO verlangt den Antrag in der Gläubigerversammlung8 und die Möglichkeit der Abänderung durch die Gläubigerversammlung selbst verliert an Wert und Bedeutung, je weiter die zuvor beschlossene Betriebsstilllegung schon fortgeschritten ist.

24.119

Für die Beschlussfassung gelten die Regelungen der §§ 76 bis 78 InsO über das Stimmrecht, die Mehrheitserfordernisse und den Minderheitenschutz9. Wird in der Versammlung kein 1 Vgl. Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 5; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 29. 2 So Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 9; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 28. 3 Auch Hess, § 158 InsO Rz. 8; Ries in Kayser/Thole, § 158 InsO Rz. 6; Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 11: Ergeht die Entscheidung jedoch durch den Rechtspfleger (§ 3 Nr. 2 RPflG), so ist die befristete Erinnerung zulässig (§ 11 Abs. 2 Satz 1 RPflG). 4 So Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 158 InsO Rz. 31; Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 158 InsO Rz. 10. 5 S. Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 4; Haffa/Leichtle in Braun, § 157 InsO Rz. 1. 6 Ausführlich Gundlach/Frenzel/Strandmann, NZI 2008, 461, 463; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 25 (außer in krassen Ausnahmefällen). 7 Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 25; Zipperer in Uhlenbruck, § 157 InsO Rz. 31; Haffa/Leichtle in Braun, § 158 InsO Rz. 7. 8 Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 25 f. 9 S. Decker in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 157 InsO Rz. 2; Hess, § 157 InsO Rz. 2; Ries in Kayser/Thole, § 157 InsO Rz. 8.

778 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.142 § 24

Beschluss über das weitere Verfahren gefällt, muss das Schuldnervermögen gemäß § 159 InsO unverzüglich verwertet werden1.

d) Arbeitnehmer Die Zustimmungs- und Mitwirkungserfordernisse der Arbeitnehmer des insolventen Betriebes nach §§ 121 ff. InsO und §§ 111 ff. BetrVG bleiben von den Regelungen der §§ 157 f. InsO unberührt2.

24.120

24.121–24.140

Einstweilen frei.

VI. Bilanzpraxis in der Insolvenz der GmbH Die periodische Rechnungslegung der Gesellschaft im Insolvenzverfahren ist von der in §§ 151 ff. InsO bzw. § 66 InsO vorgeschriebenen Rechnungslegung des Verwalters gegenüber den Insolvenzverfahrensbeteiligten zu unterscheiden3. Dieser Grundgedanke ist derselbe wie im Recht der gesellschaftsrechtlichen Liquidation (vgl. Rz. 12.12). Das Institut der Wirtschaftsprüfer hat seine Berufsauffassung zur Rechnungslegung in der Insolvenz in folgenden IDWRechnungslegungshinweisen4 dargelegt: IDW RH HFA 1.010

Bestandsaufnahme im Insolvenzverfahren5

IDW RH HFA 1.011

Insolvenzspezifische Rechnungslegung im Insolvenzverfahren6

IDW RH HFA 1.012

Externe (handelsrechtliche) Rechnungslegung im Insolvenzverfahren7

24.141

Diese werden nicht nur von den Wirtschaftsprüfern bei der Prüfung der Rechnungslegung zugrunde gelegt, sondern dienen auch zur Konkretisierung der Dokumentationspflichten des Insolvenzverwalters gegenüber den übrigen Verfahrensbeteiligten (Insolvenzgericht, Gläubigerausschuss, Gläubigerversammlung) bei der Masseverwaltung und Masseverwertung.

1. Interne Rechnungslegung Das Verzeichnis der Massegegenstände (§ 151 InsO) bildet zusammen mit dem Gläubigerverzeichnis (§ 152 InsO) die Grundlage für die Vermögensübersicht (§ 153 InsO) und damit die Basis für die insolvenzspezifische interne Rechnungslegung (§ 66 InsO)8. Diese ist nach § 197 1 So Hess, § 157 InsO Rz. 2; Haffa/Leichtle in Braun, § 157 InsO Rz. 3. 2 Vgl. Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 33 ff.; Hess, § 158 InsO Rz. 13; Plössner in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch der Insolvenzverwaltung, § 29 Rz. 108, 109. 3 Dazu Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 204 ff.; dies war die Kernthese der Arbeit von Karsten Schmidt über Liquidationsbilanzen und Konkursbilanzen, 1989, S. 70 ff.; jetzt h.M. 4 Sämtlich verabschiedet vom Fachausschuss Recht (FAR) und dem Hauptfachausschuss (HFA) am 13.6.2008. 5 IDW FN 6/2008, S. 309; abgedruckt in ZInsO 2009, 75 ff. 6 IDW FN 6/2008, S. 321; abgedruckt in ZInsO 2009, 130 ff. 7 IDW FN 6/2008, S. 331; abgedruckt in ZInsO 2009, 179 ff. 8 IDW RH HFA 1.011, ZInsO 2009, 130 Rz. 12; zur fortschreibenden Rechnungslegung: Langer/ Bausch, ZInsO 2011, 1287 ff.; zu Schlussrechnungsstandards: Haarmeyer/Basinski/Hillebrand/Weber, ZInsO 2011, 1874 ff. mit Standardkontenrahmen (SKR-InsO) in Anl. 2.

Schluck-Amend und Sinz | 779

24.142

§ 24 Rz. 24.142 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Abs. 1 Nr. 1 InsO Gegenstand der Erörterung im Schlusstermin. Zur externen handelsrechtlichen Rechnungslegung besteht nur ein mittelbarer Zusammenhang.

24.143

Im Verzeichnis der Massegegenstände (§ 151 InsO) sind alle1 Vermögenswerte aufzunehmen, die sich bei Verfahrenseröffnung im Besitz des Schuldners befinden, aber auch solche, die während des Verfahrens in dieses Vermögen noch gelangen, einschließlich derjenigen, die handelsrechtlich nicht aktivierungspflichtig oder nicht aktivierungsfähig sind wie stille Reserven, Gesamtschadensansprüche oder Ansprüche aus Insolvenzanfechtung. Die Aufstellung unterliegt dem Vollständigkeits- und Einzelerfassungsgebot. Inventurvereinfachungsverfahren (§§ 240, 241 HGB) dürfen nur in besonders zu dokumentierenden Ausnahmefällen (z.B. bei völlig unwirtschaftlichen Kosten) angewandt werden2. Eine besondere Form des Masseverzeichnisses ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. In der Praxis üblich ist eine tabellarische Aufstellung, deren Gliederung sich an § 266 HGB orientiert. § 151 Abs. 2 InsO schreibt vor, dass der tatsächliche Wert eines jeden Gegenstandes, bezogen auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung, anzugeben ist, und zwar gesondert als Fortführungs- und Liquidationswert, sofern sich beide Werte unterscheiden. Scheidet eine Fortführung des Unternehmens aus (z.B. weil es bei Antragstellung schon stillgelegt ist), entfällt die Doppelangabepflicht3. Liquidationswert ist der am konkreten (insolvenzspezifischen) Absatzmarkt im Wege der Einzelveräußerung erzielbare Preis; eine Verrechnung mit Kosten der Verwertung findet nicht statt, vielmehr sind diese unter den Masseverbindlichkeiten auszuweisen4. Der Fortführungswert bestimmt sich nach dem konkreten Konzept der Fortführung und der geplanten Verwertung des Unternehmens als Ganzes, im Rahmen einer Teilfortführung oder eines Insolvenzplans5.

24.144

Im Gläubigerverzeichnis (§ 152 InsO) sind alle bekannten Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners einzeln mit Grund und Betrag der Forderung sowie unter gesonderter Berücksichtigung von Absonderungsrechten und Aufrechnungsmöglichkeiten aufzulisten6; die zusätzliche Angabe von Name und ladungsfähiger Anschrift der Gläubiger ist Grundlage für die vorzunehmenden Zustellungen, insb. des Eröffnungsbeschlusses. Zur besseren Übersichtlichkeit empfiehlt sich eine Gliederung nach Gläubigergruppen (Verfahrenskosten, sonstige Masseverbindlichkeiten7, Insolvenzgläubiger, aufrechnungsberechtigte Gläubiger, absonderungsberechtigte Gläubiger, nachrangige Gläubiger und Aussonderungsgläubiger).

24.145

Die Vermögensübersicht (§ 153 InsO) ist ein auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung verdichtetes Bild der Aktiva und Passiva, indem sie auf der Aktivseite handelsbilanzähnlich gegliedert die Massegegenstände und auf der Passivseite entsprechend den insolvenzspezifischen Besonderheiten das Gläubigerverzeichnis in Sammelposten (analog § 266 HGB) abbildet8. So1 Ungeachtet etwaiger Absonderungsrechte; bei Einzelkaufleuten auch das Privatvermögen. Aussonderungsgegenstände sind aufzunehmen, wenn die Rechtslage zweifelhaft ist oder die Ausübung von Wahlrechten (z.B. aus § 107 Abs. 2 InsO) noch nicht feststeht (IDW RH HFA 1.010, ZInsO 2009, 75 Rz. 18). 2 IDW RH HFA 1.010, ZInsO 2009, 75 Rz. 27 f. 3 Haffa in Braun, 9. Aufl. 2022, § 151 InsO Rz. 8; Jungmann in Karsten Schmidt, § 151 InsO Rz. 13. 4 IDW RH HFA 1.010, ZInsO 2009, 74 Rz. 34. 5 Als Bestandteil des Gesamtkaufpreises oder Wiederbeschaffungswert; IDW RH HFA 1.010, ZInsO 2009, 74 Rz. 36 ff. und Rz. 39 ff. zu Einzelfragen der Wertermittlung. 6 Dagegen werden in der Tabelle (§ 175 InsO) nur die angemeldeten Insolvenzforderungen eingetragen. 7 An sich widerspricht deren Angabe im Gläubigerverzeichnis dogmatisch dem Stichtagsprinzip. Dies ist jedoch zur Quotenschätzung notwendig. 8 IDW RH HFA 1.011, ZInsO 2009, 130 Rz. 20 ff.

780 | Sinz

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.147 § 24

weit für die Massegegenstände Liquidations- und Fortführungswerte ausgewiesen werden, sind beide zu übernehmen1. Die Darstellung erfolgt, wie in der Handelsbilanz, in Kontoform („gegenüberstellen“). In der Vermögensübersicht sind auch die geschätzten Masseverbindlichkeiten unter der Prämisse einer zügigen Verwertung auszuweisen, um aus der Gegenüberstellung der verteilungsfähigen Masse2 zur Summe aller an der Schlussverteilung teilnehmenden Forderungen (§ 188 InsO) die voraussichtliche Quote ermitteln zu können. Auf Antrag des Verwalters oder eines Gläubigers hat der Schuldner die Vollständigkeit der gesamten Vermögensübersicht einschließlich etwaiger Anfechtungstatbestände3 an Eides statt zu versichern. Ist die Vermögensübersicht nach Ansicht des Schuldners unrichtig/unvollständig, kann er nur Bedenken zu Protokoll geben oder eine von ihm entsprechend ergänzte Fassung versichern; er ist nicht berechtigt, deswegen die Versicherung zu verweigern4.

Anlass für eine Rechnungslegung nach § 66 InsO kann nicht nur der Abschluss des Verfahrens oder eine Nachtragsverteilung (§ 205 Satz 2 InsO) sein, sondern auch die vorzeitige Beendigung des Verwalteramtes durch Abwahl, Entlassung oder Tod5 sowie ein Beschluss der Gläubigerversammlung zur Zwischenrechnungslegung (§ 66 Abs. 3 InsO) oder die Anzeige der Masseunzulänglichkeit (§ 211 Abs. 2 InsO). Aufgrund der Verweisung in § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO besteht die Rechnungslegungspflicht auch für den vorläufigen Insolvenzverwalter und nach allgemeiner Auffassung6 auch für den gesetzlich nicht geregelten Sonderinsolvenzverwalter. Im Falle der Eigenverwaltung trifft diese Pflicht den Schuldner selbst (§ 281 Abs. 3 InsO). Adressat der Rechnungslegung ist die Gläubigerversammlung. Durch das ESUG wurde die Möglichkeit geschaffen, im Insolvenzplan eine abweichende Bestimmung zu treffen (§ 66 Abs. 4 InsO).

24.146

Eine Regelung, wie die Rechnungslegung im Einzelnen erfolgen soll, enthält die Insolvenzordnung nicht. Allgemein wird jedoch davon ausgegangen, dass zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Rechenschaftspflicht als Mindestinhalt gehören7:

24.147

– Schlussrechnung (Einnahmen-Ausgaben-Rechnung): In dieser sind – genauer gesagt – die Einzahlungen und Auszahlungen beginnend mit der Eröffnung des Verfahrens bis zum Zeitpunkt der Schlussrechnung erfasst. Sie leitet sich aus der Insolvenzbuchhaltung ab, in der alle pagatorischen Geschäftsvorfälle entsprechend den GoB chronologisch verbucht sind. Aufzunehmen sind alle Konten und Barkassen des Ver1 Haffa in Braun, 9. Aufl. 2022, § 153 InsO Rz. 3. 2 Das ist die Summe aller Verwertungserlöse nach Abzug der Zahlungen an (Aus- und) Absonderungsgläubiger sowie Befriedigung aller Verfahrenskosten und sonstigen Masseverbindlichkeiten. 3 Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 153 InsO Rz. 6; Depré in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 153 InsO Rz. 11. 4 BGH v. 21.10.2010 – IX ZB 24/10, NZI 2011, 61 ff. = ZIP 2010, 2306. 5 Hier haben die Erben die Teilschlussrechnung zu legen, wobei i.d.R. eine Überschussrechnung genügt; Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 4; Schmitt in Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 66 InsO Rz. 5. 6 Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 1; Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 36; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 19; Onusseit in Kübler/Prütting/Bork, § 66 InsO Rz. 9. 7 Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 48 ff.; Riedel in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 14 ff.; Schmitt in Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 66 InsO Rz. 9 ff.; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 5 ff.; Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 6. S. dazu auch die Vorschläge im GAVI (BR-Drucks. 566/07 (B)), unter Art. 1 Nr. 10 zur Ergänzung des § 66 InsO; IDW RH HFA 1.011, ZInsO 2009, 130 Rz. 47 ff.

Sinz | 781

§ 24 Rz. 24.147 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

fahrens einschließlich etwaiger Treuhandkonten1. Zu allen rechnerischen Belegen (Kontoauszügen, Kassenbuch) sind auch die jeweiligen sachlichen Belege (Verträge, Rechnungen etc.) beizufügen. – Schlussbericht (Tätigkeitsbericht): Erst die Erläuterung des Rechenwerks macht die Verwaltertätigkeit nachvollziehbar. Dies erfordert einen ergänzenden Bericht, der – anknüpfend an das Verzeichnis der Massegegenstände (§ 151 InsO) – Auskunft erteilt über die Zusammensetzung der Masse sowie die Art und Weise ihrer Realisierung, nämlich das Ergebnis der Verwertung von Massegegenständen einschließlich des Forderungseinzugs bzw. von Masseprozessen, die Abwicklung von Verträgen, etwaige Fortführungserfolge, befriedigte Aus- und Absonderungsrechte sowie bezahlte Masseverbindlichkeiten2. Soweit das Verwertungsergebnis von der ursprünglichen Prognose in der Vermögensübersicht abweicht oder eine Verwertung gänzlich scheitert, sind die Gründe dafür eingehend darzustellen. Der Vergütungsantrag des Insolvenzverwalters ergänzt den Schlussbericht und gehört mit zur Rechnungslegung3, da er die Insolvenzquote beeinflusst. – Schlussverzeichnis (Verteilungsverzeichnis): Auf der Grundlage der Insolvenztabelle ist das Verzeichnis nach § 188 InsO zu erstellen, in dem alle Forderungen aufzunehmen sind, die an der Verteilung teilnehmen4. Ferner ist die verteilungsfähige Masse anzugeben, die für die Schluss- und Nachtragsverteilung zur Verfügung steht. Vor jeder Verteilung ist, sofern vorhanden, die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen (§ 187 Abs. 3 Satz 2 InsO) und vor einer Schlussverteilung zusätzlich die Zustimmung des Insolvenzgerichts (§ 196 Abs. 2 InsO). – Schlussbilanz (abschließende Vermögensübersicht): Eine Verpflichtung zur Erstellung einer Insolvenzschlussbilanz besteht nicht5. Sie soll – als Fortführung der Insolvenzeröffnungsbilanz – das Ergebnis der gesamten Verwaltungs- und Verwertungstätigkeit zusammenfassen. Im Idealfall weist sie als einzigen Aktivposten nur noch das Guthaben auf dem Insolvenzsonderkonto aus (nebst ggf. nicht verwertbaren Vermögensgegenständen) und auf der Passivseite die noch offenen Verfahrenskosten6 sowie die an der Schlussverteilung teilnehmenden Forderungen.

24.148

Die Prüfung durch das Gericht (ggf. unter Hinzuziehung eines Schlussrechnungsprüfers als Sachverständigen) umfasst in formeller Hinsicht die äußere Ordnungsmäßigkeit und rechnerische Richtigkeit, wozu auch die Prüfung gehört, ob alle Geschäftsvorfälle ordnungsgemäß erfasst sind7 und die Voraussetzungen der Schlussverteilung vorliegen, d.h. die Verwertung der 1 Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 5. 2 Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 6; Riedel in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 17 ff. 3 IDW RH HFA 1.011, ZInsO 2009, 130 Rz. 65 ff. 4 Zu Einzelheiten: Preß/Henningsmeier in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 188 InsO Rz. 6. 5 Blümle in Braun, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 9; Riedel in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 14; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 6. 6 Bei Masseunzulänglichkeit auch offene Neu- und Altmasseverbindlichkeiten i.S. von § 209 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO. 7 Riedel in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 26.

782 | Sinz

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.151 § 24

Insolvenzmasse beendet ist1. In materieller Hinsicht beschränkt sich die Prüfung auf die Rechtmäßigkeit des Verwalterhandelns; eine Zweckmäßigkeitsprüfung der von ihm ergriffenen Maßnahmen findet nicht statt, es sei denn, es liegt ein insolvenzzweckwidriger Missbrauch vor2. Der Insolvenzverwalter bleibt auch in massearmen und masseunzulänglichen Verfahren zur insolvenzrechtlichen Rechnungslegung verpflichtet (originäre Aufgabe)3.

24.149

Die Pflicht zur Rechnungslegung dauert auch nach Einreichung des Schlussberichtes bis zur Aufhebung des Verfahrens an4 und wird regelmäßig durch die Einreichung eines sog. Ausschüttungsberichtes erfüllt, in den auch die in der Zwischenzeit angefallenen weiteren Einund Auszahlungen aufzunehmen sind.

24.150

2. Externe Rechnungslegung Gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 InsO ist der Insolvenzverwalter verpflichtet, die handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegungspflichten der GmbH im Insolvenzverfahren zu erfüllen, soweit diese die Insolvenzmasse betreffen (vgl. auch Rz. 12.12 ff.)5. Diese Verpflichtung besteht allerdings nur für solche Schuldner, welche bereits vor Insolvenzeröffnung der handelsrechtlichen Buchführungspflicht nach den §§ 238 ff. HGB unterlagen. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnt ein neues Geschäftsjahr (§ 155 Abs. 2 Satz 1 InsO). Es ist deshalb für die vorausgegangene Periode ein Rumpfgeschäftsjahr zu bilden und auf den Stichtag vor Insolvenzeröffnung vom Insolvenzverwalter6 ein vollständiger Jahresabschluss zu erstellen, also einschließlich Gewinn- und Verlustrechnung, Anhang und ggf. Lagebericht (Schlussbilanz der werbenden Gesellschaft)7. Dass diese Pflicht bereits den Insolvenzverwalter trifft, obwohl der Zeitraum, für den Rechnung zu legen ist, vor Insolvenzeröffnung liegt, erklärt sich daraus, dass die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung eine lückenlose Rechnungslegung und Dokumentation aller Geschäftsvorfälle erfordern; dazu gehören auch Gewinn- und Verlustvorträge aus der Vorperiode und die Nachvollziehbarkeit der Eröffnungsbilanzwerte in der Folgebilanz. Eine Bewertung zu Fortführungswerten ist nur gerechtfertigt, wenn trotz Insolvenzeröffnung nach dem Verwertungskonzept des Insolvenzverwalters von einer Fortführung auszugehen ist. Im Regelfall dürfte dies ausscheiden, so dass unter dem Gesichtspunkt der Wertaufhellung von Liquidationswerten auszugehen ist8. Insolvenzspezifische Ansprüche und 1 Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 8. 2 Blümle in Braun, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 18; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 12; Riedel in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 26; Metoja in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 66 InsO Rz. 65. 3 Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 66 InsO Rz. 10; Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 66 InsO Rz. 45 ff.; Onusseit in Kübler/Prütting/Bork, § 66 InsO Rz. 5. 4 BGH v. 30.9.2010 – IX ZB 85/10, NZI 2010, 997 Rz. 3. 5 Dazu Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 205; eingehend Förschle/Weisang in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. R 50 ff. 6 Streitig; für Pflicht des Insolvenzverwalters: Haffa in Braun, 9. Aufl. 2022, § 155 InsO Rz. 8; Jaffé in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 5 ff.; Boochs/Nickel in Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 155 InsO Rz. 17, 27; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 5, 12 f.; Förschle/Weisang in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. R 60. 7 Förschle/Weisang in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. R 56, 60; Kersting in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 41 GmbHG Rz. 13; Andres in Nerlich/Römermann, § 155 InsO Rz. 19 f.; Hess, § 155 InsO Rz. 35. 8 IDW RS HFA 17, Rz. 3, 19 ff.; IDW PS 270, Rz. 6; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 15.

Sinz | 783

24.151

§ 24 Rz. 24.151 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Verpflichtungen sind in der Schlussbilanz noch nicht zu erfassen, da sie erst mit Insolvenzeröffnung entstehen1.

24.152

Das neue Geschäftsjahr beginnt am Stichtag der Verfahrenseröffnung, woraus für den Insolvenzverwalter gemäß § 242 HGB die Pflicht zur Aufstellung einer handelsrechtlichen Insolvenzeröffnungsbilanz folgt2; diese knüpft nach dem Prinzip der Bilanzkontinuität unmittelbar an die für das Rumpfgeschäftsjahr aufgestellte Schlussbilanz an3. Auf der Aktivseite ergeben sich i.d.R. nur Korrekturen dadurch, dass noch insolvenzspezifische Ansprüche (insb. aus Insolvenzanfechtung) zu ergänzen sind sowie sich der „Nicht durch Eigenkapital gedeckte Fehlbetrag“ erhöhen wird; Wertberichtigungen sind nämlich bereits nach dem Wertaufhellungsgrundsatz (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB) in der Schlussbilanz berücksichtigt. Auf der Passivseite müssen noch Rückstellungen für die Verfahrenskosten (§ 54 InsO), etwaige sonstige Abwicklungskosten (Räumung, Datensicherung, Akteneinlagerung) und für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften4 (insb. unproduktive Lohnkosten während der auslaufenden Kündigungsfrist) gebildet werden. Ferner ist die Vorsteuerberichtigung aus § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG als Insolvenzforderung zu ergänzen. Die Eröffnungsbilanz unterscheidet sich in Ansatz und Bewertung von der Vermögensübersicht. Während in der Vermögensübersicht die handelsrechtlichen Bilanzierungs- und Bewertungsgrundsätze für Vermögensgegenstände nicht zu beachten sind, ist deren Beachtung auch in der Insolvenz für die handelsrechtlichen Rechenwerke zwingend geboten5. Ferner ist der Eröffnungsbilanz ein erläuternder Bericht beizufügen (analog § 270 Abs. 1 AktG, § 71 Abs. 1 GmbHG)6, der auch Angaben zum Verfahrensstand, der voraussichtlichen Verfahrensdauer und den geplanten Verwertungsmaßnahmen enthalten soll.

24.153

Vom Eröffnungszeitpunkt an besteht eine Pflicht zu jährlicher Rechnungslegung7, die während des Insolvenzverfahrens der Insolvenzverwalter wahrzunehmen hat, weil sie „in Bezug auf die Insolvenzmasse“ erfolgt (§ 155 Abs. 1 Satz 2 InsO). Nur der Insolvenzverwalter ist befugt, den mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens neu beginnenden Geschäftsjahresrhythmus zu ändern und wieder zum satzungsmäßigen Geschäftsjahr zurückzukehren; dazu bedarf es einer Anmeldung zur Eintragung im Handelsregister oder einer sonstigen Mitteilung an das Registergericht8. Lediglich im Fall der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO (Rz. 35.1 ff., 1 IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 14. 2 Vgl. nur Förschle/Weisang in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. R 75 f.; Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 18. 3 Andres in Nerlich/Römermann, § 155 InsO Rz. 23; Schöpfer in Kölner Kommentar zur InsO, 1. Aufl. 2017, § 155 InsO Rz. 78, 147; a.A. Kersting in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 41 GmbHG Rz. 14: „zwischen Schlussbilanz und Eröffnungsbilanz [gilt] der Grundsatz der Bilanzidentität gemäß § 252 II HGB nicht“. 4 § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB; Kozikowski/Schubert in Beck’scher Bilanz-Kommentar, 13. Aufl. 2022, § 249 HGB Rz. 52. 5 IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179, Rz. 21. 6 Begr. zu § 174 RegE-InsO, BT-Drucks. 12/2443, abgedruckt in Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 2. Aufl. 1999, S. 399 f.; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179, Rz. 22. 7 Förschle/Weisang in Deubert/Förschle/Störk, Sonderbilanzen, 6. Aufl. 2021, Rz. R 80; Kersting in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 41 GmbHG Rz. 15: „(Register-)Gericht kann aber iSd § 375 Nr. 6, §§ 376 f. FamFG (nicht das Insolvenzgericht) unter den Voraussetzungen des § 71 III (überschaubare Verhältnisse) von der Abschlussprüfung befreien“. 8 BGH v. 14.10.2014 – II ZB 20/13, NZI 2015, 135 m. Anm. Melchior = ZIP 2015, 88; Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 16; Haffa in Braun, 9. Aufl. 2022, § 155 InsO Rz. 8; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 10.

784 | Sinz

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.154 § 24

35.174) bleibt es bei der Rechnungslegungszuständigkeit der Geschäftsführer. Der Insolvenzverwalter muss sich, um der gesetzlichen Rechnungslegungspflicht zu genügen, auch bemühen, eine unvollständige Buchführung wieder in Ordnung zu bringen1. Daraus wird überwiegend seine Verpflichtung hergeleitet, auch Jahresabschlüsse für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung nachzuholen, zumal sich erst daraus die Eröffnungsbilanzwerte sowie Gewinnund Verlustvorträge ableiten lassen (Rz. 24.151)2. Dazu gehören auch nichtige Jahresabschlüsse3 für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung4. Als Vermögensverwalter gemäß § 34 AO hat er alle steuerlichen Pflichten des Schuldners zu erfüllen; daher trifft ihn auch die Verpflichtung, für sämtliche Steuerabschnitte Steuererklärungen und -anmeldungen abzugeben, und zwar einschließlich der Zeiträume vor Insolvenzeröffnung5. Nach der Rechtsprechung6 und der ihr folgenden h.M. in der Literatur7 soll der Insolvenzverwalter auch nach Eintritt der Massearmut weiter zur handels- und steuerrechtlichen Rechnungslegung verpflichtet sein. Lediglich für den Fall, dass damit umfangreiche Buchführungsund Abschlussarbeiten verbunden sind, hat die Rechtsprechung dies offen gelassen8. Die Finanzverwaltung kann wegen Nichtabgabe von Steuererklärungen (auch von sog. Null-Erklärungen) ein Zwangsgeld gegen den Verwalter festsetzen9. 1 BGH v. 29.5.1979 – VI ZR 104/78, BGHZ 74, 316 = ZIP 1980, 25; einschränkend; nur soweit für Erstellung der Eröffnungsbilanz notwendig: Boochs/Nickel in Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 155 InsO Rz. 28; Schöpfer in Kölner Kommentar zur InsO, 1. Aufl. 2017, § 155 InsO Rz. 20. 2 BFH v. 19.11.2007 – VII B 104/07, BFH/NV 2008, 334 Rz. 6; BFH v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 = GmbHR 1995, 143; LG Frankfurt/O. v. 4.9.2006 – 32 T 12/05, NZI 2007, 294 juris-Rz. 9 unter Hinweis auf OLG München v. 10.8.2005 – 31 Wx 61/05, ZInsO 2005, 1278 = GmbHR 2005, 1434; Jaffé in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 4; Boochs/Nickel in Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2018, § 155 InsO Rz. 27; Kersting in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 41 GmbHG Rz. 10; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 5. 3 Dies hat zur Folge, dass auch Gewinnverwendungsbeschlüsse analog § 253 AktG nichtig (BFH v. 17.12.2003 – I B 182/02, GmbHR 2004, 748) und die Empfänger rückgewährpflichtig sind (§ 62 Abs. 1 AktG, § 31 Abs. 1, § 32 GmbHG), es sei denn, sie waren im Hinblick auf die Umstände der Nichtigkeit gutgläubig. 4 Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 155 InsO Rz. 12; inzident auch OLG Dresden v. 30.9.2009 – 13 W 281/09, ZIP 2009, 2458. 5 BFH v. 19.11.2007 – VII B 104/07, BFH/NV 2008, 334 Rz. 6; BFH v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 sub 1.a. = GmbHR 1995, 143; Denkhaus in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 155 InsO Rz. 29; Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 155 InsO Rz. 16. 6 Grundlegend BFH v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 = GmbHR 1995, 143 sub 2.b, bb; bestätigt in BFH v. 6.11.2012 – VII R 72/11, ZIP 2013, 83 Rz. 18; BGH v. 22.7.2004 – IX ZB 161/03, ZInsO 2004, 970; a.A. Onusseit, ZIP 2005, 1798, 1804 f. Zwar sind diese Entscheidungen zu Steuererklärungspflichten ergangen; den Gründen ist jedoch zu entnehmen, dass sie sich auch auf (Steuer-)Bilanzen beziehen (BFH v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 sub 1.a und 2.b, cc = GmbHR 1995, 143; BGH v. 22.7.2004 – IX ZB 161/03, ZInsO 2004, 970 sub III.3.c und IV.1.), und daher die gleichen Rechtsgrundsätze auch für die handelsrechtlichen Pflichten gelten. 7 Kübler in Kübler/Prütting/Bork, § 155 InsO Rz. 18; Pelka/Niemann, Praxis der Rechnungslegung im Insolvenzverfahren, Rz. 77; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 40; einschränkend bei Betriebseinstellung: Jaffé in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 40; Denkhaus in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 155 InsO Rz. 4. 8 BFH v. 23.8.1994 – VII R 143/92, BStBl. II 1995, 194 sub 2.b, bb = GmbHR 1995, 143. 9 BFH v. 6.11.2012 – VII R 72/11, ZIP 2013, 83 Rz. 15.

Sinz | 785

24.154

§ 24 Rz. 24.155 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

24.155

Mit Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 200 InsO) endet das letzte Geschäftsjahr in der Insolvenz, für das gemäß § 155 InsO i.V.m. §§ 238 ff. HGB vom Verwalter eine handelsrechtliche Schlussbilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung, Anhang und ggf. Lagebericht zu erstellen ist1. Diese gehört zur externen Rechnungslegung und darf nicht mit der internen Schlussrechnungslegung des Insolvenzverwalters verwechselt werden.

24.156

Wird das Insolvenzverfahren ohne Vollbeendigung der Gesellschaft beendet (also durch Einstellung oder durch Aufhebung nach der Verabschiedung eines Insolvenzplans), so wird gleichfalls ein Rumpfgeschäftsjahr gebildet, und es beginnt für die fortbestehende Gesellschaft ein neues Geschäftsjahr mit Rechnungslegungspflichten der zuständigen Organe2.

24.157

Auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Kapitalgesellschaft bleibt dessen vertretungsberechtigtes Organ (und nicht etwa der Insolvenzverwalter) Adressat der Pflicht zur Offenlegung des Jahresabschlusses nach § 325 Abs. 1 HGB3. Dies hat der Gesetzgeber durch die Einfügung der Worte „für diese“ in § 325 Abs. 1 Satz 1 und § 325a Abs. 1 Satz 1 HGB ausdrücklich klargestellt4. Deshalb ist auch die Androhung eines Ordnungsgeldes wegen Nichteinreichens des Jahresabschlusses vom Bundesamt für Justiz an das Organ der Gesellschaft zu richten5. Allerdings wird es meist an dessen Verschulden fehlen, da die Insolvenzgesellschaft aufgrund des Insolvenzbeschlags mit Verfahrenseröffnung auf Rücklagen zur Aufbringung der Rechnungs- und Offenlegungskosten nicht mehr zugreifen kann6. Offenlegen kann der organschaftliche Vertreter der Kapitalgesellschafter nur einen Jahresabschluss, soweit er sich auf das nicht zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen bezieht. Er hat mithin eine sog „Nullbilanz“ einzureichen, um Gläubigern einen Einblick in das insolvenzfreie Vermögen zu verschaffen7. Selbst die Veröffentlichung eines nichtigen Jahresabschlusses genügt zur Erfüllung der Offenlegungsverpflichtung gemäß § 325 HGB, da sich die Prüfung auf die Vollständigkeit und Vollzähligkeit der Unterlagen beschränkt8. Ungeachtet der Adressatenstellung des Geschäftsführers für Sanktionen bleibt daneben der Insolvenzverwalter verpflichtet, Jahresabschlüsse in Bezug auf die Insolvenzmasse zu veröffentlichen9. Sofern der Insolvenzverwalter nicht zum satzungsmäßigen Geschäftsjahresrhythmus zurückkehrt (Rz. 24.153), bestimmt sich das maßgebliche Geschäftsjahr nach dem mit dem Tag der 1 IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 28 ff.; Lind in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 4. Aufl. 2020, § 155 InsO Rz. 8. 2 Kersting in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 41 GmbHG Rz. 16; Andres in Nerlich/Römermann, § 155 InsO Rz. 29. 3 LG Bonn v. 16.9.2009 – 30 T 366/09, NZI 2009, 781; LG Bonn v. 13.11.2008 – 30 T 275/08, NZI 2009, 194 = GmbHR 2009, 94; LG Bonn v. 30.6.2008 – 11 T 48/07, BeckRS 2008, 17128; LG Bonn v. 22.4.2008 – 11 T 28/07, ZIP 2008, 1082 = GmbHR 2008, 593; Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 14; Schlauß, BB 2008, 938; a.A. LG Frankfurt/O. v. 4.9.2006 – 32 T 12/05, NZI 2007, 294; Kübler in Kübler/Prütting/Bork, § 155 InsO Rz. 73d; Holzer, ZVI 2007, 401, 405 – Annex zur Bilanzierungspflicht; Grashoff, NZI 2008, 65, 69 – verfassungsrechtliche Bedenken; a.A. [Pflicht trifft Organ und Insolvenzverwalter] Denkhaus in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 155 InsO Rz. 17. 4 Beschlussempfehlung RA, BT-Drucks. 16/2781, S. 12, Begründung S. 81. 5 LG Bonn v. 16.5.2008 – 11 T 52/07, ZIP 2008, 662; LG Bonn v. 22.4.2008 – 11 T 28/07, ZIP 2008, 1082 = GmbHR 2008, 593; LG Frankfurt v. 1.10.2007 – 3-16 T 30/07, ZIP 2007, 2325. 6 LG Bonn v. 16.9.2009 – 30 T 366/09, ZIP 2009, 2107. 7 LG Bonn v. 13.11.2008 – 30 T 275/08, NZI 2009, 194 = GmbHR 2009, 94; Schmittmann in Karsten Schmidt, § 155 InsO Rz. 48; zur Zulässigkeit allgemein: LG Bonn v. 15.3.2013 – 37 T 730/12, ZIP 2013, 986 = AG 2014, 131. 8 BayObLG v. 26.5.2000 – 3 Z BR 111/00, NJW-RR 2000, 1350 = GmbHR 2000, 1103. 9 LG Bonn v. 7.5.2008 – 11 T 50/07, NZG 2008, 587.

786 | Sinz

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.171 § 24

Insolvenzeröffnung beginnenden Jahreszeitraum1. Die Erleichterungsvorschriften für kleine und mittelgroße Gesellschaften (§§ 326, 327 HGB) bleiben anwendbar. Gegenstand der Prüfungspflicht sind die Schlussbilanz nebst Gewinn- und Verlustrechnung sowie Anhang der werbenden Gesellschaft (ggf. auch Lagebericht), die Eröffnungsbilanz nebst erläuterndem Bericht, die periodischen Zwischenabschlüsse und die Schlussbilanz bei Beendigung des Insolvenzverfahrens2. Die Regelungen der §§ 316 ff. HGB, § 71 Abs. 3 GmbHG sind entsprechend anwendbar. Die Befreiung von der Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts gemäß § 71 Abs. 3 GmbHG kommt allerdings nach h.M. nicht in Betracht für Rechnungslegungszeiträume vor der Auflösung der Gesellschaft3.

24.158

24.159–24.170

Einstweilen frei.

VII. Übertragende Sanierung im eröffneten Verfahren 1. Grundsätzliches a) Die vom Verfasser mit diesem Begriff belegte „übertragende Sanierung“ (Rz. 6.221 ff.) ist ein der Unternehmensrettung dienender asset deal in Gestalt der Unternehmens-(Teil-)Veräußerung. Die übertragende Sanierung ist aus der Perspektive der Masse eine Verwertungshandlung, aus der Sicht des Unternehmens dagegen eine Sanierungsmaßnahme (vgl. Rz. 24.1). Außerhalb des Insolvenzverfahrens ist die übertragende Sanierung aus Gläubigersicht mit rechtlichen Fragezeichen versehen (Rz. 6.222 f.). Sie bekommt jedoch im Insolvenzverfahren ein anderes Gesicht4. Einer Beschlussfassung der Gesellschafter bedarf es für die Unternehmensübertragung nicht (vgl. demgegenüber Rz. 6.225). Das Bedenken fehlender Gläubigerbeteiligung entfällt ebenso wie das belastende Risiko einer unverhältnismäßigen Erwerberhaftung. Nach § 157 InsO hat die Gläubigerversammlung schon im Berichtstermin über die Stilllegung oder Fortführung des Unternehmens zu entscheiden5. Die Veräußerung des Unternehmens bedarf dann nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 InsO der Zustimmung des Gläubigerausschusses6, bei der Veräußerung an Insider sogar der Gläubigerversammlung (dazu bereits Rz. 24.13)7. Der Verwalter darf also das Unternehmen nicht ohne Anhörung der Gläubiger aus der Masse veräußern8. Die übertragende Sanierung hat damit im eröffneten Insolvenzverfahren eine vollständig veränderte Legitimationsgrundlage, auch wenn selbstverständlich das Entscheidungsschwergewicht in der Praxis innerhalb wie außerhalb des Insolvenzverfahrens bei dem Verwalter resp. den Gesellschaftern und bei wenigen Großgläubigern zu liegen pflegt. Die Mitsprache der Gläubiger schmälert auch die für die übertragende Sanierung charakteristische Schwierigkeit der Marktpreisfindung, vor allem wenn den Insolvenzgläubigern Teilforderungen gegen den Unternehmenserwerber zugestanden werden9. 1 LG Bonn v. 20.11.2009 – 39 T 1252/09, NZI 2010, 77 = ZIP 2010, 676. 2 Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 155 InsO Rz. 24; IDW RH HFA 1.012, ZInsO 2009, 179 Rz. 42. 3 OLG München v. 10.8.2005 – 31 Wx 61/05, NZI 2006, 108 = GmbHR 2005, 1434 = ZIP 2005, 2068; Haas in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 71 GmbHG Rz. 32. 4 Dazu Falk/Schäfer, ZIP 2004, 1337 ff.; Menke, BB 2003, 1133 ff. 5 Ausführlich Zipperer in Uhlenbruck, § 160 InsO Rz. 7 f. 6 Dazu etwa Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 157 InsO Rz. 16; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 160 InsO Rz. 14. 7 Eingehend Falk/Schäfer, ZIP 2004, 1337, 1339 ff. 8 Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, § 160 InsO Rz. 13 ff. 9 Vgl. Undritz in Kübler, HRI, § 2 Rz. 30.

Sinz und Karsten Schmidt | 787

24.171

§ 24 Rz. 24.172 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

24.172

b) Verringert ist auch im Vergleich zum asset deal außerhalb des Insolvenzverfahrens das Risiko einer Erwerberhaftung für Insolvenzverbindlichkeiten. Die Nichtanwendung des § 75 AO ist in dessen Abs. 2 ausdrücklich festgeschrieben. Die Nichtanwendbarkeit des § 25 HGB auf den Erwerb des Unternehmens aus der Insolvenzmasse entspricht gleichfalls einer gesicherten Rechtsprechung1. Schon nach dem altem Konkursrecht kamen bei der Unternehmensveräußerung aus der Masse § 419 BGB a.F. (Haftung des Vermögenserwerbers) und § 25 HGB (Haftung des Unternehmenserwerbers) nicht zum Zuge2. Der Erwerber des Unternehmens oder Unternehmensteils haftet also im Fall eines Erwerbs aus der Masse im Rahmen des eröffneten Insolvenzverfahrens nicht für die Insolvenzverbindlichkeiten, während § 613a BGB im Insolvenzverfahren anwendbar bleibt (dazu Rz. 26.211 ff.)3. Für all dies ist die Durchführung des Insolvenzverfahrens essenziell. Die h.M. dehnt das Haftungsprivileg allerdings nicht auf den Erwerb vom vorläufigen Insolvenzverwalter aus4, ebenso wenig auf den Erwerb vom Schuldner im Fall der masselosen Insolvenz5. Nicht geklärt ist bisher, ob die bei der übertragenden Sanierung drohende Altlastenhaftung des Erwerbers (Rz. 6.224) zum Zuge kommen kann. Die Praxis sollte sich auf dieses Risiko einrichten.

24.173

Bewerkstelligt wird der Transfer nach dem Spezialitätsgrundsatz durch Einzelübertragungen: Jeder Unternehmensgegenstand wird nach den für ihn geltenden Regeln auf die Auffanggesellschaft übertragen. Eine übertragende Sanierung im Wege der Ausgliederung nach §§ 123 ff. UmwG kann der Verwalter nicht durchführen, weil die umwandlungsrechtliche Ausgliederung auch im Insolvenzverfahren Sache der Gesellschafter bleibt6. Das beruht auf dem bei Rz. 24.11 ff. dargestellten Fortbestand ihrer mitgliedschaftlichen Kompetenzen im Insolvenzverfahren. Dagegen ist die Ausgliederung als Umwandlungsmaßnahme im Insolvenzplanverfahren seit 2012 gemäß § 225a Abs. 3 InsO zulässig (dazu sogleich Rz. 24.174 ff.).

2. Insolvenzplanverfahren 24.174

a) Die übertragende Sanierung wird auch unter dem modernisierten Insolvenzrecht zu den bedeutsamsten Verwalterstrategien gehören, wenngleich § 225a InsO eine Sanierung des Unternehmensträgers statt nur des Unternehmens erheblich erleichtert hat (dazu Rz. 31.4 ff., 31.28 ff.). Im Insolvenzplanverfahren kann die übertragende Sanierung ein zulässiges und zweckmäßiges insolvenzrechtliches Instrument sein7. Seit 2012 (Inkrafttreten des ESUG) kann die Überführung des Unternehmens auf einen Erwerber – auch eine Auffanggesellschaft – einschließlich der hierfür erforderlichen Zustimmung der Gesellschafter direkt in die Planprozedur einbezogen werden8. Es besteht aber daneben die konventionelle Möglichkeit, 1 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, NJW 2007, 942 = ZIP 2006, 386, dort weitere Nachw.; zusammenfassend Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 7 Rz. 99 ff. 2 RG v. 21.5.1904 – Rep. I 85/04, RGZ 58, 166, 168; BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151 = NJW 1988, 1912 = ZIP 1988, 727. 3 BAG v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, ZIP 1980, 117; BAG v. 23.7.1991 – 3 AZR 366/90, ZIP 1992, 49. 4 BGH v. 11.4.1988 – II ZR 313/87, BGHZ 104, 151 = NJW 1988, 1912 = ZIP 1988, 727; s. auch BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 215/06, BAGE 119, 306, 309 = NJW 2007, 942, 943; Karsten Schmidt, Handelsrecht, § 7 Rz. 103; zweifelnd aber BFH v. 23.7.1998 – VII R 143/97, BFHE 186, 318 = ZIP 1998, 1845; Ries in Röhricht/Graf von Westphalen/Haas, § 25 HGB Rz. 11. 5 BGH v. 4.11.1991 – II ZR 85/91, NJW 1992, 911 = ZIP 1992, 398. 6 Zu den Gesellschafterkompetenzen vgl. Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 192 ff. 7 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 400 f., 563 f., 656 f.; Koch/de Bra in Gottwald/ Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 66 Rz. 9; Eilenberger in Uhlenbruck, § 220 InsO Rz. 56 ff.; Wellensiek, NZI 2002, 233 ff.; Zipperer, NZI 2008, 206 ff. 8 Vgl. Balthasar in Kübler, HRI, § 26 Rz. 62 f.

788 | Karsten Schmidt

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.191 § 24

diesen Vorgang zur bloßen Voraussetzung im Rahmen eines bedingten Plans nach § 249 InsO zu machen1. b) Bei der Erstellung des Insolvenzplans, insbesondere seines darstellenden Teils (§ 220 InsO), spielt die einzuschlagende Zerschlagungs- oder Sanierungsstrategie eine entscheidende Rolle2. Insbesondere ist im Fall der übertragenden Sanierung darzustellen, dass nicht der Unternehmensträger saniert werden3, sondern das Unternehmen zu Sanierungszwecken aus der Insolvenzmasse herausgelöst werden soll4. Die übertragende Sanierung kann aus der Sicht der Insolvenzgläubiger eine optimale, im Insolvenzplan darzulegende Strategie der Masseverwertung sein, aber um einen echten Sanierungsplan nach dem Muster des § 225a InsO handelt es sich dabei nicht. Die bei Rz. 24.171 dargestellten Haftungsprivilegien für den Unternehmenserwerber gelten auch hier. Über die Abstimmung in der Gläubigerversammlung und über das Obstruktionsverbot vgl. Rz. 31.28 ff., 32.41 ff. Einstweilen frei.

24.175

24.176–24.190

VIII. Haftungsrealisierung durch den Insolvenzverwalter 1. Gesellschafterhaftung a) Dass die Gesellschafterhaftung zu Gunsten aller Gläubiger durch den Insolvenzverwalter geltend gemacht wird, versteht sich von selbst, wo die Haftung eines Gesellschafters als Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft ausgestaltet ist. Ansprüche aus einer solchen Innenhaftung gehören zur Insolvenzmasse (vgl. Rz. 24.22). Beispielsweise gilt dies – für die Einforderung nicht befreiend getilgter Einlageforderungen (§§ 5, 7, 19 GmbHG5), auch im Fall überbewerteter Sacheinlagen (§ 9 GmbHG), im Fall unwirksamer Voreinzahlungen auf erhöhtes Stammkapital (Rz. 6.12 ff.) sowie in den noch immer umstrittenen Fällen der verdeckten Sacheinlage, die nach der bis 2008 ständigen Rechtsprechung einer geleisteten Bareinlage die Befreiungswirkung generell nahmen6, seither noch im Fall einer Unterdeckung zur Haftung führen (dazu Rz. 6.20 ff.), – für die Unterbilanz- und Vorbelastungshaftung aus dem Gründungsstadium7, – für die Rückforderung verbotener Ausschüttungen gemäß § 31 GmbHG (dazu Rz. 2.26 ff.8), 1 2 3 4 5 6 7

8

Dazu Balthasar in Kübler, HRI, § 26 Rz. 226 f. Vgl. Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, § 220 InsO Rz. 18 ff. Dazu Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, § 220 InsO Rz. 17. Vgl. Eilenberger in Münchener Kommentar zur InsO, § 220 InsO Rz. 56; Zipperer, NZI 2008, 206, 207 f. Eingehend Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 372 ff.; Hess in Kölner Kommentar zur InsO, §§ 35, 36 InsO Rz. 434 ff.; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 308 f. BGH v. 21.2.1994 – II ZR 60/93, BGHZ 125, 141, 151 = GmbHR 1994, 394 = LM § 19 GmbHG Nr. 16 m. Anm. Heidenhain; BGH v. 4.3.1996 – II ZR 89/95, BGHZ 132, 183 = GmbHR 1996, 283; BGH v. 11.2.2008 – II ZR 171/06, ZIP 2008, 643 = GmbHR 2008, 483. Vgl. zu dieser BGH v. 9.3.1981 – II ZR 54/80, BGHZ 80, 129, 136 = GmbHR 1981, 114 = NJW 1981, 1373, 1376 f. = ZIP 1981, 394; BGH v. 24.10.1988 – II ZR 176/88, BGHZ 105, 300, 303 = GmbHR 1989, 74 = NJW 1989, 710 = ZIP 1989, 27; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 385 ff. Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 397 ff.; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 312.

Karsten Schmidt | 789

24.191

§ 24 Rz. 24.191 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

– für die konzernrechtliche Verlustübernahmepflicht einer Muttergesellschaft zu Gunsten der GmbH-Tochter im Vertragskonzern analog § 302 AktG1, – für die Verschuldenshaftung von Gesellschaftern, insbesondere von Allein- oder Mehrheitsgesellschaftern für existenzielle Eingriffe (dazu Rz. 24.193 ff.), – für die Insolvenzverschleppungshaftung von Gesellschaftern in den Fällen der Führungslosigkeit der Gesellschaft (Rz. 38.121).

Ohne weiteres zuständig ist der Insolvenzverwalter auch für die Insolvenzanfechtung, vor allem gerichtet auf Wiedereinzahlung zurückgewährter Gesellschafterdarlehen nach § 135 InsO (Rz. 35.172 ff.).

24.192

Für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Gesellschaft benötigt der Insolvenzverwalter keinen Gesellschafterbeschluss, und zwar auch nicht in Fällen des § 46 Nr. 8 GmbHG2.

24.193

b) Komplizierter verhält es sich mit der persönlichen Gesellschafterhaftung gegenüber Gesellschaftsgläubigern als Außenhaftung. Solche Haftungsansprüche sind charakteristisch für das Recht der Personengesellschaften einschließlich der GmbH & Co. KG3. Hier sorgt das Gesetz dafür, dass sowohl die beschränkte Kommanditistenhaftung (§ 171 Abs. 2 HGB) als auch die unbeschränkte Haftung persönlich haftender Gesellschafter (§ 93 InsO) durch den Insolvenzverwalter und nicht durch einzelne Gesellschaftsgläubiger geltend gemacht wird4. Bei einer eingetragenen und deshalb mit der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG versehenen GmbH wird es eine solche Haftung allenfalls unter Durchgriffsbedingungen geben, also wenn die Haftungsbeschränkung wegen Missbrauchs vollends negiert wird (Rz. 2.4)5. Solche echten Außendurchgriffe können wegen ihrer extremen Seltenheit nur ausnahmsweise in Betracht gezogen werden. Nach dem BGH-Urteil vom 24.6.2002 (KBV)6 musste zunächst damit gerechnet werden, dass der echte Haftungsdurchgriff bei der insolventen GmbH doch Bestandteil der Prozesspraxis werden könnte. Nachdem die Rechtsprechung mit dem Trihotel-Urteil vom 16.7.20077 und dem „Gamma“-Urteil vom 28.4.20088 die Existenzvernichtungshaftung nicht nur auf Fälle des § 826 BGB beschränkt, sondern zu einer Innenhaftung zurückgebildet hat (dazu Rz. 40.2), wird eine unbeschränkte Außenhaf1 Dazu BGH v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168, 182 = GmbHR 1989, 18, 20 = ZIP 1988, 1248; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 320. 2 H.M.; vgl. Karsten Schmidt in Scholz, 12. Aufl., § 46 GmbHG Rz. 152; auch für masselose Liquidation BGH v. 14.7.2004 – VIII ZR 224/02, GmbHR 2004, 1279 = ZIP 2004, 1708. 3 Dazu umfassend Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209 ff. 4 Dazu etwa Armbruster, Die Stellung des haftenden Gesellschafters in der Insolvenz der Personenhandelsgesellschaft nach geltendem und künftigem Recht, 1995, S. 142 ff.; Bork in Kölner Schrift zur InsO, 3. Aufl. 2009, S. 1021 ff.; Brinkmann, Die Bedeutung der §§ 92, 93 InsO für den Umfang der Insolvenz- und Sanierungsmasse, 2001; Oepen, Massefremde Masse, 2000, S. 147 ff.; M. Huber, Zwischen den Stühlen – Die persönliche Haftung in der Insolvenz, JuS 2009, 129; Karsten Schmidt, Persönliche Gesellschafterhaftung in der Insolvenz, ZHR 174 (2010), 163; Karsten Schmidt, Unbeschränkte Innenhaftung, in FS Goette, 2011, S. 459; Karsten Schmidt/Bitter, ZIP 2000, 1082 ff.; Wissmann, Persönliche Mithaft in der Insolvenz, 2. Aufl. 1998. 5 Zur Durchgriffshaftung Fastrich in Noack/Servatius/Haas, § 13 GmbHG Rz. 10 ff.; Bitter in Scholz, § 13 GmbHG Rz. 152 ff. 6 BGH v. 24.6.2002 – II ZR 300/00, BGHZ 151, 181 = GmbHR 2002, 902 = ZIP 2002, 1578. 7 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 = GmbHR 2007, 927 = ZIP 2007, 1552. 8 BGH v. 28.4.2008 – II ZR 254/06, BGH v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, GmbHR 2008, 805 m. Anm. Ulrich = DB 2008, 1423 = ZIP 2008, 1232.

790 | Karsten Schmidt

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.194 § 24

tung von GmbH-Gesellschaftern kaum noch zum Tragen kommen1. Feststehen sollte aber: Wenn im Insolvenzverfahren doch einmal ein Fortfall des aus § 13 Abs. 2 GmbHG ablesbaren Haftungsprivilegs mit der Folge der Außenhaftung geltend gemacht werden sollte, wäre die Realisierung dieser Haftung in Analogie zu § 93 InsO eine Aufgabe des Insolvenzverwalters, nicht der einzelnen Gläubiger2. Der Verwalter – und nur er – klagt analog § 93 InsO die Unterdeckung zu Gunsten der Gläubiger ein. Anwendbar ist § 93 InsO auch, wenn das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer noch nicht eingetragenen GmbH, also einer sog. Vorgesellschaft, eröffnet wird, vorausgesetzt man geht von einer Außenhaftung der Gesellschafter vor der Eintragung der (Vor)-GmbH aus3. Allerdings besteht der BGH auf einem Grundsatz einer bloßen Innenhaftung der Gründer4, so dass § 93 InsO auch hier für die Rechtsprechung nur von aktueller Notwendigkeit und Bedeutung ist, soweit der BGH in Ausnahmefällen eine Außenhaftung bejaht5. Das ist bezüglich aller – auch der schon bestehenden – Gesellschaftsverbindlichkeiten der Fall, wenn die Geschäftstätigkeit im Fall eines Scheiterns der Eintragung nicht sogleich eingestellt wird6. Auch nach diesem Modell einer nur ausnahmsweise eingreifenden Außenhaftung ist der strategische Wert des § 93 InsO im Bereich insolventer Vorgesellschaften nicht unbedeutend, denn die Bestimmung macht im Insolvenzfall jeden Streit um Innen- oder Außenhaftung gegenstandslos: Die Haftung wird unter Insolvenzbedingungen allemal im Innenverhältnis und damit durch den Insolvenzverwalter abgewickelt. Ist die Gesellschaft bereits eingetragen, so ist ohnedies aus der aus dem Gründungsstadium herrührenden persönlichen Haftung der Vorgesellschafter eine Vorbelastungshaftung der GmbH-Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft, also eine Innenhaftung geworden, und die wird selbstverständlich nur vom Verwalter geltend gemacht (Rz. 24.191). c) Der Anwendungsbereich des § 93 InsO im Personengesellschaftsrecht unter Einschluss der GmbH & Co. KG ist bestimmt durch den Tatbestand der unbeschränkten akzessorischen Außenhaftung (für die Kommanditistenhaftung gilt als Spezialnorm § 171 Abs. 2 HGB). Erfasst ist auch die zeitlich begrenzte Nachhaftung eines ausgeschiedenen oder durch Umwandlung in die Kommanditistenrolle zurückgetretenen vormals unbeschränkt haftenden Gesellschafters7. 1 Dazu Altmeppen, ZIP 2008, 1201 ff. 2 Vgl. BGH v. 25.7.2005 – II ZR 390/03, BGHZ 164, 50 = GmbHR 2005, 1425 = ZIP 2005, 1734; BAG v. 14.12.2004 – 1 AZR 504/03, ZIP 2005, 1174 = GmbHR 2005, 987 m. Anm. Schröder; LG Hildesheim v. 16.1.2001 – 10 O 135/00, ZInsO 2001, 474; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 4 f.; Hirte in Uhlenbruck, § 93 InsO Rz. 8; Röhricht in VGR (Hrsg.), Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2001, 2002, S. 14; a.M. BAG v. 14.12.2004 – 1 AZR 504/03, ZIP 2005, 1174, 1176 = GmbHR 2005, 987 m. Anm. Schröder; OLG Dresden v. 26.2.2001 – 2 U 2766/ 00, ZInsO 2001, 801 = NZG 2001, 664 (zur alten Gesamtvollstreckung); differenzierend Bitter, WuB II C. § 13 GmbHG 2.02. 3 Vgl. Karsten Schmidt in Scholz, § 11 GmbHG Rz. 91. 4 BGH v. 27.1.1997 – II ZR 123/94, BGHZ 134, 333, 341 = GmbHR 1996, 279 = LM § 11 GmbHG Nr. 38 m. Anm. Noack. 5 Vgl. etwa BGH v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, GmbHR 2003, 97 m. Anm. Karsten Schmidt = ZIP 2002, 2309 m. Anm. Drygala. 6 BGH v. 4.11.2002 – II ZR 204/00, BGHZ 152, 290 = GmbHR 2003, 97 m. Anm. Karsten Schmidt = NJW 2003, 429 (ausgeschiedener Gesellschafter); BGH v. 20.11.2008 – IX ZB 199/09, NZG 2009, 102 = ZIP 2009, 47 m. Anm. Piekenbrock, LMK 2009, 274742 (Umwandlung in Kommanditgesellschaft); s. auch OLG Schleswig v. 9.2.2004 – 5 W 4/04, ZInsO 2004, 1086; OLG Hamm v. 30.3.2007 – 30 U 13/06, ZIP 2007, 1233, 1239; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 17. 7 Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 6; Hirte in Uhlenbruck, § 93 InsO Rz. 10.

Karsten Schmidt | 791

24.194

§ 24 Rz. 24.194 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Zu Unrecht abgelehnt hat der BGH die Anwendung auf die sich aus § 133 UmwG ergebende Mithaftung des an einer Spaltung beteiligten Rechtsträgers1.

24.195

Nicht von § 93 InsO erfasst – und zwar nicht einmal im Fall einer Personengesellschaft2 – sind von Gesellschaftern gegebene persönliche Sicherheiten3. Die Bürgschaft eines GmbHGesellschafters oder die einem einzelnen Gläubiger gegebene Garantie steht diesem auch in der Insolvenz der Gesellschaft zum direkten Zugriff frei und bleibt außerhalb des Verwalterzugriffs. Der Bürge oder Garant kann seinen Regressanspruch im Insolvenzverfahren nur geltend machen, wenn er den Gläubiger befriedigt hat oder dieser auf die Geltendmachung der Forderung gegen die Gesellschaft verzichtet4. Auch § 44a InsO basiert auf diesem Grundsatz: Der durch die Bürgschaft eines Gesellschafters einer GmbH oder GmbH & Co. KG gesicherte Gläubiger ist nicht nur in der Lage, selbst gegen den Bürgen vorzugehen, sondern er muss dies sogar vorrangig tun. Auch eine Haftung aus §§ 69, 34 AO5 wird vom Gläubiger, also vom Steuerfiskus, selbst geltend gemacht.

24.196

d) Umstritten ist die Durchführung der vom Insolvenzverwalter nach § 93 InsO geltend gemachten Haftung. Die herrschende Ansicht versteht die Vorschrift in dem Sinne, dass der Insolvenzverwalter – eingeschränkt nur durch ein auf § 242 BGB gestütztes Verbot der Massebereicherung – jeden Gesellschafter gesamtschuldnerisch in Höhe der angemeldeten Insolvenzverbindlichkeiten in Anspruch nehmen kann (bei ausgeschiedenen Gesellschaftern naturgemäß nur bezüglich der haftungsrelevanten Altverbindlichkeiten)6. Das führt, wenn man den Wert einer vorhandenen Masse abzieht7, zu plausiblen Ergebnissen. Den Vorzug verdient jedoch ein am Modell des § 735 BGB orientierter Ansatz8: Der Insolvenzverwalter macht nicht die Einzelansprüche individueller Gläubiger als Gesamtsumme, sondern die sich aus ihnen ergebende Unterdeckung geltend. Im Unterschied zur Liquidations-

1 BGH v. 20.6.2013 – IX ZR 221/12, DB 2013, 1661 = ZIP 2013, 1433 = AG 2013, 594; zust. Hirte in Uhlenbruck, § 93 InsO Rz. 11. 2 BGH v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, BGHZ 152, 245 = ZIP 2002, 1492; Bitter, ZInsO 2002, 558 f. 3 BGH v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, BGHZ 152, 245 = ZIP 2002, 1492; Bitter, ZInsO 2002, 558 f.; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 21; Hirte in Uhlenbruck, § 93 InsO Rz. 18; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 20 f.; Karsten Schmidt, ZGR 1996, 209, 218 f.; a.M. in der Vorinstanz OLG Schleswig v. 21.9.2001 – 1 U 207/00, ZIP 2001, 1968; gleichfalls a.M. H.-F. Müller in Jaeger, § 93 InsO Rz. 23 ff. mit umfangreichen Nachw.; Bork, NZI 2002, 362 ff.; Kessler, DZWiR 2003, 488 ff.; bezüglich der Sperrwirkung des § 93 InsO a.M. auch Brinkmann, ZGR 2003, 264, 275 ff. 4 Dazu eingehend Karsten Schmidt/Bitter, ZIP 2000, 1077 ff.; Bitter in Münchener Kommentar zur InsO, § 44 InsO Rz. 12 ff. 5 BGH v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, BGHZ 151, 245 = ZIP 2002, 1492; BFH v. 2.11.2001 – VII B 155/01, BFHE 197, 1 = WM 2002, 1361 = ZIP 2002, 179. 6 BGH v. 9.10.2006 – II ZR 193/05, DStR 2007, 125 = ZIP 2007, 79; Haas/Mock in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 94 Rz. 62; Jens Schmidt in Kayser/Thole, § 93 InsO Rz. 31. 7 Dazu BGH v. 14.11.2005 – II ZR 178/03, BGHZ 165, 85, 96 = GmbHR 2006, 426 m. Anm. Schröder = NJW 2006, 1344, 1347 = ZIP 2006, 467; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 25; s. auch Karsten Schmidt/Drescher in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2022, § 128 HGB Rz. 100. 8 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 35; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, 4. Aufl., § 128 HGB Rz. 86; zuerst Karsten Schmidt, ZIP 2000, 1077, 1085 f.; sympathisierend Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 93 InsO Rz. 25; Kroth in Braun, § 93 InsO Rz. 21 ff.; s. jetzt aber Karsten Schmidt/Drescher in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2022, § 128 HGB Rz. 100.

792 | Karsten Schmidt

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.200 § 24

haftung der Gesellschafter nach § 735 InsO bleibt es allerdings bei einer gesamtschuldnerischen Haftung1.

2. Geschäftsführer- und Verwalterhaftung a) Soweit die Geschäftsführerhaftung eine reine Innenhaftung ist, stehen die Ansprüche wiederum der Gesellschaft zu, sind also Bestandteile ihrer Insolvenzmasse (§ 35 InsO) und unterliegen selbstverständlich der Geltendmachung durch den Insolvenzverwalter (§ 80 InsO). Das gilt insbesondere

24.197

– für Schadensersatzansprüche wegen pflichtwidriger Geschäftsführung nach § 43 GmbHG (dazu Rz. 40.19) und – für die Ansprüche wegen „verbotener Zahlungen“ nach § 15b InsO (vormals § 64 GmbHG bzw. § 130a HGB, dazu Rz. 38.51 ff.).

b) Außenhaftungsansprüche stehen nach materiellem Recht den Gläubigern zu, nicht der Gesellschaft, und gehören damit nicht zur Masse nach § 35 InsO. Aber nach § 92 Satz 1 InsO können Ansprüche der Insolvenzgläubiger auf Ersatz eines Schadens, den diese Gläubiger gemeinschaftlich durch eine Verminderung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlitten haben (Gesamtschaden), während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden. Richten sich diese Ansprüche gegen den Verwalter, so können sie nach § 92 Satz 2 InsO nur von einem neu bestellten Insolvenzverwalter geltend gemacht werden2. Der Sinn und Zweck dieser Regelung besteht darin, auch bei diesen der Gläubigergesamtheit dienenden Ansprüchen für eine gleichmäßige Verteilung zu sorgen und einen Gläubigerwettlauf zu verhindern3. Standardbeispiele sind

24.198

– in erster Linie Insolvenzverschleppungsschäden (Rz. 38.21 ff.) und – in zweiter Linie Haftungsansprüche gegen einen (vormaligen) Insolvenzverwalter nach § 60 InsO (dazu Rz. 24.221 ff.). Unter Rz. 38.25 ff. wird allerdings zu zeigen sein, dass die gegenwärtige Rechtsprechung gerade im Hauptanwendungsbereich des § 92 InsO, nämlich bei der Insolvenzverschleppungshaftung, die Vorzüge dieser Bestimmung nicht überzeugend zu nutzen versteht.

3. Vergleichsverbote für den Insolvenzverwalter? Soweit es um zwingenden Gläubigerschutz geht, stellt sich bei der Haftungsrealisierung durch den Insolvenzverwalter die Frage, inwieweit er (selbstverständlich unbeschadet seiner Verantwortung und Haftung nach § 60 InsO) durch Verzichts- oder Vergleichsverträge über die Haftungsgrundlage verfügen kann.

24.199

a) Bei Innenhaftungsansprüchen der Gesellschaft stellen sich in erster Linie Fragen des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes. Das Gesellschaftsrecht kennt eine Reihe von Ver-

24.200

1 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 36; aber noch nicht ausdiskutiert; vgl. Karsten Schmidt in FS Goette, S. 459, 467; reserviert Karsten Schmidt/Drescher in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl. 2022, § 128 HGB Rz. 100. 2 So bereits für das Recht vor der InsO BGH v. 22.4.2004 – IX ZR 128/03, BGHZ 159, 25 = ZIP 2004, 1218. 3 Dazu statt vieler Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 559.

Karsten Schmidt | 793

§ 24 Rz. 24.200 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

gleichs- und Verzichtsverboten, die bei wörtlicher Anwendung eine praxiskonforme Realisierung möglicher, aber bestrittener, gesellschaftsrechtlicher Ansprüche in Gefahr bringen. Zwei große Fallgruppen sind zu unterscheiden1: – Vergleich und Verzicht sind bei einer Reihe von gesellschaftsrechtlichen Ersatzansprüchen verboten: § 9b Abs. 1, § 43 Abs. 3 Satz 2, § 57 Abs. 4 GmbHG und § 15b Abs. 4 Satz 4 InsO (vormals § 64 Satz 4 GmbHG). – Im Recht der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung gilt kein Vergleichsverbot, wohl aber ein Befreiungsverbot, also ein Erlassverbot. Wir finden die Vorschriften in § 19 Abs. 2, § 25 und § 31 Abs. 4 GmbHG.

24.201

Ob diese Verbote auch im Fall der Insolvenz der Gesellschaft gelten, wird unterschiedlich beurteilt. Nur für die Insolvenz des Ersatzpflichtigen, also des Gesellschafters, deutet das Gesetz Einschränkungen an (§ 9b Abs. 1 Satz 2 GmbHG), nicht also für das Insolvenzverfahren über das Gesellschaftsvermögen. Klarheit muss darüber bestehen, dass die Befreiungs- und Verzichtsverbote des Kapitalsicherungsrechts auch den Verwalter binden2. Masse zu verschenken ist ihm verboten. Schwieriger verhält es sich bei den kombinierten Verzichts- und Vergleichsverboten. Nach der wohl herrschenden Auffassung gilt das Verzichts- und Vergleichsverbot nach § 64 Satz 4, § 43 Abs. 3 Satz 2 GmbHG für den Verwalter nicht3. Ihm obliegen zwar insolvenzrechtliche Pflichten (vgl. auch § 60 InsO), aber die strikten Verbote sind angeblich nicht anwendbar. Hüffer und in seiner Nachfolge Koch stützen ihren diesbezüglichen Standpunkt auf eine Reichsgerichtsentscheidung von 19104, die sich aber mit einer ganz anderen Frage befasst, nämlich mit dem heutigen § 93 Abs. 5 Satz 3 AktG5. Im Ergebnis ist nicht einzusehen, warum der Insolvenzverwalter im Gegensatz zu einem gesellschaftsrechtlichen Liquidator befugt sein soll, die Masse durch Verzichtsverträge auf Kosten der Gläubiger und der Gesellschafter zu schmälern.

24.202

b) Es gibt deshalb in Sachen Verzicht und Vergleich kein allgemeines Verwalterprivileg, wohl allerdings ein Vergleichsprivileg6, so dass auch die Vergleichsverbote für den Verwalter bloße Verzichtsverbote sind: Die Ansprüche sind, weil sie der Gläubigerbefriedigung dienen, der beliebigen Verfügung durch den Insolvenzverwalter entzogen. Solche streitschlichtende Eigenmächtigkeit – aber auch nur sie! – ist verboten. Vergleiche – insbesondere gerichtliche Vergleiche –, die auf einer objektivierbaren Abschätzung beiderseitiger Prozessrisiken beruhen, können sinnvollerweise nicht als verboten gelten. Wo ernster Zweifel hinsichtlich des Bestands und des Umfangs von Einlage- und Rückgewährschulden besteht, zwingt das Gesetz den Verwalter nicht, den Rechtsweg auszuschöpfen. Er kann – man möchte fast sagen: selbstverständlich – einen Streit mit dem Schuldner durch Vergleichsvertrag beilegen. Nur muss eben das Ergebnis dem abschätzbaren Prozessrisiko entsprechen, also auf eine Sicherung der durch einen vertretbaren Risikoabschlag reduzierten Forderung zielen7. Selbst ein Vergleich „zu Null“ ist dann, ebenso wie eine kostendämpfende Rechtsmittelrücknahme, möglich. Zur Haftungsabwehr (§ 60 1 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt, KTS 2001, 378 f. 2 Vgl. nur BayObLG v. 30.10.1984 – BReg. 3 Z 204/84, GmbHR 1985, 215 = ZIP 1985, 33, 34; Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 50, 66. 3 Vgl. zum Aktienrecht Koch, 16. Aufl. 2022, § 93 AktG Rz. 174; Hopt/Roth in Großkommentar zum AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 536; Sailer-Coceani in Karsten Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 73. 4 RG v. 17.12.1910 – Rep. I 400/09, RGZ 74, 428, 430. 5 Damals § 241 Abs. 4, § 249 Abs. 3 HGB a.F. 6 Karsten Schmidt, KTS 2001, 373, 379. 7 Karsten Schmidt, KTS 2001, 373, 379; zust. Sailer-Coceani in Karsten Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 64.

794 | Karsten Schmidt

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.221 § 24

InsO) empfiehlt es sich aber, bei allen Vergleichsverhandlungen eine die Kalkulation belegende Aktennotiz, in schwierigen Fällen unterlegt durch eine betriebswirtschaftliche Expertise, vorzuhalten1. Es versteht sich, dass das Vergleichsprivileg eine Haftung des Insolvenzverwalters nach § 60 InsO für schuldhaft-unvertretbare Fehleinschätzung nicht ausschließt2. c) Zweifelhaft sind auch die Vergleichsbefugnisse im Rahmen von § 92 InsO (Gesamtgläubigerschaden) und § 93 InsO bzw. § 171 Abs. 2 HGB (persönliche Gesellschafterhaftung). In beiden Fällen verfügt der Verwalter nicht über die Insolvenzmasse, sondern er macht Ansprüche der Gläubiger kollektiv geltend (zu § 93 InsO vgl. Rz. 24.193 ff.; zu § 92 InsO vgl. Rz. 24.152 ff.). Beide Bestimmungen enthalten eine Ermächtigung an den Insolvenzverwalter, Haftungsansprüche der Gläubiger treuhänderisch geltend zu machen, als wären sie Bestandteile der Insolvenzmasse. Diese Ermächtigung umfasst zwar nicht die Freigabe der Ansprüche3, wohl aber Vergleichsverträge, soweit diese nicht erkennbar dem Insolvenzverfahrenszweck und den Verwalterpflichten zuwiderlaufen4.

24.203

4. Geltendmachung im Verfahren der Eigenverwaltung und Freigabe a) Im Eigenverwaltungsverfahren werden die von §§ 92, 93 InsO erfassten Forderungen nicht vom Geschäftsführer für die Gesellschaft als Schuldnerin geltend gemacht, sondern vom Sachwalter (§ 280 InsO)5.

24.204

b) Eine echte Freigabe der Haftungsansprüche an die Schuldnerorgane in dem Sinne, dass massefreies Schuldnervermögen entsteht, ist unzulässig (vgl. Rz. 24.47 ff.; str.). Möglich ist dagegen die Ermächtigung eines Gläubigers zur Geltendmachung der Ansprüche für die den Insolvenzgläubigern gebührende Sondermasse (sog. modifizierte Freigabe)6.

24.205

24.206–24.220

Einstweilen frei.

IX. Haftungsrisiken des Verwalters 1. Haftungsrisiken des endgültigen Insolvenzverwalters a) Insolvenzspezifische Haftung aa) Grundkonzept § 60 Abs. 1 InsO Gemäß § 60 Abs. 1 InsO ist der Insolvenzverwalter allen Beteiligten zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er seinen insolvenzspezifischen Pflichten schuldhaft nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters nachkommt. Dieses gesetzliche 1 Karsten Schmidt, KTS 2001, 373, 380. 2 Haas/Wigand in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 20 Rz. 20.19. 3 Vgl. OLG Dresden v. 9.8.2005 – 2 U 897/04, ZIP 2005, 1680; H.-F. Müller in Jaeger, § 92 InsO Rz. 32, § 93 Rz. 55; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, 19. Aufl., § 92 InsO Rz. 13. 4 Vgl. zu § 93 InsO BAG v. 28.11.2007 – 6 AZR 377/07, ZIP 2008, 846 = DB 2008, 1051; zu beiden Bestimmungen H.-F. Müller in Jaeger, § 92 InsO Rz. 33, § 93 InsO Rz. 52 f.; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, 19. Aufl., § 92 InsO Rz. 11, § 93 InsO Rz. 30; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, § 92 InsO Rz. 17, § 93 InsO Rz. 14; Krüger, NZI 2002, 367. 5 Vgl. Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 624, 633. 6 Vgl. Bork in Kölner Schrift, 3. Aufl., Rz. 31/16; H.-Fr. Müller in Jaeger, § 93 InsO Rz. 55; Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 33.

Karsten Schmidt und Schluck-Amend | 795

24.221

§ 24 Rz. 24.221 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Schuldverhältnis ist das Pendant zur Befugnis der relativ freien Vermögensabwicklung durch den Insolvenzverwalter und begründet schon mit Übernahme des Amtes für den Verwalter die Pflicht, sich den Beteiligen gegenüber verantwortungsvoll zu verhalten1.

24.222

Der weit ausgelegte Beteiligtenbegriff umfasst dabei alle, gegenüber denen der Verwalter Pflichten aus der Insolvenzordnung zu erfüllen hat2. Zum Beispiel: – Schuldner, – (nachrangige) Insolvenzgläubiger, – Aus- und Absonderungsberechtigte, – Massegläubiger, – persönlich haftende Gesellschafter einer Gesellschaftsschuldnerin ohne Rechtspersönlichkeit i.S. des § 11 Abs. 2 InsO3, – Hinterlegungsstelle4, Justizfiskus5 und – Mitglieder des Gläubigerausschusses6.

24.223

Generell vom Beteiligtenbegriff ausgenommen ist der nach § 15b Abs. 4 Satz 1 InsO haftende Geschäftsführer, der dem Verwalter das Versäumen der fristgerechten Geltendmachung von Insolvenzanfechtungstatbeständen entgegenhält7. Auch Bürgen sind keine Beteiligten, wenn der Insolvenzgläubiger die verbürgte Forderung angemeldet hat und diese nicht gemäß § 774 Abs. 1 BGB auf den Bürgen übergegangen ist8. Gegenüber einem Prozessgegner besteht keine insolvenzspezifische Pflicht des Insolvenzverwalters, eventuelle Prozesskostenerstattungsansprüche zu berücksichtigen und ihre Erfüllbarkeit aus der Masse vor Klageerhebung oder während eines Prozesses zu prüfen9. 1 So BGH v. 17.1.1985 – IX ZR 59/84, BGHZ 93, 278 = ZIP 1985, 359; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 3; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 1. 2 S. RGZ 144, 179; RGZ 149, 182; BGH v. 27.2.1973 – VI ZR 118/71, NJW 1973, 1043; BGH v. 4.12.1986 – IX ZR 47/86, NJW 1987, 844, 845 = ZIP 1987, 115; Lohmann in Kayser/Thole, § 60 InsO Rz. 5; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 6; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 9; Hess, § 60 InsO Rz. 33; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 28. 3 Vgl. Lohmann in Kayser/Thole, § 60 InsO Rz. 5; Hess, § 60 InsO Rz. 34; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 149. 4 So RGZ 149, 182, 185; BGH v. 30.1.1962 – VI ZR 18/61, NJW 1962, 869; Hess, § 60 InsO Rz. 34; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 10. 5 Vgl. OLG Schleswig v. 6.3.1984 – 3 U 150/82, ZIP 1984, 619; LG Lübeck v. 20.4.1982 – 2 O 173/ 81, ZIP 1982, 862; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 10; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 148. 6 So Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 10; LG Stade, JW 1934, 1297. 7 S. BGH v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, GmbHR 1996, 211 = NJW 1996, 850 = ZIP 1996, 420; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 11; Hess, § 60 InsO Rz. 36; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 1151. 8 Vgl. BGH v. 11.10.1984 – IX ZR 80/83, NJW 1985, 1159 = ZIP 1984, 1506; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 6; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 11; Hess, § 60 InsO Rz. 35; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 150; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 55. 9 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901 = ZIP 2005, 131; BGH v. 26.6.2001 – IX ZR 209/98, NJW 2001, 3187 = ZIP 2001, 1376; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 76; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 71.

796 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.225 § 24

Die Haftung des Insolvenzverwalters gegenüber den Beteiligten nach § 60 Abs. 1 InsO umfasst gerade nicht jede beliebige Pflichtverletzung, sondern nur die Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten. Dabei muss es sich um eine Pflicht handeln, die den Insolvenzverwalter gerade gegenüber dem jeweiligen Beteiligten trifft1, da gegenüber den einzelnen Beteiligten ganz unterschiedliche Pflichten bestehen2. Diese relevanten Pflichten, die sich direkt aus der Insolvenzordnung ergeben müssen, lassen sich in die drei Kategorien Inbesitznahme, Verwaltung und Verwertung ordnen3. Typische Pflichtverletzungen sind dabei insbesondere:

24.224

– fehlerhafte Erstellung des Verzeichnisses gemäß §§ 188, 178, 183 InsO, – Verzicht auf Ansprüche zu Lasten der Masse, – Versäumen von Anfechtungsfristen, – Unterlassen der Buchführung und Bilanzerstellung gemäß § 155 InsO, – Nichtanzeige einer Interessenkollision, – Unterlassen von Masseerhaltungsmaßnahmen, – Unterlassen der Prüfung von Steuerbescheiden und – Nichtbeachten der Aus- und Absonderungsrechte. Nach § 60 Abs. 1 InsO setzt die Haftung ein Verschulden voraus. Bei seiner Tätigkeit hat der Verwalter gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO jedoch nur für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. Mit dieser Formulierung trägt das Gesetz dem Umstand Rechnung, dass an den Insolvenzverwalter auf Grund der Besonderheiten bei Insolvenzsituationen nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden können wie an einen ordentlichen Geschäftsmann4. Im Gegensatz zu einem solchen wird der Insolvenzverwalter nämlich ohne Vorwarnung vom Gericht ins kalte Wasser geworfen, indem er ein völlig fremdes, wirtschaftlich bereits gekentertes Unternehmen, regelmäßig mit katastrophaler Buchführung und unbrauchbarer Unterstützung durch das Personal unter enormem Zeitdruck zu überblicken und zu führen hat. Deshalb kommt dem Insolvenzverwalter regelmäßig ein weiter Ermessensspielraum zu5. Mit Verweis auf die unterschiedliche Interessenlage kommt die business judgement rule für den Insolvenzverwalter aber nicht zur Anwendung6. In komplexen Situationen muss der Insolvenzverwalter ein Gutachten einholen; vertraut er auf dieses Gutachten, entfällt in der Regel auch sein Verschulden7.

1 Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 68; Baumert in Braun, § 60 InsO Rz. 5. 2 S. Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 33 ff., der die insolvenzrechtsspezifischen Pflichten im Zusammenhang mit den jeweils durch sie geschützten Beteiligten behandelt. 3 Vgl. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 41; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 11 ff. 4 Vgl. Begr. RegE zu § 71, BT-Drucks. 1/92, S. 129; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 9; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 91; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 89. 5 BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 172/11, NZI 2013, 347 = ZIP 2013, 531; Desch/Hochdorfer in BeckOK zur InsO, § 60 Rz. 59. 6 BGH v. 12.3.2020 – IX ZR 125/17, NJW 2020, 1800 = ZIP 2020, 1080; Schoppmeyer in Müchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 Rz. 90a; Desch/Hochdorfer in BeckOK zur InsO, § 60 InsO Rz. 63; a.A. Rein in Nerlich/Römermann, § 60 InsO Rz. 78; Berger/Frege/Nicht, NZI 2010, 321, 323. 7 Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz 56; Desch/Hochdorfer in BeckOK zur InsO, § 60 InsO Rz. 60.

Schluck-Amend | 797

24.225

§ 24 Rz. 24.226 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

bb) Sonderregelung § 61 InsO

24.226

Als lex specialis zu § 60 InsO ergänzt § 61 InsO die Haftung des Insolvenzverwalters auf die von ihm selbst begründeten Masseverbindlichkeiten1. Dabei geht es um die Aufteilung des erhöhten Risikos einer künftigen Masseunzulänglichkeit zwischen dem Verwalter und den am Rechtsverkehr mit ihm Beteiligten2. § 61 InsO greift demnach unter der Voraussetzung, dass Masseunzulänglichkeit angezeigt wird, eine Befriedigung der Gläubiger nicht mehr zu erwarten ist3 und sich zusätzlich der Ausfall des Gläubigers gerade aus dem Rechtsgeschäft mit dem Verwalter ergeben hat4. Unabhängig davon bleibt den Massegläubigern daneben stets die Haftung aus § 60 InsO für masseschmälernde Pflichtverletzungen des Verwalters erhalten5. Geschützt werden durch § 61 InsO auch die Neumassegläubiger, die von § 60 InsO nicht erfasst werden6. Kein Anspruch aus § 61 InsO besteht für den Prozessgegner im Hinblick auf seinen Anspruch auf Prozesskostenerstattung, wenn der Insolvenzverwalter für die Masse einen Prozess geführt hat und die Masse nicht ausreicht, um diesen Anspruch zu befriedigen7. Zwar handelt es sich bei diesen Ansprüchen um Masseverbindlichkeiten8. Dem Schutz der Massegläubiger aus § 61 InsO liegt jedoch der Gedanke zugrunde, dass Gläubiger, die zu einer Mehrung der Masse beigetragen oder ihr einen sonstigen Vorteil verschafft haben und so die Unternehmensfortführung erleichtert haben, nicht mit ihrem Anspruch auf Gegenleistung ausfallen sollen9. Damit soll die Bereitschaft, Geschäfte mit dem Insolvenzverwalter abzuschließen, gefördert werden10. Mit dieser Lage ist die des Prozessgegners nicht vergleichbar11.

24.227

Die Haftung nach § 61 InsO setzt ein Verschulden seitens des Insolvenzverwalters voraus, welches generell vermutet wird12. Der Verwalter kann sich jedoch nach § 61 Satz 2 InsO exkul1 So Hess, Insolvenzrecht, § 61 Rz. 1, 26; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 1. 2 S. Lohmann in Kayser/Thole, § 61 InsO Rz. 1; Hess, Insolvenzrecht, § 61 Rz. 3; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 1; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/ Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 1. 3 So BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, NJW 2004, 3334; BGH v. 25.3.1975 – VI ZR 75/73, WM 1975, 517 = ZIP 2004, 1107. Teilweise wird auch vertreten, dass der Verwalter schon haftet, sobald im Zeitpunkt der Fälligkeit nicht mehr erfüllt werden kann, OLG Hamm v. 28.11.2002 – 27 U 87/02, NZI 2003, 150; OLG Hamm v. 16.1.2003 – 27 U 45/02, NZI 2003, 263. Offen gelassen von BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, NZI 2004, 435. 4 Vgl. Lohmann in Kayser/Thole, § 61 InsO Rz. 10; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 184, 185. 5 Hess, Insolvenzrecht, § 61 Rz. 8; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 65. 6 Auch Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 133; Hess, Insolvenzrecht, § 61 Rz. 26 f.; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 2; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 11. 7 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901 = ZIP 2005, 131; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 76; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 61 InsO Rz. 10. 8 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901, 902 = ZIP 2005, 131. 9 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901, 902 = ZIP 2005, 131; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 76; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 61 InsO Rz. 10; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 10. 10 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901, 902 = ZIP 2005, 131; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 5. 11 BGH v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, NJW 2005, 901, 902 = ZIP 2005, 131; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 10; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 61 InsO Rz. 10. 12 Vgl. OLG Karlsruhe v. 21.11.2002 – 12 U 112/02, ZIP 2003, 267; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 1, 12; Adam, DZWIR 2008, 14 ff.

798 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.229 § 24

pieren, wenn ihm der Beweis gelingt, dass objektiv von einer voraussichtlich ausreichenden Masse auszugehen war oder aber, dass für ihn subjektiv nicht erkennbar war, dass die Masse zur Erfüllung der Verbindlichkeiten nicht mehr ausreichen würde1. Weil der Verwalter stets nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO zu handeln hat2, ist dieser Beweis mithilfe einer ständig aktualisierten Liquiditätsrechnung zu führen3. Da nur die Erkennbarkeit einer Wahrscheinlichkeit maßgebend ist, muss für den Haftungsfall der Eintritt der Masseunzulänglichkeit wahrscheinlicher sein als der Nichteintritt4. Für die Erkennbarkeit ist der Zeitpunkt entscheidend, zu dem die Ansprüche begründet wurden5. cc) Haftung für Dritte Sofern sich der Insolvenzverwalter zur Bewältigung der Aufgaben seines Pflichtenkreises seines eigenen Hilfspersonals bedient, hat er gemäß § 278 BGB grundsätzlich auch für deren Verschulden einzustehen6. Umfasst werden dabei alle Verletzungshandlungen insolvenzspezifischer oder freiwillig übernommener Pflichten sowie die Haftung nach § 311 BGB7. Nach § 831 BGB haftet der Insolvenzverwalter für das Verschulden seiner Verrichtungsgehilfen jedoch nur, wenn ihm die unerlaubte Handlung mit persönlicher Einstandspflicht auch zuzurechnen ist8.

24.228

In der Regel wird der Insolvenzverwalter die Erledigung von Sonderaufgaben (Erstellung von Bilanzen, Steuererklärungen, Prozessführung, Gutachten) auf selbständige Berufsträger wie Rechtsanwälte, Steuer- oder Wirtschaftsprüfer übertragen9. Seinen Pflichten ist der Verwalter dann nicht bereits mit Übertragung der Aufgaben nachgekommen. Neben einem Auswahloder Überwachungsverschulden wird dem Insolvenzverwalter auch das Verschulden von hin-

24.229

1 So BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 = NJW 2004, 3334 = ZIP 2004, 1107; Meyer/ Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 19, 119; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 14; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 60, S. 284. 2 So Adam, DZWIR 2008, 14 ff. 3 Vgl. BGH v. 17.12.2004 – IX ZR 185/03, NJW-RR 2005, 488 = ZIP 2005, 311; LG Köln v. 21.10.2003 – 5 O 190/03, NZI 2003, 652; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 120; Lohmann in Kayser/Thole, § 61 InsO Rz. 18; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 14 ff. 4 Auch Hess, § 61 InsO Rz. 21; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 14. 5 BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, BGHZ 159, 104 = NJW 2004, 3334, 3337 = ZIP 2004, 1107; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 60, S. 285. 6 S. BGH v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, NZI 2016, 352 = ZIP 2016, 727; BGH v. 19.7.2001 – IX ZR 62/ 00, NJW 2001, 3190 = ZIP 2001, 1507; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 98; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 45; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 12; Heye/Lachmann in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 44 Rz. 169 ff.; Hess, § 60 InsO Rz. 212 f.; Lohmann in Kayser/Thole, § 60 InsO Rz. 32. 7 So Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 12. 8 Vgl. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 12; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 45. 9 Auch BGH v. 29.5.1979 – VI ZR 104/78, NJW 1979, 2212 = ZIP 1980, 25; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 94; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 15, S. 1918; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 45; Hess, § 60 InsO Rz. 212; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 6.43.

Schluck-Amend | 799

§ 24 Rz. 24.229 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

zugezogenen Fachkräften zugerechnet, die selbständig arbeiten und somit nicht dem Mitarbeiterkreis des Insolvenzverwalters angehören1. Eine Haftungsbeschränkung auf Auswahl und Überwachung hinzugezogener Fachkräfte besteht lediglich dann, wenn sie zur Bewältigung nicht insolvenzspezifischer Pflichten hinzugezogen wurden (etwa steuerliche Pflichten nach der AO)2. Bei mangelhafter Leistung besteht schnellstmögliche Kündigungspflicht3.

24.230

Eine Ausnahme der generellen Haftung des Verwalters für Dritte begründet § 60 Abs. 2 InsO. Demnach greift § 278 BGB nicht, wenn der Insolvenzverwalter zur Erfüllung ihm obliegender Pflichten Angestellte des Schuldners im Rahmen ihrer bisherigen Tätigkeit und unter der Voraussetzung, dass sie offensichtlich nicht völlig ungeeignet sind, einsetzen muss. Die Notwendigkeit, sich der Angestellten des Schuldners zu bedienen, kann sich z.B. bei der Betriebsfortführung aus finanziellen Gründen oder ihrem besonderen unternehmensspezifischen Know-how ergeben4. Der Verwalter ist aber dennoch für die Überwachung der Angestellten sowie für Entscheidungen von besonderer Bedeutung verantwortlich.

b) Haftung nach allgemeinen Grundsätzen 24.231

Neben der Haftung für die Pflichtverletzung insolvenzspezifischer Pflichten kann den Insolvenzverwalter im Rechtsverkehr auch die Haftung nach den allgemeinen Grundsätzen des BGB oder anderer Gesetze treffen. Zwar verpflichtet der Verwalter durch seine Rechtshandlungen prinzipiell nur die Insolvenzmasse, unter besonderen Umständen kann er seinen Vertragspartnern aber auch persönlich haften5. aa) Vertragliche Haftung

24.232

Eine Haftung kann sich aus der Übernahme einer rechtsverbindlichen Garantieerklärung im Sinne des § 444 BGB ergeben, wenn der Verwalter persönliche Zusicherungen zur Leistungserbringung macht6. Teilweise wird die Abgabe einer Garantie schon dann bejaht, wenn der schwache vorläufige Verwalter erklärt, die Zahlungen seien durch die Masse gedeckt7. Dies ist richtigerweise jedoch abzulehnen, da sich der Verwalter regelmäßig nicht selbst persönlich binden möchte und hieran auch kein Eigeninteresse hat: an Garantieerklärungen sind daher hohe Anforderungen zu stellen8. 1 BGH v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, NZI 2016, 352 = ZIP 2016, 727; Desch/Hochdorfer in BeckOK zur InsO, § 60 InsO Rz. 65; Rein in Nerlich/Römermann, § 60 InsO Rz. 89; ablehnend Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 99a; Holzer, NZI 2016, 903, 905. 2 BGH v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, NZI 2016, 352 = ZIP 2016, 727; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 99. 3 Vgl. Lohmann in Kayser/Thole, § 60 InsO Rz. 33. 4 S. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 14; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 101. 5 Vgl. BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, NJW-RR 2005, 1137 = ZIP 2005, 1327; BGH v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, NJW 1987, 3133 = ZIP 1987, 650; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 155 ff. 6 Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 156; Hess, § 60 InsO Rz. 163 f. 7 So OLG Celle v. 21.10.2003 – 16 U 95/03, NZI 2004, 89. 8 Vgl. BGH v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, NJW-RR 1988, 1259; BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, NJW-RR 2005, 1137; OLG Rostock v. 4.10.2004 – 3 U 158/03, ZIP 2005, 220; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 156; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 27.

800 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.235 § 24

Der Verwalter kann aber auch nach den Grundsätzen der culpa in contrahendo gemäß § 241 Abs. 2, § 280 Abs. 1, § 311 Abs. 2 BGB persönlich haften, wenn er bei den Vertragsverhandlungen in besonderem Maße persönliches Vertrauen in Anspruch genommen hat1. Für das OLG Schleswig hat schon die Zusage eines vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters, dass die Zahlung von der Masse gedeckt sei, zu einer Haftung aus § 311 Abs. 2 und 3 BGB geführt2. Der BGH sah hingegen den Hinweis früherer Sanierungserfolge bei Vertragsverhandlungen als haftungsbegründend an3. Kritisch ist es allerdings zu bewerten, wenn bewährten Insolvenzverwaltern auf Grund ihrer bisherigen vertrauenerweckenden Erfolge generell eine verschärfte Haftung auferlegt wird4. Wer dem Vertragspartner jedoch ganz verschweigt, als Insolvenzverwalter tätig zu werden, muss mit der persönlichen Haftung rechnen.

24.233

bb) Deliktische Haftung Der Insolvenzverwalter haftet unter Umständen auch nach Deliktsrecht. Da die allgemeine Verkehrssicherungspflicht nicht zu den insolvenzspezifischen Tätigkeiten des Verwalters gehört, haftet er für Verletzungen dieser nach § 823 Abs. 1, §§ 838, 836 BGB5. Dabei schließt die Primärhaftung der Masse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO die Haftung nicht aus6. Auch die Verletzung eines Patents bei Betriebsfortführung begründet für den Verwalter eine deliktische Haftung nach § 139 Abs. 2 PatG7. Möglich ist ebenfalls die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz, wie zum Beispiel § 263 StGB8 oder §§ 185 ff. StGB9.

24.234

cc) Sonstige Haftungsgründe Daneben kann der Insolvenzverwalter aus einer Reihe von anderen Gründen persönlich haften. Insbesondere bei einer Verletzung seiner 1 Vgl. BGH v. 24.5.2005 – IX ZR 114/01, NJW-RR 2005, 1137 = ZIP 2005, 1327; BGH v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, NJW 1987, 3133 = ZIP 1987, 650; Hess, § 60 InsO Rz. 146; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 27; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 55; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 17. 2 S. OLG Schleswig v. 31.10.2003 – 1 U 42/03, NZI 2004, 92; zustimmend Hess, § 60 InsO Rz. 147; ablehnend Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 27; Meyer/ Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 35. 3 S. BGH v. 3.4.1990 – IX ZR 206/88, NJW 1990, 1907 = ZIP 1990, 659; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 155. 4 Auch Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 60 InsO Rz. 27. Anders wohl Uhlenbruck, 12. Aufl. 2003, § 60 InsO Rz. 2. 5 Vgl. BGH v. 17.9.1987 – IX ZR 156/86, NJW-RR 1988, 89 = ZIP 1987, 1398; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 160; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 58; Hess, § 60 InsO Rz. 181; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 76. 6 Vgl. BGH v. 17.9.1987 – IX ZR 156/86, NJW-RR 1988, 89 = ZIP 1987, 1398; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 58; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 160. 7 Vgl. BGH v. 5.6.1975 – X ZR 37/72, NJW 1975, 1969; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 159; Sinz in Uhlenbruck, § 60 InsO Rz. 59; Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 60 InsO Rz. 80. 8 S. BGH v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, NJW 1987, 3133 = ZIP 1987, 650; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 161. 9 Auch BGH v. 18.10.1994 – VI ZR 74/94, NJW 1995, 397 = ZIP 1994, 1963.

Schluck-Amend | 801

24.235

§ 24 Rz. 24.235 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

– arbeits- und sozialrechtlichen Pflichten (z.B. § 321 SGB III; § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a StGB), – Mitwirkungs- und Leistungspflichten im Steuerrecht (insbesondere der Steuerzahlungspflicht) und – öffentlich-rechtlichen Pflichten (Verwaltungs-, Polizei- und Umweltrecht).

2. Haftungsrisiken des vorläufigen Insolvenzverwalters a) Insolvenzspezifische Haftung 24.236

Für den vorläufigen Insolvenzverwalter gelten gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO die Haftungsvorschriften des endgültigen Insolvenzverwalters (§§ 60 ff. InsO) „entsprechend“. Die Regelungen sind auch dann anzuwenden, wenn das Insolvenzverfahren mangels Masse nicht eröffnet wird1. aa) Haftung nach § 60 InsO

24.237

Unabhängig von seiner Stellung als starker oder schwacher Verwalter haftet er allen Verfahrensbeteiligten gemäß § 60 InsO für die schuldhafte Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten, die sich gerade aus den ihm vom Gericht zugeteilten Befugnissen ergeben2. Für die Verzögerung gebotener Maßnahmen haftet der vorläufige Insolvenzverwalter nach der Maßgabe der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters gemäß § 60 Abs. 1 Satz 2 InsO aber nur dann, wenn er die Frist zur Gewinnung eines Gesamtüberblicks über die bestehende Unternehmenssituation deutlich überschritten hat3. Dabei ist insbesondere die regelmäßig vorherrschende Unübersichtlichkeit der tatsächlichen Situation wie auch die oftmals unbrauchbare Buchführung des Schuldners zu berücksichtigen. Des Weiteren ist zu beachten, dass der Verwalter wegen des Zeitdrucks zur Erlangung der nötigen Informationen weitgehend auf die Angaben der Beteiligten, insbesondere des Schuldners, angewiesen ist. Ihnen darf der Verwalter deshalb grundsätzlich trauen, soweit sich gegen deren Richtigkeit für ihn keine konkreten Anhaltspunkte ergeben. bb) Haftung nach § 61 InsO

24.238

Weitaus problematischer stellt sich die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 61 InsO dar. Nach altem Recht konnten Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen und Verbindlichkeiten, die durch den Verwalter entstanden waren, lediglich als Insolvenzforderungen geltend gemacht werden. Dies führte dazu, dass niemand mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter Geschäfte machen wollte und eine Fortführung des Betriebs deshalb oft unmöglich war. Um dieses Problem zu lösen, ordnet § 55 Abs. 2 InsO an, solche Verbindlichkeiten nun als Masseverbindlichkeiten zu klassifizieren. Für den vorläufigen Insolvenzverwalter hat diese Einordnung jedoch im Rahmen des § 61 InsO weit reichende Konsequenzen und führt zu paradox anmutenden Haftungsproblemen.

1 Auch Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 211. 2 Vgl. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 26; Smid in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 10 Rz. 90. 3 S. Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 6.39; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 26.

802 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.242 § 24

Zum einen besteht für den vorläufigen starken Verwalter die Fortführungspflicht des § 22 Abs. 1 Satz 2 InsO, die es vielfach erfordern wird, Dauerschuldverhältnisse weiterlaufen zu lassen und neue Verträge abzuschließen. Zum anderen wird die Beweislastumkehr des § 61 Satz 2 InsO dem vorläufigen Insolvenzverwalter nicht gerecht, da er gerade am Anfang der Aufgabe steht, sich einen Überblick über die Vermögensverhältnisse zu verschaffen. Einerseits soll der Verwalter also ohne Zeit zur Beurteilung der Lage den Betrieb fortführen, andererseits soll er für durch seine Handlung eventuell später begründete Masseverbindlichkeiten nach § 61 InsO haften1.

24.239

Um diese mögliche Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters zu vermeiden, werden von den Gerichten ganz überwiegend vorläufige schwache Insolvenzverwalter ohne Verfügungsbefugnis eingesetzt, für die § 55 Abs. 2 InsO nicht einschlägig ist. Sobald diese jedoch vom Gericht mit der Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten ausgestattet werden, greift auch für sie die Haftung des § 61 InsO entsprechend2.

24.240

Teilweise wird deshalb vertreten, das paradoxe Haftungsproblem des vorläufigen Insolvenzverwalters dadurch zu lösen, dass man die Vorschrift des § 61 InsO, die nur über die Verweisung des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO „entsprechend“ gilt, nicht auf die Erfüllbarkeit solcher Masseverbindlichkeiten anwendet, die im Eröffnungsverfahren zur Betriebsfortführung und damit zur Erfüllung der gesetzlichen Pflicht des vorläufigen Insolvenzverwalters aus § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO gezwungenermaßen entstanden sind3. Die Fortführungspflicht ist hiernach zugleich Rechtfertigungsgrund: Wer eine gesetzliche Anordnung befolgt, handelt nicht pflichtwidrig4. Die Rechtfertigung entfällt erst dann, wenn das Gericht der Stilllegung zustimmt, der Verwalter den Stilllegungsantrag schuldhaft verzögert oder dieser auf Grund seiner mangelhaften Begründung vom Gericht abgewiesen wird5. Für die Neumassegläubiger besteht bei Fortführungspflicht dieser Auffassung nach nur der Schutz des § 60 InsO6.

24.241

Diese Ansicht wird jedoch nicht uneingeschränkt geteilt. Richtigerweise ist wegen des eindeutigen Wortlauts des § 22 Abs. 2 Nr. 1 InsO die Haftung nach § 61 InsO gerade auch auf den vorläufigen Insolvenzverwalter anzuwenden, trotz seiner Fortführungspflicht7. Diese Pflicht rechtfertigt es nämlich nicht, unerfüllbare Masseverbindlichkeiten einseitig zu Lasten der neuen Massegläubiger einzugehen8. Zur Vermeidung seiner Haftung stehen dem Verwalter jedoch einige Möglichkeiten zur Verfügung. Sofern sich auf Grund einer Risikoprognose ergibt,

24.242

1 S. Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, Rz. 369; Kind, InVo 1998, 62; Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 260; Graf-Schlicker/Remmert, NZI 2001, 569, 570. 2 So BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, NJW 2002, 3326 = ZIP 2002, 1625; Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 52; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 31; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 35; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 48; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 121, 211; Lohmann in Kayser/Thole, § 61 InsO Rz. 2. 3 So Wiester, ZInsO 1998, 102 f.; Kirchhof, ZInsO 1999, 365, 366. 4 Vgl. Kirchhof, ZInsO 1999, 365, 366; Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 54; Wiester, ZInsO 1998, 102 f. 5 S. Kirchhof, ZInsO 1999, 365, 367; Wiester, ZInsO 1998, 101 f.; Jaffé/Hillert, ZIP 1999, 1204. 6 Vgl. Kirchhof, ZInsO 1999, 365, 366. 7 Vgl. LG Cottbus v. 8.5.2002 – 3 O 277/00, NZI 2002, 441, 443; OLG Brandenburg v. 3.7.2003 – 8 U 58/02, NZI 2003, 552; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 29; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 121. 8 So LG Cottbus v. 8.5.2002 – 3 O 277/00, NZI 2002, 441, 442 f.; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 34.

Schluck-Amend | 803

§ 24 Rz. 24.242 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

dass die Wahrscheinlichkeit der Masseunzulänglichkeit höher ist, als ein Verbindlichkeiten deckendes Verfahren, kann sich der Verwalter von seiner Haftung befreien, indem er seine Geschäftspartner vor dem Risiko der Masseunzulänglichkeit warnt1. Daneben kann er bei drohender Begründung von Masseverbindlichkeiten jederzeit die gerichtliche Stilllegung des Betriebes beantragen2. Zwar dauert die Fortführungspflicht nach Antragstellung bis zur tatsächlichen Stilllegung des Betriebes fort, für in diesem Zeitraum entstandene Schulden haftet der Insolvenzverwalter bei ordnungsgemäßer Antragstellung und Erfüllung seiner Warnpflicht dann aber nicht mehr, insbesondere auch dann nicht, wenn das Gericht die Stilllegung gänzlich ablehnt3. Nach Antragstellung erstreckt sich die Haftung nur noch auf Verbindlichkeiten, die er nach der Zustimmung des Gerichts zur Stilllegung begründet hat oder die durch seine schuldhafte Verzögerung des Stilllegungsantrags entstanden sind, z.B. durch eine mangelhafte Begründung4. Die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 61 InsO erfährt im Rahmen der Exkulpationsmöglichkeit nach § 61 Satz 2 InsO eine weitere Einschränkung, da hier seine außergewöhnliche Situation besonders berücksichtigt werden muss5. Der vorläufige Verwalter steht bei Amtsübernahme unter erheblichem Zeitdruck und regelmäßig wird ihm der Überblick über die Lage des Schuldners fehlen, wodurch von ihm eine zuverlässige Liquiditätsprognose auf die Schnelle nicht erwartet werden kann6.

24.243

Wenigstens hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse hat der Gesetzgeber7 dieses Haftungsproblem des vorläufigen Verwalters aufgegriffen und mit § 55 Abs. 3 Satz 1 InsO eine Regelung eingeführt, wonach die begründeten Ansprüche der Arbeitnehmer, soweit sie nach § 169 SGB III auf die Bundesanstalt für Arbeit übergegangen sind, von dieser nur noch als Insolvenzforderung geltend gemacht werden können8. cc) Haftungsrisiko der Stilllegung

24.244

Weitere Haftungsrisiken ergeben sich bei der Frage, wann ein Schließungsantrag zu stellen ist. Der vorläufige Insolvenzverwalter befindet sich insoweit in einem Dilemma, da für ihn immer die konkrete Gefahr besteht, von den Verfahrensbeteiligten retrospektiv für sein dies1 So Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 210; Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 54; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 29. 2 S. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 29; Lohmann in Kayser/Thole, § 60 InsO Rz. 26; Sinz in Uhlenbruck, § 61 InsO Rz. 34. 3 Vgl. Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 29; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 123. 4 Vgl. Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 55; Haarmeyer/ Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 123, 124; Wiester, ZInsO 1998, 101 f.; Jaffé/Hillert, ZIP 1999, 1204. 5 Vgl. LG Cottbus v. 8.5.2002 – 3 O 277/00, NZI 2002, 441, 443; Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 53; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 48. 6 S. LG Cottbus v. 8.5.2002 – 3 O 277/00, NZI 2002, 441, 443; Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 53; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 61 InsO Rz. 48; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 121. 7 Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung vom 26.10.2001, BGBl. I 2001, 2710. 8 In einer Entscheidung vom 3.4.2001 hatte der 9. Senat des BAG entsprechende Forderungen der Bundesanstalt für Arbeit schon als Insolvenzforderungen eingestuft, vgl. BAG v. 3.4.2001 – 9 AZR 301/00, ZIP 2001, 1964.

804 | Schluck-Amend

§ 24 Rechtsfolgen der Verfahrenseröffnung | Rz. 24.249 § 24

bezügliches Handeln (den Betrieb fortgeführt bzw. stillgelegt zu haben) haftbar gemacht zu werden. In kürzester Zeit hat er somit Entscheidungen zu treffen, die für ihn, wie bereits dargestellt, erhebliche haftungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Die betriebliche Situation nach Insolvenzantragstellung beinhaltet von den Mitarbeitern über die Kunden und Lieferanten bis zu potentiellen Kaufinteressenten so viele unbekannte Faktoren, dass es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, die Sanierungsaussichten für das schuldnerische Unternehmen in dieser Phase bereits einigermaßen realistisch einschätzen zu können; erfolgreiche Sanierungen sind nicht selten durch das Auftreten bestimmter vorteilhafter Rahmenbedingungen begünstigt worden. Man wird deswegen aus der gesetzlichen Regelung folgern können, dass der vorläufige Insolvenzverwalter einen Antrag auf Betriebsstilllegung nur in solchen Fällen stellen muss, in denen eine gravierende Unternehmensschieflage im leistungswirtschaftlichen Bereich für ihn so offenbar ist, dass aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Weiterführung schlechthin nicht mehr verantwortet werden kann1 und zu einer erheblichen Vermögenseinbuße beim schuldnerischen Vermögen zu Lasten der Gläubiger führen würde2.

24.245

In jedem Fall muss der vorläufige Insolvenzverwalter aber sogleich nach Bestellung mit der Prüfung beginnen, ob und in welchem Ausmaß das Auflaufen von Verlusten bis zur Entscheidung über die Verfahrenseröffnung zu erwarten ist und ob das Ausmaß derartiger Verluste ggf. zu rechtfertigen ist, insbesondere, weil und soweit für das Unternehmen realistische Sanierungsaussichten bestehen.

24.246

b) Haftung aus sonstigen Gründen Daneben kann sowohl der vorläufig schwache, wie auch der vorläufig starke Insolvenzverwalter aus anderen Gründen, wie z.B. Garantiezusagen, Verletzung von Pflichten bei Vertragsschluss, unerlaubten Handlungen, strafrechtlichen, steuerrechtlichen sowie sozialrechtlichen Tatbeständen haften3. S. hierzu schon ausführlich zum endgültigen Insolvenzverwalter Rz. 24.221 ff.

24.247

3. Staatshaftung Alle Haftungstatbestände des endgültigen Insolvenzverwalters wie des vorläufigen Verwalters können auch eine Haftung des Landesfiskus nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB auslösen, wenn das Gericht seinen Auswahl- und Überwachungspflichten nicht nachkommt4.

24.248

Im Eröffnungsverfahren kommt diesen Pflichten eine besondere Bedeutung zu, denn vor Eröffnung des Hauptverfahrens ist das Vermögen des Schuldners besonders schutzbedürftig und es besteht noch keine Gläubigerautonomie. Soweit das Vermögen einer Person durch Hoheitsakt unter fremde Verwaltung gestellt wird, ist der Staat für die sorgfältige Auswahl und Überwachung dieses Amtsträgers verantwortlich.

24.249

1 S. Pohlmann, Befugnisse und Funktionen des vorläufigen Insolvenzverwalters, Rz. 145. 2 So Heye in Münchener Anwaltshandbuch Insolvenz und Sanierung, § 43 Rz. 54; Haarmeyer/ Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 113. 3 Vgl. auch Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 122, 208; Meyer/Heidrich in Mohrbutter/Ringstmeier, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 34 Rz. 26. 4 Vgl. Haarmeyer, InVo 1997, 57; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 21 InsO Rz. 42; Gräber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 56 InsO Rz. 177.

Schluck-Amend | 805

§ 24 Rz. 24.250 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

24.250

Das Gericht ist bei der Überwachung des vorläufigen Insolvenzverwalters zwar auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt und nicht befugt, das Verwalterhandeln auf seine Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Die Grenzen sind bei der Betriebsfortführung allerdings fließend1.

24.251

Darüber hinaus obliegen dem Gericht selbst schwerwiegende Entscheidungen im Eröffnungsverfahren, die geeignet sind, eine Staatshaftung auszulösen. Das fängt an bei der Frage, welche Sicherungsmaßnahmen erforderlich und geeignet sind, das Schuldnervermögen zu sichern, und geht bis zur Entscheidung über einen Schließungsantrag des vorläufigen Insolvenzverwalters2.

24.252

Der Staat wird nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in aller Regel jedoch nur subsidiär haften.

1 S. Mönning, Betriebsfortführung in der Insolvenz, § 7 Rz. 25 ff. 2 S. Feuerborn, KTS 1997, 185; Haarmeyer/Schildt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 123.

806 | Schluck-Amend

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers im eröffneten Insolvenzverfahren I. Grundlagen 1. Organschaftliche Stellung und Dienstvertrag Im Verhältnis der Geschäftsführer zur Gesellschaft sind zwei grundlegend verschiedene Rechtsverhältnisse zu unterscheiden: einmal das Organverhältnis, das durch die Bestellung zum Organ begründet wird, und das Anstellungsverhältnis, auf das die Vorschriften über den Dienstvertrag (§§ 611 ff. BGB) Anwendung finden1. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird zwar die GmbH aufgelöst (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Sie bleibt aber als rechts- und handlungsfähiger Rechtsträger bestehen. Auch die Rechtsstellung der organschaftlichen Vertreter wird durch die Verfahrenseröffnung nicht berührt2. Unberührt durch das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft bleibt schließlich auch das Recht der Gesellschafter, einen Geschäftsführer zu ernennen oder abzuberufen3. Etwas anderes gilt für Anstellungsverträge (Dienstverträge) der Gesellschaft mit Geschäftsführern. Zwar erlischt der Dienstvertrag eines Geschäftsführers nicht automatisch durch die Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Gesellschaft; jedoch ist der Insolvenzverwalter nach § 113 Abs. 1 InsO ebenso wie der Geschäftsführer berechtigt, den Anstellungsvertrag ohne Rücksicht auf die vereinbarte Dauer oder einen etwaigen vertraglich vereinbarten Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts mit einer Frist von höchstens drei Monaten zum Monatsende zu kündigen, sofern nicht eine kürzere vertragliche oder gesetzliche Frist greift4. Lange Zeit war dabei unklar, wie der dem Geschäftsführer nach § 113 Satz 3 InsO zustehende Schadensersatz im Falle einer vertraglich vereinbarten Unkündbarkeit zu bemessen ist5. Inzwischen hat das BAG hierzu jedoch klargestellt, dass der Schadensersatzanspruch als Verfrühungsschaden auf die ohne die vereinbarte Unkündbarkeit maßgebliche längste ordentliche Kündigungsfrist beschränkt sei, der Ersatz eines „Endlosschadens“ also ausscheide6. Zulässig ist auch die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 Abs. 1 BGB7, wobei die Eröffnung des In1 H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 66 ff.; Uhlenbruck, GmbHR 1972, 170 ff. Zur Rechtsstellung des Geschäftsführers der GmbH in der Insolvenz der Gesellschaft s. auch Fichtelmann, GmbHR 2008, 76 ff.; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 113 InsO Rz. 39. 2 Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817 ff.; Fuhst in Gogger/Fuhst, Insolvenzgläubiger-Handbuch, 4. Aufl. 2020, § 4 Rz. 201. 3 Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 179, 192; Hoffmann/Liebs, Der GmbH-Geschäftsführer, Rz. 6078; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 12. 4 BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, BB 2005, 1698; Moll in Kübler/Prütting/Bork, § 113 InsO Rz. 93 f.; Hamacher in Nerlich/Römermann, § 113 InsO Rz. 40; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 125; Zobel in Uhlenbruck, § 113 InsO Rz. 15 ff.; Fichtelmann, GmbHR 2008, 76, 80 ff.; Altmeppen, § 6 GmbHG Rz. 135; Düwell in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 37 Rz. 24; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 11; Bertram/Künzl in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 102 Rz. 53; Ung Kim/Götz in FS E. Braun, 2007, S. 119 ff. 5 Vgl. hierzu LAG Köln v. 2.5.2006 – 9 (10) Sa 1462/05, ZIP 2006, 2005, 2007; dagegen: Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 12. 6 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, BAGE 122, 337 = ZIP 2007, 1829; a.A. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 113 InsO Rz. 33. 7 OLG Rostock v. 17.12.2002 – 6 W 52/02, Rpfleger 2003, 444, 445 = GmbHR 2003, 1133.

Schluck-Amend | 807

25.1

§ 25 Rz. 25.1 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

solvenzverfahrens an sich keinen solch wichtigen Grund zur Kündigung darstellt1. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH beendet somit weder die Organstellung des Geschäftsführers noch seinen Anstellungsvertrag. Die Verfahrenseröffnung räumt dem Insolvenzverwalter lediglich nach § 113 InsO das Recht ein, den Anstellungsvertrag zu kündigen2 (ausführlich sogleich Rz. 25.12 ff.). Durch die Kündigung oder Beendigung des Anstellungsvertrages wird aber die organschaftliche Stellung des Geschäftsführers nicht berührt3 (Rz. 25.12). Dies hat zur Folge, dass sämtliche Verfahrenspflichten, die der organschaftliche Vertreter im eröffneten Verfahren zu erfüllen hat, von ihm trotz Beendigung seines Anstellungsvertrages weiter zu erfüllen sind4. Nach außen hin sind die Geschäftsführer im eröffneten Verfahren nicht berechtigt, neben dem Insolvenzverwalter die Gesellschaft zu vertreten.

25.2

Für den Anstellungsvertrag mit einem Alleingesellschafter-Geschäftsführer greift nach h.M. ebenfalls die Vorschrift des § 113 InsO ein5. Bei einem Alleingesellschafter-Geschäftsführer ist die Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Gesellschaft zwar kein Grund, der eine fristlose Kündigung nach § 626 BGB rechtfertigt; jedoch rechtfertigen Pflichtverletzungen oder deren Verdacht eine außerordentliche fristlose Kündigung durch den Insolvenzverwalter6. Führt der Geschäftsführer eines Insolvenzschuldners in Abstimmung mit dem Insolvenzverwalter seine Tätigkeit fort, so ist mangels näherer Vereinbarungen nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass ihm eine Vergütung nur bei Erzielung von Unternehmensgewinnen zusteht. Ungeachtet dessen ist allerdings ein Recht des Insolvenzverwalters zur Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses anzunehmen, soweit er als Insolvenzverwalter die Weiterbeschäftigung nicht mehr verantworten kann7.

25.3

Hält man eine Abberufung oder Amtsniederlegung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH für zulässig (zur Amtsniederlegung außerhalb des Verfahrens vgl. Rz. 6.201), ist streitig, ob dies Auswirkungen auf die Verfahrenspflichten hat8. Nach hier vertretener Meinung kann eine Abberufung oder Amtsniederlegung nach Verfahrenseröffnung die Verfahrenspflichten nur ausnahmsweise beseitigen9, denn diese resultieren aus einer verfahrensrechtlichen Position, wie sie zum Zeitpunkt des Eröffnungsantrags bestand. Dem gegenüber hat H.-F. Müller10 eingewandt, dass die Organwalter den Verfahrenspflichten nur 1 Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 12; Henssler in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, § 626 BGB Rz. 21; Vossen in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 626 BGB Rz. 71; Fichtelmann, GmbHR 2008, 76, 81. 2 Für Geschäftsführer, die auf Grund ihrer Kapitalbeteiligung beherrschen, gilt § 622 BGB entsprechend. S. BGH v. 26.3.1984 – II ZR 120/83, BGHZ 91, 217 = GmbHR 1984, 312 = ZIP 1984, 1088; a.A. Beck in Braun, § 113 InsO Rz. 6, der § 621 BGB für anwendbar hält. 3 Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817, 818. 4 S. Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817, 828 ff. 5 BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, BGHZ 75, 209, 210 ff. = GmbHR 1980, 27 f. (zu § 23 KO); BGH v. 29.1.1981 – II ZR 92/80, GmbHR 1981, 158 = ZIP 1981, 367, 368; OLG Hamm v. 2.6.1986 – 8 U 298/ 85, GmbHR 1987, 307 = ZIP 1987, 121, 122; OLG Hamm v. 29.3.2000 – 8 U 156/99, GmbHR 2001, 392 = NZI 2000, 475 = ZInsO 2001, 43; OLG Düsseldorf v. 14.4.2000 – 16 U 109/99, NZG 2000, 1044; Henssler, ZInsO 1999, 121; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 6 GmbHG Rz. 69. 6 Vgl. BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, NJW 1980, 595 = ZIP 1990, 46, 47 = GmbHR 1980, 27; BGH v. 2.7.1984 – II ZR 16/84, ZIP 1984, 1113 = GmbHR 1985, 112; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 126; vgl. zur Anwendung des § 103 InsO Marotzke in Kayser/Thole, § 116 InsO Rz. 4. 7 OLG Schleswig v. 17.1.2004 –1 U 90/04, ZInsO 2005, 606. 8 S. auch Fichtelmann, GmbHR 2008, 76, 77 ff. 9 Haas/Kolmann/Pauw in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 92 Rz. 308 ff. 10 H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 133 f.

808 | Schluck-Amend

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.4 § 25

in ihrer Funktion als Schuldnervertreter unterliegen. Es handele sich um abgeleitete Pflichten, die der Geschäftsführer für die Gesellschaft zu erfüllen habe, weil diese selbst nicht handlungsfähig sei. Nach dieser Auffassung endet mit dem Ausscheiden aus dem Amt grundsätzlich auch die Verantwortlichkeit des Geschäftsführers für die Erfüllung der Schuldnerpflichten. Eine Ausnahme gelte danach lediglich für die Auskunftspflicht nach § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO. Die Auffangregelung des § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO greift jedoch überhaupt nur für diejenigen Geschäftsführer ein, die vor diesem Zeitpunkt aus dem Amt ausgeschieden sind. Wäre diese Auffassung also richtig, könnte sich der Geschäftsführer im eröffneten Verfahren über das Vermögen der GmbH auch seiner Auskunftspflicht dadurch entziehen, dass er das Amt mit sofortiger Wirkung niederlegt1. Korrigiert wird die abweichende Meinung dadurch, dass die Amtsniederlegung durch den einzigen GmbH-Geschäftsführer, der zugleich Gesellschafter ist, auch nach Inkrafttreten des MoMiG in der Regel als rechtsmissbräuchlich und daher unwirksam angesehen wird, sofern er nicht zugleich einen neuen Geschäftsführer bestellt2. Nicht verkannt werden soll, dass die Gesellschafterversammlung im eröffneten Insolvenzverfahren der GmbH gewichtige Gründe haben kann, den bisherigen Geschäftsführer abzuberufen, vor allem, wenn er durch pflichtwidriges Verhalten die Insolvenz herbeigeführt hat. Solchenfalls ist es vertretbar, nicht nur die Abberufung des Geschäftsführers im eröffneten Verfahren zuzulassen, sondern den Pflichtenbereich des ausgeschiedenen Geschäftsführers ausnahmsweise allein auf die Auskunftspflicht nach den § 101 Abs. 1 Satz 2, § 97 Abs. 1 InsO zu beschränken3. Die Verfahrensrechte und -pflichten treffen dann den neu bestellten Geschäftsführer.

2. Die Rechtsstellung der Gesellschafter in einer führungslosen GmbH Nach § 15a Abs. 3 InsO ist im Fall der Führungslosigkeit einer GmbH auch jeder Gesellschafter zur Stellung des Insolvenzantrags verpflichtet, wenn Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vorliegt, es sei denn, der Gesellschafter hätte von dem Vorliegen eines Insolvenzgrundes oder der Führungslosigkeit keine Kenntnis gehabt. Die einzelnen Verfahrensrechte und -pflichten der Gesellschafter wurden auch durch das MoMiG nicht geregelt. Lediglich § 101 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 InsO sieht vor, dass in Fällen der Führungslosigkeit die Gesellschafter entsprechend § 97 Abs. 1 InsO verpflichtet sind, dem Insolvenzgericht, dem Insolvenzverwalter, dem Gläubigerausschuss und auf Anordnung des Gerichts der Gläubigerversammlung über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse Auskunft zu geben, den Verwalter bei der Erfüllung von dessen Aufgaben zu unterstützen und sich auf Anordnung des Gerichts jederzeit zur Verfügung zu stellen, um ihre Auskunfts- und Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Im Übrigen haben auch die Gesellschafter der GmbH alle Handlungen zu unterlassen, die der Erfüllung dieser Pflichten zuwiderlaufen (§ 97 Abs. 3 Satz 2 InsO). Offen geblieben ist die Frage, ob die GmbH-Gesellschafter in Fällen des eröffneten Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer führungslosen GmbH bzw. GmbH & Co. KG in die verfahrensrechtliche Rechtsposition eines Geschäftsführers einrücken mit der Folge, dass ihnen sämtliche Verfahrensrechte und -pflichten zustehen bzw. obliegen. Die Frage wird letztlich zu verneinen sein, denn dem Gesetzgeber des MoMiG ging es lediglich darum, durch die Erweiterung der Antragspflicht die rechtzeitige Einleitung des Insolvenzverfahrens und damit den 1 Für die Zulässigkeit einer Amtsniederlegung und Abberufung im eröffneten Verfahren auch Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 119; Henssler in Kölner Schrift zur InsO, S. 1283 Rz. 4; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 320. 2 S. die Rechtsprechung bei Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 119. 3 Wohl auch Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 47.

Schluck-Amend | 809

25.4

§ 25 Rz. 25.4 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Schutz der Altgläubiger vor weiterer Verringerung der Haftungsmasse und der Neugläubiger vor Vertragsschluss mit notleidenden Gesellschaften zu gewährleisten (zur Antragspflicht s. Rz. 38.121). Darüber hinaus sollte durch die Erweiterung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht auf die Gesellschafter sichergestellt werden, dass der Insolvenzverwalter auch in Fällen der Führungslosigkeit die für die Inbesitznahme und Verwertung der Insolvenzmasse erforderlichen Auskünfte erhält. Weitergehende organschaftliche Rechte und Pflichten sollten dagegen den GmbH-Gesellschaftern nicht zustehen1, denn diese haben es auch im eröffneten Verfahren jederzeit in der Hand, einen Geschäftsführer zu bestellen, der die organschaftlichen Verfahrensrechte wahrnimmt. In dieselbe Richtung weist ein zum allgemeinen Zivilprozessrecht ergangenes Urteil des BGH2. In diesem stellte der BGH klar, dass die durch das MoMiG in § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG für den Fall der Führungslosigkeit eingeführte Ermächtigung der Gesellschafter zur Passivvertretung diese nicht dazu ermächtigt, in einem zivilprozessualen Verfahren aktiv Prozesshandlungen vorzunehmen. Dasselbe muss dann auch für Insolvenzverfahren gelten.

25.5

Zur Rechtsstellung des Geschäftsführers in der Eigenverwaltung s. Rz. 6.204 ff.

3. Die verfahrensrechtliche Stellung des faktischen Geschäftsführers 25.6

Folgt man der h.M.3, dass auch der faktische Geschäftsführer verpflichtet ist, bei Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung Insolvenzantrag zu stellen (s. dazu Rz. 16.92), so stellt sich zwangsläufig die weitere Frage, ob ihm auch die verfahrensmäßigen Pflichten im eröffneten Verfahren über das Vermögen der GmbH obliegen. Gleiches gilt für die Verfahrensrechte. Die Frage lässt sich nicht generell beantworten. Begreift man mit Karsten Schmidt4 die Pflichten des faktischen Geschäftsführers als insolvenzrechtliche Organpflichten, so können diese Pflichten in das eröffnete Verfahren über das Vermögen der GmbH hineinwirken. Im Einzelfall ist aber zu differenzieren: Hat der faktische Geschäftsführer lediglich maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen der förmlich bestellten Geschäftsführung genommen, so kann sich dies zwar auf die Haftung, nicht dagegen auf seine Verfahrenspflichten auswirken. Der oder die ordnungsgemäß bestellten Geschäftsführer haben sämtliche verfahrensmäßige Pflichten zu erfüllen. Ihnen stehen auch die verfahrensrechtlichen Befugnisse, wie z.B. das Recht zur sofortigen Beschwerde zu. Anders, wenn der GmbH-Geschäftsführer in der Krise der GmbH sein Amt förmlich niedergelegt hat, um seiner Mitwirkungspflicht im eröffneten Verfahren zu entgehen. In einem solchen Fall ist ebenso wie bei Abberufung des Geschäftsführers ohne Neubestellung eines anderen Geschäftsführers anzunehmen, dass den faktischen Geschäftsführer, der nunmehr die Geschäfte an Stelle eines Geschäftsführers führt, sämtliche 1 Vgl. auch Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 273. 2 BGH v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, GmbHR 2011, 83; vgl. hierzu auch Karsten Schmidt, GmbHR 2011, 113 = ZIP 2010, 2444. 3 BGH v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, BGHZ 104, 44 = GmbHR 1988, 299; BGH v. 18.7.1952 – 1 StR 153/52, BGHSt 3, 32, 37 ff.; BGH v. 28.6.1966 – 1 StR 414/65, BGHSt 21, 101, 103 = ZIP 1988, 771; BGH v. 22.9.1982 –3 StR 287/82, BGHSt 31, 118 = GmbHR 1983, 43; Karsten Schmidt in FS Rebmann, 1989, S. 419 ff.; Lehmkühler in Kraemer/Vallender/Vogelsang, Handbuch zur Insolvenz, 104. Lieferung 2022, Kapitel 1 Rz. 116; Rz. 262; Altmeppen, vor § 64 GmbHG Rz. 55 f.; Roth, ZGR 1989, 421; Vallender, MDR 1999, 280, 282; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 59; zu Grundproblemen der faktischen Geschäftsführung s. auch Weimar, GmbHR 1997, 473 ff.; U. Stein, Das faktische Organ, S. 125 ff.; Uhlenbruck, GmbH & Co. KG, S. 369 ff.; Haas, DStR 1998, 1359; Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 78; Hirte in Uhlenbruck, § 15a InsO Rz. 8; Bußhardt in Braun, § 15a InsO Rz. 13. 4 Karsten Schmidt, ZIP 1980, 328 ff.; wohl auch Henssler in Kölner Schrift zur InsO, Kap. 30 Rz. 40.

810 | Schluck-Amend

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.12 § 25

verfahrensmäßigen Pflichten treffen, er aber gleichzeitig auch alle verfahrensmäßigen Rechte eines Geschäftsführers hat1.

25.7–25.10

Einstweilen frei.

II. Entgeltzahlungen an den Geschäftsführer 1. Geschäftsführervertrag und Geschäftsführerbezüge in der Insolvenz a) Vertragsschluss Zuständig für den Abschluss des Geschäftsführervertrages ist die Gesellschafterversammlung2. Das wird insbesondere bei Nebenvereinbarungen häufig übersehen und erst in der Insolvenz auf den Prüfstand gestellt. Der Beschluss muss nicht protokolliert werden. Ob bei einem Alleingesellschafter-Geschäftsführer3 die nach § 48 Abs. 3 GmbHG erforderliche Protokollierung konstitutiv ist, ist umstritten4, aber jedenfalls dann zu verneinen, wenn sich die Entscheidung des Alleingesellschafters aus anderen Unterlagen als einem Protokoll ergibt5. Die Gesellschafterversammlung darf die Kompetenz zum Abschluss des Dienstvertrages delegieren, u.a. auf einen Beirat6. Die ohne Beachtung der Formalien in der Vergangenheit gezahlte Vergütung kann wegen des in Vollzug gesetzten Vertrages zivilrechtlich nicht als ungerechtfertigte Bereicherung zurückgefordert, sondern der Vertrag nur für die Zukunft beendet werden. Voraussetzung ist nur, dass der Vollzug der Gesellschaft zugerechnet werden kann, was schon dann der Fall ist, wenn ein Mitglied des für den Abschluss des Vertrages zuständigen Gremiums von der Vereinbarung Kenntnis hat7. In der Praxis ist das vor allem bei Ergänzungsvereinbarungen relevant, bei denen ein meist zugleich als Gesellschafter beteiligter Geschäftsführer die Gesellschaft gegenüber dem anderen Geschäftsführer vertritt.

25.11

b) Kündigung Der Geschäftsführervertrag bleibt von der Insolvenzeröffnung zunächst unberührt (§ 108 Abs. 1 InsO)8. §§ 115 f. InsO, die das Erlöschen von Auftrags- und Geschäftsbesorgungsverhältnissen anordnen, sind nicht einschlägig9, weil der Geschäftsführer als Organ das eigene Geschäft und nicht als Dritter ein fremdes Geschäft führt. Das für schwebende Verträge gel1 Zur Strafbarkeit des faktischen Geschäftsführers wegen Insolvenzverschleppung BGH v. 18.12.2014 – 4 StR 323/14, NZI 2015, 186; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, Anh. zu § 64 GmbHG Rz. 111; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 64 GmbHG Rz. 311. 2 BGH v. 3.7.2000 – II ZR 282/98, GmbHR 2000, 876 = ZIP 2000, 1442. 3 S. zur Abgrenzung der abhängigen Beschäftigung von der selbständigen Tätigkeit BSG v. 12.5.2020 – B 12 KR 30/19 R, NJW 2021, 1980. 4 Zum Streitstand: Seibt in Scholz, § 48 GmbHG Rz. 73. 5 OLG Brandenburg v. 13.2.2002 – 7 U 152/01, GmbHR 2002, 432 bzgl. einer Versorgungszusage. 6 Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 35 GmbHG Rz. 15. 7 BGH v. 15.4.2014 – II ZR 44/13, ZIP 2014, 1278 = GmbHR 2014, 817; BGH v. 3.7.2000 – II ZR 282/98, GmbHR 2000, 876. 8 BGH v. 8.10.2009 – IX ZR 61/06, GmbHR 2009, 1332 = ZIP 2009, 2204; BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, GmbHR 2005, 1049 = ZIP 2005, 1365; BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, GmbHR 1980, 27 = ZIP 1980, 46. 9 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, § 113 InsO Rz. 10; ausführlich: Marotzke in Kayser/ Thole, § 116 InsO Rz. 4.

Schluck-Amend und Spliedt | 811

25.12

§ 25 Rz. 25.12 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

tende Erfüllungswahlrecht des § 103 InsO findet ebenfalls keine Anwendung1, auch nicht gegenüber einem beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführer2. Zwar ist dessen Vertrag regelmäßig kein Ausgleich gegenläufiger Interessen, die den von § 108 Abs. 1 InsO erfassten Dienstverträgen typischerweise zugrunde liegen. Eine einschränkende Auslegung des im Verhältnis zu § 103 InsO spezielleren § 108 InsO mit der Begründung, dass der Mehrheitsgesellschafter weniger schutzbedürftig sei als ein Fremdgeschäftsführer, lässt der Wortlaut des § 108 InsO jedoch nicht zu. Anderenfalls müsste bspw. auch der Mietvertrag mit einem beherrschenden Gesellschafter bei einer Betriebsaufspaltung dem Anwendungsbereich des § 108 InsO entzogen werden. Eine teleologische Reduktion der Vorschrift zulasten des Vermieters wird zu Recht nicht vertreten. Die Gefahr des Missbrauchs ist überdies nicht auf Geschäftsführerverträge mit beherrschenden Gesellschaftern beschränkt, sondern kann auch in anderen Fällen gleichgerichteter Interessen auftreten, insbesondere bei Verträgen mit nahestehenden Personen. Dem ist unter dem Blickwinkel des Gläubigerschutzes durch das Verbot der Einlagenrückgewähr, durch die Insolvenzanfechtung und schließlich durch die Kündigung mit insolvenzrechtlich verkürzter Frist zu begegnen.

25.13

Die Insolvenz (Antragstellung oder Verfahrenseröffnung) ist kein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung3, wäre doch anderenfalls die Kündigungsregelung in § 113 InsO überflüssig4. Die der Verfahrenseröffnung vorhergehenden Krise ist aber erfahrungsgemäß ein „Nährboden“ für andere wichtige Gründe, von denen die häufigsten die schuldhafte Insolvenzverschleppung5 und die Untreue6 gemäß § 266 StGB sind. Ein Verstoß gegen § 64 GmbHG a.F.7 reicht hingegen nicht, um neben der dort geregelten Haftung auch noch einen wichtigen Grund zur Kündigung anzunehmen, zumal das Zahlungsverbot des § 64 GmbHG a.F. bereits vor der Insolvenzverschleppung einsetzt8. Allerdings kann bereits die Begründung von Verbindlichkeiten, die später in einer dem § 64 GmbHG a.F. widersprechenden Weise beglichen werden, einen Verstoß gegen § 43 Abs. 1 GmbHG darstellen, weil in der Krise die Ressourcen vorrangig für „überlebenssichernde“ Maßnahmen eingesetzt werden müssen. Insbesondere ist bei Aufträgen an Berater Augenmaß zu wahren. Einerseits kann zwar auch die unterbliebene Hinzuziehung von Sanierern sorgfaltswidrig sein, andererseits darf jedoch der Beratungsaufwand diejenigen Kosten nicht erheblich übersteigen, die bei einer Sanierung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens anfallen würden, wenn sich die Verhältnisse bei drohender Zahlungsunfähigkeit weiter verschlechtern9 (s. Rz. 35.151 ff.).

25.14

Die Kündigungsbefugnis liegt nach Verfahrenseröffnung beim Insolvenzverwalter (§ 80 Abs. 1 InsO). Nur die Organstellung gehört zum insolvenzfreien Bereich (Rz. 25.123, 35.165), nicht aber das schuldrechtliche Anstellungsverhältnis. Bei einer außerordentlichen Kündigung beginnt die zweiwöchige Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB mit der Kenntnis des Kündigungsberechtigten vom wichtigen Grund. Kündigungsberechtigt ist vor der Verfahrenseröffnung die Gesellschafterversammlung, so dass es auf deren Kenntnis als Kollegialorgan 1 Zweifelnd: Marotzke in Kayser/Thole, § 116 InsO Rz. 4. 2 BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, GmbHR 1980, 27 = ZIP 1980, 46; a.A. Ahrens in Karsten Schmidt, § 113 InsO Rz. 12. 3 BGH v. 25.6.1979 – II ZR 219/78, GmbHR 1980, 27 = ZIP 1980, 46. 4 Ahrens in Karsten Schmidt, § 113 InsO Rz. 47; Brete/Thomsen, NZI 2020, 1028 ff. 5 BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, GmbHR 2005, 1049 = ZIP 2005, 1365. 6 Vgl. Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 494. 7 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). 8 BGH v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, GmbHR 2009, 654 = ZIP 2009, 860. 9 Vgl. BGH v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, GmbHR 2012, 340 = ZIP 2012, 285 zur gläubigerschützenden Bewertung von Dienstleistungen des Geschäftsführers.

812 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.15 § 25

ankommt1. Die Kenntnis des einzelnen Gesellschafters reicht nicht, um die Ausschlussfrist in Gang zu setzen2, es sei denn, dass einberufungsberechtigte Mitglieder im Wissen um den wichtigen Grund die Einberufung verzögern. Dann beginnt die Frist an dem Tag, an dem die Gesellschafterversammlung mit zumutbarer Beschleunigung hätte zusammentreten können3. Entsprechendes gilt, wenn die Gesellschafter die Entscheidungsbefugnis auf ein anderes Kollegialorgan übertragen haben. Der Verwalter muss sich einen Fristbeginn vor Verfahrenseröffnung zurechnen lassen, da er gemäß § 80 Abs. 1 InsO nur die Rechte der schuldnerischen GmbH – insoweit vertreten durch die Gesellschafterversammlung – und keine neuen Rechte verwaltet, soweit die InsO nichts anderes bestimmt4. Deshalb ist eine fristlose Kündigung wegen einer länger zurückliegenden und abgeschlossenen Pflichtverletzung nicht mehr möglich. Allerdings kann die Berufung auf eine frühere Kenntnis der damals kündigungsberechtigen Organe treuwidrig sein, wenn eine Kündigung wegen der Interessenidentität von Geschäftsführer und Gesellschafter nicht erwartet werden kann5. Bei einem Dauertatbestand beginnt die Ausschlussfrist frühestens mit dessen Beendigung6, bei einer Insolvenzverschleppung als wichtigen Grund zur Kündigung also mit dem Insolvenzantrag. Häufig kennen die Gesellschafter den Verschleppungstatbestand. Ein vorläufiger Verwalter ist vor der Verfahrenseröffnung aber noch nicht kündigungsbefugt, sondern könnte nur einer von der Gesellschafterversammlung erklärten Kündigung zustimmen7. Damit beginnt die Ausschlussfrist zu laufen, so dass eine spätere von ihm ausgesprochene fristlose Kündigung nicht mehr zulässig ist. Eine Anfechtung der seitens der Gesellschafterversammlung unterlassenen Kündigung kommt nur in Betracht, wenn den Gesellschaftern die Kündigungsmöglichkeit bekannt war, so dass sie das vom BGH8 für die Anfechtung eines Unterlassens geforderte Bewusstsein nachteiliger Konsequenzen hatten. Das ist insbesondere der Fall, wenn der vorläufige Verwalter die Gesellschafter über den Handlungsbedarf vorher informiert hat. Hat er es nicht, könnte dem Geschäftsführer, der auf eine Verfristung verweist, der Arglisteinwand9 entgegengehalten werden, weil er die Einberufung der Gesellschafterversammlung (§ 49 Abs. 1, 2 GmbHG) unterlassen hat. Der BGH hatte eine fristlose Kündigung wegen Insolvenzverschleppung zwar damit gerechtfertigt, dass es einer Gesellschaft in der Insolvenz nicht mehr zuzumuten sei, einen das Verfahren verschleppenden Geschäftsführer weiter zu beschäftigen und Gehalt aus der Masse zu zahlen10. Im Urteilsfall ging es jedoch um ein Nachschieben von Kündigungsgründen durch den Verwalter, nicht um die Ausschlussfrist für die Kündigungserklärung. Die Zumutbarkeit betrifft deshalb auch nur die Eignung des Fehlverhaltens als wichtiger Grund und ist nicht so zu verstehen, dass dem Geschäftsführer die fehlende Eignung gleichsam als personenbedingter Dauertatbestand an1 BGH v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, GmbHR 2013, 645 = ZIP 2013, 971; BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, GmbHR 2005, 1049 = ZIP 2005, 1365. 2 BGH v. 10.9.2001 – II ZR 14/00, GmbHR 2001, 2166 = ZIP 2001, 1957. 3 BGH v. 9.4.2013 – II ZR 273/11, GmbHR 2013, 645 Rz. 14 = ZIP 2013, 971; BGH v. 15.6.1998 – II ZR 318/96, GmbHR 1998, 827 = ZIP 1998, 1269. 4 Kayser in Kayser/Thole, § 80 InsO Rz. 11. 5 Zur Zurechnung von Kenntnissen BGH v. 15.3.2011 – II ZR 301/09, ZIP 2011, 858 = GmbHR 2011, 534. 6 BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, GmbHR 2005, 1049 = ZIP 2005, 1365. 7 BAG v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, ZIP 2009, 1161 zur Erstreckung eines Zustimmungsvorbehalts auf Kündigungen. 8 BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, GmbHR 2014, 320 Rz. 12 = ZIP 2014, 275. 9 Zur Arglist bei Verheimlichung: Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 35 GmbHG Rz. 103; Verse in Scholz, § 43 GmbHG Rz. 408. 10 BGH v. 20.6.2005 – II ZR 18/03, GmbHR 2005, 1049 = ZIP 2005, 1365.

Spliedt | 813

25.15

§ 25 Rz. 25.15 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

haftet, der noch später zur Kündigung berechtigt. Der Vertrauensverlust mag zwar dauerhaft sein, die Frist des § 626 Abs. 2 BGB beginnt trotzdem mit Kenntnis der den Vertrauensverlust begründenden Umstände1.

25.16

Für eine ordentliche Kündigung beträgt die insolvenzrechtliche Sonder-Frist des § 113 InsO längstens drei Monate zum Monatsende, es sei denn, dass die vertraglich vereinbarte oder die gesetzliche Frist kürzer ist2. Die gesetzliche Frist ist sowohl für Gesellschafter-Geschäftsführer als auch für Fremdgeschäftsführer dem § 621 BGB3 zu entnehmen. Das KSchG ist auf Organvertreter gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG nicht anwendbar4, unabhängig davon, ob sie gleichzeitig Gesellschafter sind. Ob das Kündigungsverbot gemäß § 9 MuSchG eingreift, ist im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben5 noch nicht abschließend geklärt6. Die abgekürzten Fristen gelten für beide Seiten und selbst dann, wenn der Geschäftsführer noch längere Zeit nach Insolvenzeröffnung tätig war7. Anders als § 111 Satz 2 InsO enthält § 113 InsO keine Einschränkung, dass von der verkürzten Frist nur zum ersten zulässigen Termin Gebrauch gemacht werden darf. Eine Vorverlagerung des § 113 InsO auf die Zeit vor Verfahrenseröffnung zugunsten der Kündigung eines vorläufigen „starken“ oder gesondert ermächtigten Insolvenzverwalters hat das BAG8 mit Recht9 abgelehnt, weil es bis zur Entscheidung über den Insolvenzantrag keinen Grund für einen insolvenzspezifischen Gläubigerschutz gibt.

c) Vergütungsansprüche aa) Insolvenzrechtliche Einordnung

25.17

Rückständige Ansprüche aus der Zeit vor Verfahrenseröffnung sind Insolvenzforderungen (§ 108 Abs. 3 InsO) soweit nicht ein „starker“ oder mit einer Einzelermächtigung ausgestatteter vorläufiger Insolvenzverwalter die Dienstvergütung als künftige Masseschuld begründet10. Stehengelassene Vergütungsansprüche eines Gesellschafter-Geschäftsführers sind nachrangig (§ 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO11). Die ab Insolvenzeröffnung bis zur Beendigung der Verträge anfallende Vergütung ist eine Masseschuld (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO i.V.m. § 108 Abs. 1 InsO). Wegen der Verbindlichkeiten aus solchen kraft Gesetzes weiterlaufenden Dauerschuldverhältnissen („oktroyierte Masseschulden“) muss häufig die Masseunzulänglichkeit erklärt werden (§ 208 Abs. 1 InsO). Die bis dahin nicht bezahlte Vergütung ist eine Altmasseschuld, die zwar vor den Insolvenzforderungen, aber nach den Verfahrenskosten und den Neumasseschulden befriedigt wird (§ 209 Abs. 1 InsO). Eine Neumasseschuld entsteht gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO nur in dem Umfang, in dem der Verwalter entweder die Dienste des Geschäftsführers nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit in Anspruch genommen hat (§ 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO) oder danach den ersten Beendigungstermin ungenutzt verstreichen lässt (§ 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO), weil das einer konkludenten Erfüllungswahl entspricht (§ 209 Abs. 2 Nr. 1 InsO). 1 Niemann in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 626 BGB Rz. 205, 213. 2 Brete/Thomsen, NZI 2020, 1028, 1029. 3 BAG v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, NJW 2020, 2824 = ZIP 2020, 1609; a.A. für den Fremdgeschäftsführer: Bretel/Thomsen, NZI 2020, 1028, 1029. 4 BAG v. 11.6.2020 – 2 AZR 374/19, NJW 2020, 2824 = ZIP 2020, 1609. 5 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09, ZIP 2010, 2414. 6 Bejahend: Kruse/Stenslik, NZA 2013, 596 ff. 7 Vgl. Linck in Kayser/Thole, § 113 InsO Rz. 25 f.: Geltung selbst bei neubegründeten Verträgen. 8 BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, ZIP 2005, 1289. 9 A.A. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, vor §§ 113–128 InsO Rz. 30. 10 Dazu Thole in Karsten Schmidt, § 55 InsO Rz. 40 f.; Lohmann in Kayser/Thole, § 55 InsO Rz. 28, 31. 11 BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, GmbHR 2014, 645 = ZIP 2014, 927.

814 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.19 § 25

bb) Vergütungshöhe

Die Höhe der Bezüge entspricht häufig nicht dem Drittvergleich1. In der Regel betrifft das Geschäftsführer, die zugleich Gesellschafter oder ihnen nahestehende Personen sind, kann aber auch bei Fremdgeschäftsführern der Fall sein. Eine analoge Anwendung des § 87 Abs. 2 AktG, der bei einer Verschlechterung der Lage der Gesellschaft eine Anpassung der Vergütung ermöglicht, scheidet schon deshalb aus, weil die anfängliche Überhöhung davon nicht erfasst wird. Ist sie auf das Gesellschaftsverhältnis zurückzuführen, kann ein Verstoß gegen §§ 30 f. GmbHG2 über § 43 Abs. 3 GmbHG dem Geschäftsführer unmittelbar entgegen gehalten werden. Dafür ist es nicht einmal erforderlich, dass er selbst Gesellschafter ist. Es reicht, dass ihm wegen seiner Beziehung zu einem Gesellschafter ein besonderer Vorteil societatis causa zugewendet werden soll. Allerdings ist der Nachweis, ob der Geschäftsführer ein Günstling ist oder nur günstig verhandelt hat, schwer zu führen. Erweisen sich die Bezüge erst nachträglich als überhöht, weil sich die Lage der Gesellschaft erheblich verschlechtert und/oder sich auch der Geschäftsumfang wegen der Krise reduziert hat, wird zwar eine analoge Anwendung des § 87 Abs. 2 AktG überwiegend abgelehnt, weil diese Vorschrift nach den Gesetzesmaterialien keine Leitbildfunktion hat3, stattdessen aber gefordert, dass der Geschäftsführer aufgrund einer Treuepflicht einem Anpassungsverlangen für künftige Bezüge zustimmen müsse4, wobei unklar ist, ob das auch für den Fremdgeschäftsführer gelten soll5. Für sie ergäbe sich eine Zustimmungspflicht jedenfalls in den Grenzen, die bei einer Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) zur Anpassung berechtigen, während für Gesellschafter-Geschäftsführer die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht6 hinzukommt. Von Bedeutung ist die Anpassung vor allem für die Insolvenzanfechtung (s. Rz. 25.23 ff.), wegen des kurzen noch in Betracht kommenden Zeitraums hingegen weniger für den Verwalter nach Insolvenzeröffnung; denn der Geschäftsführer darf auf eine Herabsetzung mit einer eigenen Kündigung reagieren7. Ist ein Insolvenzverwalter auf ihn angewiesen, muss er sich mit ihm einigen und kann die Vergütung nicht kontrovers einseitig festlegen. Will er hingegen keine Fortsetzung der Tätigkeit, wird der Insolvenzverwalter dem Geschäftsführer innerhalb der relativ kurzen Frist des § 113 InsO (s. Rz. 25.16) kündigen. Eine Anpassung für die Vergangenheit mit der Folge, dass vereinnahmte Bezüge zurückgezahlt werden müssten, kann nicht verlangt werden8. Auch ein dem Geschäftsführer wegen der verkürzten Kündigungsfrist entstandener Verfrühungsschaden (s. Rz. 25.19 ff.) könnte damit nicht reduziert werden; denn der Geschäftsführer erhält auf ihn nur dieselbe Quote, die auch alle anderen Gläubiger beziehen. Durch diese Gleichbehandlung wird den verschlechterten wirtschaftlichen Verhältnissen und den Gläubigerinteressen ausreichend Rechnung getragen.

25.18

cc) Verfrühungsschaden Der Schadensersatzanspruch wegen des Verlustes der Vergütung ab dem insolvenzrechtlich früheren Beendigungstermin bis zum vertragsgemäßen Ende (Verfrühungsschaden) ist eben1 2 3 4 5

Vgl. zur steuerlichen Angemessenheit Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 428. Dazu Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 372 ff. Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 392. Brete/Thomsen, NZI 2020, 1028, 1030 f. Bejahend für den Vorstand außerhalb des Anwendungsbereichs von § 87 Abs. 2 AktG: Spindler in Münchener Kommentar zum AktG, § 87 AktG Rz. 183. 6 Zu den Maßstäben s. Bitter in Scholz, § 13 GmbHG Rz. 50 ff. 7 Eine Analogie zu § 87 Abs. 2 Satz 4 AktG widerspricht nicht der Ablehnung der aktienrechtlichen Anpassungsbefugnis, da es insoweit nur um die Reaktion auf eine aus anderen Gründen berechtigte Anpassung geht. 8 Thole, BB 2014, 3, 4.

Spliedt | 815

25.19

§ 25 Rz. 25.19 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

falls eine Insolvenzforderung1. Das gilt allerdings nur, wenn der Insolvenzverwalter kündigt (§ 113 Satz 3 InsO). Dem Geschäftsführer wird entsprechend dem Rechtsgedanken des § 119 InsO zugemutet, seine Tätigkeit auch nach Insolvenzeröffnung fortzusetzen. Zwar darf er seinerseits mit der verkürzten insolvenzrechtlichen Frist kündigen. Einen Verfrühungsschaden kann er dann jedoch nur geltend machen, wenn zusätzliche, nicht ausschließlich in der Insolvenzeröffnung liegende Gründe vorliegen, die ein Festhalten am Vertrag unzumutbar machen und deshalb eine Kündigung aus wichtigem Grund rechtfertigen (§ 628 Abs. 2 BGB). Das ist bspw. der Fall, wenn sein Tätigkeitsbild im Gegensatz zu den im Anstellungsvertrag vereinbarten Aufgaben nur noch dem eines Angestellten entspricht, wobei allein die Weisungsbefugnis des Insolvenzverwalters gemäß § 80 Abs. 1 InsO nicht ausreicht, weil sonst die Beschränkung des § 113 Satz 3 InsO, der einen Schadensersatzanspruch nur bei Kündigung des Verwalters gewährt, leerlaufen würde.

25.20

Geschäftsführerverträge werden in Anlehnung an Vorstandsverträge häufig auf fünf Jahre geschlossen. Trotz dieser Parallelität ist eine zeitliche Begrenzung des Verfrühungsschadens in analoger Anwendung des § 87 Abs. 3 AktG auf zwei Jahre abzulehnen, weil der aktienrechtlichen Bestimmung nach den Gesetzesmaterialien keine Leitbildfunktion zukommt. Stattdessen entnimmt das BAG2 unmittelbar der ratio des § 113 InsO, den Verfrühungsschaden auf die längste ordentliche gesetzliche Kündigungsfrist zu beschränken; denn diese Vorschrift bezwecke einen Interessenausgleich zwischen Gläubigern und insolventem Dienstherrn mit der Folge, dass die Erleichterung der Kündigung nicht durch einen hohen Schadensersatz konterkariert werden dürfe. Anlass des Urteils war zwar ein bis zum Erreichen des 65. Lebensjahres unkündbarer, noch fast 20 Jahre laufender Vertrag. Die Entscheidungsgründe betreffen jedoch alle Verträge mit einer Laufzeit, die über die außerhalb der Insolvenz geltende gesetzliche Kündigungsfrist hinausgehen. Würde man eine solche Begrenzung nur auf Verträge mit einer „überlangen“ Laufzeit anwenden, wäre dies eine Schlechterstellung gegenüber Verträgen mit einer nur „langen“ Laufzeit. Dem kann schon deshalb nicht gefolgt werden3, weil § 87 Abs. 3 AktG mit der Reduzierung auf immerhin zwei Jahre bei dieser Lesart eine Privilegierung des Vorstandsmitglieds im Vergleich zum Geschäftsführer bedeuten würde. Der Zweck des § 87 AktG besteht hingegen in einer Einschränkung und nicht in einer Ausweitung der Vorstandsvergütung4. Außerdem gerät die vom BAG vertretene Rechtsfolge in Konflikt mit der Berechnung des Verfrühungsschadens eines Vermieters. Er darf die volle Restlaufzeit ansetzen5. Den Anspruch des Geschäftsführers, der persönlich von einer Insolvenz wesentlich stärker betroffen ist, darf man deshalb nicht auf u.U. nur einen Monat begrenzen.

25.21

Zuzugeben ist dem BAG, dass ein „Endlosschaden“ die Interessen anderer Gläubiger beeinträchtigt. Dem ist jedoch nicht mit einer Anwendung des § 113 InsO beizukommen, sondern mit den Gläubigerschutzvorschriften. Eine unangemessen lange Vertragslaufzeit zugunsten eines geschäftsführenden Gesellschafters hält in der Regel nicht dem Drittvergleich6 stand, sondern beruht auf dem Gesellschaftsverhältnis (vgl. § 38 Abs. 2 GmbHG), was besonders deutlich wird, wenn zusätzlich Fremdgeschäftsführer mit kürzeren Vertragslaufzeiten beschäf1 Brete/Thomsen, NZI 2020, 1028, 1029. 2 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829. 3 Im Ergebnis ebenso, in der Reichweite aber unklar: Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, § 113 InsO Rz. 84, 33. 4 Seibt in Karsten Schmidt/Lutter, § 87 AktG Rz. 1; Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 1586 ff. 5 Wobei natürlich jeweils ein anderweitiger Erwerb schadensmindernd zu berücksichtigen ist. 6 Dazu Hohenstatt in Scholz, § 35 GmbHG Rz. 374.

816 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.23 § 25

tigt werden. In solchen Fällen kommt eine gegen § 30 GmbHG verstoßende Einlagenrückgewähr in Betracht, vorausgesetzt, man stellt für den Zeitpunkt der fehlenden Stammkapitaldeckung bei einem Dauerschuldverhältnis richtigerweise auf die jeweilige Vergütungsperiode und nicht auf den Vertragsschluss vor der Krise ab. Das erfasst allerdings nur geschäftsführende Gesellschafter. Einen insolvenzspezifischen Schutz gegen unverhältnismäßig lange Verträge aller Geschäftsführer bieten die Anfechtungsvorschriften. Der Abschluss eines Vertrages, der, wie im erwähnten BAG-Fall, länger als 20 Jahre laufen soll und für den immer denkbaren Fall der Insolvenz keine Beendigungsmöglichkeit vorsieht, deutet auf die billigende Inkaufnahme einer Gläubigerbenachteiligung i.S. von § 133 InsO hin. Dabei müssen noch nicht einmal die später benachteiligten Gläubiger schon vorhanden gewesen sein1. Diese Ansätze für eine Angemessenheitskontrolle haben im Vergleich zu der starren Begrenzung des Verfrühungsschadens auf die gesetzliche Kündigungsfrist zwar den Nachteil, dass sie einen großen Beurteilungsspielraum eröffnen. Da aber die ebenfalls starre Zwei-Jahres-Frist des § 87 Abs. 3 AktG nicht analog angewendet werden kann, weil es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt, ist diese Rechtsunsicherheit zu akzeptieren. Eine Orientierung für die angemessene Dauer bieten die fünf Jahre, auf die das Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft längstens bestellt werden darf. Das ist nicht die Analogie, die für § 87 Abs. 3 AktG abgelehnt wurde (Rz. 25.20), sondern die Berücksichtigung einer Usance, die sich in der Praxis auch für Geschäftsführerverträge herausgebildet hat. Eine weitere Begrenzung erfährt der Verfrühungsschaden durch die Schadensminderungspflicht des § 254 BGB. Der Geschäftsführer ist gehalten, anderweitigen zumutbaren Erwerb zu suchen (vgl. § 615 BGB). Bei der Zumutbarkeit sind seine Interessen gegen die der Gläubiger abzuwägen. Die sorgfaltswidrige Herbeiführung der Insolvenz soll den Verfrühungsschaden nach Ansicht des BAG2 hingegen nicht mindern dürfen. Das scheitere am Schutzbereich des § 43 Abs. 1 GmbHG, der den Schutz des Gesellschaftsvermögens bezwecke, nicht aber die Gesellschaft vor den Folgen einer insolvenzbedingten Kündigung mit weiterlaufenden Vergütungsansprüchen ohne Gegenleistung bewahren soll. Der daran geübten Kritik3 ist insoweit zu folgen, als die Minderung nicht am Schutzzweck der Norm scheitert. Sie scheitert aber am Schadensbegriff des § 249 BGB, der einen Gesamtvermögensvergleich verlangt. Die Belastung der GmbH mit nutzlosen Vergütungsansprüchen ist nur eine von vielen Positionen des Insolvenzverursachungsschadens. Eine isolierte Minderung nur des Verfrühungsschadens kommt nicht in Betracht.

25.22

d) Insolvenzanfechtung aa) Angemessene Bezüge Für die Insolvenzanfechtung ist zu unterscheiden zwischen angemessenen Geschäftsführerbezügen einerseits und überhöhten Geschäftsführerbezügen andererseits. Angemessene Bezüge unterliegen keiner Anfechtung – zur Ausnahme sogleich –, solange sie wie geschuldet gezahlt werden (kongruente Deckung), falls zeitlich der bargeschäftliche Zusammenhang gewahrt wird, den der BGH bei 30 Tagen ansetzt4. Erfüllungssurrogate bedeuten hingegen eine inkongruente Deckung, die gemäß § 131 Abs. 1 InsO ohne weitere Voraussetzungen anfecht1 Vgl. BGH v. 13.8.2009 – IX ZR 159/06, ZIP 2009, 1966. 2 BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829. 3 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, § 113 InsO Rz. 85; Linck in Kayser/Thole, § 113 InsO Rz. 30. 4 BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491; a.A. BAG v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366: bei insolvenzgeschützten Arbeitsvergütungen drei Monate.

Spliedt | 817

25.23

§ 25 Rz. 25.23 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

bar ist, wenn sie im letzten Monat vor dem Insolvenzantrag vorgenommen wurde. Erfolgte sie im zweiten und dritten Monat vor dem Antrag, muss zusätzlich entweder die objektive Zahlungsunfähigkeit vorgelegen haben oder bekannt gewesen sein, dass die Insolvenzgläubiger benachteiligt werden. Diese Kenntnis wird zulasten des Geschäftsführers vermutet (§ 131 Abs. 2, § 138 Abs. 2 Nr. 1 InsO). Ebenso hat die inkongruente Deckung Indizwirkung für eine vorsätzliche Gläubigerbenachteiligung1.

25.24

Wurde der bargeschäftliche Zusammenhang bei kongruenter Deckung nicht gewahrt, richtet sich die Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO, wobei zulasten des Geschäftsführers die Vermutung eingreift, dass er eine objektiv bestehende Zahlungsunfähigkeit kannte (§ 130 Abs. 2 InsO). Bei Geschäftsführern, die zugleich Gesellschafter sind, kommt hinzu, dass offen gebliebene Vergütungsansprüche wirtschaftlich einem Gesellschafterdarlehen i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO entsprechen2, dessen Befriedigung innerhalb des letzten Jahres vor dem Insolvenzantrag eine Anfechtung ohne weitere Voraussetzungen begründet. Einem Gesellschafterdarlehen entsprechen sie, wenn die Forderung um mehr als drei Monate seit Fälligkeit faktisch oder vereinbarungsgemäß gestundet wird3.

25.25

Die Anfechtung selbst kongruenter Deckungen wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung hat der BGH mit einem Urteil aus 20124 in den Fokus verwalterlicher Begehrlichkeit gerückt. Dort hat er Zahlungen auf eine Direktversicherung, die noch zu Zeiten nur drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) erbracht wurden, für gläubigerbenachteiligend gehalten. Die Tätigkeit des Geschäftsführers sei kein adäquater Gegenwert für die Gläubiger, weil sich die wirtschaftlichen Verhältnisse immer weiter verschlechtert hätten und deshalb ein Insolvenzantrag die einzige im Gläubigerinteresse richtige Entscheidung gewesen wäre, nicht aber die unveränderte Fortsetzung der Tätigkeit. Dem ist zwar zuzustimmen; denn die drohende Zahlungsunfähigkeit bedeutet, dass die Zahlungsunfähigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich eintritt5. Der Geschäftsführer darf dann nicht tatenlos die weitere Verschlechterung der Verhältnisse hinnehmen und sich selbst „bedienen“, bis er gezwungen ist, wegen der schließlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen. Die „Stellschraube“ ist jedoch das Kriterium „tatenlos“. In der Regel wird sich der Geschäftsführer dahingehend einlassen, dass er Gegenmaßnahmen ergriffen und damit im Interesse und gerade nicht zum Nachteil der Gläubiger gehandelt hat, indem er konkret vorträgt, warum er eine Besserung der Verhältnisse erwarten durfte. Ob das schon die Anforderungen des „Sanierungsprivilegs“ erfüllen muss, für das der BGH nicht nur eine gewisse Erfolgschance, sondern auch Ansätze der Verwirklichung des Sanierungskonzepts fordert6, ist für die laufende Geschäftsführervergütung noch nicht entschieden worden. Seit dem Urteil vom 6.5.2021 hat der BGH die Anforderungen an den Schuldnervorsatz zur Gläubigerbenachteiligung verschärft7. Bei der im Rahmen von § 133 InsO stets erforderlichen Gesamtwürdigung8 wird man jedenfalls nach Ressortaufteilung unter den Geschäftsführern differenzieren müs1 2 3 4 5 6 7

Ganter/Weinland in Karsten Schmidt, § 133 InsO Rz. 45 ff. BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, GmbHR 2014, 645 = ZIP 2014, 927. BGH v. 11.7.2019 – IX ZR 210/18, NZI 2019, 810 = ZIP 2019, 1675. BGH v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, GmbHR 2012, 340 = ZIP 2012, 285. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 18 InsO Rz. 21. BGH v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137; BGH v. 6.12.2007 – IX ZR 113/06, ZIP 2008, 232. BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, NZI 2022, 385 = ZIP 2022, 589; BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 72/20, NZI 2021, 720 = ZIP 2021, 1447. 8 BGH v. 3.3.2022 – IX ZR 78/20, NZI 2022, 385 Rz. 54 = GmbHR 2022, 575 m. Anm. Römermann; BGH v. 30.6.2011 – IX ZR 134/10, ZIP 2011, 1416 Rz. 21; BGH v. 13.8.2009 – IX ZR 159/06, ZIP 2009, 1966 Rz. 8.

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§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.27 § 25

sen. Beim erfolgreichen Vertriebsgeschäftsführer wird eine Gläubigerbenachteiligungsabsicht schwerer zu vermuten sein als bei dem für das Finanzwesen zuständigen Geschäftsführer. Der eine wie der andere sollte jedoch dafür Sorge tragen, dass in der Gesellschaft die Sanierungsbemühungen ab dem ersten Anzeichen einer insolvenzrelevanten Krise dokumentiert werden. Sonst laufen sie Gefahr, dass sich die Bemühungen im Nachhinein, wenn der Misserfolg durch die Insolvenzeröffnung feststeht, abgetan werden als bloße Hoffnung, die die Vermutungswirkung der drohenden Zahlungsunfähigkeit nicht entkräftet. Nach der Ergänzung des § 133 InsO um Abs. 3 Satz 1 greift die Vermutungsregelung bei kongruenten Deckungen nur bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit. Das gilt jedoch nur zugunsten des außenstehenden Gläubigers, nicht zugunsten des Geschäftsführers als Organ des Schuldners. bb) Unangemessene Bezüge Anders stellen sich die anfechtungsrechtlichen Verhältnisse bei einer unangemessen hohen Vergütung dar. Hier ist zu unterscheiden zwischen einer von vornherein bestehenden und einer erst im Laufe der Zeit durch die Entwicklung der Gesellschaft eintretenden Unangemessenheit. Ist die Vergütung von vornherein unangemessen, wird eine Anfechtung wegen unmittelbar nachteiliger Rechtsgeschäfte gemäß § 132 InsO kaum relevant werden, weil davon nur die Vertragsabschlüsse in den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag erfasst werden. Bedeutender ist die Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung gemäß § 133 Abs. 2 InsO; denn bei einem Vertragsabschluss innerhalb der letzten zwei Jahre ist es Sache des Geschäftsführers darzulegen, dass ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz fehlte, wenn eine Gläubigerbenachteiligung wegen des Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv gegeben ist. Voraussetzung ist allerdings, dass er bei Vertragsunterzeichnung bereits im Amt1 oder mit mehr als 25 % an der Gesellschaft beteiligt war (§ 138 Abs. 2 Nr. 1 InsO). Schließlich ist auch die Anfechtung wegen unentgeltlicher Leistung gemäß § 134 InsO einschlägig. Erfasst werden hiervon die letzten vier Jahre vor dem Antrag. Die Beteiligten haben jedoch bei der Bemessung der Vergütung einen erheblichen Beurteilungsspielraum2.

25.26

Hat sich die Unangemessenheit erst später entwickelt, bildet der bestehende Anstellungsvertrag weiterhin die Rechtsgrundlage, so dass eine Anfechtung in Bezug auf die Erfüllung der Vergütungsansprüche oder in Bezug auf die Unterlassung einer Anpassung denkbar ist, nicht aber wegen des Vertragsabschlusses. Da die Dienste des Geschäftsführers keine die überhöhte Vergütung ausgleichende Gegenleistung sind, gelten die obigen Erläuterungen zur Anfechtung gemäß § 133 InsO bei drohender Zahlungsunfähigkeit entsprechend. Ungeklärt ist, wie sich die nach h.M. bestehende Verpflichtung jedenfalls eines Gesellschafter-Geschäftsführers, einer Anpassung der Vergütung zuzustimmen (Rz. 25.18), auf die anfechtungsrechtliche Behandlung auswirkt3. Die Anpassung tritt nicht automatisch ein, sondern bedarf erst eines Anpassungsverlangens, an dem es in der Praxis regelmäßig fehlt. Gleichwohl kann schon die Unterlassung eines solchen Verlangens anfechtbar sein. Voraussetzung ist aber, dass der Gesellschafterversammlung als dem dazu berufenen Organ die Gläubigerbenachteiligung bewusst war4. Ohne dass ein Anpassungsverlangen durchsetzbar gewesen wäre, kommt eine Insolvenzanfechtung nicht in Betracht, weil der Geschäftsführer das erhalten hat, was er beanspruchen kann.

25.27

1 2 3 4

Zum Zeitpunkt des Näheverhältnisses: Ganter in Karsten Schmidt, § 138 InsO Rz. 5. BGH v. 22.10.2020 – IX ZR 208/18, NZI 2021, 81 Rz. 10 = ZIP 2020, 2348. Abwägend: Thole/Schmidberger, BB 2014, 3, 4 ff. BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, ZIP 2014, 275 = GmbHR 2014, 320.

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§ 25 Rz. 25.28 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

25.28

Die Gläubigerbenachteiligung ist objektiv zu bestimmen1. Das beinhaltet nicht nur bei einer Anfechtung nach § 134 InsO (s.o.) einen erheblichen Bewertungsspielraum sowohl für die anfänglich als auch für die nachträglich überhöhte Vergütung. Anfechtungsrechtlich relevant ist eine Überhöhung nur dann, wenn wegen des kritischen Spitzenbetrages das Bewertungsermessen auf null reduziert ist2. Das gilt umso mehr, wenn die Anfechtung neben der objektiven Gläubigerbenachteiligung auch noch subjektiv deren Kenntnis zur Voraussetzung hat. Im Nachhinein wird der Geschäftsführer andere Gesellschaften ähnlicher Größe als Vergleich zur Rechtfertigung und zudem anführen, dass die Krise zeitliche, fachliche und nervliche Anforderungen stellt, die sogar eine Erhöhung und keine Reduzierung der Vergütung gerechtfertigt hätten.

25.29

Sollte eine Anfechtung berechtigt sein, unterliegt ihr nur der überhöhte Teil der Rückgewähr, nicht aber sämtliche Bezüge; denn Anfechtungsgegenstand ist nicht der Vertragsabschluss oder die jeweilige Zahlung. Die Anfechtung selbst richtet sich gegen die Vermögensverschiebung, bei der zwischen einem benachteiligenden und einem nicht benachteiligenden Teil differenziert werden kann3.

2. Insolvenzsicherung der laufenden Geschäftsführerbezüge 25.30

Einen Anspruch auf Insolvenzgeld haben nur Arbeitnehmer im sozialversicherungsrechtlichen Sinn (§ 165 Abs. 1 SGB III). Geschäftsführer sind keine Arbeitnehmer i.S. des KSchG (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG) oder des ArbGG (§ 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG)4. Das präjudiziert jedoch nicht die Unanwendbarkeit sämtlicher arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften. Darüber ist eigenständig nach ihrem jeweiligen Zweck zu entscheiden5. Der EuGH nennt als Abstimmungskriterium im materiellen Arbeitsrecht die Weisungsgebundenheit und die jederzeitige Abberufungsmöglichkeit eines Geschäftsführers6. § 7 Abs. 1 SGB IV definiert die „Beschäftigung“ als „nicht selbständige Arbeit“. Anhaltspunkte „sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers“. Da § 165 Abs. 2 SGB III hinsichtlich des Umfangs der Insolvenzsicherung auf § 7 SGB IV Bezug nimmt, können die dort genannten Anhaltspunkte für eine abhängige Beschäftigung zugleich als Abgrenzungskriterium für den sozialversicherungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff herangezogen werden7, wobei die in Abs. 1 genannte Weisungsgebundenheit nicht formal, sondern faktisch verstanden werden muss; denn weisungsgebunden ist jeder Geschäftsführer, soweit die Gesellschafterversammlung von der ihr durch § 45 Abs. 1 GmbHG eingeräumten Allzuständigkeit Gebrauch macht. Das allein macht ihn aber noch nicht zum Arbeitnehmer. Zwar hat das BAG klargestellt, dass eine Weisungsgebundenheit des GmbH-Geschäftsführers nur in extremen Ausnahmefällen auf einen Status als Arbeitnehmer schließen lässt8. Das bezog sich jedoch nur auf die Anwendung des KSchG. Für den Anspruch auf Insolvenzgeld ist 1 2 3 4 5

Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 129 InsO Rz. 76. Thole/Schmidberger, BB 2014, 3, 6 zur Vergütungsanpassung. Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 129 InsO Rz. 6, 42. BAG v. 27.4.2021 – 2 AZR 540/20, NJW 2021, 2059 = ZIP 2021, 1916. Ein Beispiel ist die gesetzliche Kündigungsfrist des Geschäftsführer-Anstellungsvertrages, bei der zwischen einem gesellschaftsrechtlich beherrschenden und einem nicht beherrschenden Geschäftsführer differenziert wird (Rz. 25.16). 6 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09, ZIP 2010, 2414, 2415 f. 7 Im materiellen Arbeitsrecht sind Beschäftigten- und Arbeitnehmerbegriff hingegen nicht identisch, Rolfs in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 7 SGB IV Rz. 2, 3. 8 BAG v. 27.4.2021 – 2 AZR 540/20, NJW 2021, 2059 = ZIP 2021, 1916.

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§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.33 § 25

die arbeitsrechtliche Einordnung entscheidend. Ein davon abweichender insolvenzgeldrechtlicher Arbeitnehmerbegriff ist vom Gesetz nicht definiert1. Ein Fremdgeschäftsführer ist sozialversicherungsrechtlich Arbeitnehmer, falls nicht ausnahmsweise Umstände vorliegen, die es erlauben, ihn wie einen Mehrheitsgesellschafter zu behandeln2. Eine Ausnahme liegt vor, wenn die Gesellschafter ihn in ständiger Übung bevollmächtigen oder von ihren Rechten keinen Gebrauch machen. Das kommt meist nur bei nahestehenden Personen vor, oder wenn der Geschäftsführer eine Option auf Übernahme der Geschäftsanteile hat. Ein anderes Beispiel ist die mezzanine Finanzierung durch den Fremdgeschäftsführer mit weitreichenden Zustimmungsbefugnissen.

25.31

Für den Gesellschafter-Geschäftsführer ist das vorrangige Abgrenzungskriterium eine Beteiligung von mehr oder weniger bzw. gleich 50 % an Kapital und (!) Stimmrechten3. Als „Faustregel“ ist der mit mehr als 50 % beteiligte Gesellschafter selbständig4, der mit bis zu 50 % beteiligte hingegen abhängig tätig. In beiden Alternativen kommen – wie beim Fremdgeschäftsführer – Feinkorrekturen aufgrund besonderer Umstände in Betracht, die in der Praxis vor allem für den Minderheitsgesellschafter relevant werden, wenn er beispielsweise rechtlich Weisungen über eine Sperrminorität verhindern kann5 oder Beschlüsse seiner Zustimmung bedürfen6. Anders als bei der Versorgungssicherung durch das BetrAVG (Rz. 25.40 ff.) werden bei der Insolvenzgeldsicherung die Anteile mehrerer Geschäftsführer nicht zusammengerechnet, so dass drei paritätisch beteiligte Geschäftsführer als Arbeitnehmer behandelt werden, obwohl sie wirtschaftlich gleichgerichtete Interessen verfolgen und jeweils zwei Geschäftsführer die Mehrheit haben7. Es können aber nicht nur rechtliche Besonderheiten, sondern auch faktische Besonderheiten sein, die den Geschäftsführer einem beherrschenden Gesellschafter gleichstellen, so bei einer familiären8 oder sonstigen Abhängigkeit – z.B. überlegenes Wissen oder Geschäftskontakte9 – die dazu führt, dass die Gesellschafter ihre Rechte nicht gegen den Willen des Geschäftsführers ausüben. Ist ein Geschäftsführer sozialrechtlich als Unternehmer anzusehen, ändert sich dieser Status wie bei einem Einzelunternehmer nicht dadurch, dass nach einem Insolvenzantrag Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, die ihn in seiner Handlungsfreiheit beschränken.

25.32

Die für den Einzug der Sozialversicherungsbeiträge zuständige Stelle hat von Amts wegen einen Antrag an die Deutsche Rentenversicherung Bund auf Feststellung der Beschäftigungsart des Geschäftsführers zu richten („Statusverfahren“). Deren bestandskräftige Entscheidung ist für alle Beteiligten verbindlich (§ 7a SGB IV). Wurde der Geschäftsführer bis zur Insolvenz nicht als sozialversicherungspflichtig behandelt, darf er sich trotzdem nachträglich auf seine Sozialversicherungspflicht und damit seinen Insolvenzgeldanspruch berufen10, wenn keine be-

25.33

1 BAG v. 3.11.2021 – B 11 AL 4/20 R, NZG 2022, 522 = ZIP 2022, 1069. 2 BSG v. 14.3.2018 – B 12 KR 13/17 R, NJW 2018, 2662 = ZIP 2018, 2366; BSG v. 6.3.2003 – B 11 AL 25/02 R, GmbHR 2004, 494. 3 S. u.a. BSG v. 12.5.2020 – B 12 KR 30/19 R, NJW 2021, 1980; BSG v. 14.3.2018 – B 12 KR 13/17 R, NJW 2018, 2662 = GmbHR 2018, 903 m. Anm. Peetz = ZIP 2018, 2366. 4 BSG v. 4.6.2009 – B 12 KR 3/08, NJW 2010, 1836; BSG v. 25.1.2006 – B 12 KR 30/04 R, GmbHR 2006, 645; BSG v. 14.12.1999 – B 2 U 48/98, GmbHR 2000, 618 f. = ZIP 2006, 678. 5 BSG v. 25.1.2006 – B 12 KR 30/04 R, GmbHR 2006, 645 = ZIP 2006, 678. 6 BSG v. 9.2.1995 – 7 RAr 76/94, juris. 7 BSG v. 4.7.2007 – B 11a AL 5/06 R, GmbHR 2007, 1324. 8 BSG v. 14.12.1999 – B 2 U 48/98 R, GmbHR 2000, 618 f. 9 BSG v. 8.8.1990 – 11 RAr 77/89, GmbHR 1991, 461 = ZIP 1990, 1566; BSG v. 29.10.1986 – 7 RAr 43/85, GmbHR 1987, 351, 352. 10 BSG v. 4.7.2007 –B 11a AL 5/06 R, GmbHR 2007, 1324.

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§ 25 Rz. 25.33 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

standskräftige Entscheidung der Deutsche Rentenversicherung Bund entgegensteht. Er läuft dann aber bei vorsätzlicher Nichtabführung der auf ihn entfallenden Arbeitnehmeranteile Gefahr, persönlich zu haften (§ 266a StGB, § 823 Abs. 2 BGB).

25.34

Ist der Geschäftsführer nach den obigen Maßstäben sozialversicherungsrechtlich als Arbeitnehmer anzusehen, steht ihm der Anspruch auf Insolvenzgeld im selben Umfang wie den anderen Arbeitnehmern der GmbH zu. Das gilt auch, wenn die Gesellschaft den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO) im Ausland hat und deshalb dort ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, der Geschäftsführer aber im Inland tätig ist (§ 165 Abs. 1 a.E. SGB III). Möglich ist das allerdings nur, wenn es mehrere Geschäftsführer gibt, weil anderenfalls der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nicht im Ausland liegen kann. Insolvenzgeldfähig sind sämtliche Ansprüche aus dem Dienstverhältnis, soweit sie auf die letzten drei Monate vor dem Insolvenzereignis entfallen. Das Insolvenzereignis ist die Entscheidung über den Insolvenzantrag (Eröffnung bzw. Zurückweisung) oder die Einstellung der Betriebstätigkeit ohne Insolvenzantrag (§ 165 Abs. 1 SGB III). Dagegen ist die Wiedereröffnung des Insolvenzverfahrens nach Nichterfüllung eines Insolvenzplanes kein taugliches Insolvenzereignis1. Das Insolvenzgeld wird in Höhe des Netto-Arbeitsentgelts gezahlt, allerdings begrenzt auf die Beitragsbemessungsgrundlage für die Rentenversicherung, (§§ 167, 341 Abs. 4 SGB III). Da die Vergütung eines Geschäftsführers i.d.R. darüber liegt, muss die Gesellschaft die Differenz bei Fälligkeit ausgleichen, falls ein Forderungsausfall vermieden werden soll. Eine spätere Nachzahlung außerhalb des bargeschäftlichen Zeitraums (§ 142 InsO) unterliegt der Insolvenzanfechtung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Die Grenze zieht der BGH2 bei 30 Tagen, während das BAG3 bei insolvenzgeldgesicherten Ansprüchen drei Monate genügen lässt. Die Differenzzahlung mindert nicht den Insolvenzgeldanspruch, weil sie entsprechend § 366 Abs. 2 Alt. 2 BGB auf die Gesamtvergütung und nicht nur auf den gesicherten Teil anzurechnen ist4. Vorsorglich sollte die Anrechnung aber genau bestimmt werden. Bei Anordnung der vorläufigen Zustimmungs-Verwaltung muss der Geschäftsführer das Einverständnis des Verwalters einholen, weil er sonst keine Zahlung vornehmen darf. Wird es verweigert, kann er aus wichtigem Grund kündigen, wenn der Fehlbetrag erheblich ist.

3. Betriebliche Altersversorgung der Geschäftsführer a) Versorgungsformen 25.35

Die Rechtsgrundlage der betrieblichen Altersversorgung ist eine Versorgungs“zusage“ der GmbH, über deren Erteilung die Gesellschafterversammlung wie über jede Vereinbarung mit einem Geschäftsführer entscheiden muss. Versorgungszusagen, die sich Geschäftsführer untereinander in Vertretung der GmbH geben, sind unwirksam, solange die Gesellschafterversammlung sie nicht genehmigt. Als Teil des bis dahin vollzogenen Anstellungsvertrages bildet sie für die Vergangenheit nur dann einen Rechtsgrund, wenn mindestens ein Mitglied des für den Vertragsabschluss zuständigen Gremiums – in der Regel also ein Gesellschafter – die Zusage kennt und widerspruchslos hinnimmt5.

25.36

Die Versorgungszusage kann entweder auf eine direkte Leistung der Gesellschaft an den Geschäftsführer lauten („unmittelbare Versorgungszusage“ gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG) 1 2 3 4 5

LSG Sachsen-Anhalt v. 19.82020 – L 2 AL 38/18, BeckRS 2020, 38449. BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491. BAG v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366. EuGH v. 4.3.2004 – Rs. C-19/01, ZIP 2004, 867. BGH v. 15.4.2014 – II ZR 44/13, ZIP 2014, 1278 = GmbHR 2014, 817.

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§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.39 § 25

oder auf Leistung durch Dritte (mittelbare Versorgungszusage), insbesondere durch eine Versicherung (§ 1b Abs. 2 BetrAVG), Pensionskasse oder Pensionsfonds (§ 1b Abs. 3 BetrAVG), denen gegenüber der Versorgungsberechtigte direkte Ansprüche erhält. Dem Pensionsfonds ähnelt das Contractual Trust Arrangement (CTA), bei dem die GmbH Vermögen auf einen Treuhänder überträgt, der daraus Versorgungsansprüche befriedigen soll, die dem Versorgungsberechtigen im Wege eines Vertrages zugunsten Dritter eingeräumt werden1. Gegenüber den vorgenannten Versorgungseinrichtungen ist der Vorteil des CTA, dass die Vermögensgegenstände im Besitz der GmbH bleiben können, bei der sie der Treuhänder im Insolvenzfall wegen der Sicherungsfunktion dieses Konstrukts absondern, wenn nicht gar aussondern kann2. Eine Zwischenstellung nehmen die Rückdeckungsversicherung sowie die Unterstützungskasse ein, die der GmbH später die Erfüllung der unmittelbaren Versorgungszusage ermöglichen sollen. Auch hier wird Vermögen durch Beitragszahlungen „ausgelagert“, der Geschäftsführer kann daraus aber keine eigenen Ansprüche gegen den Versicherer etc. herleiten (vgl. § 1b Abs. 4 BetrAVG)3. Bei der Rückdeckungsversicherung ist er zwar die versicherte Person, Versicherungsnehmerin ist jedoch die GmbH. Deshalb wird häufig eine Verpfändung oder Abtretung vorgenommen, um den Geschäftsführer abzusichern. Soweit das BetrAVG in persönlicher Hinsicht auf einen Geschäftsführer anwendbar ist und ihm einen Insolvenzschutz gewährt (s. Rz. 25.40 ff.), gewährt es einen Schutz nur in dem Umfang, in dem keine Ansprüche gegen Dritte durchsetzbar sind (§ 7 Abs. 4 BetrAVG). Außerdem gibt es unterschiedliche Regelungen zum versicherten Risiko für die einzelnen Versorgungsformen (§ 1b Abs. 2–5, § 7 Abs. 1 und 2 BetrAVG), wobei der Schutzumfang letztlich an dem Grundmodell der unmittelbaren Versorgungszusage orientiert ist.

25.37

Die Motive für die unterschiedlichen Versorgungsformen sind die konfligierenden Punkte Liquidität, Steuerbelastung und Absicherung. So erfordert die unmittelbare Versorgungszusage zunächst keine Liquidität, sondern bringt im Gegenteil eine steuerliche Entlastung, weil dafür eine Rückstellung gebildet werden muss4. Eine Direktversicherung hingegen ist auszahlungswirksam und wird beim Versorgungsberechtigten steuerlich als Vergütung behandelt. Eine Mittelstellung nimmt die Einschaltung einer Unterstützungskasse oder Rückdeckungsversicherung ein, die zwar ebenfalls auszahlungswirksam ist, dafür aber wiederum auch als Kreditsicherungsmittel eingesetzt werden kann. Werden dem Geschäftsführer Sicherungsrechte an den Ansprüchen gegen den mittelbaren Versorgungsträger eingeräumt, kann das wiederum zurückschlagen auf die steuerliche Behandlung. So entspricht bspw. die Abtretung der Ansprüche gegen den Rückdeckungsversicherer einer Direktversicherung, so dass die Beitragszahlungen steuerrechtlich Gehalt darstellen5.

25.38

b) Insolvenzrechtliche Einordnung der Versorgungsansprüche Versorgungsansprüche sind im Verhältnis zur insolventen GmbH „eigentlich“ – zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Zeiträumen s. sogleich – Insolvenzforderungen6, weil sie vor Verfahrenseröffnung begründet wurden (§ 38 InsO). Das gilt uneingeschränkt für die Ver1 Zu den Einzelheiten: Ganter, NZI 2013, 769, 772 ff. 2 Zum Streitstand: Ganter, NZI 2013, 769, 772. 3 S. aber BAG jeweils v. 15.2.2011 – 3 AZR 35/09; 3 AZR 45/09; 3 AZR 54/09; 3 AZR 196/09; 3 AZR 248/09; 3 AZR 365/09; 3 AZR 964/08. 4 § 249 Abs. 1 Satz 1, § 266 Abs. 3 B 1 HGB, § 6a EStG. 5 BGH v. 5.7.2012 – VI R 11/11, DB 2012, 2846; vgl. § 3 Nr. 63 EStG. 6 BGH v. 6.12.2007 – IX ZR 284/03, ZIP 2008, 279.

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25.39

§ 25 Rz. 25.39 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

sorgungsansprüche des Geschäftsführers, dessen Anstellungsvertrag vor Verfahrenseröffnung beendet wurde, unabhängig davon, ob der Versorgungsfall bereits eingetreten war (§ 41 InsO bzw. § 191 InsO analog). Der Unterschied zwischen beiden zeigt sich in der weiteren insolvenzrechtlichen Behandlung: Ist der Versorgungsfall bereits eingetreten, wird die Forderung in Höhe des Kapitalwerts als eine unbedingte (§ 45 InsO) behandelt. Darauf ist an die Erben eine Insolvenzquote auch dann auszuschütten, wenn der Versorgungsberechtigte früher als bei der Kapitalisierung angenommen verstirbt. Bei Anwartschaften wird wegen der spezialgesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 2 BetrAVG genauso verfahren, wenn die Anwartschaft unverfallbar ist und die Versorgung vom BetrAVG erfasst wird. Wird sie davon nicht erfasst, sieht der BGH1 die Forderung als eine aufschiebend bedingte an, so dass die darauf entfallende Quote zurückzubehalten bzw. zu hinterlegen ist. Tritt der Versorgungsfall nicht ein, gebührt der Betrag den übrigen Gläubigern – ggf. in einer Nachtragsverteilung2. Bei einem im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung fortbestehenden Anstellungsverhältnis durchbricht § 108 InsO diese Eigenschaft als Insolvenzforderung; denn bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise werden die Versorgungsleistungen zeitanteilig erdient, so dass wie bei laufenden Vergütungsansprüchen (Rz. 25.17) zu unterscheiden ist zwischen der Zeit, in der das Anstellungsverhältnis zulasten der Masse fortbesteht, und der Zeit, ab der es zulasten der Masse endet, aber ohne Insolvenz noch weitergelaufen wäre3. Daraus resultiert folgende Dreiteilung: Der auf die Zeit vor Verfahrenseröffnung entfallende Barwert ist eine Insolvenzforderung (§ 108 Abs. 3 InsO), der während der Fortsetzung erdiente Barwert eine Masseschuld (§ 108 Abs. 1, § 113 InsO) und der auf die Zeit nach der Kündigung bis zum vertragsgemäßen Ende entfallende Barwert wiederum eine Insolvenzforderung in Form des Verfrühungsschadens (§ 113 Satz 3 InsO) (Rz. 25.19 ff.). Eine weitere Unterteilung kommt in Betracht, wenn das Verfahren masseunzulänglich ist und die Dienste des Geschäftsführers nicht in Anspruch genommen werden (§ 209 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2, 3 InsO). All das gilt völlig unabhängig von der Frage, ob die Versorgungszusage unverfallbar ist. Die Unverfallbarkeit hat nur Auswirkungen auf das Eingreifen des BetrAVG und auf einen etwaigen Verlust des Versorgungsanspruchs durch Beendigung des Anstellungsverhältnisses oder sonstige Maßnahmen.

c) Insolvenzsicherung durch das BetrAVG 25.40

Die Schutzadressaten des BetrAVG sind gemäß § 1 Abs. 1 BetrAVG Arbeitnehmer, denen nach § 17 Abs. 1 BetrAVG alle Personen gleichgestellt sind, „die nicht Arbeitnehmer sind, wenn ihnen Leistungen ... aus Anlass ihrer Tätigkeit für ein Unternehmen zugesagt werden“. Das bezieht jeden Unternehmensleiter in den Schutz des BetrAVG ein. Andererseits ist die vorrangige Zielsetzung des BetrAVG, vom BGH als „Grundcharakter“ bezeichnet4, die Existenzsicherung der Personen, deren wirtschaftliche Basis die nicht-unternehmerische Tätigkeit ist5. In Analogie zu einem Einzelunternehmer können auch für einen unternehmerisch tätigen Geschäftsführer keine Ansprüche geschützt werden, die bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise – also unter Außerachtlassung der formaljuristischen Selbständigkeit der GmbH – gegen ihn selbst bestehen. Wie bei der Anwendung von arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften (Rz. 25.16, 25.30 ff.) kommt es auch hier auf den rechtlichen und tatsächlichen Einfluss des Geschäftsführers an. Dort lautete das zentrale Kriterium die „Weisungsabhängigkeit“, das hier 1 BGH v. 10.7.1997 – IX ZR 161/96, GmbHR 1997, 936; BGH v. 17.4.2005 – IX ZR 138/04, ZIP 2005, 2231. 2 Zu den Einzelheiten s. Bitter in Münchener Kommentar zur InsO, § 45 InsO Rz. 12 ff. 3 BGH v. 6.12.2007 – IX ZR 284/03, ZIP 2008, 279. 4 BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 = ZIP 1980, 556. 5 BGH v. 1.2.1999 – II ZR 276/97, ZIP 1999, 547.

824 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.42 § 25

versagt, weil von § 17 BetrAVG beispielsweise auch Vorstandsmitglieder einer AG erfasst werden, die qua lege nicht weisungsabhängig sind (§ 76 Abs. 1 AktG). Stattdessen kommt es auf die „Leitungsmacht“ und den „Kapitaleinsatz“ an1. Die Tätigkeit muss sich als eine für ein fremdes Unternehmen darstellen2.

Zu den durch das BetrAVG nicht geschützten unternehmerähnlichen Personen gehören „in aller Regel geschäftsführende Gesellschafter mit einer nicht unbedeutenden Beteiligung, sofern sie entweder allein oder zusammen mit anderen Geschäftsführern ... über die Mehrheit verfügen“3. Danach ist das BetrAVG unanwendbar, wenn die Kapitalbeteiligung 50 % übersteigt. Ist das nicht der Fall, muss festgestellt werden, ob sie „nicht unbedeutend“ ist. Nur dann sind weitere Umstände zu prüfen, die einem Insolvenzschutz entgegenstehen können. Nicht unbedeutend ist eine Beteiligung von 28,11 %4, wohl auch noch eine von 13 %5. Unter 10 % ist sie hingegen unwesentlich6. Die Literatur zieht die Grenze bei diesen 10 %7, was zwar nahezu mit § 39 Abs. 5 InsO im Einklang steht (dort: mehr als 10 %), aber eine so niedrige Schwelle ist, dass dies schwerlich mit § 17 Abs. 1 BetrAVG in Einklang zu bringen ist8. Ist eine Beteiligung der Höhe nach als „unbedeutend“ anzusehen, wird sie nicht durch ein Mehr an Einflussmöglichkeiten kompensiert; denn wer das wirtschaftliche Risiko nicht trägt, kann nicht unternehmerähnlich tätig sein. Das unterscheidet dieses Kriterium von der Arbeitnehmerähnlichkeit. Konsequenterweise kommt es für die Risikobeteiligung nicht nur auf die Quote am Stammkapital der GmbH an, sondern auf den Anteil an der gesamten Risikofinanzierung. Ist die Tätigkeit der GmbH auf die Übernahme der Komplementärfunktion für eine KG beschränkt, nimmt der BGH zutreffend eine konsolidierte Betrachtungsweise der Beteiligungen an GmbH und KG vor9. Genauso dürften mezzanine Finanzierungsformen einzubeziehen sein, unabhängig davon, ob damit ein Einfluss auf die Gesellschaft verbunden ist; denn er spielt erst auf der zweiten Stufe eine Rolle, wenn die erste Schwelle der „nicht unbedeutenden“ Kapitalbeteiligung überschritten ist.

25.41

Ist die wirtschaftliche Beteiligung zwar „nicht unbedeutend“, liegt sie aber auch nicht über 50 %, muss der Geschäftsführer zusätzlich über die Leitungsmacht verfügen, um wie ein Unternehmer behandelt werden zu dürfen10. Das ist der Fall, wenn ihm in ständiger Übung Stimmrechtsvollmachten erteilt werden, so dass er eine „institutionell verfestigte Mehrheitsmacht repräsentiert“11. Ein anderes Beispiel sind zwei hälftig beteiligte Geschäftsführer. Sie sind unternehmerisch tätig, weil sie aufgrund ihrer gleichgerichteten wirtschaftlichen Erfolgsinteressen einem Einigungszwang unterliegen12. Selbst drei Geschäftsführer, von denen jeweils zwei die Stimmmehrheit haben, werden wegen dieses Einigungszwangs, der aus ihrer gleichzeitigen Stellung

25.42

1 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 224/79, ZIP 1980, 778. 2 BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 = ZIP 1980, 556; BGH v. 28.4.1980 – II ZR 254/78, GmbHR 1980, 162 = ZIP 1980, 453. 3 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 224/79, AG 1981, 45 = ZIP 1980, 778 unter I. 4 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 224/79, AG 1981, 45 = ZIP 1980, 778. 5 BGH v. 9.6.1980 – II ZR 180/79, ZIP 1980, 562, während BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 „nur noch“ 23 % als unbedeutend anzusehen scheint. 6 BGH v. 2.4.1990 – II ZR 156/89, WM 1990, 1114; BGH v. 4.5.1981 – II ZR 100/80, ZIP 1981, 894 = GmbHR 1982, 160 hatte noch 12 % für unbedeutend gehalten. 7 Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, 7. Aufl. 2018, § 17 BetrAVG Rz. 94; Steinmeyer in Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 21. Aufl. 2021, § 17 BetrAVG Rz. 10; Ganter, NZI 2013, 769, 771. 8 Goette, DStR 1997, 1136, 1137. 9 BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 = ZIP 1980, 556. 10 BGH v. 28.4.1980 – II ZR 254/78, GmbHR 1980, 162 = ZIP 1980, 453. 11 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 224/79, ZIP 1980, 778. 12 BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266; BGH v. 1.2.1999 – II ZR 276/97, ZIP 1999, 398.

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§ 25 Rz. 25.42 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

als Gesellschafter folgt, als Unternehmer angesehen1, und zwar auch dann, wenn stets der dritte in der Minderheit bleibt. Das ist bedenklich, weil für den ständig dissentierenden Gesellschafter das Kriterium der Leitungsmacht als eines der beiden für die unternehmerische Beteiligung erforderlichen Voraussetzungen nicht erfüllt ist2. Für die Zurechnung der Leitungsmacht nicht erforderlich ist, dass die Geschäftsführer die alleinigen Gesellschafter sind. Sie müssen nur jeder nicht unerheblich beteiligt und mehrheitlich in der Lage sein, die Gesellschafterversammlung zu majorisieren3. Wechselt ein Geschäftsführer aus der nicht unternehmerischen in die unternehmerische Position oder umgekehrt, wird nicht einheitlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Versorgungszusage abgestellt, sondern pro rata temporis aufgeteilt4.

25.43

Den Umfang des Insolvenzschutzes definiert § 7 BetrAVG. Zu unterscheiden ist zwischen dem schon eingetretenen Versorgungsfall und der Anwartschaft auf einen späteren Beginn der Versorgung. Ist der Versorgungsfall schon eingetreten, übernimmt der Pensionssicherungsverein (PSV) die Verbindlichkeiten der insolventen GmbH (§ 7 Abs. 1 BetrAVG). Besteht erst eine Anwartschaft auf künftige Versorgungsleistungen, ist sie geschützt, wenn sie unverfallbar ist (§ 7 Abs. 2 BetrAVG). Die Unverfallbarkeitsvoraussetzungen sind in § 1b Abs. 1 BetrAVG genannt. Danach muss der Berechtigte im Zeitpunkt des Versicherungsfalls (Insolvenzereignis) das 25. Lebensjahr vollendet und die Versorgungszusage mindestens fünf Jahre bestanden haben. Abweichend davon begründet eine Altersversorgung, die sich der Berechtigte durch Entgeltumwandlung gleichsam selbst erkauft, sofort eine unverfallbare Anwartschaft (§ 1b Abs. 5 BetrAVG). Vertragliche Vereinbarungen über geringere Anforderungen an die Unverfallbarkeit wirken nicht zulasten des PSV. Ist die Anwartschaft unverfallbar, wird die Versorgungshöhe des Anwärters so berechnet, als wäre er mit dem Insolvenzereignis ausgeschieden, unabhängig davon, ob sein Vertrag zulasten der Masse fortbesteht (§ 7 Abs. 2 BetrAVG). Demgegenüber übernimmt der PSV bei einem bereits eingetretenen Versorgungsfall die volle zugesagte Leistung einschließlich einer etwa vereinbarten Dynamisierung5.

25.44

Die Berechnungsgrundlage ist gedeckelt durch das Dreifache der Bezugsgröße für die Rentenversicherung gemäß § 18 SGB IV. Außerdem wird die Versicherungsleistung reduziert, soweit ein Versicherungsmissbrauch vorliegt. Das ist gemäß § 7 Abs. 5 Satz 1 BetrAVG anzunehmen, wenn der überwiegende Zweck die spätere Inanspruchnahme des PSV ist6, insbesondere wenn die Gesellschaft wegen einer erwarteten Insolvenz ihre Zusage nicht hätte einlösen können (§ 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG)7. Diese Voraussetzung muss der Träger der Insolvenzsicherung nachweisen, was angesichts eines Abstandes von mindestens fünf Jahren zwischen Zusage und Beginn der Insolvenzsicherung in der Regel nicht gelingen wird, zumal das BAG eine gewisse Evidenz des drohenden Versicherungsfalls verlangt8. Sie fehlt, wenn Erfolg versprechende Sanierungsmaßnahmen eingeleitet werden9. Unabhängig davon gilt für sämtliche Versorgungszusagen, dass sie dem Drittvergleich standhalten müssen, was gerade bei Gesellschafter-Geschäftsführern Streitpotential birgt. Ist die Versorgungshöhe durch die Gesellschaf1 2 3 4 5 6 7 8 9

BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 = ZIP 1980, 556. Goette, DStR 1997, 1135, 1137. BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266 = ZIP 1980, 556. BGH v. 16.1.2014 – XII ZB 455/13, NJW-RR 2014, 449; BGH v. 24.9.2013 – II ZR 396/12, ZIP 2014, 191; BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266. Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, 7. Aufl. 2018, § 7 BetrAVG Rz. 201 ff. BAG v. 24.11.1998 – 3 AZR 423/97, ZIP 1999, 892. BAG v. 24.11.1998 – 3 AZR 423/97, ZIP 1999, 892. BAG v. 19.2.2002 – 3 AZR 137/91, BB 2002, 223. Ganter, VersR 2013, 1078.

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§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.46 § 25

terstellung maßgeblich bestimmt, ist nur der angemessene Rentenanteil insolvenzgesichert1. Einen Sonderfall regelt § 7 Abs. 5 Satz 3 BetrAVG: Ein Missbrauch wird unwiderlegbar vermutet, wenn in den letzten zwei Jahren vor dem Insolvenzereignis die Zusage erteilt2 oder verbessert wurde. Das gilt allerdings nicht für planmäßige, bereits früher zugesagte Verbesserungen3 und Zusagen aufgrund einer Entgeltumwandlung. Hat die GmbH statt einer unmittelbaren Versorgungszusage eine mittelbare Zusage unter Zwischenschaltung eines Versorgungsträgers (§ 1 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2, Abs. 2, § 1b Abs. 2–4 BetrAVG) erteilt, greift die Insolvenzsicherung gemäß § 7 Abs. 4 BetrAVG nur ein, wenn die Ansprüche des Geschäftsführers gegen den Versorgungsträger nicht bis zum Eintritt des Versicherungsfalls durchgesetzt werden können. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die GmbH nach Eintritt der Unverfallbarkeit nicht in der Lage ist, Belastungen der zu ihren eigenen Finanzierungszwecken eingesetzten Ansprüche gegen den Versorgungsträger zu beseitigen (§ 7 Abs. 1 Satz 2 BetrAVG). Eine Beleihung der Direktversicherung ist nicht missbräuchlich, sondern entspricht der gesetzlichen Konzeption4. Selbst die Zustimmung eines unwiderruflich bezugsberechtigten Geschäftsführers zur Beleihung schließt den Schutz durch das BetrAVG nicht automatisch aus5. Bei dem Abschluss einer Versicherung mit widerruflichem Bezugsrecht zugunsten des Geschäftsführers kann die GmbH das Bezugsrecht bis zum Eintritt des Versicherungsfalls widerrufen. Das ist im Verhältnis zum Versicherer wirksam6, da die Unverfallbarkeit das Bezugsrecht im Verhältnis zur Versicherung noch nicht zu einem unwiderruflichen macht7. Der Widerruf führt im Verhältnis zum Geschäftsführer zum Schadensersatz, wenn die Zusage unverfallbar war (§ 1b Abs. 2 Satz 1 BetrAVG). Der Schadensersatzanspruch ist ebenfalls insolvenzgesichert8. Anders ist es, wenn der Arbeitgeber die Zahlungen nicht leistet, die zur Herstellung des vereinbarten Versicherungsschutzes erforderlich sind. Dann besteht kein Insolvenzschutz nach dem BetrAVG9. Unterbliebene Zahlungen werden jedoch wie eine rückständige Dienstvergütung behandelt, so dass die Beiträge von der Insolvenzgeldsicherung für die letzten drei Monate erfasst werden (§ 165 Abs. 2 SGB III). Der persönliche Anwendungsbereich dieser Sicherung richtet sich dann aber nach sozialversicherungsrechtlichen Kriterien.

25.45

Der Versicherungsfall tritt mit dem Insolvenzereignis ein. Wie beim Insolvenzgeld sind das die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, deren Ablehnung mangels Masse oder die vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit (§ 7 Abs. 1 BetrAVG). Wegen der Bedeutung der Pensionslasten bei einer Sanierung kommt der außergerichtliche Vergleich hinzu, wenn der PSV zustimmt. Die „Insolvenz in der Insolvenz“ ist hingegen kein Versicherungsfall mit der Folge, dass der Teil der Versorgungsansprüche, der nach Verfahrenseröffnung im Rahmen eines fortgesetzten Geschäftsführervertrages erdient wird, nicht gegen eine Masseunzulänglichkeit geschützt ist. Wird ein Insolvenzplan beschlossen, soll darin gemäß § 7 Abs. 4 Sätze 2 bis 4 Betr-

25.46

1 BGH v. 14.7.1980 – II ZR 224/79, ZIP 1980, 778; BGH v. 9.6.1980 – II ZR 255/78, GmbHR 1980, 266. 2 Da der Insolvenzschutz die Unverfallbarkeit voraussetzt, diese aber erst nach fünf Jahren eintritt, kann mit der Erteilung nur die Ersetzung einer vorher schon bestandenen Zusage gemeint sein, während BAG v. 24.11.1998 – 3 AZR 423/97, ZIP 1999, 892 unter III 1 ohne Erläuterung auch andere Fälle für denkbar hält. 3 Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, 7. Aufl. 2018, § 7 BetrAVG Rz. 299. 4 BAG v. 19.1.2010 – 3 AZR 660/09, ZIP 2010, 1663. 5 BAG v. 26.6.1990 – 3 AZR 641/88, ZIP 1991, 49. 6 Vgl. § 13 Abs. 2 ALB. 7 Kayser, ZInsO 2004, 1321, 1323. 8 Rolfs in Blomeyer/Rolfs/Otto, 7. Aufl. 2018, Vorbem. § 7 BetrAVG Rz. 37, § 7 BetrAVG Rz. 64. 9 BAG v. 17.11.1992 – 3 AZR 51/92, ZIP 1993, 696.

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§ 25 Rz. 25.46 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

AVG vorgesehen werden, dass bei einer nachhaltigen Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse die Leistungen ganz oder teilweise wieder von der GmbH erbracht werden. Damit entfällt künftig der Anspruch gegen den PSV. Kommt es zur Folgeinsolvenz, ist dies ein neuer Versicherungsfall, so dass gemäß § 7 Abs. 1a Satz 3 BetrAVG auch die aufgrund der Planregelung von der GmbH zu erbringenden, aber tatsächlich nicht erbrachten Leistungen wieder abgedeckt sind, sofern der Rückstand nicht älter als zwölf Monate ist. Eine der Wiederauflebensklausel des § 255 InsO entsprechende Vorschrift gibt es im BetrAVG nicht.

d) Insolvenzsicherung außerhalb des BetrAVG 25.47

Geschäftsführer, die nicht unter den Schutz des BetrAVG fallen, erhalten ein Ruhegeld nur, soweit ihnen insolvenzfeste Ansprüche gegen die GmbH erwachsen sind. Eine Möglichkeit ist der Abschluss einer Lebensversicherung mit der GmbH als Versicherungsnehmerin und dem Geschäftsführer als versicherte Person sowie Bezugsberechtigtem (§ 159 VVG). Wurde ihm nur ein widerrufliches Bezugsrecht eingeräumt, ist der Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung zum Widerruf berechtigt (§ 80 InsO, § 159 VVG). Dem versorgungsberechtigen Geschäftsführer kann der Anspruch erst mit dem Eintritt des Versicherungsfalls nicht mehr entzogen werden (§ 159 Abs. 2 VVG). Bis dahin fällt er gemäß § 160 Abs. 3 VVG in die Masse, die ihm die Versicherungssumme auch später nicht etwa auskehren muss1. Selbst wenn die Versicherungsbeiträge durch eine Entgeltumwandlung finanziert wurden, ist die Versicherungsnehmerstellung der GmbH keine treuhänderische, zugunsten des Geschäftsführers aussonderungsfähige Rechtsposition2. Der Geschäftsführer kann gemäß § 170 Abs. 1 VVG durch befristete Anzeige beim Versicherer in den Vertrag eintreten, muss dann aber den Rückkaufswert der Masse vergüten, was durchaus sinnvoll sein kann, damit die Abschlusskosten für einen neuen Vertrag entfallen. Erforderlich ist außerdem die Zustimmung des Versicherungsnehmers, nach Verfahrenseröffnung also des Insolvenzverwalters. Er wird sie erteilen müssen, weil dem keine insolvenzspezifischen Belange entgegenstehen. Das kann er auch nicht unterlaufen, indem er die Bezugsberechtigung widerruft3. Die vorgenannten Rechtsfolgen gelten auch dann, wenn die Versorgungszusage im Verhältnis zum Geschäftsführer unwiderruflich (geworden) sein sollte; denn zwischen dem Außenverhältnis zum Versicherer und dem Innenverhältnis zum Geschäftsführer ist streng zu unterscheiden4. Maßgebend ist die Widerruflichkeit im Verhältnis zum Versicherer, auch wenn dadurch im Verhältnis zum Geschäftsführer gegen den Anstellungsvertrag verstoßen wird. Das kann bei einem Widerruf nach Verfahrenseröffnung zwar einen Schadensersatzanspruch gegen den Verwalter auslösen5, der analog § 108 Abs. 3 InsO aber auf den Verlust der anteiligen als Masseschuld zu leistenden Barwerterhöhung beschränkt ist. Für die Zeit davor und danach hat der Geschäftsführer keine insolvenzfesten Rechte erworben.

25.48

Bei einem unwiderruflichen Bezugsrecht steht die Versicherungsleistung dem Bezugsberechtigen außerhalb der Insolvenz zu (§ 159 Abs. 3 VVG)6. Allerdings unterliegt der Versiche1 BAG v. 17.10.1995 – 3 AZR 622/94, ZIP 1996, 965. 2 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 264/01, ZIP 2002, 1697. Die dem Versorgungsanwärter für diesen Fall durch § 1b Abs. 5 BetrAVG eingeräumten Rechte gelten nur für die unter das BetrAVG fallenden Personen. 3 BGH v. 12.10.2011 – IV ZR 113/10, VersR 2012, 425. 4 BAG v. 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269; BAG v. 8.6.1999 – 3 AZR 136/98, ZIP 1999, 1638. 5 BAG v. 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269. 6 BAG v. 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269; BAG v. 15.6.2010 – 3 AZR 334/06, ZIP 2010, 1915; zweifelnd: Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, B 527 f.

828 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.50 § 25

rungsvertrag weiterhin dem Erfüllungswahlrecht des Verwalters gemäß § 103 InsO. Wählt er keine Erfüllung, besteht der Vertrag mit der Schuldnerin zwar unverändert fort, nur dass Beitragspflichten keine Masseschulden sind1. Auch hier greift das Eintrittsrecht des Geschäftsführers gemäß § 170 VVG ein, dem der Verwalter zustimmen muss. Ansonsten wird der Rückkaufswert erst fällig, wenn der Verwalter außer der Erfüllungsverweigerung auch noch die Kündigung des Versicherungsvertrages erklärt2. Eine Zwitterstellung nimmt das eingeschränkt widerrufliche Bezugsrecht ein, bei der das Innenverhältnis zum Geschäftsführer gleichsam nach außen getragen wird, indem ein Widerruf nur nach Maßgabe der Versorgungszusage zulässig ist. Erfolgt kein Widerruf bzw. tritt der Versorgungsfall vor einem Widerruf ein, ist der Geschäftsführer voll bezugsberechtigt. Der häufigste Widerrufsgrund ist die Beendigung des Anstellungsverhältnisses. Geringfügig unterschiedliche Auffassungen gibt es über die Bedeutung einer insolvenzbedingten Beendigung. Während der BGH meinte, dass sie nicht zum Widerruf berechtige, was auch im Verhältnis zum Versicherer zu beachten sei3, hielt das BAG den Widerruf für wirksam, weil es allein auf den Versicherungsvertrag ankomme, der zwischen unterschiedlichen Arten der Beendigung nicht differenziere. Deshalb rief es den gemeinsamen Senat an4, der das Verfahren jedoch einstellte, nachdem der BGH erklärt hatte, dass er keine divergierende Ansicht vertrete5. Beide obersten Gerichte betonen seither, dass es sich um eine Auslegungsfrage handele, wobei das BAG weiterhin die Eigenständigkeit des Versicherungsvertrages in den Vordergrund stellt6 und der BGH eher die Bedeutung des Innenverhältnisses unterstreicht7. Auswirkungen in der Praxis wird dies kaum noch haben. Diese für Arbeitnehmer entwickelte Rechtsprechung gilt auch für Geschäftsführer8.

25.49

Statt einer Versicherung mit Bezugsrecht des Geschäftsführers kann die GmbH auch eine Rückdeckungsversicherung mit einem ihr zustehenden Bezugsrecht oder eine Vereinbarung mit einer Unterstützungskasse abschließen. Ziel solcher Gestaltungen ist die Eigenvorsorge der GmbH zur Erfüllung künftiger Pensionspflichten. Der Geschäftsführer hat keine Rechte gegen den Versicherer9 oder die Unterstützungskasse (vgl. § 1b Abs. 4 BetrAVG). Nur bei einer Verpfändung der Forderungen gegen den Versicherer zugunsten des Geschäftsführers kann er in der Insolvenz eine abgesonderte Befriedigung gemäß § 50 Abs. 1, § 51 Nr. 1 InsO verlangen10. Voraussetzung ist allerdings der Zugang der nach § 1280 BGB erforderlichen und von der GmbH als Versicherungsnehmerin stammenden Verpfändungsanzeige beim Drittschuldner im anfechtungsfreien Zeitraum. Ist der Versorgungsfall eingetreten, ist der Geschäftsführer zum Einzug der Versicherungsleistung berechtigt11. Ist der Versorgungsfall noch

25.50

1 BGH v. 1.12.2011 – IX ZR 79/11, ZIP 2012, 34. 2 BGH v. 1.12.2011 – IX ZR 79/11, ZIP 2012, 34. 3 BGH v. 6.6.2012 – IV ZA 23/11, NZI 2012, 762; BGH v. 3.5.2006 – IV ZR 134/05, ZIP 2006, 1309; BGH v. 22.9.2005 – IX ZR 85/04, ZIP 2005, 1836. 4 BAG v. 22.5.2007 – 3 AZR 334/06 (A), ZIP 2007, 1869. 5 S. dazu die Folgeentscheidung des BAG v. 15.6.2010 – 3 AZR 334/06, ZIP 2010, 1915. 6 BAG v. 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269 Rz. 18 ff. 7 BGH v. 22.1.2014 – IV ZR 201/13, ZIP 2014, 384 Rz. 21. 8 BGH v. 24.6.2015 – IV ZR 411/13, ZInsO 2015, 1613; BGH v. 9.10.2014 – IX ZR 41/14, ZIP 2014, 2251. 9 BAG v. 17.1.2012 – 3 AZR 10/10, ZInsO 2012, 1265 = ZIP 2012, 1678. 10 A.A. Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, M 128: bei dem Anspruch auf Auszahlung der Versicherungssumme handele es sich um einen künftigen Anspruch, an dem ein Pfandrecht wegen § 91 InsO nach Verfahrenseröffnung nicht entstehen kann. 11 Arg e § 166 Abs. 2 InsO; BGH v. 15.5.2003 – IX ZR 218/02, ZIP 2003, 1256.

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§ 25 Rz. 25.50 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

nicht eingetreten, muss der Verwalter den Versicherungsvertrag zwar nicht fortsetzen, er kann wegen § 1276 Abs. 1 BGB aber auch nicht die zur Realisierung des Rückkaufswerts erforderliche1 Kündigung eigenmächtig erklären2. Zweckmäßig ist deshalb eine Übertragung auf den Geschäftsführer oder eine einvernehmliche Realisierung des Rückkaufswerts.

25.51

Zweifel an der Insolvenzfestigkeit des Pfandrechts, das einem Versorgungsberechtigten eingeräumt wurde, weckten in jüngerer Zeit zwei Entscheidungen des BGH, in denen der Anspruch auf die Versicherungssumme als ein künftiger Anspruch bezeichnet wurde3. An künftigen Forderungen können nach Verfahrenseröffnung gemäß § 91 InsO – anders als an aufschiebend bedingt entstandenen Ansprüchen – keine Rechte erworben werden4. Dabei ist jedoch zu differenzieren zwischen dem Rückkaufswert und der Ablaufleistung. Soweit es den bis zur Verfahrenseröffnung durch Beiträge erdienten Rückkaufswert betrifft, hat der Versorgungsberechtigte eine gesicherte Rechtsposition5. Wird der Geschäftsführervertrag hingegen fortgesetzt, werden die die spätere Ablaufleistung erhöhenden Beitragszahlungen zwar aus der Masse geschuldet. Die Erstreckung des Pfandrechts auf den Wertzuwachs scheitert jedoch an § 91 InsO, so dass die Verpfändung mit dem Verwalter erneut vereinbart werden muss. Allein die Beitragsverpflichtung als Masseschuld führt nicht zu einer Durchbrechung des § 91 InsO hinsichtlich des dinglichen Rechtserwerbs. Bedeutung hat dies bei einer späteren Masseunzulänglichkeit.

25.52

Tritt die Auszahlungsreife der Lebensversicherung vor dem Versorgungsfall ein, muss der Verwalter die Versicherungsleistung trotz einer Verpfändung analog § 173 Abs. 2 Satz 2 InsO zur Masse ziehen6 und kann dafür die Feststellungs- und Verwertungskosten der §§ 170 f. InsO geltend machen7. Der von ihm eingezogene Betrag ist gegen eine etwaige Masseunzulänglichkeit zu sichern8 und bei der Verteilung bis zum Eintritt des Versorgungsfalls gemäß § 191 Abs. 1, § 198 InsO zu hinterlegen9. Beim Tod vor dem Erreichen der Altersgrenze stehen die Leistungen des Versicherers bzw. der Unterstützungskasse der Masse zu10, weil die gesicherte Forderung entfällt, es sei denn, dass die Vererblichkeit der Versorgungsansprüche vereinbart wurde. Sollten stattdessen die Hinterbliebenen eine eigene Hinterbliebenenversorgung erhalten, ist das ein gesonderter Anspruch gegen die GmbH, für den sie nur dann eine abgesonderte Befriedigung verlangen können, wenn eine Verpfändung auch zu ihren Gunsten erfolgte. Statt einer Verpfändung kommt auch jeweils eine Abtretung in Betracht, bei der das 1 BGH v. 1.12.2011 – IX ZR 79/11, ZIP 2012, 34. 2 Ganter, VersR 2013, 1078; Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, B 123. 3 BGH v. 11.11.2010 – VII ZB 87/09, ZIP 2011, 350; BGH v. 23.10.2008 – VII ZB 16/08, NJW-RR 2009, 211. 4 Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, M 127 f. 5 BGH v. 26.1.2012 – IX ZR 191/10, ZIP 2012, 638; s. aber andererseits BGH v. 29.6.2004 – IX ZR 147/03, ZIP 2004, 1608, der eine von der Kündigung abhängige Auszahlung eines Genossenschaftsanteils als nicht vor Verfahrenseröffnung aufschiebend bedingt entstanden ansah, obwohl auch dieses Guthaben vorher bei wirtschaftlicher Betrachtung erdient wurde. In Höhe des Rückkaufswerts erkennt auch Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, M 129 das Pfandrecht an. 6 BGH v. 7.4.2005 – IX ZR 138/04, ZIP 2005, 909. 7 BGH v. 11.4.2013 – IX ZR 176/11, ZIP 2013, 987. 8 BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 zum Einzug zedierter Forderungen. 9 BGH v. 7.4.2005 – IX ZR 138/04, ZIP 2005, 909. 10 BGH v. 7.4.2005 – IX ZR 138/04, ZIP 2005, 909; BAG v. 17.1.2012 – 3 AZR 10/10, ZInsO 2012, 1265 = ZIP 2012, 1678.

830 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.55 § 25

Einzugsrecht dann aber in jedem Fall beim Verwalter liegt (§ 166 Abs. 2 InsO) und sich der auszukehrende Betrag um die Kosten der §§ 170 f. InsO reduziert. Die Abtretung bedarf nach § 13 Abs. 4 der Allgemeinen Bedingungen für die Lebensversicherung aus 2015 (ALB 15) einer Anzeige bei dem Versicherer. Sonst ist sie absolut unwirksam1. Bei den Sicherungsvereinbarungen wird in der Praxis regelmäßig übersehen, dass die GmbH gegenüber dem Geschäftsführer durch ihre Gesellschafter vertreten wird. Sie können ihre Entscheidungskompetenz oder deren Vollzug zwar delegieren2. Ohne eine solche Bevollmächtigung sind die Vereinbarungen aber bis zu einer Genehmigung schwebend unwirksam. Dem zuständigen Organ obliegt auch die Entscheidung über die Besicherung des Versorgungsanspruchs3.

25.53

e) Gläubigerschutz bei Versorgungsleistungen aa) Insolvenzrechtliche Anfechtung

Ein Risiko für alle Geschäftsführer – auch Nicht-Gesellschafter – resultiert aus der insolvenzrechtlichen Anfechtung, die wegen des Näheverhältnisses zur GmbH (§ 138 Abs. 2 InsO) unter erleichterten Voraussetzungen durchgreift. Maßgebend für die anfechtungsrechtliche Beurteilung sind gemäß § 140 Abs. 1 InsO im Grundsatz die Verhältnisse zu dem Zeitpunkt, zu dem die rechtlichen Wirkungen eintreten. Für die Zusage der Versorgung als Anspruchsgrundlage ist das der Eintritt der Unverfallbarkeit im Verhältnis zur Gesellschaft, selbst wenn die Unverfallbarkeit im Verhältnis zum PSV gemäß § 1b BetrAVG erst später eintritt. Allerdings hat der Geschäftsführer schon ab der noch verfallbaren Zusage eine Anwartschaft auf die Unverfallbarkeit, weil sie mit dem Zeitablauf automatisch eintritt. Das könnte nur durch eine Kündigung verhindert werden. Das Unterlassen der Kündigung des gesamten Vertrages ist i.d.R. keine gemäß § 129 Abs. 2 InsO anfechtbare Rechtshandlung, solange sie nur als Nebenwirkung den Eintritt der Unverfallbarkeit hat und nicht gezielt auf eine Gläubigerbenachteiligung gerichtet ist4. Anders liegt es, wenn der Vertrag trotz Vorliegens eines wichtigen Kündigungsgrundes oder in der Krise nur zu Versorgungszwecken aufrechterhalten wird. Außerhalb dieser Sonderfälle ist für die Anfechtung gemäß § 140 Abs. 3 InsO auf die Umstände bei Erteilung der Versorgungszusage abzustellen. Wird die Versorgungszusage während des laufenden Anstellungsverhältnisses innerhalb der letzten zwei Jahre vor dem Insolvenzantrag erteilt, wird die Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung gemäß § 133 Abs. 2 InsO erleichtert, weil es sich um einen entgeltlichen Vertrag mit einer nahestehenden Person handelt. Entspricht die Versorgungszusage nicht dem Drittvergleich, ist dies zudem unter dem Gesichtspunkt der Anfechtung wegen unentgeltlicher Leistung gemäß § 134 InsO von Bedeutung5.

25.54

Die Erfüllung der Versorgungszusage ist ein weiterer anfechtungsrelevanter Zeitpunkt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Leistungen der GmbH direkt an den im Ruhestand befindlichen Geschäftsführer, den Leistungen zum Aufbau eines Zahlungsanspruchs gegen Dritte und schließlich der Einräumung eines solchen Anspruchs gegen Dritte zugunsten des Geschäftsführers. Ruhegehaltszahlungen, die die GmbH direkt an damalige Geschäftsführer leistet, sind unter den Voraussetzungen des § 130 InsO anfechtbar. Das Bargeschäftsprivileg des § 142 InsO kommt nicht zum Zuge, da keine Gegenleistung mehr erbracht wird. Ebenso

25.55

1 2 3 4 5

BAG v. 17.1.2012 – 3 AZR 10/10, ZInsO 2012, 1265 = ZIP 2012, 1678. Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 35 GmbHG Rz. 18. OLG Düsseldorf v. 23.4.2009 – 6 U 58/08, ZInsO 2009, 1599. BGH v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, GmbHR 2014, 320 Rz. 13 = ZIP 2014, 275. Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 134 InsO Rz. 35.

Spliedt | 831

§ 25 Rz. 25.55 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

können auch alle anderen eine Deckungsanfechtung ermöglichenden Tatbestände eingreifen, insbesondere wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung.

25.56

Zahlungen der GmbH an Versorgungsträger, gegen die der Geschäftsführer unentziehbar unmittelbare oder mittelbare (z.B. aufgrund einer Verpfändung) Ansprüche erworben hat, haben eine Doppelwirkung: Einerseits erfolgen sie auf der Grundlage des mit dem Versicherer etc. geschlossenen Vertrages, andererseits begünstigen sie den Versorgungsberechtigen, der den dadurch erlangten Vorteil gemäß § 143 Abs. 1 InsO herausgeben muss1. Der Haftungsumfang ist geringer als der von der GmbH geleistete Beitrag, weil darin noch Bearbeitungsund Gewinnanteile des Versicherers enthalten sind, so dass sich die Erstattungspflicht nur auf die Erhöhung des Rückkaufswertes richtet2. Bei Beitragszahlungen während der laufenden Geschäftsführertätigkeit handelt es sich um Bargeschäfte gemäß § 142 InsO3. Für Arbeitnehmer erstreckt das BAG den bargeschäftlichen Zusammenhang auf drei Monate4, weil ein Vergütungsanspruch für diesen Zeitraum durch Insolvenzgeld gesichert ist. Das wird man auf Geschäftsführer nur übertragen können, soweit auch ihre Ansprüche vom Insolvenzgeld erfasst werden. Ansonsten gelten kürzere Zeiträume von bis zu 30 Tagen5. Ungeachtet dessen ist auch bei Bargeschäften eine Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung möglich; denn die Dienste des Geschäftsführers sind nur dann eine die Gläubigerbenachteiligung ausschließende Gegenleistung, wenn sie für die Gläubiger von Vorteil sind, was schon ab Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) nicht mehr unterstellt werden kann, wenn kein ernsthafter Sanierungsversuch unternommen wird und sich die wirtschaftlichen Verhältnisse verschlechtern6.

25.57

Ist eine Versorgungszusage teilweise unentgeltlich, weil sie nicht im angemessenen Verhältnis zu Position und Leistungen des Geschäftsführers steht, können die innerhalb der letzten vier Jahre vor Verfahrenseröffnung geleisteten Beiträge an Versorgungsträger, die den Wert der Versorgungsanwartschaft erhöhen, gemäß § 134 InsO auch dann angefochten werden, wenn die Versorgungszusage älter ist7. Gleiches gilt natürlich auch schon für das Bezugsrecht, wenn es erst innerhalb der letzten vier Jahre unwiderruflich wurde. Voraussetzung für die Unentgeltlichkeit ist jeweils die Überschreitung eines den Beteiligten zuzubilligenden Bewertungsspielraums8. Der Anfechtungsumfang beschränkt sich auf das Übermaß9, vorliegend somit auf die unangemessene Erhöhung des Barwertes der Versorgung. Nur sie hat der Versorgungsberechtigte erlangt, nicht die Beiträge. Der maßgebende Beurteilungszeitpunkt für die erleichterte Anfechtungsvoraussetzung des § 133 Abs. 2 InsO ist ebenfalls die Erfüllungshandlung der GmbH10, wobei es schon an einer objektiven Gläubigerbenachteiligung fehlt, wenn Versorgungsbeiträge und Dienstleistung im bargeschäftlichen Zusammenhang erbracht werden (Rz. 25.24). 1 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 129 InsO Rz. 52. 2 BGH v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, ZIP 2003, 2307; unklar hingegen BGH v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, GmbHR 2012, 340, der gemäß Rz. 10 entweder die Wertsteigerung oder die Prämienzahlung für erstattungspflichtig hält. 3 Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, B 530. 4 BAG v. 29.1.2014 – 6 AZR 345/12, ZIP 2014, 628 Rz. 4. 5 BGH v. 10.7.2014 – IX ZR 192/13, ZIP 2014, 1491; zum bargeschäftlichen Zusammenhang bei Vergütungen für Dienstleistungen s. Ganter, ZIP 2012, 2037 ff. 6 BGH v. 12.1.2012 – IX ZR 95/11, GmbHR 2012, 340; BGH v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, ZIP 2003, 2307. 7 Schäfer in Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, G 108 ff. 8 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 134 InsO Rz. 40, 41. 9 Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, § 134 InsO Rz. 42. 10 § 140 Abs. 1 InsO.

832 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.60 § 25

Bei einem Contractual Trust Arrangement (CTA, s. Rz. 25.36) ist die Anfechtung von Vermögensübertragungen der GmbH auf den Treuhänder nicht schon wegen der treuhänderischen Bindung auch zugunsten der GmbH als der späteren Insolvenzschuldnerin ausgeschlossen1; denn zugleich tritt eine Bindung zugunsten des Geschäftsführers als Drittbegünstigtem ein. Unentgeltlich i.S. des § 134 InsO ist die Vermögensübertragung aber nur, soweit auch die Drittbegünstigung unentgeltlich ist. In Betracht kommen ansonsten sämtliche Anfechtungstatbestände der §§ 130 ff. InsO. Zwar ist der Treuhänder nicht Gläubiger i.S. der Deckungsanfechtung, er ist aber (auch) für die Versorgungsberechtigten als Gläubiger tätig, so dass es sich um eine Zuwendung auch an sie handelt. Deshalb sind in erster Linie die Versorgungsberechtigten die Anfechtungsgegner, die zur Herausgabe des Erlangten – das sind die Werterholungen ihrer Ansprüche gegen den Treuhänder – verpflichtet sind2. Das gilt nicht nur für die Deckungsanfechtung, sondern auch für die Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO. Eine zusätzliche Haftung des Treuhänders greift erst ein, wenn er sich an einer bevorzugten Besicherung des Versorgungsberechtigten in Kenntnis aller Umstände beteiligt3.

25.58

In der Fallgruppe „Einräumung eines Anspruchs gegen den Versorgungsträger zugunsten des Geschäftsführers“ ist der Eintritt einer Unwiderruflichkeit des Bezugsrechts der Zeitpunkt, in dem eine Gläubigerbenachteiligung eintritt. Solange die Begünstigung des Geschäftsführers noch widerrufen werden kann, werden die Gläubiger nicht zugunsten des Geschäftsführers benachteiligt. (Anders mag es im Verhältnis zum Versicherer sein.) Ist das hingegen nicht mehr möglich, ist für die Anfechtbarkeit auf die Unwiderruflichkeit des Bezugsrechts abzustellen, auch wenn die Versorgungszusage in unkritischer Zeit erteilt wurde4. Gemäß § 159 Abs. 2 VVG kann die Unwiderruflichkeit sogar erst mit dem Versorgungsfall eintreten5. Der Versicherungsfall ist zwar keine Rechtshandlung, maßgebend ist aber die Unterlassung des bis dahin möglichen Bezugsrechtswiderrufs.

25.59

Ein anderer Fall ist die Verpfändung einer Rückdeckungsversicherung. Wird sie unter der aufschiebenden Bedingung der Insolvenz vorgenommen, ist das wegen der von vornherein in Kauf genommenen Gläubigerbenachteiligung gemäß § 133 Abs. 1 InsO anfechtbar6, ohne dass bei der späteren Insolvenz auch noch Gläubiger aus der Zeit der Verpfändungsvereinbarung vorhanden sein müssen7. Erfolgte die Verpfändung zunächst unbedingt, erklärt der Geschäftsführer dann aber mit seinem Pfandrecht den Rangrücktritt hinter einen Kreditgeber der Gesellschaft, ist der für die Anwendung der §§ 130 f., 133 InsO relevante Zeitpunkt die Beseitigung der vorrangigen Belastung. Bei dieser Beseitigung kann es sich sowohl um eine kongruente als auch um eine inkongruente Deckung handeln, je nachdem, ob der Geschäftsführer die Beseitigung verlangen konnte.

25.60

1 So BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, ZIP 2012, 1038 selbst für die nur einseitig zugunsten des Schuldners bestehende Treuhand. 2 Vgl. BGH v. 3.4.2014 – IX ZR 201/13, ZIP 2014, 1032 Rz. 12 ff.; Ganter, NZI 2013, 769, 774. Da bei dieser Form der Versorgung durch eine Vermögensübertragung regelmäßig mehrere begünstigt werden, müssen sie analog § 432 BGB alle gemeinsam in Anspruch genommen werden, falls der Vermögensgegenstand herausverlangt wird. Von dem einzelnen kann nur Rückgewähr des Anspruchs gegen den Treuhänder begehrt werden, soweit er auf einer anfechtbaren Zuwendung beruht. Das ist nicht identisch mit dem gesamten u.U. in unkritischer Zeit werthaltig gemachten Anspruch. 3 BGH v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, ZIP 2012, 1038 Rz. 12, 26, 31. 4 BGH v. 27.9.2012 – IX ZR 15/12, ZIP 2012, 2409; BGH v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, ZIP 2003, 2307. 5 BGH v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, ZIP 2003, 2307. 6 BGH v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, ZIP 2013, 2368. 7 BGH v. 13.8.2009 – IX ZR 159/06, ZIP 2009, 1966.

Spliedt | 833

§ 25 Rz. 25.61 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

bb) Besonderheiten beim Gesellschafter-Geschäftsführer

25.61

Unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes kommen zu den Anfechtungsrisiken, denen jeder Geschäftsführer ausgesetzt ist, bei Geschäftsführern, die zugleich Gesellschafter sind, besondere Risiken hinzu. So ist für die Deckungsanfechtung von direkten Zahlungen an ehemalige Geschäftsführer, die ihre Gesellschafterstellung mit mehr als 25 % noch beibehalten oder denen ein Familienangehöriger in der Geschäftsführung nachgefolgt ist, ergänzend zu berücksichtigen, dass sie nahestehende Personen gemäß § 138 Abs. 2 InsO bleiben. Die Folge ist, dass zu ihren Lasten die Kenntnis anfechtungsrelevanter Umstände vermutet wird (§ 130 Abs. 3, § 133 Abs. 2 InsO).

25.62

Des Weiteren ist das Gebot der Kapitalerhaltung zu berücksichtigen. Was einem Drittvergleich nicht standhält, darf der Geschäftsführer an Ruhegehalt bei einem Verstoß gegen das Kapitalerhaltungsgebot gemäß §§ 30 f. GmbHG genauso wenig beanspruchen wie an laufender Vergütung (s. Rz. 25.18), wobei es für die Stammkapitaldeckung auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die Gesellschaft eine dem Geschäftsführer nicht mehr entziehbare Leistung erbringt. Die Verhältnisse im Zeitpunkt der Versorgungszusage sind nicht maßgebend1.

25.63

Ein anderes Risiko resultiert aus dem Eigenkapitalersatzrecht neuer Fassung, das auf Gesellschafter-Geschäftsführer unabhängig von ihrer Beteiligungshöhe (§ 39 Abs. 5 InsO) anwendbar ist. Erklärt der Geschäftsführer für sein Pfandrecht an Ansprüchen gegen eine Rückdeckungsversicherung den Rangrücktritt, um damit die Besicherung eines Kreditgebers der Gesellschaft zu ermöglichen, entspricht dieser Einsatz der Vermögensposition „Pfandrecht“ einer Sicherheitengewährung aus dem Gesellschaftervermögen i.S. des § 135 Abs. 2 InsO. Wird innerhalb des letzten Jahres vor dem Insolvenzantrag diese vorrangige Belastung zugunsten des Gesellschaftsgläubigers aus Mitteln der Masse wieder beseitigt, ist das ohne weitere Voraussetzungen gemäß § 135 Abs. 2 InsO anfechtbar. Der Geschäftsführer muss gemäß § 143 Abs. 3 InsO den Wert der erloschenen Belastung erstatten. Vermieden werden kann das nur, indem das Pfandrecht zugunsten des Kreditgebers vor der Verpfändung an den Geschäftsführer bestellt wird, weil es dann an einer sicherheitsgewährenden Rechtshandlung seinerseits fehlt.

25.64

Die Bedeutung des Eigenkapitalersatzrechts könnte noch weit darüber hinausgehen. Sogar die gesamte Altersversorgung könnte betroffen sein; denn bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise handelt es sich um stehengelassene Vergütungen, die damit zu Darlehen i.S. von § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO werden2. Besonders deutlich wird das, wenn der Aufbau der Versorgung durch Gehaltsumwandlungen finanziert wird. Aber auch wenn die Versorgungszusage zusätzlich erteilt wird, muss sie im Laufe der Zeit erdient werden. In 2020 hat der BGH entschieden, dass Pensionsansprüche in einer Gesamtschau und bei wertender Betrachtungsweise keine Kreditgewährung darstellen, weil der Leistungsaustausch – Tätigkeit jetzt, Pensionszahlung später – im verkehrsüblichen Rahmen liegt3. Dem ist zuzustimmen, wobei die Betonung auf der wertenden Betrachtungsweise liegt, bei der Ruhegeldansprüchen eine schutzwürdige Ausnahmestellung beizumessen ist.

25.65–25.80

Einstweilen frei.

1 Fastrich in Noack/Servatius/Haas, § 30 GmbHG Rz. 22; Verse in Scholz, § 30 GmbHG Rz. 53. 2 BAG v. 27.3.2014 – 6 AZR 204/12, GmbHR 2014, 645 = ZIP 2014, 927. 3 BGH v. 22.10.2020 – IX ZR 231/19, NZI 2021, 90 = ZIP 2020, 2409.

834 | Spliedt

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.84 § 25

III. Die verfahrensrechtliche Stellung der Geschäftsführer 1. Verfahrenspflichten Nach §§ 97, 101 InsO sind die Geschäftsführer verpflichtet, dem Insolvenzgericht, dem Insolvenzverwalter, dem Gläubigerausschuss und ggf. auch der Gläubigerversammlung Auskunft zu geben (Abs. 1, Rz. 25.83) und den Insolvenzverwalter zu unterstützen (Abs. 2, Rz. 25.89). Ferner sind sie verpflichtet, alles zu unterlassen, was der Erfüllung der Pflichten entgegenstehen könnte (§ 97 Abs. 3 Satz 2 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 Satz 1 InsO). In Eigenverwaltungsverfahren gilt § 97 InsO neben den weiteren Verfahrenspflichten, die sich aus § 270 Abs. 1, §§ 281 ff. InsO ergeben (hierzu im Einzelnen Rz. 35.174 ff.).

25.81

Der Geschäftsführer muss die sich aus § 97 InsO ergebenden Verfahrenspflichten persönlich erfüllen (§ 101 Abs. 1 Satz 1 InsO). Auch wenn mehrere Geschäftsführer vorhanden sind, treffen diese Verfahrenspflichten jeden einzelnen von ihnen unabhängig davon, ob der Gesellschaftsvertrag Gesamtvertretung vorsieht1. Die verfahrensrechtliche Stellung der Geschäftsführer ergibt sich aus ihrer Organstellung und besteht daher auch nach einer Kündigung des Anstellungsvertrags fort. Die Gesellschafter sind hinsichtlich der Erfüllung der sich aus § 97 InsO ergebenden Pflichten gegenüber den Geschäftsführern nicht weisungsbefugt2. Die Verfahrenspflichten sind höchstpersönlich und bleiben von einer Privatinsolvenz des Geschäftsführers unberührt.

25.82

a) Auskunftspflicht der Geschäftsführer (§ 97 Abs. 1 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 InsO) aa) Auskunftsverpflichtete und -berechtigte Die Auskunftspflicht der Geschäftsführer besteht gegenüber dem Insolvenzgericht, dem Verwalter und dem Gläubigerausschuss sowie auf Anordnung des Gerichts auch gegenüber der Gläubigerversammlung. Neben den aktuellen Geschäftsführern, zu denen auch faktische Geschäftsführer gehören3, trifft diese Pflicht gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO auch solche Altgeschäftsführer, die nicht früher als zwei Jahre vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ihre Organstellung verloren haben. Im Fall der Führungslosigkeit (dazu Rz. 15.81 ff.) trifft gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 InsO auch die Gesellschafter eine Auskunftspflicht. Wem gegenüber der Auskunftsanspruch geltend gemacht wird, hängt von der Effektivität und Praktikabilität ab4. Dies spricht häufig dafür, zuerst die aktuellen Organmitglieder zu befragen. Gesetzlich geboten ist dies aber nicht5.

25.83

Die Pflicht zur Auskunft nach § 97 InsO tritt für die aktuellen Geschäftsführer neben die Auskunftspflicht gegenüber den Gesellschaftern aus § 51a GmbHG, die auch während des Insolvenzverfahrens grundsätzlich weiterbesteht. Inhaltlich ist der Informationsanspruch der Gesellschafter nach Verfahrenseröffnung auf den gesellschaftsinternen Bereich beschränkt6. Für Informationen mit Massebezug ist nach herrschender Meinung dagegen der Insolvenz-

25.84

1 Henssler, ZInsO 1999, 121, 125. 2 Müller, Der Verband in der Insolvenz, S. 167; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 134; Haas in FS Konzen, 2006, S. 157, 161; Henssler, ZInsO 1999, 121, 126. 3 J. Schmidt in Kayser/Thole, § 101 InsO Rz. 7; Laroche, ZInsO 2015, 1469. 4 Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, § 90 Rz. 338. 5 Jungmann in Karsten Schmidt, § 101 InsO Rz. 12; a.A. Schilken in Jaeger, § 101 InsO Rz. 21. 6 Hillmann in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 51a GmbHG Rz. 89.

Brinkmann | 835

§ 25 Rz. 25.84 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

verwalter den Gesellschaftern zur Auskunft verpflichtet1. Auskunftsansprüche gegenüber dem Finanzamt oder anderen Behörden über die Verhältnisse des Schuldners ergeben sich aus § 97 InsO nicht2. bb) Gegenstand und Erfüllung der Auskunftspflicht

25.85

Der Auskunftsverpflichtete gibt auf Verlangen Auskunft über alle rechtlichen, wirtschaftlichen und tatsächlichen Umstände, die in irgendeiner Weise von Bedeutung für das Insolvenzverfahren sein können3. Hierzu gehört auch die Herausgabe von Passwörtern, die der Verwalter z.B. für den Zugriff auf E-Mail-Korrespondenz benötigt. Die begehrte Information muss nicht zwingend einen Massebezug in dem Sinn haben, dass sie sich auf massezugehöriges Vermögen bezieht, insbesondere können auch Informationen über Aussonderungsrechte verlangt werden. Ebenso müssen die Adressaten der Auskunftspflicht Informationen über Ansprüche mitteilen, die nach §§ 92, 93 InsO vom Verwalter geltend gemacht werden können4. Über seine eigenen Vermögensverhältnisse und die Realisierbarkeit etwaiger gegen ihn gerichteter Ansprüche muss der Geschäftsführer allerdings keine Angaben machen5.

25.86

Der Geschäftsführer informiert den Insolvenzverwalter mündlich oder schriftlich. Auf Verlangen hat er auch Unterlagen und Belege zu ermitteln und herauszugeben6. Aus § 97 Abs. 2 InsO kann sich für die Geschäftsführer schließlich auch eine Pflicht ergeben, den Insolvenzverwalter bei der Suche nach weiteren Unterlagen zu unterstützen. Zwar kann sich der Geschäftsführer bei der Auskunftserteilung z.B. durch einen Rechtsanwalt beraten und vertreten lassen. Auskunftsverpflichtet bleibt aber auch in diesem Fall der Auskunftspflichtige selbst. Etwaige Kosten der Auskunft trägt er selbst. cc) Verwendungsverbot bei strafrechtlich relevanten Sachverhalten

25.87

Die Adressaten der Auskunftspflicht haben gemäß § 97 Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 Satz 1 InsO auch „Tatsachen zu offenbaren, die geeignet sind, eine Verfolgung wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit herbeizuführen“7. Flankiert wird diese Regel durch ein strafprozessuales Verwendungsverbot hinsichtlich der erteilten Auskünfte nach § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO8. Das Verwendungsverbot gilt auch in Verfahren nach dem OWiG und umfasst gleichfalls Verfahren gegen Angehörige des Auskunftserteilenden i.S. des § 52 Abs. 1 StPO. 1 OLG Hamm v. 25.10.2001 – 15 W 118/01, GmbHR 2002, 163 = NZI 2002, 103; OLG Zweibrücken v. 7.9.2006 – 3 W 122/06, ZIP 2006, 2047 = GmbHR 2006, 1272; Bayer in Lutter/Hommelhoff, § 51a GmbHG Rz. 8. A.A. BayObLG v. 8.4.2005 – 3Z BR 246/04, ZIP 2005, 1087, 1089 = GmbHR 2005, 1360: Der Anspruch aus § 51a GmbHG trete hinter die verfahrensrechtliche Regelung der Auskunftsrechte zurück. 2 OVG Lüneburg v. 26.6.2019 – 11 LA 274/18, ZIP 2019, 1388 Rz. 23 f.; Jungmann in Karsten Schmidt, § 97 InsO Rz. 2. 3 BGH v. 5.3.2015 – IX ZB 62/14, ZIP 2015, 791 Rz. 11 = GmbHR 2015, 536 m. Anm. Bormann. 4 Herchen/Morgen in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 97 InsO Rz. 10; a.A. für Ansprüche, die § 93 InsO unterfallen, Uhlenbruck in FS Gerhard Kreft, 2004, S. 54 ff. 5 BGH v. 5.3.2015 – IX ZB 62/14, ZIP 2015, 791 Rz. 14 = GmbHR 2015, 536 m. Anm. Bormann, dazu Laroche, ZInsO 2015, 1469. 6 BGH v. 19.1.2006 – IX ZB 14/03, ZInsO 2006, 264. 7 Hierzu Uhlenbruck, NZI 2002, 401 ff.; Bader, NZI 2009, 416 ff. 8 Zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit des Verwendungsverbots vor dem Hintergrund des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“ BVerfG v. 13.1.1981 – 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37 = ZIP 1981 361; hierzu Verrel, NStZ 1997, 361.

836 | Brinkmann

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.90 § 25

Das Verwendungsverbot schließt nicht nur die Verwertung der Aussage selbst aus, sondern gilt auch für solche Beweise, die unter Verwendung der erteilten Informationen erlangt wurden1. Die erteilten Auskünfte dürfen also nicht zur Grundlage gezielter Ermittlungen gemacht werden2. Eine freiwillige Auskunft löst kein Verwendungsverbot aus. Dieses greift nur, wenn es sich um Auskünfte handelt, die in Erfüllung eines auf § 97 Abs. 1 InsO gestützten Auskunftsverlangens gegeben wurden, und erfasst auch dann nicht solche Informationen, die schon zuvor bekannt waren oder zwingend ohnehin bekannt geworden wären3. Informationen, die sich aus dem Insolvenzantrag ergeben, können daher ebenso strafrechtlich verwendet werden wie Unterlagen, die der Auskunftgebende schon vor Verfahrenseröffnung erstellt hatte und die in den Besitz des Verwalters gelangt sind4. Ebenso wenig steht § 97 Abs. 1 Satz 3 InsO einer strafrechtlichen Auswertung der Geschäftsunterlagen und Handelsbücher entgegen, selbst wenn diese vom Geschäftsführer ausgehändigt wurden. Diese Unterlagen werden nicht in Erfüllung der Auskunftspflicht nach § 97 Abs. 1 InsO herausgegeben, sondern gemäß der allgemeinen Mitwirkungs- und Unterstützungspflicht nach § 97 Abs. 2 InsO. Das Verwendungsverbot soll zudem dann nicht eingreifen, wenn der Auskunftgebende falsche oder nur lückenhafte Auskünfte erteilt, sondern ist an die vollständige Erfüllung der Auskunftspflicht gekoppelt5.

dd) Strafbarkeit einer Falschauskunft Durch eine schuldhaft falsche Auskunft oder ein Verschweigen – z.B. über das Vorhandensein von Vermögensgegenständen – kann sich der Geschäftsführer nach § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar machen. Ferner kommt eine Strafbarkeit nach § 156 StGB in Betracht, wenn das Gericht gemäß § 98 InsO anordnet, dass der Geschäftsführer an Eides statt zu versichern hat, dass die gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen (dazu Rz. 25.93).

25.88

b) Allgemeine Unterstützungspflicht (§ 97 Abs. 2 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 InsO) Nach § 97 Abs. 2 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 InsO sind die Geschäftsführer verpflichtet, den Insolvenzverwalter bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen. Diese allgemeine Unterstützungspflicht trifft jeden Geschäftsführer persönlich. Sie ergibt sich aus der Organstellung und nicht aus dem Anstellungsvertrag und besteht daher auch dann, wenn der Anstellungsvertrag gekündigt wurde. Ehemalige Geschäftsführer und Gesellschafter sind nicht erfasst, da § 101 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht auf § 97 Abs. 2 InsO verweist.

25.89

Die allgemeine Unterstützungspflicht betrifft vor allem Handlungen, die sich nicht in einer Information erschöpfen und die aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur vom Geschäftsführer persönlich vorgenommen werden können. So müssen die Geschäftsführer den Verwalter bei der Inbesitznahme der Masse (§ 148 InsO) beispielsweise dadurch unterstützen, dass sie ihm vorhandene Schlüssel herausgeben und Passwörter mitteilen; auch die Beratung des Insolvenzverwalters bei der Aufstellung eines Insolvenzplans nach § 218 Abs. 3 InsO fällt unter § 97 Abs. 2 InsO. In Bezug auf Vermögen, das in solchen Rechtsordnungen

25.90

1 A.A. Bader, NZI 2009, 416, 419. 2 Uhlenbruck, NZI 2002, 401, 403; J. Schmidt in Kayser/Thole, § 97 InsO Rz. 19. 3 LG Stuttgart v. 21.7.2000 – 11 Qs 46/00, NZI 2001, 498; LG Ulm v. 15.1.2007 – 2 Qs 2002/07, NJW 2007, 2056 m. krit. Anm. Schork. 4 BT-Drucks. 12/2443, S. 142; Jungmann in Karsten Schmidt, § 97 InsO Rz. 13; J. Schmidt in Kayser/Thole, § 97 InsO Rz. 21. 5 OLG Düsseldorf v. 1.6.2016 – III-2 Ws 299/16, ZInsO 2017, 2271.

Brinkmann | 837

§ 25 Rz. 25.90 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

belegen ist, in denen das Insolvenzverfahren möglicherweise nicht ohne Weiteres anerkannt wird, sind die Geschäftsführer verpflichtet, den Insolvenzverwalter zu bevollmächtigen, so dass er jedenfalls kraft der Vollmacht über das Auslandsvermögen allein verfügen kann1. Ebenso sind die Geschäftsführer verpflichtet, Dritte (Rechtsanwälte, Steuerberater, Finanzbehörden etc.) von Geheimhaltungspflichten zu befreien, wenn der Verwalter von diesen Personen Informationen zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigt2. Ein Aufwendungsersatz ist für die Erfüllung der Unterstützungspflicht nicht vorgesehen.

c) Insbesondere die Mitwirkung an der Aufstellung des Verzeichnisses der Massegegenstände 25.91

Um die Auskunftserteilung nach § 97 Abs. 1 InsO zu erleichtern, kann der Verwalter die (Alt-) Geschäftsführer bei der Aufstellung des Verzeichnisses der Massegegenstände nach § 151 Abs. 1 Satz 2 InsO „hinzuziehen“, also ihre persönliche Anwesenheit verlangen. Gemäß § 153 Abs. 2 Satz 1 InsO haben die (Alt-) Geschäftsführer die Richtigkeit der vom Insolvenzverwalter aufgestellten Vermögensübersicht an Eides statt zu versichern, wenn das Insolvenzgericht dies auf Antrag des Verwalters oder eines Gläubigers anordnet.

d) Durchsetzung der Verfahrenspflichten 25.92

Die Geschäftsführer sind verpflichtet, sich jederzeit auf Verlangen des Insolvenzgerichts zur Erfüllung der Pflichten zur Verfügung zu stellen (§ 97 Abs. 3 Satz 1 InsO i.V.m. § 101 Abs. 1 Satz 1 InsO). Gerichtliche Anordnungen, sich vor Ort bereitzuhalten, sind nur in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit zulässig3. Solange eine rasche Rückkehr oder eine schriftliche oder fernmündliche Erfüllung der Auskunfts- und Unterstützungspflichten möglich und ausreichend ist, sind solche Anordnungen rechtswidrig4.

25.93

Das Insolvenzgericht kann nach § 98 Abs. 1 InsO die eidesstattliche Versicherung der Auskünfte der (Alt-) Geschäftsführer bzw. (bei Führungslosigkeit) der Gesellschafter anordnen, um wahrheitsgemäße Aussagen herbeizuführen. Die Anordnung ist nur zulässig, wenn begründete Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Auskünfte bestehen5. Die vorsätzlich falsche Beeidigung ist nach § 156 StGB strafbar.

25.94

Schließlich kann das Insolvenzgericht unter den Voraussetzungen des § 98 Abs. 2 InsO die Geschäftsführer zwangsweise vorführen oder nach Anhörung in Haft nehmen lassen.

25.95

Diese Zwangsmittel sind nur zur Erfüllung der Pflichten aus § 97 Abs. 1, 2 InsO statthaft, außerdem gemäß § 153 Abs. 2 Satz 2 InsO, wenn der Schuldner die eidesstattliche Versicherung der Richtigkeit des Verzeichnisses der Massegegenstände verweigert. Anordnung der Vorführung und Erlass eines Haftbefehls haben Beugecharakter und können daher nicht als Sanktionen etwa für das Vernichten von Akten angeordnet werden. Die Anordnung von Haft ist beispielsweise verhältnismäßig, wenn der Geschäftsführer Auskünfte verweigert oder sich 1 2 3 4

BGH v. 18.9.2003 – IX ZB 75/03, ZIP 2003, 2124 = NZI 2004, 21. OVG Berlin-Brandenburg v. 14.7.2016 – OVG 12 B 33.14, ZInsO 2016, 1895 Rz. 18. J. Schmidt in Kayser/Thole, § 97 InsO Rz. 44 ff. LG Göttingen v. 21.8.2000 – 10 T 105/00, ZIP 2000, 2174, 2175; Jungmann in Karsten Schmidt, § 97 InsO Rz. 25. Gegen Aufenthaltsanordnungen ist allenfalls die Rechtspflegererinnerung nach § 11 Abs. 2 RpflG statthaft, LG Göttingen v. 21.8.2000 – 10 T 105/00, ZIP 2000, 2174, 2175. 5 AG Wetzlar v. 3.11.2008 – 3 IN 101/04, NZI 2009, 324.

838 | Brinkmann

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.101 § 25

der Vorführung entzieht1. Für den Erlass eines Haftbefehls und seine Durchsetzung gelten die § 802g Abs. 2, § 802h, § 802j Abs. 1 ZPO entsprechend. Gegen die Anordnung der Haft und gegen die Abweisung eines Antrags auf Aufhebung des Haftbefehls wegen Wegfalls seiner Voraussetzungen ist gemäß § 98 Abs. 3 Satz 3 InsO die sofortige Beschwerde statthaft. Zivilrechtlich kann die nicht ordnungsgemäße Erfüllung der Pflichten zum Schadensersatz nach § 826 BGB verpflichten2.

25.96

2. Verfahrensrechte des Geschäftsführers Die Geschäftsführer nehmen als Organe der Schuldnerin die dieser im Insolvenzverfahren zustehenden Verfahrensrechte wahr. Hierzu sind sie kraft ihrer Organstellung verpflichtet. Sie unterstehen dem Weisungsrecht der Gesellschafter.

25.97

a) Regelinsolvenzverfahren Im Regelinsolvenzverfahren kommen der schuldnerischen Gesellschaft die folgenden Anhörungs- und Teilnahmerechte sowie Beschwerderechte zu, die sie durch den oder die Geschäftsführer ausüben kann.

25.98

Die Geschäftsführer können nach § 74 Abs. 1 InsO an Gläubigerversammlungen teilnehmen. Im Berichtstermin haben sie nach § 156 Abs. 2 InsO darüber hinaus das Recht, zum Bericht des Verwalters Stellung zu nehmen. Die Stellungnahme der Geschäftsführung besitzt erhebliche Bedeutung für die Entscheidung der Gläubigerversammlung, wie das Verfahren fortzuführen ist. Dennoch besteht für die Geschäftsführer jedenfalls nach §§ 74, 176 InsO keine Pflicht zur Teilnahme an Gläubigerversammlungen oder am Prüfungstermin3. Eine solche Pflicht entsteht nur im Falle einer entsprechenden gerichtlichen Anordnung nach § 97 Abs. 3 Satz 1 InsO (hierzu Rz. 25.92).

25.99

Im Prüfungstermin üben die Geschäftsführer für die schuldnerische Gesellschaft das Recht aus, angemeldeten Forderungen gemäß § 178 Abs. 1 Satz 2 InsO zu widersprechen. Klagt der anmeldende Gläubiger gegen die Gesellschaft auf Feststellung der Forderung nach § 184 InsO, führen die Geschäftsführer den Feststellungsstreit als Vertreter der Gesellschaft.

25.100

Informationsrechte und Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen gemäß § 158 Abs. 2 Satz 1 InsO für die schuldnerische Gesellschaft vertreten durch die Geschäftsführer insbesondere, wenn es um die Stilllegung oder die Veräußerung des schuldnerischen Unternehmens vor dem Berichtstermin geht (Rz. 24.116). Vergleichbare Rechte kommen den Geschäftsführern gemäß § 161 InsO zu, wenn der Insolvenzverwalter eine besonders bedeutsame Rechtshandlung i.S. des § 160 InsO ohne Zustimmung des Gläubigerausschusses vornehmen will. Um Betriebsveräußerungen unter Wert zu verhindern, können die Geschäftsführer beim Insolvenzgericht gemäß § 163 InsO beantragen, dass die Betriebsveräußerung nur mit Zustimmung der Gläubigerversammlung zulässig ist.

25.101

1 OLG Celle v. 10.1.2001 – 2 W 1/01, NZI 2000, 594; OLG Naumburg v. 24.8.2000 – 5 W 98/00, NZI 2000, 594. 2 OLG Köln v. 28.11.1997 – 20 U 60/97, ZIP 1998, 113. 3 Sinz in Uhlenbruck, § 176 InsO Rz. 17; a.A. für die Teilnahme an Gläubigerversammlungen Knof in Uhlenbruck, § 74 InsO Rz. 7; Jungmann in Karsten Schmidt, § 74 InsO Rz. 20; Depré in Kayser/ Thole, § 176 InsO Rz. 2.

Brinkmann | 839

§ 25 Rz. 25.102 | 7. Teil: Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

b) Eigenverwaltung und Planverfahren 25.102

In Eigenverwaltungsverfahren verwalten die Geschäftsführer der schuldnerischen Gesellschaft die Masse unter der Aufsicht eines Sachwalters. Ebenso entscheiden die Geschäftsführer nach § 279 InsO über die Ausübung des Wahlrechts nach §§ 103 ff. InsO. Die Insolvenzanfechtung und die Geltendmachung der Haftung nach §§ 92, 93 InsO obliegt allerdings auch in Eigenverwaltungsverfahren nicht den Geschäftsführern des Schuldners, sondern gemäß § 280 InsO dem Sachwalter (dazu im Einzelnen Rz. 35.66 ff.).

25.103

Auch im Planverfahren üben die Geschäftsführer für die Gesellschaft die Verfahrensrechte aus: Zu nennen sind hier neben dem Planinitiativrecht (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO) das Recht zur Beratung des Insolvenzverwalters bei der Planaufstellung (§ 218 Abs. 3 InsO), das Recht zur Stellungnahme zum vom Verwalter vorgelegten Plan (§ 232 Abs. 1 Nr. 2 InsO) sowie das Recht, die Aussetzung der Verwertung nach § 233 InsO zu beantragen. Ferner sind die Geschäftsführer für die Schuldnerin befugt, am Erörterungs- und Abstimmungstermin (§ 235 Abs. 3, § 241 InsO) teilzunehmen sowie dem Plan nach § 247 InsO zu widersprechen. Gemäß § 253 Abs. 1 InsO können die Geschäftsführer als gesetzliche Vertreter der Gesellschaft Beschwerde gegen den Bestätigungsbeschluss einlegen.

25.104–25.120 Einstweilen frei.

IV. Die gesellschaftsrechtliche Stellung der Geschäftsführer 1. Kompetenzen in Bezug auf massefreies Vermögen 25.121

Ob es im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft insolvenzfreies Vermögen geben kann, ist umstritten (Rz. 24.30 ff.). Nimmt man dies an, sind die Geschäftsführer hinsichtlich dieser Vermögensgegenstände verwaltungs- und verfügungsbefugt, unabhängig davon, ob der Anstellungsvertrag gekündigt wurde.

25.122

Gemäß § 85 Abs. 2 InsO kann der Insolvenzverwalter die Aufnahme eines Rechtsstreits ablehnen, der zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens anhängig ist und das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen betrifft. Die Ablehnung der Aufnahme bedeutet zugleich eine Freigabe des streitbefangenen Gegenstands1. Verfahrensrechtlich hat die Ablehnung der Aufnahme die Folge, dass die Prozessführungsbefugnis des Verwalters erlischt und wieder der Schuldner prozessführungsbefugt ist. Entsprechend ist er nach § 85 Abs. 2 Satz 2 InsO (ebenso wie der Gegner) befugt, den Rechtsstreit aufnehmen. Für die schuldnerische Gesellschaft üben die Geschäftsführer dieses Recht aus, wobei in Verfahren, die dem Anwaltszwang unterliegen, die Aufnahme als Verfahrenshandlung nur von einem Rechtsanwalt vorgenommen werden kann.

1 BGH v. 7.12.2006 – IX ZR 161/04, ZInsO 2007, 94, 96; BGH v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32 = ZIP 2005, 1034; Kruth in Nerlich/Römermann, § 85 InsO Rz. 19; Schumacher in Münchener Kommentar zur InsO, § 85 InsO Rz. 23; a.A. Windel in Jaeger, § 85 InsO Rz. 144, der dogmatisch zwischen der Ablehnung der Aufnahme als Verfahrenshandlung und der Freigabe als materiellrechtlichem Rechtsgeschäft unterscheiden will. Selbst nach dieser Ansicht wird aber die Ablehnung der Aufnahme regelmäßig eine Doppelnatur haben, so dass sie zur Freigabe führt, wenn die Ablehnung der Aufnahme dem Schuldner mitgeteilt wird.

840 | Brinkmann

§ 25 Die Rechtsstellung des Geschäftsführers | Rz. 25.123 § 25

2. Gesellschaftsinterne Kompetenzen der Geschäftsführer Der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis hinsichtlich des Vermögens der Gesellschaft auf den Insolvenzverwalter lässt die Rechte der Geschäftsführung unberührt, die sich auf den so genannten gesellschaftsinternen Bereich beziehen. Hierzu gehören insbesondere das Binnenrecht der Gesellschaft betreffende Kompetenzen, wie z.B. die Einberufung der Gesellschafterversammlung gemäß § 49 GmbHG (zu dieser Bestimmung vgl. Rz. 2.145). Auch die Anmeldung von eintragungspflichtigen Umständen, die sich nicht auf die Insolvenzmasse beziehen, wie Satzungsänderungen (§ 54 GmbHG) oder die Abberufung und Neubestellung von Geschäftsführern (§ 39 GmbHG), obliegt trotz der Insolvenzeröffnung gemäß § 78 GmbHG den Geschäftsführern1. Eine Firmenänderung oder die Aufhebung einer Zweigniederlassung ist wegen des Massebezugs vom Insolvenzverwalter zum Handelsregister anzumelden2. Gemäß § 254a Abs. 2 Satz 3 InsO ist der Insolvenzverwalter befugt, solche Anmeldungen zum Handelsregister vorzunehmen, die infolge gesellschaftsrechtlicher Maßnahmen als Bestandteile eines Insolvenzplans erforderlich sind.

1 LG Köln v. 11.7.2001 – 2 Wx 13/01, NJW-RR 2001, 1417 = ZIP 2001, 1553; Herrler in Münchener Kommentar zum GmbHG, § 78 GmbHG Rz. 32; Casper in Habersack/Casper/Löbbe, § 78 GmbHG Rz. 17; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 78 GmbHG Rz. 11; a.A. für die Abberufung von Geschäftsführern AG Berlin Charlottenburg v. 3.11.1995 – 97 HRB 49246, ZIP 1996, 683 = GmbHR 1996, 620; Altmeppen § 78 GmbHG Rz. 9. 2 OLG Karlsruhe v. 8.1.1993 – 4 W 28/92, GmbHR 1993, 101 = ZIP 1993, 133; Servatius in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, § 78 GmbHG Rz. 4; Beurskens in Noack/Servatius/Haas, § 78 GmbHG Rz. 12.

Brinkmann | 841

25.123

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren I. Arbeitsverhältnisse 1. Fortbestand 26.1

Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens lässt Bestand und Inhalt des Arbeitsverhältnisses unberührt1. Dies ordnet § 108 Abs. 1 InsO ausdrücklich an. Alle Haupt- und Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis gelten unverändert weiter. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewirkt lediglich, dass an die Stelle des Schuldners als Arbeitgeber der Insolvenzverwalter tritt, da die Verfügungs- und Verwaltungsrechte des Schuldners auf den Insolvenzverwalter übergehen (§ 80 Abs. 1 InsO). Der Insolvenzverwalter nimmt sämtliche Arbeitgeberbefugnisse und Arbeitgeberpflichten wahr. Dies gilt beispielsweise für die Pflicht zur Zeugniserteilung für bei Insolvenzeröffnung noch nicht ausgeschiedene Arbeitnehmer2. Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung nimmt allerdings ein „insolvenzspezifisches“ Freistellungsrecht des Insolvenzverwalters an3, bei dem es sich mit dem LAG Nürnberg4 richtigerweise nur um eine Wissenserklärung, nicht um eine Willenserklärung handelt5.

2. Vergütungsansprüche 26.2

Die Vergütungsansprüche der Arbeitnehmer werden je nach dem Zeitpunkt des Erdienens unterschiedlich behandelt6.

26.3

Entgeltansprüche für die Zeit vor Insolvenzeröffnung begründen Insolvenzforderungen (§ 38 InsO, § 108 Abs. 3 InsO). Sie sind im Insolvenzverfahren zu verfolgen, d.h. zur Insolvenz1 Vgl. BAG v. 15.12.1987 – 3 AZR 420/87, AP Nr. 18 zu § 1 BetrAVG = ZIP 1988, 327. 2 Vgl. BAG v. 30.1.1991 – 5 AZR 32/90, AP Nr. 18 zu § 630 BGB = ZIP 1991, 744; BAG v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, DB 2004, 2428; LAG Köln v. 30.7.2001 – 2 Sa 1459/00, NZA-RR 2002, 181; Stiller, NZA 2005, 330 ff. 3 Offen gelassen von BAG v. 6.9.2018 – 6 AZR 367/17, BB 2019, 338, Rz. 28. Dafür: LAG Niedersachsen v. 23.7.2015 – 7 SaGa 614/15, BeckRS 2016, 66455; LAG Nürnberg v. 30.8.2005 – 6 Sa 273/05, NZA-RR 2006, 151; LAG Hamm v. 27.9.2000 – 2 Sa 1178/00, LAGE § 55 InsO Nr. 3; LAG Hamm v. 12.2.2001 – 4 Ta 277/00, NZA-RR 2002, 157 = ZIP 2019, 129; Pirscher, ZInsO 2001, 698 ff.; dagegen: Hessisches LAG v. 10.4.2017 – 7 Sa 650/16, NZI 2017, 902; Hützen in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 5 Rz. 7 m.w.N. 4 LAG Nürnberg v. 6.9.2011 – 6 Sa 807/10, ZIP 2012, 1476; LAG Nürnberg v. 15.3.2012 – 5 Sa 799/ 10, BeckRS 2015, 67836. 5 Mückl, EWiR 2012, 443. 6 Ausführlich statt vieler z.B. Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 3 Rz. 2 ff. mit einer Kategorisierung typischer Arbeitnehmeransprüche („Anspruchs-ABC“) in § 3 Rz. 85; zur insolvenzrechtlichen Qualifikation von Sonderleistungen vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 761 ff. S. zur Anfechtung von vor Insolvenzeröffnung geleisteten Vergütungszahlungen etwa BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 345/12, DB 2014, 843; BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, DB 2014, 844; BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 913/11, DB 2014, 845; BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 159/12, DB 2014, 249; BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 953/12; Klinck, DB 2014, 2455 ff.; Mückl, GWR 2014, 427 ff.; zur Anfechtung von Betriebsvereinbarungen Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714 ff.; zur Anfechtung bei mehrjähriger Freistellung LAG Köln v. 8.1.2014 – 5 Sa 764/13.

842 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.7 § 26

tabelle anzumelden (§§ 87, 89, 174 ff. InsO)1. Insolvenzforderungen sind zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Forderungen des Gläubigers gegen den Schuldner (§ 38 InsO). Entscheidend ist, dass ihr Rechtsgrund zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bereits gelegt war bzw. der den Anspruch begründende Tatbestand bereits vor der Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen war2. Wurde der anspruchsbegründende Tatbestand vor Insolvenzeröffnung abgeschlossen, ist eine Forderung mithin auch dann Insolvenzforderung, wenn sie sich erst nach Beginn des Insolvenzverfahrens ergibt bzw. tituliert wird3. Entgeltansprüche für die Zeit ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen Masseforderungen dar (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Entscheidend ist, wann der Anspruchsgrund entsteht, also der Zeitpunkt der rechtlichen Begründung des Anspruchs4. Leistungen für einen Bezugszeitraum werden auf das Datum der Insolvenzeröffnung abgegrenzt5. Nimmt der starke vorläufige Insolvenzverwalter oder der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Arbeitsleistung in Anspruch, sind die Ansprüche des Arbeitnehmers auf Urlaubsvergütung und auf Abgeltung des Urlaubs uneingeschränkt als Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 Satz 2 InsO) bzw. als Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO) zu berichtigen, wenn der Urlaub innerhalb dieses Zeitraums gewährt wird bzw. das Arbeitsverhältnis endet6.

26.4

Besonderheiten gelten insoweit, wie ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter eingesetzt wird (§ 55 Abs. 2 InsO). § 55 Abs. 2 InsO begründet Masseverbindlichkeiten im Hinblick auf die Entgeltansprüche der von dem vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungs- und Verwaltungsbefugnis beschäftigten Arbeitnehmer7. Diese Qualifizierung ändert sich, wenn die Entgeltansprüche nach Stellung des Antrags auf Insolvenzgeld gemäß § 169 SGB III auf die Bundesanstalt für Arbeit übergehen (§ 55 Abs. 3 InsO): Die übergegangenen Entgeltansprüche sind Insolvenzforderungen8.

26.5

Eine Differenzierung der Masseforderungen findet im Falle der Masseunzulänglichkeit statt. Zwei Fälle stellt § 209 Abs. 2 InsO den Neumasseverbindlichkeiten des § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO gleich.

26.6

§ 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO: Der Rang wird – nachdem die Anzeige der Masseunzulänglichkeit (§ 208 Abs. 1 InsO) erfolgt ist – von der Entscheidung bestimmt, ob der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis fortführt oder unverzüglich kündigt9. Neumasseverbindlichkeit i.S. von § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO i.V.m. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist die Arbeitsvergütung für die Zeit nach

26.7

1 S. dazu etwa Lakies, NZA 2001, 521, 523, 524; Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 3 Rz. 23 ff. 2 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 13 = ZIP 2019, 777. 3 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 13 = ZIP 2019, 777. 4 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 13 = ZIP 2019, 777; Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 3 Rz. 3. 5 S. zu Besonderheiten bei Jahressonderleistungen mit „Mischcharakter“ etwa LAG Schleswig-Holstein v. 12.3.2008 – 6 Sa 411/07, ZInsO 2008, 1095. S. zur Einordnung einer „Halteprämie“ mit der entsprechenden jeweiligen Stichtagsklausel BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37; BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 981/11, AP Nr. 1 zu § 133 InsO; vgl. ferner Mückl in Mückl/Fuhlrott/ Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 761 ff. 6 BAG v. 16.2.2021 – 9 AS 1/21, NZA 2021, 567 = ZIP 2021, 811; BAG v. 10.9.2020 – 6 AZR 94/19 (A), ZInsO 2021, 272. 7 Näher z.B. Röger in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 3 Rz. 17 ff. 8 Vgl. BAG v. 3.4.2001 – 9 AZR 301/00, AP Nr. 68 zu § 256 ZPO 1977 = DB 2001, 2729 = ZIP 2001, 1964. 9 Vgl. BAG v. 31.3.2004 – 10 AZR 253/03, DB 2004, 1993 = ZIP 2004, 1323.

Mückl | 843

§ 26 Rz. 26.7 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

dem ersten Termin, zu dem der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen kann. Die Entscheidung des Insolvenzverwalters liegt darin, ob er den Arbeitnehmer zwecks Erhaltung oder Verwertung der Masse benötigt. Es kommt nicht darauf an, ob der Insolvenzverwalter die Kündigung für begründet i.S. von § 1 KSchG hält oder eine Kündigungsmöglichkeit nach § 1 KSchG überhaupt besteht1. Die Frage der frühestmöglichen Kündigungsmöglichkeit i.S. des § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO richtet sich im Übrigen nach der objektiven Lage zum jeweiligen Zeitpunkt. Die Kündigungsmöglichkeit ist gemäß dem rechtlichen Können zu beurteilen. Der maßgebliche Kündigungstermin bestimmt sich nach Einhaltung aller rechtlicher Verpflichtungen (Bsp.: §§ 111 ff. BetrVG, § 102 BetrVG, § 85 SGV IX)2. Keine Kündigungsmöglichkeit besteht daher beispielsweise, wenn es an einer Behörden- oder einer Betriebsratszustimmung fehlt oder wenn Interessenausgleichsverhandlungen nicht abgeschlossen sind3. Der privilegierte Rang nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO i.V.m. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO gilt unabhängig davon, ob der Insolvenzverwalter die Arbeitskraft des Arbeitnehmers in Anspruch nimmt oder nicht4. Erweist sich eine Kündigung, die das Arbeitsverhältnis spätestens zum ersten Termin beenden würde, zu dem der Verwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit kündigen konnte, als rechtsunwirksam, gelten die Ansprüche aus Annahmeverzug für die Zeit nach diesem Termin gemäß § 209 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 1 Nr. 2 InsO als Neumasseverbindlichkeiten5.

26.8

§ 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO: Neumasseverbindlichkeiten werden nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO i.V.m. § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO begründet, soweit der Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. Der Begriff „soweit“ bedingt in beiden Bestimmungen bezogen auf Arbeitsverhältnisse keine Einschränkung in dem Sinne, dass nur Ansprüche der Arbeitnehmer erfasst werden sollen, welche unmittelbar auf einer tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung beruhen, sondern grenzt die Heranziehung der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung zu deren Freistellung ab6. Die Entscheidung, die Arbeitsleistung in Anspruch zu nehmen, hat zur Folge, dass im Gegenzug unabhängig von ihrem Entstehungsgrund alle Verpflichtungen aus dem nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO fortbestehenden Arbeitsverhältnis vom Insolvenzverwalter zu erfüllen sind; in der Konstellation des § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO als Neumasseverbindlichkeiten7. Die Insolvenzordnung nimmt hiervon nicht zugunsten der Masse einzelne Arbeitgeberpflichten aus. Im Arbeitsverhältnis sind deshalb bei der Vergütung der Arbeitsleistung auch entgeltfortzahlungspflichtige „unproduktive“ Ausfallzeiten (z.B. aufgrund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder Urlaub) zu berücksichtigen8. Sie sind Teil des arbeitsvertraglichen Synallagmas9.

26.9

Eine Leistungsklage des Arbeitnehmers auf Entgelt i.S. von § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO („Altmasseverbindlichkeit“) wird mit Anzeige der Masseunzulänglichkeit (§ 208 Abs. 1 InsO) unzulässig10. Dies ergibt sich aus dem Vollstreckungsverbot des § 210 InsO. Der Leistungsklage 1 Vgl. BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 602/03, DB 2005, 1339 = ZIP 2005, 873. 2 Vgl. BAG v. 31.3.2004 – 10 AZR 253/03, DB 2004, 1993 = ZIP 2004, 1323. 3 Vgl. BAG v. 4.6.2003 – 10 AZR 586/02, NZA 2003, 1087 = ZIP 2003, 1850 = EWiR 2004, 243 (Pape). 4 Vgl. BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 602/03 und 603/03, DB 2005, 1339 = ZIP 2005, 873. 5 BAG v. 2.10.2018 – 5 AZR 376/17, ZInsO 2018, 2666; BAG v. 22.2.2018 – 6 AZR 868/16, ZInsO 2018, 1148 = ZIP 2018, 988; kritisch dazu Krings, NZI 2018, 453 f. 6 BAG v. 16.2.2021 – 9 AS 1/21, NZA 2021, 567 = ZIP 2021, 811. 7 BAG v. 16.2.2021 – 9 AS 1/21, NZA 2021, 567 = ZIP 2021, 811. 8 BAG v. 16.2.2021 – 9 AS 1/21, NZA 2021, 567 m.w.N. = ZIP 2021, 811. 9 BAG v. 16.2.2021 – 9 AS 1/21, NZA 2021, 567 m.w.N. = ZIP 2021, 811. 10 Vgl. BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 459/00, AP Nr. 1 zu § 209 InsO = ZIP 2002, 628; BAG v. 4.6.2003 – 10 AZR 586/02, NZA 2003, 1087 = ZIP 2003, 1850 = EWiR 2004, 243 (Pape); BAG v. 23.2.2005

844 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.12 § 26

fehlt auf Grund des Vollstreckungsverbots des § 210 InsO das Rechtsschutzinteresse. Der Altmassegläubiger kann vom Insolvenzverwalter lediglich Feststellung seiner Forderung verlangen und diese Feststellung im Klagewege verfolgen1. Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO) können mit der Leistungsklage geltend gemacht werden, bis der Insolvenzverwalter darlegt, dass auch insoweit die Masse zur Befriedigung nicht mehr ausreicht oder erneut die Masseunzulänglichkeit nach § 208 Abs. 1 InsO anzeigt2. Macht der Insolvenzverwalter geltend, die Masse genüge auch nicht zur Befriedigung der Neumasseverbindlichkeiten i.S. von § 209 Abs. 2 InsO, so kann ein derartiger Neumassegläubiger den Insolvenzverwalter ebenfalls nicht mehr auf Leistung/Zahlung verklagen; er ist auf die Feststellungsklage zu verweisen3.

26.10

Die Zuordnung von Nachteilsausgleichsansprüchen zu § 209 Abs. 1 Nr. 2 oder Nr. 3 InsO hängt davon ab, ob der Insolvenzverwalter die Betriebsänderung nach oder vor der Anzeige der Masseunzulänglichkeit begonnen hat4. Begründet ein Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch betriebsverfassungswidriges Verhalten Ansprüche auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG, handelt es sich um Neumasseverbindlichkeiten i.S. von § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO. Sie können regelmäßig im Wege der Leistungsklage verfolgt werden. Ein Arbeitgeber beginnt durch die widerrufliche Freistellung der Arbeitnehmer noch nicht mit der Durchführung einer beabsichtigten Betriebsstilllegung5.

26.11

Die Behandlung von Altersteilzeitentgelt in der Freizeitphase hängt davon ab, ob die Wertbzw. Zeitguthaben vor oder nach Insolvenzeröffnung erdient worden sind bzw. vor oder nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit bzw. vor oder nach dem frühestmöglichen Kündigungstermin nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit6. Der Einordnung der im „Störfall“ des vorzeitig beendeten Arbeitsverhältnisses zu zahlenden vertraglichen Differenzansprüche als sons-

26.12

1 2 3 4

5 6

– 10 AZR 602/03 und 603/03, DB 2005, 1339; OLG Brandenburg v. 11.12.2002 – 7 U 37/02, NZARR 2003, 432 = ZIP 2005, 873; LAG Köln v. 15.10.2003 – 8 Sa 832/03, ZInsO 2004, 405. Anders für die frühere Rechtslage unter Geltung des § 60 KO noch BAG v. 11.12.2001 – 9 AZR 80/01, DB 2002, 1457 = ZIP 2002, 1261. Vgl. BAG v. 15.6.2004 – 9 AZR 431/03, DB 2004, 2053 = EzA § 209 InsO Nr. 3 = ZIP 2004, 1660; BAG v. 22.11.2005 – 1 AZR 407/04, AP Nr. 5 zu § 615 BGB Anrechnung = DB 2006, 1907 = ZIP 2006, 1312. Vgl. BGH v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, DB 2003, 1731 = ZIP 2003, 914; BAG v. 4.6.2003 – 10 AZR 586/02, NZA 2003, 1087 = EWiR 2004, 243 (Pape) = ZIP 2003, 1850; BAG v. 25.8.2022 – 6 AZR 441/21. Vgl. BAG v. 15.6.2004 – 9 AZR 431/03, DB 2004, 2053 = ZIP 2004, 1660 („weitere Masseunzulänglichkeit“); BAG v. 25.8.2022 – 6 AZR 441/21. Vgl. BAG v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, DB 2006, 1851 = ZIP 2006, 1510; LAG Sachsen-Anhalt v. 12.1.2006 – 7 Sa 87/13, BeckRS 2016, 68616. Der Abfindungsanspruch des § 113 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 BetrVG knüpft an die Durchführung der geplanten Betriebsänderung (ohne hinreichenden Interessenausgleichsversuch) an. Für seine Einordnung als Masseschuld nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO ist mithin der Zeitpunkt der Durchführung der Betriebsänderung entscheidend, nicht derjenige ihrer – die Pflicht zum Interessenausgleichsversuch auslösenden – Planung, vgl. BAG v. 7.11.2017 – 1 AZR 186/16, ZInsO 2018, 675 Rz. 33 = ZIP 2018, 848. BAG v. 14.4.2015 – 1 AZR 794/13, ZInsO 2015, 1695 Rz. 27 = ZIP 2015, 1406. Vgl. BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, DB 2005, 779 = ZIP 2005, 457; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 600 und 601/03, DB 2005, 1012; BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 602/03, DB 2005, 1339 = ZIP 2005, 873. S. zur Absicherung eines Altersteilzeitguthabens durch Doppeltreuhand etwa BAG v. 18.7.2013 – 6 AZR 47/12, DB 2013, 2395 = ZIP 2013, 2025.

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§ 26 Rz. 26.12 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

tige Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO steht nach der Rechtsprechung des BAG nicht entgegen, dass sie zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Arbeitsleistung noch nicht entstanden waren, sondern erst durch die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgelöst wurden1. Denn der Anspruch auf Differenzvergütung war zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Arbeitsleistung vertraglich bereits begründet. Er stand lediglich unter der aufschiebenden Bedingung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Ein solcher aufschiebend bedingter Anspruch stellt eine Verbindlichkeit i.S. von § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO dar, denn das aufschiebend bedingte Rechtsgeschäft ist tatbestandlich mit seiner Vornahme bereits vollendet. Seine Wirksamkeit tritt mit dem Bedingungsfall ipso iure ein2. Die Begründung von Masseverbindlichkeiten vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO unterscheidet sich insoweit von der Begründung von Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO, wonach aufschiebend bedingte Forderungen, deren Bedingung erst nach Verfahrenseröffnung eintritt, grundsätzlich nicht als Masseverbindlichkeiten eingestuft werden3.

26.13

Abfindungsansprüche sind Insolvenzforderungen, wenn die Vereinbarung, auf der sie beruhen, zwischen dem Arbeitnehmer und dem Schuldner abgeschlossen worden ist, auch wenn die Ansprüche erst nach Insolvenzeröffnung entstehen4. Individual- oder kollektivvertragliche Abfindungsklauseln, die zwischen dem Schuldner und Arbeitnehmern bzw. zwischen dem Schuldner und dem Betriebsrat oder der Gewerkschaft vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbart werden, beruhen nämlich nicht auf einer Handlung des Insolvenzverwalters. Abfindungsansprüche aus solchen Klauseln sind daher Insolvenzforderungen5. Es handelt sich um Ansprüche, deren Grund schon vor der Eröffnung des Verfahrens gelegt worden ist. Auch wenn der konkrete Anspruch regelmäßig erst mit Kündigung oder Ausscheiden des Arbeitnehmers entsteht, wurde bereits vor Verfahrenseröffnung mit Abschluss der individual- oder kollektivvertraglichen Regelung eine durch den Kündigungsfall aufschiebend bedingte Forderung begründet. Diese steht darum grundsätzlich im Rang einer Insolvenzforderung nach § 38 InsO. Die Erstarkung des Anwartschaftsrechts auf eine Abfindung zum Vollrecht führt selbst dann, wenn die Bedingung erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. Anzeige der Masseunzulänglichkeit eintritt und der Anspruch erst in diesem Zeitpunkt entsteht oder fällig wird, nicht zur Begründung einer (Neu-)Masseverbindlichkeit6. Nach der Rechtsprechung des BAG ist eine Abfindung dementsprechend nur dann als (Neu-)Masseverbindlichkeit zu qualifizieren, wenn sie durch ein Verhalten des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung bzw. nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit – etwa durch Abschluss eines gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs – begründet wird7.

26.14

Die Insolvenzmasse haftet für solche Ansprüche nicht, die der Schuldner nach Freigabe durch den Insolvenzverwalter begründet8.

26.15–26.20

Einstweilen frei.

1 BAG v. 27.7.2017 – 6 AZR 801/16, ZInsO 2017, 2323 Rz. 32 = ZIP 2017, 2113. 2 BAG v. 27.7.2017 – 6 AZR 801/16, ZInsO 2017, 2323 Rz. 32; BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37 Rz. 35. 3 BAG v. 27.7.2017 – 6 AZR 801/16, ZInsO 2017, 2323 Rz. 32; vgl. zu vor Verfahrenseröffnung vereinbarten Abfindungsansprüchen BAG v. 12.9.2013 – 6 AZR 980/11, ZIP 2014, 37 Rz. 35. 4 Vgl. BAG v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, DB 2008, 764 = ZIP 2008, 374. 5 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 16 = ZIP 2019, 777. 6 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 16 = ZIP 2019, 777. 7 BAG v. 14.3.2019 – 6 AZR 4/18, ZInsO 2019, 918 Rz. 15 = ZIP 2019, 777. 8 Vgl. BAG v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1128 = ZIP 2008, 1346; vgl. ferner BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, ZInsO 2014, 507 = ZIP 2014, 339.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.23 § 26

II. Kündigungen 1. Allgemeines Die Aufrechterhaltung aller Arbeitsplätze ist in der Insolvenz zumeist nicht zu realisieren. Einen Ausgleich zwischen dem dadurch bewirkten Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer und den Interessen von Gläubigern und potentiellen Investoren schafft der Gesetzgeber durch die kündigungsrechtlichen Sonderregeln in §§ 113, 121 f., §§ 125 ff. InsO. Die kündigungsrechtliche Situation unterscheidet sich außerhalb und innerhalb des Insolvenzverfahrens nicht, soweit nicht durch §§ 113, 121 f., §§ 125 ff. InsO ausdrücklich besondere Regelungen angeordnet werden. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellt weder einen außerordentlichen noch einen ordentlichen Kündigungsgrund dar1. Die Berechtigung von Kündigungen innerhalb eines Insolvenzverfahrens muss sich an denselben Vorschriften messen lassen, wie sie außerhalb des Insolvenzverfahrens gelten. Ordentliche Kündigungen durch den Insolvenzverwalter müssen daher im betrieblich-gegenständlichen und persönlichen Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nach Maßgabe von § 1 KSchG betriebsbedingt oder personenbedingt bzw. verhaltensbedingt sozial gerechtfertigt sein. Außerordentliche Kündigungen sind nur unter den Voraussetzungen des § 626 BGB möglich. Der gesetzliche Sonderkündigungsschutz wird – anders als der vertragliche Sonderkündigungsschutz (vgl. Rz. 26.30) – durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ebenfalls nicht berührt (Bsp.: § 15 KSchG, § 103 BetrVG, § 6 Abs. 4 BDSG, § 18 BEEG, § 17 MuSchG, § 113 SGB IX)2. Der Insolvenzverwalter hat bei Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 17 ff. KSchG die Anzeigeerfordernisse bei Massenentlassungen einzuhalten3.

26.21

Die Kündigungsbefugnis des Insolvenzverwalters ist arbeitsrechtlich von einer Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. der Gläubigerversammlung (§§ 157, 158 InsO) unabhängig4. Das Arbeitsgericht hat daher die „unternehmerische“ Entscheidung des Insolvenzverwalters nicht auf eine Rückdeckung durch den Gläubigerausschuss oder die Gläubigerversammlung zu überprüfen5. Der Insolvenzverwalter trifft die Entscheidung über die Stilllegung des Betriebs in Ausübung seiner Arbeitgeberfunktionen.

26.22

2. § 113 InsO § 113 InsO schafft keinen insolvenzspezifischen Kündigungsgrund6. Es handelt sich bei § 113 Sätze 1 und 2 InsO um die Festlegung einer Höchstkündigungsfrist und um die Durchbre1 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, AP Nr. 424 zu § 613a BGB; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/ 04, AP Nr. 139 zu § 1 KSchG; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595; BAG v. 25.10.1968 – 2 AZR 23/68, AP Nr. 1 zu § 22 KO; BAG v. 16.9.1982 – 2 AZR 271/80, AP Nr. 4 zu § 22 KO = ZIP 1983, 205; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 67 m.w.N. 2 Vgl. BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 118/05, NZA 2006, 370 = ZIP 2006, 918; Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 426; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 74 m.w.N. 3 Vgl. BSG v. 5.12.1978 – 7 RAr 32/78, DB 1979, 1283; BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 451/06, AP Nr. 13 zu § 3 ATG; BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, AP Nr. 324 zu § 613a BGB = ZIP 2008, 428. 4 Vgl. LAG Hamm v. 16.1.2002 – 2 Sa 1133/01, ZInsO 2002, 244; LAG Köln v. 5.7.2002 – 4 (6) Sa 161/02, BB 2002, 2675; LAG Niedersachsen v. 15.8.2002 – 6 Sa 432/01, NZA-RR 2003, 243. 5 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 419. 6 BAG v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, AP Nr. 424 zu § 613a BGB; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/ 04, AP Nr. 139 zu § 1 KSchG; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595; BAG v. 25.10.1968

Mückl | 847

26.23

§ 26 Rz. 26.23 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

chung von Kündigungsbeschränkungen, die sich aus befristeten oder vertraglich „unkündbaren“ Arbeitsverhältnissen ergeben1. Die Vorschrift gilt für Dienstverhältnisse jeder Art.

26.24

§ 113 InsO setzt das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraus.

26.25

Dem Insolvenzverwalter steht im Falle eines noch nicht angetretenen Arbeitsverhältnisses nicht etwa das Wahlrecht nach § 103 InsO zu. Er muss das Arbeitsverhältnis unter Beachtung der jeweiligen gesetzlichen und vertraglichen Erfordernisse kündigen2. Das BAG hat deshalb zu Recht entschieden, dass § 113 Satz 1 InsO aufgrund seines eindeutigen Wortlauts auch auf Kündigungen vor Antritt des Dienstverhältnisses Anwendung findet3.

26.26

§ 113 InsO ist auch anzuwenden, wenn das Arbeitsverhältnis durch den Insolvenzverwalter begründet worden ist4.

26.27

§ 113 Sätze 1 und 2 InsO gewähren dem Insolvenzverwalter Erleichterungen in drei unterschiedlichen Situationen.

26.28

Erstens geht es um Arbeitsverhältnisse, die auf unbestimmte Zeit eingegangen sind und bei denen eine längere Kündigungsfrist als drei Monate gilt. Diese Kündigungsfrist wird auf höchstens drei Monate zum Monatsende abgekürzt5. Die – abzukürzenden – Kündigungsfristen können sich aus Arbeitsverträgen, Kollektivvereinbarungen oder Gesetz ergeben6. Die Kündigungsfristen in einem Arbeitsverhältnis richten sich nach § 622 BGB überall dort, wo nicht kraft Arbeitsvertrags oder Kollektivvereinbarung abweichende Kündigungsfristen zur Anwendung gelangen7. Die Bestimmung bei mehreren in Betracht kommenden Kündigungsfristen erfolgt nach allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen (Günstigkeit) bis zur Grenze der Höchstfrist. § 113 Satz 2 InsO verkürzt jede längere Kündigungsfrist unabhängig davon, ob sie auf Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Gesetz oder Tarifvertrag beruht8. Der Gesetzgeber lässt bis zur Höchstgrenze des § 113 Satz 2 InsO alle Fristenregelungen gelten, die nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen anzuwenden sind. Soweit bei einem ordentlich kündbaren Dauerarbeitsverhältnis die anzuwendenden Kündigungsfristen ohnehin nicht länger als drei Monate zum Monatsende sind, bleibt § 113 Satz 2 InsO ohne Bedeutung. Die Erklärung einer Kündigung zum nächstmöglichen Zeitpunkt ist ausreichend bestimmt (zu empfehlen9) und be-

1 2 3 4 5

6 7 8 9

– 2 AZR 23/68, AP Nr. 1 zu § 22 KO; BAG v. 16.9.1982 – 2 AZR 271/80, AP Nr. 4 zu § 22 KO = ZIP 1983, 205; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 68 m.w.N. Vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 423; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 68 m.w.N. Vgl. Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 91 ff.; Düwell in Kölner Schrift zur InsO, S. 1193, 1206; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 342, 343. BAG v. 23.2.2017 – 6 AZR 665/15, ZIP 2017, 1083. LAG Berlin-Brandenburg v. 11.7.2007 – 23 Sa 450/07, LAGE § 113 InsO Nr. 14; a.A. Henkel, ZIP 2008, 1265. BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933; BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 68/99, ZInsO 1999, 714; BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 701/98; LAG Hamm v. 13.8.1997 – 14 Sa 568/97, ZIP 1998, 161; LAG Düsseldorf v. 9.1.1998 – 9 Sa 1639/97, LAGE § 113 InsO Nr. 2; Mückl in Mückl/Fuhlrott/ Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 430. Vgl. Fischermeier, NZA 1997, 1089, 1098; Warrikoff, BB 1994, 2338. BAG v. 3.12.1998 – 2 AZR 425/98, AP Nr. 1 zu § 113 InsO = DB 1999, 748 = ZIP 1999, 370. S. aber LAG Hamm v. 27.3.1998 – 15 Sa 2137/97, LAGE § 113 InsO Nr. 5; LAG Köln v. 26.3.1998 – 10 Sa 1437/97, NZA 1998, 765 = ZIP 1998, 1319. Vgl. LAG Hamm v. 13.8.1997 – 14 Sa 566/97, LAGE § 113 InsO Nr. 1. Vgl. ArbG Kiel v. 29.3.2016 – 5 Ca 170d/16, NZI 2016, 849, wo eine Kündigung zum nächstmöglichen Termin sinnvoll gewesen wäre.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.32 § 26

inhaltet die Kündigung mit der 3-Monats-Frist des § 113 InsO vorausgesetzt, dass sich aus dem Kündigungsschreiben oder aus den Umständen ergibt, dass eine ordentliche Kündigung gewollt ist und dass der Arbeitnehmer aus den in dem Kündigungsschreiben in Bezug genommenen Kündigungsfristenregelungen erkennen kann, welche für ihn zur Anwendung kommen soll1. Zweitens betrifft die Norm den Fall, dass ein Arbeitsverhältnis befristet abgeschlossen worden ist, ohne dass die Möglichkeit der ordentlichen Kündigung ausdrücklich vorbehalten ist. Eine derartige Vertragsgestaltung bedeutet, dass arbeitsrechtlich das Recht zur ordentlichen Kündigung bis zum Fristablauf ausgeschlossen ist (§ 15 Abs. 3 TzBfG)2. Dieser Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses wird durch § 113 Satz 1 InsO beseitigt, so dass der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis ordentlich kündigen kann3.

26.29

Drittens wird die vereinbarte „Unkündbarkeit“ von Arbeitsverhältnissen geregelt. Das Gesetz beseitigt diese „Unkündbarkeit“ und lässt die ordentliche Kündigung zu4. Dies gilt auch dann, wenn die „Unkündbarkeit“ aus Beschäftigungsgarantien oder Standortsicherungsabkommen in Kollektivvereinbarungen stammt und die Arbeitnehmer für den durch diese Vereinbarungen eingeräumten Kündigungsschutz eine Gegenleistung in Form des Verzichtes auf Entgeltbestandteile erbracht haben5. Ob § 113 InsO auch auf sonstige Kündigungserschwernisse anzuwenden ist, ist umstritten6.

26.30

Die Kündigungsfrist bei befristeten Verträgen und bei „Unkündbarkeit“ hat die Rechtsprechung per se mit drei Monaten zum Monatsende bestimmt, es sei denn, dass die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses geringer ist7. Das Recht zur außerordentlichen Kündigung wird durch § 113 Satz 1 InsO nicht eingeschränkt8.

26.31

§ 113 Satz 1 InsO bezieht sich nur auf vereinbarte Befristungen und Unkündbarkeitsregelungen. Ob es sich bei diesen Vereinbarungen um Arbeitsverträge, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge handelt, ist unerheblich. Der Gesetzeswortlaut bezieht alles Vereinbarte und damit auch Kollektivvereinbarungen ein9. Soweit es sich um eine tarifvertraglich begründete „Unkündbarkeit“ handelt, wird diese durch § 113 Satz 1 InsO kraft Gesetzes beseitigt, weil eine derartige Tarifregelung einen vereinbarten Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kün-

26.32

1 Vgl. BAG v. 20.6.2013 – 6 AZR 805/11, DB 2013, 2093 = ZIP 2013, 1835. 2 Vgl. BAG v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, AP Nr. 6 zu § 113 InsO = ZIP 2000, 1941. 3 Vgl. BAG v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, AP Nr. 6 zu § 113 InsO; BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 476/04, ZIP 2005, 1842. 4 Vgl. BAG v. 19.1.2000 – 4 AZR 70/99, NZA 2000, 658; BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 476/04, NZA 2006, 270; BAG v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, ZIP 2006, 631; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595. 5 Vgl. BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774. 6 Dagegen: BAG v. 19.1.2000 – 4 AZR 911/98; LAG Baden-Württemberg v. 9.11.1998 – 15 Sa 87/98, LAGE § 113 InsO Nr. 6. Dafür: LAG Hamm v. 26.11.1998 – 8 Sa 1576/98, EWiR 1999, 467; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 116 m.w.N. zum Streitstand. 7 Vgl. BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, ZIP 1999, 1933; BAG v. 19.1.2000 – 4 AZR 70/99, ZIP 2000, 985; BAG v. 6.7.2000 – 2 AZR 695/99, DB 2000, 2382; BAG v. 16.6.2005 – 6 AZR 476/04, AP Nr. 13 zu § 3 ATG; a.A. Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 105 ff. m.w.N. zum Streitstand. 8 Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 131 ff. m.w.N. 9 Vgl. BAG v. 16.6.1999 – 4 AZR 191/98, AP Nr. 3 zu § 113 InsO; Berscheid, Anwaltsblatt 1995, 8, 11; Fischermeier, NZA 1997, 1089, 1098; Lakies, RdA 1997, 1045, 1046; Warrikoff, BB 1994, 2338, 2338; Zwanziger, Das Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, 5. Aufl. 2015, § 113 InsO Rz. 26 f.

Mückl | 849

§ 26 Rz. 26.32 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

digung im Sinne von § 113 Satz 1 InsO darstellt. Der gesamte gesetzliche Sonderkündigungsschutz wird durch § 113 InsO nicht berührt1. So gilt § 113 Satz 1 InsO beispielsweise nicht für Auszubildende (§ 22 Abs. 2 BBiG). § 113 Satz 1 InsO betrifft ebenso wenig gesetzliche Regelungen zu Verfahrens- oder Zustimmungserfordernissen im Hinblick auf Kündigungen (Beispiele: Betriebsratsmitglieder, § 103 BetrVG; schwerbehinderte Menschen, § 168 SGB IX). Der gesetzliche Ausschluss des Rechts zur ordentlichen Kündigung muss sich allerdings unabhängig von § 113 InsO am Gesichtspunkt der Zumutbarkeit messen lassen, so dass bei Überschreiten der (Un-)Zumutbarkeitsgrenze eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung erfolgen kann. Die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung auch aus betriebsbedingten Gründen ist allgemein anerkannt2. § 323 Abs. 1 UmwG, nach dem sich im Fall der Unternehmensspaltung die kündigungsrechtliche Stellung der betroffenen Dienstverpflichteten für die Dauer von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt der wirksamen Spaltung nicht verschlechtert3, steht einer Kündigung seitens des Insolvenzverwalters bei Stilllegung des abgespaltenen Unternehmens nicht entgegen. Die Norm gilt nur für Verschlechterungen, die unmittelbare Folge der Spaltung sind4. § 113 InsO gilt sowohl vor als auch nach einer Spaltung im Insolvenzfall5.

26.33

Der Insolvenzverwalter muss nicht von der Möglichkeit des § 113 Sätze 1 und 2 InsO Gebrauch machen. Er kann frei entscheiden. Die Entscheidung unterliegt keiner Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB. Der Insolvenzverwalter unterliegt auch nicht nach § 241 Abs. 2 BGB einer Rücksichtnahmepflicht z.B. wegen verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen6.

26.34

Der Insolvenzverwalter kann von der Möglichkeit des § 113 Sätze 1 und 2 InsO auch dann Gebrauch machen, wenn der Schuldner schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Kündigung erklärt hat (Nachkündigung)7. War die Kündigung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Teil einer nach § 17 KSchG anzeigepflichtigen Massenentlassung, muss der Insolvenzverwalter vor Ausspruch der Nachkündigung allerdings eine neue Massenentlassungsanzeige erstatten, wenn auch die Nachkündigung Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung ist8. Eine durch den Schuldner ordnungsgemäß erstattete Anzeige eröffnet nach der Rechtsprechung des BAG nur eine einmalige Kündigungsmöglichkeit, die mit Erklärung der Kündigung verbraucht wird9.

3. Schadensersatz 26.35

Der Insolvenzverwalter, der von § 113 Sätze 1 und 2 InsO Gebrauch macht, schuldet dem Arbeitnehmer Schadensersatz gemäß § 113 Satz 3 InsO. Die Schadensersatzpflicht wird dadurch ausgelöst, dass das Arbeitsverhältnis auf Grund § 113 Sätze 1 und 2 InsO vorzeitig 1 Vgl. BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 118/05, AP Nr. 60 zu § 15 KSchG 1969 = ZIP 2006, 918. 2 Vgl. BAG v. 27.5.1993 – 2 AZR 601/92, AP Nr. 9 zu § 22 KO = ZIP 1993, 1316; BAG v. 18.9.1997 – 2 ABR 15/97, DB 1998, 210; BAG v. 5.2.1998 – 2 AZR 227/97, DB 1998, 1035 = ZIP 1998, 1119; BAG v. 18.5.2006 – 2 AZR 207/05, AP Nr. 5 zu § 55 BAT. 3 Ausführlich dazu Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 4 Rz. 361 ff. 4 BAG v. 22.9.2005 – 6 AZR 526/04, ZIP 2006, 631. 5 Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 137. 6 Vgl. BAG v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, EzA § 113 InsO Nr. 21 = ZIP 2014, 1685. 7 BAG v. 22.5.2003 – 2 AZR 255/01, DB 2003, 2071; BAG v. 13.5.2004 – 2 AZR 329/03, DB 2004, 2327; BAG v. 26.7.2007 – 8 AZR 769/06, ZIP 2008, 428; Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 127 ff. 8 Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 129. 9 BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, AP Nr. 38 zu § 17 KSchG 1969 = ZIP 2010, 1566.

850 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.39 § 26

beendet wird, d.h. vor dem Zeitpunkt, zu dem das Arbeitsverhältnis ohne Anwendung von § 113 Sätze 1 und 2 InsO nach Arbeitsvertrag, Kollektivvereinbarung oder Gesetz hätte beendet werden können. Ersatzfähig ist mithin der Verfrühungsschaden1, der ggf. nach § 287 ZPO zu schätzen ist. Der Anspruch ist auf einen Ausgleich der eintretenden Nachteile in Geld gerichtet, nicht etwa kann als Schadensersatz eine Verlängerung der Kündigungsfrist verlangt werden2. Es ist zu ermitteln, was der Arbeitnehmer an Bezügen erhalten hätte, wenn das Arbeitsverhältnis über den durch § 113 Sätze 1 und 2 InsO bestimmten Zeitpunkt hinaus bis zum Zeitpunkt der ansonsten bestehenden bzw. vereinbarten Beendigungsmöglichkeit fortbestanden hätte3. Dies geschieht nach Maßgabe und im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Schadensersatzrechts (Kausalität, Mitverschulden, Vorteilsausgleichung). Das BAG begrenzt die Berechnung der entgehenden Bezüge auf die längste (im Fall der Unkündbarkeit: theoretisch) anwendbare Kündigungsfrist4. Der Schadensersatzanspruch erfasst nach der für alle Fälle des Verdienstausfalls anwendbaren Bruttolohnmethode alle Entgeltbestandteile: Gehälter, Löhne, Naturalbezüge, Zulagen, Boni, Sonderzahlungen, Provisionen, Sozialleistungen5.

§ 113 Satz 3 InsO gilt nicht für Aufhebungsverträge oder Abwicklungsvereinbarungen, selbst dann nicht, wenn ihnen eine Kündigung vorausgegangen ist, vorausgesetzt, in dem Vertrag bzw. der Vereinbarung wird die Beendigung eigenständig geregelt6.

26.36

Der Arbeitnehmer ist im Hinblick auf die Schadensersatzforderung Insolvenzgläubiger i.S. von § 38 InsO7. Der Schadensersatzanspruch ist im Verfahren gemäß §§ 174 ff. InsO geltend zu machen. Er wird, soweit er in die Zukunft gerichtet ist, nach Maßgabe der §§ 191, 198 InsO berücksichtigt.

26.37

§ 113 InsO ist gemäß § 119 InsO im Voraus nicht disponibel. Die Vereinbarungsmöglichkeiten der Parteien bestehen erst dann, wenn eine Kündigung erklärt worden ist oder in Aussicht genommen wird und die Parteien eine Verständigung über die konkrete Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach Grund und Zeitpunkt herbeizuführen versuchen.

26.38

4. Kündigungsschutzklage Eine Kündigungsschutzklage ist in konsequenter Anwendung der „Amtstheorie“ gegen den Insolvenzverwalter zu richten8. Der Insolvenzverwalter ist Beklagter im Kündigungsschutzprozess als Partei kraft Amtes9. Die Klage gegen den Schuldner wahrt die Klagefrist nicht. 1 Vgl. Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 113 InsO Rz. 143; Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 439. 2 Vgl. BAG v. 27.2.2014 – 6 AZR 301/12, EzA § 113 InsO Nr. 21 = ZIP 2014, 1685. 3 Vgl. Berscheid in Uhlenbruck, § 113 InsO Rz. 152 f.; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 113 InsO Rz. 32 f. und 84. 4 Vgl. BAG v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, AP Nr. 24 zu § 113 InsO = ZIP 2007, 1829. Das gilt auch bei zeitlich befristetem Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, vgl. Hessisches LAG v. 1.9.2008 – 17 Sa 341/08. 5 BAG v. 19.11.2015 – 6 AZR 559/14, NZA 2016, 314 = ZIP 2016, 178. 6 Vgl. BAG v. 25.4.2007 – 6 AZR 622/06, AP Nr. 23 zu § 113 InsO = ZIP 2007, 1875. 7 BAG 19.11.2015 – 6 AZR 559/14, NZA 2016, 314 = ZIP 2016, 178. 8 Vgl. BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 57/01, ZIP 2002, 1412; BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 41/11, NZA 2013, 1007; Bork, ZInsO 2001, 210 ff.; Fleddermann, ZInsO 2001, 359 ff.; ausführlich zum arbeitsgerichtlichen Verfahren in der Insolvenz Purschwitz in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 7 Rz. 3 ff. 9 Vgl. BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 57/01, ZIP 2002, 1412; BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, AP Nr. 232 zu § 613a BGB.

Mückl | 851

26.39

§ 26 Rz. 26.39 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Dies gilt für alle Klagen, die nach Insolvenzeröffnung erhoben werden. Die Klagefrist kann allerdings auch dann gewahrt sein, wenn im Beklagtenrubrum der Schuldner als Arbeitgeber angegeben ist: Die Beklagtenstellung des Insolvenzverwalters muss sich dann allerdings im Wege der Auslegung aus anderen Erklärungen und Umständen eindeutig ergeben (Berichtigung der Parteibezeichnung im Rubrum). Ein solcher Umstand ist die Beifügung des Kündigungsschreibens des Insolvenzverwalters1. Ist im Rubrum der Klageschrift irrtümlich als Beklagter nicht der Insolvenzverwalter, sondern der Schuldner genannt, so ist das Klagerubrum entsprechend zu berichtigen, wenn sich aus der Klageschrift oder aus dem dieser beigefügten Kündigungsschreiben ergibt, dass sich die Klage gegen den Insolvenzverwalter als Partei kraft Amtes richten soll2. Die Klagefrist wird allerdings dann versäumt, wenn es auf Grund Falschadressierung nicht zu einer Klagezustellung im Zeitrahmen des § 270 Abs. 3 ZPO kommt (§ 85 Abs. 2 ZPO)3. Eine Kündigungsschutzklage ist aber auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner zu richten, wenn dieser eine selbständige Tätigkeit ausübt und der Insolvenzverwalter das Vermögen aus dieser Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigegeben hat; mit Zugang der Freigabeerklärung bei dem Schuldner fällt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Arbeitsverhältnisse ohne gesonderte Kündigung an den Schuldner zurück4.

26.40

Wird vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Klage erhoben und gegen den Arbeitgeber gerichtet, so ist nach Aufnahme des Verfahrens eine Änderung der Beklagtenbezeichnung dahingehend herbeizuführen, dass Beklagter der Insolvenzverwalter ist5. Ein rechtshängiges Kündigungsschutzverfahren wird durch die Insolvenzeröffnung unterbrochen (§ 240 ZPO). Es kann, wenn es die Fortdauer des Arbeitsverhältnisses nach Insolvenzeröffnung betrifft, von dem Arbeitnehmer aufgenommen werden (§ 86 Abs. 1 Nr. 3 InsO)6.

26.41

Hat der Schuldner die Kündigung vor Insolvenzeröffnung erklärt und wird die Kündigungsschutzklage (fristgerecht) nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erhoben, so ist Beklagter auch in diesen Fällen der Insolvenzverwalter7. Der Insolvenzverwalter muss den Arbeitnehmer jedenfalls dann nicht auf die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinweisen, wenn dem Arbeitnehmer die Stellung des Insolvenzantrags bekannt ist.

5. Befristungen 26.42

Die Zulässigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse erfährt im Insolvenzverfahren keine Sonderbehandlung. Das Insolvenzverfahren stellt als solches keinen Befristungsgrund dar8. Es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob eine wirksame Befristung vorliegt.

26.43–26.50

Einstweilen frei.

1 2 3 4 5 6 7

Vgl. BAG v. 18.4.2002 – 8 AZR 346/01, AP Nr. 232 zu § 613a BGB = ZIP 2002, 2003. Vgl. BAG v. 27.3.2003 – 2 AZR 272/02, AP Nr. 14 zu § 113 InsO. Vgl. BAG v. 17.1.2002 – 2 AZR 57/01, ZIP 2002, 1412: Verzögerung von mehr als zwei Wochen. Vgl. BAG v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, EzA § 35 InsO Nr. 3 = ZIP 2014, 339. Vgl. LAG Schleswig-Holstein v. 24.1.2005 – 2 Ta 17/05, NZA-RR 2005, 658. Vgl. BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 563/05, AP Nr. 6 zu § 240 ZPO = DB 2007, 114 = ZIP 2007, 745. Vgl. LAG Düsseldorf v. 20.11.1995 – 1 Ta 291/95, ZIP 1996, 191; Hessisches LAG v. 17.5.2002 – 15 Ta 77/02; Sasse, ArbRB 2003, 63, 64. 8 Vgl. LAG Düsseldorf v. 8.3.1994 – 16 Sa 163/94, DB 1994, 1880 = ZIP 1994, 1032.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.52 § 26

III. Betriebsvereinbarungen 1. Normzweck des § 120 InsO Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat keinen Einfluss auf das Bestehen von Betriebsvereinbarungen. Die Insolvenzordnung hat die Problematik mit § 120 InsO aufgegriffen, der gemäß § 279 Satz 3 InsO auch bei der Eigenverwaltung (Kündigung mit Zustimmung des Sachwalters) zur Anwendung kommt1. Während § 120 Abs. 2 InsO nur den allgemeinen Grundsatz der Kündigungsmöglichkeit aus wichtigem Grund bestätigt, führt § 120 Abs. 1 InsO ein neues Instrumentarium zur Änderung bzw. Beendigung von Betriebsvereinbarungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein. Der Normzweck der Regelung besteht darin, die Überlebenschancen eines insolvenzbefangenen Betriebs zu erhöhen, indem durch die Herbeiführung von Entlastungen eine Fortführung oder eine Veräußerung des Betriebs erleichtert wird.

26.51

2. Beratungs- und Verhandlungspflicht § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO fordert den Insolvenzverwalter und den Betriebsrat auf, über eine einvernehmliche Herabsetzung von Leistungen zu beraten, die in Betriebsvereinbarungen vorgesehen sind. Es kommt nicht darauf an, ob es sich um erzwingbare oder freiwillige Betriebsvereinbarungen handelt. Der Begriff der Betriebsvereinbarung schließt in § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO Gesamt- und Konzernbetriebsvereinbarungen ein. Denn nimmt man mit dem BGH an, dass infolge einer Insolvenz die Konzernbindung endet2, gilt § 120 InsO auch für Konzernbetriebsvereinbarungen3, die mit der Konzernbeendigung nicht automatisch enden4, da sie – trotz Abschlusses für den Konzern – im einzelnen Betrieb gelten5. Die Verhandlungspflicht ist nach Sinn und Zweck der Regelung auch auf Regelungsabreden zu erstrecken, da Regelungsabreden nach den betriebsverfassungsrechtlichen Grundsätzen im Hinblick auf ihre Beendigung entsprechenden Grundsätzen wie Betriebsvereinbarungen unterworfen werden6. Als Betriebsvereinbarungen i.S. von § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO kommen auch Sozialpläne in Betracht. Die Betriebspartner können einen geltenden Sozialplan zum Nachteil der betroffenen Arbeitnehmer für die Zukunft ändern, wobei Verhältnismäßigkeit und Vertrauensschutz zu beachten sind7. § 120 InsO wird allerdings durch die Sonderregelung des § 124 InsO im Hinblick auf solche Sozialpläne verdrängt, deren Zustandekommen nicht weiter als drei Monate vor Stellung des Insolvenzantrags zurückreicht. § 120 Abs. 1 InsO gilt zudem – wenngleich dies umstritten ist – analog für Sprecherausschussvereinbarungen8, Richtlinien nach 1 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 196 m.w.N. 2 BGH v. 14.12.1987 – II ZR 170/87, NJW 1988, 1326 = GmbHR 1988, 174 = ZIP 1988, 229; zu den Auswirkungen des KInsErlG vgl. Mückl/Götte, ZInsO 2017, 623 ff. 3 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 120 InsO Rz. 13 m.w.N. 4 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 120 InsO Rz. 13; a.A. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 120 InsO Rz. 7 m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 25.2.2020 – 1 ABR 39/18, NZA 2020, 875 = ZIP 2020, 1475; parallel zu Gesamtbetriebsvereinbarungen BAG v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, BB 2003, 1387 = ZIP 2003, 1059. 6 Vgl. Fitting, 31. Aufl. 2022, § 77 BetrVG Rz. 225; Kreutz in Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, 12. Aufl. 2022, § 77 BetrVG Rz. 21 – beide m.w.N. 7 Vgl. BAG v. 5.10.2000 – 1 AZR 48/00, AP Nr. 141 zu § 112 BetrVG 1972 = DB 2001, 1563 = ZIP 2001, 1384. 8 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 202 m.w.N.

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26.52

§ 26 Rz. 26.52 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

§ 28 Abs. 2 SprAuG1 sowie Dienstvereinbarungen, auch wenn die betreffende juristische Person des öffentlichen Rechts ausnahmsweise insolvenzfähig ist2. Er gilt auch für Dienstvereinbarungen mit kirchlichen Mitarbeitervertretungen3. Darüber hinaus ist er richtigerweise auch auf Tarifverträge anwendbar4.

26.53

Das Gesetz erfasst nur solche Betriebsvereinbarungen, in denen Leistungen vorgesehen sind, die die Insolvenzmasse belasten5. Dies sind insbesondere Betriebsvereinbarungen, die Entgelte oder Sozialeinrichtungen zu Gunsten der Arbeitnehmer regeln. Eine Betriebsvereinbarung i.S. von § 120 Abs. 1 InsO kann auch vorliegen, wenn es sich um Regelungen handelt, die zwar den Betriebsablauf oder die Organisation regeln, bei deren Anwendung sich jedoch Leistungen zu Gunsten der Arbeitnehmer ergeben. Dies ist beispielsweise möglich, wenn sich aus Arbeitszeitgestaltungen Schichtzuschläge oder Überstundenvergütungen ableiten, die bei anderweitigen Arbeitszeitregelungen vermieden werden könnten.

26.54

Der Verhandlungsaufruf nach § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO gilt beiden Betriebsparteien. Durch den Begriff „sollen“ wird zum Ausdruck gebracht, dass eine strikte Rechtspflicht nicht besteht, so dass ein Verstoß letztlich folgenlos bleibt6. Weder gibt es einen Anspruch einer Partei darauf, dass es zu Verhandlungen kommt. Noch ist rechtlich gewährleistet, dass Betriebsrat und Insolvenzverwalter sich letztlich über eine Herabsetzung der Leistungen verständigen. Kommen Insolvenzverwalter und Betriebsrat zu keiner einvernehmlichen Regelung, so verbleibt es beim unveränderten Bestand der Betriebsvereinbarung.

3. Kündigungsmöglichkeit 26.55

§ 120 Abs. 1 Satz 2 InsO stellt sicher, dass Betriebsvereinbarungen mit Leistungen, die die Insolvenzmasse belasten, in jedem Falle mit einer Frist von drei Monaten gekündigt werden können, auch wenn in der Betriebsvereinbarung eine längere Frist vereinbart ist. Die DreiMonats-Frist entspricht der im Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Kündigungsfrist für Betriebsvereinbarungen (§ 77 Abs. 5 BetrVG). Es handelt sich bei § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO um eine Höchstkündigungsfrist. Ist in der Betriebsvereinbarung eine kürzere Kündigungsfrist vereinbart, so ist diese anwendbar. Die Kündigungsmöglichkeit besteht nicht nur dann, wenn die Betriebsvereinbarung eine längere Kündigungsfrist als drei Monate vorsieht, sondern auch dann, wenn die Betriebsvereinbarung befristet oder „unkündbar“ abgeschlossen ist. Diese Fälle werden von § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO ebenfalls erfasst7.

26.56

Das Gesetz schreibt nicht zwingend vor, dass vor Gebrauchmachen von der Kündigungsmöglichkeit des § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO zunächst ein Verhandlungsstadium nach § 120 Abs. 1 1 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 202 m.w.N.; a.A. z.B. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 120 InsO Rz. 14 m.w.N. 2 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 202 m.w.N.; a.A. z.B. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 120 InsO Rz. 15 m.w.N. 3 A.A. Regh in Beck`sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 9 Rz. 23. 4 Mückl/Krings, BB 2012, 769, 770; a.A. Regh in Beck`sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 9 Rz. 23 m.w.N. 5 Näher z.B. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 203 ff. 6 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 203 m.w.N.; offen gelassen von LAG Baden-Württemberg v. 15.6.2005 – 12 TaBV 6/04. 7 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 120 InsO Rz. 26 f.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.58 § 26

Satz 1 InsO vorgeschaltet werden muss. Eine derartige rechtliche Rang- und Reihenfolge ist abzulehnen. Das Betriebsverfassungsgesetz kennt keinen Grundsatz im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips dahingehend, dass im Falle einer ordentlichen Kündigung einer Betriebsvereinbarung zuerst zu verhandeln ist, bevor von der Möglichkeit der ordentlichen Kündigung Gebrauch gemacht werden kann. Dies wäre mit der grundsätzlichen Kündigungsfreiheit im Hinblick auf Betriebsvereinbarungen nicht vereinbar, die § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO bestätigt bzw. wiederherstellt.

Die Kündigung nach § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO erfolgt auf der Grundlage allgemeiner Grundsätze. Dies bedeutet insbesondere, dass Kündigungsgründe nicht erforderlich sind1. Der Rechtsposition des einzelnen Arbeitnehmers kann allerdings Bestandsschutz im Rahmen der Beurteilung der Rechtsfolgen der Kündigung zukommen. Je nach Anlass und Grund für die Kündigung werden die Rechtsfolgen im Hinblick auf den Schutz von Besitzständen modifiziert.

26.57

4. Nachwirkung der Betriebsvereinbarung § 120 Abs. 1 Satz 2 InsO sagt nichts über die Rechtsfolge der Kündigung. Diese richtet sich nach allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Grundsätzen2. Betriebsvereinbarungen in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten gelten gemäß § 77 Abs. 6 BetrVG solange weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (Nachwirkung). Die auf Grund der vorzeitigen Kündigungsmöglichkeit für die Insolvenzmasse entstehende Entlastungswirkung hängt damit letztlich davon ab, ob im konkreten Fall in Anbetracht der Art und des Inhalts der Betriebsvereinbarung die Nachwirkung eintritt oder nicht. Das macht Überlegungen zu einer Anfechtbarkeit nach §§ 129 ff. InsO für die Sanierungspraxis wichtig und wertvoll (vgl. dazu Rz. 26.63 ff.). Bei dem im Hinblick auf § 120 Abs. 1 InsO „typischen“ Fall der Betriebsvereinbarung über „freiwillige“ Leistungen handelt es sich um eine so genannte teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung. Der Arbeitgeber trifft mitbestimmungsfreie Grundentscheidungen, und in diesem Rahmen bestimmt der Betriebsrat über Gerechtigkeits-, System- und Verteilungsentscheidungen mit3. Eine Nachwirkung findet in einem derartigen Fall nicht statt, wenn der Arbeitgeber die Betriebsvereinbarung kündigt, um die gewährten Leistungen gänzlich zu beseitigen4. Die Rechtsgrundlage für die Leistungsgewährung entfällt in diesem Falle mit Ablauf der Kündigungsfrist5. Erfolgt die Kündigung jedoch zu dem Zweck, die Leistungen in Zukunft lediglich gekürzt zu gewähren, so nimmt das Bundesarbeitsgericht eine Nachwirkung an, wenn das zur Verfügung gestellte Mittelvolumen reduziert und der Verteilungsschlüssel bei der Fort- bzw. Neugewährung geändert wird6. Der Insolvenzverwalter wird in Anbetracht dieser Rechtslage regelmäßig überlegen, ob er nicht in jedem Falle zu dem Zweck 1 Vgl. BAG v. 9.2.1989 – 8 AZR 310/87, AP Nr. 40 zu § 77 BetrVG 1972; BAG v. 10.3.1992 – 3 ABR 54/91, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsvereinbarung = ZIP 1992, 1165. 2 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 71, 153; Begr. Rechtsausschuss, BT-Drucks. 12/7302, S. 155, 170; Giesen, ZIP 1998, 142, 142; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 298; Lakies, RdA 1997, 145, 147; Löwisch, NZA 1996, 1009, 1017; Schrader, NZA 1997, 70, 71. 3 Vgl. Kreutz in Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, 12. Aufl. 2022, § 77 BetrVG Rz. 454. 4 Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten, u.a. nicht vom Gesetz, aber vom BAG (BAG v. 5.10.2010 – 1 ABR 20/09, AP Nr. 53 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung = ZIP 2011, 832) geforderten Zusatzerklärungen des Arbeitgebers vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 188 ff. m.w.N. 5 Vgl. BAG v. 21.8.1990 – 1 ABR 73/89, AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung; BAG v. 26.10.1993 – 1 AZR 46/93, AP Nr. 6 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung. 6 Vgl. BAG v. 21.8.1990 – 1 ABR 73/89, AP Nr. 5 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung; BAG v. 26.10.1993 – 1 AZR 46/93, AP Nr. 6 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung.

Mückl | 855

26.58

§ 26 Rz. 26.58 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

kündigt, die in Rede stehenden Leistungen ersatzlos und gänzlich entfallen zu lassen. Der Insolvenzverwalter vermeidet damit das Nachwirkungsrisiko.

26.59

Die Nachwirkung kann in der Betriebsvereinbarung ausgeschlossen werden1. Die Kündigung bewirkt in diesem Falle, dass mit Ablauf der Kündigungsfrist die Betriebsvereinbarungswirkungen entfallen. Nicht minder häufig, eher verbreiteter, ist in der Praxis der Fall, dass die Betriebspartner die Nachwirkung einer freiwilligen oder teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung vereinbaren. Derartige Vereinbarungen sind rechtlich möglich2. Sie können im Anwendungsbereich des § 120 Abs. 1 InsO allerdings nicht anerkannt werden3. Das Gesetz geht davon aus, dass – lediglich – die gesetzlich vorgesehene Nachwirkung des § 77 Abs. 6 BetrVG eintritt. Eine Veränderung dieses Mechanismus würde den Gesetzeszweck vereiteln, weil die von § 120 Abs. 1 InsO intendierte Entlastung der Insolvenzmasse auf Grund der Kündigung nicht eintreten könnte, soweit die Nachwirkung bei freiwilligen Leistungen vereinbart ist. Der Insolvenzverwalter wäre vielmehr darauf angewiesen, entweder das Einvernehmen des Betriebsrats zu erreichen oder ein Einigungsstellenverfahren durchzuführen.

5. Andere Beendigungsregeln 26.60

§ 120 Abs. 2 InsO besagt, dass das Recht zur Kündigung der Betriebsvereinbarung aus wichtigem Grund unberührt bleibt. Ein derartiges Kündigungsrecht aus wichtigem Grund ist allgemein anerkannt4. Es kommt darauf an, ob es dem kündigenden Teil unzumutbar ist, wenigstens bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zuzuwarten. Auch in der Insolvenz gelten diesbezüglich die allgemeinen5 für die außerordentliche Kündigung von Betriebsvereinbarungen maßgeblichen Grundsätze6. Das Bundesarbeitsgericht hat im Hinblick auf die außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen allerdings verlangt, dass vor dem Ausspruch der Kündigung der Versuch unternommen werden müsse, durch Verhandlungen eine Anpassung herbeizuführen7. Es wendet die Nachwirkungsgrundsätze auch bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung an8. Die außerordentliche Kündigung führt danach lediglich zur Beseitigung der Bindung an die Betriebsvereinbarung für die vereinbarte Zeit. Der kündigende Betriebspartner erhält, soweit es sich um eine nachwirkende Betriebsvereinbarung handelt, die Möglichkeit, so vorzeitig eine neue Regelung gegebenenfalls unter Zuhilfenahme der Einigungsstelle durchzusetzen.

26.61

Die Anwendung der Grundsätze über die Geschäftsgrundlagenlehre wird weder durch § 120 Abs. 1 InsO noch durch die Bestätigung des Rechts zur Kündigung aus wichtigem Grund in § 120 Abs. 2 InsO ausgeschlossen. Die Geschäftsgrundlagenlehre findet ergänzend Anwendung. Betriebsvereinbarungen sind den geänderten Umständen anzupassen, wenn einem Be1 Vgl. BAG v. 17.1.1995 – 1 ABR 29/94, AP Nr. 7 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung. 2 Vgl. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 43/97, AP Nr. 11 zu § 77 BetrVG 1972 Nachwirkung. S. dazu z.T. kritisch Boemke/Kursave, DB 2000, 1405 ff.; Kort, NZA 2001, 477 ff.; Loritz, DB 1997, 2074 ff. 3 H.M. vgl. zum Streitstand Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 120 InsO Rz. 41 ff. m.w.N. 4 Vgl. BAG v. 19.7.1957 – 1 AZR 420/54, AP Nr. 1 zu § 52 BetrVG; BAG v. 29.5.1964 – 1 AZR 281/ 63, AP Nr. 24 zu § 59 BetrVG. 5 Vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 187. 6 LAG Baden-Württemberg v. 15.6.2005 – 12 TaBV 6/04. 7 Vgl. BAG v. 18.12.1996 – 4 AZR 129/96, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Kündigung; BAG v. 18.2.1998 – 4 AZR 363/96, DB 1998, 1722. 8 Vgl. BAG v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, AP Nr. 86 zu § 112 BetrVG 1972 = ZIP 1995, 1037.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.63 § 26

triebspartner im Hinblick auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage das Festhalten an der Betriebsvereinbarung nicht mehr zuzumuten ist1. Die Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre ist gegenüber dem Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund vorrangig. Die außerordentliche Kündigung kommt erst und nur dann in Betracht, wenn eine – bloße – Anpassung der Betriebsvereinbarungsregelungen die Unzumutbarkeit nicht beseitigt. Die Anpassung nach Geschäftsgrundlagengrundsätzen und das Recht zur außerordentlichen Kündigung können indes nur in Extremfällen in Erwägung gezogen werden, da § 120 Abs. 1 InsO die Kündbarkeit mit einer Frist von drei Monaten ermöglicht.

26.62

6. Anfechtung von Betriebsvereinbarungen Wie vorstehend gezeigt, erreicht der Insolvenzverwalter durch eine Kündigung nach § 120 InsO in der Regel keine unmittelbare Entlastung der Insolvenzmasse, da massebelastende Betriebsvereinbarungen nicht selten der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG) und daher – lässt man einen vereinbarten Ausschluss der Nachwirkung bzw. bei teilmitbestimmten Betriebsvereinbarungen eine beabsichtigte vollständige Leistungseinstellung2 einmal unberücksichtigt – trotz Kündigung nachwirken (§ 77 Abs. 6 BetrVG)3. Soll die massebelastende Wirkung mit sofortigem Effekt entfallen, ist eine Anfechtung (des Abschlusses) der Betriebsvereinbarung4 nach §§ 129 ff. InsO zielführender5. Sie hätte insbesondere einen erheblichen liquiditätsschonenden Effekt. Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass die insolvenzrechtliche Anfechtung (des Abschlusses) von Betriebsvereinbarungen in der Sanierungspraxis ein Schattendasein zu führen scheint. Für die Sanierungspraxis interessant ist eine erfolgreiche Anfechtung von massebelastenden Betriebsvereinbarungen nach §§ 129 ff. InsO nämlich wegen der damit verbundenen Rechtsfolgen: – Die erfolgreiche Insolvenzanfechtung bewirkt einen insolvenzrechtlichen Rückgewähranspruch aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO, der aus einem gesetzlichen Schuldverhältnis folgt6 und keine dingliche Wirkung entfaltet7. Aufgrund einer angefochtenen Betriebsvereinbarung an die Arbeitnehmer erfolgte Zahlungen müssen also zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden.

– Die Insolvenzanfechtung beugt aber auch einer Inanspruchnahme der Masse vor: Ist der anfechtbar begründete Anspruch eines Arbeitnehmers noch nicht erfüllt und der Abschluss des Verpflichtungsgeschäfts angefochten, steht der Durchsetzbarkeit des betreffen1 Vgl. BAG v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, AP Nr. 86 zu § 112 BetrVG 1972 = ZIP 1995, 1037; näher Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 216 ff. 2 Sie ist häufig aus personalpolitischen Gründen nicht gewünscht oder sinnvoll und praktisch nur schwer umsetzbar. 3 BAG v. 9.7.2013 – 1 AZR 275/12, NZA 2013, 1438. 4 Anfechtungsgegenstand ist die Willenserklärung, die zum Abschluss der Betriebsvereinbarung geführt hat. Nur bei einer Anfechtung nach § 132 InsO wäre die Betriebsvereinbarung Anfechtungsgegenstand. Zur Vereinfachung wird nachfolgend aber bisweilen die Betriebsvereinbarung als Anfechtungsgegenstand bezeichnet. Zahlungen auf Ansprüche aus Betriebsvereinbarungen sind unabhängig davon „Rechtshandlungen“ i.S. der §§ 129 ff. InsO. 5 Vgl. hierzu ausführlich Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714 ff.; dem folgend Kubusch in Graf-Schlicker, 5. Aufl. 2020, § 120 InsO Rz. 14; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 120 InsO Rz. 8 m. Fn. 12; Gossak in BeckOK/InsR, 25. Ed. 15.10.2021, § 120 InsO Rz. 10.1; Borries/Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 417. 6 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, NZI 2011, 486 = ZIP 2011, 1114. 7 BGH v. 14.10.2010 – IX ZR 160/08, ZIP 2010, 2460.

Mückl | 857

26.63

§ 26 Rz. 26.63 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

den Anspruchs bereits die „dolo-petit-Einrede“ entgegen1. Denn der Arbeitnehmer würde eine Leistung fordern, die er alsbald nach § 143 Abs. 1 InsO zurückgewähren müsste2. – Für den Insolvenzverwalter und damit für die Masse vorteilhaft ist ferner, dass die Anfechtung nach §§ 129 ff. InsO nicht erklärt werden muss. Die Ansprüche der Masse nach § 143 Abs. 1 InsO entstehen kraft Gesetzes3. Die Rechtsfolgen der Anfechtung sind deshalb in jedem Prozess von Amts wegen zu berücksichtigen. Der Insolvenzverwalter muss lediglich zum Ausdruck bringen, dass er eine Gläubigerbenachteiligung nicht hinnimmt und sie wenigstens wertmäßig auf Kosten des Anfechtungsgegners wieder ausgeglichen haben will4. – Die Anfechtung schließt zudem die parallele Kündigung nach § 120 InsO nicht aus. Sie ist daher selbst dann wegen ihrer Rechtsfolgen für die Sanierungspraxis interessant, wenn keine erzwingbare Betriebsvereinbarung, sondern eine freiwillige Betriebsvereinbarung ohne Nachwirkung5 in Rede steht, die Kündigungsfrist aber nicht abgewartet werden soll, bevor wirtschaftliche Entlastungen bewirkt werden. Wenn bereits die Betriebsvereinbarung (bzw. der Anspruch aus ihr) der Insolvenzanfechtung unterliegt, stünde dem Insolvenzverwalter also ein effektives Mittel zur Massemehrung und -sicherung zur Verfügung, zumal das durch die Anfechtung begründete Schuldverhältnis der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien entzogen ist und deshalb keinen tariflichen Ausschlussfristen unterfällt6.

26.64

Ungeachtet dieser Vorteile aus Sicht der Insolvenzmasse liegen – soweit ersichtlich – zur Frage der Anfechtbarkeit von Betriebsvereinbarungen bislang lediglich zwei Entscheidungen des LAG München bzw. des LAG Hamm vor, welche die Insolvenzanfechtung eines freiwilligen Sozialplans nach der KO betreffen7. In der Literatur werden diese Entscheidungen nahezu einhellig als auch unter Geltung der InsO zutreffend bewertet, sodass Betriebsvereinbarungen nach h.M. grundsätzlich gemäß §§ 129 ff. InsO vom Insolvenzverwalter angefochten werden können8. Die Praxisrelevanz in Bezug auf die Anfechtung von Sozialplänen ist indes gering. Sozialpläne sind zwar Betriebsvereinbarungen besonderer Art9; da bei insolvenznahen Sozialplänen für den Insolvenzverwalter die Möglichkeit des Widerrufs nach § 124 Abs. 1 InsO besteht, hat die Insolvenzanfechtung insoweit aber gegenüber dem früheren Rechtszustand unter der KO an Bedeutung verloren10. Zur Abwehr von Ansprüchen aus Betriebsvereinbarungen kann die Insolvenzanfechtung aber effektiv beitragen. 1 2 3 4 5 6 7 8

9 10

BAG v. 10.11.2011 – 6 AZR 357/10, ZIP 2012, 91. Vgl. zur „dolo-petit-Einrede“ allgemein BAG v. 3.5.2006 – 10 AZR 344/05, NZA-RR 2007, 641. Vgl. statt aller Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, 5. Aufl. 2015, InsO Einführung Rz. 355a. BGH v. 21.2.2008 – IX ZR 209/06, ZIP 2008, 888. Anders nur bei entsprechender Vereinbarung, vgl. BAG v. 28.4.1998 – 1 ABR 43/97, NZA 1998, 1348 = DB 1998, 2423. Vgl. BAG v. 27.2.2014 – 6 AZR 367/13, ZInsO 2014, 1108 = ZIP 2014, 1396; BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZInsO 2014, 141 = ZIP 2014, 91; BAG v. 3.7.2014 – 6 AZR 451/12, AP Nr. 8 zu § 131 InsO (LS). LAG München v. 5.9.1986 – 3 Sa 446/86, NZA 1987, 464 = ZIP 1987, 589; LAG Hamm v. 20.1.1982 – 12 TaBV 120/81, DB 1982, 1119, 1120 = ZIP 1982, 615. Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 120 InsO Rz. 22; Andres in Andres/Leithaus, § 120 InsO Rz. 10; Hirte in Uhlenbruck, § 132 InsO Rz. 2; Kayser/Freudenberg in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 13; Willemsen/Tiesler, Interessenausgleich und Sozialplan in der Insolvenz, 1995, Rz. 315 f. BAG v. 15.3.2011 – 1 AZR 808/09, AP Nr. 214 zu § 112 BetrVG 1972. Zobel in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 120 InsO Rz. 22.

858 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.81 § 26

Für die Anfechtung gläubigerbenachteiligender Rechtshandlungen in Form von Betriebsvereinbarungen kommen § 130 InsO (für kongruent gedeckte Lohnzahlungen), § 131 InsO (für inkongruent gedeckte Leistungen wie ggf. Treueprämien oder Boni), § 132 InsO (für unmittelbare Benachteiligungen), § 133 InsO (Vorsatzanfechtung) sowie § 134 InsO (für unentgeltliche Leistungen) in Betracht1. Besonderen praktischen Nutzen zur Vermeidung einer Masseinanspruchnahme verspricht dabei die Anfechtung gegenüber dem Betriebsrat2. Denn dieser ist in Krisensituationen regelmäßig sehr gut informiert – dürfte also über die auf Tatbestandsebene für eine erfolgreiche Anfechtung notwendige „Kenntnis“ verfügen. Darüber hinaus wird man die vom BGH zum „Wissensvertreter“ entwickelten Grundsätze auch auf das Verhältnis von Betriebsrat und Arbeitnehmer übertragen müssen3. Die dadurch bewirkte Wissenszurechnung zwischen Betriebsrat und Arbeitnehmer erleichtert insbesondere eine Massemehrung, weil Arbeitnehmer insolvenzrechtliche Rückgewähransprüche nicht unter Hinweis auf fehlende „Kenntnis“ i.S. der §§ 130 ff. InsO vermeiden können.

26.65

Vor diesem Gesamthintergrund sollte die Sanierungspraxis die Insolvenzanfechtung von Ansprüchen aus Betriebsvereinbarungen häufiger in die Sanierungsüberlegungen einbeziehen. Dies gilt nicht nur zur Verhinderung wachsender Masseverbindlichkeiten aus nach Insolvenzeröffnung weitergeltenden Betriebsvereinbarungen. Mit Blick auf die zu bejahende Wissenszurechnung zwischen Betriebsrat und begünstigten Arbeitnehmern ist auch eine Massemehrung durchaus möglich. Hinzu kommen ggf. ganz praktische Vorteile: Je nach Größe des Kreises der Berechtigten und den jeweiligen Anspruchshöhen kann der Insolvenzverwalter (für seine Mitarbeiter) durch die Anfechtung ggf. einen nicht unerheblichen Aufwand im Rahmen der Prüfung der zur Tabelle angemeldeten Forderungen vermeiden und sich auf wichtigere Sanierungsgesichtspunkte konzentrieren. Entschieden werden sollte die Anfechtung einer Betriebsvereinbarung im Rahmen einer Gesamtabwägung, die auch die Kombination mit einer Kündigung gemäß § 120 InsO umfassen sollte. Bedeutsam kann dies insbesondere in laufenden Investorenprozessen sein. Der Betriebsrat selbst, der für das Gelingen einer Sanierung zumeist sehr wichtig ist, sollte dabei gemäß bzw. analog § 120 Abs. 1 Satz 1 InsO einbezogen werden. Denn nur wenige Unternehmen lassen sich „gegen“ die Arbeitnehmer sanieren, sodass auch die „politischen“ Auswirkungen einer Anfechtung berücksichtigt werden müssen.

26.66

Einstweilen frei.

26.67–26.80

IV. Besonderheiten bei Betriebsänderungen: Personalabbau Die Anwendung der §§ 111 ff. BetrVG (Interessenausgleich und Sozialplan) wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt4. Die §§ 121 ff. InsO setzen die Anwendbarkeit dieser Vorschriften voraus5. Es gilt das, was zur betriebsverfassungsrechtlichen Situation außerhalb der Insolvenz ausgeführt worden ist (Rz. 12.57 ff.). Ebenso wie jeder andere Arbeitgeber hat daher auch der Insolvenzverwalter in Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern bei Betriebsänderungen i.S. des § 111 BetrVG den Versuch 1 Ausführlich zur Insolvenzanfechtung in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung Mückl, Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz, 2. Aufl. 2015, Rz. 375–616. 2 Vgl. hierzu ausführlich Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714. 3 Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714. 4 BAG v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZA 2004, 93 = ZIP 2003, 2216; BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. 5 LAG Berlin v. 12.11.2004 – 2 Sa 1863/04, ZInsO 2005, 1061, Rz. 23.

Mückl | 859

26.81

§ 26 Rz. 26.81 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

eines Interessenausgleichs zu unternehmen1. Diese Verpflichtung entfällt nach der Rechtsprechung des BAG auch dann nicht, wenn die Stilllegung des Betriebs die unausweichliche Folge einer bestehenden wirtschaftlichen Zwangslage ist und es zu ihr keine sinnvolle Alternative gibt. Ein Insolvenzverwalter könne sich – so das BAG – im Rahmen eines eröffneten Insolvenzverfahrens nicht darauf berufen, der Versuch eines Interessenausgleichs sei ausnahmsweise entbehrlich2. Der auch der Beachtung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats dienende § 113 Abs. 3 BetrVG ist im Insolvenzverfahren ebenfalls anwendbar3. Dies zeigt bereits der Umkehrschluss aus § 122 Abs. 1 Satz 2 InsO, wo seine Anwendung nur unter bestimmten Voraussetzungen ausgeschlossen wird4. Das Gesetz beinhaltet allerdings in §§ 121 ff. InsO Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen (vgl. nachfolgend Rz. 26.83 ff.).

26.82

Die §§ 121 ff. InsO unterscheiden jedoch nicht danach, ob der Betriebsrat bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits bestand oder ob er erst danach gewählt wurde5. Die Wahl eines Betriebsrats ist nach Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht etwa ausgeschlossen6. Die betriebsverfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten eines erst während des Insolvenzverfahrens gewählten Betriebsrats im Rahmen der §§ 111 ff. BetrVG sind dementsprechend keine anderen als die eines bereits bestehenden Betriebsrats7. Die Interessen der Insolvenzgläubiger gebieten nach der Bewertung des BAG keine teleologische Reduktion der §§ 111 ff. BetrVG. Der Gesetzgeber habe den berechtigten Interessen der Insolvenzgläubiger bei Betriebsänderungen in der Insolvenz vielmehr mit den §§ 121 ff. InsO, insbesondere mit den dem Insolvenzverwalter durch § 122 InsO eröffneten Möglichkeiten, Rechnung getragen8.

1. Vermittlungsversuch 26.83

Der Insolvenzverwalter muss sich gemäß § 121 InsO nicht darauf einlassen, dass der Betriebsrat nach § 112 Abs. 2 Satz 1 BetrVG die Vermittlung des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit herbeiführt. Dessen Vermittlungsversuch findet nur dann statt, wenn der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat gemeinsam um die Vermittlung ersuchen. Eine praktisch relevante Erleichterung für den Insolvenzverwalter ist darin freilich kaum zu sehen. Ein Einlassungszwang bei dem Vermittlungsversuch des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit besteht auch außerhalb des Insolvenzverfahrens nicht9.

2. Gerichtliche Zustimmung zur Durchführung der Betriebsänderung ohne Interessenausgleichsverfahren 26.84

Die Insolvenzordnung stellt mit § 122 InsO dem Insolvenzverwalter ein Regelungsinstrument zur Verfügung, welches es ermöglicht, die Zustimmung des Arbeitsgerichts zur Durchführung einer Betriebsänderung ohne Interessenausgleichsverfahren herbeizuführen und dadurch das 1 2 3 4 5 6 7 8 9

BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 22.7.2003 – 1 AZR 541/02, NZA 2004, 93 = ZIP 2003, 2216; BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. BAG v. 18.11.2003 – 1 AZR 30/03, NZI 2004, 161 = ZIP 2004, 235. Vgl. Oetker/Schubert in Gemeinschaftskommentar zum BetrVG, 12. Aufl. 2022, §§ 112, 112a BetrVG Rz. 246 m.w.N.

860 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.86 § 26

Interessenausgleichsverfahren nach § 112 Abs. 2 und 3 BetrVG überflüssig zu machen. Die Durchführung des in §§ 111 ff. BetrVG vorgesehenen Verfahrens ist in der Praxis regelmäßig zeitraubend. Dadurch tut sich ein Spannungsverhältnis zu erfolgreichen Sanierungsbemühungen hervor, die oft schnelles Handeln voraussetzen. Versucht der Insolvenzverwalter in dieser Situation eine Betriebsänderung ohne Beteiligung des Betriebsrates umzusetzen, riskiert er nicht nur (nach der unzutreffenden Rechtsprechung mancher LAG) den Erlass einer Unterlassungsverfügung1, sondern auch das Entstehen von Nachteilsausgleichsansprüchen der Arbeitnehmer gemäß § 113 BetrVG, welche die Masse belasten und für die er ggf. selbst nach § 60 InsO haftet. Mit § 122 InsO hat der Gesetzgeber versucht, diese Spannung aufzulösen. Zweck der Regelung ist, etwaige Sanierungschancen nicht durch langwierige Interessenausgleichsverfahren zu beeinträchtigen2. Ihre praktische Bedeutung ist allerdings gering und das Urteil der Praxis fällt teilweise geradezu vernichtend aus3. Ausgangspunkt der Norm ist, dass der Insolvenzverwalter eine Betriebsänderung plant und ein Interessenausgleich nach § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG innerhalb von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder schriftlicher Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen nicht zustande gekommen ist, obwohl der Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet worden ist. Die Regelung knüpft an den Begriff der Betriebsänderung i.S. von § 111 BetrVG an.

26.85

Die Kriterien des § 111 BetrVG sind auch insoweit zugrunde zu legen, wie es darum geht festzustellen, ob der Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet worden ist. Ohne eine vollständige Unterrichtung läuft die Drei-Wochen-Frist des § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht. Das Arbeitsgericht kann ohne eine vollständige Unterrichtung des Betriebsrats dem Antrag des Insolvenzverwalters daher nicht stattgeben. Mit dem Erfordernis der rechtzeitigen und umfassenden Unterrichtung – das erhebliches Verzögerungspotential für den Betriebsrat birgt und deshalb zur praktischen Bedeutungslosigkeit von § 122 InsO maßgeblich beiträgt4 – knüpft § 122 InsO grundsätzlich an § 111 BetrVG an5. Wird dem Unterrichtungserfordernis vor Aufnahme der Verhandlungen (Rz. 26.87) nicht hinreichend Rechnung getragen, beginnt die Dreiwochenfrist erst mit der späteren vollständigen Information6. Soweit teilweise angenommen wird, dass den Betriebsrat nach dem Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit die Obliegenheit treffe, eine aus seiner Sicht unvollständige Unterrichtung unverzüglich zu rügen und die angeblich fehlenden Informationsgegenstände zu benennen – sonst könne der Insolvenzverwalter die Dreiwochenfrist des § 122 InsO in Gang setzen7 –, ist dies unter Effizienzgesichtspunkten zwar zu begrüßen, wird von Teilen der Rechtsprechung und Literatur aber abgelehnt8. Insoweit bleibt es also dabei, dass dem Verfahren nach § 122 InsO ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor anhaftet. Das gilt umso mehr, als an den Inhalt der Unter-

26.86

1 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 1 Rz. 83 m.w.N. 2 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 71, 153; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 392; Warrikoff, BB 1994, 2338, 2340. 3 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 245 m.w.N. 4 Vgl. z.B. die Entscheidung ArbG Gelsenkirchen v. 17.5.2006 – 2 BV 15/06. 5 ArbG Berlin v. 26.3.1998 – 5 BV 5735/98, DZWIR 1999, 242; ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/ 99, ZIP 1999, 1892. 6 ArbG Gelsenkirchen v. 17.5.2006 – 2 BV 15/06. 7 ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892; Oetker/Friese, DZWIR 2001, 133, 134. 8 Im Ergebnis ArbG Gelsenkirchen v. 17.5.2006 – 2 BV 15/06; vgl. zu den ablehnenden Literaturstimmen Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 251 m.w.N.

Mückl | 861

§ 26 Rz. 26.86 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

richtung teilweise instanzgerichtlich überspannte, mit der Rechtsprechung des BAG im Übrigen inkonsistente Anforderungen gestellt werden1.

26.87

Die Drei-Wochen-Frist des § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO beginnt mit Aufnahme der Verhandlungen zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat. Es mag im Einzelfall problematisch sein festzustellen, ob mit Verhandlungen begonnen worden ist. Ebenso kann nicht übersehen werden, dass der Beginn von Verhandlungen vom Betriebsrat abhängt. Das Gesetz sieht daher vor, dass der Lauf der Drei-Wochen-Frist – auch – mit der schriftlichen Aufforderung zur Aufnahme von Verhandlungen beginnt. Die Aufforderung bedarf der Schriftform i.S. des § 126 BGB. Der Lauf der Frist beginnt mit Zugang der schriftlichen Aufforderung.

26.88

Der Antrag des Insolvenzverwalters i.S. von § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO geht dahin, dass das Arbeitsgericht der Durchführung einer konkret bezeichneten Betriebsänderung zustimmt, ohne dass das Interessenausgleichsverfahren vorausgehen muss.

26.89

Das Arbeitsgericht weist den Antrag als unzulässig ab, wenn die Antragsvoraussetzungen fehlen oder der Antragsinhalt unzutreffend ist. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen allerdings erst im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen2. Die Information des Betriebsrats kann daher im Laufe des Verfahrens jedenfalls durch den schriftsätzlichen Vortrag erfolgen. Ebenso kann während des Verfahrens die Drei-Wochen-Frist des § 122 Abs. 1 Satz 1 InsO ablaufen3.

26.90

Das Arbeitsgericht erteilt nach § 122 Abs. 2 InsO die Zustimmung zur Durchführung der Betriebsänderung ohne das Interessenausgleichsverfahren, wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens auch unter Berücksichtigung der sozialen Belange der Arbeitnehmer dies erfordert. Das Arbeitsgericht hat in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die wirtschaftliche Lage des Unternehmens isoliert betrachtet die sofortige Durchführung der Betriebsänderung erforderlich macht. Wird dies bejaht, so ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Berücksichtigung der sozialen Belange der Arbeitnehmer die Durchführung des Interessenausgleichsverfahrens ausnahmsweise dennoch gebietet4. Das Arbeitsgericht entscheidet nicht darüber, ob die Betriebsänderung durchgeführt wird, sondern nur darüber, ob sie ohne die Durchführung des Einigungsstellenverfahrens erfolgen kann, also über die Frage des „Wann“5.

26.91

Die wirtschaftliche Lage des Unternehmens erfordert eine frühzeitige Betriebsänderung, wenn die Fortführung des Betriebs ohne Betriebsänderung bei Durchführung des Einigungsstellenverfahrens zu einer nicht unerheblichen Schmälerung der Masse führt. Eine derartige Eilbedürftigkeit besteht insbesondere dann, wenn die Gefahr einer Masseunzulänglichkeit oder der Einstellung des Verfahrens mangels kostendeckender Masse besteht6. 1 Näher Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 252 m.w.N. 2 Vgl. Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 6; allg. Becker-Eberhard in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, Vorbemerkung zu §§ 253 ff. ZPO Rz. 16. 3 Vgl. ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892; Moll, EWiR 1999, 1131. 4 Vgl. ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 122 InsO Rz. 38; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 401; Giesen, ZIP 1998, 142, 144; Rummel, DB 1997, 774, 775. 5 ArbG Berlin v. 21.12.2017 – 41 BV 13752/17. 6 Vgl. ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 413; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 122 InsO Rz. 45.

862 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.96 § 26

Die Abwägung des Arbeitsgerichts im Hinblick auf die sozialen Belange der Arbeitnehmer hat darauf abzustellen, ob es sich um soziale Belange handelt, die gerade für die Durchführung des Einigungsstellenverfahrens sprechen. Der Aspekt der zeitlichen Verzögerung und der damit verbundenen Hinausschiebung der Kündigungsendtermine genügt nicht1. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich sagen lässt, dass durch das Tätigwerden der Einigungsstelle im Interessenausgleichsverfahren sozialverträglichere Lösungen an Stelle der in Aussicht genommenen Betriebsänderung gefunden werden können2. Beispiele: (1) Es kann erwogen werden, einen ertragsstärkeren Teil einer Produktion fortzuführen. (2) Ein Übernehmer steht bereit.

26.92

Erklärt das Arbeitsgericht die vom Insolvenzverwalter beantragte Zustimmung, so kann dieser die Betriebsänderung ohne ein Einigungsstellenverfahren durchführen, ohne zum Nachteilsausgleich verpflichtet zu sein und ohne die Gefahr von Unterlassungsansprüchen des Betriebsrats befürchten zu müssen. Die Wirkungen des Beschlusses treten mit seiner Rechtskraft ein3. Die Rechtskraft tritt ein mit Ablauf der Rechtsmittelfrist oder Verwerfung des eingelegten Rechtsmittels als unzulässig oder Zurückweisung des Rechtsmittels als unbegründet. Eine Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde durch das Arbeitsgericht führt dazu, dass Rechtskraft mit Erlass der Entscheidung eintritt.

26.93

Das Verfahren unterliegt den Regelungen für das Beschlussverfahren gemäß §§ 83 ff. ArbGG (§ 122 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 InsO). Beteiligte sind gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 InsO der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat. Gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts findet keine Beschwerde an das Landesarbeitsgericht statt. Das Gesetz sieht lediglich eine Rechtsbeschwerde an das Bundesarbeitsgericht vor und das auch nur dann, wenn sie zugelassen wird (§ 122 Abs. 3 Satz 2 InsO). Die Zulassung richtet sich nach § 72 Abs. 2 ArbGG (§ 122 Abs. 3 Satz 2 InsO). Regelmäßig wird daher gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichts kein Rechtsmittel gegeben sein: Eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wird nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht vorgesehen, weil im Rahmen von § 122 Abs. 3 Satz 2 InsO weder auf § 92a ArbGG noch auf § 72a ArbGG verwiesen wird4. Die Rechtsbeschwerde muss gemäß § 122 Abs. 3 Satz 3 InsO innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses des Arbeitsgerichts beim Bundesarbeitsgericht eingelegt und auch begründet werden.

26.94

Der Insolvenzverwalter kann unabhängig von dem Verfahren nach § 122 InsO einen Interessenausgleich nach § 125 InsO zu Stande bringen oder eine Feststellung nach § 126 InsO beantragen (§ 122 Abs. 1 Satz 3 InsO). Kombinationen und Reihenfolge dieser Möglichkeiten liegen im Ermessen des Insolvenzverwalters.

26.95

3. Interessenausgleich mit Namensliste a) Überblick Die in den §§ 121 f., § 126 InsO geschaffenen Möglichkeiten, eine Betriebsänderung im Insolvenzfall zügig durchzuführen, blieben praktisch weitestgehend bedeutungslos, wenn auch im Insolvenzfall mit einer Vielzahl an Kündigungsschutzklagen zu rechnen wäre. Denn da1 Vgl. ArbG Lingen v. 9.7.1999 – 2 BV 4/99, ZIP 1999, 1892; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 414; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 122 InsO Rz. 47. 2 Vgl. Löwisch, RdA 1997, 80, 85. 3 Vgl. Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 316. 4 BAG v. 14.8.2001 – 2 ABN 20/01, AP Nr. 44 zu § 72a ArbGG 1972.

Mückl | 863

26.96

§ 26 Rz. 26.96 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

durch würde nicht nur Masse aufgezehrt. Insbesondere im Fall einer übertragenden Sanierung (vgl. dazu arbeitsrechtlich unter Rz. 26.211 ff.) fände sich regelmäßig kein Erwerber, der zur Übernahme des zu sanierenden Betriebs bereit wäre, wenn er nicht übersehen kann, welche Arbeitsverhältnisse und Verpflichtungen gemäß § 613a BGB auf ihn übergehen. Ein prominentes Beispiel für das Scheitern von Veräußerungsbemühungen infolge einer Vielzahl an Kündigungsschutzverfahren bildet der Fall Schlecker. Hier hilft § 125 InsO – im Fall der übertragenden Sanierung unterstützt durch § 128 InsO –, der für den Fall eines Interessenausgleichs mit Namensliste erhebliche Kündigungserleichterungen vorsieht, die über die des § 1 Abs. 5 KSchG hinausgehen1. Dies gilt sowohl für Beendigungs- als auch für Änderungskündigungen, wie bereits der Wortlaut deutlich macht („Weiterbeschäftigung zu veränderten Arbeitsbedingungen“)2.

26.97

Der Insolvenzverwalter kann dementsprechend versuchen, mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste gemäß § 125 InsO zu vereinbaren. Der Gesetzgeber knüpft an diesen Interessenausgleich zwei Rechtsfolgen. Zum einen wird vermutet, dass dringende betriebliche Erfordernisse i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG bestehen (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO). Zum anderen wird die Überprüfung der Sozialauswahl auf drei Kriterien (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltspflichten) beschränkt und angeordnet, dass eine Überprüfung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit erfolgen kann, wobei die Sozialauswahl nicht grob fehlerhaft ist, „wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird.“ Der Personalstrukturgesichtspunkt stellt systematisch ein berechtigtes betriebliches Interesse i.S. von § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG dar. Der Gesetzgeber hat in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur eine bestehende Personalstruktur beibehalten, sondern auch eine bessere Personalstruktur angestrebt werden kann. Bei grenzüberschreitenden Insolvenzen i.S. der EuInsVO, bei denen deutsches Arbeitsrecht aufgrund der Regelung in Art. 10 EuInsVO anwendbar ist, ist § 125 InsO unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass auch ein Administrator, der in der vom englischen Insolvenzrecht vorgesehenen Weise für den Schuldner handelt, als Insolvenzverwalter i.S. des § 125 InsO anzusehen ist und daher einen Interessenausgleich mit Namensliste abschließen kann, der die Wirkungen des § 125 InsO nach sich zieht3.

26.98

Wird ein geplanter Personalabbau auf der Grundlage eines unternehmenseinheitlichen Konzepts durchgeführt und sind mehrere Betriebe davon betroffen, ist gemäß § 50 Abs. 1 BetrVG der Gesamtbetriebsrat für den Abschluss des Interessenausgleichs zuständig. In seine Zuständigkeit fällt dann auch die Vereinbarung einer Namensliste i.S. von § 1 Abs. 5 KSchG. Treffen die Betriebsparteien bei einer mehrere Betriebe erfassenden Personalabbaumaßnahme eine Auswahlentscheidung auch bezogen auf Arbeitnehmer, in deren Betrieb die Voraussetzungen einer Betriebsänderung nicht vorliegen, beeinträchtigt dies die mit der Namensliste verbundene Richtigkeitsgewähr nicht. Dies führt lediglich dazu, dass die in § 1 Abs. 5 Satz 1 und 2 KSchG vorgesehenen Rechtsfolgen für die diesen Betrieben zugehörigen Arbeitnehmer nicht eingreifen4.

1 Vgl. zu den Unterschieden zwischen beiden Normen z.B. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781; Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 1; Mückl/Krings, ZIP 2012, 106 ff. 2 Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 1; zu § 1 Abs. 5 KSchG ebenso BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, NZA 2008, 103. 3 Vgl. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 253/11, ZIP 2012, 2386 = BB 2013, 507. 4 Vgl. BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 386/11, NZA 2013, 333.

864 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.100 § 26

b) Zeitlicher Anwendungsbereich Wie das BAG in seinem Urteil vom 28.6.20121 zu Recht im Anschluss an die landesarbeitsgerichtliche Rechtsprechung2 und die h.M. in der Literatur3 sowie in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung zu § 113 InsO4 klargestellt hat, findet § 125 InsO vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens § 125 InsO keine unmittelbare Anwendung. Auch eine analoge Anwendung des § 125 InsO im Eröffnungsverfahren scheidet – wie das BAG zu Recht weiter klargestellt hat5 – aus6. Mit Blick auf den vom vorläufigen (starken) Insolvenzverwalter bzw. vom Schuldner mit Zustimmung des vorläufigen (schwachen) Insolvenzverwalters abgeschlossenen Interessenausgleich mit Namensliste bleibt für die Praxis lediglich die Frage offen, ob die Rechtswirkungen des § 125 InsO (zeitlich begrenzt) rückwirkend dadurch herbeigeführt werden können, dass der (endgültige) Insolvenzverwalter den Abschluss nach seiner Bestellung genehmigt, oder ob hierfür eine Zustimmung des Betriebsrats erforderlich ist. Ob der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschlossene Interessenausgleich mit Namensliste vom Insolvenzverwalter nach der Eröffnung genehmigt werden könnte und dann rückwirkend auf den Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung die Wirkungen des § 125 InsO entfalten könnte7, hat das BAG dahinstehen lassen8. Insoweit erscheine aber fraglich, ob bereits die Genehmigung allein des Insolvenzverwalters dem vor Insolvenzeröffnung vereinbarten Interessenausgleich mit Namensliste die Wirkungen des § 125 InsO verschaffen könnte9 oder ob zwar nicht der förmliche Neuabschluss des Interessenausgleichs10, aber doch wenigstens die Genehmigung des Interessenausgleichs auch durch das Betriebsratsgremium erforderlich wäre. Der Interessenausgleich sei kein zweiseitiger Vertrag, sondern eine kollektive Vereinbarung besonderer Art von nicht geklärter Rechtsqualität11.

26.99

Ungeachtet seiner rechtlichen Einordnung sei zu seinem wirksamen Abschluss jedenfalls die Einigung zwischen den Betriebsparteien erforderlich12. Soll der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vereinbarte Interessenausgleich durch eine Genehmigung nach Insolvenzeröffnung eine andere rechtliche Qualität mit weit(er)reichenden Folgen für die Überprüfungsmöglichkeit der auf seiner Grundlage erklärten Kündigungen erhalten, spricht nach der Bewertung des BAG viel dafür, dass dies eine Willenserklärung auch des Betriebsrats als zweiter Partei des Interessenausgleichs voraussetzt13. Hierzu tendiert der 6. Senat unter Hinweis auf die Genehmigung von wegen eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 BetrVG schwebend unwirksamen Betriebsvereinbarungen durch die Tarifvertragsparteien14.

26.100

1 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822. 2 LAG Hamm v. 22.5.2002 – 2 Sa 1560/01, NZA-RR 2003, 378. 3 Vgl. nur Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 1; ausführlich Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 107 f. m.w.N. 4 BAG v. 20.1.2005 – 2 AZR 134/04, BB 2005, 1685 = ZIP 2005, 1289. 5 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822. 6 Ausführlich bereits Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 108 m.w.N. zum damaligen Streitstand. 7 Ausführlich begründet durch Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 109 ff. 8 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822. 9 So bereits zutreffend Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 109 ff. 10 So aber sinngemäß LAG Hamm v. 7.7.2005 – 4 Sa 1548/04. 11 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822; BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, ZIP 2012, 1259. 12 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822; BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, ZIP 2012, 1259; vgl. zum Zustandekommen i.S. von § 125 InsO: BAG v. 18.1.2012 – 6 AZR 407/10, ZIP 2012, 1193 und unter Rz. 26.108 ff. 13 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822. 14 Vgl. dazu BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 573/01, BB 2003, 963.

Mückl | 865

§ 26 Rz. 26.101 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

26.101

Richtigerweise wird man demgegenüber vom Ausreichen einer auf den Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung zurückwirkenden Genehmigung des Verwalters ausgehen müssen1. Denn die Überlegung des BAG lässt aber nicht nur die – entgegengesetzt entschiedenen – Fälle der einseitigen Genehmigung eines Interessenausgleichs durch den Betriebsrat unberücksichtigt2, was wertungswidersprüchlich wirkt. Hinzu kommt, dass gerade der vom Senat angestellte Vergleich mit einer Genehmigung durch die Tarifvertragsparteien für die Genehmigung allein durch den Insolvenzverwalter spricht: Denn im Rahmen des § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG ist ebenfalls nur eine Genehmigung durch die bislang (unter Verstoß gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG) nicht beteiligten Tarifparteien erforderlich und nicht etwa eine Genehmigung auch durch eine der Parteien der Betriebsvereinbarung. Hintergrund hierfür ist, dass die Interessen der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaft gewahrt werden, die zwar nur ihre Mitglieder vertritt, aber die vom Betriebsrat für alle Arbeitnehmer ausgehandelte Regelung bestätigt. Von einer entsprechenden Interessenwahrung wird man aber im vorliegenden Zusammenhang auch dann ausgehen müssen, wenn man die Genehmigung durch den (endgültigen) Verwalter ausreichen lässt: Im Rahmen der Verhandlungen über einen vor Insolvenzeröffnung „nach § 125 InsO“ abgeschlossenen Interessenausgleich hat nämlich der Betriebsrat, der für alle Arbeitnehmer des Betriebs zuständig (und damit „näher dran“ als die Gewerkschaft) ist, deren Interessen bereits im Rahmen der Verhandlungen mit dem vorläufigen Verwalter gewahrt und dabei bewusst die Rechtsfolgen des § 125 InsO herbeiführen wollen. Diese Wirkungen trotz Genehmigung durch den Insolvenzverwalter (entgegen § 182 Abs. 2 BGB) von der wiederholenden Bestätigung des Betriebsrats abhängig zu machen, hieße daher nur, ihm Gelegenheit zur „Nachverhandlung“ zu geben. Das ließe aber die Interessen des Insolvenzverwalters, d.h. der übrigen Gläubiger, und der gemäß dem Interessenausgleich „nach § 125 InsO“ nicht von Kündigungen betroffenen Arbeitnehmer unberücksichtigt, brächte ggf. erhebliche Unruhe und Verzögerungen in erfolgversprechende Verhandlungen über eine „übertragende Sanierung“ (d.h. die „Rettung“ von bestehenden Arbeitsverhältnissen) und erscheint daher insgesamt nicht interessengerecht.

26.102

Folgt man dem nicht, bleiben als Rettungsmöglichkeiten3 – Unterzeichnung des Interessenausgleichs mit Namensliste vor der Insolvenzeröffnung durch den Betriebsrat und erst nach der Insolvenzeröffnung durch den Insolvenzverwalter oder – Vereinbarung mit dem Betriebsrat, dass ein vor Insolvenzeröffnung abgeschlossener Interessenausgleich nach § 1 Abs. 5 KSchG nach Insolvenzeröffnung i.S. des § 125 InsO ergänzt bzw. – Vereinbarung mit dem Betriebsrat, dass ein vor Insolvenzeröffnung abgeschlossener Interessenausgleich nach § 1 Abs. 5 KSchG nach Insolvenzeröffnung durch einen Interessenausgleich i.S. des § 125 InsO ersetzt wird.

1 Ausführlich Mückl/Krings, ZIP 2012, 106, 109 ff.; vgl. zum Folgenden bereits Mückl, BB 2012, 2570, 2571; a.A. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 17; Regh in NK-ArbR, 2016, § 125 InsO Rz. 2. 2 BAG v. 19.1.2005 – 7 ABR 24/04, Rz. 16, BAG v. 18.2.2003 – 1 ABR 17/02, DB 2003, 2290; LAG Düsseldorf v. 27.4.2018 – 10 TaBV 64/17, Rz. 43. 3 Vgl. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 486 m.w.N.

866 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.106 § 26

c) Tatbestandsvoraussetzungen § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO setzt voraus, dass eine Betriebsänderung i.S. von § 111 BetrVG geplant wird. Betriebliche Maßnahmen, die unterhalb der Schwelle der Betriebsänderung i.S. von § 111 BetrVG bleiben, eröffnen die Möglichkeit des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht1.

26.103

Arbeitgeber und Betriebsrat müssen einen Interessenausgleich abschließen. Es ist nicht möglich, ohne einen Interessenausgleich eine Namensliste aufzustellen2. Es handelt sich dabei um den Interessenausgleich i.S. des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG3. Einen Interessenausgleich „sui generis“ außerhalb von § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gibt es nicht4. Es mag Interessenausgleichsvereinbarungen mit unterschiedlichen Inhalten und Regelungen geben. Dies ändert nichts daran, dass es sich sämtlich um Bestimmungen handelt, die als Interessenausgleich auf der Grundlage und im Rahmen von § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vereinbart werden. Der Interessenausgleich muss die durchzuführende Betriebsänderung ausreichend beschreiben. Der Interessenausgleich ist nicht erzwingbar.

26.104

Der für die Anwendung des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO erforderliche Interessenausgleich zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm Arbeitnehmer „namentlich bezeichnet“ sind, „denen gekündigt werden soll“. Der Interessenausgleich muss die für die Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmer ausreichend individualisieren. Dies beinhaltet mindestens die Angabe des Vorund Nachnamens5. Weitere Individualisierungen sind Anschriften, Berufe, Eintrittsdaten, Geburtsdaten. Diese ergänzenden Angaben sind sinnvoll, wenn es darum geht, Verwechslungen namensgleicher Personen auszuschließen. Die Aufzählung der Arbeitnehmer muss ausdrücklich und positiv geschehen. Es genügt ausweislich des Gesetzeswortlauts nicht, eine „Negativliste“ aufzustellen, die besagt, dass alle Arbeitnehmer außer den genannten gekündigt werden6. Sinn und Zweck des Gesetzes sprechen ebenso für die Benennung der zu kündigenden Arbeitnehmer und gegen die – bloße – Angabe derjenigen, die von Kündigungen verschont bleiben.

26.105

Dem Interessenausgleich mit Namensliste muss zu entnehmen sein, ob es sich um eine Änderungs- oder eine Beendigungskündigung handelt. Die Regelung gilt für beide Kündigungsarten7. Dies ergibt sich daraus, dass das Gesetz die Oberbegriffe „gekündigt“ und „Kündigung“ gebraucht. Die Angaben zur Kündigung im Interessenausgleich mit Namensliste müssen bei einer Änderungskündigung erkennen lassen, was die zu ändernde Vertragsregelung ist und welche angestrebte Vertragsbedingung durch die Änderungskündigung angeboten wird; anderenfalls ist im Falle der Änderungskündigung nicht erkennbar, worin letztlich die Kündigungsmaßnahme besteht.

26.106

1 2 3 4

Vgl. LAG Düsseldorf v. 23.1.2003 – 11 (12) Sa 1057/02, DB 2003, 2292 = ZIP 2003, 817. S. aber demgegenüber Matthes, RdA 1999, 178. Vgl. Giesen, ZIP 1998, 46, 50; Lakies, RdA 1997, 145, 150; B. Preis, DB 1998, 1614, 1615. LAG Hamm v. 14.10.2004 – 4 Sa 1102/04, LAGE 2005, 182, 183; Oetker/Friese, DZWIR 2001, 177, 178; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 16; a.A. Schrader, NZA 1997, 70, 73; Warrikoff, BB 1994, 2338, 2341. 5 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 513 m.w.N. 6 BAG v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, AP Nr. 1 zu § 112 BetrVG 1972 Namensliste; BAG v. 6.12.2001 – 2 AZR 422/00, EzA § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 9; LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 8.3.2007 – 1 Sa 277/06; LAG Sachsen v. 12.7.2005 – 7 Sa 892/04; Hessisches LAG v. 1.11.1999 – 11 Sa 2735/98; a.A. Schiefer, DB 1998, 925, 927. 7 Vgl. BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, BB 2008, 224; BT-Drucks. 12/7302, S. 149, 172; Ascheid, RdA 1997, 333, 343; Schiefer/Worzalla, NZA 2004, 345, 352.

Mückl | 867

§ 26 Rz. 26.107 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

26.107

Der Interessenausgleich mit Namensliste muss nicht die Sozialauswahlerwägungen im Einzelnen aufnehmen, die der Auswahl der Arbeitnehmer zugrunde gelegen haben. Der Insolvenzverwalter hat im Kündigungsrechtsstreit allerdings seiner Darlegungslast nachzukommen. Dies gilt unabhängig davon, ob im Interessenausgleich mit Namensliste Sozialauswahlerwägungen niedergelegt sind oder nicht.

d) Zustandekommen 26.108

Der Gesetzgeber hat zugrunde gelegt, dass für das Zustandekommen des Interessenausgleichs mit Namensliste insgesamt die Regelungen in § 112 Abs. 1 bis 3 BetrVG gelten1. Unabhängig davon, wie das Interessenausgleichsverfahren durchgeführt wird, kommt es für § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO allein darauf an, ob letztlich ein Interessenausgleich zustande gekommen ist, der dem Schriftformerfordernis des § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG entspricht. § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG begründet ein Schriftformerfordernis i.S. von § 126 BGB. Die zu kündigenden Arbeitnehmer müssen „in einem Interessenausgleich ... bezeichnet“ sein. Dies bedeutet, dass das Schriftformerfordernis auch die Namensliste umfasst. Dem Schriftformerfordernis kann auf unterschiedliche Weise Rechnung getragen werden2, wenn die zu kündigenden Arbeitnehmer nicht schon innerhalb des Textes des Interessenausgleichs angegeben sind. Im letzteren Fall genügt die Unterzeichnung des Interessenausgleichs3.

26.109

Entscheidend ist, dass eine Gesamturkunde vorliegt, die insgesamt dem Schriftformerfordernis gerecht wird. Es muss erkennbar sein, dass es sich um ein zusammenhängendes Schriftstück handelt, auch wenn es aus mehreren Seiten besteht4. Soweit sie in einer Anlage enthalten ist, müssen beide eine einheitliche Urkunde bilden5. Sind beide nicht von vornherein körperlich verbunden, müssen beide unterzeichnet werden und aufeinander Bezug nehmen6. Mehrseitige Namenslisten müssen nicht auf jeder Seite unterzeichnet, aber paraphiert und am Ende unterzeichnet werden7. Ist die Namensliste nicht unterzeichnet, aber der Interessenausgleich, genügt es, wenn beide aufeinander Bezug nehmen und schon bei Unterzeichnung derart körperlich miteinander verbunden waren, dass eine Loslösung Gewaltanwendung (Lösen der Heftklammer) erfordert8. Sollen Kopien gefertigt werden, darf dies im letztgenannten Fall nicht mit einem Lösen der Heftklammer verbunden sein. Die Urkunde muss auch während des Kopiervorgangs erhalten bleiben, sonst geht die Gesamturkunde unwiederbringlich unter9.

26.110

Wird die Namensliste getrennt von dem Interessenausgleich erstellt, reicht es dafür aus, dass im Interessenausgleich auf die zu erstellende Namensliste verwiesen wird, die erstellte Na1 LAG Hamm v. 14.10.2004 – 4 Sa 1102/04, LAGE 2005, 182, 183; Oetker/Friese, DZWIR 2001, 177, 178; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 17. 2 Vgl. BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151, Rz. 20 = DB 2009, 1882. 3 BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151, Rz. 20 = DB 2009, 1882. 4 Vgl. BAG v. 7.5.1998 – 2 AZR 55/98, AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste = ZIP 1998, 1885. 5 BAG v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, NZA 2011, 114 = DB 2010, 2454; BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151 = DB 2009, 1882; BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 520/05, NZA 2007, 266 = ZIP 2006, 2328. 6 BAG v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, NZA 2011, 114 = DB 2010, 2454 = ZIP 2011, 539; BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, NZA 2010, 1352 = DB 2010, 2566. 7 BAG v. 21.2.2002 – 2 AZR 581/00, NZA 2002, 1360. 8 BAG v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, NZA 2011, 114 = DB 2010, 2454; BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151 = DB 2009, 1882; BAG v. 6.7.2006 – 2 AZR 520/05, NZA 2007, 266 = ZIP 2006, 2328. 9 LAG Hamm v. 6.7.2000 – 4 Sa 233/00, ZInsO 2001, 336.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.112 § 26

mensliste – ebenso wie zuvor der Interessenausgleich – von den Betriebsparteien unterschrieben worden ist und die Liste ihrerseits eindeutig auf den Interessenausgleich Bezug nimmt1. Soweit in der Rechtsprechung verlangt worden ist, dass die Liste der zu entlassenden Arbeitnehmer immer zu unterzeichnen sei2, stellt dies Anforderungen auf, die über das hinausgehen, was der Bundesgerichtshof für die Bestimmung der Einheit einer Urkunde zwecks Wahrung der Schriftform verlangt hat3. Eine zeitnah (11 Tage4, drei5 bzw. sechs Wochen6) nach Abschluss des Interessenausgleichs erstellte und unterzeichnete Namensliste genügt bei wechselseitiger textlicher Bezugnahme beider Dokumente aufeinander7. § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO bezieht sich nicht auf beliebige Kündigungen, sondern setzt einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen der Betriebsänderung, dem Interessenausgleich mit Namensliste und der Kündigung voraus. Die – betriebsbedingte – Kündigung muss sich konzeptionell, sachlich aus derjenigen Betriebsänderung ergeben, die von dem Interessenausgleich geregelt wird. Es ist weiterhin erforderlich, dass in zeitlicher Hinsicht der Interessenausgleich der Kündigung vorausgeht8. Der Gesetzeswortlaut geht davon aus, dass eine Betriebsänderung „geplant“ ist und im Hinblick darauf ein Interessenausgleich vereinbart wird, der die Arbeitnehmer benennt, denen „gekündigt werden soll“. Eine Nachholung des Interessenausgleichs mit Namensliste, nachdem Kündigungen ausgesprochen sind, ist angesichts dessen nicht möglich.

26.111

Das BAG hat eine Teil-Namensliste für den Fall gebilligt, dass sie für eine von mehreren Schritten, Stufen oder Wellen einer gestreckten Betriebsänderung aufgestellt worden ist9. Ob dies auch gilt, wenn die Liste nur Teile der Belegschaft betrifft, weil sich Arbeitgeber und Betriebsrat abschließend und endgültig nur über einen Teil der zu entlassenden Beschäftigten einigen, ist eine andere Frage. Sie ist teilweise zu Recht bejaht worden10. Der Wortlaut enthält keine Einschränkung. Sinn und Zweck stehen nicht entgegen. Man wird allerdings verlangen müssen, dass der erfasste Teil nach sachgerechten Kriterien bestimmt worden ist (Beispiel: Gruppe der am wenigsten schutzwürdigen Beschäftigten; Eingrenzung auf bestimmte Betriebsteile oder Funktionen). Das BAG lehnt eine derartige Teil-Namensliste gleichwohl tendenziell eher ab11. Das LAG Niedersachsen hat an der Möglichkeit der Teil-Namensliste gleichwohl für den Fall festgehalten, dass der davon erfasste Bereich ordentlich abgrenzbar ist, dass die Sozialauswahl nicht beeinflusst werden kann, und dieser Bereich darüber hinaus wesentlich größer ist12.

26.112

1 Vgl. BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234. 2 Vgl. ArbG Ludwigshafen v. 11.3.1997 – 1 Ca 3094/96, DB 1997, 1339; ArbG Hannover v. 23.7.1997 – 9 Ca 28/97, DB 1998, 208. 3 S. dazu BGH v. 24.9.1997 – XII ZR 234/95, NJW 1998, 58 = ZIP 1997, 2085. 4 BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, NZA 2010, 1352 = DB 2010, 2566. 5 BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, NZA 2008, 103. 6 BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, NZA 2009, 1151 = DB 2009, 1882. 7 BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234; BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, NZA 2010, 1352 = DB 2010, 2566; BAG v. 12.5.2010 – 2 AZR 551/08, NZA 2011, 114 = DB 2010, 2454 = ZIP 2011, 539. 8 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 35 m.w.N. 9 Vgl. BAG v. 22.1.2004 – 2 AZR 111/02, AP Nr. 1 zu § 112 BetrVG 1972 Namensliste; BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234. 10 Vgl. LAG Köln v. 22.2.2007 – 6 Sa 974/06; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 125 InsO Rz. 82; a.A. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 31 m.w.N. zum Streitstand. 11 Vgl. BAG v. 26.3.2009 – 2 AZR 296/07, AP Nr. 19 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste. 12 Vgl. LAG Niedersachsen v. 7.5.2015 – 5 Sa 1321/14.

Mückl | 869

§ 26 Rz. 26.113 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

e) Rechtsfolgen 26.113

§ 125 Abs. 1 Satz 1 InsO privilegiert den Interessenausgleich mit Namensliste in zweifacher Hinsicht. Nr. 1 sieht vor, dass das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG vermutet wird. Nr. 2 ordnet Erleichterungen im Hinblick auf die soziale Auswahl an. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Betriebsänderung und die Sozialauswahl aus dem Interessenausgleich oder dem Beklagtenvorbringen im Rechtsstreit ergeben müssen1.

26.114

aa) Die Vermutung des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse gilt für alle im Rahmen von § 1 Abs. 2 KSchG relevanten Gesichtspunkte und damit sowohl für den Wegfall der bisherigen als auch für das Fehlen einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit2. Die gesetzliche Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO ist eine solche i.S. von § 292 Satz 1 ZPO (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG)3. Die Aufstellung der Vermutung bewirkt, dass der Arbeitnehmer nunmehr den Hauptbeweis dahingehend zu führen hat, dass entgegen der Vermutung keine Tatsachen vorliegen, auf Grund derer die betriebsbedingte Kündigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO kann nur durch den Beweis des Gegenteils beseitigt werden4. Es genügt nicht, dass der Arbeitnehmer lediglich Tatsachen vorträgt, die die Vermutung erschüttern5. Der Arbeitnehmer muss darlegen und im Bestreitensfall beweisen, weshalb eine Beschäftigungsmöglichkeit trotz der Betriebsänderung vorhanden ist, wobei er seine Kenntnismöglichkeiten ausschöpfen muss6. Der Arbeitnehmer trägt abweichend von § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Beweislast dafür, dass die betriebsbedingte Kündigung nicht durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist7. Zweifel an der Betriebsbedingtheit gehen zu Lasten des Arbeitnehmers. Der Arbeitnehmer trägt – der Beweislast folgend – die uneingeschränkte und volle Darlegungslast. Die Vermutung der Betriebsbedingtheit (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO) ist nicht dadurch widerlegt, dass in dem Interessenausgleich ein Einsatz von Leiharbeitnehmern bis zur Grenze von 10 % der Belegschaft für einen Personalmehrbedarf aufgrund von Krankheits- und Urlaubszeiten gestattet ist8.

26.115

Die sich aus der Vermutungswirkung ergebende Beweis- und Darlegungslast ist im Kündigungsschutzprozess allein davon abhängig, dass der Tatbestand des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO vorliegt; das Gesetz knüpft die Rechtsfolge der Vermutung an die in § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO genannten Tatbestandsmerkmale an. Es ist – entgegen instanzgerichtlicher Entscheidungen9 – aus folgenden Gründen insbesondere nicht erforderlich, dass der Arbeitgeber die Betriebsbedingtheit der Kündigung im Kündigungsschutzprozess darlegt oder substantiiert zur Be1 Vgl. ArbG Mönchengladbach v. 23.7.2015 – 4 Ca 993/15, ZInsO 2015, 1928. 2 Vgl. BAG v. 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, AP Nr. 21 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste; B. Preis, DB 1998, 1614, 1616. 3 Vgl. Ascheid, RdA 1997, 333, 343; v. Hoyningen-Huene/Linck, DB 1997, 41, 45; Löwisch, NZA 1996, 1009, 1011; Moll, MDR 1997, 1038, 1039; Schiefer, DB 1998, 925, 927. 4 Vgl. BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, DB 2013, 880. 5 Vgl. LAG Hamm v. 6.7.2000 – 4 Sa 799/00. 6 Vgl. BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, DB 2013, 880. 7 Vgl. BAG v. 7.5.1998 – 2 AZR 536/97, DB 1998, 1768; LAG Köln v. 1.8.1997 – 11 Sa 355/97, DB 1997, 2181; LAG Düsseldorf v. 29.1.1998 – 5 (4) (3) Sa 1913/97, DB 1998, 1235; ArbG Kiel v. 5.9.1997 – 4 Ca 3376c/96, NZA-RR 1998, 67; ArbG Siegburg v. 17.7.1997 – 1 Ca 3510/96, MDR 1997, 1038; ArbG Wesel v. 28.5.1997 – 6 Ca 389/97, NZA-RR 1997, 341. 8 Vgl. BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, DB 2013, 180 = NZA-RR 2013, 68 = ZIP 2013, 184. 9 S. aber demgegenüber LAG Düsseldorf v. 4.3.1998 – 12 (17) Sa 2125/97, LAGE § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 3; ArbG Bonn v. 5.2.1997 – 2 Ca 3268/96, DB 1997, 1517; ArbG Senftenberg v. 5.2.1998 – 3 Ca 2923/97, NZA-RR 1998, 299.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.116 § 26

triebsbedingtheit der Kündigung vorträgt: Zum einen lässt die sich aus dem Gesetzeswortlaut ergebende Vermutungswirkung nicht zu, dass Interpretationen an § 292 Satz 1 ZPO (§ 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) vorbei entwickelt werden. Zum anderen hat das Gesetz in der Tat eine Beschränkung des Kündigungsschutzes beabsichtigt, wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt1. Schließlich ist der Arbeitnehmer durchaus nicht so chancenlos, wie dies teilweise angenommen wird. Die Vermutungswirkung setzt voraus, dass die folgenden Tatbestandsmerkmale vorliegen: Betriebsänderung, Abschluss eines Interessenausgleichs, Aufnahme des Arbeitnehmers in die einen Bestandteil des Interessenausgleichs bildende Namensliste, Kündigung des Arbeitnehmers auf Grund der Betriebsänderung gemäß Interessenausgleich2. Diese Ausgangstatsachen hat der Arbeitgeber darzulegen. Es ist schwerlich vorstellbar, dass der Arbeitnehmer nicht ausreichend Klarheit über die die Betriebsbedingtheit ausmachenden Sachverhalte hat, nachdem der Arbeitgeber den Inhalt der Betriebsänderung und die Kausalität der Betriebsänderung für die Kündigung vorgetragen hat3. Das Ausmaß der diesbezüglichen Konkretisierung und Substantiierung durch den Arbeitgeber ist entsprechend allgemeinen prozessualen Grundsätzen von der Einlassung des Arbeitnehmers abhängig4. Dem Arbeitnehmer können bei der Führung des Gegenbeweises gewisse Erleichterungen nach den Regeln der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zugutekommen5. Das entbindet ihn regelmäßig aber nicht von der Verpflichtung, zumindest greifbare Anhaltspunkte für einen fortbestehenden Beschäftigungsbedarf zu benennen6. Hat der Arbeitnehmer keinen Einblick in die Geschehensabläufe und ist ihm deshalb die Beweisführung erschwert, kann er auch solche Umstände unter Beweis stellen, die er auf Grund greifbarer Anhaltspunkte nur vermuten kann7. Der zur Führung des Gegenbeweises verpflichtete Arbeitnehmer muss die ihm zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten tatsächlich ausschöpfen und sich auf dieser Grundlage zu der vermuteten Betriebsbedingtheit der Kündigung erklären8. Eine sekundäre Behauptungslast des Arbeitgebers greift nur insoweit ein, wie dem Arbeitnehmer die erforderliche Kenntnismöglichkeit fehlt9. bb) Die soziale Auswahl kann nur im Hinblick auf die drei im Gesetz genannten Merkmale überprüft werden (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten). Dies gilt auch bei der Kündigung schwerbehinderter Menschen. Im Hinblick auf eine etwaige Sozialauswahl verschlechtert § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO die Rechtsposition dieser sogar, denn die Schwerbehinderung ist – anders als bei § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG – nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kein Kriterium bei der ohnehin eingeschränkten Nachprüfung der sozialen Auswahl10. Die Betriebsparteien können sich z.B. auch darauf beschränken, Unterhaltspflichten gegenüber Kindern zu berücksichtigen, die aus den Elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmalen (ELStAM) 1 Vgl. Bundesministerium der Justiz, Diskussionsentwurf. Gesetz zur Reform des Insolvenzrechts. Entwurf einer Insolvenzordnung (EInsO) und anderer Reformvorschriften, 1988, S. B 97; Bundesministerium der Justiz, Referentenentwurf. Gesetz zur Reform des Insolvenzrechts, 1998, S. 120; BT-Drucks. 12/2443, S. 71, 149. 2 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 38 m.w.N. 3 Vgl. Moll, MDR 1997, 1038, 1039. S. aber kritisch Richardi, NZA 1999, 617, 618. 4 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 38; B. Preis, DB 1998, 1614, 1618. 5 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 559 = DB 2013, 880. 6 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 559 = DB 2013, 880. 7 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 559 = DB 2013, 880. 8 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 559 = DB 2013, 880. 9 BAG v. 27.9.2012 – 2 AZR 516/11, NZA 2013, 559 = DB 2013, 880. 10 Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781, Rz. 22; BAG v. 16.5.2019 – 6 AZR 329/18, NZA 2019, 1198, Rz. 40 = ZIP 2019, 1877.

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26.116

§ 26 Rz. 26.116 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

hervorgehen1. Die Verpflichtung zum Familienunterhalt nach § 1360 BGB darf dagegen nicht völlig unberücksichtigt bleiben2. Entgegen einer teilweise in der Literatur vertretenen Auffassung können die Betriebsparteien nicht auf weitere Sozialkriterien abstellen, die mit den in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO genannten Merkmalen in keinem inneren Zusammenhang stehen3. In gewissem Umfang ist es jedoch zulässig, von einem der Auswahl zugrunde gelegten Punkteschema abzuweichen4. Davon abzugrenzen ist es, wenn die Betriebsparteien nur für einen einzigen Arbeitnehmer ein individuelles weiteres Sozialkriterium in den Insolvenzinteressenausgleich aufnehmen, um diesen Arbeitnehmer von der sozialen Auswahl auszunehmen5.

26.117

Die soziale Auswahl der in der Namensliste genannten Arbeitnehmer kann gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Dies gilt nach dem Gesetzeswortlaut ohne weiteres im Hinblick auf die Gewichtung der drei im Gesetz genannten Auswahlkriterien.

26.118

Die Sozialauswahl ist grob fehlerhaft, wenn eine evidente, ins Auge springende erhebliche Abweichung von den Grundsätzen des § 1 Abs. 3 KSchG vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt6. Dabei muss sich die getroffene Auswahl gerade mit Blick auf den klagenden Arbeitnehmer im Ergebnis als grob fehlerhaft erweisen. Nicht entscheidend ist, dass das gewählte Auswahlverfahren als solches Anlass zu Beanstandungen gibt7.

26.119

Die Begrenzung der arbeitsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit auf den Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit wirft die Frage auf, ob die Einschränkung der gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit nur auf den Auswahlvorgang anhand der im Gesetz genannten Sozialauswahlkriterien anwendbar ist oder ob alle Aspekte des Sozialauswahlvorgangs – Bestimmung der vergleichbaren Arbeitnehmer, Bestimmung der betriebswichtigen Arbeitnehmer, Auswahl anhand der drei im Gesetz genannten Kriterien – erfasst werden8. Das Bundesarbeitsgericht hat sich für eine Erstreckung des Maßstabs der groben Fehlerhaftigkeit auf den gesamten Sozialauswahlvorgang mit allen drei Prüfungsschritten entschieden9. Dies gilt auch im Hin1 Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 12. 2 BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, NZA 2012, 1090 = ZIP 2012, 1927; Oetker, EWiR 2012, 673, 674. 3 Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 12; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 52 m.w.N. zum Streitstand. 4 Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 12; Kiel in Ascheid/Preis/Schmidt, 6. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rz. 722; zu einer geringfügigen Abweichung von einer Auswahlrichtlinie BAG v. 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, NZA 2014, 46, Rz. 42 = DB 2014, 66 = ZIP 2013, 2476. 5 LAG Düsseldorf v. 6.7.2011 – 7 Sa 1578/10, BeckRS 2011, 76975; LAG Düsseldorf v. 5.10.2011 – 7 Sa 1677/10, BeckRS 2011, 79291 = ZIP 2012, 844; Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 12. 6 Vgl. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13, NZA 2015, 1122; LAG Rheinland-Pfalz v. 18.5.2020 – 3 Sa 429/19, BeckRS 2020, 27334. 7 Vgl. BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234. 8 S. zur Diskussion etwa Ascheid, RdA 1997, 333, 343; Giesen, ZfA 1997, 145, 174; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 285; Moll, MDR 1997, 1038, 1039; Neef, NZA 1997, 65, 69; U. Preis, NJW 1996, 3369, 3372; Schiefer, DB 1997, 1518, 1520; Stahlhacke/Preis, WiB 1996, 1025, 1032; Zwanziger, Das Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, 5. Aufl. 2015, § 125 InsO Rz. 64 ff. 9 Vgl. BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, DB 2010, 2566; BAG v. 10.6.2010 – 2 AZR 420/09, NZA 2010, 1352 = DB 2010, 2566; BAG v. 7.5.1998 – 2 AZR 536/97, DB 1998, 1768; BAG v. 12.4.2002 – 2 AZR 706/00, DB 2002, 2277; BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, DB 2004, 604 = ZIP 2004, 1271; BAG v. 21.7.2005 – 6 AZR 592/04, DB 2006, 400; BAG v. 21.9.2006 – 2 AZR 760/05, DB 2007, 1141; BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, BB 2008, 224. So auch bereits LAG Köln v. 1.8.1997 – 11

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.121 § 26

blick auf die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse zur Bestimmung der für die Sozialauswahl maßgeblichen betrieblichen Organisationseinheit: Den Betriebsparteien ist auch insoweit bei der Beurteilung ein weiter Spielraum eingeräumt, der nur auf grobe Fehlerhaftigkeit zu überprüfen ist1. Die Einschätzungsprärogative der Betriebsparteien besteht beispielsweise ebenso bezüglich des auswahlrelevanten Personenkreises hinsichtlich der tatsächlichen Austauschbarkeit und der zumutbaren Dauer der Einarbeitungszeit. Eine Beschränkung der Vergleichbarkeit auf solche Arbeitnehmer, die ohne jegliche Einarbeitungszeit sofort austauschbar sind, hat das Bundesarbeitsgericht in der Regel als grob fehlerhaft angesehen2. Grobe Fehlerhaftigkeit liegt bei einem ins Auge springenden, schweren Fehler vor, etwa, wenn ein soziales Grunddatum überhaupt nicht beachtet oder in seinem Gewicht grob vernachlässigt worden ist, d.h. eines der drei Sozialdaten überhaupt nicht berücksichtigt oder ihm ein völlig ungenügendes Gewicht oder eine überhöhte Bewertung beigemessen worden bzw. die Gewichtung der Sozialkriterien jede Ausgewogenheit vermissen lässt3. Der Auswahl der Betriebspartner kommt eine erhebliche Präferenz zu4. Eine Sozialauswahl, der eine Verkennung des Betriebsbegriffs zugrunde liegt, ist nicht stets als grob fehlerhaft anzusehen. Die Sozialauswahl ist vielmehr nur dann grob fehlerhaft, wenn im Interessenausgleich der Betriebsbegriff selbst grob verkannt worden ist, seine Fehlerhaftigkeit also „ins Auge springt“. Auch bei Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste in der Insolvenz nach § 125 InsO können die Betriebsparteien den Kreis der in die Sozialauswahl einzubeziehenden Arbeitnehmer über die Definition des Betriebsbegriffs im Interessenausgleich nicht enger oder weiter ziehen, als es das Kündigungsschutzgesetz in seiner Auslegung durch das Bundesarbeitsgericht zulässt. Die gesetzlichen Grundbedingungen der Sozialauswahl stehen nicht zur Disposition der Betriebspartner5.

26.120

Die Erhaltung oder Schaffung (!) einer ausgewogenen Personalstruktur ist bei der Prüfung der Sozialauswahl anzuerkennen, d.h. die Sozialauswahl kann nicht deshalb als grob fehlerhaft angesehen werden, weil diesem Personalstrukturgesichtspunkt Rechnung getragen worden ist. Personalstruktur ist nicht auf Altersstruktur beschränkt6. Soweit es um die Erhaltung („Sicherung“ in § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG) einer ausgewogenen Personalstruktur geht, muss die kon-

26.121

1 2 3

4 5 6

Sa 355/97, DB 1997, 2181; ArbG Kiel v. 5.9.1997 – 4 Ca 3376c/96, NZA-RR 1998, 67; ArbG Siegburg v. 17.7.1997 – 1 Ca 3510/96, MDR 1997, 1038. Anders demgegenüber LAG Düsseldorf v. 4.3.1998 – 12 (17) Sa 2125/97, LAGE § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 3; LAG Düsseldorf v. 24.3.1998 – 3 Sa 1926/97, LAGE § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 6; ArbG Bonn v. 5.2.1997 – 2 Ca 3268/96, DB 1997, 1517. Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781 = ZIP 2014, 536. Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, DB 2014, 781 = ZIP 2014, 536. Vgl. BAG v. 21.1.1999 – 2 AZR 624/98, DB 1999, 1862 = EWiR 2000, 245 (Grimm) = ZIP 1999, 2111; BAG v. 2.12.1999 – 2 AZR 757/98, DB 2000, 1338 = ZIP 2000, 676; BAG v. 21.7.2005 – 6 AZR 592/04, NZA 2006, 162, 165 = ZIP 2006, 199; BAG v. 17.1.2008 – 2 AZR 405/06, DB 2008, 1688; BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13, NZA 2015, 1122; LAG Rheinland-Pfalz v. 18.5.2020 – 3 Sa 429/19, BeckRS 2020, 27334; LAG Düsseldorf v. 29.1.1998 – 5 (4) (3) Sa 1913/97, DB 1998, 1235; Hessisches LAG v. 24.6.1999 – 3 Sa 1278/98, DB 1999, 2575; LAG Hamm v. 6.7.2000 – 799/ 00, ZInsO 2000, 569 (Ehemänner nicht berücksichtigt als Unterhaltsberechtigte: Nachtragen der Punkte). Beispielskataloge für das Bestehen bzw. Nichtbestehen einer groben Fehlerhaftigkeit z.B. bei Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 538 f. m.w.N. Vgl. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 483/11, NZA 2013, 94 = ZIP 2013, 284. Vgl. BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 368/02, DB 2004, 604 = ZIP 2004, 1271.

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§ 26 Rz. 26.121 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

krete Altersgruppenbildung dazu geeignet sein. Sind mehrere Gruppen vergleichbarer Arbeitnehmer von den Entlassungen betroffen, ist dies nur der Fall, wenn auch innerhalb der jeweiligen Vergleichsgruppe eine proportionale Berücksichtigung der Altersgruppen an den Entlassungen möglich ist1. Die durch § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO im Insolvenzverfahren eröffnete Möglichkeit der Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur durch Bildung von Arbeitsgruppen stellt keinen Verstoß gegen das Verbot der Altersdiskriminierung dar2. Es handelt sich um ein legitimes Ziel aus dem Bereich der Sozialpolitik, wenn die Sozialauswahl nach Altersgruppen dazu dienen soll, den Betrieb aus der Insolvenz heraus zu sanieren und ggf. verkaufsfähig zu machen3. Damit wird nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit des Schuldners verbessert. Soweit durch eine Sanierung aus der Insolvenz heraus – auch nur vorübergehend – Arbeitsplätze erhalten werden, dient das nicht nur dem Interesse des AG, sondern auch dem der Gesamtbelegschaft und der Allgemeinheit4. Die Arbeitsgerichte haben aber zu prüfen, ob die Altersgruppenbildung im konkreten Interessenausgleich gemäß § 10 AGG gerechtfertigt ist5.

26.122

Es kann insbesondere eine auf Altersgruppen bezogene Sozialauswahl im Rahmen der vergleichbaren Arbeitnehmer (Berufsgruppen) stattfinden6.

26.123

Der Arbeitgeber kann zur Erhaltung einer bestimmten Personalstruktur innerhalb des in Betracht kommenden Personenkreises abstrakte Gruppen mit unterschiedlichen Strukturmerkmalen bilden und für jede Gruppe eine dem Belegschaftsanteil entsprechende Prozentzahl an Kündigungen vorsehen. Innerhalb der Gruppen ist dann die Sozialauswahl vorzunehmen. Die Altersgruppen werden anteilsmäßig, prozentual mit dem Abbau von Arbeitskräften belastet. Die Kündigungen sind proportional auf die Altersgruppen zu verteilen7. Die Verteilung kann (auch) anders gewichtet werden, wenn eine Strukturverbesserung beabsichtigt ist. Die Erhaltung einer ausgewogenen Altersstruktur bedeutet, dass das Verhältnis der älteren zu den jüngeren Mitarbeitern in etwa gleich bleibt.

26.124

Beispiele für Altersgruppen: Fünf Altersgruppen (bis 30 Jahre, bis 40 Jahre, bis 50 Jahre, bis 60 Jahre, über 60 Jahre8; bis 25 Jahre, bis 35 Jahre, bis 45 Jahre, bis 55 Jahre, älter als 55 Jahre9). Drei Altersgruppen (bis 40 Jahre, bis 50 Jahre, über 50 Jahre10; 30–40 Jahre, 41–50 Jahre, 51–60 Jahre11). Andere bekannte Altersgruppenbildungen sind etwa: bis 20 Jahre, bis 30 Jahre, bis 40 Jahre, bis 50 Jahre, bis 57 Jahre, über 57 Jahre12; 18–25 Jahre, 26–30 Jahre, 31–35 Jahre, 1 2 3 4 5 6

7 8 9 10 11 12

Vgl. BAG v. 19.7.2012 – 2 AZR 352/11, DB 2013, 182 = NZA 2013, 86 = ZIP 2013, 234. Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, EzA § 125 InsO Nr. 12 = ZIP 2014, 536. Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 15b. Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 15b; Mujan, BB 2014, 960. Vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, EzA § 125 InsO Nr. 12 = ZIP 2014, 536. S. dazu LAG Düsseldorf v. 17.3.2000 – 9 (6) Sa 84/00, DB 2000, 1572 = NZA-RR 2000, 421; LAG Hamm v. 5.6.2003 – 4 (16) Sa 1976/02, ZInsO 2003, 1060; Hessisches LAG v. 24.6.1999 – 3 Sa 1278/98, DB 1999, 2575; Ascheid, RdA 1997, 333, 338; Berscheid, Anwaltsblatt 1995, 8, 14; Küttner in FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 409, 419 ff. Vgl. BAG v. 26.3.2015 – 2 AZR 478/13, BB 2015, 1341. Vgl. Sächsisches LAG v. 5.1.2005 – 2 Sa 674/04, LAGE § 1 KSchG Soziale Auswahl Nr. 48; Bauer, NZA 2004, Sonderbeilage zu Heft 18, S. 38, 43. Vgl. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, DB 2009, 626 = ZIP 2009, 1339. Vgl. Hessisches LAG v. 24.6.1999 – 3 Sa 1278/98, NZA-RR 2000, 74. S. auch Küttner in FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 409, 421. Vgl. BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 387/06, NZA 2008, 405. Vgl. BAG v. 23.11.2000 – 2 AZR 533/99, AP Nr. 114 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.128 § 26

36–40 Jahre, 41–45 Jahre, 46–50 Jahre, 51–55 Jahre, älter als 55 Jahre1; bis 29 Jahre, 30–39 Jahre, 40–49 Jahre, 50–59 Jahre, ab 60 Jahre2. Das Verbot der Altersdiskriminierung steht der Altersgruppenbildung nicht entgegen; diese ist nach § 10 Sätze 1 und 2 AGG gerechtfertigt3. Dem Arbeitgeber bzw. den Betriebsparteien steht bei der Gruppenbildung und der Strukturentscheidung ein Beurteilungsspielraum zu, der nur darauf überprüfbar ist, ob die Gruppenbildung nach unsachlichen Gesichtspunkten erfolgte und nicht zielgerichtet zur Kündigung einzelner unliebsamer Arbeitnehmer vorgenommen wurde4. Der Personalstrukturaspekt gestattet dementsprechend nicht jede denkbare Gestaltung5. Der Begriff Personalstruktur ist nicht mit dem der Altersstruktur gleichzusetzen6, spielt hier aber zumeist eine Rolle. Bei der Bildung von Altersgruppen wird eine bestimmte Staffelung durch das Gesetz nicht vorgeschrieben.

26.125

§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO ändert an der Beweislast nichts. Es bleibt bei den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast im Zusammenhang mit der Sozialauswahl7. Die Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf grobe Fehlerhaftigkeit besagt über die Beweislast und die dieser folgenden Darlegungslast nichts, ebenso wie umgekehrt die Vermutungsregelung in § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO allein prozessualer Natur ist und den materiell-rechtlichen Tatbestand der Betriebsbedingtheit des § 1 Abs. 2 KSchG nicht berührt. Die Darlegungslast für die Sozialauswahl liegt zunächst beim Arbeitnehmer. Sie geht auf den Arbeitgeber über, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, substantiiert zu der getroffenen Sozialauswahl Stellung zu nehmen und entsprechende Auskunft vom Arbeitgeber verlangt. Die Darlegungslast geht wieder auf den Arbeitnehmer über, wenn der Arbeitgeber Angaben darüber gemacht hat, welche Arbeitnehmer er in die Sozialauswahl einbezogen hat, welche Umstände er berücksichtigt hat und welche Maßstäbe er seinen Abwägungen zugrunde gelegt hat. Der Arbeitnehmer muss nunmehr darlegen, welche Arbeitnehmer statt seiner Adressaten der Kündigung sein mögen.

26.126

f) Änderung der Sachlage Die Vermutung der Betriebsbedingtheit und die Beschränkung des Überprüfungsmaßstabs bei der Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit gelten nicht, soweit sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat (§ 125 Abs. 1 Satz 2 InsO).

26.127

Die an eine Änderung der Sachlage zu stellenden Anforderungen werden verbreitet als eine mit der Geschäftsgrundlage vergleichbare Konstellation beschrieben8. „Wesentlich“ ist die

26.128

1 Vgl. LAG Düsseldorf v. 17.3.2000 – 9 (6) Sa 84/00, NZA-RR 2000, 421. S. auch Küttner in FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 409, 420. 2 Vgl. BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, NZA 2008, 103. 3 Vgl. BAG v. 19.6.2007 – 2 AZR 304/06, NZA 2008, 103; BAG v. 6.9.2007 – 2 AZR 387/06, NZA 2008, 405; BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, DB 2009, 626 = ZIP 2009, 1339. 4 Vgl. LAG Hamm v. 5.6.2003 – 4 (16) Sa 1876/02, NZA-RR 2004, 132. 5 Zu Grenzen vgl. z.B. Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 125 InsO Rz. 16. 6 BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, NZA-RR 2014, 185 = ZIP 2014, 536. 7 S. dazu etwa BAG v. 13.7.2006 – 6 AZR 198/06, AP Nr. 22 zu § 17 KSchG 1969; BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, ZIP 2007, 595; BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 107/05, ZIP 2006, 774; BAG v. 21.7.1988 – 2 AZR 75/88, DB 1989, 485. 8 Vgl. BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, ZIP 2013, 184; BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822; LAG Köln v. 1.8.1997 – 11 Sa 355/97, DB 1997, 2181; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 84 m.w.N. zum Streitstand.

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§ 26 Rz. 26.128 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Änderung der Sachlage dann, wenn nicht ernsthaft bezweifelt werden kann, dass beide Betriebsparteien oder eine von ihnen den Interessenausgleich in Kenntnis der späteren Änderung nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten1. Typische Fälle sind etwa2: Eine geplante Betriebsstilllegung wird nicht durchgeführt, nachdem ein Erwerber den Betrieb übernimmt; die betriebliche Planung wird grundlegend geändert, was dazu führt, dass entweder keine oder wesentlich weniger Mitarbeiter als ursprünglich geplant entlassen werden3. Änderungen in Einzelfällen können demgegenüber nicht als eine wesentliche Änderung der Sachlage angesehen werden4. Ein Arbeitnehmer kann allerdings möglicherweise eine Änderung von Einzelfallumständen als Ansatzpunkt für eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung der Betriebsbedingtheit heranziehen. Eine „Rangfolge“ unter den in der Namensliste enthaltenen Arbeitnehmern gibt es nicht. Es erscheint auch fraglich, ob derartige Rangfolgen mit Tabellenplätzen in dem Interessenausgleich aufgestellt werden können5. Die Vermutungswirkungen des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO bleiben erhalten, solange keine wesentliche Änderung der Sachlage eingetreten ist. Das Ausscheiden einzelner Arbeitnehmer und damit eine Änderung in Einzelfällen berührt die Vermutung bei keinem der in der Namensliste enthaltenen Arbeitnehmer6. Es ist angesichts dessen weder notwendig noch zweckmäßig, eine Rangfolge der zu entlassenden Arbeitnehmer mit Tabellenplätzen in dem Interessenausgleich aufzustellen. Es mag, wenn die Betriebsparteien sich einer derartigen Prozedur unterziehen, möglich sein, dass vorsorgliche Regelungen für den Fall sich ändernder Einzelner oder auch grundlegender Umstände getroffen werden. Angesichts der Komplexität künftiger Entwicklungen und kündigungsbezogener Entscheidungen wird dies allerdings eher eine Ausnahme sein (können).

26.129

Die Änderung der Sachlage muss nach dem Zustandekommen des Interessenausgleichs eingetreten sein. Es muss sich zudem um eine Änderung handeln, die bis zum Ausspruch der Kündigung eingetreten ist7. Eine Anwendung des Änderungsvorbehalts auch noch nach Ausspruch der Kündigung würde § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO gerade in besonders wichtigen Fällen gegenstandslos machen. Der Gesetzeszweck der Beschleunigung und Vereinfachung würde vereitelt. Es würde insbesondere verhindert, dass Fortsetzung oder Veräußerung von Betrieben nicht auf Grund der allgemeinen kündigungsrechtlichen Probleme erschwert werden. Die problematischen und schwierigen Situationen sind oftmals diejenigen, in denen nach dem Ausspruch von Kündigungen ein Erwerber gefunden wird und es dann darum geht zu entscheiden, ob im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung ein für die Kündigung ausreichender Stilllegungsentschluss vorgelegen hat oder ob die Kündigung wegen des Be1 Vgl. BAG v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, ZIP 2013, 184; BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822; LAG Hamm v. 25.11.2004 – 4 Sa 1120/63, LAGE § 125 InsO Nr. 5. 2 Weitere (positive wie negative) Beispiele z.B. bei Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 561 f. m.w.N. 3 Vgl. LAG Köln v. 1.8.1997 – 11 Sa 355/97, DB 1998, 2183; LAG Schleswig-Holstein v. 22.4.1998 – 2 Sa 556/97, LAGE § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 5; LAG Hamm v. 17.12.2008 – 2 Sa 1020/ 08, LAGE Nr. 13a zu § 1 KSchG Interessenausgleich; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, 92. EL 2022, § 125 InsO Rz. 84. 4 Vgl. U. Preis, DB 1998, 1614, 1617. 5 So aber Giesen, ZIP 1998, 46, 49; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 366. 6 BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, AP Nr. 97 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; LAG BerlinBrandenburg v. 13.4.2007 – 13 Sa 2208/06, LAGE Nr. 54 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl. 7 Vgl. BAG v. 23.10.2008 – 2 AZR 163/07, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste; BAG v. 12.3.2009 – 2 AZR 418/07, AP Nr. 97 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; LAG Hamm v. 23.3.2000 – 4 Sa 1554/99; Hessisches LAG v. 16.3.2000 – 14 Sa 1790/98; LAG Köln v. 13.10.2004 – 7 (5) Sa 273/04, ZIP 2005, 1090.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.132 § 26

triebsübergangs erfolgt ist1. In diesen Fällen besteht jedenfalls in der Insolvenz nach der zutreffenden Rechtsprechung des BAG auch kein Wiedereinstellungsanspruch. Das gilt nicht nur bei wirksamer Kündigung des Insolvenzverwalters in der Insolvenz des Betriebsveräußerers, sondern auch bei wirksamer Kündigung durch den später insolventen Schuldner als Veräußerer sowie in der Konstellation der wirksamen Kündigung des Veräußerers bei späterer Insolvenz des Erwerbers2.

g) Massenentlassung § 125 Abs. 2 InsO enthält eine Erleichterung für den Fall anzeigepflichtiger Massenentlassungen3. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG sieht bei anzeigepflichtigen Massenentlassungen vor, dass die Anzeige unter Beifügung einer Stellungnahme des Betriebsrats vorzunehmen ist. Dies ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die Anzeige4. Der Arbeitgeber kann auf Grund § 125 Abs. 2 InsO seiner Pflicht nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG dadurch Genüge tun, dass er den Interessenausgleich mit Namensliste der Anzeige beifügt und der Agentur für Arbeit übermittelt5. Ein Interessenausgleich mit Namensliste ersetzt die Stellungnahme des Betriebsrats nach diesen Vorschriften selbst dann, wenn er keine Bekundungen des Betriebsrats zu den von § 17 Abs. 2 KSchG vorgeschriebenen Beratungen mit dem Arbeitgeber enthält6.

26.130

Das Beteiligungsverfahren nach § 17 KSchG kann wiederum mit den Interessenausgleichsund Sozialplanverhandlungen verbunden werden. Erforderlich ist nur eine Klarstellung des Insolvenzverwalters zu Beginn der Verhandlungen, dass beide Verfahren miteinander verbunden werden sollen7. Auch insoweit sollte nach Durchführung ergänzend eine explizite Klarstellung über die gemeinsame Durchführung der Verfahren im Interessenausgleich erfolgen, um dies für Dritte (insbesondere die Arbeitsgerichte zu dokumentieren)8. Nach der Bewertung des LAG Berlin-Brandenburg9 sind allerdings Verhandlungen in der Einigungsstelle gemäß § 111 Satz 1 BetrVG keine Beratungen im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG. Das BAG hat diese Frage offen gelassen10.

26.131

h) Betriebsratsanhörung/Beteiligung bei Versetzungen Die Aufstellung eines Interessenausgleichs mit Namensliste lässt das Anhörungserfordernis nach § 102 Abs. 1 BetrVG unberührt11. Die Betriebsratsanhörung wird allerdings bei prak1 S. dazu etwa BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, AP Nr. 74 zu § 613a BGB = ZIP 1989, 326; BAG v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, AP Nr. 81 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 1997, 122. 2 BAG v. 25.5.2022 – 6 AZR 224/21, Rz. 34 – juris m.w.N.; im Zusammenhang mit § 125 InsO a.A. z.B. Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 125 InsO Rz. 68. 3 Zu den aktuellen Entwicklungen im Massenentlassungsrecht vgl. Mückl/Wittek, BB 2020, 1332 ff. 4 Vgl. Moll in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 17 KSchG Rz. 111 m.w.N. 5 Vgl. Moll in Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 17 KSchG Rz. 112. 6 BAG v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, NZA 2012, 1058 = ZIP 2012, 1259. 7 BAG v. 26.2.2015 – 2 AZR 955/13, NZA 2015, 881 = ZIP 2015, 1307; BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, ZInsO 2017, 332 Rz. 34 = ZIP 2017, 193. 8 Formulierungsvorschläge finden sich z.B. bei Regh in Beck'sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 6 Rz. 86 und Moll/Katerndahl, RdA 2013, 159, 164 f. 9 LAG Berlin-Brandenburg v. 9.12.2015 – 15 Sa 1512/15, ZIP 2016, 286. 10 BAG v. 22.9.2016 – 2 AZR 276/16, ZInsO 2017, 332 Rz. 34 = ZIP 2017, 193. 11 Vgl. BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822; BAG v. 28.8.2003 – 2 AZR 377/02, AP Nr. 134 zu § 102 BetrVG 1972; BAG v. 20.5.1999 – 2 AZR 532/99, DB 2000, 149;

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26.132

§ 26 Rz. 26.132 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

tisch sinnvollem Vorgehen, wenn sie nicht sogar in dem Interessenausgleich ausdrücklich vorgenommen wird, tatsächlich mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich mit Namensliste zusammenfallen und auf diesen Bezug nehmen1. Die Anhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG kann im Zuge der Verhandlungen über den Interessenausgleich vorgenommen oder in den Interessenausgleich aufgenommen werden2. Den praktischen Bedürfnissen ist damit Rechnung getragen. Der Sinn und Zweck von § 102 Abs. 1 BetrVG ist gleichzeitig uneingeschränkt gewahrt. Gleiches gilt für das (bei Änderungskündigungen ggf. erforderliche) Verfahren nach § 99 BetrVG3. Der Insolvenzverwalter muss dann lediglich deutlich machen, dass und welche Verfahren er parallel durchführen möchte4. Die Praxis sollte im Interessenausgleich selbst klarstellen, dass und welche Verfahren tatsächlich durchgeführt worden sind5.

i) Zustimmung des Integrationsamts 26.133

Ein Interessenausgleich mit Namensliste i.S. des § 125 InsO bewirkt nach § 172 Abs. 3 SGB IX auch Erleichterungen bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen schwerbehinderter Mitarbeiter, denen das zuständige Integrationsamt vor Ausspruch der Kündigung zustimmen muss. Das Zustimmungserfordernis ergibt sich aus § 168 SGB IX. Die Zustimmung steht grds. im Ermessen des Integrationsamts. Dabei muss – so das VG Stuttgart in seinem Urteil vom 4.3.20136 – allerdings der Zweck des § 168 SGB IX beachtet werden, der dahin gehe, die Schwerbehinderten vor den besonderen Gefahren, denen sie wegen der Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, zu bewahren und sicherzustellen, dass sie gegenüber den gesunden Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen geraten. Dieser Aspekt habe auch die Leitlinie bei der Ermessensentscheidung zu sein, ob der Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten zuzustimmen ist. Das Ermessen ist bei Insolvenz des Arbeitgebers allerdings eingeschränkt. In diesem Fall gilt gemäß § 172 Abs. 3 SGB IX, dass das Integrationsamt die Zustimmung erteilen soll, wenn – der schwerbehinderte Mensch in einem Interessenausgleich namentlich als einer der zu entlassenden Arbeitnehmer bezeichnet ist (§ 125 InsO), – die Schwerbehindertenvertretung beim Zustandekommen des Interessenausgleichs gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX beteiligt worden ist,

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3 4 5

6

LAG Düsseldorf v. 9.10.1997 – 13 Sa 996/97; LAG Düsseldorf v. 24.3.1998 – 3 Sa 1926/97, LAGE § 1 KSchG Interessenausgleich Nr. 6; LAG Düsseldorf v. 21.4.1998 – 3 (11) (18) Sa 1968/97, LAGE § 102 BetrVG Nr. 69; LAG Hamm v. 7.2.2001 – 2 Sa 200/00, ZInsO 2001, 678. Vgl. Zur Möglichkeit einer Verbindung durch den Insolvenzverwalter BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822. Vgl. BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029 = ZIP 2012, 1822; BAG v. 20.5.1999 – 2 AZR 532/99, AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste = DB 2000, 149; LAG Düsseldorf v. 9.10.1997 – 13 Sa 996/97; LAG Hamm v. 7.2.2001 – 2 Sa 200/00, ZInsO 2001, 678; ArbG Wesel v. 28.5.1997 – 6 Ca 389/97, NZA-RR 1997, 341. Regh in Beck'sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 6 Rz. 77; Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 568. BAG v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32 = ZIP 2012, 2412; LAG Brandenburg v. 13.10.2015 – 9 Sa 205/05, NZA-RR 2006, 69. BAG v. 2.12.1999 – 2 AZR 757/98, AP Nr. 45 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl = ZIP 2000, 676; BAG v. 20.5.1999 – 2 AZR 532/98, AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Namensliste = ZIP 1999, 1610; BAG v. 20.5.1999 – – 2 AZR 532/99, DB 2000, 149. Ein Formulierungsvorschlag findet sich z.B. bei Regh in Beck'sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 6 Rz. 80. VG Stuttgart v. 4.3.2013 – 11 K 3968/12, ZIP 2013, 1296.

878 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.135 § 26

– der Anteil der nach dem Interessenausgleich zu entlassenden schwerbehinderten Menschen im Betrieb nicht größer ist als der Anteil der zu entlassenden übrigen Arbeitnehmer und – die Gesamtzahl der schwerbehinderten Menschen, die nach dem Interessenausgleich bei dem Arbeitgeber verbleiben sollen, zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 154 SGB IX ausreicht. Im entschiedenen Fall waren die Vorgaben von § 172 Abs. 3 SGB IX nach der Bewertung des VG Stuttgart nicht erfüllt. Nach Auffassung des VG Stuttgart ist selbst bei einer Betriebsstilllegung auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO) im Rahmen des Zustimmungsverfahrens nach § 168 SGB IX ein konkreter Vortrag dazu erforderlich, dass und auf welche Weise den Interessen schwerbehinderter (und gleichgestellter) Mitarbeiter im Rahmen der Sozialauswahl angemessen Rechnung getragen worden ist. Dies dürfte nur dann nicht gelten, wenn der einzige Betrieb des Unternehmens stillgelegt wird. Wichtig für den Insolvenzverwalter ist, die Kriterien hierfür im Interessenausgleich selbst deutlich zu machen. Dann kann nämlich – auf der Grundlage eines Umkehrschlusses aus den Feststellungen des VG Stuttgart – ein entsprechender Vortrag unter Bezugnahme auf den vorgelegten Interessenausgleich erfolgen. Soweit dies betriebsratsseitig nicht gewünscht und deshalb vom Insolvenzverwalter nicht durchsetzbar ist, sollte darauf geachtet werden, die im Rahmen der Sozialauswahl zu diesem Themenkreis geführten Diskussionen sorgfältig zu dokumentieren. Allerdings muss – über die vorstehenden Feststellungen hinaus – nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung1 auch die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX ordnungsgemäß erfolgt sein, was die Behörden zu beachten haben und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu prüfen ist2. Umstritten ist vor diesem Hintergrund, ob das Nichtbestehen einer Schwerbehindertenvertretung der Anwendung von § 172 Abs. 3 SGB IX entgegensteht. Das ist nach richtiger Auffassung nicht der Fall3. Denn andernfalls würde ein Unterlassen der schwerbehinderten Mitarbeiter, das der Insolvenzverwalter nicht verhindern kann, Sanierungen erschweren, obwohl die Schwerbehindertenvertretung nicht einmal Partei des Interessenausgleichs ist. Das ist mit dem Ziel der § 125 InsO, § 172 Abs. 3 SGB IX nicht zu vereinbaren4.

26.134

4. Beschlussverfahren zum Kündigungsschutz statt Interessenausgleich a) Sinn und Zweck Das Gesetz gibt dem Insolvenzverwalter eine – in der Praxis nur sehr selten und vereinzelt genutzte5 – Alternative zur Vereinbarung eines Interessenausgleichs mit Namensliste an die Hand, wenn entweder der Betrieb keinen Betriebsrat hat oder aber aus anderen Gründen innerhalb von drei Wochen nach Verhandlungsbeginn oder Aufforderung zu Verhandlungen ein Interessenausgleich nach § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht zu Stande kommt. Der Insolvenzverwalter kann dann beim Arbeitsgericht beantragen festzustellen, dass die Kündigung be1 Vgl. dazu auch VG Ansbach v. 2.12.2010 – AN 14 K 10.01548. 2 Bayerischer VGH v. 24.8.2006 – 9 ZB 05.442, Kommunalpraxis BY 2006, 398. 3 Wie hier Regh in Beck'sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 6 Rz. 88; Vossen in Ascheid/Preis/Schmidt, 6. Aufl. 2021, § 172 SGB IX Rz. 18 m.w.N.; a.A. z.B. Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, 5. Aufl. 2015, § 125 InsO Rz. 140. 4 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 582. 5 Die letzte in der Datenbank juris nachgewiesene Entscheidung stammt aus dem Jahr 2005 (letzter Abruf 10.1.2022).

Mückl | 879

26.135

§ 26 Rz. 26.135 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

stimmter, im Antrag bezeichneter Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt ist (§ 126 Abs. 1 Satz 1 InsO).

26.136

Sinn und Zweck des beschleunigt, im Regelfall in einer Instanz, rechtskräftig abzuschließenden Beschlussverfahrens unter einheitlicher Beteiligung sämtlicher betroffener Arbeitnehmer ist, die im Rahmen von durch das Insolvenzverfahren bedingten Personalabbaumaßnahmen erforderlich werdenden Kündigungen in einem einheitlichen Verfahren zu bündeln/zu konzentrieren und das Verfahren hierzu zu vereinfachen und zu beschleunigen1. Durch dieses präventive („kollektive“) Kündigungsverfahren2 sollen eine Vielzahl langwieriger Kündigungsschutzprozesse mit unterschiedlicher rechtlicher Überprüfung/individueller Prüfung der Sozialauswahl, spezifische prozesstaktische Konstellationen in einer Vielzahl von Einzelfällen, vermieden werden und eine umfassende Klärung der Rechtmäßigkeit einer größeren Zahl von (beabsichtigten oder auszusprechenden) Kündigungen in einem einheitlichen Verfahren herbeigeführt werden, so dass Rationalisierungsmaßnahmen und Betriebsänderungen vereinfacht und damit die Sanierung des Insolvenzunternehmens gefördert werden3.

b) Anwendungsbereich 26.137

§ 126 Abs. 1 Satz 1 InsO enthält zwei Alternativen. Zum einen kann ein Betriebsrat fehlen. Zum anderen kann ein Interessenausgleich i.S. des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO aus anderen Gründen nicht zu Stande gekommen sein.

26.138

Die Regelung gilt in folgenden Fällen: – In einem Unternehmen mit mindestens 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern wird eine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG durchgeführt, und Betriebsrat und Insolvenzverwalter können sich über einen Interessenausgleich mit Namensliste nicht einigen. – Die Regelung gilt auch, wenn die Unternehmensgröße des § 111 BetrVG erreicht ist und eine Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG durchgeführt wird, jedoch ein Betriebsrat nicht vorhanden ist und deshalb ein Interessenausgleich mit Namensliste nicht abgeschlossen werden kann.

26.139

Ob § 126 Abs. 1 Satz 1 InsO gilt, wenn es sich um einen Betrieb unterhalb der Größenordnung des § 111 BetrVG handelt, ist umstritten4. Gleiches gilt für die Anwendbarkeit, wenn keine Betriebsänderung i.S. von § 111 BetrVG vorliegt5. Richtigerweise ist das der Fall6. Der 1 LAG München v. 2.1.2003 – 4 Ta 292/02, ZInsO 2003, 339; vgl. auch ArbG Hamburg v. 13.7.2005 – 18 BV 5/05. 2 Dennoch handelt es sich bei § 126 InsO nicht um ein spezifisches Kollektivverfahren, sondern die bloße Bündelung von Individualstreitigkeiten, Rieble, NZA 2007, 1393. 3 LAG München v. 2.1.2003 – 4 Ta 292/02, ZInsO 2003, 339; vgl. auch BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, DB 2000, 1822; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 126 InsO Rz. 1 und § 127 InsO Rz. 19. 4 Ablehnend z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 126 InsO Rz. 9 f.; Friese, ZInsO 2001, 350; dafür z.B. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 126 InsO Rz. 6; Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 126 InsO Rz. 1 m.w.N. 5 Ablehnend z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 126 InsO Rz. 9 f.; Friese, ZInsO 2001, 350, 351; dafür z.B. Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 126 InsO Rz. 6; Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 126 InsO Rz. 1 m.w.N. 6 Vgl. bereits Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 457.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.144 § 26

Wortlaut steht dem nicht entgegen, da die Bezugnahme auf § 125 InsO lediglich klarstellen soll, dass das Interessenausgleichsverfahren nicht obsolet ist. Der Normzweck – Beschleunigung (vgl. Rz. 26.136) – spricht für diese Lösung, da die Beschleunigung letztlich losgelöst von einer Betriebsänderung aufgrund der Insolvenz erforderlich ist.

c) Antragsvoraussetzungen und Entscheidungsgegenstand Soweit ein Betriebsrat besteht, setzt der Antrag – über das Nichtzustandekommen eines Interessenausgleichs mit Namensliste hinaus – voraus, dass der Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet worden ist und dass der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat verhandelt hat oder ihn zumindest schriftlich zur Aufnahme von Verhandlungen aufgefordert hat. Auslöser für die Drei-Wochen-Frist ist somit – die Erfüllung des Unterrichtungserfordernisses unterstellt – entweder die Aufforderung zur Aufnahme der Verhandlungen oder die Aufnahme der Verhandlungen. Ist kein Betriebsrat vorhanden, ist der Antrag sofort zulässig1.

26.140

Der Antrag des Insolvenzverwalters geht dahin, dass die Kündigung bestimmter Arbeitnehmer durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und sozial gerechtfertigt ist. Die Angaben des Insolvenzverwalters in dem Antrag müssen dem Bestimmtheitserfordernis entsprechen. Die Arbeitnehmer müssen hinreichend individualisierbar sein2.

26.141

Der Antrag des Insolvenzverwalters kann sich sowohl auf bereits erfolgte wie auch auf geplante Kündigungen beziehen3. Der Insolvenzverwalter kann Kündigungen vor Einleitung des Beschlussverfahrens und während der Dauer des Beschlussverfahrens aussprechen, d.h. das Beschlussverfahren ist noch im Hinblick auf solche Arbeitnehmer möglich, denen bereits gekündigt worden ist4.

26.142

Das Arbeitsgericht weist den Antrag als unzulässig ab, wenn es an den Antragsvoraussetzungen (Nichtzustandekommen eines Interessenausgleichs, Unterrichtung des Betriebsrats, Verhandlungen oder Aufforderung zu Verhandlungen, Fristablauf) fehlt. Das Arbeitsgericht entscheidet in der Sache darüber, ob die Kündigungen der von dem Insolvenzverwalter benannten Arbeitnehmer sozial gerechtfertigt sind. Das Arbeitsgericht kann diese Feststellungen für alle von dem Insolvenzverwalter genannten Arbeitnehmer oder nur für einige von diesen treffen5, so dass das Beschlussverfahren für verschiedene Arbeitnehmer unterschiedlich ausgehen kann6.

26.143

Das Arbeitsgericht prüft das Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG. Der Insolvenzverwalter hat im Hinblick auf die ihn treffende Vortragslast seinen Antrag hinreichend zu substantiieren. Er hat angesichts von § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die betriebsbedingten Gründe darzulegen7. Das Arbeitsgericht entscheidet nicht nur über das

26.144

1 BAG v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, DB 2000, 2021 = ZIP 2000, 1588. 2 Muster zu Antrag und Antragsschrift z.B. bei Regh in Beck'sches Mandatshandbuch Arbeitsrecht in der Insolvenz, 3. Aufl. 2022, § 7 Rz. 44, 49. 3 Vgl. BAG v. 29.6.2000 – 8 ABR 44/99, AP Nr. 2 zu § 126 InsO = DB 2000, 2021; ArbG Hamburg v. 13.7.2005 – 18 BV 5/05; Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 126 InsO Rz. 1. 4 Vgl. BAG v. 29.6.2000 – 8 AZR 44/99, AP Nr. 2 zu § 126 InsO = DB 2000, 2021. 5 ArbG Hamburg v. 13.7.2005 – 18 BV 5/05; Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 458. 6 Vgl. BAG v. 29.6.2000 – 8 AZR 44/99, AP Nr. 2 zu § 126 InsO = DB 2000, 2021. 7 Vgl. Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 126 InsO Rz. 4; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 256; Grunsky/Moll, Arbeitsrecht und Insolvenz, Rz. 386; Kania, DStR 1996, 832, 835; Lakies, RdA 1997, 145, 152 ff.

Mückl | 881

§ 26 Rz. 26.144 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Vorliegen dringender betrieblicher Erfordernisse i.S. von § 1 Abs. 2 KSchG. Die Entscheidung des Arbeitsgerichts umfasst auch die Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG). § 126 Abs. 1 Satz 2 InsO sieht dazu vor, dass die Sozialauswahl nur im Hinblick auf die Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten überprüft werden kann, so dass das Kriterium der Schwerbehinderung anders als nach § 1 Abs. 3 KSchG unberücksichtigt bleibt1. Die Überprüfung der Sozialauswahl durch das Arbeitsgericht ist nicht auf grobe Fehlerhaftigkeit beschränkt2. § 126 Abs. 1 Satz 2 InsO erwähnt anders als § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO nicht den Aspekt der Personalstruktur. Dieser ist jedoch auf Grund des allgemeinen Kündigungsschutzrechts (§ 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG) im Rahmen der Sozialauswahlprüfung zu beachten3 (Rz. 6.307). Die für die soziale Auswahl relevanten Tatsachen sind nach überwiegender Ansicht im Rahmen des für das Beschlussverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes nach den Grundsätzen und Regeln vorzutragen, die im Rahmen von § 1 Abs. 3 KSchG entwickelt worden sind4.

26.145

§ 126 Abs. 1 Satz 1 InsO bezieht sich allein auf die Frage der sozialen Rechtfertigung der Kündigung. Das Arbeitsgericht entscheidet nicht über andere Gesichtspunkte, von denen die (Un-)Wirksamkeit der Kündigung abhängt. Es hat jedoch die Kündigungsbefugnis der die Kündigung aussprechenden Person zu überprüfen5.

26.146

Die Sachverhaltsermittlung unterliegt dem Untersuchungsgrundsatz (§ 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG). Den Beteiligten obliegt eine Mitwirkungspflicht (§ 83 Abs. 1 Satz 2 ArbGG). Jeder Beteiligte muss so viel vortragen, dass das Arbeitsgericht ausreichend Anlass hat, den Sachverhalt im Hinblick auf die von den Beteiligten beigebrachten Tatsachen aufzuklären. Das Beschlussverfahren kennt zwar keine Darlegungslast im zivilprozessualen Sinne. Der Antragsteller trägt jedoch die Gefahr, dass sein Antrag mangels erforderlicher Sachverhaltsaufbereitung zurückgewiesen wird.

d) Rechtswirkungen 26.147

Die Wirkungen einer Entscheidung des Arbeitsgerichts ergeben sich aus § 127 Abs. 1 InsO. Die Entscheidung nach § 126 Abs. 1 InsO ist für den Kündigungsschutzrechtsstreit des Arbeitnehmers gegen den Insolvenzverwalter bindend (§ 127 Abs. 1 Satz 1 InsO). Eine Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers ist mithin unbegründet, wenn in dem Beschlussverfahren nach § 126 InsO die vom Insolvenzverwalter begehrte Feststellung erfolgt ist. Die Wirkungen einer Abweisung des Antrags nach § 126 Abs. 1 InsO sind umstritten. Der Gesetzeswortlaut scheint, sofern es sich nicht um eine bloße Abweisung als unzulässig handelt, anzuordnen, dass das Beschlussverfahren auch zu Gunsten der Arbeitnehmer wirkt6. Das entspricht der h.M.7.

26.148

Die Bindungswirkung des § 127 Abs. 1 Satz 1 InsO wird nur dann und solange relevant, wie der Kündigungsrechtsstreit noch nicht abgeschlossen ist. Ist das Kündigungsschutzverfahren bereits abgeschlossen, lässt sich aus § 126 Abs. 1 InsO nichts mehr herleiten. Das Gesetz sieht, 1 2 3 4 5

Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 126 InsO Rz. 42. Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 126 InsO Rz. 42. Gallner in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 126 InsO Rz. 5 m.w.N. S. dazu Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand 44. EL November 2021, § 126 InsO Rz. 48 m.w.N. Vgl. BAG v. 29.6.2000 – 8 AZR 44/99, AP Nr. 2 zu § 126 InsO = DB 2000, 2021 (Kündigung durch vorläufigen Insolvenzverwalter vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens). 6 Vgl. Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 270; Lakies, RdA 1997, 145, 154; Löwisch, RdA 1997, 80, 85. 7 Vgl. für viele Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 126 InsO Rz. 30 m.w.N.

882 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.152 § 26

um die Wirkungen des Beschlussverfahrens nach § 126 InsO möglichst weitgehend zu sichern, in § 127 Abs. 2 InsO vor, dass der Insolvenzverwalter in dem Kündigungsrechtsstreit die Aussetzung beantragen kann und das Arbeitsgericht den Kündigungsrechtsstreit auf Antrag des Insolvenzverwalters auszusetzen hat. Der Insolvenzverwalter kann allerdings auch nach oder trotz einer gegen ihn ausgefallenen Entscheidung in einem Kündigungsschutzverfahren das Verfahren nach § 126 Abs. 1 InsO im Hinblick auf eine erneute, weitere Kündigung gegenüber dem Arbeitnehmer durchführen. Dies wird durch die Rechtskraft des vorangegangenen Kündigungsschutzrechtsstreits nicht präkludiert. Nach § 128 Abs. 2 InsO erstreckt sich die Wirkung einer Entscheidung nach § 126 Abs. 1 Satz 1 InsO im Fall eines Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 BGB auch darauf, dass die Kündigung der Arbeitsverhältnisse nicht wegen des Betriebsübergangs i.S. des § 613a Abs. 4 BGB erfolgt.

26.149

e) Änderung der Sachlage Die Bindungswirkung gilt nach § 127 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht, soweit sich die Sachlage nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung wesentlich verändert hat. Dies entspricht § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO. Die Norm bezieht sich auf diejenigen Fälle, in denen die Kündigung nach Abschluss des Beschlussverfahrens erklärt wird und in der Zwischenzeit zwischen Abschluss des Beschlussverfahrens und Kündigungserklärung Änderungen eintreten. Diese Änderungen lassen, wenn sie wesentlich sind, die Bindungswirkung der Entscheidung im Beschlussverfahren entfallen. Ein Fall des § 127 Abs. 1 Satz 2 InsO liegt demgegenüber nicht vor, wenn die Änderungen nach Beendigung des Beschlussverfahrens und auch nach Ausspruch der Kündigung eintreten, sei es, dass die Kündigung bereits vor Abschluss des Beschlussverfahrens ausgesprochen worden ist, sei es, dass die Änderung so spät eintritt, dass sie erst nach Erklärung einer Kündigung nach Abschluss des Beschlussverfahrens aufgetreten ist. Die Änderung muss wesentlich sein. Es genügt dabei nicht, dass eine einzelne Kündigung möglicherweise anders zu beurteilen ist; dies würde dem Wesentlichkeitskriterium nicht gerecht. Typische Fälle einer wesentlichen Änderung sind etwa Betriebsübernahmen an Stelle von Betriebsstilllegungen1. Im umgekehrten Fall, dass anstelle einer (teilweisen) Betriebsfortführung eine Stilllegung erfolgen soll, liegt für den Insolvenzverwalter ebenfalls eine wesentliche Änderung vor2.

26.150

f) Verhältnis zu anderen Vorschriften Das Beschlussverfahren des § 126 InsO kann unabhängig von dem des § 122 InsO durchgeführt werden. Beide Verfahren bedingen sich nicht und schließen sich auch nicht aus.

26.151

§ 126 InsO ist nicht neben § 125 InsO anwendbar, weil § 126 InsO voraussetzt, dass ein Interessenausgleich mit Namensliste nach § 125 InsO gerade nicht zu Stande gekommen ist. Es erscheint jedoch möglich, dass eine Interessenausgleichsregelung über einen Teil der Arbeitnehmer zu Stande kommt, während Betriebsrat und Insolvenzverwalter im Hinblick auf andere Arbeitnehmer keine Einigkeit erzielen können; im Hinblick auf diese Arbeitnehmer kann der Insolvenzverwalter dann das Verfahren nach § 126 InsO durchführen3. Ein späteres Beschlussverfahren nach § 126 InsO ist zulässig, wenn die Betriebspartner einen Interessenausgleich mit Namensliste abgeschlossen haben und eine neue, weitere Betriebsänderung er-

26.152

1 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 5, 28, 71, 96; Schrader, NZA 1997, 70, 77. 2 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 127 InsO Rz. 15. 3 Vgl. BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, DB 2000, 1822.

Mückl | 883

§ 26 Rz. 26.152 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

folgt, bezüglich derer ein Interessenausgleich mit Namensliste nicht zu Stande kommt1. Auch ein in mehreren Stufen über einen längeren Zeitraum durchgeführter Personalabbau kann eine einheitliche Betriebseinschränkung bzw. -stilllegung i.S. des § 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG sein. Dabei muss es sich jedoch um einen kontinuierlichen Abbau gehandelt haben. Dient die vorhergehende Verminderung der Belegschaft dagegen der Rationalisierung, um den Betrieb in vermindertem Umfang fortführen zu können, und stabilisiert sich der Personalbestand zunächst auf niedrigerem Niveau, fehlt es an einer einheitlichen Betriebsänderung2. Denn eine solche einheitliche Betriebsänderung setzt grundsätzlich eine einheitliche Planungsentscheidung des Arbeitgebers voraus3.

g) Betriebsratsanhörung und andere Beteiligungsrechte 26.153

Die Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG wird durch das Beschlussverfahren nach § 126 InsO nicht ersetzt. Dem Ausspruch der Kündigung hat unabhängig von § 126 InsO eine Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG vorauszugehen4. Der Insolvenzverwalter kann selbstverständlich, falls die Kündigung im Laufe oder nach Ende des Beschlussverfahrens ausgesprochen wird, im Rahmen des Anhörungsverfahrens nach § 102 Abs. 1 BetrVG auf seine Darlegungen in dem Beschlussverfahren verweisen. Das Verfahren nach § 126 Abs. 1 InsO berührt nach h.M. auch die sonstigen Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei personellen Maßnahmen nicht5. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kündigung bereits vor Verfahrenseinleitung ausgesprochen worden ist oder erst danach erfolgt.

h) Verfahren 26.154

§ 126 Abs. 2 und 3 InsO beinhalten Verfahrensvorschriften. Das Gesetz ordnet das Verfahren nach § 126 InsO als Beschlussverfahren ein (§ 126 Abs. 2 Satz 1 InsO). Beteiligte sind der Insolvenzverwalter, der Betriebsrat und die betroffenen Arbeitnehmer. Ein Betriebserwerber kann nach § 128 Abs. 1 Satz 2 InsO als Beteiligter hinzukommen. Die Beteiligung von zur Kündigung vorgesehenen Arbeitnehmern entfällt nur dann, wenn sie sich mit der Kündigung einverstanden erklärt haben (§ 126 Abs. 2 InsO). Das Einverständnis des Arbeitnehmers muss von einem solchen Inhalt und einer solchen Qualität sein, dass für den Insolvenzverwalter ausreichend gesichert ist, dass dieser Arbeitnehmer die Kündigung nicht mit einem Kündigungsschutzprozess zwecks Überprüfung der Sozialwidrigkeit angreifen kann. Der Arbeitnehmer, der sich mit der Kündigung einverstanden erklärt hat, kann sich in einem späteren Kündigungsschutzprozess nicht mehr auf die Sozialwidrigkeit der Kündigung berufen. Die Einverständniserklärung stellt sich – mindestens – als Klageverzicht dar.

26.155

Das Rechtsmittelkonzept entspricht auf Grund Verweisung gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 InsO demjenigen des § 122 Abs. 3 InsO (Rz. 26.89). Die Beschwerde an das Landesarbeitsgericht findet nicht statt. Die Rechtsbeschwerde an das Bundesarbeitsgericht ist nur möglich, wenn sie in dem Beschluss des Arbeitsgerichts zugelassen wird. 1 Vgl. BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, AP Nr. 1 zu § 126 InsO = DB 2000, 1822. 2 BAG v. 9.5.1995 – 1 ABR 51/94, ZIP 1995, 1762; BAG v. 20.1.2000 – 2 ABR 30/99, DB 2000, 1822. 3 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 461. 4 Vgl. Schrader, NZA 1997, 70, 76; Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 463; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 126 InsO Rz. 39 m.w.N. 5 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 126 InsO Rz. 38 m.w.N.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.157 § 26

5. Personalabbau mithilfe von „Turboprämien“ Der arbeitsrechtliche Erfolg der Sanierung eines Unternehmens hängt – insbesondere in der Insolvenz und im Vorfeld hierzu – von einer zügigen und möglichst störungsfreien (im Idealfall: einvernehmlichen) Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen ab. Außerhalb einer Insolvenz ist es durchaus üblich, bereits vor Ausspruch einer Kündigung einen Anreiz zur Vermeidung von Kündigungsschutzklagen auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung zu setzen. Dieser Anreiz besteht meist in einer Sonderleistung, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer anbietet, wenn dieser im Gegenzug erklärt, auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage zu verzichten (sog. Turboprämie)1. Arbeitsrechtlich betrachtet ist der Abschluss solcher Vereinbarungen zulässig. Da Turboprämien häufig im Rahmen letzter außerinsolvenzlicher, aber insolvenznaher Restrukturierungsmaßnahmen ausgezahlt werden, ist für die Sanierungspraxis insbesondere wichtig, ob bereits ausgezahlte Turboprämien mittels Insolvenzanfechtung zurückgefordert werden können.

26.156

a) Arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen Die Zahlung einer Sozialplanabfindung vom Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage abhängig zu machen, ist nach § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG unzulässig2. Neben einer Ausgleichs- und Überbrückungsfunktion3 hat er keine „Bereinigungsfunktion“4 zur Herbeiführung von Planungssicherheit5 und dient nicht dazu, die individualrechtlichen Risiken des Arbeitgebers bei der Durchführung der Betriebsänderung zu reduzieren oder gar zu beseitigen6. Außerhalb eines Sozialplans gilt die Beschränkung des § 112 BetrVG nicht7. Hier kann der Arbeitgeber – ggf. gemeinsam mit dem Betriebsrat oder der Gewerkschaft8 – die Zahlung von Abfindungen als Steuerungsmittel einzusetzen, um eine Betriebsänderung störungsfrei durchzuführen. Daher kann er außerhalb eines Sozialplans eine(n Zuschlag zur) Abfindung oder eine Outplacementberatung neben der Sozialplanabfindung, durch gesonderte Zusage von dem Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage abhängig machen9 und auch die Höhe der freiwilligen Leistung „sozialplanähnlich“ nach abstrakt-generellen Merkmalen bestimmen10. Turboprämien können in Form einer freiwilligen Betriebsvereinbarung11 (unter Beachtung der allgemeinen Grenzen, § 77 Abs. 3 BetrVG), eines Tarifsozialplans12 bzw. einzelvertraglich13 (in der betrieblichen Praxis zumeist als Gesamtzusagen) zugesagt werden. 1 Ausführlich zum Folgenden Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff. 2 BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 189/05, DB 2006, 2638; BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468; BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, ZIP 2022, 339 Rz. 20. 3 BAG v. 23.4.2013 – 1 AZR 25/12; BAG v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, ZIP 2013, 1349. 4 LAG Köln v. 18.2.2009 – 3 Sa 715/08, ZInsO 2010, 592 (LS). 5 BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 6 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 7 Vgl. für § 112 BetrVG BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 19.2.2008 – 1 AZR 1004/06, ZIP 2008, 1087. 8 Vgl. zu einem entsprechenden Tarifsozialplan BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, ZIP 2007, 1173. 9 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, ZIP 2022, 339 Rz. 20 f. 10 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969. 11 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 12 Vgl. BAG v. 6.12.2006 – 4 AZR 798/05, ZIP 2007, 1173. 13 BAG v. 15.2.2005 – 9 AZR 116/04, DB 2005, 2245.

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26.157

§ 26 Rz. 26.158 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

26.158

Insbesondere im Rahmen von Gesamtzusagen (§ 307 Abs. 1 BGB) ist bei der Ausgestaltung von Turboprämienzusagen wichtig, die Wahlmöglichkeit zwischen Klageverzicht mit Turboprämie und Klage unter Verzicht auf die Turboprämie hinreichend deutlich zu machen1. Ferner muss die aufschiebende Bedingung (Klageverzicht) unmittelbar mit dem Angebot zu verknüpft werden2. Nicht umgangen werden darf dabei das Verbot, Sozialplanabfindungen von einem entsprechenden Verzicht auf die Erhebung einer Kündigungsschutzklage abhängig zu machen3. Ob eine derartige Umgehung vorliegt, kann typischerweise nur anhand der Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Sie kann insbesondere gegeben sein, wenn der Sozialplan keine angemessene Abmilderung der wirtschaftlichen Nachteile vorsieht4 oder greifbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dem „an sich“ für den Sozialplan zur Verfügung stehenden Finanzvolumen seien zum Nachteil der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer Mittel entzogen und funktionswidrig im „Bereinigungsinteresse“ des Arbeitgebers eingesetzt worden5. Sieht der Sozialplan eine Höchstbetragsregelung vor, verstößt es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, sie auf die Klageverzichtsprämie zu erstrecken6. Abschließende höchstrichterliche Richtlinien für die Länge der Annahmefrist eines Turboprämienangebots existieren nicht7. Ob die in einer freiwilligen Regelung vorgesehene Frist von einer Woche für den Verzicht auf eine Kündigungsschutzklage unangemessen kurz ist, hat das BAG offengelassen. Der 1. Senat hält es nicht nur für zulässig, sondern auch für geboten, ggf. eine geltungserhaltende Verlängerung auf drei Wochen vorzunehmen8. Denkbar sei sogar, auch die Fälle einzubeziehen, in denen die Arbeitnehmer ohne ausdrückliche Verzichtserklärung die 3-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG hätten verstreichen lassen9. Zulässig ist ferner, eine Turboprämie nur für bestimmte Mitarbeitergruppen vorzusehen und ein stichtagsbezogener Ausschluss solcher Arbeitnehmer, für welche die Turboprämie ihre Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann10.

26.159

Eine Turboprämienzusage im Rahmen einer Gesamtzusage oder freiwilligen Betriebsvereinbarung könnte wie folgt lauten11: „Jeder Arbeitnehmer [der Vergütungsgruppe [Bezeichnung]], der von einer betriebsbedingten Kündigung, [alt.: der von einer der in dem Interessenausgleich vom [Datum] näher bezeichneten Maßnahmen] betroffen ist, erhält eine[n Zuschlag zur] Abfindung [gemäß dem Sozialplan vom [Datum]] i. H. v. [Betrag] € (brutto), wenn er innerhalb der Frist des § 4 Satz 1 KSchG keine Klage auf Feststellung erhebt, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst ist, und auch keine nachträgliche Zulassung der Klage gemäß § 5 KSchG beantragt. Dasselbe gilt für die vorgenannten Arbeitnehmer, die bis zum [Datum] das Angebot auf Abschluss 1 Vgl. BAG v. 3.5.2006 – 4 AZR 189/05, DB 2006, 2638. 2 Gaul/Otto, ArbRB 2005, 344, 346. 3 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, ZIP 2022, 339 Rz. 27 f. 4 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; zur Mindestdotierung eines Sozialplans vgl. auch BAG v. 24.8.2004 – 1 ABR 23/03, NZA 2005, 302 = ZIP 2005, 543. 5 BAG v. 18.5.2010 – 1 AZR 187/09, NZA 2010, 1304 = ZIP 2010, 1969; BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 6 BAG v. 7.12.2021 – 1 AZR 562/20, ZIP 2022, 339 Rz. 24. 7 Ergänzende Gestaltungshinweise bei Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff. 8 BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 9 BAG v. 31.5.2005 – 1 AZR 254/04, NZA 2005, 997 = ZIP 2005, 1468. 10 Ergänzende Gestaltungshinweise bei Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff. 11 Angelehnt an den Vorschlag von Gaul/Otto, ArbRB 2005, 344, 346 f., aber ergänzt um einen Ausschluss der nachträglichen Klagezulassung nach § 5 KSchG.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.161 § 26

eines betriebsbedingten Aufhebungsvertrags angenommen haben. Ein Anspruch auf Abschluss eines Aufhebungsvertrags besteht nicht.“

b) Insolvenzrechtliche Bewertung In der Insolvenz stellen sich in Bezug auf Turboprämien, die in der Zeit der Krise vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits mit Arbeitnehmern vereinbart oder an diese ausgezahlt worden sind, anfechtungsrechtliche Fragen (vgl. §§ 129 ff. InsO)1. Indem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine Turboprämie (typischerweise mittels Betriebsvereinbarung) verspricht bzw. zahlt, mindert er zunächst formal die im Insolvenzverfahren zur Verteilung an die Gläubiger zur Verfügung stehende Vermögensmasse2. Derselbe Effekt tritt ein, wenn der vorläufige schwache Insolvenzverwalter Turboprämien verspricht oder Turboprämien an Arbeitnehmer auszahlt, die noch in der Zeit vor Insolvenzantragstellung vereinbart worden sind. Wenn der vorläufige starke bzw. endgültige Insolvenzverwalter selbst zwecks Planungssicherheit für eine angestrebte Sanierung Turboprämien vereinbart bzw. auszahlt, sind diese Rechtshandlungen nicht anfechtbar. Hier stellt sich aber vor allem die Frage, ob ein solches Vorgehen mit Blick auf den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung zulässig bzw. mit dem Abschluss eines Abfindungsvergleichs durch den (starken vorläufigen) Insolvenzverwalter nach § 1a KSchG, der eine Masseverbindlichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers begründet3, vergleichbar ist4. Im eröffneten Verfahren ist zudem § 120 InsO anwendbar5, der es dem Insolvenzverwalter ermöglicht, sich von die Insolvenzmasse (mittelbar)6 belastenden Betriebsvereinbarungen mit einer Kündigungsfrist von maximal drei Monaten zu lösen (vgl. Rz. 26.55)7. Ein Verstoß gegen das – einer Kündigung im Idealfall vorhergehende – Beratungsgebot des § 120 InsO ist richtigerweise folgenlos (vgl. Rz. 26.54). Der Insolvenzverwalter sollte daher prüfen, ob für ihn die Vorteile der Betriebsvereinbarung über Turboprämien (rechtssicherer Personalabbau) oder die Nachteile (Kostenbelastung) überwiegen und sodann dieselbe kündigen und/oder anfechten8. Im Rahmen einer übertragenden Sanierung (vgl. dazu Rz. 26.211 ff.) kann es ggf. Sinn machen, den Erwerber die Turboprämien finanzieren zu lassen, um insolvenzrechtliche Risiken zu reduzieren.

26.160

6. Sozialplanregelungen gemäß §§ 123, 124 InsO a) Allgemeines Wie die §§ 123 f. InsO deutlich machen, besteht auch in Krise und sogar im Insolvenzfall – soweit dies nicht durch § 112a BetrVG ausgeschlossen ist – bei Vorliegen einer mit nach § 112 BetrVG ausgleichspflichtigen Nachteilen verbundenen Betriebsänderung i.S. des § 111 BetrVG die Pflicht, einen Sozialplan abzuschließen. Bei grenzüberschreitenden Insolvenzen gilt dies nach § 337 InsO – soweit nach dem Territorialitätsprinzip die §§ 111 ff. BetrVG Anwendung 1 2 3 4 5

Ausführlich dazu Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff. Ausführlich zur Insolvenzanfechtung von Betriebsvereinbarungen Mückl/Krings ZIP 2015, 1714 ff. BAG v. 12.6.2002 – 10 AZR 180/01, NZA 2002, 973, 974 = ZIP 2002, 1495. Ausführlich dazu Mückl/Krings, ZInsO 2017, 1255 ff. Die Möglichkeit der Anfechtung der betreffenden Betriebsvereinbarung nach §§ 129 ff. InsO und der Kündigung nach § 120 InsO stehen nebeneinander, vgl. Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 120 InsO Rz. 51; Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714, 1715. 6 Vgl. nur Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 120 InsO Rz. 26 . 7 Zur richtigerweise möglichen Anwendung auf Tarifverträge vgl. Mückl/Krings, BB 2012, 769, 770. 8 Zu den Vorteilen, welche die Insolvenzanfechtung von Betriebsvereinbarungen bietet, vgl. Rz. 26.63 ff. sowie ausführlich Mückl/Krings, ZIP 2015, 1714 ff.

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26.161

§ 26 Rz. 26.161 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

finden – auch für in Deutschland belegene Betriebe ausländischer insolventer Rechtsträger1. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn ein Insolvenzplan nach §§ 217 ff. InsO aufgestellt wird. Die §§ 111 ff. BetrVG werden dann zwar nicht außer Kraft gesetzt, kommen aber lediglich modifiziert zur Anwendung (vgl. Rz. 26.81 ff.). Ein Einigungsstellenverfahren nach § 112 BetrVG ist allerdings auch dann erforderlich, wenn im Zusammenhang mit einem Sozialplan als Bestandteil des Insolvenzplans keine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt werden kann.

b) Systematik 26.162

Das Gesetz entscheidet für die Behandlung von Sozialplänen zwischen drei Zeiträumen: – Abschluss des Sozialplans nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 123 InsO); – Abschluss des Sozialplans vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nicht früher als 3 Monate vor dem Eröffnungsantrag (§ 124 InsO); – Sozialpläne aus früheren Zeiträumen (§ 120 InsO, Kündigungsmöglichkeit aus wichtigem Grund, Geschäftsgrundlagengrundsätze).

26.163

Sowohl § 123 Abs. 1 InsO als auch § 124 Abs. 1 InsO beziehen sich nicht nur auf Sozialpläne, die Entlassungen betreffen. Auch Sozialplanregelungen für nicht entlassene Arbeitnehmer fallen unter die §§ 123, 124 InsO2. Die Regelungen der §§ 123, 124 InsO betreffen alle Leistungen und Regelungen im Hinblick auf erfasste Arbeitnehmer. Es kommt nicht darauf an, ob diese als Abfindung bezeichnet sind oder ob es sich um Ergänzungs- oder Zusatzleistungen wie etwa Aufrechterhaltung von Jubiläumsgeldern, Bezahlung ansonsten nicht geschuldeter Weihnachtsgelder etc. handelt. Richtigerweise ist § 123 InsO zudem auf Tarifsozialpläne analog anwendbar3.

c) Sozialplan ab Verfahrenseröffnung 26.164

aa) Nach § 123 Abs. 1 InsO wird das Gesamtvolumen an Leistungen in Sozialplänen an entlassene Arbeitnehmer auf zweieinhalb Monatsverdienste der von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer begrenzt. Diese Höchstgrenze ist auf den Gesamtbetrag der Leistungen an entlassene Arbeitnehmer bezogen: absolute Obergrenze. Der Gesamtbetrag ist anhand zweier Kriterien zu ermitteln4: – Als Erstes sind die von einer Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zu bestimmen. – Als zweites sind deren Monatsverdienste zu ermitteln und mit dem Faktor 2 1/2 zu multiplizieren. Das Gesetz verweist für die Bestimmung eines Monatsverdienstes auf § 10 Abs. 3 KSchG.

26.165

§ 123 Abs. 1 InsO stellt eine Höchstgrenze auf, die erreicht werden kann, jedoch nicht erreicht werden muss. Die Dotierung des Sozialplans kann auch geringer sein5. Die Anwendung 1 Hessisches LAG v. 31.5.2011 – 4 TaBV 153/10. 2 Überzeugend Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 123 InsO Rz. 27 m.w.N. auch zur Gegenansicht. 3 Näher z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 42 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht. 4 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 50. 5 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 71, 154; zum Unterschreiten eingehend Eisemann, NZA 2019, 81 ff.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.168 § 26

der Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes (§ 112 Abs. 5 Satz 1 BetrVG und § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 BetrVG) ist umstritten1. Richtigerweise ist davon auszugehen, dass im Falle der Liquidation § 112 Abs. 5 BetrVG nicht anzuwenden ist, während bei Fortbestand des Unternehmens die Kriterien des § 112 Abs. 5 BetrVG von Bedeutung sind2. Erkennt man einen Berechnungsdurchgriff im Konzern zur Bemessung des Sozialplanvolumens an3, ändert dies nichts an der absoluten Obergrenze. Diese gesetzliche Obergrenze muss auch gelten, wenn es dem Insolvenzverwalter etwa gelingt, über einen Haftungsanspruch gemäß § 826 BGB Zugriff auf das Vermögen der Muttergesellschaft zu nehmen4. Dies folgt daraus, dass es sich bei § 123 InsO auch um eine Schutznorm für die übrigen Gläubiger handelt, die nicht über Gebühr durch Sozialplanansprüche der Beschäftigten benachteiligt werden sollen5. Die absolute Obergrenze besagt nichts über die Höhe des dem einzelnen Arbeitnehmer zustehenden Anspruchs6. Die Verteilung des Gesamtvolumens auf die einzelnen Arbeitnehmer ist Sache der den Sozialplan aufstellenden Betriebspartner bzw. Einigungsstelle. Diese haben auf die sozialen Verhältnisse der Arbeitnehmer abzustellen7. Der Gesetzgeber hat in der Begründung des Regierungsentwurfs dementsprechend Folgendes ausgeführt8: „Bei besonderen sozialen Härten sollten höhere, in anderen Fällen geringere Beiträge oder auch – wenn ein entlassener Arbeitnehmer sofort einen entsprechenden neuen Arbeitsplatz gefunden hat – gar keine Leistungen vorgesehen werden.“ Den Sozialplanleistungen kommt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in erster Linie Überbrückungsfunktion zu (Rz. 26.157)9. Es ist Sache der Betriebspartner bzw. der Einigungsstelle zu entscheiden, welche Nachteile ausgeglichen oder gemildert werden und wie dies geschieht10. Die Sozialplanregelungen können im Rahmen von § 75 Abs. 1 BetrVG und des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Zubilligung von Leistungen an Arbeitnehmer differenzieren.

26.166

Die absolute Obergrenze des § 123 Abs. 1 InsO gilt auch im Falle eines Insolvenzplans (Rz. 32.90)11. Der Vorbehalt des Zustandekommens eines Insolvenzplans mit abweichenden Regelungen ist allein in § 123 Abs. 2 InsO für die relative Obergrenze vorgesehen12.

26.167

Die Vereinbarung eines die absolute Obergrenze überschreitenden Sozialplanvolumens ist unwirksam (§ 134 BGB)13. Das Schrifttum nimmt überwiegend an, dass grundsätzlich ein neuer Sozialplan abzuschließen sei, sieht davon jedoch ab und lässt eine anteilige Kürzung der Ar-

26.168

1 Vgl. Menke in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Rz. J 226 m.w.N. 2 Menke in Bieg/Borchardt/Frind, Unternehmenssanierung und Betriebsfortführung, 2021, Rz. J 226; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 64 f. 3 BAG v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, AP Nr. 212 zu § 112 BetrVG 1972 = ZIP 2011, 1433. 4 Vgl. ArbG Düsseldorf v. 24.4.2006 – 2 BV 2/06, DB 2006, 1384; a.A. offenbar Schöne in Kübler/ Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 89 m.w.N. 5 Schweibert, NZA 2016, 321, 325. 6 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 76; Röder/Baeck, DStR 1995, 260, 262. 7 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 77. 8 Vgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 71, 154. 9 Vgl. BAG v. 9.11.1994 – 10 AZR 281/94, AP Nr. 85 zu § 112 BetrVG 1972 = ZIP 1995, 767. 10 Vgl. BAG v. 30.11.1994 – 10 AZR 578/93, AP Nr. 89 zu § 112 BetrVG 1972 = ZIP 1995, 765. 11 Krings, ZInsO 2017, 577, 580; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 78 f. m.w.N. 12 Vgl. Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 447. 13 Vgl. Krings, ZInsO 2017, 577, 580; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 80 m.w.N.

Mückl | 889

§ 26 Rz. 26.168 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

beitnehmeransprüche bis zur Ausschöpfung des zulässigen Volumens zu, wenn die Verteilungsmaßstäbe eindeutig erkennbar sind und durch eine anteilige Kürzung nicht berührt werden1. Eine abschließende gerichtliche Klärung dieser Frage ist – abgesehen von einer vereinzelten instanzgerichtlichen Entscheidung2 – bislang nicht erfolgt, weshalb der Sanierungspraxis zu raten ist, durch entsprechende Sozialplanregelungen Vorsorge für den Fall zu treffen, dass die absolute Obergrenze des § 123 Abs. 1 InsO überschritten wird. Eine salvatorische Klausel kann klarstellen, dass die Sozialplanregelungen entsprechend anzuwenden sind, wenn das Mittelvolumen gekürzt wird3. Andere Anhaltspunkte können sich aus einem Punktesystem4 oder aus einer Sozialplanformel ergeben. Das ArbG Düsseldorf verneint eine Unwirksamkeit des Sozialplans dann, wenn entsprechend § 140 BGB die Verteilungsmaßstäbe des Sozialplans erkennbar sind, diese von einer Reduzierung des Sozialplanvolumens unberührt bleiben und Anhaltspunkte bestehen, dass die Beteiligten den Sozialplan bei einem reduzierten Volumen mit gleichen Verteilungsmaßstäben abgeschlossen hätten5.

26.169

bb) Ansprüche der Arbeitnehmer aus Sozialplänen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind Masseforderungen (§ 123 Abs. 2 Satz 1 InsO), die Wertigkeit dieser Masseforderungen wird jedoch durch die Aufstellung der relativen Obergrenze herabgesetzt. Die relative Obergrenze bewirkt, dass die Sozialplanforderungen gegenüber den Masseverbindlichkeiten letztlich nachrangig sind6. Die Sozialplangläubiger werden nämlich nur befriedigt, wenn die Masseverbindlichkeiten im Übrigen voll erfüllt werden können. Die Qualifizierung als Masseschuld lässt die Anmeldung und Feststellung der Sozialplanforderungen entfallen.

26.170

Die relative Obergrenze des § 123 Abs. 2 Sätze 2 und 3 InsO sieht vor, dass für die Berichtigung von Sozialplanforderungen nicht mehr als ein Drittel der Masse verwendet werden darf, die ohne Sozialplan für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung stünde. Das Sozialplanvolumen ist bei Überschreiten dieser Relation entsprechend zu kürzen. Die Berechnung der relativen Obergrenze hat davon auszugehen, was ohne den Sozialplan für die Verteilung an Insolvenzgläubiger zur Verfügung stünde. Die Sozialplanforderungen dürfen insgesamt nicht mehr als ein Drittel dieser Teilungsmasse ausmachen.

26.171

Beispiel: Das vereinbarte und nach § 123 Abs. 1 InsO zulässige Sozialplanvolumen beträgt 300.000 Euro. Auf Grund der Kosten des Insolvenzverfahrens (§ 54 InsO) und der sonstigen Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO) ergibt sich, dass ein Betrag in Höhe von 600.000 Euro für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger verbleibt. Dieser Betrag darf nur bis zu einem Drittel mit der Befriedigung von Sozialplanansprüchen verbraucht werden. Dies bedeutet, dass für Sozialplanansprüche nicht mehr als 200.000 Euro zur Verfügung stehen. Letztlich muss mathematisch die endgültige, für die Insolvenzgläubiger zur Verfügung stehende Teilungsmasse mindestens doppelt so groß sein wie die Gesamtsumme der als Masseverbindlichkeiten zu berücksichtigenden Sozialplanansprüche7.

26.172

Auf Grund der relativen Obergrenze können bei Masseunzulänglichkeit Sozialplanforderungen nicht befriedigt werden. Die Insolvenzmasse reicht dann nämlich nicht aus, um die Masseverbindlichkeiten zu befriedigen. Da es an über die Erfüllung von Masseverbindlichkeiten hinausgehenden Mitteln und damit an solchen fehlt, die für die Verteilung an Insolvenz1 2 3 4 5 6 7

Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 82 ff. m.w.N. Vgl. ArbG Düsseldorf v. 24.4.2006 – 2 BV 2/06, DB 2006, 1384. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 84 m.w.N. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 84 m.w.N. Vgl. ArbG Düsseldorf v. 24.4.2006 – 2 BV 2/06, DB 2006, 1384. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 90 m.w.N. Vgl. Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 440.

890 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.177 § 26

gläubiger zur Verfügung stehen, können auf Grund der relativen Obergrenze Sozialplanforderungen nicht erfüllt werden1.

cc) Die Einzelforderungen der Sozialplangläubiger sind gemäß § 123 Abs. 2 Satz 3 InsO anteilig zu kürzen, soweit der Gesamtbetrag aller Sozialplanforderungen die relative Obergrenze übersteigt.

26.173

Beispiel: Die Sozialplanforderung des Arbeitnehmers A in Höhe von 15.000 Euro ist im Falle einer Begrenzung des Sozialplanvolumens von 300.000 Euro auf 200.000 Euro verhältnismäßig zu kürzen: 15.000 Euro: 300.000 Euro × 200.000 Euro = 10.000 Euro.

Sozialplanansprüche mit einem Gesamtvolumen bis zur relativen Obergrenze können vollständig erfüllt werden. Der Insolvenzplan kann von der relativen Obergrenze abweichen und andere Regelungen treffen (Rz. 32.90). Der Vorrang des Insolvenzplans gilt unabhängig von seinem Inhalt. Es kommt nicht darauf an, ob der Insolvenzplan eine (abweichende) Verteilung regelt oder aber im Falle des Fortführungsplans von einer Verteilung absieht2. Die absolute Obergrenze kann der Insolvenzplan aber nicht abbedingen (Rz. 32.90).

26.174

§ 123 Abs. 3 Satz 1 InsO sieht vor, dass der Insolvenzverwalter möglichst Abschlagszahlungen auf die Sozialplanforderungen leisten „soll“, vorausgesetzt, die Zustimmung des Insolvenzgerichts liegt vor. Die Abschlagszahlungen nach § 123 Abs. 3 Satz 1 InsO unterliegen den Fälligkeitsregelungen für die Sozialplanansprüche selbst3. Dies gilt auch dann, wenn – was üblich ist – die Fälligkeit von Sozialplanzahlungen davon abhängig gemacht worden ist, dass ein etwaiger Kündigungsrechtsstreit rechtskräftig entschieden ist. Ob und inwieweit der Insolvenzverwalter der Aufforderung („soll“) zur Leistung von Abschlagszahlungen nachkommt, ist eine Frage des Einzelfalls. Einen Anspruch auf eine Abschlagszahlung gibt es grundsätzlich nicht4. Für den Verwalter besteht die mit dem Haftungsrisiko nach § 60 Abs. 1 InsO verbundene Pflicht, dafür zu sorgen, dass die relative Obergrenze des § 123 Abs. 2 Satz 2 InsO bei Abschluss des Insolvenzverfahrens nicht überschritten ist. Er wird Abschlagszahlungen nach § 123 Abs. 3 Satz 1 InsO daher nur in Abstimmung mit den Abschlagszahlungen an Insolvenzgläubiger nach § 187 Abs. 2 InsO in Erwägung ziehen können5. Gegen die Schwächen des Bereicherungsrechts kann er sich dadurch absichern, dass er die Abschlagszahlungen davon abhängig macht, dass Sozialplangläubiger sich vertraglich zur Rückzahlung für den Fall verpflichten, dass die Abschlagszahlung letztlich zu Unrecht erfolgt ist.

26.175

Die Sozialplangläubiger können in die Insolvenzmasse nicht vollstrecken (§ 123 Abs. 3 Satz 2 InsO). Das Vollstreckungsverbot sichert die Einhaltung der relativen Obergrenze.

26.176

Eine Leistungsklage hinsichtlich Forderungen, die sich aus einem vom Insolvenzverwalter abgeschlossenen Sozialplan ergeben, ist unzulässig. Eine Sozialplanforderung kann nur im Wege der Feststellungsklage verfolgt werden6.

26.177

1 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 97 m.w.N. 2 Vgl. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 154; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 99 m.w.N. 3 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 103. 4 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 101; zu einer Sonderkonstellation als Ausnahme LAG Hamm v. 27.10.2005 – 4 Sa 1709/04. 5 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 101. 6 Vgl. BAG v. 29.10.2002 – 1 AZR 80/02, DB 2003, 2710 = ZIP 2003, 1414; BAG v. 30.3.2004 – 1 AZR 85/03, NZA 2004, 1183; BAG v. 22.11.2005 – 1 AZR 458/04, DB 2006, 343 = ZIP 2006, 489.

Mückl | 891

§ 26 Rz. 26.178 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

d) Sozialplan in der „Rückgriffszeit“ 26.178

aa) Sozialpläne innerhalb der „Rückgriffszeit“ (§ 124 InsO) unterliegen einem Widerrufsrecht. Der Widerruf ist an keinen sachlichen Grund gebunden. Er ist weder form- noch fristgebunden1 und kann von dem Insolvenzverwalter oder dem Betriebsrat nach Ermessen ausgeübt werden. Der Widerruf ist – auch dann, wenn der Sozialplan durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommen ist – gegenüber der jeweils anderen Betriebspartei zu erklären (d.h. gegenüber dem Betriebsrat nach § 26 Abs. 3 Satz 2 BetrVG) und – soweit ein solches besteht – Teil des Restmandats nach § 21b BetrVG2. Der Widerruf wird mit Zugang (§ 130 BGB) wirksam. Ein Widerruf des Betriebsrats setzt einen ordnungsgemäßen Beschluss voraus.

26.179

Der Betriebsrat mag erwägen, den Sozialplan zu widerrufen, wenn er im Wesentlichen nicht erfüllt worden ist3. Der Betriebsrat kann ein derartiges Interesse wegen der Einordnung der Forderungen aus Sozialplänen vor Insolvenzeröffnung als bloße Insolvenzforderung haben, da im Einzelfall die Befriedigung eines geringeren Sozialplananspruchs aus der Masse günstiger sein kann als ein nominal weitergehender Anspruch als Insolvenzforderung4. Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Betriebsrat aus den verschiedensten Gründen von dem Widerruf keinen Gebrauch macht.

26.180

Der Insolvenzverwalter wird überlegen, wie die Insolvenzmasse mehr oder weniger belastet wird. Er wird bedenken, dass er die Möglichkeit hat, die absolute und relative Obergrenze des § 123 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 InsO auch auf die Arbeitnehmer zu erstrecken, die von der früheren Betriebsänderung und dem früheren Sozialplan betroffen sind5. Es kann im Einzelfall so liegen, dass der Insolvenzverwalter durch den Widerruf und die dadurch erfolgende Einbeziehung aller in Betracht kommender Sozialpläne in die Grenzen des § 123 Abs. 1 und 2 InsO eine geringere Belastung erreicht als bei Erfüllung der Insolvenzforderungen. Dies ist im jeweiligen Einzelfall zu „kalkulieren“. Beispiel6: Insolvenzmasse

26.181

101.000 Euro

Absonderungsrechte

50.000 Euro

Masseverbindlichkeiten

30.000 Euro

Sozialplanforderung aus Sozialplan im Rückgriffszeitraum

200.000 Euro

Sonstige Insolvenzforderungen

500.000 Euro

Der Abzug der Masseverbindlichkeiten und die Befriedung der Absonderungsrechte lassen noch 21.000 Euro für Zahlungen an die Insolvenzgläubiger übrig. Dem stehen 700.000 Euro Insolvenzforderungen gegenüber. 2/7 entfallen auf die Sozialplanforderungen und 5/7 auf die übrigen Insolvenzforderungen, d.h. 6.000 Euro sind für die Sozialplanforderungen aufzubringen und 15.000 Euro für die übrigen Insolvenzforderungen. Ein Widerruf des Sozial1 Näher zur Ausübung des Widerrufs z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 119 ff. 2 Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 339 m.w.N., dort auch zum Folgenden. 3 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsORz. 117 m.w.N. 4 Vgl. Boemke/Tietze, DB 1999, 1389, 1395. 5 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 117 m.w.N. 6 S. die Berechnungen von Boemke/Tietze, DB 1999, 1389, 1395.

892 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.187 § 26

plans durch den Insolvenzverwalter führt dazu, dass eine relative Obergrenze von einem Drittel der zur Verteilung stehenden Masse gelten würde (1/3 von 21.000 Euro = 7.000 Euro). Der Insolvenzverwalter wird daher den Widerruf unterlassen, weil durch den Widerruf verteilungsfähige Masse entzogen wird und die effektiv an die Sozialplangläubiger gezahlte Abfindung ansteigt. Die Situation stellt sich anders dar, wenn im Rahmen von Entlassungsmaßnahmen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erhebliche weitere Sozialplanforderungen begründet werden. Die Einbeziehung sämtlicher Sozialplanforderungen in die Obergrenzenregelungen kann sich dann zu Gunsten der Insolvenzmasse auswirken.

26.182

bb) Der Widerruf führt zur Beseitigung des Sozialplans. Die Ansprüche der Arbeitnehmer aus diesen vorinsolvenzlichen Sozialplänen entfallen ersatzlos1. Dementsprechend spricht § 124 Abs. 2 InsO von Arbeitnehmern, „denen Forderungen aus dem Sozialplan zustanden“. § 124 Abs. 3 Satz 1 InsO schließt – konsequent – Rückforderungen aus, um den Folgen des Wegfalls der Rechtsgrundlage im Hinblick auf bereits geleistete Zahlungen zu entgehen. Der Widerruf ist keine Kündigung, so dass auch keine Nachwirkung im Anschluss an den Widerruf besteht. Die Arbeitnehmer, denen auf Grund des Widerrufs Sozialplanansprüche entzogen worden sind, werden auf Grund § 124 Abs. 2 InsO bei der Aufstellung eines (neuen) Sozialplans im Insolvenzverfahren berücksichtigt. Das Gesetz macht zwar den Sozialplan hinfällig. Es beseitigt jedoch nicht die Sozialplanpflicht, sei es, dass wegen der früheren Betriebsänderung ein Sozialplan erneut aufgestellt werden muss, sei es, dass wegen einer neuen Betriebsänderung abermals getrennt von der früheren oder in Verbindung mit der früheren Betriebsänderung ein Sozialplan aufgestellt wird.

26.183

Die Neuaufstellung des Sozialplans gemäß § 124 Abs. 2 InsO i.V.m. § 123 Abs. 1 InsO hat die absolute und relative Obergrenze zu beachten.

26.184

cc) Wird das Widerrufsrecht des § 124 Abs. 1 InsO nicht ausgeübt, so bleibt der Sozialplan in Kraft. Sozialplanforderungen der von dem Sozialplan berücksichtigten Arbeitnehmer bleiben bestehen. Eine Höchstgrenze gibt es weder absolut noch relativ.

26.185

Die Forderungen aus dem Sozialplan vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind Insolvenzforderungen (§ 38 InsO), sofern sie nicht durch einen vorläufigen starken Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO i.V.m. § 22 Abs. 1 InsO) begründet worden sind2.

26.186

e) Sozialplan außerhalb der „Rückgriffszeit“ Sozialpläne außerhalb der Zeiträume in den §§ 123, 124 InsO bestehen rechtlich durch die Insolvenz unberührt fort. Ansprüche aus diesen Sozialplänen sind Insolvenzforderungen3. Sie 1 Vgl. Warrikoff, BB 1994, 2338, 2444; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 124 m.w.N. 2 Vgl. BAG v. 31.7.2002 – 10 AZR L 75/01, AP Nr. 1 zu § 38 InsO = DB 2002, 2655; LAG Köln v. 2.3.2001 – 12 Sa 1467/00, ZIP 2001, 1070; Annuß, NZI 1999, 344, 351; Caspers, Personalabbau und Betriebsänderung im Insolvenzverfahren, Rz. 476 ff. 3 Vgl. BAG v. 27.10.1998 – 1 AZR 94/98, AP Nr. 29 zu § 61 KO = DB 1999, 1069 = NZA 1999, 719 = ZIP 1999, 540; ArbG Köln v. 12.9.2000 – 4 Ca 5308/00, ZInsO 2001, 287; Begr. RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 155, abgedruckt in Kübler/Prütting, RWS-Dok. 18, S. 326; Schöne in Kübler/Prütting/ Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsORz. 137 m.w.N.

Mückl | 893

26.187

§ 26 Rz. 26.187 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

werden nach den §§ 174 ff. InsO abgewickelt1. Das gilt unabhängig davon, wann das von dem Sozialplan betroffene Arbeitsverhältnis endet.

26.188

Die Aufstellung eines neuen Sozialplans kann in der Regel nicht nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage verlangt werden2. Auch eine auflösende Bedingung der Erfüllung aller Sozialplanforderungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommt nicht in Betracht3.

26.189

Jeder der beiden Betriebspartner mag von dem Kündigungsrecht des § 120 Abs. 1 InsO Gebrauch machen, soweit Sozialpläne nach den allgemeinen Grundsätzen als kündbar angesehen werden4. Eine ordentliche Kündigung bei Einmalleistungen kommt danach grundsätzlich nicht in Betracht. Sie ist allerdings bei Dauerregelungen möglich. Die Kündigung führt zur Nachwirkung. Betriebsrat und Insolvenzverwalter haben gegebenenfalls mit Hilfe der Einigungsstelle neue Regelungen zu treffen. Inhalt und Möglichkeiten derartiger Neuregelungen sind ungeklärt. Sinn und Zweck des Insolvenzverfahrens werfen die Frage auf, ob nicht Grundgedanken der §§ 123, 124 InsO je nach Gesichtspunkt entsprechend herangezogen werden müssen.

26.190–26.210 Einstweilen frei.

V. Betriebsveräußerung 1. Anwendbarkeit des § 613a BGB in der Insolvenz 26.211

Die Betriebsveräußerung bringt die Anwendung des § 613a BGB auch dann mit sich, wenn der Betriebsübergang im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erfolgt5. Diese Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mittelbar anerkannt. § 128 Abs. 2 InsO setzt nach herrschender Ansicht die Anwendbarkeit von § 613a BGB voraus. Der sachliche Anwendungsbereich von § 613a BGB geht damit über den der RL 2001/23/EG hinaus. Deren Art. 5 stellt klar, dass Art. 3, 4 RL 2001/23/EG, die § 613a BGB umsetzt, in der Insolvenz nicht anwendbar sind.

2. Modifizierung der Haftungsfolgen 26.212

Der Erwerber führt die Arbeitsverhältnisse zwar inhaltsgleich weiter, sofern der Arbeitnehmer nicht gemäß § 613a Abs. 6 BGB widerspricht. Die Haftungsfolgen für den Betriebsübernehmer werden jedoch modifiziert6. Diese Modifizierung ist richtlinienkonform7. 1 Vgl. Boemke/Tietze, DB 1999, 1389, 1395. 2 LAG Niedersachsen v. 24.9.2009 – TaBV 44/08, ZIP 2010, 442; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 138; vgl. zu denkbaren Konstellationen Bonanni/Mückl, ArbRB 2009, 242 ff. 3 LAG Niedersachsen v. 24.9.2009 – TaBV 44/08, ZIP 2010, 442; Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 139. 4 S. dazu BAG v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, AP Nr. 86 zu § 112 BetrVG 1972; Meyer, NZA 1995, 974, 977. 5 Zuletzt BAG v. 26.1.2021 – 3 AZR 139/17, DB 2021, 1211 = ZIP 2021, 918. 6 Vgl. BAG v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, AP Nr. 18 zu § 613a BGB = DB 1980, 308 = ZIP 1980, 117; BAG v. 20.6.2002 – 8 AZR 459/01, DB 2003, 835 = ZIP 2003, 222; zuletzt BAG v. 26.1.2021 – 3 AZR 139/17, DB 2021, 1211, Rz. 36 ff. = ZIP 2021, 918; Preis in ErfK, 22. Aufl. 2022, § 613a BGB Rz. 146. 7 Vgl. EuGH v. 28.1.2015 – C-688/13, ZIP 2015, 652; EuGH v. 9.9.2020 – C-674/18 und C-675/18, ZInsO 2021, 340.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.216 § 26

Die Rechtsprechung hat bei der Frage geschwankt, ob sich die Haftungsprivilegierung auch auf die Ansprüche bezieht, die vor dem Betriebsübergang entstanden sind, oder nur auf solche, die aus der Zeit bis zur Insolvenzeröffnung resultieren. Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, den Betriebserwerber für nach der Insolvenzeröffnung entstehende Arbeitnehmeransprüche haften zu lassen und das Haftungsprivileg nur für die bis zur Insolvenzeröffnung entstandenen Ansprüche zu gewähren1. Eine Privilegierung des Betriebserwerbers sei nur für Insolvenzforderungen anzunehmen. Das Bundesarbeitsgericht hat das Haftungsprivileg für Ansprüche aus der Zeit nach Insolvenzeröffnung ausdrücklich versagt2. Dies übersieht, dass die Verteilungsgrundsätze des Insolvenzverfahrens, die Vorrang haben, auch nach Insolvenzeröffnung relevant werden, insbesondere in Fällen der Masseunzulänglichkeit. Das Bundesarbeitsgericht hat damit seinen früheren Ansatz3 modifiziert.

26.213

Die durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingetretene Haftungsbegrenzung wird durch eine spätere (nach dem Betriebsübergang erfolgende) Einstellung des Verfahrens mangels Masse nicht beseitigt.

26.214

Die Modifikation der Anwendung des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gilt in solchen Sachverhalten nicht, in denen der Betrieb zwar Not leidend ist, es jedoch mangels Masse gar nicht erst zur Verfahrenseröffnung kommt4.

26.215

Die Haftungsbesonderheiten für den Betriebsübergang im Rahmen von Insolvenzverfahren hängen davon ab, ob der Betriebsübergang vor oder nach der Verfahrenseröffnung stattfindet. Die Haftungsbeschränkung tritt nur ein, wenn der Betriebserwerber den Betrieb nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erwirbt. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ist uneingeschränkt anwendbar, wenn der Betriebserwerber die Leitungsmacht – und sei es auch nur ganz kurz – vor dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung übernimmt5. Es kommt für den Zeitpunkt des Betriebsübergangs darauf an, wann der Betriebserwerber die Leitungsmacht im Einvernehmen mit dem Betriebsveräußerer tatsächlich ausübt6. Es genügt, dass Nutzungsrechte an den Betriebsmitteln bestehen; auf den Eigentumsübergang kommt es nicht an7. Erfolgt die Übernahme der Leitungsmacht im Betrieb schrittweise, d.h. gehen Betriebsmittel nach und nach über,

26.216

1 Vgl. BAG v. 18.11.2003 – 9 AZR 95/03, DB 2004, 1267 = ZIP 2004, 1013; BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; BAG v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, NZA 2005, 408; BAG v. 26.1.2021 – 3 AZR 139/17, ZIP 2021, 918. S. dazu Zwanziger, BB 2005, 1386, 1387 = ZIP 2005, 457. 2 Vgl. BAG v. 19.5.2005 – 3 AZR 649/03, DB 2005, 2362 = ZIP 2005, 1706 (mit dem falschen Argument, dass die Grundsätze der Gläubigerbefriedigung nur für die Zeit bis zur Insolvenzeröffnung gelten; ebenso bedenklich ist, dass die Rechtslage ausdrücklich nur für Fälle entschieden ist, in denen keine Masseunzulänglichkeit vorliegt, die Fälle der Masseunzulänglichkeit also nach wie vor offen sind). 3 BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, DB 1992, 2559 = ZIP 1992, 1247. 4 Vgl. BAG v. 20.11.1984 – 3 AZR 584/83, AP Nr. 38 zu § 613a BGB = DB 1985, 1135 = ZIP 1985, 561; BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, AP Nr. 71 zu § 613a BGB = DB 1988, 1653 = ZIP 1988, 989. 5 Vgl. BAG v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1988, 400 = ZIP 1988, 120; BAG v. 16.2.1993 – 3 AZR 347/92, AP Nr. 15 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1993, 1374 = ZIP 1993, 1013; kritisch Henckel in FS Heinsius, 1991, S. 261, 282 ff., 286 ff. 6 Vgl. EuGH v. 26.5.2005 – C-478/03, NZA 2005, 681, Rz. 34 = ZIP 2005, 1377; BAG v. 25.1.2018 – 8 AZR 309/16, NZA 2018, 933, Rz. 56 ff. = ZIP 2018, 1651.; Gaul in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 6.3 ff. 7 Vgl. BAG v. 23.7.1991 – 3 AZR 366/90, AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1992, 92 = ZIP 1992, 49; BAG v. 12.11.1991 – 3 AZR 559/90, AP Nr. 12 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1992, 1684 = ZIP 1992, 1013; BAG v. 16.2.1993 – 3 AZR 347/92, AP Nr. 15 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1993, 1374 = ZIP 1993, 1013.

Mückl | 895

§ 26 Rz. 26.216 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

so ist der Betriebsübergang in dem Zeitpunkt erfolgt, in dem die wesentlichen zur Fortführung des Betriebs erforderlichen Betriebsmittel übergegangen sind1, soweit der Betriebserwerber sie dann auch tatsächlich nutzt2.

26.217

Der Zeitpunkt des Betriebsübergangs kann nur begrenzt rechtsgeschäftlich gestaltet werden. Die Rechtsprechung akzeptiert Verabredungen über die Einräumung der Leitungsmacht nur3, sofern die tatsächliche Handhabung dem Vereinbarten entspricht4.

3. Kündigungssperre nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB a) Kündigung wegen Betriebsübergangs 26.218

Ein Sanierungs- und Veräußerungshindernis wird in der Kündigungssperre nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB gesehen, wonach Kündigungen wegen des Betriebsübergangs unwirksam sind. Der Bestandsschutz nach § 613a Abs. 1 und Abs. 4 BGB greift auch bei einer Betriebsveräußerung durch den Insolvenzverwalter ein5. Die Kündigung erfolgt wegen des Betriebsübergangs, wenn sie durch eine bevorstehende Betriebsübertragung bestimmt wird, wobei die im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs absehbaren oder feststehenden Tatsachen zu berücksichtigen sind6. Dies gilt selbst dann, wenn der Betriebsübergang letztendlich nicht zu Stande kommt. Der Betriebsübergang muss der tragende Grund und nicht bloß der äußere Anlass der Kündigung sein7. Die Kündigung ist – typischerweise – nach § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB unwirksam, wenn sie damit begründet wird, der Erwerbsinteressent sei anderenfalls zur Übernahme des Betriebs nicht bereit8. Eine Kündigung durch den bisherigen Arbeitgeber wegen des Betriebsübergangs i.S. des § 613a Abs. 4 BGB liegt ferner z.B. dann vor, wenn sie damit begründet wird, der neue Betriebsinhaber habe die Übernahme eines bestimmten Arbeitnehmers, dessen Arbeitsplatz erhalten bleibt, deswegen abgelehnt, weil er „ihm zu teuer sei“9.

b) Betriebsstilllegung 26.219

Eine geplante Betriebsteilstilllegung stellt dagegen einen Kündigungsgrund dar, der die Kündigung aus anderen Gründen als wegen des Betriebsübergangs begründet (§ 613a Abs. 4 Satz 2 BGB). Die Kündigung aus Anlass einer geplanten Betriebsteilstilllegung ist sozial gerechtfertigt, wenn die betrieblichen Umstände bereits greifbare Formen angenommen haben 1 Vgl. BAG v. 16.2.1993 – 3 AZR 347/92, AP Nr. 15 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1993, 1374 = ZIP 1993, 1013; BAG v. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, AP Nr. 292 zu § 613a BGB. 2 BAG v. 10.6.1988 – 2 AZR 801/87, AP Nr. 82 zu § 613a BGB = ZIP 1988, 1272; Gaul in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 6.10. 3 Vgl. BAG v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, AP Nr. 148 zu § 613a BGB = DB 1997, 331 = ZIP 1996, 1914. 4 Vgl. BAG v. 21.2.2008 – 8 AZR 77/07, NZA 2008, 825 Rz. 27, 29 = ZIP 2008, 2132. 5 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027 = ZIP 2003, 1671. 6 Vgl. BAG v. 31.1.1985 – 2 AZR 530/83, AP Nr. 40 zu § 613a BGB = DB 1985, 1842 = ZIP 1985, 1088; BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, AP Nr. 75 zu § 613a BGB = DB 1989, 934 = ZIP 1989, 1012; BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, DB 2003, 1906 = ZIP 2003, 1671; BAG v. 27.10.2005 – 8 AZR 568/04, AP Nr. 292 zu § 613a BGB. 7 BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027 = ZIP 2003, 1671. 8 Vgl. BAG v. 27.9.1984 – 2 AZR 309/83, AP Nr. 39 zu § 613a BGB = DB 1985, 1399 = ZIP 1985, 698; BAG v. 28.4.1988 –2 AZR 623/87, AP Nr. 74 zu § 613a BGB = DB 1989, 430 = ZIP 1989, 326; BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, AP Nr. 75 zu § 613a BGB = DB 1989, 934 = ZIP 1989, 1012. 9 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, AP Nr. 34 zu § 613a BGB; BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027 = ZIP 2003, 1671.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.220 § 26

und eine vernünftige Betrachtung die Prognose rechtfertigt, dass im Zeitpunkt des Auslaufens der Kündigungsfrist der Arbeitnehmer entlassen werden kann1. Eine erfolgte oder geplante Betriebsteilstilllegung führt zum Wegfall von Beschäftigungsmöglichkeiten2. Die Planung genügt, wenn die Betriebsstilllegung endgültig und ernsthaft beabsichtigt ist3. Der Arbeitgeber muss mit der Verwirklichung der Betriebsstilllegung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung noch nicht begonnen haben. Eine alsbaldige Wiederaufnahme bzw. Wiedereröffnung begründet allerdings eine tatsächliche Vermutung gegen eine ernsthafte Stilllegungsabsicht4. Die Rechtsprechung verneint eine endgültige und ernsthafte Stilllegungsabsicht dann, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch über eine Veräußerung des Betriebes verhandelt5. Es schadet demgegenüber nicht, wenn der Arbeitgeber ungeachtet des ernsthaften und endgültigen Entschlusses zur Stilllegung den bloßen Vorbehalt hat, anderweitige, nicht absehbare Fortführungs- oder Veräußerungschancen wahrzunehmen, wenn sie sich (doch noch) bieten6. Wird die Betriebsstilllegung wider Erwarten nicht realisiert, kommt die Rechtsprechung zum Wiedereinstellungsanspruch in der Insolvenz nicht zum Tragen (Rz. 26.127 ff.).

c) Erwerberkonzept Die bei überalterten und übergroßen Belegschaften mit der Kündigungssperre verbundene „Abschreckung“ von Betriebserwerbern hat zu dem Versuch geführt, ein Sonderkündigungsrecht zur Reduzierung großer Belegschaften zu begründen, wenn anderenfalls die Betriebsübernahme scheitern würde und die Arbeitsplätze deshalb verloren gehen müssten7. Dies hat sich mangels Grundlage im Gesetz nicht durchgesetzt8. Eine andere und davon zu unterscheidende Frage ist, was gilt, wenn der Betriebsveräußerer vor dem Betriebsübergang beginnt, die Rationalisierungsvorhaben des Betriebserwerbers durch den Ausspruch von Kündigungen umzusetzen, d.h. die Organisations- und Strukturmaßnahmen des Betriebserwerbers auf Grund von Absprachen mit diesem in die Wege zu leiten. Das Bundesarbeitsgericht hat bereits früh keine Kündigung wegen Betriebsübergangs angenommen, wenn der Beginn der Rationalisierung oder Umstrukturierung durch den Betriebsveräußerer auf einer Absprache mit dem Betriebserwerber beruht, also begonnen wird, die Planungen des Betriebserwerbers umzusetzen, die auch der Betriebsveräußerer durchführen könnte9. 1 Vgl. BAG v. 27.2.1987 – 7 AZR 652/85, AP Nr. 41 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1987, 1896 = ZIP 1987, 1138; BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, AP Nr. 53 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1991, 2442 = ZIP 1991, 1374. 2 Vgl. BAG v. 27.2.1987 – 7 AZR 652/85, AP Nr. 41 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1987, 1896 = ZIP 1987, 1138; BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, AP Nr. 53 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = DB 1991, 2442 = ZIP 1991, 1374. 3 Vgl. BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771 Rz. 91; BAG v. 10.10.1996 – 2 AZR 651/ 95, NZA 1997, 92. 4 Vgl. BAG v. 21.6.2001 – 2 AZR 137/00, DB 2002, 102; LAG Düsseldorf v. 23.1.2003 – 11 (12 Sa) 1057/02, DB 2003, 2292; LAG Hamm v. 4.4.2000 – 4 Sa 1220/99, ZInsO 2000, 292. 5 Vgl. BAG v. 28.4.1988 – 2 AZR 623/87, AP Nr. 74 zu § 613a BGB = ZIP 1989, 326; BAG v. 10.10.1996 – 2 AZR 477/95, AP Nr. 81 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung = ZIP 1997, 122; BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, DB 2006, 846; BAG v. 14.5.2020 – 6 AZR 235/19, ZIP 2020, 1771 Rz. 91. 6 Vgl. BAG v. 7.3.1996 – 2 AZR 312/95; BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, AP Nr. 237 zu § 613a BGB = DB 2002, 2552. 7 Vgl. Grunsky, ZIP 1982, 772, 776; Hanau, ZIP 1984, 141, 144; Vossen, BB 1984, 1557, 1558 ff. 8 Vgl. Kreitner, Kündigungsrechtliche Probleme beim Betriebsinhaberwechsel, 1989, S. 214 ff. m.w.N. 9 Vgl. BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, AP Nr. 34 zu § 613a BGB = DB 1983, 2690 = ZIP 1983, 1377; zuletzt BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, BB 2014, 953 Rz. 70.

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26.220

§ 26 Rz. 26.220 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Dem ist zuzustimmen1. Entscheidend ist, dass die Rationalisierungsmaßnahme und nicht der Betriebsübergang der tragende Grund der Kündigung ist. Der wesentliche Schutzzweck des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB – Verhinderung einer (negativen) Auslese zu Lasten schutzbedürftiger Arbeitnehmer – bleibt uneingeschränkt gewahrt, weil die Durchführung der Rationalisierungsmaßnahme den Erfordernissen der betriebsbedingten Kündigung einschließlich der Grundsätze der Sozialauswahl unterliegt2. Es kann nicht darauf ankommen, wer den Anstoß für eine betriebliche Rationalisierungsmaßnahme oder Umorganisation gibt, die in ihrer Folge zum Wegfall von Arbeitsplätzen führt. Das LAG Berlin hat ausgeführt, dass es „wenig realistisch“ sei, dass Kündigungen erst ausgesprochen werden könnten, nachdem ein Betrieb an einen bestimmten Erwerber veräußert worden sei, und hat es als geboten angesehen, dass ein Betrieb der Treuhandanstalt durch geeignete Maßnahmen „verkaufsfähig“ gemacht werde3. Dies bringt zutreffend den Gedanken zum Ausdruck, dass mit der Umsetzung von organisatorischen und strukturellen Maßnahmen einschließlich der damit einhergehenden betriebsbedingten Kündigungen nicht bis nach dem Zeitpunkt eines Betriebsübergangs abgewartet werden kann und muss. Das Bundesarbeitsgericht hat im Anschluss an die Entscheidung vom 26.5.1983 bestätigt4: „Eine Kündigung wegen Betriebsübergangs liegt nicht vor, wenn sie der Rationalisierung (Verkleinerung) des Betriebs zur Verbesserung der Verkaufschancen dient. Ein Rationalisierungsprogramm liegt vor, wenn der Betrieb ohne die Rationalisierung stillgelegt werden müsste. Die Rationalisierung ist auch während einer Betriebspause möglich. Der Betriebsinhaber muss nicht beabsichtigen, den Betrieb selbst fortzuführen.“ Dass das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 18.7.1996 die Kündigungsmöglichkeit des Veräußerers auf Grund von Plänen und Vorstellungen des Erwerbers daran angeknüpft hat, dass anderenfalls der Betrieb stillgelegt werden müsste, erscheint kaum überzeugend. Es hat dieses Erfordernis jedenfalls für die Insolvenz aufgegeben und seine Auffassung in der Entscheidung vom 20.3.2003 zusammengefasst5: – Die Kündigung des Betriebsveräußerers auf Grund eines Erwerberkonzepts verstößt dann nicht gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn ein verbindliches Konzept oder ein Sanierungsplan des Erwerbers vorliegt, dessen Durchführung im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung bereits greifbare Formen angenommen hat. – Der Zulassung einer solchen Kündigung steht der Schutzgedanke des § 613a Abs. 4 BGB nicht entgegen, denn diese Regelung bezweckt keine „künstliche Verlängerung“ des Arbeitsverhältnisses bei einer vorhersehbar fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit des Arbeitnehmers bei dem Erwerber. – Für die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung des Veräußerers nach dem Sanierungskonzept des Erwerbers kommt es – jedenfalls in der Insolvenz – nicht darauf an, ob das Konzept auch bei dem Veräußerer hätte durchgeführt werden können. 1 Vgl. Willemsen, ZIP 1983, 411, 415 ff.; Ascheid, NZA 1991, 873, 879; Danko/Cramer, BB 2004, BBSpecial 4, S. 9, 14; Berscheid in Kölner Schrift zur InsO, S. 1081, 1120 ff.; Gaul/Bonanni/Naumann, DB 2003, 1902 ff.; Kappenhagen, BB 2003, 2182; Lipinski, NZA 2002, 75, 79; Meyer, NZA 2003, 244 ff.; Moll, NJW 1993, 2016, 2021; Sieger/Hasselbach, DB 1999, 430, 432. 2 Zu in diesem Zusammenhang nicht geklärten Fragen der Reichweite der Weiterbeschäftigungspflicht und der Sozialauswahl vgl. z.B. Mückl in Mückl/Fuhlrott/Niklas u.a., Arbeitsrecht in der Umstrukturierung, 4. Aufl. 2017, Kap. 6 Rz. 644 ff.; Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 17.42 ff. 3 Vgl. LAG Berlin v. 30.11.1993 – 12 Sa 115/93, DB 1994, 586. 4 Vgl. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, AP Nr. 147 zu § 613a BGB = DB 1996, 2288 = ZIP 1996, 2028. 5 Vgl. BAG v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/92, NZA 2003, 1027 = ZIP 2003, 1671.

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§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.224 § 26

Im Nachgang hat das Bundesarbeitsgericht dies in ständiger Rechtsprechung bestätigt1. Die Veräußerkündigung nach Erwerberkonzept setzt allerdings voraus, dass das in Aussicht genommene Konzept beibehalten, d.h. auch umgesetzt wird und keine Abweichungen erfolgen2.

d) Veräußererkonzept Wie das BAG in seinem Urteil vom 20.9.20063 zu Recht klargestellt hat, verstößt auch eine Kündigung aufgrund eines eigenen Sanierungskonzepts des Veräußerers bzw. Insolvenzverwalters nicht gegen § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB. Der Arbeitgeber könne – so das Bundesarbeitsgericht – Betriebsabläufe nach eigenem Ermessen gestalten. Ob es ihm dabei um eine langfristige Optimierung oder darum gehe, seinen Betrieb verkaufsfähig zu machen, spiele keine Rolle. Auch in diesen Fällen sei der Schutzzweck des § 613a BGB nicht betroffen. Denn § 613a BGB schütze nicht vor Risiken, die sich jederzeit unabhängig von einem Betriebs (teil)übergang realisieren könnten.

26.221

4. Besonderheiten nach der Insolvenzordnung § 128 Abs. 1 Satz 1 InsO privilegiert den Betriebserwerber in der Insolvenz. Die Vorschrift ermöglicht, dass der Insolvenzverwalter mit Hilfe der §§ 125–127 InsO auch dann vorgehen kann und diese Vorschriften zur Anwendung gelangen, wenn eine Betriebsänderung erfolgt, die nach der Betriebsübernahme von einem Erwerber durchgeführt wird4. Der Insolvenzverwalter kann mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste im Hinblick auf eine Betriebsänderung vereinbaren, die (erst) ein Betriebsübernehmer durchführt. Der Insolvenzverwalter kann ebenso ein Beschlussverfahren im Hinblick auf eine Betriebsänderung beginnen, die eine Betriebsübernahme für die Zeit nach dem Betriebsübergang im Auge hat5. Ob der Insolvenzverwalter und ein Erwerber oder Erwerbsinteressent ein Vorgehen im Rahmen des § 128 Abs. 1 Satz 1 InsO wählen oder nicht, ist deren Entscheidung überlassen. Es wird so sein, dass der Insolvenzverwalter ohnehin die gebotenen Kündigungen ausspricht.

26.222

Der Gesetzeswortlaut deckt nicht nur die Fälle ab, in denen von vornherein eine Betriebsänderung des Erwerbers geplant wird. § 128 Abs. 1 Satz 1 InsO ist auch dann anwendbar, wenn zunächst zwar der Insolvenzverwalter eine eigene Betriebsänderung plant, im Nachhinein jedoch ein Erwerber den Betrieb übernimmt, der die Planung des Insolvenzverwalters nicht ändert, sondern realisiert6.

26.223

Der Betriebserwerber ist Beteiligter in dem Beschlussverfahren nach § 126 InsO (§ 128 Abs. 1 Satz 2 InsO). Diese Regelung betrifft nach teilweise vertretener Ansicht sowohl die Stellung desjenigen, der den Betrieb bereits übernommen hat7 oder der als Erwerber feststeht, als auch desjenigen, der lediglich als Erwerbsinteressent in Betracht kommt, in dessen Interesse der Insolvenzverwalter das Beschlussverfahren betreibt.

26.224

1 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387, Rz. 31 = ZIP 2007, 595; BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, BB 2014, 953, Rz. 70. 2 Vgl. LAG Köln v. 11.9.2013 – 5 Sa 1128/12. 3 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387 = ZIP 2007, 595; bestätigt zuletzt in BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12, BB 2014, 953, Rz. 70. 4 S. z.B. LAG Köln v. 26.2.2004 – 6 Sa 875/03. 5 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 128 InsO Rz. 15. 6 Vgl. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 128 InsO Rz. 15. 7 Str. vgl. z.B. Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 128 InsO Rz. 18 m.w.N. auch zur Gegenansicht.

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§ 26 Rz. 26.225 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

26.225

Die Rechtswirkungen der auch im Falle des Betriebsübergangs gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 InsO anwendbaren Regelungen der §§ 125–127 InsO werden durch § 128 Abs. 2 InsO klargestellt. Die Vermutung des Vorliegens dringender betrieblicher Erfordernisse im Falle des § 125 Abs. 1 Satz 1 InsO gilt auch dahingehend, dass vermutet wird, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nicht wegen eines Betriebsübergangs erfolgt. Die Feststellung der sozialen Rechtfertigung durch das Arbeitsgericht nach § 126 Abs. 1 Satz 1 InsO beinhaltet zugleich die Feststellung dahingehend, dass die Kündigung nicht wegen des Betriebsübergangs erfolgt. In beiden Fällen handelt es sich um konsequente Ableitungen aus der Vermutung kraft des Interessenausgleichs mit Namensliste bzw. der Feststellung des Arbeitsgerichts. Die Vermutung oder Feststellung dringender betrieblicher Erfordernisse oder der sozialen Rechtfertigung schließt die Annahme einer Kündigung wegen Betriebsübergangs aus (§ 613a Abs. 4 Satz 2 BGB)1.

26.226

Offen ist, ob § 128 Abs. 2 InsO für Arbeitnehmer bedeutsam werden kann, die vom Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nicht erfasst werden2. Die Frage ist zu bejahen. Es müsste als Wertungswiderspruch angesehen werden, wenn Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz mit Unwirksamkeitsgründen durchdringen könnten, die Arbeitnehmern mit Kündigungsschutz versagt sind. Soweit es um die soziale Rechtfertigung und die damit verbundenen Konsequenzen für § 613a Abs. 4 Sätze 1 und 2 BGB geht, greift die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO folgerichtig auch für Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz ein, wenn sie in den Interessenausgleich mit Namensliste aufgenommen worden sind. Entsprechendes gilt für die Entscheidung des Arbeitsgerichts nach § 126 Abs. 1 Satz 1 InsO i.V.m. § 127 Abs. 1 InsO.

26.227

Die Bezugnahme des § 128 Abs. 1 InsO auf die §§ 125–127 InsO umfasst auch den Vorbehalt der wesentlichen Änderung der Sachlage. Eine derartige Änderung liegt etwa vor3, wenn es zu einer beabsichtigten Betriebsveräußerung nicht kommt oder wenn ein anderer Erwerber den Betrieb übernimmt oder wenn ein anderes Umstrukturierungskonzept realisiert wird.

5. Aufhebungs- und Änderungsvereinbarungen 26.228

Die Rechtsfolgen des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB können anlässlich eines konkreten Betriebsübergangs einverständlich geändert werden. Die Arbeitsvertragsparteien können anlässlich eines Betriebsübergangs insbesondere die Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbaren4. Dies ergibt sich daraus, dass der Arbeitnehmer dem Betriebsübergang widersprechen und so die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bei dem Betriebserwerber verhindern kann. Die Aufhebungsvereinbarung kann sowohl mit dem alten als auch mit dem neuen Arbeitgeber geschlossen werden5. Ein unter Vorspiegelung falscher Tatsachen abgeschlossener Aufhebungsvertrag kann wegen arglistiger Täuschung angefochten werden6. Gleiches gilt bei widerrechtlicher Drohung7. Soweit ein Aufhebungsvertrag in einer Situation unterschrieben wird, in der einerseits eine durch den Gläubigerausschuss manifestierte Stilllegungsabsicht bestand, zugleich aber deutlich gemacht wird, dass ein Investor gesucht wurde, liegt regelmäßig keine arglistige Täuschung über die Fortführung des Betriebs vor8. Die Rechtsfolgen des Betriebsüber1 2 3 4 5 6 7 8

Vgl. Giesen, ZIP 1998, 46, 50. Befürwortend Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 128 InsO Rz. 21. Vgl. Friese, ZInsO 2001, 350, 359 m.w.N. Ausführlich z.B. Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 17.192 ff. BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, NZA 2006, 145 Rz. 28 = ZIP 2006, 148. Vgl. BAG v. 23.11.2006 – 8 AZR 349/06, NZA 2007, 866 Rz. 32. Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 17.200 m.w.N. Vgl. LAG Hamburg v. 16.12.2014 – 4 Sa 40/14, ZIP 2015, 700.

900 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.230 § 26

gangs können nicht durch Vereinbarungen zwischen Betriebsveräußerer und Betriebserwerber abbedungen oder geändert werden1. Die Rechtsprechung steht trotz der grundsätzlichen Dispositionsmöglichkeit Vereinbarungen im Zusammenhang mit Betriebsübergängen mit Skepsis gegenüber. Der Abschluss des Aufhebungsvertrags ist nicht von besonderen Gründen oder sachlichen Voraussetzungen abhängig. Er ist aber nur wirksam, wenn er tatsächlich auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis gerichtet ist2. Voraussetzung ist, dass nicht bereits in Aussicht genommen ist, dass das Arbeitsverhältnis mit dem Betriebserwerber fortgesetzt wird. Der Aufhebungsvertrag ist in diesem Falle nicht auf eine endgültige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichtet, sondern bezweckt als Umgehung von § 613a BGB lediglich die Beseitigung der Kontinuität. Die Aufhebungsvereinbarung dient dann nicht (lediglich) der Unterbrechung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses, wenn eine Beschäftigung bei dem Betriebserwerber ungewiss ist, d.h. nicht mehr als eine mehr oder weniger begründete Erwartung besteht, bei dem Betriebserwerber in ein Arbeitsverhältnis treten zu können („Risikogeschäft“).

26.229

Das Lemgoer Modell ist als Gesetzesumgehung angesehen worden. Es handelt sich dabei um eine Gestaltung, bei der die Arbeitnehmer mit Hinweis auf den Betriebsübergang und die Erhaltung der Arbeitsplätze veranlasst werden, entweder eine Eigenkündigung auszusprechen oder einem Aufhebungsvertrag zuzustimmen, um sogleich mit dem Betriebserwerber einen neuen Arbeitsvertrag zu schließen. Dies bezweckt, dass der Betriebserwerber losgelöst von den bisherigen Arbeitsverträgen neue Arbeitsverträge mit für ihn wünschenswerten Arbeitsbedingungen eingehen kann und dass die Arbeitnehmer Rechte aus dem Arbeitsvertrag (Beispiel: Versorgungszusagen) verlieren. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses Vorgehen wegen Umgehung des § 613a Abs. 4 Satz 1 BGB für unwirksam erklärt3. Als Ziel werde allein verfolgt, aus Anlass des Betriebsübergangs sämtliche Arbeitsbedingungen zu verändern und erworbene Besitzstände abzubauen. Es gehe letztlich nicht um die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse überhaupt, weil diese bereits festgestanden haben und zugesagt gewesen seien. Das Bundesarbeitsgericht hat seine Rechtsprechung wie folgt zusammengefasst4: Schließt ein Arbeitnehmer im Falle eines Betriebsübergangs mit dem Betriebsveräußerer einen Aufhebungsvertrag und gleichzeitig mit dem Betriebserwerber einen Arbeitsvertrag, so ist der Aufhebungsvertrag wegen Umgehung des § 613a BGB nichtig. Dies gilt auch dann, wenn dem Arbeitnehmer im Zusammenhang mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrags vom Betriebserwerber ein neues Arbeitsverhältnis verbindlich in Aussicht gestellt wird oder es für den Arbeitnehmer nach den gesamten Umständen klar gewesen ist, dass er vom Betriebserwerber eingestellt werde. Diese Umstände hat der Arbeitnehmer näher darzulegen und ggf. zu beweisen. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zu einer Eigenkündigung veranlasst5.

26.230

1 Vgl. BAG v. 20.3.2014 – 8 AZR 1/13, ZIP 2014, 1992 Rz. 24; BAG v. 29.10.1975 – 5 AZR 444/74, AP Nr. 2 zu § 613a BGB = DB 1976, 391. 2 Vgl. BAG v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung; BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, AP Nr. 13 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung; BAG v. 11.12.1997 – 8 AZR 654/95, NZA 1999, 262; BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, AP Nr. 185 zu § 613a BGB; BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, DB 2006, 107; BAG v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, NZA 2013, 961 Rz. 36 = ZIP 2013, 1186. 3 Vgl. BAG v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, AP Nr. 5 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = DB 1988, 400 = ZIP 1988, 120; BAG v. 11.2.1992 – 3 AZR 117/91, AP Nr. 13 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung = ZIP 1992, 1247; Kreitner, Kündigungsrechtliche Probleme beim Betriebsinhaberwechsel, 1989, S. 195 ff. 4 Vgl. BAG v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203. 5 Vgl. BAG v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11 L, DB 2013, 642 = ZIP 2013, 1186.

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§ 26 Rz. 26.230 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Es kommt dann darauf an, ob die Eigenkündigung auf das endgültige Ausscheiden aus dem Betrieb gerichtet ist oder nur der Beseitigung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses bei gleichzeitigem Erhalt des Arbeitsplatzes dient; davon ist auszugehen, wenn zeitgleich mit der Veranlassung der Eigenkündigung bei dem Betriebsveräußerer ein neues Arbeitsverhältnis mit dem Betriebserwerber vereinbart wird oder nach den gesamten Umständen erkennbar ist, dass der Arbeitnehmer von dem Betriebserwerber eingestellt wird.

26.231

Ein Umgehungsfall liegt vor, wenn Aufhebungsverträge abgeschlossen werden, die Beschäftigten in eine Transfergesellschaft wechseln und konkret vorgesehen ist, dass der Betriebserwerber bestimmte Arbeitnehmer später übernimmt1. Der Abschluss des Aufhebungsvertrags ist zwar nicht von besonderen Gründen oder sachlichen Voraussetzungen abhängig. Er ist jedoch nur wirksam, wenn er tatsächlich auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis gerichtet ist (Rz. 26.226). Dementsprechend sind dreiseitige Verträge möglich, die zum Inhalt haben, dass ein Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis statt bei dem (insolventen) Arbeitgeber oder einem Betriebserwerber bei einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (Transfergesellschaft) fortsetzt2. Voraussetzung ist allerdings, dass nicht bereits in Aussicht genommen ist, das Arbeitsverhältnis dann nach einer Kurzunterbrechung mit dem Betriebserwerber fortzusetzen. Der Aufhebungsvertrag ist in diesem Falle nicht auf eine endgültige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichtet, sondern bezweckt als Umgehung von § 613a BGB lediglich die Beseitigung der Kontinuität. Die Aufhebungsvereinbarung dient dann nicht (lediglich) der Unterbrechung der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses, wenn eine Beschäftigung bei dem Betriebserwerber ungewiss ist, d.h. nicht mehr als eine mehr oder weniger begründete Erwartung besteht, bei dem Betriebserwerber in ein Arbeitsverhältnis treten zu können. Da das BAG an das Kriterium „auf das endgültige Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb gerichtet“ zunehmend sehr hohe Anforderungen stellt und insbesondere das „verbindliche Inaussichtstellen“ eines letztlich intendierten Fortbestands des Arbeitsverhältnisses zu veränderten (schlechteren) Bedingungen bei dem Erwerber vergleichsweise schnell annimmt, wird dem sog. BQG-Modell wird in der arbeitsrechtlichen Praxis zunehmend mit Zurückhaltung begegnet3. Selbst die Insolvenzpraxis, die dieses Modell wesentlich mitgestaltet hatte, sucht zunehmend andere Wege. Keine taugliche alternative Option ist allerdings die sog. Widerspruchslösung4. Denkbar sind Widersprüche gegen vorhergehende Betriebsübergänge5.

26.232

Änderungsverträge aus Anlass des Betriebsübergangs werden einer strengen Inhaltskontrolle unterzogen. Ein Teil der Entscheidungen betrifft Erlassvereinbarungen über gestundete und rückständige Vergütung6. Diese Problematik ist im Insolvenzverfahren weniger relevant, 1 S. dazu Pils, NZA 2013, 125; Willemsen, NZA 2013, 242 ff. („Erfurter Roulette“); Mückl/Götte, ZInsO 2017, 357. 2 BAG v. 10.12.1998 – 8 AZR 324/97, AP Nr. 185 zu § 613a BGB = ZIP 1999, 320; BAG v. 18.8.2005 – 8 AZR 523/04, DB 2006, 107 = ZIP 2006, 148; BAG v. 18.8.2011 – 8 AZR 312/10, NZA 2012, 152 = ZIP 2011, 2426; Einzelheiten bei Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, § 128 InsO Rz. 45 ff. 3 S. dazu Mückl/Götte, ZInsO 2017, 357; Pils, NZA 2013, 125; Willemsen, NZA 2013, 242 ff. („Erfurter Roulette“). 4 Entwickelt von Willmer/Fuchs/Berner, NZI 2015, 263 ff.; dagegen ausführlich Mückl/Götte, ZInsO 2017, 357 ff.; dem folgend Meyer in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 8 Rz. 325; Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 128 InsO Rz. 28a; Preis in ErfK, 22. Aufl. 2022, BGB § 613a Rz. 110. 5 Mückl, ZInsO 2018, 2341 ff. 6 Vgl. BAG v. 18.8.1976 – 5 AZR 95/75, DB 1977, 310; BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, DB 1988, 1653 = ZIP 1988, 989.

902 | Mückl

§ 26 Arbeitsrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 26.232 § 26

weil der Betriebserwerber ohnehin nicht für Rückstände aus der Vergangenheit haftet (Rz. 26.212). Ein anderer Teil der Entscheidungen betrifft Vereinbarungen über eine künftige Nichterbringung bzw. Verringerung von Leistungen1. Das Bundesarbeitsgericht verlangt für Verschlechterungsvereinbarungen anlässlich eines Betriebsübergangs auch insoweit einen sachlichen Grund2. Ein solcher sachlicher Grund liegt typischerweise vor, wenn der Betrieb Not leidend ist. Die Insolvenzsituation ist für sich allein jedoch nicht als sachlicher Grund angesehen worden: Der Betriebserwerber muss – darüber hinaus – darlegen, dass die Fortführung der ganz oder teilweise aufgehobenen Verpflichtung zu Schwierigkeiten für das Unternehmen führt. Das Bundesarbeitsgericht hat betont, dass an das Vorliegen sachlicher Gründe ein strenger Maßstab anzulegen und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nur unter engen Voraussetzungen möglich sei3. Der Betriebserwerber wird also darlegen müssen, dass die Senkung des Niveaus von Nebenleistungen oder Vergütungen für eine Fortführung und Weiterentwicklung des Unternehmens erforderlich ist. Diese Rechtsprechung ist in der Literatur zu Recht kritisiert worden4. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geht über den Schutzzweck des § 613a BGB hinaus. Die Vorschrift bezweckt, dass die Arbeitsverhältnisse ähnlich wie in Fällen einer Gesamtrechtsnachfolge oder einer Veräußerung von Gesellschaftsanteilen erhalten bleiben. Dass die Arbeitnehmer einen zusätzlichen Bestands- und Inhaltsschutz erreichen, den sie weder bei Verbleiben des Betriebs beim alten Arbeitgeber noch bei Veräußerung von Gesellschaftsanteilen noch bei Gesamtrechtsfolge haben würden, ist nicht begründbar. Etwaige Änderungsvereinbarungen sind allein nach denjenigen Kontrollinstrumenten und Rechtsinstituten zu beurteilen, die auch außerhalb des Betriebsübergangs für die Beurteilung von Änderungsvereinbarungen anwendbar sind. Der EuGH hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die Richtlinie keinen Änderungen des Arbeitsverhältnisses entgegensteht, die ohne Betriebsübergang nach dem Recht eines Mitgliedstaats möglich sind5. Schließlich gilt die Vertragsfreiheit auch im Zusammenhang mit Betriebsübergang und Umwandlung, wie der EuGH in seinen Entscheidungen vom 14.9.20006 1 Vgl. BAG v. 26.1.1977 – 5 AZR 302/75, DB 1977, 1192: Treueprämien; BAG v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, DB 1980, 308 = ZIP 1980, 117: Abschwächung von Steigerungsbeträgen für Betriebsrenten; BAG v. 29.10.1985 – 3 AZR 485/83, DB 1986, 1779 = ZIP 1986, 1001: Nichtfortführung von Versorgungsversprechen; BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, DB 1988, 1653 = ZIP 1988, 989: Herabsetzung von Vergütungen; BAG v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, DB 1992, 2038 = ZIP 1992, 1408: Aufhebung von Versorgungsversprechen. 2 BAG v. 19.3.2009 – 8 AZR 722/07, NZA 2009, 1091 Rz. 26 f. = ZIP 2009, 1733. 3 Vgl. BAG v. 27.4.1988 – 5 AZR 358/87, DB 1988, 1653 = ZIP 1988, 989; BAG v. 12.5.1992 – 3 AZR 247/91, DB 1992, 2038 = ZIP 1992, 1408. 4 Vgl. Niklas in Gaul, Arbeitsrecht der Umstrukturierung, 2. Aufl. 2022, § 18.19 ff.; Willemsen/Müller-Bonanni in Willemsen/Hohenstatt/Schweibert/Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Aufl. 2021, Kap G Rz. 195 f.; Feudner, DB 1996, 830, 832; Moll, NJW 1994, 2016, 2022; Pietzko, ZIP 1990, 1105 ff.; Willemsen, RdA 1987, 327 ff. 5 Vgl. EuGH v. 10.2.1988 – C-324/86, Slg. 1988, 739 (Einem Restaurantleiter war gekündigt worden, weil der Arbeitgeber [Pächter] keine Schankerlaubnis erhalten hatte und das Pachtverhältnis beendet wurde. Der Verpächter verpachtete das Restaurant anderweitig. Der nunmehrige Pächter schloss mit dem Restaurantleiter wieder einen Arbeitsvertrag ab, der jedoch [auf Wunsch des Restaurantleiters allerdings] eine verkürzte Kündigungsfrist vorsah. Deren Wirksamkeit stand zur Entscheidung. Der EuGH führt aus, dass die Richtlinie „einer mit dem neuen Unternehmensinhaber vereinbarten Änderung des Arbeitsverhältnisses nicht entgegensteht, wenn das anwendbare innerstaatliche Recht eine solche Änderung unabhängig von einem Unternehmensübergang zulässt.“); EuGH v. 12.11.1992 – C-209/91, ECLI:EU:C:1992:436, Slg. 1992, 5773. S. dazu auch Bergwitz, DB 1999, 2005, 2009. 6 EuGH v. 14.9.2000 – C-343/98, NZA 2000, 1278 Rz. 52 = ZIP 2000, 1996.

Mückl | 903

§ 26 Rz. 26.232 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

und 6.11.20001 deutlich gemacht hat. Das Bundesarbeitsgericht geht über Reichweite und Schutzzweck des § 613a BGB mit seiner auf diese Norm gestützten Inhaltskontrolle von Änderungsvereinbarungen deutlich und grundlos hinaus. Richtig ist demgegenüber lediglich unzweifelhaft, dass ein nach einem Betriebs(teil)übergang erklärter einzelvertraglicher Verzicht auf einen bereits entstandenen tariflichen Anspruch wegen Verstoßes gegen § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG unabhängig davon unwirksam ist, ob er gegenüber dem Veräußerer oder gegenüber dem Erwerber erklärt wird2. Es ist unproblematisch, wenn nach dem Betriebsübergang die Änderung von Arbeitsbedingungen (Bsp.: Entgeltreduzierung) zwischen dem Betriebserwerber und dem Arbeitnehmer vereinbart wird3.

1 EuGH v. 6.11.2003 – C-4/01 – Martin, NZA 2003, 1325, Rz. 41 f. 2 BAG v. 12.2.2014 – 4 AZR 317/12, NZA 2014, 613, Rz. 23 = ZIP 2014, 988. 3 Vgl. LAG Mecklenburg-Vorpommern v. 11.3.2015 – 3 Sa 128/14, LAGE § 613a BGB 2002 Nr. 43.

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§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren I. Zahlungsverkehr Auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat das kontoführende Kreditinstitut bei der Abwicklung des Zahlungsverkehrs insolvenzrechtliche Besonderheiten zu beachten (zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs in der Krise s. Rz. 4.2 ff. und im Eröffnungsverfahren s. Rz. 17.1 ff.).

27.1

1. Zahlungseingänge im eröffneten Verfahren Gehen zu Gunsten des Kontos einer GmbH, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, noch Zahlungseingänge ein, gilt folgendes: Zwar erlöschen mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach §§ 115, 116 InsO sämtliche Geschäftsbesorgungsverträge, die die insolvente GmbH abgeschlossen hatte, und damit auch der Zahlungsdiensterahmenvertrag. Dennoch kann das Kreditinstitut Überweisungseingänge weiterhin entgegennehmen, muss die Zahlungen dann aber nach § 667 BGB herausgeben1. Dies ergibt sich aus einer Nachwirkung der beendeten Geschäftsverbindung2. Da jedoch mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Kontoinhabers auch das Kontokorrentverhältnis einschließlich der Verrechnungsabrede erlischt, ist das kontoführende Kreditinstitut nicht mehr berechtigt, Überweisungseingänge durch Gutschriften auf dem debitorischen Konto des Schuldners automatisch zu verrechnen und hierdurch seine Forderungen zu reduzieren3. Im Übrigen folgt dies auch aus § 91 Abs. 1 InsO, aus dem sich ergibt, dass Vorausverfügungen des Schuldners über zukünftige Forderungen – auch in Gestalt von Aufrechnungs- und Verrechnungsverträgen – in der Insolvenz keinen Bestand haben, wenn die fragliche Forderung erst nach Verfahrenseröffnung zur Entstehung gelangt. Allerdings kann nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein neuer Zahlungsdiensterahmenvertrag ausdrücklich oder auch konkludent abgeschlossen werden4. Hat das Kreditinstitut aber überhaupt keine Kenntnis von dem Insolvenzverfahren, können Handlungen des Kreditinstituts, die sich nach objektivem Empfängerhorizont als vertragsgemäßes Verhalten im Rahmen eines Zahlungsdiensterahmenvertrages darstellen, aber nicht als eine konkludente Zustimmung des Kreditinstituts zum Neuabschluss eines Kontovertrages angesehen werden5.

27.2

Auch eine Aufrechnung des kontoführenden Kreditinstituts mit seinem Anspruch aus dem Debetsaldo des Schuldners gegen dessen nachvertraglichen Anspruch auf Herausgabe des von dem Kreditinstitut entgegengenommenen Geldbetrages ist gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ausgeschlossen. Denn nach dieser Vorschrift kann das Institut nicht mehr aufrechnen, wenn es auf Grund eines Überweisungseingangs erst nach Insolvenzeröffnung dem Kunden etwas schuldig

27.3

1 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 164/14, WM 2015, 733 Rz. 9 = ZIP 2015, 738; BGH v. 5.12.2006 – XI ZR 21/06, WM 2007, 348 = ZIP 2007, 319. 2 Diese nachwirkende Befugnis des Kreditinstituts, Zahlungseingänge noch gutzuschreiben, kann auch mehr als vier Jahre nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch bestehen, vgl. BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 164/14, WM 2015, 733 Rz. 10 = ZIP 2015, 738. 3 BGH v. 19.9.2021 – IX ZR 213/20, ZIP 2021, 2242 ff.; BGH v. 21.2.2019 – IX ZR 246/17, ZInsO 2019, 678; Steinhoff, ZIP 2000, 1141, 1142. 4 BGH v. 21.2.2019 – IX ZR 246/17, ZInsO 2019, 678 Rz. 19. 5 BGH v. 19.9.2021 – IX ZR 213/20, ZIP 2021, 2242 Rz. 10 ff.

Kuder/Unverdorben | 905

§ 27 Rz. 27.3 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

geworden ist1. Ob eine Zahlung vor oder nach Insolvenzeröffnung eingegangen ist, richtet sich dabei danach, zu welchem Zeitpunkt das Kreditinstitut buchmäßige Deckung erhalten hat.

2. Ausführung von Zahlungsaufträgen im eröffneten Verfahren a) Neue Zahlungsaufträge 27.4

Da mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens grundsätzlich alle von der GmbH ihrem Kreditinstitut erteilten Aufträge und Geschäftsbesorgungsverträge erlöschen (§ 116 Satz 1 InsO) und demgemäß auch der Zahlungsdiensterahmenvertrag (Girovertrag) endet, ist das Kreditinstitut zur Ausführung neuer Zahlungsaufträge zu Lasten eines insolvenzbefangenen Kontos nicht mehr verpflichtet. Zudem ist die Verfügungsbefugnis mit der Eröffnung auf den Insolvenzverwalter übergegangen (§ 80 InsO). Sofern das Kreditinstitut gleichwohl nach Insolvenzeröffnung noch Zahlungsaufträge der GmbH ausführt, ist zu unterscheiden, ob das Kreditinstitut bei der Ausführung von der Insolvenzeröffnung Kenntnis hatte oder nicht.

27.5

Das Kreditinstitut ist dabei nicht verpflichtet, organisatorische Vorkehrungen zu treffen, um die im Internet zugänglichen Informationen über Verfahrenseröffnungen systematisch aufzunehmen und weiter zu verarbeiten2. Allein die Möglichkeit, diese Informationen durch eine Einzelabfrage auf dem Insolvenzportal insolvenzbekanntmachungen.de zu gewinnen, hindert das Kreditinstitut nach Treu und Glauben nicht, sich auf seine Unkenntnis zu berufen3. Ist dem Kreditinstitut bei Ausführung eines Zahlungsauftrags die Insolvenzeröffnung nicht bekannt, so wird das Kreditinstitut trotz Erlöschen des Auftrags von seiner Schuld befreit bzw. erwirbt – falls seine Unkenntnis nicht auf Fahrlässigkeit beruhte – Aufwendungsersatzansprüche gegen die Insolvenzmasse. Dies richtet sich danach, ob das Konto des Kunden ein Guthaben aufweist oder sich im Soll befindet. Wies das Konto des Kunden ein Guthaben auf, so wird das Kreditinstitut, das in Unkenntnis von der Insolvenzeröffnung einen Zahlungsauftrag ausführte, durch die Zahlung an den Empfänger von seiner Schuld gegenüber dem Kontoinhaber nach § 82 InsO befreit4. Die Zahlung an den Empfänger ist nämlich rechtlich als Leistung an den Kontoinhaber zu werten. Für die Anwendung der Schutzvorschrift des § 82 InsO ist es ohne Bedeutung, ob das Guthaben, aus dem das Kreditinstitut geleistet hat, schon bei Verfahrenseröffnung vorhanden war oder ob es erst durch Zahlungseingänge nach Verfahrenseröffnung entstanden ist. § 82 InsO bezieht sich unterschiedslos auf sämtliche Verbindlichkeiten, die „zur Insolvenzmasse zu erfüllen“ waren.

27.6

Wies das Konto der insolventen GmbH bei Ausführung des Zahlungsauftrags einen Debetsaldo aus, so kann das kontoführende Kreditinstitut seinen Aufwendungsersatzanspruch als Insolvenzforderung geltend machen (§§ 116, 115 Abs. 3 InsO)5. Denn nach § 115 Abs. 3 Satz 1 InsO gilt ein Auftrag, und damit nach § 116 InsO auch ein Geschäftsbesorgungsvertrag, als 1 Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 96 InsO Rz. 24; Steinhoff, ZIP 2000, 1141, 1142. 2 BGH v. 15.4.2010 – IX ZR 62/09, ZInsO 2010, 912 m. Anm. Wittmann/Kinzl, ZIP 2011, 2232. 3 Zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn der Gläubiger glaubhaft macht, dass er einen Beschluss auf involvenzbekanntmachungen.de nicht entdeckt hat, weil er aufgrund der unzureichenden Erläuterungen auf der Suchmaske nicht bemerkt hat, dass er den Vornamen nicht eingeben darf, um vollständige Suchergebnisse zu erhalten: BGH v. 10.10.2013 – IX ZR 229/11, ZInsO 2014, 88 m. Anm. Hafemeister, ZInsO 2014, 447. 4 Steinhoff, ZIP 2000, 1141, 1142; Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 82 InsO Rz. 21. 5 Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 116 InsO Rz. 21 f.

906 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.8 § 27

fortbestehend, solange der Beauftragte die Eröffnung des Verfahrens ohne Verschulden nicht kannte. Mit den Ersatzansprüchen aus dieser Fortsetzung ist der Beauftragte Insolvenzgläubiger. Für die Schutzwirkung der §§ 116, 115 Abs. 3 InsO ist aber wesentlich, ob die Unkenntnis des Kreditinstituts auf Fahrlässigkeit beruht; in diesem Fall erwirbt es keinen Aufwendungsersatzanspruch, da das Fortbestehen des Auftrags nur dann fingiert wird, wenn dem Beauftragten das Erlöschen des Auftrags weder bekannt war noch bekannt sein musste. Das Kreditinstitut ist jedoch nicht auf die Insolvenzquote verwiesen, wenn ihm andere Werte der insolventen GmbH als Sicherheit für seine Forderung haften. § 115 Abs. 3 InsO schließt nämlich nicht aus, dass das Kreditinstitut für seine Forderung ein Absonderungsrecht erhält, sondern stellt nur klar, dass keine Masseforderungen entstehen, obwohl das Kreditinstitut nach Verfahrenseröffnung keine Leistung zu Gunsten der Masse erbringt. Dabei können Sicherungsrechte insbesondere auch auf Grund des Pfandrechts gemäß Nr. 14 AGB-Banken bzw. Nr. 21 AGB-Sparkassen an Werten bestehen, die vor Verfahrenseröffnung in den Besitz des Kreditinstituts gelangt sind. Führt das Kreditinstitut einen Zahlungsauftrag der GmbH mit Kenntnis oder auf Grund fahrlässiger Unkenntnis der Insolvenzeröffnung aus, so erwirbt das Kreditinstitut gegen den insolventen Kunden im Grundsatz keinen Aufwendungsersatzanspruch, den es mit einem Guthaben verrechnen oder im Falle eines debitorischen Saldos als Insolvenzforderung anmelden könnte. Denn nach dem Erlöschen des Zahlungsdiensterahmenvertrages und des Zahlungsauftrags konnte ein Aufwendungsersatzanspruch nicht mehr begründet werden. Eine entsprechende Belastung des Schuldnerkontos wäre gegenüber der Insolvenzmasse gemäß § 82 InsO unberechtigt und unwirksam1. Stattdessen ist das Kreditinstitut auf einen Bereicherungsanspruch gegen den Empfänger der Zahlung angewiesen2. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Zahlungsempfänger die Insolvenzeröffnung kannte. Soweit der Zahlungsbegünstigte jedoch gutgläubig war, besteht für ihn die Möglichkeit, gegen den Bereicherungsanspruch die Einrede der Entreicherung zu erheben.

27.7

b) Bei Eröffnung bereits vorliegende Zahlungsaufträge Für bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugegangene Zahlungsaufträge ordnet § 116 Satz 3 InsO an, dass diese trotz der Verfahrenseröffnung bestehen bleiben. Das Kreditinstitut ist folglich berechtigt und gemäß § 675o Abs. 2, § 675n Abs. 1 BGB verpflichtet, den Zahlungsauftrag weiter abzuwickeln3. Daran wird das Kreditinstitut zwar kein Interesse haben, wenn für die Überweisung ein Kredit in Anspruch genommen würde. Um sich von der Verpflichtung zur Durchführung der Überweisung zu lösen, muss das Kreditinstitut jedoch den Kreditvertrag außerordentlich kündigen; dazu ist das Institut wegen der Insolvenzeröffnung gemäß § 490 Abs. 1 BGB berechtigt4. Zur Ausübung des Kündigungsrechts ist das Kreditinstitut jedoch nicht verpflichtet. Verzichtet das Kreditinstitut auf die Kündigung, so erwirbt es aus der Ausführung der Überweisung einen Aufwendungsersatzanspruch, der nunmehr als Masseforderung zu bedienen ist5. Ist ein Guthaben vorhanden, kann das Kreditinsti1 Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 82 InsO Rz. 21; Nobbe, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Überweisungsverkehr, WM-Sonderbeilage 4/2001, S. 5, unter Berufung auf BGH v. 9.10.1974 – VIII ZR 190/73, WM 1974, 1127, 1129. 2 Dazu Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 82 InsO Rz. 22. 3 Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/340 (142. Lfg.). 4 Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/340a (142. Lfg.). 5 Vuia in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 82 InsO Rz. 21 f.; Nobbe, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Überweisungsverkehr, WM-Sonderbeilage 4/2001, S. 5.

Kuder/Unverdorben | 907

27.8

§ 27 Rz. 27.8 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

tut den Überweisungsauftrag, ohne selbst Nachteile zu erleiden, weiter abwickeln. Das Kreditinstitut erwirbt den Aufwendungsersatzanspruch als Masseforderung nach § 116 Satz 3 InsO. Mit diesem Anspruch kann das Kreditinstitut gegen die Guthabenforderung aufrechnen, da die Aufrechnungsverbote des § 96 InsO nicht eingreifen. Denn sie gelten nicht für Massegläubiger.

3. Besonderheiten im Lastschriftverkehr a) Einlösung von Lastschriften nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens 27.9

Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlöschen neben dem Zahlungsdiensterahmenvertrag auch die von dem Schuldner erteilten SEPA-Lastschriftmandate, die rechtlich als Geschäftsbesorgungsverträge einzuordnen sind (§ 116 InsO).

27.10

Hat das Kreditinstitut Kenntnis von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen seines zahlungspflichtigen Kunden und löst es die Lastschrift – in der Regel wohl versehentlich – gleichwohl ein, erwirbt es keinen Aufwendungsersatzanspruch gegen den Kunden, den es mit einem Guthaben verrechnen oder im Falle einer debitorischen Kontoführung als Insolvenzforderung anmelden könnte1. Stattdessen hat das Kreditinstitut einen Bereicherungsanspruch im Wege der Eingriffskondiktion gegen den Zahlungsempfänger2.

27.11

Sofern dem Kreditinstitut die Eröffnung des Verfahrens zum Zeitpunkt der Belastung der Lastschrift nicht bekannt ist, kann es trotz des Erlöschens des Zahlungsdiensterahmenvertrages und des Lastschriftmandats – im Fall der Einlösung aus Guthaben – gemäß § 82 InsO wirksam verrechnen oder – im Fall eines debitorischen Kontos – seinen Aufwendungsersatzanspruch, sofern vorhanden, aus den Erlösen der Verwertung ihm gestellter Kreditsicherheiten entnehmen bzw. als Insolvenzforderung anmelden (§§ 116, 115 Abs. 3 InsO)3. Die Beweislast für die Kenntnis des Kreditinstituts trifft vor der öffentlichen Bekanntmachung den Insolvenzverwalter (§ 82 Satz 1 InsO), danach muss das Kreditinstitut seine Unkenntnis beweisen (§ 82 Satz 2 InsO). Der maßgebliche Zeitpunkt für die Kenntnis ist der Zeitpunkt, in dem das Kreditinstitut als Zahlstelle die Lastschrift eingelöst hat; dies ist der Fall, wenn die Belastung auf dem Konto des Zahlungspflichtigen gebucht ist und diese Buchung nicht spätestens am zweiten Buchungstag nach der Belastung rückgängig gemacht wird4.

b) Einzug von Lastschriften nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens 27.12

Da der Zahlungsdiensterahmenvertrag mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erloschen ist (§ 116 InsO), kann der Insolvenzverwalter das Konto nur in der Form eines Insolvenz-Sonderkontos weiter nutzen, wenn er und das Kreditinstitut sich in einer gesonderten Vereinbarung darauf geeinigt haben, dass der Zahlungsdiensterahmenvertrag fortgeführt wird. Das gleiche gilt für die Zulassung zum Lastschrifteinzug. Da zudem auch die Lastschriftmandate erloschen sind, benötigt der Insolvenzverwalter darüber hinaus neue SEPA-Lastschriftmandate von den Zahlungspflichtigen5.

1 Kalomiris in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 9. Kap., Rz. 28; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.731. 2 BGH v. 11.4.2006 – XI ZR 220/05, ZIP 2006, 1041. 3 Mock in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 82 InsO Rz. 60. 4 Vgl. Nr. 9 Abs. 2 AGB Banken, Nr. 2.4 der Bedingungen für das SEPA-Basislastschriftverfahren bzw. SEPA-Firmenlastschriftverfahren; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.737. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 3.764 f.

908 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.21 § 27

4. Die Kontoführung durch den Insolvenzverwalter Der BGH hat 2019 durch zwei Urteile1 die Praxis zur Führung von Konten durch den Insolvenzverwalter entscheidend verändert (s. ausführlich Rz. 17.21 ff.).

27.13

a) Insolvenz-Sonderkonto Der Insolvenzverwalter ist in jedem Verfahren verpflichtet, ein Insolvenz-Sonderkonto zur Verwaltung der Masse zu eröffnen2. Dabei stehen ihm zwei Arten von Insolvenz-Sonderkonten zur Verfügung3: Das Konto auf den Namen des Schuldners4 oder das Konto auf den Namen des Insolvenzverwalters5. In beiden Fällen ist der Schuldner der Kontoinhaber und der Insolvenzverwalter ist lediglich dazu ermächtigt, über das Konto zu verfügen6. Bei dem Insolvenz-Sonderkonto auf den Namen des Schuldners kann es sich um das auf Grundlage einer zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Kreditinstitut getroffenen Vereinbarung fortgeführte Konto des Schuldners oder ein neu auf den Schuldner eröffnetes Konto handeln.

27.14

b) Offenes Treuhandkonto Sofern der Insolvenzverwalter Forderungen einzieht, an denen Dritte Rechte geltend machen oder geltend machen könnten (insbesondere Aus- und Absonderungsrechte), ist er verpflichtet, neben dem Insolvenz-Sonderkonto ein offenes Treuhandkonto einzurichten. Das gilt auch in dem Fall, dass diese Rechte streitig sind und der Insolvenzverwalter beabsichtigt, die Ansprüche der Dritten anzufechten7. Einstweilen frei.

27.15

27.16–27.20

II. Neukredite Zwar ist die Unternehmenssanierung gemäß § 1 InsO kein vorrangiges Ziel des Insolvenzverfahrens8. Regelmäßig wird es aber ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft sein, den Geschäftsbetrieb der GmbH im Insolvenzverfahren zumindest für eine gewisse Zeit fortzuführen, beispielsweise um eine Unternehmenssanierung, auch durch Unternehmensverkauf, aus dem Insolvenzverfahren heraus zu erreichen (dazu auch Rz. 24.171 ff.). Selbst wenn nur eine optimale Liquidation der Masse angestrebt wird, ist dazu häufig die Unternehmensfortführung erforderlich, um die halb fertigen Güter des Vorratsvermögens fertig zu stellen und weiterhin Garantie- und Serviceleistungen zu erbringen, damit den Kunden gegenüber dem Forderungseinzug kein Grund für Aufrechnungs- und Zurückbehaltungsrechte gegeben wird9. Eine solche 1 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472; BGH v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718. 2 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1284 f. 3 Zum Begriff des „Sonderkontos“ Saager/d’Avoine/Berg, ZIP 2019, 2041, 2044; Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1088. 4 Von d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283, als „ISK Typ 1“ bezeichnet. 5 Von d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283, als „ISK Typ 2“ bezeichnet. 6 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1283; Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1089. 7 d’Avoine/Büchel, ZIP 2020, 1280, 1284. 8 Pape in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 1 InsO Rz. 1; Begr. RegE InsO v. 15.4.1992, BT-Drucks. 12/ 2443, § 1 RegE S. 109; Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum RegE InsO v. 19.4.1994, BT-Drucks. 12/7302, § 1 RegE S. 155. 9 Haarmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 89 f.; Kübler, ZGR 1982, 498, 502.

Kuder/Unverdorben | 909

27.21

§ 27 Rz. 27.21 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Unternehmensfortführung muss finanziert werden, insbesondere die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer, aber auch die Bezahlung der Lieferanten einschließlich der Energielieferungen, der Miet- und Pachtzahlungen und der Steuern1. Die dafür benötigte Liquidität kann von Kreditinstituten – wie bereits im Eröffnungsverfahren – in Form von Massebarkrediten oder in Form von Massedarlehen durch die (weitere) Überlassung von Sicherheitenerlösen (sog. unechtes Massedarlehen) zur Verfügung gestellt werden (vgl. dazu ausführlich Rz. 17.94 ff.).

27.22

Allerdings werden Kreditgeber in einem eröffneten Insolvenzverfahren allenfalls dann bereit sein, neue Darlehen für die Betriebsfortführung zur Verfügung zu stellen, wenn diese als Masseverbindlichkeiten privilegiert werden, also die Forderungen aus den Neukrediten im Insolvenzverfahren bei der Sanierung des Schuldners von einer Herabsetzung der Verbindlichkeiten des Schuldners in einem evtl. Insolvenzplan nicht betroffen sind und bei Scheitern der Sanierung aus den Erlösen der Liquidation des Schuldnervermögens vor den Altforderungen befriedigt werden2. Wegen der zahlreichen massearmen Verfahren dürfte jedoch selbst eine solche Privilegierung der Neukredite meistens nicht ausreichen, um den Kreditgebern die Kreditentscheidung zu ermöglichen, sondern sie werden darüber hinaus die (anfechtungsfeste) Bestellung von Kreditsicherheiten für die Neukredite verlangen. Bei der Betrachtung des rechtlichen Rahmens für Neukredite im Insolvenzverfahren müssen daher neben den Voraussetzungen, unter denen ein Neukredit als Masseverbindlichkeit privilegiert ist, auch die Möglichkeiten der Kreditbesicherung erörtert werden.

1. Finanzierung mit Neukrediten im regulären Insolvenzverfahren a) Finanzierung durch Ausnutzung bestehender Kreditlinien? 27.23

Die Insolvenzordnung räumt dem Verwalter das Wahlrecht ein, ob gegenseitige, von beiden Vertragsparteien nicht oder nicht vollständig erfüllte Verträge erfüllt werden sollen3. Dennoch hat der Verwalter auch im Insolvenzverfahren nicht die Möglichkeit, durch Erfüllungswahl die Valutierung bereits zugesagter, aber noch nicht ausgezahlter Kredite zu verlangen. Dabei muss für das Schicksal bestehender Kreditverträge zwischen Kontokorrentkrediten und Tilgungskrediten unterschieden werden. Infolge der Verfahrenseröffnung erlöschen gemäß §§ 115, 116 InsO4 Aufträge und Geschäftsbesorgungsverhältnisse und damit sowohl der Zahlungsdiensterahmenvertrag (Girovertrag) wie auch der Kontokorrentvertrag5. Dadurch werden sämtliche Kredite, gleich welcher Art, die die insolvente GmbH oder ein anderer Kreditnehmer auf Basis der Kontokorrentabrede in Anspruch genommen hat, sofort fällig6, und noch nicht ausgenutzte Kreditteile können auch vom Verwalter nicht mehr in Anspruch genommen werden. 1 Zur Finanzierung der Unternehmensfortführung im Insolvenzverfahren auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.473 ff.; Obermüller in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 97 Rz. 36 f.; Wittig, DB 1999, 197 ff. 2 Nach Auffassung von Vallender in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 22 InsO Rz. 237, wäre wegen des nicht zu deckenden Kreditbedarfs eine Sanierung von notleidenden Unternehmen in den meisten Fällen von vornherein ausgeschlossen, wenn die im Eröffnungsverfahren oder spätestens im eröffneten Insolvenzverfahren neu gewährten Kredite keine Privilegierung erführen. 3 Dazu Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 117 RegE S. 141. 4 Dazu Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, §§ 133, 134 RegE S. 151. 5 BGH v. 5.3.2015 – IX ZR 164/14, WM 2015, 733 = ZIP 2015, 738; BGH v. 5.12.2006 – XI ZR 21/ 06, WM 2007, 348 Rz. 11 f. = ZIP 2007, 319; BGH v. 15.12.2005 – IX ZR 227/04, WM 2006, 194 = ZIP 2006, 138; OLG Köln v. 19.4.2004 – 2 U 187/03, NZI 2004, 668; Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 116 InsO Rz. 16. 6 So auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.462; a.A. Wilmowsky, WM 2008, 1189, 1190 (Fn. 1).

910 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.24 § 27

Daran ändert auch § 108 Abs. 2 InsO nichts, da die Regelung ausdrücklich nur den Fortbestand von Darlehensverträgen anordnet, bei denen der Schuldner Kreditgeber, nicht aber Kreditnehmer ist1. Demgegenüber gelten zwar Kredite, die nicht auf Kontokorrentbasis, sondern auf Grund fester Vereinbarung hinsichtlich der Auszahlung und Rückzahlung gewährt worden sind, wie z.B. Annuitätendarlehen, Ratenkredite und Schuldscheindarlehen, auch als fällig (§ 41 Abs. 1 InsO), jedoch mit der Ausnahme, dass die vorzeitige Fälligkeit für die Zwecke einer Aufrechnung als nicht eingetreten gilt (§ 95 Abs. 1 Satz 2 InsO)2. Davon unberührt bleibt aber das Wahlrecht des Verwalters, so dass er bei dieser Art von Krediten die Möglichkeit hätte, durch Erfüllungswahl noch nicht in Anspruch genommene Kreditteile für die Finanzierung im Insolvenzverfahren zu nutzen3. Und bei der Entscheidung für die Erfüllungswahl muss der Insolvenzverwalter noch nicht einmal darauf Rücksicht nehmen, inwieweit der betreffende Kredit bereits vor der Verfahrenseröffnung in Anspruch genommen worden ist. Denn die Erfüllungswahl führt nicht dazu, dass die Ansprüche des Kreditgebers insgesamt zu einer Masseforderung werden. Vielmehr sorgt § 105 InsO dafür, dass auch bei der Inanspruchnahme offener Linien durch den Verwalter im Insolvenzverfahren der Kreditgeber hinsichtlich der bereits vor Eröffnung des Verfahrens ausgezahlten Kreditteile lediglich Insolvenzgläubiger ist4.

In der Praxis wird diese Ausnutzung von bestehenden Kreditzusagen durch den Insolvenzverwalter jedoch nicht in Betracht kommen, weil die Kreditgeber zur Kündigung bestehender Kredite auch noch nach Verfahrenseröffnung berechtigt sind. Ein Kündigungsverbot für den Vertragspartner des Schuldners, um dem Wahlrecht des Insolvenzverwalters nicht die Grundlage zu entziehen, sieht die Insolvenzordnung nicht vor5. Kreditinstituten steht dabei (auch ohne gesonderte Vereinbarungen im Kreditvertrag) ein Kündigungsrecht auf Grund der allgemeinen Geschäftsbedingungen des Kreditgewerbes, jedenfalls aber nach § 490 Abs. 1 BGB zu6. Nach der Regelung in den AGB des Kreditgewerbes (Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, Nr. 22 Abs. 2 AGB-Sparkassen)7 ebenso wie nach der gesetzlichen Regelung in § 490 Abs. 1 BGB8 ist 1 Zur Entstehungsgeschichte dieser Norm Hoffmann in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, Vorbemerkung zu § 108 InsO Rz. 2. 2 Zum Schicksal bestehender Kredite Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.460 ff.; Sinz in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 95 InsO Rz. 8; Wittig, DB 1999, 197 ff. 3 Grundsätzlich zur Anwendbarkeit von § 103 InsO auf das (teilweise) noch nicht ausgezahlte Darlehen Huber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 103 InsO Rz. 69. 4 Huber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 105 InsO Rz. 15; anders Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.468. 5 Zur Diskussion dieser Frage bei Entstehung der Insolvenzordnung s. einerseits Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 137 RegE S. 152 f.; andererseits Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 137 RegE, BT-Drucks. 12/7302, S. 170, dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.469. 6 Huber in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 103 InsO Rz. 69. 7 Zu diesem Kündigungsrecht bzw. seiner Vorgängerregelung in Nr. 17 AGB-Banken BGH v. 10.3.2009 – XI ZR 492/07; BGH v. 20.5.2003 – XI ZR 50/02, WM 2003, 1416 = ZIP 2003, 1336; BGH v. 26.5.1988 – III ZR 115/87, WM 1988, 1223; BGH v. 6.3.1986 – III ZR 245/84, WM 1986, 605 = ZIP 1986, 770; BGH v. 26.9.1985 – III ZR 213/84, WM 1985, 1493; BGH v. 26.9.1985 – III ZR 229/84, WM 1985, 1437; BGH v. 30.5.1985 – III ZR 112/84, WM 1985, 1136; BGH v. 28.2.1985 – III ZR 223/83, WM 1985, 769; BGH v. 23.2.1984 – III ZR 159/83, WM 1984, 586; BGH v. 18.12.1980 – III ZR 157/78, WM 1981, 150 = ZIP 1981, 144; BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1176; BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/76, WM 1978, 234; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/575 ff. (108. Lfg.). 8 Dazu K. P. Berger in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 490 BGB Rz. 2 ff.; Wittig/ Wittig, WM 2002, 145; Obermüller, ZInsO 2002, 97; Freitag, WM 2001, 2370; Wittig, NZI 2002, 633.

Kuder/Unverdorben | 911

27.24

§ 27 Rz. 27.24 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

der Kreditgeber zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund insbesondere dann berechtigt, wenn eine wesentliche Verschlechterung der Vermögenslage des Kreditnehmers eintritt und dadurch die Erfüllung seiner Verbindlichkeiten gefährdet ist. Da die Rechtsprechung sogar die bloße Androhung des Kreditnehmers, er werde seine Zahlungen einstellen und die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragen, für die fristlose Kreditkündigung auf Grund Nr. 19 Abs. 3 AGB-Banken, Nr. 22 Abs. 2 AGB-Sparkassen ausreichen lässt, besteht an dem Recht zur Kreditkündigung nach Verfahrenseröffnung kein Zweifel1. Dies gilt im Übrigen auch bei besicherten Krediten, obwohl § 490 Abs. 1 BGB und im Anschluss daran die AGB-Kündigungsregelungen der Kreditwirtschaft über die Verschlechterung der Vermögensverhältnisse hinaus auch die Berücksichtigung von Sicherheiten für die Frage verlangen, ob die Rückerstattung des Darlehens gefährdet ist. Denn diese Regelung soll den Darlehensnehmer nur davor schützen, dass der Kreditgeber trotz vollwertiger Sicherheit mit der Kündigung die Insolvenz des Kreditnehmers herbeiführt. Dagegen überwiegen die Interessen des Kreditgebers, wenn die Insolvenz ohnehin schon eingetreten ist2.

b) Aufnahme neuer Kredite 27.25

Angesichts dieser Rechtslage muss der im eröffneten Insolvenzverfahren bestehende Finanzierungsbedarf durch neu vereinbarte Darlehen in Form von Massebarkrediten oder – was in der Praxis auch im eröffneten Verfahren weitaus häufiger vorkommt – in der Form von unechten Massedarlehen gedeckt werden. Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis, also das Recht des Schuldners, sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen zu verwalten und darüber zu verfügen, gemäß § 80 Abs. 1 InsO auf den Insolvenzverwalter über. Neue Darlehensverträge können demgemäß nur von dem Verwalter abgeschlossen werden3.

27.26

Der Verwalter hat für die Aufnahme neuer Kredite grundsätzlich gemäß § 160 Abs. 2 InsO die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen, weil es sich dabei in der Regel um eine Rechtshandlung handelt, die für das Insolvenzverfahren von besonderer Bedeutung ist. Ist ein Gläubigerausschuss nicht bestellt, so ist die Zustimmung der Gläubigerversammlung einzuholen. Eine Zustimmung ist aber entbehrlich bei Darlehen, die die Insolvenzmasse nicht erheblich belasten. Diese Ausnahme ist zwar einerseits zu begrüßen, weil damit wirtschaftlich weniger bedeutsame Rechtshandlungen auch im Bereich der Kreditaufnahmen vom Insolvenzverwalter in eigener Verantwortung entschieden werden können. Andererseits bleibt angesichts der fehlenden Angabe bestimmter Wertgrenzen naturgemäß eine gewisse Unsicherheit, ob im Einzelfall die Zustimmung erforderlich ist4. In der Literatur wird versucht, anhand von quantitativen oder qualitativen Maßstäben Kriterien zur Bestimmung der „besonderen Bedeutung“ von Handlungen für das Verfahren zu bestimmen5. Im Hinblick auf die damit zwangsläufig verbundene Unsicherheit wird ein Insolvenzverwalter immer in Abstimmung mit dem Gläubigerausschuss handeln6. Aus Sicht eines Kreditgebers kann diese Unsicherheit 1 BGH v. 26.9.1985 – III ZR 213/84, WM 1985, 1493; OLG Hamm v. 12.9.1990 – 31 U 102/90, WM 1991, 402; Wulfers in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/588 (108. Lfg.); Wilmowsky, WM 2008, 1189, 1191 f. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.470; Obermüller, ZInsO 2002, 97, 103. 3 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.473 ff. 4 Zu den Motiven Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 179 RegE S. 174. 5 Ein Überblick über die verschiedenen Ansätze bei Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 160 InsO Rz. 8 ff. 6 Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 160 InsO Rz. 11.

912 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.29 § 27

aber hingenommen werden, weil gerade zur Vermeidung von Rechtsunsicherheiten im Geschäftsverkehr § 164 InsO ausdrücklich festschreibt, dass die fehlende Zustimmung die Wirksamkeit von Handlungen des Insolvenzverwalters nicht berührt1. Gleichwohl wird ein Kreditinstitut schon aus Transparenzgründen im Verfahren in der Praxis immer darauf bestehen, dass der Gläubigerausschuss der Kreditaufnahme zugestimmt hat. Durch den Verwalter neu aufgenommene Kredite sind als Masseverbindlichkeiten privilegiert. Denn soweit der Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung einen Neukredit in Anspruch nimmt, gelten die allgemeinen Regelungen des § 55 InsO. Danach sind gemäß § 55 Abs. 1 InsO Masseverbindlichkeiten alle Verpflichtungen, die der Verwalter durch sein Handeln begründet, also auch die von ihm eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen2.

27.27

Die Privilegierung des Neukredits als Masseverbindlichkeiten gewährleistet aber keine Tilgung des Verwalterkredits bei massearmen Insolvenzverfahren3. Denn wenn zwar die Kosten des Insolvenzverfahrens gedeckt sind, die Insolvenzmasse jedoch nicht zur Erfüllung sämtlicher Masseverbindlichkeiten ausreicht, besteht die Pflicht des Verwalters zur Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse fort (§ 208 Abs. 3 InsO), die Masseverbindlichkeiten werden jedoch in einer neu geordneten Reihenfolge befriedigt (§ 209 InsO), nämlich zunächst die Kosten des Insolvenzverfahrens, dann die Masseverbindlichkeiten, die nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit begründet worden sind, ohne zu den Kosten des Verfahrens zu gehören, und erst zuletzt die übrigen Masseverbindlichkeiten, zu denen auch die Forderungen aus einem Darlehen gehören, das vor der Anzeige der Masseunzulänglichkeit geschlossen und ausgezahlt worden ist4. Selbst wenn die Masse in einem solchen Fall noch für die Begleichung der vorrangigen Masseverbindlichkeiten ausreichen sollte, konkurrieren beim massearmen Verfahren die Forderungen aus einem vom Insolvenzverwalter neu aufgenommenen Darlehen gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO mit allen übrigen Masseverbindlichkeiten. Dies ist auch deshalb besonders problematisch, weil gemäß § 55 Abs. 1 InsO auch schon Verbindlichkeiten, die von einem vorläufigen Insolvenzverwalter begründet worden sind, auf den wegen Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist, als Masseverbindlichkeiten gelten (dazu bereits unter Rz. 17.105 ff.)5. Darauf hat sich die Praxis allerdings eingestellt, indem fast ausnahmslos kein allgemeines Verfügungsverbot im Eröffnungsverfahren angeordnet wird, sondern das Insolvenzgericht nur einen schwachen vorläufigen Verwalter i.S. von § 22 Abs. 2 InsO einsetzt, der ggfs. zur Aufnahme von Massekrediten durch das Insolvenzgericht gesondert ermächtigt wird (dazu bei Rz. 17.101 f.).

27.28

Ein erhöhtes Kreditrisiko ergibt sich insoweit nicht aus der Konkurrenz zwischen den Masseverbindlichkeiten und den Sozialplanverbindlichkeiten6. Zwar genießen die Ansprüche der Arbeitnehmer aus einem Sozialplan gemäß § 123 Abs. 2 InsO eine bevorrechtigte Stellung als Masseverbindlichkeiten, § 123 Abs. 2 InsO sieht aber vor, dass im Rahmen der Insolvenz-

27.29

1 Dazu Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 183 RegE S. 175. Ebenso Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.475; Janssen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 164 InsO Rz. 3. 2 Generell dazu Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 55 InsO Rz. 21 ff. Speziell zu Massekrediten Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.476; so auch schon für den RegE InsO Uhlenbruck, ZBB 1992, 284, 285; Obermüller, ZBB 1992, 202, 208. 3 Für den Ausfall eines Massekredits s. z.B. BGH v. 18.9.2007 – XI ZR 447/06, WM 2007, 2230 = ZIP 2007, 2206. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.478. 5 Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 209 InsO Rz. 34. 6 Zu dieser Problematik auch Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 209 InsO Rz. 37; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.479.

Kuder/Unverdorben | 913

§ 27 Rz. 27.29 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

ordnung für die Berichtigung der Sozialplanforderungen nicht mehr als ein Drittel der Masse verwendet werden darf, die ohne einen Sozialplan für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung stünde (dazu auch bei Rz. 26.170 ff.). Dies bedeutet im Ergebnis, dass die Sozialplanforderungen nicht auf einer Stufe mit den sonstigen Masseverbindlichkeiten des § 55 InsO stehen, da auf sie erst dann der erste Euro gezahlt wird, wenn nach Befriedigung aller anderen Masseverbindlichkeiten wenigstens drei Euro verblieben sind, die ohne die Sozialplanforderungen an die Insolvenzgläubiger zu verteilen wären1. Wenn Masseunzulänglichkeit i.S. von § 209 InsO eintritt, gehören sie damit in einem solchen masseunzulänglichen Verfahren nicht zu den drittrangigen Forderungen des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO2, was die Quote für den in diesem Rang zu befriedigenden Massekredit schmälern würde. Vielmehr gilt nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers die Beschränkung des § 123 Abs. 2 InsO für die Sozialplanforderungen auch dann, wenn es nicht zu einer vollständigen Verteilung der Masse gemäß §§ 187 ff. InsO kommt3, so dass beim masseunzulänglichen Verfahren auf die Sozialplanforderungen keine Zahlungen entfallen, weil keine freie Masse für die Verteilung an die Insolvenzgläubiger zur Verfügung steht4.

27.30

Für die Erfüllung der neu aufgenommenen Kredite aus der Masse haftet der Verwalter gemäß § 61 Satz 1 InsO, es sei denn, er konnte bei Abschluss des Vertrages nicht erkennen, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde (§ 61 Satz 2 InsO)5. Die Beweislast für die Nichterkennbarkeit trifft den Verwalter. Dennoch wird es dem Kreditgeber in aller Regel nicht möglich sein, die Kreditentscheidung auf die Haftung des Verwalters zu stützen. Zum einen schließen die Verwalter bei der Aufnahme von Massekrediten ihre eventuelle persönliche Haftung vielfach ausdrücklich aus6. Zum anderen dürfte selbst da, wo die Haftung in Betracht kommt, diese angesichts des Missverhältnisses zwischen Kreditbedarf und finanzieller Leistungsfähigkeit des Verwalters nicht als ausreichende Kreditsicherheit angesehen werden können.

27.31

Eine große Rolle bei der Kreditentscheidung spielen hingegen das persönliche Vertrauen, das Kreditinstitute in die Person des Insolvenzverwalters setzen und die Erfahrungen, die sie in zurückliegenden Verfahren mit ihm gemacht haben. Aus diesem Grund sehen die Darlehensverträge in der Regel auch ein außerordentliches Kündigungsrecht des Kreditinstituts für den Fall vor, dass für das Verfahren ein anderer Insolvenzverwalter bestellt wird.

2. Besicherung des Neukredits 27.32

Weil somit trotz Privilegierung des Neukredits dem Kreditgeber ein nicht unerhebliches Risiko verbleibt, auf Grund von unzureichender Masse mit seinen Forderungen einen Ausfall zu erleiden, wird der Kreditgeber für Neukredite im Insolvenzverfahren regelmäßig eine Besicherung verlangen müssen. Da mit der Verfahrenseröffnung die Verfügungsbefugnis auf ihn übergegangen (§ 80 InsO) ist, ist der Insolvenzverwalter berechtigt, für die von ihm im Insol1 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 123 InsO Rz. 68. 2 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019. § 123 InsO Rz. 68. 3 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum RegE InsO v. 19.4.1994, BT-Drucks. 12/7302, § 141 RegE S. 171. 4 Ebenso Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.479; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 123 InsO Rz. 68. 5 Schoppmeyer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 61 InsO Rz. 43 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.477. 6 Zum umgekehrten Fall der Haftungsübernahme durch den Verwalter OLG Celle v. 26.5.2004 – 3 U 287/03, ZInsO 2004, 865; OLG Celle v. 21.10.2003 – 16 U 95/03, NZI 2004, 89; Nöll, ZInsO 2004, 1058.

914 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.51 § 27

venzverfahren neu aufgenommenen Kredite Sicherheiten an Gegenständen der Insolvenzmasse zu bestellen1. In der Regel werden dafür die im Rahmen der Betriebsfortführung neu geschaffenen Vermögenswerte in Frage kommen. Hierbei handelt es sich vor allem um die nach dem Insolvenzantrag neu erworbenen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, die neu produzierten Waren und im Verfahren erbrachten Dienstleistungen. Auch wenn § 160 InsO insoweit keine ausdrückliche Regelung trifft, muss davon ausgegangen werden, dass der Insolvenzverwalter für die Sicherheitenbestellung immer dann die Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. der Gläubigerversammlung einholen muss, wenn dies wegen der erheblichen Belastung für die Insolvenzmasse gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 2 InsO auch schon für die Kreditaufnahme selbst erforderlich ist2. Die fehlende Genehmigung berührt gemäß § 164 InsO die Rechtswirksamkeit der Sicherheitenbestellung aber nicht.

27.33

Die Besicherung des Massedarlehens kann dem Kreditgeber auch nicht durch Anfechtung wieder entzogen werden, weil sie erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt. Denn nach der ausdrücklichen Regelung des § 129 InsO kann der Insolvenzverwalter grundsätzlich nur Rechtshandlungen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind, nach Maßgabe der §§ 130 bis 146 InsO anfechten, und ein Ausnahmefall des § 147 InsO liegt bei der Besicherung eines Massedarlehens nicht vor3.

27.34

Die Befugnisse des Insolvenzverwalters finden aber dort ihre Grenze, wo Kreditgeber im Gegenzug für ihre Bereitschaft, neue (gesicherte) Kredite zu gewähren, zugleich Sicherheiten für Altforderungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren, verlangen. Er kann für Kredite, die dem Schuldner vor Verfahrenseröffnung gewährt wurden, und für andere Forderungen aus dieser Zeit wirksam keine Sicherheiten bestellen4. Denn damit würde diesen Gläubigern der vorrangige Zugriff auf die Insolvenzmasse für Forderungen eingeräumt, die gleichrangig mit allen anderen Insolvenzforderungen zu befriedigen sind. Weil dieser Vorrang dem Grundprinzip der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung (§ 38 InsO) widerspräche, wäre die Sicherheitenbestellung insolvenzzweckwidrig und damit nichtig5.

27.35

Einstweilen frei.

27.36–27.50

III. Verwertung von Kreditsicherheiten 1. Aussonderung und Absonderung Für Sicherungsrechte und ihre Verwertung ist zunächst gemäß §§ 47–52 InsO die Unterscheidung zwischen der Aussonderung und der Absonderung maßgeblich6. 1 Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/354 (142. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.480; so auch schon für den RegE InsO Obermüller, ZBB 1992, 202, 208. 2 So auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.480. 3 Ebenso Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.481. 4 So im Ergebnis auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.171. 5 Zur Nichtigkeit von Rechtsgeschäften des Insolvenzverwalters bei Insolvenzzweckwidrigkeit BGH v. 14.4.2011 – IX ZR 114/10, BeckRS 2011, 11767; BGH v. 20.3.2008 – IX ZR 68/06, WM 2008, 937 = ZIP 2008, 884. Zur Unwirksamkeit eines vom Verwalter abgeschlossenen Vergleichs: OLG Karlsruhe v. 12.8.2013 – 9 U 55/13, ZIP 2014, 530. 6 Zu den Motiven Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 54 RegE S. 124.

Kuder/Unverdorben | 915

27.51

§ 27 Rz. 27.52 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

a) Aussonderung 27.52

Dingliche und persönliche Rechte, auf Grund derer geltend gemacht werden kann, dass der betreffende Gegenstand nicht zur Insolvenzmasse gehört, berechtigen gemäß § 47 InsO zur Aussonderung. Dabei ist nicht immer das Eigentum des Schuldners entscheidend, weil beispielsweise der Schuldner sein unpfändbares Vermögen aussondern kann1. Von den Sicherungsrechten begründet lediglich der einfache Eigentumsvorbehalt ein Aussonderungsrecht, nicht aber die Verlängerungs- und Erweiterungsformen des Eigentumsvorbehalts wie z.B. die Vorausabtretung der Kaufpreisforderung aus der Weiterveräußerung der unter Eigentumsvorbehalt gelieferten Ware, die vorweggenommene Übereignung des durch Verarbeitung der gelieferten Sache entstandenen Produkts oder die Erstreckung des Eigentumsvorbehalts auf andere Forderungen des Verkäufers neben dem Kaufpreisanspruch2.

27.53

Gegenstände, die einem Aussonderungsanspruch unterliegen, können nach der ausdrücklichen Regelung in § 47 InsO auf Grund der allgemeinen Gesetze herausverlangt werden, die außerhalb eines Insolvenzverfahrens gelten. Die besonderen Regelungen der Insolvenzordnung für die Verwertung von Kreditsicherheiten betreffen sie nicht.

27.54

Allerdings besteht eine gewisse Einschränkung beim einfachen Eigentumsvorbehalt. Denn hier kann der Verwalter zunächst die Herausgabe verzögern. Generell ist er zwar gezwungen, die Ablehnung der Erfüllung von gegenseitigen Verträgen auf Grund seines Wahlrechts gemäß § 103 InsO, die erst den Herausgabeanspruch durchsetzbar werden lässt, unverzüglich nach Aufforderung durch die andere Partei zu erklären. Bei der Lieferung unter Eigentumsvorbehalt hat er aber gemäß § 107 Abs. 2 InsO die Möglichkeit, die Ausübung des Wahlrechts bis zum Berichtstermin aufzuschieben und damit bis dahin die Herausgabe zu vermeiden3. So wird auch für Sachen, an denen ein einfacher Eigentumsvorbehalt besteht, sichergestellt, dass sie nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zunächst nicht herausgegeben werden müssen. Allerdings darf der Insolvenzverwalter nach § 107 Abs. 2 Satz 2 InsO mit der Ausübung des Wahlrechts nicht bis zum Berichtstermin abwarten, wenn bis dahin eine erhebliche Verminderung des Wertes der Sache zu erwarten ist und der gesicherte Lieferant darauf hingewiesen hat. Für leicht verderbliche Waren und Saisonartikel bleibt es also bei der allgemeinen Vorschrift des § 103 InsO, dass der Verwalter sich auf Anfrage des Gläubigers unverzüglich entscheiden muss, ob er die Sache behalten und den Kaufpreis erfüllen oder ob er sie herausgeben will, weil es dem Eigentumsvorbehaltsverkäufer in diesen Fällen nicht zugemutet werden kann, dass der Verwalter seine Erklärung erst sehr spät, u.U. bis zu 3 Monate nach Verfahrenseröffnung, abgibt4.

b) Absonderung 27.55

Alle anderen Sicherungsrechte außer dem einfachen Eigentumsvorbehalt berechtigen zur Absonderung, also zu einer abgesonderten und damit bevorzugten Befriedigung aus einem Massegegenstand. Der Vorzug, den der Absonderungsberechtigte genießt, besteht darin, dass 1 Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 54 RegE S. 124. 2 Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 58 RegE S. 125. Dazu auch Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 47 InsO Rz. 87 ff. 3 Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 47 InsO Rz. 64; zu einem solchen Fall AG Düsseldorf v. 11.5.2000 – 27 C 18049/99, DZWIR 2000, 347. 4 Ganter in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 47 InsO Rz. 62 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.845, 6.848. Vgl. auch Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 121 Abs. 2 RegE, BT-Drucks. 12/7302, S. 169.

916 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.57 § 27

er seine Forderung nicht als Insolvenzforderung geltend machen muss und darauf nur die Quote erhält, sondern dass ihm der Erlös aus der Verwertung des Gegenstandes der abgesonderten Befriedigung bis zur vollen Höhe seines Anspruchs zufließt. Nur soweit der Erlös nicht ausreicht, nimmt der Gläubiger gemäß § 52 InsO für den nicht befriedigten Teil seiner Forderung am Insolvenzverfahren teil und kann darauf die Quote beanspruchen. Welche Sicherungsrechte zur Absonderung berechtigen, regelt die Insolvenzordnung in den §§ 49 bis 51 InsO. Für das Kreditgeschäft sind insoweit insbesondere zu nennen – die Immobiliarsicherungsrechte, also Grundschulden und Hypotheken, gemäß § 49 InsO, – die Mobiliarpfandrechte, also z.B. Pfandrechte an einem Aktiendepot, gemäß § 50 InsO, – die Sicherungsübereignung und die Sicherungsabtretung gemäß § 51 Nr. 1 InsO.

2. Abgesonderte Befriedigung aus Immobilien Grundsatz der Verwertungsregelungen für Immobilien ist gemäß §§ 165, 49 InsO, dass sowohl der Insolvenzverwalter als auch der gesicherte Gläubiger die Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung betreiben können. Die Stellung des gesicherten Gläubigers ist dabei gekennzeichnet zum einen durch eine gewisse Einschränkung seines Verwertungsrechts; zum anderen wird ihm u.U. mittelbar ein Kostenbeitrag auferlegt1. Für die Praxis von viel größerer Bedeutung ist aber die gesetzlich nicht geregelte Verwertung mittels freihändigen Verkaufs durch den Insolvenzverwalter2 (dazu Rz. 27.66 ff.).

27.56

a) Einschränkungen des Verwertungsrechts des Gläubigers aa) Einstellung der Verwertung Die Verwertung von Sicherungsrechten an Immobilien3, also von Grundpfandrechten, durch den Gläubiger im Wege der Zwangsversteigerung wird eingeschränkt durch die Möglichkeit des Insolvenzverwalters, gemäß § 30d ZVG eine Zwangsversteigerung vom Insolvenzgericht einstweilig einstellen zu lassen, wenn – der Berichtstermin noch bevorsteht, – die Immobilie für die Fortführung des Unternehmens oder die Vorbereitung einer Betriebsveräußerung benötigt wird, – durch die Versteigerung die Durchführung eines vorgelegten Insolvenzplanes gefährdet würde oder – sonst durch die Zwangsversteigerung die angemessene Verwertung der Insolvenzmasse wesentlich erschwert würde4. 1 Zur Verwertung von Immobiliarsicherheiten auch Ganter in Ellenberger/Bunte, BankrechtsHandbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 784 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.872 ff. 2 Im Detail dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.883 ff.; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 794 ff.; Förster/Klipfel, ZInsO 2013, 225; d’Avoine, NZI 2008, 17 ff.; Raab, DZWIR 2006, 234 ff.; Weis/Ristelhuber, ZInsO 2002, 859 ff. 3 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.873 ff.; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 784 ff.; Raab, DZWIR 2006, 234 ff.; Weis/Ristelhuber, ZInsO 2002, 859 ff.; Knees, ZIP 2001, 1568 ff.; Lwowski/Tetzlaff, WM 1999, 2336 ff. 4 Ausführlich dazu Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134.

Kuder/Unverdorben | 917

27.57

§ 27 Rz. 27.58 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

27.58

Der Antrag ist abzulehnen, wenn die Einstellung dem Gläubiger unter „Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse“ nicht zuzumuten ist (§ 30d Abs. 1 Satz 2 ZVG). Im „professionellen“ Kreditgeschäft kommt diese Ausnahme wohl nur in Betracht, wenn das Kreditinstitut sich selbst in einer ernsten Krise befindet1. Außerdem kann aber die Einstellung auch dann unzumutbar sein, wenn der Insolvenzverwalter den Einstellungsantrag erst unmittelbar vor Verkündung des Zuschlags stellt2.

27.59

Bis zum Berichtstermin kann ohne jede weitere Voraussetzung die einstweilige Verfahrenseinstellung erreicht werden. Auch der vorläufige Insolvenzverwalter kann im Interesse der Unternehmensfortführung gemäß § 30d Abs. 4 Satz 1 ZVG die Zwangsversteigerung einstweilig einstellen lassen, sofern er glaubhaft machen kann, dass die einstweilige Einstellung zur Verhütung nachteiliger Veränderungen in der Vermögenslage des Schuldners erforderlich ist3. Die gleiche Antragsbefugnis hat der Schuldner, wenn ein vorläufiger Sachwalter eingesetzt wurde (§ 30d Abs. 4 Satz 2 ZVG).

27.60

Der Insolvenzverwalter kann gemäß § 153b ZVG auch eine Zwangsverwaltung vom Insolvenzgericht einstellen lassen, sofern er glaubhaft macht, dass durch die Fortsetzung der Zwangsverwaltung eine wirtschaftlich sinnvolle Nutzung der Insolvenzmasse wesentlich erschwert werden würde. Damit ist dem Insolvenzverwalter insbesondere ein Mittel an die Hand gegeben, um Grundpfandrechtsgläubigern entgegenzutreten, die im Wege der Zwangsverwaltung durch Vermietung des Grundstücks an einen Dritten anderenfalls die Stilllegung des insolventen Unternehmens erzwingen könnten4. In der Praxis hat diese Bestimmung keine große Bedeutung erlangt5. bb) Nachteilsausgleich

27.61

Die Einschränkungen in den Verwertungsbefugnissen des grundpfandrechtlich gesicherten Gläubigers werden bei der einstweiligen Einstellung der Zwangsversteigerung ausgeglichen, indem nach § 30e ZVG die einstweilige Einstellung nur unter der Auflage angeordnet werden kann, dass dem betreibenden Gläubiger für die Zeit nach dem Berichtstermin laufend die geschuldeten Zinsen gezahlt werden. Dabei sind nicht die dinglichen Zinsen der Grundschuld, sondern die vertraglichen Zinsen des gesicherten Kredites, auch evtl. Verzugszinsen maßgebend6. Der Gesetzgeber wollte mit der Zinszahlungspflicht nur den Verzögerungsschaden 1 Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 786; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.892; Noethen in Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 4. Aufl. 2021, § 30d ZVG Rz. 7; Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134. 2 Noethen in Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 4. Aufl. 2021, § 30d ZVG Rz. 7. 3 Noethen in Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 4. Aufl. 2021, § 30d ZVG Rz. 8. 4 Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134; Knees, ZIP 2001, 1568, 1527. Zur Frage, ob auch der vorläufige Insolvenzverwalter die Zwangsverwaltung einstellen lassen kann ablehnend LG Cottbus v. 20.4.2000 – 7 T 548/99, ZInsO 2000, 337; Klein, ZInsO 2002, 1065; Jungmann, NZI 1999, 352. 5 Sievers in Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 4. Aufl. 2021, § 153b ZVG Rz. 4. 6 LG Stade v. 19.3.2002 – 7 T 47/02, Rpfleger 2002, 472; LG Göttingen v. 27.1.2000 – 10 T 1/2000, ZInsO 2000, 163; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 787; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 110.; Kirchhof, ZInsO 2001, 1, 7; Wenzel, NZI 1999, 101, 102 f.; Knees, ZIP 2001, 1568, 1577 f.

918 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.64 § 27

ausgleichen, der dem Gläubiger durch die Verfahrenseinstellung tatsächlich entsteht. Dagegen sollte dem gesicherten Gläubiger nicht mit den dinglichen Zinsen, die regelmäßig erheblich höher sind als die vertraglichen Zinsen des gesicherten Anspruchs, ein Vorteil verschafft werden. Will der Insolvenzverwalter das Grundstück weiterhin für die Insolvenzmasse nutzen, wird darüber hinaus die Einstellung der Zwangsversteigerung nur mit der Anordnung bewilligt, dass der Insolvenzverwalter laufende Zahlungen aus der Insolvenzmasse für einen etwaigen Wertverlust leisten muss. Die Zahlungen der Zinsen sind erstmals nach dem Berichtstermin zu leisten, der gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO spätestens drei Monate nach der Verfahrenseröffnung stattfinden muss. Wird die Einstellung schon auf Grund eines Antrages des vorläufigen Verwalters im Vorverfahren angeordnet, muss die Zahlung spätestens drei Monate nach der Einstellung beginnen. Für den gesicherten Gläubiger besteht daher das Risiko, nach Einstellung der Zwangsversteigerung für längstens drei Monate keine laufenden Zinszahlungen zu erhalten.

Der Nachteilsausgleich bei einstweiliger Einstellung der Zwangsversteigerung soll gemäß § 30e Abs. 3 ZVG dem gesicherten Gläubiger allerdings nur dann und nur insoweit zukommen, wie auf Grund des Wertes des Sicherungsgutes und eventueller Vorlasten mit einer Befriedigung aus dem Versteigerungserlös zu rechnen ist. Damit wird verhindert, dass aus der Insolvenzmasse der Nachteilsausgleich auch für so genannte Schornsteinhypotheken zu leisten ist, bei denen der „gesicherte“ Gläubiger aus der Sicherheit wegen des zu geringen Grundstückswertes und ggf. seines Nachrangs ohnehin nicht befriedigt worden wäre. Ist das Grundpfandrecht vom Wert des Grundstücks nur teilweise gedeckt, so sind Zinsen nur auf diesen Teilbetrag zu entrichten. Offen ist, was geschieht, wenn sich nachträglich herausstellt, dass der Gläubiger gemessen am Versteigerungserlös zu viel oder zu wenig Zinsen erhalten hat1.

27.62

Auch bei der Einstellung der Zwangsverwaltung erfolgt gemäß § 153b Abs. 2 ZVG ein Nachteilsausgleich für den gesicherten Gläubiger2. Ihm sind die Nachteile ebenfalls durch laufende Zahlungen aus der Insolvenzmasse auszugleichen. Dabei handelt es sich insbesondere um das entgangene Entgelt, das er durch Vermietung oder Verpachtung des Grundstücks an Dritte nachweislich hätte erzielen können. Die Zahlungspflicht setzt aber – anders als bei Einstellung der Zwangsverwaltung – nicht erst nach (längstens) drei Monaten, sondern zugleich mit der Einstellung der Zwangsverwaltung ein. Ist mit einem Einstellungsantrag des Insolvenzverwalters zu rechnen, sollte deshalb der gesicherte Gläubiger neben der Zwangsversteigerung immer auch die Zwangsverwaltung beantragen3.

27.63

b) Kostenbeitrag Neben den Einschränkungen ihres Verwertungsrechts wird den grundpfandrechtlich gesicherten Gläubigern bei der Zwangsversteigerung (nicht bei der Zwangsverwaltung) ein Kostenbeitrag auferlegt; allerdings nur, wenn ein Insolvenzverwalter eingesetzt ist, also nicht in den Fällen der Eigenverwaltung unter Aufsicht eines Sachwalters4. Der (mittelbare) Kostenbeitrag wird erreicht, indem im Falle einer Zwangsversteigerung gemäß § 10 Abs. 1 ZVG aus dem 1 Zur Problematik Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 113 f., mit dem Vorschlag, dass das Gericht bei Einstellung der Zwangsversteigerung eine bindende Entscheidung zur Wertdeckung trifft. Für einen nachträglichen Ausgleich Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 790. 2 S. auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.900 f.; Mönning/Zimmermann, NZI 2008, 134. 3 So auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.901. 4 Ebenso Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 236.; Böttcher, 6. Aufl. 2016, § 10 ZVG Rz. 14b.

Kuder/Unverdorben | 919

27.64

§ 27 Rz. 27.64 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Versteigerungserlös der Insolvenzmasse die Kosten erstattet werden müssen, die durch die Feststellung des mithaftenden Grundstückzubehörs entstehen. Die Kosten werden pauschal auf 4 % des Verkehrswertes der beweglichen Sachen angesetzt, vgl. die Übersicht zum Kostenbeitrag der gesicherten Gläubiger bei Rz. 27.104.

27.65

Der Anspruch auf Ersatz der Feststellungskosten erhält den Rang des § 10 Abs. 1 Nr. 1a ZVG und geht damit den Ansprüchen der gesicherten Gläubiger vor. Damit wird dieser Kostenbeitrag zwar nicht allen (Grundpfandrechts-)Gläubigern gleichmäßig auferlegt, sondern lediglich demjenigen (häufig nachrangigen) Gläubiger, der mit seinen Rechten bei der Verteilung des Versteigerungserlöses ausläuft. Insgesamt schmälert aber diese Regelung den Beleihungswert von Grundstücken bzw. beeinträchtigt die Aussichten insbesondere nachrangiger Grundpfandgläubiger auf volle Befriedigung in der Zwangsversteigerung1.

c) Freihändige Verwertung 27.66

In der Praxis sind die gesetzlich geregelten Formen der Verwertung von Immobilien durch Zwangsversteigerung oder Zwangsverwaltung von geringerer Bedeutung, da die freihändige Veräußerung der Immobilie durch den Insolvenzverwalter regelmäßig höhere Verwertungserlöse erzielen wird2. Das Recht zur freihändigen Veräußerung liegt auf Grund seiner Verfügungsbefugnis über das Grundstück allein beim Insolvenzverwalter. Da üblicherweise eine Veräußerung nur lastenfrei möglich ist, bedarf es aber auch der Mitwirkung des grundpfandrechtlich gesicherten Gläubigers, der eine Löschungsbewilligung abgeben muss. Rechtsfragen ergeben sich bei dem insoweit notwendigen einvernehmlichen Zusammenwirken von Insolvenzverwalter und gesichertem Gläubiger vor allem im Hinblick auf die Erlösverteilung.

27.67

Regelmäßig wird der Insolvenzverwalter eine Kostenbeteiligung an den Erlösen fordern zu Gunsten der Insolvenzmasse, und zwar selbst dann, wenn das Grundstück wertausschöpfend belastet ist und nach den gesetzlichen Verwertungsregelungen kein freier Übererlös für die Insolvenzmasse verbleiben würde. Üblich sollen dabei Beiträge zwischen 2 % und 10 % des Verkaufserlöses sein3. Mit der Kostenbeteiligung soll zum einen der Aufwand des Insolvenzverwalters für seine Tätigkeit bei der Veräußerung des Grundstücks abgegolten werden. Zum anderen soll die Beteiligung einen Ausgleich dafür darstellen, dass der Insolvenzverwalter bei der freihändigen Veräußerung die Gewährleistungsverpflichtungen zu Lasten der Masse übernehmen muss4. Entgegen der herrschenden Meinung, dass den Insolvenzverwalter keine Pflicht trifft, an einer freihändigen Verwertung mitzuwirken, wenn keine Einigung über die Beteiligung an dem Erlös erzielt wird5, kann eine Mitwirkungspflicht des Verwalters aus folgenden Gründen durchaus bestehen: Da der Grundschuldgläubiger nicht berechtigt ist, über das Eigentum an dem Grundstück durch Rechtsgeschäft zu verfügen, und er daher auch den Insolvenzverwalter nicht mit dem Verkauf und der Verwertung beauftragen kann, betreibt der Insolvenzverwalter mit der freihändigen Veräußerung auch kein Geschäft des Grundschuld1 Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 791 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.905. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.883 ff.; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 173 ff. mit ausführlicher Darstellung; Förster/Klipfel, ZInsO 2013, 225; Raab, DZWIR 2006, 234 ff.; Weis/Ristelhuber, ZInsO 2002, 859 ff. 3 Tetzlaff, ZInsO 2004, 521. 4 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 182. 5 Zur Diskussion mit weiteren Nachweisen Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 165 InsO Rz. 183; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.883.

920 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.68 § 27

gläubigers, für das der Grundschuldgläubiger Aufwendungsersatz schuldet1. Vielmehr führt der Insolvenzverwalter bei dem Verkauf des Grundstücks ausschließlich ein Verwertungsgeschäft der Insolvenzmasse aus (§§ 80, 159 ff. InsO)2. Zumindest in den Fällen, in denen der Aufwand des Verwalters bei der rechtsgeschäftlichen Veräußerung des Grundstücks nicht über den bei einer Verwertung im Zwangsversteigerungsverfahren anfallenden Aufwand hinausgeht (bei der er nach dem Gesetz keinen Kostenbeitrag beanspruchen kann und lediglich bei Vorhandensein von Grundstückszubehör für dessen Feststellung 4 % des Wertes des Zubehörs verlangen kann), ist der Verwalter zu einer Mitwirkung bei der freihändigen Verwertung des Grundstücks verpflichtet. Dies ergibt sich aus seiner Pflicht zur bestmöglichen Verwertung des Vermögens des Schuldners3. Da regelmäßig bei einer Verwertung in der Zwangsversteigerung ein geringerer Erlös erzielt wird als bei einer freihändigen Verwertung, kann durch mangelnde Mitwirkung des Insolvenzverwalters die Insolvenzmasse mit einer höheren Insolvenzforderung belastet bleiben, als dies bei einem freihändigen Verkauf der Fall gewesen wäre. Für den Schaden des Grundschuldgläubigers ist der Insolvenzverwalter dann u.U. ersatzpflichtig4. Wenn daher bei einer freihändigen Verwertung von Grundstücken ein Kostenbeitrag an die Insolvenzmasse gezahlt wird, geschieht dies auf Grund einer freiwilligen Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem gesicherten Gläubiger. Ein Insolvenzverwalter, der sich persönlich – also nicht für die Insolvenzmasse – eine Vergütung versprechen und gewähren lässt, handelt grob pflichtwidrig5. Daneben stellt sich die Frage, ob der nachrangige Grundpfandgläubiger eine Erlösbeteiligung als „Lästigkeitsprämie“ erhalten kann, also seine Löschungsbewilligung als Voraussetzung der freihändigen Verwertung davon abhängig machen kann, dass er einen Teil des Erlöses erhält, obwohl seine Grundschuld angesichts des Nachrangs und des unzureichenden Verwertungserlöses nicht werthaltig ist. Dazu hat der BGH entschieden, dass jede Vereinbarung eines Erlösanteils für den durch eine offensichtlich wertlose nachrangige Grundschuld gesicherten Gläubiger wegen Insolvenzzweckwidrigkeit nichtig ist, wenn der Erlösanteil über die Kostenerstattung für die Löschungsbewilligung hinausgeht. Dies gilt zumindest dann, wenn mit der freihändigen Verwertung wegen der wertausschöpfenden Belastung durch vorrangige Grundpfandrechte kein Massezuwachs erzielt wird6. Einen Anspruch auf Erteilung einer Löschungsbewilligung hat der Insolvenzverwalter aber gegen einen nachrangigen Grundpfandrechtsgläubiger gleichwohl grundsätzlich nicht7. Etwas anderes kann in besonderen Fällen bei rechtsgeschäftlich bestellten nachrangigen Grundpfandrechten gelten; dort kann sich unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben aus dem Darlehens- oder dem Sicherungsvertrag eine nebenvertragliche Verpflichtung zur Erteilung einer Löschungsbewilligung ergeben8.

1 2 3 4 5 6 7 8

Mitlehner, ZIP 2012, 649. BGH v. 13.1.2011 – IX ZR 53/09, WM 2011, 367 Rz. 15 = ZIP 2011, 387. BGH v. 13.1.2011 – IX ZR 53/09, WM 2011, 367 Rz. 15 = ZIP 2011, 387. Weis/Ristelhuber, ZInsO 2002, 859; Knees, ZIP 2001, 1568; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.883. Eckardt, Grundpfandrechte im Insolvenzverfahren, 15. Aufl. 2019, Rz. 204; Mitlehner, ZIP 2012, 649. BGH v. 20.3.2008 – IX ZR 68/06, ZIP 2008, 884. BGH v. 30.4.2015 – IX ZR 301/13, ZIP 2015, 1131, ZInsO 2015, 1097, 1099, für den Fall einer Zwangssicherungshypothek. LG Leipzig v. 27.11.2013 – 5 O 3032/12, ZInsO 2014, 100, 101 f.; OLG Schleswig v. 23.2.2011 – 5 W 8/11, WM 2011, 1128, 1129 = ZIP 2011, 1254; OLG Köln v. 12.6.1995 – 16 U 102/92, WM 1995, 1801, 1803 = ZIP 1995, 1668.

Kuder/Unverdorben | 921

27.68

§ 27 Rz. 27.69 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

3. Abgesonderte Befriedigung aus Sicherungsübereignung und Sicherungsabtretung 27.69

Auch die Absonderungsbefugnis der an beweglichen Gegenständen, also Sachen und Forderungen, durch Sicherungsübereignung und Sicherungsabtretung besicherten Gläubiger wird sowohl im Hinblick auf ihre Verwertungsrechte als auch durch einen Kostenbeitrag eingeschränkt. Dies stellt sich wie folgt dar1:

a) Verwertungsrecht bei beweglichen Sachen 27.70

Die Insolvenzordnung räumt das Verwertungsrecht weitgehend dem Insolvenzverwalter ein. Bewegliche Sachen, an denen ein Absonderungsrecht besteht, darf der Verwalter gemäß § 166 Abs. 1 InsO freihändig verwerten, sofern er sie in seinem Besitz hat2. Damit sollen zum einen die Chancen für eine wenigstens zeitweise oder dauernde Fortführung des Unternehmens erhalten werden, indem gesicherte Gläubiger daran gehindert werden, ohne Rücksicht auf die Interessen der übrigen Gläubiger auch solche Sachen aus dem Unternehmensverbund herauslösen, die für die Fortführung unentbehrlich sind. Dies erklärt, warum die Verwertungszuständigkeit nur für bewegliche Sachen, die der Verwalter in seinem Besitz hat, auch beim Verwalter liegt. Denn bei Sachen, die der Schuldner bereits vor Verfahrenseröffnung in den Besitz Dritter gegeben hat, ist zu vermuten, dass sie für die Unternehmensfortführung entbehrlich sind3. Zum zweiten soll durch eine gemeinsame Verwertung zusammengehörender Gegenstände, die zu Gunsten unterschiedlicher Gläubiger belastet sind, aus einer Hand die Erzielung eines höheren Verwertungserlöses ermöglicht werden4.

27.71

Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für das Verwertungsrecht ist dementsprechend gemäß § 166 Abs. 1 InsO der Besitz des Verwalters. Damit ist in erster Linie das Sicherungseigentum getroffen. Die Vorschrift kann sich aber auch auf gepfändete Sachen oder solche Sachen erstrecken, die mit einem Vermieterpfandrecht belastet sind, weil solche Gegenstände regelmäßig im Besitz des Kreditnehmers sind, so dass der Verwalter bei Eintritt der Insolvenz den Besitz übernehmen kann. Ausgenommen sind dagegen grundsätzlich solche Sachen, an denen der Gläubiger ein Vertragspfandrecht erworben hat, weil dazu gemäß § 1205 BGB der Besitzübergang auf den gesicherten Gläubiger erforderlich ist5.

27.72

Für das Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters reicht auch der mittelbare Besitz aus, allerdings nur dann, wenn damit die Befugnis verbunden ist, den Sicherungsnehmer vom Besitz auszuschließen6. Das wird etwa dann der Fall sein, wenn der Sicherungsgeber (Schuldner) das Sicherungsgut an einen Dritten vermietet oder verleast hat. Denn wenn der Schuldner den Sicherungsgegenstand gewerblich einem Dritten gegen Entgelt überlassen hat, ist regelmäßig 1 S. dazu auch Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 762 ff.; Obermüller in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 15/381 ff. (142. Lfg.); Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.704 ff.; Ganter, ZInsO 2007, 841; Lwowski/Heyn, WM 1998, 473 ff. 2 Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 762 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.705 ff. 3 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.708, 6.831. 4 Ganter, NZI 2020, 295, 309. 5 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.831. 6 BGH v. 16.11.2006 – IX ZR 135/05, WM 2007, 172 = ZIP 2006, 2390; BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, WM 2006, 818 = ZIP 2006, 814; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 22 ff.; Brinkmann in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 14; Gundlach/ Frenzel/Schirrmeister, NZI 2007, 327.

922 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.77 § 27

zu vermuten, dass der Insolvenzverwalter diesen Gegenstand sowohl für eine Unternehmensfortführung als auch für eine geordnete Abwicklung benötigt1. In anderen Fällen mittelbaren Besitzes, insbesondere wenn der Sicherungsnehmer selbst im unmittelbaren Besitz ist oder in der Reihenfolge der mittelbaren Besitzer näher am unmittelbaren Besitzer steht als der Schuldner, reicht dagegen der mittelbare Besitz des Insolvenzverwalters nicht aus2.

Für die Anknüpfung des Verwertungsrechts an den Besitz reicht aus, wenn der Verwalter den Besitz im Antragsverfahren in seiner Eigenschaft als vorläufiger Verwalter erworben hat und ein Veräußerungsverbot erlassen war. Denn von diesem Zeitpunkt an konnte er eine Herausgabe an den gesicherten Gläubiger abwehren. Hat aber ein Gläubiger das Sicherungsgut zum Zwecke der Verwertung zu einem früheren Zeitpunkt rechtmäßig und nicht gegen den Willen des Schuldners an sich gezogen, bevor der (vorläufige) Verwalter es in Besitz genommen hat, bleibt der gesicherte Gläubiger gemäß § 173 InsO zur Verwertung berechtigt3.

27.73

Ist der Verwalter zur Verwertung berechtigt, muss er diese nicht notwendigerweise selbst vornehmen. Er kann gemäß § 170 Abs. 2 InsO die Verwertung auch dem Gläubiger überlassen. Dies kommt z.B. in Betracht, wenn der gesicherte Kreditgeber auf Grund seiner Branchenkenntnis bessere Verwertungserlöse erzielen kann, aber auch zur Vermeidung von Umwelthaftungsrisiken4. Ist der Gläubiger zur Verwertung berechtigt, kann ihm das Insolvenzgericht gemäß § 173 Abs. 2 InsO dazu eine Frist setzen.

27.74

Die prinzipielle Zuweisung des Verwertungsrechts auf den Verwalter bei beweglichen Sachen wird durch drei Regelungen zum Schutz der Gläubiger ausgeglichen5.

27.75

Dem gesicherten Gläubiger steht gemäß § 167 Abs. 1 InsO erstens ein Auskunftsrecht zu, also das Recht, sich über den Zustand des Sicherungsgutes zu informieren6. Dazu hat generell der Insolvenzverwalter dem Gläubiger Auskunft über den Zustand der Sache zu erteilen. Er kann stattdessen den Gläubiger aber auch darauf verweisen, die Sache zu besichtigen. Der Zweck des Auskunftsrechts ist, den gesicherten Gläubigern Gelegenheit zur Wahrnehmung ihrer beiden anderen Schutzrechte zu geben, weil die Wahrnehmung dieser Rechte den Gläubigern erleichtert wird, wenn sie über den Zustand des Sicherungsgutes unterrichtet sind7.

27.76

Der gesicherte Gläubiger kann gemäß § 168 InsO zweitens auf die Verwertung Einfluss nehmen. Dazu muss der Verwalter dem Gläubiger mitteilen, wie die Veräußerung des Sicherungsgutes erfolgen soll. Binnen einer Woche kann der Gläubiger dann den Verwalter auf eine günstigere Verwertungsmöglichkeit hinweisen, insbesondere die Übernahme durch den Gläubiger selbst anbieten. Eine günstigere Verwertungsmöglichkeit hat der Verwalter entweder wahrzunehmen oder den gesicherten Gläubiger so zu stellen, als ob er sie wahrgenommen hätte.

27.77

1 BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, WM 2006, 818 = ZIP 2006, 814. 2 BGH v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, ZIP 2011, 1419; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 23; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.710. 3 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 20 f.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.708. 4 Zu dieser Problematik Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.749 mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 5 Dazu auch Obermüller, NZI 2003, 416; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.723 ff. 6 Zur Geltendmachung eines solchen Anspruchs durch den Vermieter auf Grund seines Vermieterpfandrechts BGH v. 4.12.2003 – IX ZR 222/02, WM 2004, 295 = ZIP 2004, 326. 7 Ausführlich zum Auskunftsanspruch aus § 167 InsO Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 167 InsO Rz. 9 ff.; Lwowski/Heyn, WM 1998, 473, 474 ff.; Gundlach/Frenzel/ Schmidt, ZInsO 2001, 537, 538 f.

Kuder/Unverdorben | 923

§ 27 Rz. 27.78 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

27.78

Macht der gesicherte Gläubiger von seinem Eintrittsrecht Gebrauch, besteht also die günstigere Verwertungsmöglichkeit darin, dass der Gläubiger den mit seinem Sicherungsrecht belasteten Gegenstand zu den vorgesehenen Bedingungen selbst übernimmt, wird auf die gesicherte Kreditforderung der mit dem Verwalter vereinbarte Preis verrechnet. Das Risiko eines Mindererlöses und die Chance eines Mehrerlöses liegen bei dem Gläubiger; insbesondere wird ein durch die Weiterveräußerung erzielter Mehrerlös nicht auf die Insolvenzforderung des gesicherten Gläubigers angerechnet1. Da das Gesetz die Verwertung durch Übernahme seitens des Gläubigers derjenigen durch Veräußerung an einen Dritten gleichstellt, ist es nur konsequent, in diesem Fall den Gläubiger für das Insolvenzverfahren lediglich in Höhe des mit dem Verwalter einvernehmlich festgesetzten Wertes abzüglich der Feststellungs- und Verwertungspauschale daraus als befriedigt anzusehen und den Gläubiger wegen des verbleibenden Rests seiner Forderung als Insolvenzgläubiger gemäß § 52 InsO zu behandeln. Gegenüber einem weiteren Sicherungsgeber, insbesondere einem Bürgen, gilt dies aber nicht. Vielmehr muss sich der gesicherte Gläubiger diesem gegenüber den aus der Weiterveräußerung des Sicherungsguts erzielten Erlös – abzüglich der Kosten – auf seinen Anspruch gegen den weiteren Sicherungsgeber anrechnen lassen2.

27.79

Der gesicherte Gläubiger hat drittens einen verschuldensunabhängigen Zinsanspruch. Dazu hat grundsätzlich der Insolvenzverwalter gemäß § 169 Satz 1 InsO dem gesicherten Gläubiger vom Berichtstermin an bis zur Veräußerung der Sache laufend die geschuldeten Zinsen aus der Insolvenzmasse zu zahlen3. Der Zinslauf beginnt zwar grundsätzlich ohne die Prüfung jeglicher Verschuldensfragen mit dem Berichtstermin4. Dies gilt aber nur dann, wenn es dadurch tatsächlich zu einer insolvenzspezifischen Verzögerung der Verwertung kommt, also der gesicherte Gläubiger ohne den Übergang des Verwertungsrechts auf den Insolvenzverwalter hätte schneller verwerten können. Hätte dagegen auch der gesicherte Gläubiger eine frühere Zahlung nicht erlangen können, z.B. wegen der Beschaffenheit des Sicherungsguts, beginnt die Verzinsungspflicht erst mit dem Ablauf des Tages, an dem der Erlös beim Insolvenzverwalter eingeht5. Hat das Insolvenzgericht im Eröffnungsverfahren einen Verwertungsstopp gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO angeordnet, beginnt die Zinszahlungspflicht spätestens drei Monate nach der Anordnung (§ 21 Abs. 2 Nr. 5 Halbs. 2, § 169 Satz 2 InsO)6. Zudem ist ein durch die Nutzung entstehender Wertverlust von Anfang an durch laufende Zahlungen an den Gläubiger auszugleichen (§ 21 Abs. 2 Nr. 5 Halbs. 3 InsO)7. Die Zinszahlungspflicht endet erst mit der Auszahlung des Erlöses an den Absonderungsberechtigten8. Der Zinssatz richtet sich nach dem zugrunde liegenden (Kredit-)Vertrag, entspricht nämlich den Zinsen, die der Gläubiger aus dem ungestörten Schuldverhältnis mit dem Schuldner beanspruchen konnte; sie beträgt 1 BGH v. 3.11.2005 – IX ZR 181/04, WM 2005, 2400; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019,§ 168 InsO Rz. 52 ff.; dazu auch Foerste, NZI 2006, 275; Streit/Büchler, BB 2006, 66. 2 BGH v. 3.11.2005 – IX ZR 181/04, WM 2005, 2400 = ZIP 2005, 2214; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019,§ 168 InsO Rz. 56. 3 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 169 InsO Rz. 20 ff.; BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, WM 2006, 818 = ZIP 2006, 814; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632. 4 BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, WM 2006, 818 Rz. 13 = ZIP 2006, 814. 5 BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632; BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/ 05, WM 2006, 818 = ZIP 2006, 814. 6 Diese Vorschrift ist verfassungsgemäß BVerfG v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, NZI 2012, 617 = ZIP 2012, 1252. 7 BGH v. 8.9.2016 – IX ZR 52/15, NZI 2016, 946 = ZIP 2016, 2131; BGH v. 8.3.2012 – IX ZR 78/11, NZI 2012, 369 = ZIP 2012, 779. 8 BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632.

924 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.81 § 27

jedoch mindestens 4 %. Verzugszinsen können nicht verlangt werden1. Der gesicherte Kreditgeber kann aber gemäß § 169 Satz 3 InsO auch nur Ausgleichszahlungen verlangen, soweit der Gläubiger angesichts des Wertes des Sicherungsgegenstandes und eventueller sonstiger Belastungen mit einem Verwertungserlös rechnen kann. Dies wird auf Grund des Marktwertes des Sicherungsguts durch den Insolvenzverwalter zum Zeitpunkt des Berichtstermins festgestellt2.

b) Verwertungsrecht bei Forderungen Die Verwertung von Forderungen, an denen ein Absonderungsrecht auf Grund einer Sicherungsabtretung besteht, ist in der Insolvenzordnung in vergleichbarer Weise wie die von beweglichen Sachen geregelt, d.h. gemäß § 166 Abs. 2 InsO ist bei der Sicherungsabtretung der Verwalter zur Verwertung durch Einziehung berechtigt3. Dabei ist allein maßgebend, ob die Forderungen zur Sicherung abgetreten worden sind, unabhängig davon, ob es sich um eine stille Zession oder eine offene Abtretung handelt4. Der gesicherte Gläubiger bleibt jedoch zur Verwertung von Forderungen berechtigt, wenn er sein Sicherungsrecht nicht durch Abtretung, sondern aus einem Pfandrecht an Forderungen, z.B. aus einer Forderungsverpfändung oder auch aus einer Pfändung im Wege der Zwangsvollstreckung herleitet.

27.80

Hatte der durch eine Forderungsabtretung berechtigte Kreditgeber schon vor der Verfahrenseröffnung mit der Verwertung seiner Sicherheit begonnen, indem er die abgetretenen Forderungen offengelegt und eingezogen hat, darf er den Erlös behalten. Denn der Übergang des Verwertungsrechts wirkt nur ex tunc mit der Verfahrenseröffnung, weil Voraussetzung des Verwertungsrechts für den Insolvenzverwalter ist, dass die sicherungshalber abgetretene Forderung im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch besteht5. Anders als bei der Verwertung sicherungsübereigneter Sachen darf der Gläubiger aber nach Verfahrenseröffnung die Verwertung durch Forderungseinzug nicht fortsetzen6. Dies ist im Ergebnis eine unglückliche Regelung. Denn einerseits wird damit für die gesicherten Gläubiger ein Anreiz geschaffen, frühzeitig mit der Verwertung ihrer Sicherungszession zu beginnen, um die Verwertung durch den Insolvenzverwalter und die damit verbundene Kostenbelastung (dazu bei Rz. 27.89 ff.) zu vermeiden. Eine solche Forderungsoffenlegung wird in der Krise aber regelmäßig zum endgültigen Zusammenbruch des bedrohten Unternehmens führen. Andererseits wird der Übergang des Verwertungsrechts vom gesicherten Gläubiger, der zunächst offengelegt hat, auf den Verwalter nach Verfahrenseröffnung angesichts der damit beim Drittschuldner entstehenden Zweifel, an wen er schuldbefreiend leisten kann, sicher nicht zu einem optimalen Ergebnis des Forderungseinzugs beitragen, sondern es ist zu befürchten, dass die Drittschuldner noch zögerlicher leisten werden, als dies erfahrungsgemäß bei der Zessionsoffenlegung ohnehin schon der Fall ist. Daher scheint in diesen Fällen eine einvernehmliche Regelung mit dem Verwalter, dass der gesicherte Kreditgeber die begonnene Verwertung fortsetzt, in vielen Fällen sinnvoll7.

27.81

1 BGH v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, WM 2006, 818 = ZIP 2006, 814. 2 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 169 InsO Rz. 49 ff. 3 Für einen Überblick s. auch Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 74 ff. 4 BGH v. 17.11.2005 – IX ZR 174/04, WM 2006, 241 = ZIP 2006, 91; BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/ 02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632; BGH v. 11.7.2002 – IX ZR 262/01, NZI 2002, 599 = ZIP 2002, 1630; OLG Hamm v. 20.9.2001 – 27U 54/01, NZI 2002, 50. 5 BGH v. 17.11.2005 – IX ZR 174/04, WM 2006, 241 = ZIP 2006, 91. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.717. 7 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.717.

Kuder/Unverdorben | 925

§ 27 Rz. 27.82 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

27.82

Der Schutz von Gläubigern, denen Forderungen zur Sicherheit abgetreten sind, ist entsprechend wie bei Absonderungsrechten an beweglichen Sachen ausgestaltet.

27.83

Erstens haben sie ein Auskunftsrecht, d.h. sie können sich über die Forderung, die der Verwalter einzuziehen berechtigt ist, gemäß § 167 Abs. 2 InsO informieren – durch Auskunft des Verwalters oder Einsicht in die Bücher. Auch hier dient das Auskunftsrecht dazu, den gesicherten Gläubigern die Wahrnehmung ihrer nachstehend genannten Rechte zu erleichtern, indem sie sich über die Höhe und Fälligkeit der Forderungen, etwa von den Drittschuldnern erhobene Einwendungen oder über Forderungsausfälle informieren1.

27.84

Zweitens haben die gesicherten Gläubiger gemäß § 168 InsO das Recht zur Einflussnahme auf die Verwertung, d.h. sie können verlangen, vom Insolvenzverwalter über die Verwertung informiert zu werden, und durch den Hinweis auf günstigere Verwertungsmöglichkeiten darauf Einfluss nehmen. Dies kommt vor allem in Betracht, wenn der Insolvenzverwalter die Forderungen anders als durch Einziehung, also z.B. durch Verkauf an einen Factor, durch Forfaitierung oder durch Veräußerung an ein Inkassounternehmen verwerten will2.

27.85

Drittens steht den gesicherten Gläubigern ein Ausgleichsanspruch zu, weil ihnen vom Berichtstermin an gemäß § 169 Satz 1 InsO laufend die geschuldeten Zinsen aus der Insolvenzmasse zu zahlen sind. Hat das Insolvenzgericht im Eröffnungsverfahren einen Verwertungsstopp gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO angeordnet, beginnt die Zinszahlungspflicht spätestens drei Monate nach der Anordnung (§ 21 Abs. 2 Nr. 5 Halbs. 2, § 169 Satz 2 InsO)3. Nur ein Ausgleich für den Wertverlust, der bei der Weiternutzung beweglicher Sachen für die Insolvenzmasse durch § 172 Abs. 1 InsO bzw. § 21 Abs. 2 Nr. 5 Halbs. 3 InsO vorgesehen ist, kommt bei Forderungen naturgemäß nicht in Betracht.

27.86

Auch in den Fällen der Doppelabtretung wird der ursprüngliche Sicherungszessionar, dessen Forderung nach der nochmaligen, wegen der mangelnden Verfügungsberechtigung des Schuldners an sich unwirksamen, Abtretung gemäß §§ 408, 407 BGB erloschen ist, geschützt. Zieht der zweite Zessionar, dem die Forderung von dem Schuldner zeitlich später erneut „abgetreten“ wurde, die Forderung ein, steht dem eigentlich berechtigten Sicherungszessionar ein Bereicherungsanspruch gemäß § 816 Abs. 2 BGB gegen den vermeintlichen zweiten Zessionar zu, In einem Fall, in dem nunmehr der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin erfolgreich den Einzug der Forderungen gegenüber dem zweiten Zessionar angefochten und den Verwertungserlös zur Masse gezogen hat, kann der eigentlich berechtigte erste Zessionar zwar kein Ersatzabsonderungsrecht gemäß § 48 InsO gegen die Insolvenzmasse geltend machen. Gemäß § 48 InsO kann der Aussonderungsberechtigte, dessen Recht durch eine Verfügung des Schuldners oder des Insolvenzverwalters vereitelt worden ist, die Abtretung des Rechts auf die Gegenleistung verlangen, soweit diese noch aussteht. Er kann die Gegenleistung aus der Masse verlangen, sofern sie dort noch unterscheidbar vorhanden ist4. Auf Absonderungsrechte ist § 48 InsO analog anwendbar5. Allerdings fehlt es zum einen an einer unterscheidbar in der Masse vorhandenen Gegenleistung, da sich durch die Zahlung des Dritt1 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 167 InsO Rz. 9 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.723 ff. 2 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 168 InsO Rz. 24 ff. 3 Diese Vorschrift ist verfassungsgemäß BVerfG v. 22.3.2012 – 1 BvR 3169/11, NZI 2012, 617 = ZIP 2012, 1252. 4 BGH v. 22.10.2015 – IX ZR 171/14, NZI 2015, 976 Rz. 8 = ZIP 2015, 2282. 5 BGH v. 19.1.2006 – IX ZR 154/03, ZIP 2006, 959 Rz. 16, 21 ff.; BGH v. 22.10.2015 – IX ZR 171/ 14, NZI 2015, 976 Rz. 8.

926 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.90 § 27

schuldners an den zweiten Zessionar lediglich die Verbindlichkeiten des Schuldners reduziert haben1. Auch an dem Anfechtungsanspruch des Insolvenzverwalters konnte der Zessionar keine Rechte erwerben, die Gegenstand einer Ersatzabsonderung hätten sein können2. Ihm steht aber ein Bereicherungsanspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB, § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO gegen die Insolvenzmasse zu. Denn bis zur Zahlung des zweiten Zessionars an den Insolvenzverwalter hatte der erste Sicherungszessionar einen Bereicherungsanspruch gemäß § 816 Abs. 2 BGB gegen den zweiten Zessionar. Der Insolvenzverwalter war insoweit nicht berechtigt, den Anfechtungsanspruch gegen den zweiten Zessionar geltend zu machen, so dass die Zahlung des zweiten Zessionars an die Insolvenzmasse zu deren Bereicherung und gleichzeitig zur Entreicherung des zweiten Zessionars führte3. Die Anwendung dieser Regelungen zur Geltendmachung des Absonderungsrechtes bei Forderungen auch bei sonstigen Rechten, an denen Gläubiger gesichert sein können (z.B. Patente oder Marken), ist nach dem Text der Insolvenzordnung ausgeschlossen. Die Insolvenzordnung schränkt in den §§ 165 ff. InsO das Verwertungsrecht des gesicherten Gläubigers ausschließlich bei Sicherungsrechten an Forderungen ein. Die Rechtsprechung hat die Frage, ob eine entsprechende Anwendung auch auf sonstige Rechte in Betracht kommt, bislang ausdrücklich offen gelassen4. Der Gesetzgeber hat den Wortlaut des § 166 InsO bewusst gewählt – insbesondere auch unter Berücksichtigung gewerblicher Schutzrechte. Damit besteht schon keine ungewollte Gesetzeslücke, so dass eine analoge Anwendung der §§ 166 ff. InsO schon aus diesem Grund nicht in Betracht kommt5. Ist der Gläubiger an sonstigen Rechten gesichert, z.B. an Patenten oder Marken, muss es daher dabei verbleiben, dass der Gläubiger allein zur Verwertung berechtigt ist6.

27.87

Der Insolvenzverwalter hat den Verwertungserlös gemäß § 170 Abs. 1 Satz 2 InsO unverzüglich an den absonderungsberechtigten Gläubiger auszukehren. Dabei darf er gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 InsO vorweg einen Kostenbeitrag für die Masse entnehmen (dazu sogleich Rz. 27.89). Er ist auch berechtigt, den Auskehranspruch des Gläubigers durch Aufrechnung mit Gegenansprüchen der Insolvenzmasse zu erfüllen7.

27.88

c) Kostenbeitrag Gläubiger, die an beweglichen Gegenständen gesichert sind, haben gemäß §§ 170, 171 InsO einen Kostenbeitrag bei der Verwertung ihrer Sicherheiten im Insolvenzverfahren aus dem Verwertungserlös aufzubringen. Dieser ist im Überblick bei Rz. 27.104 dargestellt. Im Einzelnen gilt Folgendes:

27.89

Die Gläubiger haben aus dem Verwertungserlös gemäß § 170 Abs. 1, § 171 Abs. 1 InsO zum einen die Kosten der Feststellung zu tragen. Dieses sind gemäß § 171 Abs. 1 InsO die Kosten

27.90

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BGH v. 22.10.2015 – IX ZR 171/14, NZI 2015, 976 Rz. 10 = ZIP 2015, 2282. BGH v. 22.10.2015 – IX ZR 171/14, NZI 2015, 976 Rz. 11 = ZIP 2015, 2282. BGH v. 22.10.2015 – IX ZR 171/14, NZI 2015, 976 Rz. 16 ff. = ZIP 2015, 2282. BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286 Rz. 19. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 101 ff.; Gundlach/Frenzel/ Schmidt, NZI 2001, 119, 123. 6 Für eine Analogie bei besitzlosen Rechten aber Bitter, ZIP 2015, 2249, 2251 f.; Brinkmann in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 35; Häcker, ZIP 2001, 995 ff. Für ein Verwertungsrecht des Verwalters in dem Fall, dass die Rechte zur technisch-organisatorischen Einheit des Unternehmens gehören, Sinz in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 166 InsO Rz. 37. 7 BGH v. 14.11.2019 – IX ZR 50/17, NZI 2020, 20 Rz. 18 = ZIP 2019, 2416.

Kuder/Unverdorben | 927

§ 27 Rz. 27.90 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

der tatsächlichen Ermittlung und Trennung des belasteten Gegenstandes sowie der Prüfung der rechtlichen Verhältnisse. Dafür sieht die Insolvenzordnung eine Pauschale in Höhe von 4 % des Verwertungserlöses vor. Diese Kostenpauschale ist unabhängig vom Aufwand der Feststellung oder Verwertung, d.h. der gesicherte Gläubiger hat sie selbst dann zu tragen, wenn die Feststellung unproblematisch ist und die Masse tatsächlich nicht mit Kosten belastet1. Dieser Kostenbeitrag für die Feststellung ist auch zu leisten, wenn der Gläubiger selbst schon vor Verfahrenseröffnung mit der Verwertung begonnen hatte (insbesondere durch Offenlegung einer Sicherungszession), wenn der Gläubiger unberechtigterweise selbst verwertet (insbesondere mit Einziehung von abgetretenen Forderungen), wenn der Gläubiger von seinem Eintrittsrecht aus § 168 Abs. 3 InsO Gebrauch macht und das Sicherungsgut selbst übernimmt2 oder wenn der Verwalter keine Verwertungshandlungen vornimmt, sondern z.B. Zahlungen auf abgetretene Forderungen nach Eröffnung vom Drittschuldner direkt an den Gläubiger erfolgen3.

27.91

Zum anderen wird den gesicherten Gläubigern für die Verwertungskosten pauschal ein Kostenbeitrag in Höhe von 5 % des Verwertungserlöses auferlegt. Diesen Anspruch auf Verwertungskosten hat der Verwalter aber nur, wenn er tatsächlich verwertet. Er entsteht nicht, wenn der Verwalter dem Gläubiger gemäß § 170 Abs. 2 InsO die Verwertung überlässt oder wenn der Gläubiger, auch unberechtigterweise, selbst verwertet, z.B. mit unberechtigter Einziehung einer abgetretenen Forderung4. Sind die tatsächlichen Kosten der Verwertung allerdings niedriger oder höher, sind diese tatsächlichen Kosten maßgebend5. Die Einschränkung auf „erhebliche“ Abweichungen von den durch die Pauschale vermuteten Kosten soll im Ergebnis unergiebige Auseinandersetzungen zwischen dem Verwalter und den gesicherten Gläubigern verhindern. In einer Auseinandersetzung um die Höhe der Verwertungskosten hat der Gläubiger die Darlegungs- und Beweislast für geringere Feststellungskosten; der Verwalter hat aber Rechnung zu legen. Dabei darf der Insolvenzverwalter die Verwertungspauschale gemäß § 171 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht neben gesondert geltend gemachten und bezifferten Verwertungskosten gemäß § 171 Abs. 2 Satz 2 InsO in Abzug bringen. Nach der Systematik des Gesetzes muss der Insolvenzverwalter sich entscheiden, ob er die Pauschale geltend macht oder nach tatsächlich entstandenen Kosten abrechnet. Eine „Mischkalkulation“, bei der der Insolvenzverwalter einen Teil der Verwertungskosten konkret berechnet und für einen anderen Teil die 5 %-Pauschale ansetzt, ist nicht statthaft6.

27.92

Schließlich hat der gesicherte Gläubiger gemäß § 171 Abs. 2 InsO die Umsatzsteuer zu tragen, sofern diese bei der Verwertung anfällt. Daraus ergibt sich für die Sicherungsnehmer an beweglichen Sachen ein weiterer Kostenbeitrag in Höhe von bis zu 19 % des Verwertungserlöses7. 1 So BGH v. 11.7.2002 – IX ZR 262/01, NZI 2002, 599 = ZIP 2002, 1630; dagegen aber zuvor OLG Hamm v. 20.9.2001 – 27 U 54/01, NZI 2002, 50. 2 BGH v. 3.11.2005 – IX ZR 181/04, ZIP 2005, 2214; Streit, BB 2005, 66. 3 BGH v. 20.2.2003 – IX ZR 81/02, WM 2003, 694 = ZIP 2003, 632; BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42; BGH v. 16.11.2006 – IX ZR 135/05, WM 2007, 172 = ZIP 2006, 2390; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.770 ff. 4 BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42; dazu Leithaus, NZI 2004, 138; Brinkmann in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 171 InsO Rz. 9. 5 Beispiele aus der Rechtsprechung („Verwertung“ durch Kündigung einer Lebensversicherung): OLG Jena v. 3.2.2004 – 5 U 709/02, ZInsO 2004, 509; AG Bonn v. 11.10.2000 – 16 C 322/00, NZI 2001, 50. 6 BGH v. 22.2.2007 – IX ZR 112/06, WM 2007, 893 = ZIP 2007, 686; Brinkmann in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 171 InsO Rz. 11. 7 Im Überblick dazu Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 171 InsO Rz. 52 ff.; Sinz in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 171 InsO Rz. 20 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der

928 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.96 § 27

Wird die Entstehung der Kostenbeiträge verhindert, indem das gesicherte Kreditinstitut oder ein anderer Gläubiger vor dem oder im Insolvenzeröffnungsverfahren sicherungsübereignete Sachen in Besitz nimmt oder sicherungszedierte Forderungen einzieht, so kann dies nicht angefochten werden mit der Begründung, der Masse seien dadurch die Kostenbeiträge für die Verwertung nach §§ 170, 171 InsO entgangen1. Eine Anfechtung ist jedenfalls deshalb ausgeschlossen, weil der Umstand, dass der Masse der Anspruch auf die Verwertungskostenbeiträge entgeht, keine Gläubigerbenachteiligung i.S. des § 129 InsO darstellt. Denn diese Kostenbeiträge erstatten lediglich Kosten der Masse bei tatsächlicher Verwertung durch den Insolvenzverwalter. Daran ändert auch das vom Gesetzgeber gewählte Pauschalsystem nichts. Dessen Anwendung kann im Einzelfall ebenso zu einer Vermehrung wie zu einer Schmälerung der Masse führen. Dies ist jedoch systembedingt, so dass daraus keine Gläubigerbenachteiligung hergeleitet werden kann2. Im Übrigen stehen dem Insolvenzverwalter aber die allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Besitzschutzansprüche zu, wenn der Sicherungsgläubiger das Sicherungsgut nicht rechtmäßig in seinen Besitz gebracht hat3.

27.93

Technisch erfolgt die Kostenbeteiligung gemäß § 170 InsO bei der Erlösverteilung. Hat der Verwalter den Gegenstand verwertet, entnimmt er gemäß § 170 Abs. 1 InsO den geschuldeten Kostenbeitrag für die Masse vor der Ausschüttung an den absonderungsberechtigten Gläubiger. Hat der Verwalter die Verwertung dem gesicherten Gläubiger überlassen, hat dieser gemäß § 170 Abs. 2 InsO vorweg den Kostenbeitrag an die Masse abzuführen. Berechnungsgrundlage für die Feststellungskosten- und Verwertungskostenpauschalen ist dabei der Nettoerlös ohne Berücksichtigung der Umsatzsteuer4.

27.94

Die Kostenbeiträge müssen nicht notwendigerweise zu einem Ausfall des gesicherten Kreditgebers führen. Denn die gesicherten Gläubiger haben die Möglichkeit, den Kostenbeitrag durch entsprechende Übersicherung abzudecken, so dass eine volle Sicherung von Krediten durch Kreditsicherheiten rechtlich möglich ist5.

27.95

4. Abgesonderte Befriedigung aus Pfandrechten Gemäß § 50 InsO berechtigen auch die Mobiliarpfandrechte zur abgesonderten Befriedigung. In aller Regel werden aber den gesicherten Pfandgläubigern, anders als anderen gesicherten Kreditgebern, weder Einschränkungen ihres Verwertungsrechts noch Kostenbelastungen zugemutet.

1 2 3 4 5

Bankpraxis, Rz. 6.791 ff. Zur Umsatzsteuerpflicht der Kostenbeiträge selbst s. ausführlich Sinz in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 171 InsO Rz. 34 f. BGH v. 21.7.2011 – IX ZR 217/10; BGH v. 29.3.2007 – IX ZR 27/06, WM 2007, 1129 = ZIP 2007, 1126; BGH v. 23.9.2004 – IX ZR 25/03, WM 2005, 126 = ZIP 2005, 40; BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42. Dazu auch Notthoff, DZWIR 2004, 207. BGH v. 20.11.2003 – IX ZR 259/02, WM 2004, 39 = ZIP 2004, 42. Ausführlich zum fehlerhaften Besitzerwerb, insbesondere bei Nacht- und Nebelaktionen, und zu den daraus resultierenden Besitzschutzansprüchen Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 30 ff. Streitig, ausführlich dazu m.w.N. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.814; de Weerth, ZInsO 2007, 70. So ausdrücklich Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 195 RegE S. 181. Dazu auch Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 170 InsO Rz. 59 f.

Kuder/Unverdorben | 929

27.96

§ 27 Rz. 27.97 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

a) Pfandrecht an beweglichen Sachen 27.97

Gemäß § 166 Abs. 1 InsO steht dem Verwalter das Recht zur Verwertung beweglicher Gegenstände, an denen ein Absonderungsrecht besteht, nur dann zu, wenn die Sache im Besitz des Insolvenzverwalters steht. Damit ist das vertragliche Pfandrecht von dem Übergang des Verwertungsrechtes auf den Verwalter ausgenommen, da es gemäß § 1205 BGB nur durch Besitzübergang auf den gesicherten Gläubiger begründet werden kann1.

27.98

Falls dem Schuldner, z.B. bei der Verpfändung von Aktien, ein gegenüber dem gesicherten Gläubiger nachrangiger mittelbarer Besitz verbleibt, begründet dies kein Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters, da der Schuldner den Pfandgläubiger nicht vom unmittelbaren Besitz ausschließen kann2. Auch wenn der gesicherte Gläubiger keinen unmittelbaren Besitz innehat, wie dies bei in einer Globalurkunde verbrieften Aktien regelmäßig der Fall ist (unmittelbaren Besitz hat in der Regel die Clearstream Banking AG, bei der die Globalurkunde verwahrt wird), darf ein gesicherter Gläubiger als mittelbarer Fremdbesitzer erster Stufe, dem der Schuldner globalverbriefte Aktien als mittelbarer Fremdbesitzer zweiter oder dritter Stufe verpfändet hat, diese Aktien auf Grund seines „besseren“ Besitzes selbst verwerten3. Allerdings hat der BGH für die Praxis den Anwendungsbereich des § 166 Abs. 1 InsO bei Aktien ausgeweitet. Der § 166 Abs. 1 InsO solle die wirtschaftliche Einheit des Schuldnerunternehmens erhalten und einzelnen Gläubigern den Zugriff auf einzelne Gegenstände verwehren, um eine gemeinsame Verwertung zusammengehöriger, aber zu Gunsten unterschiedlicher Gläubiger belasteter, Gegenstände zu gewährleisten4. Bei Aktien komme es daher nicht auf die Besitzposition, sondern auf die darin verbrieften Mitgliedschaftsrechte an. Könne der Schuldner, wie bei der Verpfändung der Aktien üblich, über die Mitgliedschaftsrechte noch verfügen, könne auch eine vom gesicherten Gläubiger abgeleitete Besitzposition ausreichen, um ein Verwertungsrecht nach § 166 InsO zu begründen – allerdings nur dann, wenn die Aktien von strategischer Bedeutung für das Unternehmen seien und nicht nur der Vermögensanlage dienen5.

27.99

Bei den besitzlosen gesetzlichen Pfandrechten, vor allem beim Vermieterpfandrecht, und den Pfändungspfandrechten, sofern der Gläubiger den Pfandgegenstand nicht schon vor der Insolvenz an sich gezogen hat, kann dem Verwalter ein Verwertungsrecht auf Grund seines Besitzes zustehen. In diesen Fällen gelten die obigen Erläuterungen (Rz. 27.70) zu den Verwertungsbefugnissen bei der Sicherungsübereignung und zu dem Kostenbeitrag in gleicher Weise.

27.100

Hat der Gläubiger dagegen ein Besitzpfandrecht, bleibt er gemäß § 173 InsO selbst zur Verwertung berechtigt. Der Verwalter hat aber zum einen die Möglichkeit, dem gesicherten Gläubiger gemäß § 173 Abs. 2 InsO vom Insolvenzgericht eine Frist zur Verwertung setzen zu lassen. Verstreicht diese Frist, geht das Verwertungsrecht auf den Verwalter über. Zum anderen bleibt dem Verwalter die Möglichkeit, wenn er auf den Sicherungsgegenstand für die Fortführung des Unternehmens angewiesen ist, diesen durch Berichtigung der gesicherten Forderung auszulösen6. 1 BGH v. 26.1.2012 – IX ZR 191/10, WM 2012, 549 Rz. 34 = ZIP 2012, 638; BGH v. 11.7.2002 – IX ZR 262/01, WM 2002, 1797 = ZIP 2002, 1630; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 17. 2 Wie hier: Berger, WM 2009, 577, 584 f. 3 BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286 Rz. 13 ff.; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 25; Jacoby, EWiR 2015, 739, 740. 4 BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286 Rz. 22. 5 BGH v. 24.9.2015 – IX ZR 272/13, ZIP 2015, 2286 Rz. 23 ff.; Jacoby, EWiR 2015, 739, 740. 6 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.831 ff.

930 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.103 § 27

Der Gläubiger eines Besitzpfandrechtes hat keinen Kostenbeitrag zu leisten. Denn die Regelung des Kostenbeitrages in §§ 170, 171 InsO greift nur dann ein, wenn der Verwalter zur Verwertung berechtigt ist. Der gesicherte Kreditgeber ist in diesen Fällen auch nicht verpflichtet, die beim Verkauf der Sache vereinnahmte Umsatzsteuer abzuführen. Denn die Verwertung von Sicherungsgut, die einerseits nach Verfahrenseröffnung erfolgt und bei der andererseits der Verwalter kein Verwertungsrecht hat, fällt nicht unter die Regelungen der §§ 170, 171 InsO1.

27.101

b) Pfandrecht an Forderungen Dem Verwalter steht gemäß § 166 Abs. 2 InsO das Recht der Verwertung bei Forderungen ausdrücklich nur dann zu, wenn diese zur Sicherung eines Anspruchs abgetreten sind. Die Verpfändung von Forderungen führt daher gemäß § 173 Abs. 1 InsO dazu, dass der gesicherte Gläubiger zur Verwertung durch Einziehung berechtigt ist. Gleiches gilt bei der Forderungspfändung. Wegen der fehlenden Verwertungsberechtigung des Verwalters wird dem Gläubiger bei der Forderungsverpfändung und -pfändung auch kein Kostenbeitrag auferlegt2.

27.102

c) AGB-Pfandrecht Für die Praxis des Kreditgeschäfts ist das AGB-Pfandrecht, das sich die Kreditinstitute gemäß Nr. 14 AGB-Banken bzw. Nr. 21 AGB-Sparkassen einräumen lassen, von besonderer Bedeutung3. Dabei handelt es sich, soweit bewegliche Sachen betroffen sind, um ein vertragliches Besitzpfandrecht, im Übrigen um ein Pfandrecht an Forderungen. Dementsprechend führt die Insolvenzordnung zu keiner Entwertung des AGB-Pfandrechts. Denn weder geht das Verwertungsrecht auf den Verwalter über, noch wird dem gesicherten Kreditinstitut ein Kostenbeitrag auferlegt.

1 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.834. 2 Dazu auch Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 166 InsO Rz. 71; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.835 ff. 3 Eingehend dazu Mackenthun in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 1/381 ff. (125 Lfg.).

Kuder/Unverdorben | 931

27.103

§ 27 Rz. 27.104 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

5. Der Kostenbeitrag der gesicherten Gläubiger im Überblick 27.104

27.105–27.120 Einstweilen frei.

IV. Inanspruchnahme der vertraglichen Mithaftung von Geschäftsführern und Gesellschaftern 27.121

Nach der ausdrücklichen Regelung in § 13 Abs. 2 GmbHG haftet für die Verbindlichkeiten der GmbH nur das Gesellschaftsvermögen. Dennoch stellt sich für die Kreditgeber spätestens dann, wenn das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, praktisch immer auch die Frage, ob und inwieweit neben der Gesellschaft die Geschäftsführer und Gesellschafter (sowie evtl. deren Angehörige, soweit es sich bei Geschäftsführern und Gesellschaftern um natürliche Personen handelt) auf Rückzahlung der gewährten Kredite in Anspruch genommen werden können. Denn selbst wenn nicht ausnahmsweise trotz der gesetzlichen Haftungsbeschränkung ein Durchgriff auf gesetzlicher Grundlage gegen diesen Personenkreis (im Folgenden als „nahe932 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.124 § 27

stehende Personen“ bezeichnet1) in Betracht kommt (zu solchen Haftungsdurchgriffen ausführlich Rz. 2.7 ff., 38.1 ff.), so haben doch in vielen Fällen nahestehende Personen für die Kreditverbindlichkeiten der GmbH vertraglich durch eine Personalsicherheit, also vor allem durch eine Bürgschaft, aber auch durch Schuldbeitritt, Garantie und Patronatserklärung, die persönliche Mithaftung übernommen2. Im Folgenden sollen daher zunächst in Form eines Überblicks die typischen Sicherungsformen, mit denen nahestehende Personen die Mithaftung für die Verbindlichkeiten ihrer GmbH übernehmen, dargestellt werden (nachstehend Rz. 27.123 ff.). Sodann werden die generellen Wirksamkeitsfragen dieser Personalsicherheiten erörtert (Rz. 27.129 ff.).

27.122

1. Typische Sicherungsformen a) Bürgschaft Mit der in §§ 765 ff. BGB geregelten Bürgschaft verpflichtet sich der Bürge gegenüber dem Kreditgeber der GmbH, für die Erfüllung der Verbindlichkeiten der GmbH einzustehen3. Die Bürgschaft als Sicherungsmittel hat einerseits den Vorteil, dass es sich um eine sog. Personalsicherheit handelt, dass also eine eigene (wenn auch akzessorische) schuldrechtliche Verpflichtung des Bürgen begründet wird, für deren Erfüllung der Bürge mit seinem gesamten Vermögen haftet. Ihr Nachteil gegenüber einer Sachsicherheit, mit der dem gesicherten Gläubiger ein vorrangiger Zugriff auf bestimmte Vermögenswerte des Sicherungsgebers eingeräumt wird, liegt demgegenüber darin, dass das Vermögen des Bürgen nicht für den Kreditgeber reserviert ist, so dass der Kreditgeber trotz seiner Sicherheit in der Insolvenz der GmbH einen Ausfall erleidet, wenn auch der Bürge in Vermögensverfall geraten ist4. Die Insolvenzordnung verschärft dieses Ausfallrisiko, weil auch natürlichen Personen, die häufig als Geschäftsführer und/oder Gesellschafter die Bürgschaft für „ihre“ GmbH übernehmen, der Weg in die Restschuldbefreiung und damit die Befreiung von ihren Bürgschaftsverpflichtungen offen steht (dazu ausführlich Rz. 37.1 ff.).

27.123

b) Schuldbeitritt Der Schuldbeitritt, auch als (kumulative) Schuldmitübernahme bezeichnet, ist im Gesetz nicht geregelt. Beim Schuldbeitritt tritt der Sicherungsgeber, hier also z.B. der Geschäftsführer oder Gesellschafter einer GmbH, zusätzlich neben der GmbH in das Kreditverhältnis ein. Als Folge haften sowohl der Kreditnehmer wie auch der beitretende Sicherungsgeber dem Gläubiger als Gesamtschuldner gemäß §§ 421 ff. BGB5. Wegen dieser Begründung einer eigenen schuldrechtlichen (Mit-)Verpflichtung des Beitretenden steht der Schuldbeitritt als Personalsicherheit der Bürgschaft sehr nahe6, wobei jedoch rechtlich die Verpflichtung des Beitretenden 1 Die Bezeichnung lehnt sich an den von der Insolvenzordnung in § 138 InsO definierten Begriff an. 2 Nach Ansicht des BGH v. 11.12.1997 – IX ZR 274/96, WM 1998, 235, 236 = GmbHR 1998, 240 = ZIP 1998, 280, ist es „gängige Bankpraxis, bei der Gewährung von Geschäftskrediten für eine GmbH die Mithaftung der Gesellschafter zu verlangen“. 3 Zur Bürgschaft ausführlich auch Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 1 ff.; Piekenbrock in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/ 1000 ff. (150. Lfg.); Fischer WM 2001, 1049, 1093. 4 Piekenbrock in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1005 (150 Lfg.). 5 S. zum Schuldbeitritt ausführlich auch Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 71 Rz. 76 ff.; Piekenbrock/Ludwig in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1383 ff. (150. Lfg.); Madaus, WM 2003, 1705; Fischer, WM 2001, 1049, 1093. 6 Zur Umdeutung eines Schuldbeitritts in eine Bürgschaft BGH v. 16.10.2007 – XI ZR 132/06, WM 2007, 2370 = ZIP 2007, 2403.

Kuder/Unverdorben | 933

27.124

§ 27 Rz. 27.124 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

nicht akzessorisch ist, sondern die Verknüpfung zwischen den beiden gleichrangigen Verpflichtungen von Kreditnehmer und Sicherungsgeber durch §§ 421 ff. BGB geregelt ist.

c) Garantie 27.125

Die Garantie ist ein gesetzlich nicht geregelter formfreier Vertrag, durch den sich der Garant gegenüber dem Gläubiger verpflichtet, für einen bestimmten wirtschaftlichen Erfolg oder das Risiko eines künftig eintretenden Schadens einzustehen. Der garantierte Erfolg kann auch darin bestehen, dass ein Kreditinstitut als Gläubigerin einer Kreditforderung den Kreditbetrag vom Kreditnehmer zurückerhält. Auf diese Weise dient die Garantie als Sicherungsmittel, das nach seinem wirtschaftlichen Zweck der Bürgschaft sehr nahe steht. Ihr rechtlicher Unterschied liegt darin, dass die Garantie eine eigene, vom Bestand der Hauptschuld unabhängige Verpflichtung des Sicherungsgebers begründet, die dahin geht, dass der Gläubiger die versprochene Leistung auf jeden Fall erhalten soll, selbst dann, wenn die Hauptschuld nicht (mehr) besteht1. Verschärft wird das Risiko des Sicherungsgebers, in jedem Fall ohne die Möglichkeit einer Einwendung Zahlung leisten zu müssen, noch dadurch, dass Bankgarantien, die von Kreditinstituten als Sicherungsmittel hereingenommen werden, regelmäßig die Verpflichtung zur Zahlung auf erstes Anfordern vorsehen. Mit dieser Verpflichtung sind dem Garanten nicht nur, wie ohnehin schon, evtl. Einwendungen aus dem gesicherten Grundverhältnis abgeschnitten, sondern darüber hinaus kann er sich auch nicht darauf berufen, dass der Garantiefall nicht eingetreten ist. Vielmehr ist der Garant immer dann, wenn lediglich die Inanspruchnahme der Garantie formal ordnungsgemäß ist und fristgerecht erfolgt, zur Zahlung verpflichtet, und wird dazu auch verurteilt. Ein Streit über die Berechtigung der Inanspruchnahme, vor allem das Bestehen der gesicherten Forderung, muss der Garant in einem separaten Rückforderungsprozess geltend machen2.

27.126

Wegen dieser besonderen Risiken können Kreditinstitute Garantien von Nichtbanken nicht uneingeschränkt hereinnehmen. Denn der BGH hat entschieden, dass das Garantiegeschäft, also die Übernahme von Garantien und die Übernahme der diesen vergleichbaren Bürgschaften auf erstes Anfordern für den Sicherungsgeber mit so hohen Risiken verbunden sei, dass das Eingehen einer solchen Verpflichtung, auf erstes Anfordern sofort ohne Rücksicht auf Einwendungen Zahlungen leisten zu müssen, zumindest in Formularverträgen3 nur dann wirksam ist, wenn es sich bei dem Garanten um ein Kreditinstitut, ein Versicherungsunternehmen oder ein im internationalen Wirtschaftsverkehr erfahrenes, internationales Großunternehmen handelt4. Angesichts dieser Rechtsprechung kann man für die GmbH davon ausgehen, dass einerseits nicht jede nahestehende Person für die Kredite der GmbH formularmäßig eine Garantie wirksam übernehmen kann, insbesondere dann nicht, wenn es sich um eine natürliche Person handelt. Sofern es sich bei dem Gesellschafter der GmbH jedoch um ein im internationalen Geschäftsverkehr erfahrenes Großunternehmen handelt, kann dieses auch wirksam eine Garantie als Kreditsicherheit erteilen. 1 S. zur Garantie auch Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 71 Rz. 1 ff.; Piepenbrock/Ludwig in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1337 ff. (150 Lfg.); Kreft, WM 1997, Sonderbeilage 5, S. 6. 2 Piepenbrock/Ludwig in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1367 (150. Lfg.). 3 Garantien in Individualverträgen sind uneingeschränkt möglich gemäß BGH v. 12.3.1992 – IX ZR 141/91, WM 1992, 854 = ZIP 1992, 684, aber in der Praxis des Kreditgeschäfts selten. 4 BGH v. 23.1.1997 – IX ZR 297/95, AG 1997, 324 = WM 1997, 656; BGH v. 12.3.1992 – IX ZR 141/91, WM 1992, 854; BGH v. 27.2.1992 – IX ZR 57/91, WM 1992, 773; BGH v. 5.7.1990 – IX ZR 294/89, WM 1990, 1410; LG Stuttgart v. 3.5.2010 – 36 O 108/09 KfH, WM 2010, 1499. S. zur Entwicklung der Rechtsprechung im Überblick auch Schulz/Mettke, WM 2014, 54; Graf von Westphalen, ZIP 2004, 1433; Kreft, WM 1997, Sonderbeilage 5, S. 53 f.

934 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.128 § 27

d) Harte Patronatserklärungen Nur die gegenüber dem Kreditgeber abgegebene1 harte Patronatserklärung kann als Kreditsicherheit angesehen werden, weil allein sie im Ergebnis zu einer Mithaftung des Sicherungsgebers führt. Mit der harten Patronatserklärung übernehmen die Muttergesellschaft oder andere nahe stehenden Personen gegenüber dem Kreditgeber einer Gesellschaft rechtsverbindlich die Verpflichtung, diese Gesellschaft so auszustatten, dass sie ihre Verpflichtungen aus dem Kreditverhältnis erfüllen kann („Ausstattungsverpflichtung“)2. Dabei handelt es sich um einen einseitig verpflichtenden Vertrag sui generis, bei dem die Ausstattungsverpflichtung als unechter Vertrag zu Gunsten Dritter (§ 329 BGB) ausgestaltet ist3. Obwohl harte Patronatserklärungen im wirtschaftlichen Ergebnis einer Bürgschaft nahekommen, können sie formfrei, also auch mündlich abgegeben werden. Alle anderen Erklärungen, in denen keine Ausstattungsverpflichtung begründet wird, sondern mit denen z.B. der Sicherungsgeber sein Einverständnis mit der Kreditaufnahme erklärt, sein Vertrauen in die Geschäftsführung des Kreditnehmers zum Ausdruck bringt oder Erklärungen zu seiner Geschäftspolitik abgibt, sind dagegen nur weiche Patronatserklärungen4. Sie können nicht als Kreditsicherheit angesehen werden, weil sie entweder rechtlich unverbindlich sind oder zwar begrenzte Pflichten begründen, aber nicht in jedem Fall bei Insolvenz des Kreditnehmers zur Mithaftung des Sicherungsgebers führen5.

27.127

Demgegenüber liegt der Sicherungswert einer harten Patronatserklärung darin begründet, dass der Sicherungsgeber dem Kreditgeber bei Insolvenz des Kreditnehmers Schadensersatz statt der Leistung gemäß § 280 Abs. 1, § 281 BGB schuldet, weil der Sicherungsgeber seine Ausstattungsverpflichtung nicht erfüllt hat6. Dass der Sicherungsgeber seine Ausstattungspflicht i.S. von § 280 Abs. 1, § 281 BGB nicht erfüllt hat, ist spätestens dann nachgewiesen,

27.128

1 Zur Kündbarkeit konzerninterner Patronatserklärungen vgl. BGH v. 20.9.2010 – II ZR 296/08, WM 2010, 2037 = GmbHR 2010, 1204 m. Anm. Ulrich/Rath; Blum, NZG 2010, 1331. 2 Ausführlich zur Patronatserklärung Wittig/Berger in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/2855 ff. (108. Lfg.); Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, vor § 765 BGB Rz. 51 ff.; Merkel/Richrath in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 77 Rz. 4 ff.; Tetzlaff, ZInsO 2008, 337 ff.; Küpper/Heinze, ZInsO 2006, 913 ff.; Wittig, WM 2003, 1981 ff. Zum Konflikt von Patronatserklärungen für Unternehmen der öffentlichen Hand mit dem EU-Beihilferecht Soltész/Pfeffer/Wagner, WM 2013, 831. 3 Ausführlich dazu Merkel/Richrath in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 77 Rz. 13; Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, vor § 765 BGB Rz. 53 f.; Michalski, WM 1994, 1229; Uwe H. Schneider, ZIP 1989, 619; Schröder, ZGR 1982, 552; Obermüller, ZGR 1975, 1. 4 Zur Abgrenzung OLG Brandenburg v. 19.9.2007 – 3 U 129/06, BeckRS 2008, 837. 5 So z.B. OLG Frankfurt v. 19.9.2007 – 4 U 22/07, ZIP 2007, 2316. Zu möglichen Formen und den Rechtsfolgen weicher Patronatserklärungen Wittig/Berger in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/2856 ff. (108. Lfg.); Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, vor § 765 BGB Rz. 57; Saenger/Merkelbach, WM 2007, 2309 ff. 6 BGH v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, ZIP 2017, 337 Rz. 7 = GmbHR 2017, 236 m. Anm. Blöse; BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, WM 2011, 1085 Rz. 20 = GmbHR 2011, 769 m. Anm. Blöse; BGH v. 22.9.2009 – XI ZR 286/08, WM 2009, 2073; BGH v. 8.5.2003 – IX ZR 334/01, WM 2003, 1178, 1179 f.; BGH v. 30.1.1992 – IX ZR/112/91, AG 1992, 447 = WM 1992, 501; OLG Rostock v. 16.12.2004 – 1 U 28/04, MDR 2005, 1277; OLG München v. 22.7.2004 – 19 U 1867/04, ZInsO 2004, 1040; Uwe H. Schneider, ZIP 1989, 619; Rümker, WM 1974, 990. Ausführlich zu dieser Wirkung der harten Patronatserklärung auch Wittig/Berger in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/2879 ff. (108. Lfg.); Habersack in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2020, vor § 765 BGB Rz. 52.

Kuder/Unverdorben | 935

§ 27 Rz. 27.128 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Kreditnehmers eröffnet wurde, so dass die Inanspruchnahme jetzt jedenfalls möglich ist1. Erst recht muss dies gelten, wenn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen wird, denn für die Haftung aus einer harten Patronatserklärung genügt nach Auffassung des Bundesgerichtshofes jeder Nachweis einer Zahlungsunfähigkeit des Kreditnehmers2. Obwohl die harte Patronatserklärung zunächst dem Kreditgeber keine einklagbaren Ansprüche auf Leistung an sich einräumt, hat daher der Kreditgeber die Möglichkeit, durch Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens sich einen Zahlungsanspruch gegen den Sicherungsgeber zu verschaffen, wenn der an die patronierte Gesellschaft ausgereichte Kredit Not leidend wird. Die Schadensersatzpflicht des Sicherungsgebers ist dann darauf gerichtet, bei Fälligkeit des Kredits diesen in der in Anspruch genommenen Höhe zurückzuzahlen. Dabei haftet der Sicherungsgeber nicht etwa nur für einen eventuellen Ausfall, sondern neben dem Kreditnehmer als Gesamtschuldner auf Schadensersatz in voller Höhe3. Deshalb muss insbesondere der Kreditgeber vor Inanspruchnahme der Patronatserklärung nach Fälligkeit der gesicherten Forderung weder längere Zeit abwarten, bis die Höhe seines Ausfalls feststeht, noch muss er zuvor die Zwangsvollstreckung gegen den Kreditnehmer betreiben4. Selbst wenn der Patron seiner Ausstattungsverpflichtung intern nachgekommen ist und der Tochtergesellschaft die erforderlichen Mittel zur Bedienung des gesicherten Kredits zur Verfügung gestellt hat, der Kreditnehmer mit diesem Betrag die Verbindlichkeiten aus dem Kredit bedient hat, aber das Kreditinstitut diese Zahlung auf Grund einer Insolvenzanfechtung an den Insolvenzverwalter herausgeben muss, ist die Ausstattungsverpflichtung des Patrons nicht erfüllt und er muss erneut an das Kreditinstitut Zahlung leisten5.

2. Grenzen der Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit a) Inanspruchnahme des Gesellschafters in der Insolvenz (§ 93 InsO) 27.129

Der Kreditgeber ist bei der Inanspruchnahme einer Personalsicherheit des Gesellschafters der insolventen GmbH nicht eingeschränkt durch § 93 InsO (dazu auch Rz. 29.13). Zwar sieht § 93 InsO vor, dass im Insolvenzverfahren die persönliche Haftung eines Gesellschafters für die Verbindlichkeiten der insolventen Gesellschaft nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden kann. Dies gilt zum einen aber nur für Personengesellschaften, also nicht für die GmbH. Zum anderen hat die Rechtsprechung keinen Zweifel daran gelassen, dass der Anwendungsbereich von § 93 InsO auf die gesetzliche akzessorische Gesellschafterhaftung beschränkt ist (Rz. 24.195). § 93 InsO führt aber weder direkt noch analog dazu, dass Sicherheiten der Gesellschafter (insbesondere Bürgschaften) für Verbindlichkeiten der insolventen Gesellschaft im Insolvenzverfahren nur noch vom Insolvenzverwalter verwertet werden dürfen6.

1 BGH v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, ZIP 2017, 337 Rz. 7; BGH v. 30.1.1992 – IX ZR/112/91, AG 1992, 447 = WM 1992, 501. 2 BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, WM 2011, 1085 Rz. 20; BGH v. 30.1.1992 – IX ZR/112/91, AG 1992, 447 = WM 1992, 501; OLG München v. 22.7.2004 – 19 U 1867/04, ZInsO 2004, 1040. 3 BGH v. 30.1.1992 – IX ZR/112/91, WM 1992; OLG Stuttgart v. 21.2.1985 – 7 U 202/84, WM 1985, 455. 4 BGH v. 30.1.1992 – IX ZR/112/91, AG 1992, 447 = WM 1992, 501 = ZIP 1992, 338; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 6.1293. 5 BGH v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, ZIP 2017, 337 Rz. 7 = GmbHR 2017, 236 m. Anm. Blöse. 6 BGH v. 4.7.2002 – IX ZR 265/01, WM 2002, 1770; BFH v. 2.11.2001 – VII B 155/01, WM 2002, 1361; Gehrlein in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 93 InsO Rz. 21. Ablehnend Klinck, NZI 2004, 651; Kesseler, ZIP 2002, 1974.

936 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.132 § 27

b) Schranken des Sicherungszwecks Die Kreditgeber der GmbH können für ihre Forderungen gegen die GmbH die Mithaftung nahestehender Personen nur dann und nur insoweit in Anspruch nehmen, wie die jeweilige Sicherheit gerade für den betreffenden Kredit bestellt worden ist. Dies ergibt sich für die akzessorische Bürgschaft aus § 765 BGB und für die anderen Formen der Mithaftung aus der Zweckerklärung, d.h. aus der schuldrechtlichen vereinbarten Verknüpfung von Sicherheit und gesicherter Forderung1.

27.130

Dabei finden sich zum einen Personalsicherheiten mit weitem Sicherungszweck, die nach ihrem ausdrücklichen Text eine Mithaftung des Sicherungsgebers für sämtliche gegenwärtigen und künftigen Verbindlichkeiten begründet haben, soweit diese dem Kreditinstitut aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung gegen den Kreditnehmer zustanden2. Daneben gibt es Personalsicherheiten mit engem Sicherungszweck, die nach ihrem Wortlaut nur für eine oder mehrere bestimmte Kreditforderungen haften, die Anlass zur Hereinnahme der Personalsicherheit gegeben haben.

27.131

Grundsätzlich kann für die von einem Dritten bestellte Personalsicherheit3 formularmäßig nur der enge Sicherungszweck wirksam vereinbart werden4. Die formularmäßige Vereinbarung des weiten Sicherungszwecks ist überraschend i.S. von § 305c Abs. 1 BGB, da sie von den Erwartungen des Sicherungsgebers deutlich abweicht und er damit den Umständen nach vernünftigerweise nicht zu rechnen braucht. Dies gilt auch dann, wenn es sich um eine Höchstbetragsbürgschaft handelt. Denn die vertragswesentlichen Rechte des Bürgen würden nicht nur dadurch ausgehöhlt, dass er u.U. für einen höheren Betrag haften muss, als es dem Anlass seiner Bürgschaftsübernahme entspricht, sondern auch dadurch, dass er für andere als die veranlassten Verbindlichkeiten einzustehen hat, weil deren Verwendungszweck, Tilgungsdauer oder zusätzliche Besicherung und damit das Ausfallrisiko abweichen können von dem Kredit, der Anlass der Bürgschaft war. Dies gilt nicht nur für die Bürgschaft, sondern auch für den Schuldbeitritt, da eine persönliche Mithaftung, die auf Verlangen des Kreditgebers zu dessen Sicherheit von einem Dritten übernommen werde, in ihrer wirtschaftlichen Funktion einer Bürgschaft so nahe steht, dass eine rechtliche Gleichbehandlung sachgerecht ist5. Jedoch führt die unzulässige Vereinbarung des weiten Sicherungszwecks bloß zur Teilunwirksamkeit der Zweckvereinbarung, und die Haftung dieser Sicherheiten bleibt für denjenigen Kredit bestehen, der Anlass für die Bürgschaft gegeben hat, für den sich der Bürge also ursprünglich verpflichtet hatte6.

27.132

1 Zur Bestimmung des Sicherungszwecks durch die Zweckerklärung s. auch Ganter in Ellenberger/ Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 112 ff. 2 Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 114. 3 Dies gilt jedoch nicht für Sachsicherheiten wie Grundschuld oder Verpfändung, BGH v. 24.6.1997 – XI ZR 288/96, WM 1997, 1615 = ZIP 1997, 1538; BGH v. 4.10.2001 – IX ZR 174/99, WM 2002, 919. 4 Ständige Rechtsprechung seit BGH v. 18.5.1995 – IX ZR 108/94, WM 1995, 1397 = ZIP 1995, 1244, vorbereitet durch BGH v. 17.3.1994 – IX ZR 102/93, WM 1994, 784 = ZIP 1994, 697; BGH v. 1.6.1994 – XI ZR 133/93, WM 1994, 1242 = ZIP 1994, 1096; auch für die Bürgschaft eines Kaufmanns: BGH v. 24.9.1998 – IX ZR 425/97, WM 1998, 2186 = ZIP 1998, 1868; BGH v. 7.3.1996 – IX ZR 43/95, WM 1996, 766 = ZIP 1996, 702; BGH v. 13.6.1996 – IX ZR 229/95, WM 1996, 1391 = ZIP 1996, 1289; BGH v. 2.7.1998 – IX ZR 255/97, WM 1998, 1675 = ZIP 1998, 1349 = GmbHR 1998, 927; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 294/00, WM 2002, 1836 = ZIP 2002, 1611; BGH v. 14.10.2003 – XI ZR 121/02, WM 2003, 2379 = ZIP 2003, 2193; zum Sicherungszweck einer Bürgschaft für eine durch Verwaltungsakt festzusetzende Rückforderung einer staatlichen Subvention BGH v. 28.4.2009 – XI ZR 86/08, WM 2009, 1180 Rz. 35 ff. = ZIP 2009, 1367. 5 BGH v. 7.11.1995 – XI ZR 235/94, WM 1995, 2180 = ZIP 1995, 1976. 6 BGH v. 18.5.1995 – IX ZR 108/94 (Zweibrücken), WM 1995, 1397; OLG Celle v. 12.9.2007 – 3 U 85/07, WM 2008, 296 = ZIP 1995, 1244.

Kuder/Unverdorben | 937

§ 27 Rz. 27.133 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

27.133

Ein weiter Sicherungszweck ist aber bei Personalsicherheiten von Geschäftsführern und Allein- oder Mehrheitsgesellschaftern der GmbH möglich1. Denn der Geschäftsführer oder der Allein- bzw. Mehrheitsgesellschafter der GmbH kann bestimmenden Einfluss darauf nehmen, ob und in welchem Umfang weitere Kredite nach Übernahme der Mithaftung aufgenommen werden. Daher bedürfen diese Personen nicht des Schutzes des § 767 Abs. 1 Satz 3 BGB und können sich auch nicht darauf berufen, durch zusätzliche Kreditaufnahmen überrascht zu sein2. Etwas anderes gilt nur da, wo der Gesellschafter der GmbH mangels Mehrheitsbeteiligung3 keinen maßgeblichen Einfluss auf die Geschäftsführung und damit auf weitere Kreditaufnahmen hat4. Jedoch ist die formularmäßige Vereinbarung des weiten Sicherungszwecks für die Mithaftung des Minderheitsgesellschafters möglich, sofern gesellschaftsrechtlich, also durch den Gesellschaftsvertrag in Verbindung mit der Geschäftsordnung für die Geschäftsführung, sichergestellt ist, dass die besicherten Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht ohne Mitwirkung des Minderheitsgesellschafters ausgeweitet werden dürfen5.

c) Formvorschriften für Verbraucherdarlehen 27.134

Wirksamkeitsschranken für die Inanspruchnahme der Personalsicherheiten nahestehender Personen ergeben sich bei Kreditsicherheiten, die von natürlichen Personen gestellt werden, unter Umständen daraus, dass die für Verbraucher geltenden Vorschriften auf sie anzuwenden sind.

27.135

Auch Geschäftsführer, Mehrheitsgesellschafter und sogar geschäftsführende Alleingesellschafter der GmbH sind Verbraucher im Sinne des § 13 BGB. Dies begründet die Rechtsprechung sehr dogmatisch damit, dass rechtlich das Halten der Gesellschaftsbeteiligung an der GmbH keine gewerbliche Tätigkeit, sondern Vermögensverwaltung sei, und die Geschäftsführung der GmbH eine angestellte berufliche, also keine selbständige Tätigkeit darstelle6. Für Mithaftungserklärungen (Bürgschaft, Schuldbeitritt, Garantie oder Patronatserklärung) könnten sich Hindernisse bei der Inanspruchnahme durch das Kreditinstitut evtl. dann erge-

1 Dazu detailliert auch Piepenbrock in Hellner/Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1045 (150. Lfg.); Grüneberg, WM 2010, Sonderbeilage 2, S. 10. 2 BGH v. 4.6.2013 – II ZR 207/10, WM 2013, 1556 Rz. 21 = ZIP 2013, 1620; BGH v. 20.7.2009 – II ZR 36/08, WM 2009, 1798 Rz. 12 = GmbHR 2009, 1096 = ZIP 2009, 1806; BGH v. 9.12.2008 – XI ZR 588/07, WM 2009, 213 Rz. 18 = ZIP 2009, 166; BGH v. 16.1.2003 – IX ZR 171/00, WM 2003, 669 = ZIP 2003, 621; BGH v. 23.5.2000 – XI ZR 214/99, WM 2000, 1328 = ZIP 2000, 1202; BGH v. 18.5.1995 – IX ZR 108/94, WM 1995, 1397 = ZIP 1995, 1244; BGH v. 24.9.1996 – IX ZR 316/ 95, NJW 1996, 3205 = ZIP 1997, 449. 3 Hatte der Gesellschafter eine Mehrheitsbeteiligung und nur rein faktisch die Geschäftsführung dem Mitgesellschafter überlassen, bleibt ein weiter Sicherungszweck wirksam, so OLG Köln v. 16.5.2001 – 13 U 204/00, WM 2002, 1389 = GmbHR 2001, 922. 4 BGH v. 16.1.2003 – IX ZR 171/00, WM 2003, 669 = ZIP 2003, 621; BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 294/00, WM 2002, 1836 = ZIP 2002, 1611; BGH v. 7.11.1995 – XI ZR 235/94, WM 1995, 2180 = ZIP 1995, 1976. 5 BGH v. 15.7.1999 – IX ZR 243/98, WM 1999, 1761 = ZIP 1999, 1480 = GmbHR 1999, 975 m. Anm. Bärwaldt. 6 BGH v. 24.7.2007 – XI ZR 208/06, WM 2007, 1833 = GmbHR 2007, 1154 = ZIP 2007, 1850; BGH v. 8.11.2005 – XI ZR 34/05, WM 2006, 81 = GmbHR 2006, 148 = ZIP 2006, 68; BGH v. 10.7.1996 – VIII ZR 213/95, WM 1996, 1781 = ZIP 1996, 1657; BGH v. 5.6.1996 – VIII ZR 151/95, WM 1996, 1258 = ZIP 1996, 1209.

938 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.138 § 27

ben, wenn diese nach den besonderen Regeln für Verbraucherdarlehen formunwirksam oder widerrufbar sind1. Dabei finden nach der ständigen Rechtsprechung die besonderen Formvorschriften für Verbraucherdarlehen (§§ 491 ff. BGB) auf den sicherungshalber erklärten Schuldbeitritt zu einem Kreditvertrag Anwendung2. Der BGH wendet auf den Schuldbeitritt die Vorschriften für Verbraucherdarlehen analog an, weil derjenige, der die Mithaftung für eine Kreditschuld übernimmt, in gleicher Weise wie der Kreditnehmer schutzbedürftig sei3. Für den persönlichen Anwendungsbereich der besonderen Schutzvorschriften kommt es deswegen auch nicht darauf an, ob der Kreditnehmer Verbraucher ist, sondern allein auf die Person des Sicherungsgebers, weil der Schuldbeitritt zwischen ihm und dem Kreditgeber ein selbständiges Schuldverhältnis begründet. Für die nahestehenden Personen, die durch Schuldbeitritt die Mithaftung für die Kreditverbindlichkeiten einer GmbH übernommen haben, bedeutet dies, dass die Beitrittserklärung immer dann den Anforderungen der §§ 491 ff. BGB genügen muss, wenn es sich bei dem Sicherungsgeber um eine natürliche Person handelt, die Verbraucher im Sinne des § 13 BGB ist. Dies trifft nicht nur auf Angehörige, sondern auch auf Geschäftsführer, Mehrheitsgesellschafter und geschäftsführende Gesellschafter selbst zu.

27.136

Mit Anwendung der Regeln für Verbraucherdarlehen auf den Schuldbeitritt sind zum einen die Formvorschriften des § 492 BGB zu beachten. Der Vertrag über den Schuldbeitritt muss schriftlich geschlossen werden und die einzelnen Angaben nach § 492 BGB i.V.m. Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB, z.B. den Nettokreditbetrag und den effektiven Jahreszins, enthalten. Eine Verletzung dieser Formvorschriften führt gemäß § 494 Abs. 1 BGB zur Nichtigkeit des Schuldbeitritts. Denn während für den Kredit nach § 494 Abs. 2 BGB Formfehler mit der Auszahlung geheilt werden, hat der BGH eine solche Heilung für den formunwirksamen Schuldbeitritt abgelehnt, weil die Auszahlung des Kredits nicht an den Sicherungsgeber erfolge4.

27.137

Zum anderen besteht beim Schuldbeitritt für den Sicherungsgeber nach den besonderen Bestimmungen für Verbraucherdarlehensverträge ein Recht zum Widerruf innerhalb von 14 Tagen gemäß § 495 Abs. 1, § 355 BGB. Die Widerrufsfrist von 14 Tagen, die grundsätzlich mit Vertragsschluss (§ 355 Abs. 2 BGB) beginnt, wird bei Verbraucherdarlehensverträgen – und damit auch bei einem durch einen Verbraucher erklärten Schuldbeitritt zu einem Darlehensvertrag – erst in

27.138

1 Dazu auch Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.206; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 488 ff. 2 BGH v. 5.6.1996 – VIII ZR 151/95, WM 1996, 1258 = ZIP 1996, 1209; BGH v. 10.7.1996 – VIII ZR 213/95, WM 1996, 1781 = ZIP 1996, 1657; BGH v. 12.11.1996 – XI ZR 202/95, WM 1997, 158 = ZIP 1997, 197; BGH v. 28.1.1997 – XI ZR 251/95, WM 1997, 663 = ZIP 1997, 643; BGH v. 25.2.1997 – XI ZR 49/96, WM 1997, 710 = GmbHR 1997, 444 = ZIP 1997, 642; BGH v. 27.6.2000 – XI ZR 322/98, WM 2000, 1799 = ZIP 2000, 1523; BGH v. 28.6.2000 – VIII ZR 240/99, WM 2000, 1632 = GmbHR 2000, 878 = ZIP 2000, 1493; BGH v. 24.6.2003 – XI ZR 100/02, WM 2003, 620 = ZIP 2003, 1494; BGH v. 8.11.2005 – XI ZR 34/05, WM 2006, 81 = ZIP 2006, 68 = GmbHR 2006, 148; BGH v. 9.12.2008 – XI ZR 513/07, WM 2009, 262 Rz. 24. So auch Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 488; Piekenbrock/Ludwig in Hellner/ Steuer, Bankrecht und Bankpraxis, Rz. 4/1387b f. (150. Lfg.). Kritisch zur Rechtsprechung des BGH Madaus, BKR 2008, 54; Hänlein, DB 2001, 1185 ff. = ZIP 2009, 261. 3 Kritisch zu dieser Sonderbehandlung des Schuldbeitritts Madaus, BKR 2008, 54; Edelmann, RIW 2000, 461. 4 BGH v. 24.7.2007 – XI ZR 208/06, WM 2007, 1833 Rz. 22 = GmbHR 2007, 1154 = ZIP 2007, 1850; BGH v. 25.2.1997 – XI ZR 49/96, WM 1997, 710 = GmbHR 1997, 444 = ZIP 1997, 642; BGH v. 28.1.1997 – XI ZR 251/95, WM 1997, 663 = ZIP 1997, 643; BGH v. 12.11.1996 – XI ZR 202/95, WM 1997, 158 = ZIP 1997, 197.

Kuder/Unverdorben | 939

§ 27 Rz. 27.138 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Lauf gesetzt, wenn zusätzlich zum Vertragsschluss eine der in § 356b Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen erfüllt ist, also der Darlehensgeber dem Schuldbeitretenden die Vertragsurkunde oder eine Abschrift ausgehändigt hat. Dies gilt gemäß § 356b Abs. 2 BGB nur, wenn die Vertragsurkunde alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB enthält. Dazu gehört auch die Unterrichtung über das Widerrufsrecht nach Art. 247 § 6 Abs. 2 EGBGB.

27.139

Demgegenüber finden die Sonderregelungen für das Verbraucherdarlehen auf die Bürgschaft keine Anwendung1. Für Kredite an eine GmbH bedeutet dies, dass natürliche Personen, die als nahestehende Personen eine Bürgschaft für Kredite an die GmbH übernommen haben, weder die Verletzung von Formvorschriften noch ein Widerrufsrecht auf Grund analoger Anwendung der Schutzvorschriften für Verbraucherdarlehen einwenden können.

27.140

Gleiches gilt auch für die Garantie und die Patronatserklärung. Denn der BGH hat es als wesentlichen Unterschied zwischen dem Schuldbeitritt und der Bürgschaft angesehen, dass der Beitretende dem Kreditvertrag als gleichrangiger selbständiger Schuldner beitritt, während die Bürgschaft nur eine akzessorische Haftung für fremde Schuld begründet und diese lediglich als Eventualverbindlichkeit für den Sicherungsfall absichert. Damit ist die Rechtsstellung des Bürgen von der des Kreditnehmers weiter entfernt als die des Mitschuldners2. Und dies ist ebenso bei der Garantie und der Patronatserklärung; denn hier wird eine Mithaftung übernommen, die noch nicht einmal auf einer akzessorischen Verknüpfung mit der fremden Schuld beruht, sondern lediglich eine Einstandspflicht für einen Erfolg (bei der Garantie) oder eine Ausstattungspflicht (bei der Patronatserklärung) begründet, so dass der Sicherungsgeber sogar noch weiter von der Rechtsstellung des Kreditnehmers entfernt ist, als bei der Bürgschaft.

27.141

Im Ergebnis sind somit für den Schuldbeitritt nahestehender Personen für Kredite der GmbH die Regelungen über den Verbraucherdarlehensvertrag anzuwenden. Für Bürgschaften, Garantien und Patronatserklärungen dieses Personenkreises gelten hingegen die besonderen Regelungen über Verbraucherverträge nicht.

d) Abschluss außerhalb der Geschäftsräume oder im Fernabsatz 27.142

Die Inanspruchnahme der von einer nahestehenden Person für die Kreditverbindlichkeiten der GmbH gestellten Sicherheit kann unter Umständen auch scheitern, wenn die auf den Abschluss des Sicherheitenvertrages gerichtete Willenserklärung nach den besonderen Vorschriften für Verbraucherverträge widerrufbar ist. In Frage kommt dabei ein Widerruf nach dem Recht der außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträge oder nach dem Recht der Fernabsatzverträge gemäß §§ 355, 312g Abs. 1 BGB. aa) Außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge

27.143

Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie zum 13.6.20143 gilt für die Bestellung von Sicherheiten durch Verbraucher Folgendes4: 1 EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98, WM 2000, 713 = ZIP 2000, 574; BGH v. 21.4.1998 – IX ZR 258/97, WM 1998, 1120 = GmbHR 1998, 679 = ZIP 1998, 949;Nobbe/Derstadt in Ellenberger/ Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 51. 2 BGH v. 21.4.1998 – IX ZR 258/97, WM 1998, 1120 = GmbHR 1998, 679 = ZIP 1998, 949. 3 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnraumvermittlung vom 20.9.2013, BGBl. I 2013, 2642. 4 Dazu auch Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.88 ff.; Ganter in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 491 ff.

940 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.147 § 27

Ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB besteht gemäß § 312g Abs. 1 BGB zum einen bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, zum anderen bei Fernabsatzverträgen, sofern jeweils keine der in § 312g Abs. 2 BGB bestimmten Ausnahmen greift. Gleichzeitig hat der Unternehmer dem Verbraucher gemäß § 312d BGB i.V.m. Art. 246b EGBGB vorvertragliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Diese vorvertraglichen Informationen gemäß Art. 246b EGBGB müssen u.a. allgemeine Informationen zum Kreditinstitut, zum Sicherheitenvertrag allgemein und den wesentlichen Merkmalen der Sicherheit sowie zum Widerrufsrecht und den Folgen des Widerrufs enthalten1. Die Pflicht zur Belehrung über das Widerrufsrecht bei Vertragsabschluss ergibt sich aus § 312g Abs. 1, § 355 BGB i.V.m. Art. 246a § 1 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB.

27.144

Voraussetzung für das Widerrufsrecht und die Pflicht des Kreditinstituts zur Belehrung und Information im Rahmen der vorvertraglichen Informationen ist aber, dass es sich um einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag oder um einen Fernabsatzvertrag (dazu s. Rz. 27.152) handelt. Ein außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag liegt gemäß § 312b Abs. 1 BGB vor, wenn der Vertragsschluss oder das Vertragsangebot des Verbrauchers außerhalb der Geschäftsräume des Kreditinstituts erfolgt und dabei der Verbraucher und ein Vertreter des Kreditinstituts gleichzeitig körperlich anwesend sind (also beispielsweise in einer Privatwohnung oder am Arbeitsplatz des Verbrauchers). Das Gleiche gilt, wenn der Vertragsschluss zwar in den Geschäftsräumen des Kreditinstituts erfolgt, aber unmittelbar zuvor außerhalb der Geschäftsräume eine persönliche und individuelle Ansprache des Verbrauchers bei gleichzeitiger körperlicher Anwesenheit des Verbrauchers und eines Vertreters des Kreditinstituts erfolgt war oder wenn der Vertragsschluss auf einem von dem Kreditinstitut oder mit dessen Hilfe organisierten, zu Werbezwecken veranstalteten Ausflug erfolgt2.

27.145

Notwendig ist aber auch, dass es sich bei dem fraglichen Geschäft um einen Verbrauchervertrag handelt. Dabei ist ein Verbrauchervertrag gemäß § 310 Abs. 3 BGB ein Vertrag zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer, der die entgeltliche Leistung eines Unternehmers zum Gegenstand hat. Die Neufassung des § 312 Abs. 1 BGB zum 13.6.2014 hat dazu geführt, dass die Frage, ob einseitig verpflichtende Sicherheitenverträge überhaupt unter das Recht der außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträge und der Fernabsatzverträge fallen, in der juristischen Literatur wieder neu diskutiert wird3. Für die Praxis hat die Rechtsprechung diese Frage nunmehr vorerst entschieden4:

27.146

Zutreffend geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass für die Qualifikation eines Rechtsgeschäfts als Verbrauchervertrag im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB der Unternehmer aufgrund des Vertrages die vertragscharakteristische Leistung zu erbringen hat. Diese Voraussetzung erfüllen einseitig verpflichtende Sicherheitenverträge wie die Bürgschaft, die Garantie und die harte Patronatserklärung nicht5. Es genügt nicht, dass der Bürge sein Leistungsversprechen in der von dem Kreditinstitut erkennbaren Erwartung abgibt, dass ihm oder einem Dritten daraus ein Vorteil zukommen werde. Vielmehr setzt § 312 Abs. 1 BGB in seiner seit dem

27.147

1 Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.89 ff., 8.95a. 2 Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.89; Schürnbrand, WM 2014, 1157, 1162. 3 Nachweise bei Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.88. 4 BGH v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, ZIP 2020, 2175 ff. 5 BGH v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, ZIP 2020, 2175 Rz. 15.

Kuder/Unverdorben | 941

§ 27 Rz. 27.147 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

13.6.2014 geltenden Fassung voraus, dass das Kreditinstitut gegen ein vereinbartes Entgelt des Verbrauchers die vertragscharakteristische Leistung erbringt und nicht umgekehrt der Verbraucher eine entgeltliche Leistung erbringt1. Dass die Leistung des Kreditinstituts aufgrund eines separaten, nicht dem § 310 Abs. 3 BGB unterfallenden Vertrags (dem Kreditvertrag) an einen Dritten (den Kreditnehmer) erbracht wird, ist nicht ausreichend2. Außerdem unterfallen Bürgschaften oder sonstige von Verbrauchern gestellte Kreditsicherheiten nicht dem in § 312 Abs. 5 Satz 1 BGB legal definierten Begriff der Finanzdienstleistung. Danach muss – in Übereinstimmung mit § 312 Abs. 1 BGB – die vertragsspezifische Leistung durch den Unternehmer erbracht werden und der Verbraucher Berechtigter aus dem Vertrag sein3.

27.148

Damit ist klar, dass jedenfalls nach nationalem Recht für von Verbrauchern gestellte Bürgschaften kein Widerrufsrecht besteht und Kreditinstitute folglich auch nicht verpflichtet sind, vorvertragliche Informationen zur Verfügung zu stellen. Gleiches gilt auch für die Garantie und die Patronatserklärung; denn hier wird eine Mithaftung übernommen, die noch nicht einmal auf einer akzessorischen Verknüpfung mit der fremden Schuld beruht, sondern lediglich eine Einstandspflicht für einen Erfolg (bei der Garantie) oder eine Ausstattungsverpflichtung (bei der Patronatserklärung) begründet, so dass der Sicherungsgeber sogar noch weiter von der Rechtsstellung des Kreditnehmers entfernt ist, als dies bei der Bürgschaft der Fall ist.

27.149

Allerdings hat das Urteil die Diskussion nicht beendet4. Insbesondere wird kontrovers diskutiert, ob der deutsche Gesetzgeber die Verbraucherrechterichtlinie ausreichend in nationales Recht umgesetzt und der Bundesgerichtshof die nationalen Bestimmungen dem EU-Recht entsprechend ausgelegt hat. Insofern bleibt für die Praxis abzuwarten, ob ein Gericht von der Rechtsprechung des BGH abweicht und die Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegt und ob der EuGH in diesem Fall die Verbraucherrechterichtlinie anders als der BGH im Sinne seiner Entscheidung vom 17.3.19985 auslegt.

27.150

Bei von nahestehenden Personen gestellten Sachsicherheiten wie die Verpfändung eines Kontoguthabens oder eines Depots oder der Vereinbarung des Sicherungszwecks für eine Grundschuld können die Vorschriften über Verbraucherverträge hingegen anwendbar sein. Sofern der Sicherheitenvertrag nicht außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossen wird, besteht weder eine gesetzliche Pflicht, den Verbraucher vorvertraglich zu informieren, noch besteht die Pflicht, den Verbraucher über ein Widerrufsrecht zu belehren. Ein gesetzliches Widerrufsrecht steht dem Sicherungsgeber in diesem Fall nicht zu.

27.151

Die Widerrufsfrist beträgt bei ordnungsgemäßer Unterrichtung im Rahmen der Vorvertraglichen Informationen 14 Tage ab Vertragsabschluss (§ 355 BGB). Fehlt es an einer ordnungsgemäßen Unterrichtung seitens des Kreditinstituts, beginnt die Frist nicht zu laufen (§ 356 Abs. 3 Satz 1 BGB). Das Widerrufsrecht gilt aber auch in diesem Fall nicht mehr unbegrenzt, sondern erlischt gemäß § 356 Abs. 3 Satz 2 BGB 12 Monate und 14 Tage nach Vertragsschluss.

1 2 3 4

BGH v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, ZIP 2020, 2175 Rz. 16. BGH v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, ZIP 2020, 2175 Rz. 17. BGH v. 22.9.2020 – XI ZR 219/19, ZIP 2020, 2175 Rz. 18. Vgl. Piepenbrock, GPR 2021, 18 ff.; Leitmeier, VuR 2021, 92 ff.; Grüneberg, BKR 2021, 121, 128 ff.; Deiß/Kähler, BKR 2021, 39; Thode, jurisPR-BGHZivilR 5/2021 Anm. 3. 5 EuGH v. 17.3.1998 – C-45/96, NJW 1998, 1295 = ZIP 1998, 554.

942 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.154 § 27

bb) Sicherheitenbestellung im Fernabsatz Auf die Bestellung von Kreditsicherheiten durch Verbraucher keine Anwendung finden die Vorschriften über Fernabsatzverträge1. Ein Fernabsatzvertrag ist gemäß § 312c BGB ein Vertrag, bei dem der Verbraucher und ein Vertreter des Kreditinstituts für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsabschluss ausschließlich Fernkommunikationsmittel (Telefonanrufe, Briefe, E-Mails) verwenden und der Vertragsschluss im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems2 erfolgt3. Damit liegt bereits dann kein Fernabsatzvertrag vor, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt bei den Vertragsverhandlungen oder beim Vertragsschluss ein persönlicher Kontakt zwischen dem Kreditinstitut und dem Sicherungsgeber stattgefunden hat. Allerdings ergibt sich auch aus Sinn und Zweck des Fernabsatzrechts, dass sich das Kreditinstitut gegenüber dem Verbraucher zur Erbringung einer Dienstleistung verpflichten muss und es nicht ausreichend ist, dass der Verbraucher gegenüber dem Kreditinstitut eine Leistung schuldet. Dies ist aber nicht der Fall, wenn eine dem Kreditnehmer nahe stehende Person zur Besicherung des der GmbH gewährten Kredits eine Drittsicherheit bestellt4. Bei der Erteilung einer Bürgschaft, einer Garantie oder einer Patronatserklärung handelt es sich zudem schon nicht um einen Verbrauchervertrag im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB (s. ausführlich Rz. 27.146 f.); dies ist aber ebenfalls eine Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Vorschriften über Fernabsatzverträge.

27.152

e) Grenzen für die Mithaftung Vermögensloser Es bleibt den nahestehenden natürlichen Personen der GmbH bei Insolvenz der Gesellschaft gegenüber der von ihnen übernommenen Mithaftung der Einwand, dass ihre Inanspruchnahme sittenwidrig sei oder gegen Treu und Glauben verstoße, da sie vermögenslos und mit der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen finanziell überfordert seien5.

27.153

Grundsätzlich gilt dabei, dass eine Bürgschaft oder andere Mithaftungserklärung, insbesondere ein Schuldbeitritt6, auch dann nicht sittenwidrig und damit nach § 138 BGB nichtig ist, wenn die Verpflichtungen daraus den Bürgen angesichts seiner Vermögenslosigkeit und geringen finanziellen Leistungsfähigkeit weit überfordern. Denn im Rahmen der Vertragsfreiheit ist jedem auch freigestellt, in eigener Verantwortung risikoreiche Geschäfte abzuschließen,

27.154

1 So zu § 312b BGB a.F. auch BGH v. 12.11.2015 – I ZR 168/14, ZIP 2016, 1640; Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.98; von Loewenich, WM 2016, 2011; Kropf, WM 2015, 1699; von Loewenich, WM 2014, 1409; Schürnbrand, WM 2014, 1157, 1162. 2 Zum Fernabsatzsystem Wendehorst in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 312c BGB Rz. 24 ff. 3 Schürnbrand, WM 2014, 1157, 1162. 4 Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 49; Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.98. 5 Grundlegend: BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89, WM 1993, 2199; dazu auch Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.64 ff., 8.252 ff.; Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 93 ff.; Grüneberg, WM 2010, Sonderbeilage 2, S. 5 ff.; Schnabl, WM 2006, 706, Unger, BKR 2005, 432; Goette, DStR 2003, 301; Nobbe/Kirchhof, BKR 2001, 1. 6 Ursprünglich wurden Bürgschaft und Schuldbeitritt vom IX. und XI. Zivilsenat des BGH unterschiedlich behandelt, was sogar zu einer Vorlage an den Großen Senat führte: BGH v. 29.6.1999 – XI ZR 10/98, NJW 1999, 2584. Mittlerweile hat aber eine Annäherung in der Beurteilung von Bürgschaften bzw. Schuldbeitritt Vermögensloser stattgefunden; s. dazu auch Schimansky, WM 2002, 2437; Nobbe/Kirchhof, BKR 2001, 5.

Kuder/Unverdorben | 943

§ 27 Rz. 27.154 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

und er kann sich selbst zu Leistungen verpflichten, die er nur unter besonders günstigen Bedingungen, ggf. unter dauernder Inanspruchnahme seines pfändbaren Einkommens, erbringen kann1. Sittenwidrig ist aber eine finanzielle Überforderung des Sicherungsgebers dann, wenn er in seiner Freiheit, sich für oder gegen eine vertragliche Bindung zu entscheiden, sowie in der Erkenntnismöglichkeit, mit welchen Rechtsfolgen die betreffende Verbindlichkeit verbunden sein kann, wesentlich beeinträchtigt worden ist2. Besteht ein krasses Missverhältnis zwischen den übernommenen Verpflichtungen und der Leistungsfähigkeit des Sicherungsgebers, sodass der Gläubiger kein berechtigtes Interesse an der Sicherheit haben kann, so besteht eine widerlegliche Vermutung, dass der Sicherungsgeber die Bürgschaft oder Mithaftung allein aus emotionaler Verbundenheit mit dem Hauptschuldner übernommen und der Kreditgeber dies in sittlich anstößiger Weise ausgenutzt hat3. Aus diesen Grundsätzen lassen sich drei Fallgruppen ableiten, in denen eine Mithaftungsübernahme des finanziell überforderten Sicherungsgebers als sittenwidrig anzusehen ist4.

27.155

Bei der ersten Gruppe handelt es sich um Fälle, in denen das Kreditinstitut selbst in verwerflicher Weise auf die Entschließung des Sicherungsgebers eingewirkt und ihn damit unzumutbar belastet hat. Als bekanntester Fall ist hier zu nennen, dass der Umfang und die Tragweite der Haftung verharmlost werden (z.B. mit der Aussage, die Bürgschaft sei „nur für die Akten“). Dazu zählen aber auch Gestaltungen, in denen außergewöhnliche Haftungsrisiken dem Sicherungsgeber verschwiegen werden oder wo der Gläubiger den Sicherungsgeber überrumpelt oder sonst in eine Zwangslage bringt5.

27.156

Zur zweiten Fallgruppe lassen sich die Sachverhalte zusammenfassen, in denen der gesicherte Gläubiger ein klar zutage tretendes sittlich missbilligenswertes Handeln des Kreditnehmers oder eines Dritten gegenüber dem Sicherungsgeber für eigene Zwecke ausnutzt. Dies sind insbesondere die Fälle, in denen Eltern unter Verstoß gegen ihre Beistands- und Rücksichtnahmepflicht aus § 1618a BGB ihre geschäftsunerfahrenen Kinder veranlassen, zu ihren Gunsten Bürgschaften einzugehen, die außer Verhältnis zu den gegenwärtigen und voraussehbaren künftigen wirtschaftlichen Verhältnissen der Kinder stehen6. Deshalb können solche Sachver1 BGH v. 14.10.2003 – XI ZR 121/02, WM 2003, 2379 = ZIP 2003, 2193; BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 24.4.1994 – IX ZR 227/93, WM 1994, 680 = ZIP 1994, 614. 2 BGH v. 14.10.2003 – XI ZR 121/02, WM 2003, 2379 = ZIP 2003, 2193; BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 24.4.1994 – IX ZR 227/93, WM 1994, 680 = ZIP 1994, 614; BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 85/94, WM 1995, 237 = ZIP 1995, 203; BGH v. 18.1.1996 – IX ZR 171/95, WM 1996, 519 = ZIP 1996, 495; BGH v. 25.4.1996 – IX ZR 177/96, WM 1996, 1124 = ZIP 1996, 1126. 3 BGH v. 14.10.2003 – XI ZR 121/02, WM 2003, 2379 = ZIP 2003, 2193; BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 18.9.1997 – IX ZR 283/96, WM 1997, 2117 = ZIP 1997, 1957; BGH v. 18.12.1997 – IX ZR 271/96, WM 1998, 239 = ZIP 1998, 196 = GmbHR 1998, 177; BGH v. 25.1.2005 – XI ZR 28/04, WM 2005, 421 = ZIP 2005, 432. 4 Zur Bildung der Fallgruppen Fischer, WM 1998, 1751 ff. 5 BGH v. 27.5.2003 – IX ZR 283/99, WM 2003, 1563 = ZIP 2003, 1596; BGH v. 8.11.2001 – IX ZR 46/99, WM 2002, 919, 922 = ZIP 2002, 167; BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 16.1.1997 – IX ZR 250/95, WM 1997, 511 = ZIP 1997, 446; BGH v. 2.11.1995 – IX ZR 222/94, WM 1996, 53 = ZIP 1996, 65; Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 69 Rz. 152. 6 BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 24.4.1994 – IX ZR 227/ 93, WM 1994, 680 = ZIP 1994, 614; BGH v. 10.10.1996 – IX ZR 333/95, WM 1996, 2194 = ZIP 1996, 1977.

944 | Kuder/Unverdorben

§ 27 Bankgeschäfte im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 27.157 § 27

halte im Kreditgeschäft mit der GmbH insbesondere dann zur Nichtigkeit der Bürgschaft nahestehender Personen führen, wenn es sich bei den Bürgen um die Kinder der Geschäftsführer oder Gesellschafter handelt. Ebenso können aus diesen Gründen die Bürgschaften der Ehegatten von Geschäftsführern oder Gesellschaftern für die Kredite der GmbH sittenwidrig sein. Anders als bei der Bürgschaft von Kindern ist aber bei Ehegattenbürgschaften davon auszugehen, dass eine dem Familienbetrieb dienende Kreditgewährung den Wünschen und Interessen beider Ehepartner entspricht. Der Kreditgeber muss deshalb mangels besonderer Anhaltspunkte nicht von einer zu missbilligenden Einflussnahme des anderen Ehepartners auf die Entscheidung des Bürgen ausgehen, sodass die Bürgschaften von Ehegatten regelmäßig deshalb nicht sittenwidrig sind, weil der Kreditgeber sich eine evtl. Einflussnahme des anderen Ehegatten auf die freie Willensbildung des Bürgen nicht zurechnen lassen muss1. Schließlich bilden die dritte Fallgruppe solche Konstellationen, in denen eine Mithaftung ausnahmsweise auch ohne unzulässige Einwirkung auf die Entscheidungsfreiheit des Sicherungsgebers sittenwidrig und deshalb nichtig ist, weil kumulativ (1) eine krasse finanzielle Überforderung des Sicherungsgebers vorliegt, (2) der Sicherungsgeber aus emotionaler Verbundenheit zum Hauptschuldner handelt und (3) die Sicherheit auch aus Sicht eines vernünftigen Gläubigers wirtschaftlich sinnlos ist2. Eine krasse finanzielle Überforderung scheidet aus, wenn der Sicherungsgeber die gesicherte Schuld durch Verwertung seines Vermögens tilgen kann3. Reicht dazu das Vermögen des Bürgen nicht aus, liegt eine krasse finanzielle Überforderung vor, wenn der Bürge voraussichtlich4 nicht einmal in der Lage ist, aus dem unter Berücksichtigung von Unterhaltspflichten pfändbaren Teil seines Einkommens oder Vermögens bei Eintritt des Sicherungsfalles dauerhaft die Zinsen der Hauptschuld zu tragen5. Bei der Beurteilung der finanziellen Verhältnisse des Bürgen darf sich das Kreditinstitut nicht ohne weiteres auf die Richtigkeit einer vom Bürgen im Zusammenhang mit der Erteilung der Bürgschaft erteilten Selbstauskunft vertrauen. Vielmehr ist es erforderlich, dass sich das Kreditinstitut Nachweise über das Einkommen sowie die Vermögensgegenstände des Bürgen und deren Belastungen vorlegen lässt und diese sorgfältig überprüft6. Weil aber neben die krasse Überforderung die emotionale Verbundenheit zum Hauptschuldner hinzutreten muss, können solche Ausnahmefälle, in denen die Bürgschaft auch ohne missbilligenswerte Einflussnah1 BGH v. 4.6.2013 – II ZR 207/10, WM 2013, 1556 Rz. 21 = ZIP 2013, 1620; BGH v. 5.1.1995 – IX ZR 85/94, WM 1995, 237 = ZIP 1995, 203; BGH v. 18.1.1996 – IX ZR 171/95, WM 1996, 519 = ZIP 1996, 495; BGH v. 25.4.1996 – IX ZR 177/95, WM 1996, 1124 = ZIP 1996, 1126; BGH v. 23.1.1997 – IX ZR 55/96, WM 1997, 465 = ZIP 1997, 409; BGH v. 15.1.2002 – XI ZR 98/01, WM 2002, 436 = GmbHR 2002, 262 m. Anm. Emde = ZIP 2002, 389. 2 BGH v. 1.4.2014 – XI ZR 276/13, WM 2014, 989 = ZIP 2014, 1016; BGH v. 24.11.2009 – XI ZR 332/08, WM 2010, 32 Rz. 11 = ZIP 2010, 21; BGH v. 16.6.2009 – XI ZR 539/07, WM 2009, 1460 Rz. 18 = ZIP 2009, 1462; BGH v. 24.2.1994 – IX ZR 93/93, WM 1994, 676 = ZIP 1994, 520; BGH v. 18.9.1997 – IX ZR 283/96, WM 1997, 2117 = ZIP 1997, 1957; BGH v. 18.12.1997 – IX ZR 271/ 96, WM 1998, 239 = ZIP 1998, 196 = GmbHR 1998, 177; BGH v. 8.10.1998 – IX ZR 257/97, WM 1998, 2327 = ZIP 1998, 1999. 3 BGH v. 26.4.2001 – IX ZR 337/98, ZIP 2001, 1330. 4 Zu den Anforderungen an die Prognose detailliert mit Rechtsprechungsnachweisen Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 126 ff. 5 BGH v. 1.4.2014 – XI ZR 276/13, ZIP 2014, 101; BGH v. 24.11.2009 – XI ZR 332/08, WM 2010, 32 Rz. 11; BGH v. 16.6.2009 – XI ZR 539/07, WM 2009, 1460 Rz. 18; BGH v. 25.4.2006 – XI ZR 330/05, FamRZ 2006, 1024; BGH v. 25.1.2005 – XI ZR 28/04, WM 2005, 421; BGH v. 27.1.2000 – IX ZR 198/98, WM 2000, 410; BGH v. 14.11.2000 – XI ZR 248/99, WM 2001, 402 = GmbHR 2001, 247; BGH v. 29.6.1999 – XI ZR 10/98, WM 1999, 1556. 6 BGH v. 1.4.2014 – XI ZR 276/13, ZIP 2014, 1016 Rz. 21.

Kuder/Unverdorben | 945

27.157

§ 27 Rz. 27.157 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

me auf die Entscheidungsfreiheit des Bürgen als sittenwidrig anzusehen ist, nur bei Bürgschaften junger Erwachsener für die Verbindlichkeiten ihrer Eltern, von Ehegatten für die Schulden ihrer Ehepartner oder in vergleichbaren Fällen vorliegen1.

27.158

Dagegen führt allein das Missverhältnis zwischen der finanziellen Leistungsfähigkeit des Sicherungsgebers und dem Umfang der gesicherten Kreditforderung bei der Mithaftung von Geschäftsführern und Gesellschaftern für die Verbindlichkeiten ihrer GmbH regelmäßig nicht zur Sittenwidrigkeit der Sicherheit. Denn derjenige, der für die Schulden „seiner“ Gesellschaft haftet, nimmt in aller Regel kein unzumutbares Risiko auf sich, weil er auf Grund seiner mit dem Geschäftsbetrieb verbundenen Gewinnerwartung ein eigenes Interesse an der Kreditaufnahme hat und darauf Einfluss nehmen kann. Deshalb ist die Bürgschaft des GmbH-Gesellschafters selbst bei krasser finanzieller Überforderung nicht allein aus diesem Grund sittenwidrig2.

1 Grüneberg, WM 2010, Sonderbeilage 2, S. 7. 2 BGH v. 15.2.1996 – IX ZR 245/94, WM 1996, 588 = ZIP 1996, 538 = GmbHR 1996, 285; BGH v. 16.1.1997 – IX ZR 250/95, WM 1997, 511 = ZIP 1997, 446; BGH v. 11.12.1997 – IX ZR 274/96, WM 1998, 235 = ZIP 1998, 280 = GmbHR 1998, 240; BGH v. 18.12.1997 – IX ZR 271/96, WM 1998, 239 = ZIP 1998, 196 = GmbHR 1998, 177; BGH v. 18.9.2001 – IX ZR 183/00, WM 2001, 2156 = GmbHR 2001, 1043 m. Anm. Emde = ZIP 2001, 1954; BGH v. 15.1.2002 – XI ZR 98/01, WM 2002, 436 = GmbHR 2002, 262 m. Anm. Emde = ZIP 2002, 389; BGH v. 10.12.2002 – XI ZR 82/02, WM 2003, 275 = GmbHR 2003, 293 = ZIP 2003, 288; BGH v. 25.1.2005 – XI ZR 28/04, WM 2005, 421. Dazu auch Federlin in Kümpel/Mülbert/Früh/Seyfried, Bankrecht und Kapitalmarktrecht, 6. Aufl. 2022, Rz. 8.68; Nobbe/Derstadt in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 70 Rz. 139 ff.; Goette, DStR 2003, 301; Nobbe/Kirchhof, BKR 2001, 1, 14 f.

946 | Kuder/Unverdorben

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren I. Ertragsteuerrecht 1. Überblick Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer GmbH ändert grundsätzlich nichts an einer bestehenden unbeschränkten Körperschaftsteuerpflicht. Verfahrensrechtlich ist ein Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 InsO i.V.m. § 34 Abs. 3 AO zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet. Verletzt er seine Pflichten, ist eine Haftung nach § 69 AO denkbar. Ein vorläufiger Sachwalter (vgl. § 270a Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. §§ 274, 275 InsO) ist dagegen weder gesetzlicher Vertreter noch Vermögensverwalter i.S. von § 34 Abs. 1, 3 AO) noch Verfügungsberechtigter i.S. von § 35 AO und kann daher nicht im Wege der Haftung nach § 69 AO für rückständige Steuerverbindlichkeiten in Anspruch genommen werden1.

28.1

Im Zuge des Insolvenzverfahrens der GmbH wird ihr in der Regel dadurch Liquidität verschafft, dass Zahlungen infolge von Insolvenzanfechtungen (§§ 129 ff. InsO i.V.m. § 143 InsO) durch den Insolvenzverwalter zurückgefordert und von den Anfechtungsgegnern zurückgewährt werden. Diese an die GmbH zurückgewährten Anfechtungsbeträge sind entsprechend zu aktivieren. Dem gegenüber sind aber die ehemaligen Verbindlichkeiten zu passivieren, die gemäß § 144 Abs. 1 InsO wieder aufleben bzw. entsprechende Rückstellungen zu bilden, obwohl die wiederauflebende Forderung gegen die Gesellschaft als Insolvenzforderung in der Regel quasi wertlos ist. Im Ergebnis sind diese Vorgänge also in aller Regel erfolgsneutral2. Die Privilegierung von Sanierungsgewinnen i.S. des § 3a EStG ist nicht mehr anwendbar, soweit ein Insolvenzplan beschlossen und durchgeführt wird, dessen Gegenstand die Liquidation des Unternehmens ist3.

28.2

Die Einordnung von Steueransprüchen als Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) einerseits bzw. als Masseverbindlichkeiten andererseits (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) sorgt zuweilen für Streitpotenzial in der Praxis. So entschied der BFH zuletzt mit Beschluss vom 15.11.2018 für die Körperschaftsteuer auf einen Sanierungsgewinn, der aufgrund eines Insolvenzplans entstanden ist, handle es sich nicht um eine Insolvenzforderung, die von der Finanzverwaltung zur Insolvenztabelle anzumelden wäre4. Maßgeblich ist eine insolvenzrechtliche Betrachtung. Ausgangspunkt ist dabei § 38 InsO, wonach Insolvenzforderungen solche Forderungen sind, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren. Entscheidend ist demnach allein, wann der Rechtsgrund für den Anspruch gelegt wurde; auf den Zeitpunkt der steuerrechtlichen Entstehung (§ 38 AO) kommt es nicht an5.

28.3

1 2 3 4 5

FG Düsseldorf v. 12.3.2021 – 14 K 3658/16 H (L) m. Anm. Richert, NZI 2021, 697. Vgl. Aurich in BeckOK Insolvenzrecht, Steuerrecht in der Insolvenz, Ertragsteuerrecht Rz. 80 ff. Denkhaus/von dem Bussche in Flöther, StaRUG, Anhang C. Rz. 15. BFH v. 15.11.2018 – XI B 49/18, GmbHR 2019, 241 = ZIP 2019, 427. Vgl. BFH v. 31.10.2018 – III B 77/18, NZI 2019, 300 Rz. 14 m.w.N. = ZIP 2019, 133.

Crezelius/B. Westermann | 947

§ 28 Rz. 28.4 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

2. Liquidationsbesteuerung der GmbH 28.4

Wird die GmbH infolge der Insolvenz liquidiert und beendet, so gelten für die Gesellschaftsebene vor steuerrechtlichem Hintergrund für die Konstellation der Insolvenz grundsätzlich keine Besonderheiten. Es kommen die Regeln der Liquidationsbesteuerung nach § 11 KStG zur Anwendung (s. ausführlich Rz. 12.1 ff.). Dabei gilt nach § 11 Abs. 7 KStG der gesamte Zeitraum des eröffneten Insolvenzverfahrens als Liquidationsphase. § 11 KStG setzt eine Auflösung (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) und die tatsächliche Abwicklung der GmbH voraus, was bei einem Insolvenzplanverfahren nicht der Fall ist1.

28.5

Die Finanzverwaltung geht in R 11 Abs. 1 Satz 7 KStR davon aus, dass eine Überschreitung des Drei-Jahres-Zeitraums in § 11 Abs. 1 Satz 2 KStG zu einer anschließenden jährlichen Besteuerung führt. Dies wird zu Recht kritisiert, da diese Sichtweise weder mit dem Wortlaut des Gesetzes (Sollvorschrift) noch mit dem Telos der Norm, der eine einheitliche Abwicklungsbesteuerung vorsieht, vereinbar ist2. Dieser Kritik trägt nun auch das FG Düsseldorf mit Urteil vom 18.9.2018 Rechnung, welches bei einem mehrjährigen Insolvenzverfahren entschieden hat, dass die vorläufigen Zwischenveranlagungen zur Körperschaftsteuer am Ende des Abwicklungszeitraums gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO durch eine einheitliche Veranlagung für den gesamten Abwicklungszeitraum zu ersetzen sind3.

28.6

Bislang nicht abschließend geklärt ist die Frage, in welchem Umfang Verlustvorträge im Insolvenzverfahren nutzbar gemacht werden können. Denn nach § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG droht eine Mindestbesteuerung, auch wenn ausreichend Verlustvorträge vorhanden sind, um die Steuerlast zu reduzieren. Da aber im Insolvenzverfahren die Verluste endgültig unterzugehen drohen (sog. Definitiveffekte), hat der BFH § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 10d Abs. 2 Satz 1 EStG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt4. Zwar hatte der BFH in der Vergangenheit die Mindestbesteuerung in Form eines einfachen Abzugs des Sockelbetrags für den gesamten Abwicklungszeitraum gebilligt5. In der Literatur und in Teilen der Rechtsprechung ist dies aber mit Blick auf die gebotene verfassungsrechtliche Auslegung zu Recht kritisiert bzw. gegenteilig beurteilt worden6. Die Kritik ist berechtigt. Eine effektive Verlustnutzung ist dringend geboten und ihre sachgrundlose Einschränkung in der Insolvenz nicht nachvollziehbar.

28.7

Verlustrückträge sind möglich und sollten immer dann erwogen werden, wenn dadurch quotenberechtigte Insolvenzforderungen der Finanzverwaltung abgesenkt werden können, d.h. Steuerguthaben zur Insolvenzmasse generiert werden kann. Dabei werden Verluste aus dem Zeitraum nach Insolvenzeröffnung gemäß § 10d Abs. 1 EStG in Zeiträume vor der Insolvenzeröffnung zurückgetragen7.

1 Vgl. FG Köln v. 13.11.2014 – 10 K 3569/13 nicht rechtskräftig; Verfahren anhängig beim BFH unter Az. I B 9/15. 2 Vgl. etwa Pfirrmann in Brandis/Heuermann, § 11 KStG Rz. 44. 3 FG Düsseldorf v. 18.9.2018 – 6 K 454/15 K, FR 2019, 74 m. Anm. Zimmermann = ZIP 2018, 2127; Verfahren anhängig beim BFH unter Az. BFH – I R 36/18 ausgesetzt durch Beschluss v. 18.5.2021. 4 BFH v. 26.2.2014 – I R 59/12, GmbHR 2014, 1099; Verfahren anhängig beim BVerfG unter Az. 2 BvL 19/14. 5 BFH v. 23.1.2013 – I R 35/12, FR 2013, 904 = GmbHR 2013, 489 m. Anm. Bergmann. 6 FG Düsseldorf v. 18.9.2018 – 6 K 454/15 K, FR 2019, 74 m. Anm. Zimmermann = ZIP 2018, 2127; Verfahren anhängig beim BFH unter Az. BFH – I R 36/18 ausgesetzt durch Beschluss v. 18.5.2021; vgl. Bergmann, GmbHR 2013, 489. 7 Aurich in BeckOK/Insolvenzrecht, Steuerrecht in der Insolvenz, Ertragsteuerrecht Rz. 172.

948 | Crezelius/B. Westermann

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 28.12 § 28

3. Besteuerung des Anteilseigners Auf der Anteilseignerebene ist steuersystematisch danach zu unterscheiden, ob es sich um eine steuerverstrickte Beteiligung im Betriebsvermögen oder im Privatvermögen oder um eine nicht steuerverstrickte Beteiligung handelt (vgl. Rz. 8.5 ff.). In der Praxis geht es hier um die seltenen Fälle, in denen den Anteilseignern trotz Insolvenz noch Erträge zufallen. Daneben stellen sich Fragen der Verlustzuordnung.

28.8

Die in der Praxis häufigste Fallkonstellation dürfte diejenige sein, dass der Gesellschafter der insolvent gewordenen GmbH die Beteiligung in seinem Privatvermögen hält/gehalten hat und dabei die Beteiligungsschwelle des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG erreicht ist. § 17 Abs. 4 Satz 1 EStG bezweckt eine wirtschaftliche Gleichsetzung von Liquidation und Veräußerung der Geschäftsanteile. Bei der Liquidationsbesteuerung nach § 17 Abs. 4 Satz 1 EStG wird zum Teil vertreten, dass sowohl der Realisationszeitpunkt als auch die Bestimmung des insolvenzbedingten Auflösungsverlusts am Maßstab der Wahrscheinlichkeit der Befriedigung zu bestimmen sind. Diese Wahrscheinlichkeit sei aber anders als bei der insolvenzfreien Liquidation in aller Regel aufgrund des Nachrangs der Anteilseigner im Insolvenzverfahren mit großer Wahrscheinlichkeit frühzeitig gegeben1.

28.9

Für die Fallgruppe der Auflösungsgewinne nach § 17 Abs. 4 Satz 1 EStG ist steuersystematisch auf Folgendes hinzuweisen:

28.10

Handelt es sich bei der steuerverstrickten Beteiligung im Privatvermögen um eine qualifizierte Beteiligung i.S. des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, ist es zunächst steuersystematisch zutreffend, dass auch Verluste aus derartigen qualifizierten Beteiligungen steuerrechtlich erheblich sein können. Allerdings ist die Ausgleichsbeschränkung in § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG zu beachten. Die Fallgruppe des § 17 EStG wird von § 3 Nr. 40 Buchst. c EStG erfasst (arg. § 20 Abs. 8 EStG), so dass im Gegenzug nach § 3c Abs. 2 Satz 1 EStG nur 60 v.H. der Anschaffungskosten der Beteiligung als Verlustausgleichsvolumen zu berücksichtigen sind. § 3 Nr. 40 Buchst. c, § 3c Abs. 2 EStG statuieren also ein Teileinkünfteverfahren kombiniert mit einem Teilabzugsverfahren.

Zu berücksichtigen ist weiterhin die spezielle Verlustausgleichsbeschränkung des § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG, wonach ein Veräußerungsverlust bei einer qualifizierten Beteiligung u.a. dann nicht berücksichtigt werden kann, soweit er auf Anteile entfällt, die entgeltlich erworben worden sind und nicht innerhalb der letzten fünf Jahre zu einer qualifizierten Beteiligung des Steuerpflichtigen gehört haben. Das gilt wiederum nicht für innerhalb der letzten fünf Jahre erworbene Anteile, deren Erwerb zur Begründung einer qualifizierten Beteiligung des Steuerpflichtigen geführt hat oder die nach Begründung der Beteiligung des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG erworben worden sind2.

28.11

Die Sonderregeln des § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG beschränken das Abzugsverbot auf die vom Steuergesetzgeber als Missbrauchsfälle beurteilten Sachverhalte, in denen es so liegt/lag, dass durch den gezielten Zukauf von Anteilen die Wesentlichkeitsschwelle des § 17 EStG erreicht wird, um auf diese Art und Weise einen Verlust geltend machen zu können3. Ein Verlustabzug ist prinzipiell nur zulässig, wenn die veräußerten Anteile fünf Jahre lang Teil einer qualifizierten Beteiligung waren. Dabei muss der Veräußerer mehr als fünf Jahre vor der Veräußerung und während dieses Zeitraums qualifiziert am Kapital der Gesellschaft beteiligt gewesen sein;

28.12

1 Deutschländer, NWB 2018, 634, 644. 2 Näher zu § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG z.B. Gosch in Kirchhof/Seer, § 17 EStG Rz. 113 ff. 3 Vgl. BT-Drucks. 14/23, S. 179; Strahl, KÖSDI 1998, 11786 f.; Trossen in BeckOK/EStG, § 17 EStG Rz. 444.

Crezelius/B. Westermann | 949

§ 28 Rz. 28.12 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

die Beteiligung muss also ununterbrochen bestanden haben. Das ist ein Systembruch zu § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, der auf die Beteiligungsquote innerhalb der letzten fünf Jahre abstellt. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG auch dann zur Verlustberücksichtigung führen kann, soweit es sich um Anteile handelt, die innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung erworben wurden und die zur Begründung einer qualifizierten Beteiligung (erst) geführt haben oder nach Begründung dieser Beteiligung erworben worden sind. Damit dürften insbesondere die für Sanierungssituationen wichtigen Kapitalerhöhungsfälle erfasst sein1.

28.13

Handelt es sich im Einzelfall um einen GmbH-Geschäftsanteil, der infolge einer Umstrukturierung nach §§ 20 ff. UmwStG entstanden ist, ohne dass im Zuge der Umstrukturierung stille Reserven aufgedeckt worden sind, so liegen nach heutiger Rechtslage sog. sperrfristbehaftete Anteile, nach früherer Rechtslage sog. einbringungsgeborene Anteile vor. Die Abgrenzung der beiden Rechtslagen richtet sich nach § 27 UmwStG (näher 5. Aufl. Rz. 2.558). Für die Einbringungsfälle nach § 20 UmwStG ist wichtig, dass dort die Verlustgeltendmachung im Grundsatz den allgemeinen Regeln unterliegt. Insbesondere enthält das UmwStG keine § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG entsprechende Regelung zur Einschränkung des Verlustausgleichs. Da in den Fällen der §§ 20 ff. UmwStG § 17 EStG – unabhängig von der Beteiligungsquote – verdrängt wird, kann also ein Verlust infolge Insolvenz auch dann steuerrechtlich relevant sein, wenn hinsichtlich der Anteile an und für sich die Voraussetzungen des § 17 Abs. 2 Satz 6 EStG erfüllt werden.

4. Gesellschafterdarlehen a) Ebene der GmbH 28.14

Ein anderer Beratungsschwerpunkt ist der steuerrechtliche Umgang mit Gesellschafterfinanzierungsinstrumenten in der Insolvenz. Auf Ebene der GmbH ist in steuersystematischer Hinsicht auf den Unterschied zwischen den Begriffen des verdeckten Eigenkapitals und der verdeckten Einlage hinzuweisen. Zwar haben beide Institute ihre Ursache im Gesellschaftsverhältnis, doch geht es bei der verdeckten Einlage um offenes Eigenkapital, während verdecktes Eigenkapital Fremdkapital mit wirtschaftlicher Eigenkapitalwirkung ist, etwa unbesicherte Gesellschafterdarlehen. Rechtsfolge einer verdeckten Einlage ist der Abzug von Gewinn bei der Ermittlung des Einkommens der Körperschaft (§ 8 Abs. 3 Satz 3 KStG) und das Entstehen nachträglicher Anschaffungskosten auf die Beteiligung beim Anteilseigner, soweit es sich um eine steuerverstrickte Beteiligung handelt. Die mögliche Rechtsfolge des verdeckten Eigenkapitals ist demgegenüber die Umqualifizierung von Fremdkapital in Eigenkapital für steuerrechtliche Zwecke, so dass die angeblichen Fremdkapitalzinsen steuerrechtlich verdeckte Gewinnausschüttungen sind und die formelle Schuld nicht als Betriebsschuld bei der Einheitsbewertung abgezogen werden kann2.

28.15

Die frühere Rechtsfigur des kapitalersetzenden Darlehens bzw. Gesellschafterdarlehens existiert nicht mehr. Gesellschafterdarlehen sind in der Insolvenz nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO grundsätzlich nachrangig. Gleichwohl bleibt es im Zivil-, Handels- und Steuerrecht bei einer Qualifizierung als Fremdfinanzierung der GmbH.

28.16

Vor dem Hintergrund der § 8 Abs. 1 KStG, § 5 Abs. 1 EStG sind Gesellschafterdarlehen in der Handelsbilanz grundsätzlich als Fremdkapital zu passivieren, wenn es um einen Jahres1 Herzig/Förster, DB 1999, 711, 715 ff. 2 Vgl. zuletzt zu dieser Abgrenzung in anderem Zusammenhang: BFH v. 18.5.2021 – I R 12/18, IStR 2021, 858 = GmbHR 2022, 41 m. Anm. Kratzsch.

950 | Crezelius/B. Westermann

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 28.19 § 28

abschluss außerhalb eines formellen Insolvenzverfahrens geht1. Derartige Darlehen sind auch geeignet, eine Zinsverbindlichkeit gegenüber dem Gesellschafter entstehen zu lassen, die in der Handelsbilanz zu Lasten des Gewinns (Aufwand) zu passivieren ist. Dies galt in der Vergangenheit auch für Forderungen eines Gesellschafters aus der Gewährung eigenkapitalersetzender Leistungen in der Überschuldungsbilanz der GmbH, soweit für sie keine Rangrücktrittserklärung abgegeben worden ist2. Dies hat der BFH3 in der Folgezeit bestätigt: Auch ein von Anfang an (nach früherer Rechtslage) als kapitalersetzend zu qualifizierendes Gesellschafterdarlehen ist steuerrechtlich eine Betriebsschuld einer Kapitalgesellschaft und dementsprechend zu passivieren, selbst wenn die Gesellschaft wegen Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit zur Rückzahlung nicht in der Lage ist. Das MoMiG hat daran nichts geändert. Sowohl § 30 Abs. 1 GmbHG als auch § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zeigen, dass außerhalb des Insolvenzverfahrens das Darlehen eines GmbH-Gesellschafters den normalen Regeln unterliegt, so dass es im handelsrechtlichen Jahresabschluss als Fremdkapital zu bilanzieren ist. Die Grenze ist erst da erreicht, wo die Voraussetzungen für eine Ausbuchung nach den Regeln des qualifizierten Rangrücktritts i.S. des § 5 Abs. 2a EStG erfüllt sind.

b) Ebene der Gesellschafter aa) Anteile im Betriebsvermögen Auf Ebene des Anteilseigners ist zunächst die Variante, dass es sich um einen notwendig steuerverstrickten GmbH-Geschäftsanteil in einem (anderen) Betriebsvermögen handelt, zu betrachten. Aus der Sicht des Anteilseigners ist zu entscheiden, ob ein Gesellschafterdarlehen bei Insolvenz der GmbH zu einer Erhöhung der Anschaffungskosten der Beteiligung führt, so dass insoweit auch das Verlustausgleichsvolumen erhöht wird. Außerdem besteht bei Darlehen, die mittelbar von einer Schwestergesellschaft an die Beteiligungsgesellschaft des Gesellschafters ausgereicht werden, die Möglichkeit einer verdeckten Gewinnausschüttung (§ 8 Abs. 3 Satz 2 KStG) bei der Schwestergesellschaft. § 17 EStG findet keine Anwendung auf Anteile, die im Betriebsvermögen gehalten werden; die (nachträglichen) Anschaffungskosten richten sich dann nach § 255 Abs. 1 HGB4.

28.17

Wurde das Darlehen vor der Krise bzw. vor der Insolvenzsituation gewährt, führt es weder in handelsrechtlicher noch in steuerrechtlicher Sicht zu Anschaffungskosten auf die Beteiligungen; das Darlehen wird eben nicht zum Erwerb der Beteiligung geleistet. Insofern muss im Betriebsvermögen eine korrespondierende Betrachtung stattfinden: Wenn das Darlehen auf der Gesellschaftsebene als Fremdkapital behandelt wird, dann ist auch auf der Gesellschafterebene eine Fremdkapitalbetrachtung vorzunehmen. Die Anschaffungskosten der Beteiligung werden nicht erhöht.

28.18

Ist also das Gesellschafterdarlehen eines betrieblich beteiligten Gesellschafters, und zwar nach EStG als auch nach KStG, prinzipiell mit seinem Nennwert als Forderung anzusetzen, wird es im Zuge der Krise oder der Insolvenz an Wert verlieren, so dass dann eine Abschreibung auf den Teilwert (§§ 5, 6 Abs. 1 EStG) in Betracht kommt. Zu nachträglichen Anschaffungskosten auf die Beteiligung kann aber allein ein Darlehensverzicht (Rz. 8.207 ff.) führen. Anders als

28.19

1 BFH v. 5.2.1992 – I R 127/90, BStBl. II 1992, 532 = ZIP 1992, 620. 2 BGH v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264 = GmbHR 2001, 190 = ZIP 2001, 235. 3 BFH v. 6.11.2007 – I B 50/07, BFH/NV 2008, 616; vgl. auch Richter in Herrmann/Heuer/Raupach, § 5 EStG Rz. 1910. 4 Trossen in BeckOK/EStG, § 17 EStG Rz. 182; vgl. BFH v. 18.12.2001 – VIII R 27/00, BStBl. II 2002, 733, 736 = GmbHR 2002, 331; Dorn, NWB 2018, 1882.

Crezelius/B. Westermann | 951

§ 28 Rz. 28.19 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

eine Teilwertabschreibung, führt ein Verzicht des Gesellschafters regelmäßig zu einer verdeckten Einlage (§ 8 Abs. 3 Satz 3 KStG), da der Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft außerhalb der gesellschaftsrechtlichen Einlage Vermögenswerte zuführt und dies seine Ursache im Gesellschaftsverhältnis hat1.

28.20

Die für das Steuerrecht entscheidende Problematik besteht darin, ob eine Gewinnminderung aus dem Ausfall oder auf Grund einer Wertminderung des Gesellschafterdarlehens von dem betrieblich beteiligten Gesellschafter geltend gemacht werden kann, ob insbesondere die Einschränkungen der § 3c Abs. 2, § 8b Abs. 3 Satz 3 ff. KStG eingreifen.

28.21

Steuersystematisch ist davon auszugehen, dass jedenfalls der sog. normspezifische Anschaffungskostenbegriff des § 17 Abs. 2 EStG bei bilanzierenden Steuersubjekten keine Rolle spielt (s. instruktiv 5. Aufl. Rz. 7.672)2. Darlehensforderungen eines Gesellschafters bleiben Fremdkapital. Erst wenn der Gesellschafter auf das Darlehen verzichtet, ist zu klären, ob es zu einer Einlage nur in Höhe des Teilwerts kommt, so dass auch nur dieser Betrag in den Anwendungsbereich der § 3c Abs. 2 EStG, § 8b Abs. 3 KStG fällt, oder ob es nicht so liegt, dass der nominelle Betrag der Forderung, auf die verzichtet wird, zu nachträglichen Anschaffungskosten führt3. Das hängt damit zusammen, ob man den Gedanken, dass in der Bilanz eines an einer Kapitalgesellschaft betrieblich Beteiligten die Beteiligung einerseits und das Darlehen andererseits zwei separate Wirtschaftsgüter darstellen4, konsequent weiterführt.

28.22

Ist der Anteilseigner eine Kapitalgesellschaft, sind zudem die § 8b Abs. 3 Sätze 4 bis 8 KStG zu beachten, die ein Abzugsverbot für bestimmte Gesellschafterdarlehen und Aufwand aus der Inanspruchnahme von Sicherheiten enthalten. Konsequenz des § 8b Abs. 3 Sätze 4 ff. KStG ist es, dass Gewinnminderungen im Zusammenhang mit Gesellschafterdarlehen ebenso wie andere Gewinnminderungen des § 8b Abs. 3 KStG bei der Einkommensermittlung einer GmbH nicht berücksichtigt werden5. Die Verlustgeltendmachung und die Teilwertabschreibung auf Gesellschafterdarlehen sind ohne Rücksicht auf die Verzinsung wie die Beteiligung selbst zu behandeln, wenn der darlehensgebende Gesellschafter Körperschaftsteuersubjekt und zu mehr als 25 v.H. an der Gesellschaft beteiligt ist. Eine Öffnungsklausel ist vorgesehen, wenn ein Dritter das Darlehen nachweislich gewährt und nicht zurückgefordert hätte. An der Regelung ist zunächst auffällig, dass das durch das MoMiG abgeschaffte System des Eigenkapitalersatzes erstmals in das Körperschaftsteuerrecht übernommen wird. Im Übrigen verstößt die Regelung gegen bilanzielle Grundsätze und das steuerrechtliche Nettoprinzip. Der BFH teilt diese Bedenken aber nicht, da die Regelung als Kehrseite zu § 8b Abs. 2 KStG zu begreifen sei, wonach bestimmte Einkünfte aus Beteiligungen an Kapitalgesellschaften steuerfrei sind6.

28.23

Steuersystematisch gesehen sind § 3c Abs. 2 EStG, § 8b Abs. 3 Satz 3 KStG schon isoliert gesehen unstimmig. Die Normen sollen das Pendant zum Teileinkünfteverfahren des § 3 Nr. 40 EStG und zu § 8b Abs. 1, 2 KStG darstellen, übersehen aber, dass das Teileinkünfteverfahren und § 8b Abs. 1, 2 KStG die Zielsetzung haben, Mehrfachbelastungen abzumildern. Damit hat ein Gewinnminderungsverbot bzw. ein Verlustabzugsverbot nichts zu tun. Gleichwohl sieht 1 Vgl. Lahme in Beck'sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon, Verdeckte Einlagen Rz. 8 ff. 2 BFH v. 18.12.2001 – VIII R 27/00, BStBl. II 2002, 733 = GmbHR 2002, 331; BFH v. 31.5.2005 – X R 36/02, BFH/NV 2005, 1697 = 2005, 1219 = GmbHR 2005, 1219 = ZIP 2006, 85. 3 Vgl. Roser in Gosch, § 8 KStG Rz. 125. 4 BFH v. 16.5.2001 – I B 143/00, BStBl. II 2002, 436 = GmbHR 2001, 822 m. Anm. Eilers/Wienands = ZIP 2001, 1588; Roser in Gosch, § 8 KStG Rz. 123 ff. 5 Ausführlich Nöcker in Herrmann/Heuer/Raupach, § 8b KStG J 07-5 ff. 6 BFH v. 12.3.2014 – I R 87/12, BStBl. II 2014, 859 = GmbHR 2014, 764 Rz. 13.

952 | Crezelius/B. Westermann

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 28.28 § 28

§ 3c Abs. 2 Satz 2 EStG bei Beteiligungen von mittelbar oder unmittelbar 25%, und zwar entsprechend § 8b Abs. 3 Satz 4 ff. KStG, ein Gewinnminderungsverbot für Darlehen und Sicherheiten vor. § 3c Abs. 2 Satz 3 EStG und § 8b Abs. 3 Satz 7 KStG eröffnen jeweils die Möglichkeit eines Nachweises der Drittüblichkeit hingegebener Darlehen und Sicherheiten. bb) Anteile im Privatvermögen Handelt es sich um ein Steuersubjekt, welches die kapitalgesellschaftsrechtliche Beteiligung (an der GmbH) in seinem Privatvermögen hält, dann kommt es zu einer Steuerverstrickung, mithin zu einer Erheblichkeit von Veräußerungsgewinn und Veräußerungsverlusten, insbesondere in den Konstellationen der § 17 EStG, § 21 UmwStG a.F., § 22 UmwStG (Rz. 8.13). Hier ist zu entscheiden, ob ein ausgefallenes Gesellschafterdarlehen zu nachträglichen Anschaffungskosten der Beteiligung führt (s. § 17 Abs. 2a EStG), wobei dann allerdings § 3c Abs. 2 EStG mit dem Teilabzugsverbot zu beachten ist. Denn im Anwendungsbereich von § 17 Abs. 1 EStG gehören Einkünfte ebenfalls zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb mit der Folge, dass das Teileinkünfteverfahren Anwendung findet.

28.24

Kommt eine Einbeziehung als (nachträgliche) Anschaffungskosten nicht in Betracht, so bleibt es bei einem Darlehensausfall bei der subsidiären Besteuerung nach § 20 EStG1. Die ganze oder teilweise Uneinbringlichkeit einer Kapitalforderung i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG führt zu einem steuerlich anzuerkennenden Veräußerungsverlust gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, Satz 2 und Abs. 4 EStG2. Zu beachten ist hierbei aber die strenge Verlustabzugsbeschränkung des § 20 Abs. 6 EStG (s. Rz. 8.14).

28.25

Wenn der Gesellschafter einer GmbH zusätzlich zu seinem Festkapital einen Betrag nach § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB in die Kapitalrücklage (Agio) geleistet hat, dann handelt es sich um nachträgliche Anschaffungskosten i.S. des § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 1 Alt. 1 EStG3. Darlehensverluste sind nach § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 2 EStG ebenfalls nachträglich Anschaffungskosten, soweit die Gewährung des Darlehens oder das Stehenlassen des Darlehens in der Krise der Gesellschaft gesellschaftsrechtlich veranlasst war.

28.26

Nach § 30 Abs. 1 GmbHG, § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO genießen Gesellschafterdarlehen oder Forderungen aus Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen, grundsätzlich Nachrang in der Insolvenz. Steuerlich sind unabhängig von der insolvenzrechtlichen Einordnung in § 17 Abs. 2a EStG die (nachträglichen) Anschaffungskosten ausdrücklich geregelt (s. Rz. 8.91). Wenn ein Gesellschafter in der Insolvenz seine Darlehensforderung im Hinblick auf seine gesellschaftsrechtliche Position verliert, ist eine gesellschaftsrechtliche Veranlassung zu bejahen. Ein solcher Darlehensverlust ist folglich in den Grenzen des § 3c Abs. 2 EStG zu berücksichtigen. Immer dann, wenn es sich um einen Vorgang außerhalb der Privatsphäre handelt, muss es zur steuerrechtlichen Erheblichkeit kommen. Diese gesellschaftsrechtliche Veranlassung wird gerade durch den Nachrang i.S. des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO deutlich.

28.27

Ein Sonderproblem stellt sich im Hinblick auf die Zwerganteils- oder Kleinanlegerprivilegierung i.S. des § 39 Abs. 5 InsO. Anders als nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO treten Forderungen auf Rückgewähr eines Gesellschafterdarlehens bei einem geschäftsführenden Gesellschafter mit einer Beteiligung von 10 v.H. oder weniger nicht im Rang zurück. Sinn und Zweck des Klein-

28.28

1 Vgl. Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 194. 2 BFH v. 24.10.2017 – VIII R 13/15, BStBl. II 2020, 831 = FR 2018, 1062 = ZIP 2018, 738; BMF v. 3.6.2021 – IV C 1-S 2252/19/10003, BStBl. I 2021, 723 Tz. 60. 3 Trossen in BeckOK/EStG, § 17 EStG Rz. 485.

Crezelius/B. Westermann | 953

§ 28 Rz. 28.28 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

anlegerprivilegs gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 5 InsO ist die gesetzliche Klarstellung, dass nicht geschäftsführende Gesellschafter mit einer nur geringen Beteiligung nicht unternehmerisch beteiligt sind und deshalb nicht in der Finanzierungsverantwortung für die Gesellschaft stehen. Da § 17 Abs. 2a EStG nicht nach den Kriterien des § 39 Abs. 5 InsO differenziert, gilt die Norm auch für Kleinanleger1. Hierin liegt ein Unterschied zu der früheren Erlasslage2. cc) Sonderfall: Bürgschaften und andere Sicherheiten

28.29

Handelt es sich um die Bürgschaftsverpflichtung oder eine andere Sicherheit eines nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG beteiligten Kapitalgesellschafters, dann ist zunächst festzuhalten, dass die Bürgschaftsverpflichtung als solche die Anschaffungskosten auf die Beteiligung nicht erhöht3. Erst bei Wertlosigkeit des Ersatzanspruchs nach § 774 BGB bzw. vergleichbare Forderungen, die der Bürge gegen die GmbH hat, kann die Inanspruchnahme aus der Bürgschaftsverpflichtung des Gesellschafters für Verbindlichkeiten der Gesellschaft gemäß § 17 Abs. 2a Satz 3 Nr. 3 EStG zu nachträglichen Anschaffungskosten führen, wenn die Übernahme der Bürgschaftsverpflichtung ihre Ursache im Gesellschaftsverhältnis hat, d.h. durch dieses veranlasst war.

28.30

Da es sich bei den Einkünften aus § 17 EStG um gewerbliche Einkünfte handelt, für die das Abflussprinzip des § 11 EStG nicht gilt, kommt es auch grundsätzlich nicht darauf an, dass tatsächlich auf die Bürgschaft oder auf eine andere hingegebene Sicherheit geleistet wird. Entscheidend ist allein, dass das Vermögen des Gesellschafters infolge seiner Inanspruchnahme durch einen Gläubiger gemindert ist. Anders liegt es aber, wenn der betreffende Gesellschafter/Bürge im Zeitpunkt seiner Veranlagung nachweislich zahlungsunfähig ist4. Das ist folgerichtig, wenn man die Annahme der nachträglichen Anschaffungskosten im Rahmen des § 17 EStG aus dem einkommensteuerrechtlichen Nettoprinzip ableitet. Sollte sich jedoch die wirtschaftliche Lage des Gesellschafters verbessern, so dass die Bürgschaftsverpflichtung erfüllt werden kann, wirkt dies auf den Zeitpunkt der Auflösung der Kapitalgesellschaft zurück; dann ist die Einkommensteuerveranlagung dieser Periode nach § 175 AO zu korrigieren.

28.31

Über die Höhe der nachträglichen Anschaffungskosten entscheidet letztlich der Wert der Rückgriffsforderung5. Statt des Wertes der Rückforderung aus dem Gesellschafterdarlehen kommt es hier auf den Wert der Rückgriffsforderung aus der Bürgschaft an. Kann also festgestellt werden, dass die Bürgschaft von vornherein kapitalersetzenden Charakter hatte, dann ist der Nennwert der wertlos gewordenen Rückgriffsforderungen aus der für die Gesellschaft übernommenen Bürgschaft anzusetzen. Stellt sich heraus, dass die Bürgschaft erst durch das Stehenlassen bei Kriseneintritt eigenkapitalersetzend geworden ist, so ist die Rückgriffsforderung mit ihrem gemeinen Wert zu diesem Zeitpunkt anzusetzen.

5. Insolvenz bei Betriebsaufspaltung 28.32

Nach der einschlägigen Rechtsprechung des BFH und der Praxis der Finanzverwaltung wird eine Betriebsaufspaltungskonstellation wie folgt behandelt6: Machen die der Betriebsgesell1 2 3 4 5

Vgl. hierzu auch OFD Frankfurt a.M. v. 27.8.2021 – S 2244 A-37-St 519, juris. BMF v. 21.10.2010 – IV C 6-S 2244/08/10001, BStBl. I 2010, 832. Weber-Grellet in Schmidt, § 17 EStG Rz. 191. BFH v. 8.4.1998 – VIII R 21/94, BStBl. II 1998, 660 = GmbHR 1998, 1091. BFH v. 6.7.1999 – VIII R 9/98, BStBl. II 1999, 817 = GmbHR 1999, 1302 m. Anm. Hoffmann; vgl. Gosch in Kirchhof/Seer, § 17 EStG Rz. 99cb. 6 Statt aller Wacker in Schmidt, § 15 EStG Rz. 800 ff.

954 | Crezelius/B. Westermann

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 28.35 § 28

schaft zur Nutzung überlassenen Wirtschaftsgüter die wesentliche oder eine wesentliche Grundlage des Betriebs dieses Unternehmens aus (sachliche Verflechtung) und kann bei den hinter dem Besitz- und Betriebsunternehmen stehenden Personen ein einheitlicher geschäftlicher Betätigungswille festgestellt werden (personelle Verflechtung), dann ist die Tätigkeit des Besitzunternehmens als gewerbliche zu qualifizieren, so dass die Einkünfte aus § 15 EStG auf Grund der Subsidiaritätsklausel des § 21 Abs. 3 EStG vorrangig sind. Damit sind die Einkünfte des Besitzunternehmens gewerbeertragsteuerpflichtig. Im Übrigen kommt es zu einem erweiterten Gewinnbegriff, da das an die Betriebskapitalgesellschaft (GmbH) überlassene Vermögen in vollem Umfang steuerverstrickt ist1. Da die Betriebsaufspaltung von einem personellen und einem sachlichen Element der Verflechtung abhängig ist, soll daraus im Umkehrschluss folgen, dass die Betriebsaufspaltung beendet wird, wenn eines der Elemente der personellen und/oder sachlichen Verflechtung entfällt. Entfallen die Voraussetzungen einer Betriebsaufspaltung, handelt es sich nach der Auffassung des BFH um eine Betriebsaufgabe nach § 16 Abs. 3 EStG, die zur Versteuerung der im Vermögen des Besitzunternehmens aufgelaufenen stillen Reserven führt2.

28.33

Kommt es zur Eröffnung der Insolvenz über das Vermögen der Betriebskapitalgesellschaft, der GmbH, innerhalb der Betriebsaufspaltung, dann führt dies nach Auffassung des BFH3 regelmäßig zur Beendigung der personellen Verflechtung mit dem Besitzunternehmen und damit einer bestehenden Betriebsaufspaltung. Der Vorgang sei, wenn nicht das laufende Insolvenzverfahren mit anschließender Fortsetzung der Betriebsgesellschaft aufgehoben oder eingestellt werde, regelmäßig als Betriebsaufgabe zu qualifizieren, und zwar mit der Folge, dass die in dem Betriebsvermögen der Besitzgesellschaft enthaltenen stillen Reserven aufzudecken seien. Die maßgebliche Begründung des BFH liegt darin, dass in dem entschiedenen Sachverhalt die Betriebsaufspaltung deshalb beendet gewesen sei, weil die GmbH-Gesellschafter ihren Willen in der Kapitalgesellschaft nicht mehr haben durchsetzen können. Dies folge aus der Kompetenz des Insolvenzverwalters, der nach § 80 InsO die alleinige Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen der GmbH habe. Der Insolvenzverwalter übernehme die Unternehmensleitung und sei dabei nicht als Gesellschaftsorgan oder Vertreter, sondern kraft eigenen Amtes tätig4.

28.34

Das ist nach hier vertretener Auffassung eine Überstrapazierung der Position des Insolvenzverwalters, da die Insolvenz nichts an dem Umstand ändert, dass der Insolvenzverwalter als Liquidator ein Organ der Gesellschaft ist, welches nicht im eigenen Namen handelt, sondern im Namen der Schuldnerin. Nimmt man hinzu, dass die Gesellschaftsorgane trotz der Insolvenzeröffnung existent bleiben, hätte der Gedanke nahe gelegen, für steuerrechtliche Betriebsaufspaltungskonstellationen das Element der personellen Verflechtung temporär auch (noch) dann anzunehmen, wenn der Insolvenzverwalter an die Stelle der Gesellschafter der BetriebsGmbH in der Betriebsaufspaltung tritt. Der Rechtsprechung ist vorzuwerfen, dass sie in begriffsjuristischer Manier aus den nicht kodifizierten Voraussetzungen der Betriebsaufspaltung Folgerungen für die Gewinnrealisierung zieht. Immerhin hält der BFH eine unterbrochene Betriebsaufspaltung für möglich5.

28.35

1 BFH v. 12.2.1992 – XI R 18/90, BStBl. II 1992, 723 = GmbHR 1992, 769. 2 BFH v. 15.12.1988 – IV R 36/84, BStBl. II 1989, 363 = GmbHR 1989, 305; BFH v. 25.8.1993 – XI R 6/93, BStBl. II 1994, 23 = GmbHR 1994, 70. 3 BFH v. 6.3.1997 – XI R 2/96, BStBl. II 1997, 460 = GmbHR 1997, 664 = ZIP 1997, 1199. 4 Aurich in BeckOK/Insolvenzrecht, Steuerrecht in der Insolvenz, Ertragsteuerrecht Rz. 15. 5 BFH v. 6.3.1997 – XI R 2/96, BStBl. II 1997, 460 = GmbHR 1997, 664 = ZIP 1997, 1199.

Crezelius/B. Westermann | 955

§ 28 Rz. 28.36 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

28.36

Die vorstehenden Konsequenzen lassen sich vermeiden, wenn das Besitzunternehmen in einer Betriebsaufspaltungskonstellation als gewerblich geprägte Gesellschaft nach § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG konstituiert wird, weil auf diese Art und Weise die Gewinnrealisierung im überlassenen Anlagevermögen verhindert werden kann1.

28.37

Die Konstellation, dass über das Vermögen des Besitzunternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet wird, wird soweit ersichtlich nicht diskutiert. Würde bei der Insolvenz des Besitzunternehmens, beispielsweise einer GmbH & Co. KG, die personelle Verflechtung entfallen, müsste nach Auffassung der Rechtsprechung der Tatbestand der Betriebsaufgabe gegeben sein und die in den GmbH-Anteilen enthaltenen stillen Reserven zwangsweise als Massebestandteile aufgedeckt werden.

28.38–28.50

Einstweilen frei.

II. Umsatzsteuer 28.51

Die Umsatzsteuer ist in Insolvenzverfahren regelmäßig schon deshalb bedeutend, da sie einen erheblichen Liquiditätsfaktor für das Unternehmen bildet. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat auf die Unternehmereigenschaft des Insolvenzschuldners und Steuerpflichtigen nach § 2 Abs. 1 UStG keinen Einfluss2. Der Schuldner bleibt Unternehmer hinsichtlich aller Einnahmen, die der Masse aus der Verwaltung und Verwertung des Vermögens zufließen. Entsprechend hierzu setzt sich auch die Vorsteuerabzugsberechtigung nach § 15 UStG fort. Das Unternehmen ist somit Steuerschuldner und Erstattungsberechtigter im Steuerschuldverhältnis. Nach § 80 Abs. 1 InsO geht lediglich die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des insolventen Unternehmens auf den Insolvenzverwalter über.

28.52

In der Praxis wird der Insolvenzschuldner oder der Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren in der Regel, Umsatzsteuerverbindlichkeiten als Insolvenzforderungen im Sinne des § 38 InsO qualifizieren wollen, um den Fiskus insoweit auf die Quote verweisen zu können. Vorsteuervergütungsansprüche sollten dagegen für den Zeitraum nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet werden, um eine Aufrechnung mit Steuerforderungen durch die Finanzverwaltung zu vermeiden3.

28.53

Die Geltendmachung von Umsatzsteuerforderungen durch die Finanzbehörden beurteilt sich nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausschließlich nach dem Insolvenzrecht. Durch die Rechtsprechung geklärt ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Umsatzsteueranspruch zu den Insolvenzforderungen oder Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zählt. Maßgeblich ist demnach, ob der zugrunde liegende Lebenssachverhalt vor oder nach Insolvenzeröffnung tatbestandlich vollständig abgeschlossen worden ist4. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, sind die Umsatzsteuerforderungen des Fiskus hingegen als Insolvenzforderung einzuordnen. Diese Abgrenzung gilt sowohl für die Ist-Besteuerung nach § 13 Abs. 1 1 Vgl. auch Aurich in BeckOK/Insolvenzrecht, Steuerrecht in der Insolvenz, Ertragsteuerrecht Rz. 15. 2 Korn in Bunjes, 20. Aufl. 2021, § 2 UStG Rz. 176. 3 Vgl. Witfeld in Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, 2. Aufl. 2022, Kap. 5 Rz. 2. 4 BFH v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682; vgl. auch Heidner in Bunjes, 20. Aufl. 2021, § 15a UStG Rz. 112.

956 | Crezelius/B. Westermann

§ 28 Steuerrecht im eröffneten Insolvenzverfahren | Rz. 28.55 § 28

Nr. 1 Buchst. b UStG als auch für die Soll-Besteuerung1. Die Finanzverwaltung hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen2. Dabei sind viele Einzelfragen noch umstritten und die BFHRechtsprechung nicht ohne Widerspruch. Die Privilegierung von Umsatzsteuerforderungen als Masseverbindlichkeiten, trotz ihrer dogmatisch späteren Entstehung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b UStG, wird in der Literatur zum Teil als Übervorteilung des Fiskus empfunden3. Im Hinblick auf den Vorsteuerabzug des insolventen Unternehmers ist zu beachten, dass durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über dessen Vermögen Uneinbringlichkeit hinsichtlich der noch nicht entrichteten Leistungsentgelte eintritt4. Folglich ändert sich die Bemessungsgrundlage für die Forderungen, auf die die Vorsteuerabzugsbeträge entfallen, so dass eine Korrektur nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO i.V.m. § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG notwendig wird. Dies gilt sowohl für die Umsatzsteuerpflicht des leistenden Unternehmers der Eingangsleistungen als auch für die Umsatzsteuerpflicht des insolventen Unternehmers hinsichtlich der Ausgangsleistungen, d.h. Entgeltforderungen und Verbindlichkeiten. Der Grund hierfür ist, dass die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter übergeht5.

28.54

Neben Themen der Korrektur von Bemessungsgrundlagen ist für Gläubiger des insolventen Unternehmens die umsatzsteuerliche Behandlung der Verwertung von Sicherheiten im Blick zu halten. Die Einräumung von Sicherheiten führt zunächst nicht zu einer steuerbaren Lieferung, weil dem Sicherungsgeber das Sicherungsgut zur Nutzung erhalten bleibt. Erst die spätere Verwertung von Sicherheiten führt zur Umsatzsteuer. Dabei ist danach zu differenzieren, ob der Insolvenzverwalter eine eigenhändige Verwertung vornimmt (eine steuerbare Lieferung) oder die Verwertung nach Überlassung zur abgesonderten Befriedigung durch den Sicherungsnehmer erfolgt (dann zwei steuerbare Lieferungen – sog. Theorie der Doppelverwertung). Bei der Doppelverwertung ist der Sicherungsnehmer zunächst Steuerschuldner für die Lieferung des Sicherungsgebers an ihn sowie die Lieferung von ihm an den Erwerber.

28.55

1 2 3 4 5

BFH v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996. Vgl. UStAE zu § 17 Abschn. 17.1 Abs. 11 ff. Witfeld in Sonnleitner/Witfeld, Insolvenz- und Sanierungssteuerrecht, 2. Aufl. 2022, Kap. 5 Rz. 4 f. Vgl. Roth, Insolvenzsteuerrecht, 3. Aufl. 2020, Rz. 4.331. Korn in Bunjes, 20. Aufl. 2021, § 17 UStG Rz. 68.

Crezelius/B. Westermann | 957

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren I. Zwei Schuldnerinnen, zwei Insolvenzverfahren, zwei Massen 1. Gestaltungsvielfalt der GmbH & Co. KG 29.1

a) Die GmbH & Co. KG ist überaus vielgestaltig1. Die folgende Darstellung geht von der klassischen GmbH & Co. KG aus, also von einer operativ tätigen Kommanditgesellschaft, deren einzige Komplementärin eine GmbH ist. Die GmbH ist typischerweise nicht am Vermögen der KG beteiligt, hat also als Komplementärin keinen Kapitalanteil, kein Stimmrecht und außer der meist aus steuerrechtlichen Gründen vereinbarten Haftungsprämie keinen Anteil am Gewinn der KG2. Bei einer solchen Gesellschaft ist davon auszugehen, dass der Gläubigerkreis beider Gesellschaften im Wesentlichen identisch ist. Die Verbindlichkeiten der GmbH sind im Innenverhältnis von der KG zu tragen (vgl. auch § 110 HGB). Das gilt selbst für die Körperschaft- und Gewerbesteuer und die etwa von der GmbH zu begleichende Umsatzsteuer (§ 1 KStG, § 2 GewStG, § 2 UStG), denn die GmbH agiert für Rechnung der unternehmenstragenden Kommanditgesellschaft3.

29.2

b) Die Spezifika der GmbH & Co.-Insolvenz basieren darauf, dass wir es mit zwei Schuldnerinnen zu tun haben: der Kommanditgesellschaft und der GmbH4. Beide Gesellschaften sind insolvenzfähig (§ 11 InsO), ihre Organe ggf. insolvenzantragspflichtig (§ 15a Abs. 1 Satz 1 und 3 InsO). Das Gesetz kennt kein Einheits-Insolvenzverfahren in dem Sinne, dass alle Rechtsverhältnisse der Kommanditgesellschaft und der GmbH in einem einzigen Verfahren abgewickelt werden. Deshalb muss zwischen dem Insolvenzverfahren der KG (also der Unternehmensträgerin) und dem Insolvenzverfahren ihrer Komplementär-GmbH unterschieden werden5. Die Rede ist also von getrennten Insolvenzanträgen, getrennten Insolvenzverfahren und getrennten Insolvenzmassen. Der Insolvenzverwalter der KomplementärGmbH kann z.B. nicht über das Vermögen der KG (und umgekehrt) verfügen6. Beide Insolvenzverfahren werden zweckmäßigerweise in die Hand eines Verwalters gelegt. Aber auch dann agiert der Insolvenzverwalter rechtlich getrennt für beide Gesellschaften, kann auch für sie separat, z.B. in Streitgenossenschaft, prozessieren und z.B. mit der einen Gesellschaft als Nebenintervenient am Prozess der anderen teilnehmen.

29.3

c) Die Insolvenzgründe bei der GmbH und bei der KG, also die Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), die Überschuldung (§ 19 InsO) und für den Eigenantrag die drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO), sind gleichfalls getrennt zu prüfen7, aber sie hängen miteinander 1 Dazu etwa Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 1 Rz. 5 ff.; Mueller-Thuns in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 2.1 ff. 2 Karsten Schmidt, JZ 2008, 425 ff. 3 Vgl. Sudhoff/Eberhard, GmbH & Co. KG, 6. Aufl. 2005, § 7 Rz. 7; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 1652 f.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1211. 4 Dazu auch Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 12; Lüke in Hesselmann/Tillmann/ Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, § 10. 5 Lüke in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, 22. Aufl. 2020, Rz. 10.1; Reichert/Salger, GmbH & Co. KG, § 49 Rz. 6; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 58. 6 Vgl. BayObLG v. 15.3.1989 – BReg. 2 Z 26/89, BB 1989, 1074 = NJW-RR 1989, 977. 7 Bitter in Scholz, 12. Aufl., Vor § 64 GmbHG Rz. 246 ff.

958 | Karsten Schmidt

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren | Rz. 29.6 § 29

zusammen. Die Komplementär-GmbH ist bei Überschuldung der KG ihrerseits rechnerisch überschuldet, wenn das Eigenvermögen der Komplementär-GmbH nicht ausreicht, die ungedeckten Schulden der KG zu begleichen. Verbindlichkeiten der KG, die über das Gesellschaftsvermögen der GmbH hinausgehen, führen nicht zur Überschuldung und Insolvenzreife der GmbH, wenn die KG ihrerseits nicht überschuldet ist, weil sie durch den Freistellungsanspruch gegen die KG aus § 110 HGB aufgewogen werden. Erst wenn das Vermögen der GmbH & Co. KG insgesamt die Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, tritt Überschuldung beider Gesellschaften ein, und der Geschäftsführer muss für beide nach § 15a InsO Insolvenzantrag stellen (dazu Rz. 38.1 ff.). d) Ablehnung der Eröffnung mangels Masse (§ 26 InsO) ist zweifelsfrei geboten, wenn weder das KG-Vermögen noch das GmbH-Vermögen die zu erwartenden Verfahrenskosten deckt. Dann ergehen in beiden Verfahren Beschlüsse nach § 26 InsO. Der Tatbestand des § 26 InsO wird für beide Gesellschaften individuell geprüft. Das führt in der Praxis häufig zur Nichteröffnung des Insolvenzverfahrens hinsichtlich der Komplementär-GmbH und zur Eröffnung des Verfahrens über das Vermögen der Kommanditgesellschaft1. Obwohl bei der typischen GmbH & Co. KG (Rz. 29.1) die Kommanditgesellschaft nach §§ 110, 161 Abs. 2 HGB verpflichtet ist, der GmbH die durch Unternehmensverbindlichkeiten veranlassten Insolvenzverfahrenskosten zu erstatten, wird der Eröffnungsantrag bezogen auf die GmbH in vielen Fällen nach § 26 InsO abgelehnt2. Hat die GmbH außer den Freistellungsansprüchen nach §§ 110, 161 Abs. 2 HGB kein verwertbares Vermögen, so wird sie u.U. sogar wegen Vermögenslosigkeit gelöscht (zu diesem Tatbestand vgl. Rz. 22.12 f.). Mit dem Gedanken einer konsolidierten Gesamtabwicklung der GmbH & Co. KG (Rz. 29.7 ff.) verträgt sich das allerdings schlecht.

29.4

2. Sukzessivinsolvenz und Simultaninsolvenz Im Anschluss an die Terminologie des Verfassers3 haben sich die Begriffe Sukzessivinsolvenz und Simultaninsolvenz eingebürgert4. Von einer Sukzessivinsolvenz wird hier gesprochen, wenn zunächst nur das Insolvenzverfahren wegen Eigenverbindlichkeiten der GmbH beantragt und eröffnet wird (ein bei der typischen GmbH & Co. KG seltener Fall). Von einem Verfahren der Simultaninsolvenz wird hier gesprochen, wenn bei der Eröffnung eines der Insolvenzverfahren jedenfalls schon der Antrag hinsichtlich der anderen Gesellschaft gestellt ist und zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens führt oder – was ausreichen sollte – wenn die GmbH-Insolvenz sonst maßgeblich auf den Schulden der KG beruht5.

29.5

a) Im Fall der Sukzessivinsolvenz werden KG und GmbH separat abgewickelt. Wird die GmbH wegen eigener Schulden insolvent, so scheidet sie nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab

29.6

1 Vgl. z.B. BGH v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, BGHZ 110, 342, 344 f. = GmbHR 1990, 251 = ZIP 1990, 578. 2 Dazu Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 60. 3 Zuerst Karsten Schmidt, GmbHR 2000, 1209 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2344, 2347; s. auch Karsten Schmidt, ZIP 2010, 1621 ff. 4 Vgl. nur BGH v. 8.5.2014 – I ZR 217/12, BGHZ 201, 129 = GmbHR 2014, 871 = ZIP 2014, 1280; BGH v. 10.10.2013 – VII ZR 228/12; OLG Hamm v. 30.3.2007 – 30 U 13/06, ZIP 2007, 584; VGH Kassel v. 3.3.2010 – 6 A 1176/08, ZIP 2010, 880; Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 12 Rz. 36 ff.; Lüke in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 10.2 ff.; Roth in Hopt, § 131 HGB Rz. 22; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 62. 5 Zur Erweiterung des Tatbestands gegenüber dem vorausgegangenen Ansatz vgl. Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 66; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2347.

Karsten Schmidt | 959

§ 29 Rz. 29.6 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F.) aus der KG aus1. Mangels anderer Vertragsbestimmung ist dann die Kommanditgesellschaft wegen des Fortfalls ihres einzigen Komplementärs aufgelöst. Geschäftsführungs- und vertretungsberechtigt sind im Zweifel die Kommanditisten, weil § 146 HGB resp. § 144 HGB n.F. in diesem Fall nicht durch die Teilnahme des GmbHGeschäftsführers verdrängt ist2. Die Haftung der verbleibenden Kommanditisten bleibt beschränkt. Das gilt auch, wenn die Gesellschaft durch das Ausscheiden der GmbH erlischt und das Gesamtvermögen den Kommanditisten zufällt (vgl. auch Rz. 29.10)3.

29.7

b) Im Fall der Simultaninsolvenz beider Gesellschaften scheidet die Komplementär-GmbH nicht nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F.) aus der Gesellschaft aus (teleologische Reduktion des Tatbestands)4. Es finden zwei Insolvenzverfahren mit zwei voneinander zu unterscheidenden Insolvenzmassen statt, die jedoch organisatorisch und abwicklungstechnisch miteinander verzahnt sind5. Ebenso wenig werden nach § 146 HGB (§ 144 HGB n.F.) alle Gesellschafter der GmbH & Co. KG – die Kommanditisten eingeschlossen – zu Liquidatoren der Kommanditgesellschaft6. Das ist im Folgenden zu begründen.

3. Insolvenzverfahren und Haftungsabwicklung in Fällen der Simultaninsolvenz 29.8

Die GmbH & Co. KG ist ein auf verschiedene Rechtsträger aufgeteiltes Unternehmen. Die Simultaninsolvenz beider Rechtsträger ist als Zusammenbruch eines Unternehmens zu handhaben, nicht bloß als die zufällige Insolvenz der Gesellschaft und eines Gesellschafters7.

29.9

a) Auflösung der Gesellschaften: Nach § 131 Abs. 1 Nr. 3 HGB (ab 1.1.2024: § 138 Abs. 1 Satz 2 HGB n.F.) wird die Kommanditgesellschaft durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen aufgelöst. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH ist auch diese nach § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG aufgelöst.

29.10

c) Ausscheiden der Komplementär-GmbH? Die Doppelinsolvenz bei der GmbH & Co. KG schafft ungeklärte Koordinationsprobleme. Nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F.) i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB führt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Komplementärvermögen mangels abweichender gesellschaftsvertraglicher Vereinbarung zum Ausscheiden des Komplementärs aus der KG. In die Insolvenzmasse des Komplementärs fällt dann nicht sein Anteil, sondern nur seine Abfindungsforderung. Diese Regelung gilt grundsätzlich auch für die GmbH & Co. KG. Wie bei Rz. 29.7 geschildert, gilt es aber die 1 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, GmbHR 2004, 952 = NZG 2004, 611 = ZIP 2004, 1047; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 63. 2 Vgl. Bitter in Scholz, 12. Aufl., Vor § 64 GmbHG Rz. 273. 3 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, GmbHR 2004, 952 = BB 2004, 1244; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 63; Albertus/Fischer, ZInsO 2005, 246; Bork/ Jakoby, ZGR 2005, 611, 641 ff.; Herchen, EWiR 2007, 527; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2344. 4 Vgl. zum Folgenden Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 66 ff.; Entwicklung des Modells bei Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2003, 1404 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2344; Karsten Schmidt, KTS 2011, 161 ff.; zust. Kindler in Koller/Kindler/Roth/Drüen, § 131 HGB Rz. 23; abl. Roth in Hopt, Anh. § 177a HGB Rz. 45a m.w.N. 5 Näher Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 121 ff. 6 So aber die h.M.; vgl. Henze in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, Anh. A zu § 177a HGB Rz. 223. 7 Zuerst Karsten Schmidt, GmbHR 2000, 1209 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2344, 2347; der Begriff und das Gegensatzpaar haben sich eingebürgert.

960 | Karsten Schmidt

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren | Rz. 29.11 § 29

Koordinationsprobleme bei der Insolvenzabwicklung einer GmbH & Co. KG im Auge zu behalten. Richtigerweise passt die Regel des § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB resp. ab 1.1.2024 § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F. nur im Fall einer Sukzessivinsolvenz (zu diesem Konzept vgl. Rz. 29.5)1. Eine Insolvenzverfahrenseröffnung nur über das Vermögen der Komplementär-GmbH lässt diese nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB resp. ab 1.1.2024 § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F. aus der KG ausscheiden (sie kann dann durch eine neue Komplementärin ersetzt werden). Dasselbe gilt, wenn zunächst nur das GmbH-Insolvenzverfahren und davon unabhängig das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Kommanditgesellschaft (also „die Unternehmensinsolvenz“) eröffnet wird (vgl. zu dieser Variante der Sukzessivinsolvenz Rz. 29.7). Nicht angemessen ist dagegen die gesetzliche Ausscheidensregel im Simultaninsolvenzverfahren, d.h. immer dann, wenn das Insolvenzverfahren hinsichtlich des Vermögens der GmbH Resultat des Zusammenbruchs der Kommanditgesellschaft ist (zur Rechtsfigur der Simultaninsolvenz vgl. Rz. 29.7)2. Es ist dies eine Unternehmensinsolvenz, bezogen auf eine Personengesellschaft, die ihrer Komplementär-GmbH freistellungspflichtig ist, deren (mittelbares) Leitungsorgan als Geschäftsführung in der Komplementär-GmbH angesiedelt ist und die im Fall ihres Scheiterns eines konsolidierten Insolvenzverfahrens bedarf3. Das Verfahren der Eigenverwaltung bei der GmbH & Co. KG (Rz. 29.21) zeigt dies nur noch mehr4: Wie soll eine komplementärlose Kommanditgesellschaft, wenn sie nur noch aus ihren Kommanditisten besteht und dem Organisationsstatus einer Kommanditgesellschaft nicht mehr genügen kann5, den Aufgaben der Eigenverwaltung nachkommen? Der mit der Einführung von § 131 Abs. 3 HGB a.F. (ab 1.1.2024: § 130 HGB n.F.) verfolgte Zweck, den Fortbestand der Personengesellschaft nicht durch die Insolvenz eines persönlich haftenden Gesellschafters zu gefährden, passt nicht auf diese Konstellation. Die typische GmbH & Co. KG-Insolvenz führt vielmehr zu einem koordinierten Insolvenzverfahren über das Vermögen beider Gesellschaften6.

d) Die herrschende Auffassung lässt diesen Rechtsgedanken in Anbetracht des Wortlauts von § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB allerdings nicht gelten7. Selbst eine der Vorschrift entsprechende Regelung im Gesellschaftsvertrag wendet der BGH wortgetreu ohne teleologische Einschränkung gegenüber der Komplementärin an8: „Eine Bestimmung in einem Gesellschaftsvertrag einer Kommanditgesellschaft, nach der ein Gesellschafter, über dessen Vermögen das Insolvenz1 Vgl. auch Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 63; zust. Bitter in Scholz, 12. Aufl., Vor § 64 GmbHG Rz. 267 ff.; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 358. 2 Vgl. Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 78; erweiternd Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2347: Es genügt, dass die GmbH-Insolvenz auf den Schulden der KG beruht. 3 Eingehend Karsten Schmidt, KTS 2011, 161 ff. m.w.N. 4 Dazu Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 624 ff. 5 Ein Ausscheiden der Komplementärin löst die KG auf und führt zu deren Abwicklung (Karsten Schmidt/Fleischer in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl., § 131 HGB Rz. 46); eine Umwandlung in eine oHG kraft Rechtsformzwangs kann noch durch Aufnahme eines Ersatz-Komplementärs oder durch nachhaltige Abwicklung als KG abgewendet werden (vgl. ebd.). 6 Vgl. zuletzt Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 356 ff. 7 BVerwG v. 13.7.2011 – 8 C 10/10, BVerwGE 140, 142 Rz. 15 ff. = ZIP 2011, 1868; BGH v. 8.5.2014 – I ZR 217/12, BGHZ 201, 129, Rz. 19 = GmbHR 2014, 897 = ZIP 2014, 1280; BGH v. 1.6.2017 – VII ZR 277/15, NJW 2017, 3521 Rz. 38; OLG Hamm v. 3.7.2003 – 15 W 375/02, GmbHR 2003, 1361 = ZIP 2003, 2264, 2265; OLG Hamm v. 3.7.2003 – 15 W 375/02, ZIP 2003, 2264 f.; VGH Kassel v. 3.3.2010 – 6 A 1176/08, ZIP 2010, 880, 882; Lorz in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn § 131 HGB Rz. 46; Roth in Hopt, Anh. § 177a HGB Rz. 45a; Albertus/Fischer, ZInsO 2005, 246, 250; Bork/Jacoby, ZGR 2005, 611, 652. 8 BGH v. 8.5.2014 – I ZR 217/12, BGHZ 201, 129 = GmbHR 2014, 897 = ZIP 2014, 1280.

Karsten Schmidt | 961

29.11

§ 29 Rz. 29.11 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

verfahren eröffnet wird, aus der Gesellschaft ausscheidet, findet auch im Fall der Simultaninsolvenz von Kommanditgesellschaft und Komplementärgesellschaft jedenfalls dann Anwendung, wenn noch weitere Gesellschafter verbleiben“. Das verwundert. Selbst eine vermittelnde Ansicht, die ein Ausscheiden der GmbH mit dem Eröffnungsbeschluss jedenfalls dann vermeiden will, wenn der Fortfall der Komplementärin die Gesellschaft zum Erlöschen brächte1, hat sich bisher nicht durchgesetzt. Ratsam, wenn auch naheliegenderweise ungebräuchlich sind deshalb Vertragsklauseln in den KG-Verträgen, wonach die GmbH im Fall ihrer Insolvenz nicht ausscheidet, wenn das Insolvenzverfahren auch über das Vermögen der Kommanditgesellschaft eröffnet wird2. Fehlt es wie üblich an einer gesellschaftsvertraglichen Lösung, so droht bei der Einpersonen-GmbH & Co. KG von der Anwendung des § 131 Abs. 3 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 HGB n.F.) sogar ein ernsthaftes Haftungsproblem, weil der Kommanditist, folgt man der h.M., durch die Insolvenz der GmbH als Gesamtrechtsnachfolger der Kommanditgesellschaft zum unbeschränkt haftenden Einzelkaufmann wird3. Mühsame Abhilfe schafft dann zwar eine an § 27 HGB orientierte Haftungsbeschränkung4, bzw. eine Analogie zum Nachlassinsolvenzverfahren gemäß §§ 315 ff. InsO5: Das angeblich dem Kommanditisten zugefallene bisherige KG-Vermögen wird unter Ausschluss der persönlichen Haftung wie ein insolventer Nachlass abgewickelt. Diese Lösung ist aber ein Notbehelf, dessen es nur bedarf, wenn man die GmbH mit der herrschenden Ansicht wirklich als ausgeschieden betrachtet. Hier, also bei der problemvergessenen Anwendung des § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB resp. ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F.), liegt das Grundübel der herrschenden Ansicht. Überzeugender ist eine Fortexistenz der insolventen KG und deren konsolidierte Abwicklung im Zuge der Doppelinsolvenz beider Gesellschaften6.

4. Insolvenzmassen 29.12

Im Ausgangspunkt sind die Insolvenzmassen beider Gesellschaften zu unterscheiden7. Das gilt sinngemäß auch für Anfechtungsansprüche nach §§ 129 ff., § 143 InsO. Jede der Gesellschaften macht sie für „ihre“ Masse separat geltend8. Insolvenzmasse der Kommanditgesellschaft ist deren gesamtes Eigenvermögen, also das sog. Gesamthandsvermögen der KG (zur Frage, ob es insolvenzfreies Vermögen gibt, vgl. Rz. 24.29). Dazu gehört außer dem Anlageund Umlaufvermögen des Unternehmens auch die Firma (vgl. sinngemäß Rz. 24.22). Insolvenzmasse der Komplementär-GmbH ist deren Vermögen einschließlich etwa noch ausstehender Ansprüche auf Leistung von Stammeinlagen (§ 19 GmbHG) bzw. auf Rückzahlung verbotener Ausschüttungen (§ 31 GmbHG). Ansprüche aus § 31 GmbHG stehen bei einer GmbH & Co. KG allerdings nicht der GmbH-Masse, sondern der KG-Masse zu, wenn sie auf Zahlungen aus dem KG-Vermögen beruhen9. Ansprüche dritter Gläubiger gegen die KG kön1 Vgl. OLG Hamm v. 30.3.2007 – 30 U 13/06, ZIP 2007, 584; Liebs, ZIP 2002, 1716, 1717. 2 Formulierungsempfehlung bei Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2342. 3 Dazu Liebs, ZIP 2002, 1716 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1214; s. auch Bork/Jakoby, ZGR 2005, 611, 631. 4 BGH v. 15.3.2004 – II ZR 247/01, GmbHR 2004, 952 = BB 2004, 1244 = ZIP 2004, 1047. 5 Vgl. OLG Hamm v. 30.3.2007 – 30 U 13/06, ZIP 2007, 1233, 1237 f.; Bork/Jakoby, ZGR 2005, 611, 641 ff.; LG Dresden v. 7.3.2005 – 5 T 889/04, ZIP 2005, 955; Herchen, EWiR 2005, 809 f. 6 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, vor § 315 InsO Rz. 32; Karsten Schmidt, ZIP 2008, 2337, 2344. 7 Bitter in Scholz, 12. Aufl., Vor § 64 GmbHG Rz. 283 f. 8 Vgl. BGH v. 9.10.2008 – IX ZR 138/06, ZIP 2008, 2224, Leitsatz 2. 9 Vgl. sinngemäß BGH v. 29.3.1973 – II ZR 25/70, BGHZ 60, 324; BGH v. 29.9.1977 – II ZR 157/76, BGHZ 69, 274, 280; BGH v. 19.2.1990 – II ZR 268/88, BGHZ 110, 342 = GmbHR 1990, 251 = NJW 1990, 1725 = ZIP 1990, 578; Hirte in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 414.

962 | Karsten Schmidt

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren | Rz. 29.16 § 29

nen nur im KG-Insolvenzverfahren und nicht auch im Insolvenzverfahren der persönlich haftenden Komplementär-GmbH geltend gemacht werden, weil nur der Insolvenzverwalter der Kommanditgesellschaft diese Haftungsansprüche der Gläubiger geltend macht (§ 93 InsO und dazu Rz. 29.13).

5. Persönliche Haftung Im Insolvenzverfahren der KG wird die Haftung der Komplementär-GmbH nach § 93 InsO durch den Insolvenzverwalter der Kommanditgesellschaft geltend gemacht (näher Rz. 24.193 ff.)1. Die Gläubiger der Kommanditgesellschaft melden ihre Forderungen im Fall der Doppelinsolvenz nur im KG-Insolvenzverfahren an. Die Haftung der Komplementär-GmbH ist auf die bis zur Eröffnung des KG-Insolvenzverfahrens begründeten Verbindlichkeiten beschränkt2. Nach der wohl richtigen, wenngleich umstrittenen Auffassung macht der KG-Insolvenzverwalter nach § 93 InsO gegen die GmbH nicht die Summe aller Insolvenzverbindlichkeiten geltend, sondern die am Stichtag der KG-Insolvenzeröffnung bestehende Unterdeckung, d.h. den Ausfall der KG-Insolvenzgläubiger, berechnet auf den Stichtag der Verfahrenseröffnung (vgl. dazu schon Rz. 24.196).

29.13

Nach § 171 Abs. 2 HGB macht der Verwalter der KG-Insolvenz auch die beschränkte Haftung der Kommanditisten, die an und für sich gleichfalls eine Haftung gegenüber den Einzelgläubigern der KG ist, geltend.

29.14

6. Insolvenzverfahren nur über das KG-Vermögen Wird das Insolvenzverfahren nur hinsichtlich der Kommanditgesellschaft eröffnet, so kann sich die Frage stellen, ob Gläubiger nur der Komplementär-GmbH (Beispiel: Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer) ihre Forderungen in der KG-Insolvenz geltend machen können. Dies müsste verneint werden, weil diese Gläubiger keinen Direktanspruch gegen die KG haben (unbefriedigend!). Fragen kann man auch, ob nun die GmbH analog § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F.) ausscheidet, wenn der gegen sie gerichtete Insolvenzantrag mangels Masse abgewiesen wird (vgl. Rz. 30.38)3.

29.15

7. Das Sonderrecht der Einheits-GmbH & Co. KG Die Einheits-GmbH & Co. KG ist eine Kommanditgesellschaft, die selbst Alleininhaberin ihrer Komplementär-GmbH ist4. Bei einer solchen Gestaltung ist die konsolidierte Abwicklung in der Insolvenz (Rz. 29.10) allemal angezeigt. Der BGH versteht die Einheits-GmbH & Co. KG formal in dem Sinne, dass die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH zugleich die Gesellschafterrechte in der GmbH wahrnehmen, weil sie die Komplementärin und damit auch die KG und damit wiederum die Alleingesellschafterin der GmbH vertreten5. Die Übertra1 Bitter in Scholz, 12. Aufl., Vor § 64 GmbHG Rz. 287. 2 Karsten Schmidt, ZHR 152 (1988), 114 f. 3 Vgl. Karsten Schmidt/Fleischer in Münchener Kommentar zum HGB, 5. Aufl., § 131 HGB Rz. 74; a.M. aber Roth in Hopt, § 131 HGB Rz. 22. 4 Dazu eingehend Binz/Sorg, Die GmbH & Co. KG, 11. Aufl. 2010, § 8 Rz. 6 ff.; Reichert/Liebscher, GmbH & Co. KG, 8. Aufl. 2021, § 3 Rz. 7 ff.; Lüke in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 2.461 f.; Karsten Schmidt in FS Westermann, 2008, S. 1425 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2007, 2193. 5 BGH v. 16.7.2007 – II ZR 109/06, GmbHR 2007, 1034 = BB 2007, 1914 = ZIP 2007, 1658.

Karsten Schmidt | 963

29.16

§ 29 Rz. 29.16 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

gung dieses Konzepts auf den Fall der Insolvenz fällt schwer. Den Vorzug verdient eine Zuweisung der Gesellschafterrechte an die Kommanditisten1.

29.17–29.20

Einstweilen frei.

II. Koordinationsprobleme bei Eigenverwaltung und im Insolvenzplanverfahren 1. Eigenverwaltung 29.21

Eine koordinierte Eigenverwaltung nach den §§ 270 ff. InsO setzt bei der GmbH & Co. KG voraus, dass die Komplementär-GmbH mit der Verfahrenseröffnung nicht nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB resp. ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB n.F. ausscheidet (dazu Rz. 29.8 ff.). Die Eigenverwaltung muss, wenn eine Sanierung der GmbH & Co. KG beabsichtigt ist, simultan für beide Gesellschaften beantragt und beschlossen werden2. Nur wenn die verzahnte Unternehmensorganisation der GmbH & Co. KG trotz der formellen Unterscheidung zweier Insolvenzverfahren bestehen bleibt, ist gewährleistet, dass eine Sanierung durch eine abgestimmte Eigenverwaltung nach den §§ 270 ff. InsO erfolgen kann. Eigenverwaltung bedeutet Kontinuität des Managements in der insolventen GmbH & Co. KG. Der oder die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH sind zur Eigenverwaltung auch bezüglich der Kommanditgesellschaft befugt, nicht etwa ein Insolvenzverwalter der GmbH. Sie bleiben für die Wahrnehmung der Schuldnerbelange im Insolvenzverfahren sowohl hinsichtlich der Komplementär-GmbH als auch hinsichtlich der Kommanditgesellschaft zuständig. Lediglich die Haftungsabwicklung verläuft hinsichtlich der Masseverbindlichkeiten für jede Gesellschaft getrennt. Die Insolvenzforderungen der Unternehmensgläubiger werden auf der Grundlage des § 93 InsO auch im Fall der Eigenverwaltung durch den Sachwalter der KG abgewickelt3. Große Bedeutung dürfte dies, wenn die Eigenverwaltung mit Sanierungszielen betrieben wird, nicht haben, weil die Unternehmensverbindlichkeiten im Innenverhältnis solche der Kommanditgesellschaft sind (vgl. §§ 110, 161 Abs. 2 HGB). Wie generell bei der Eigenverwaltung bleiben die Gesellschafter berechtigt, glücklose oder unfähige Geschäftsführer nach § 46 Nr. 5 GmbHG abzuberufen und einen oder mehrere neue Geschäftsführer für die GmbH zu bestellen, und zwar auch noch im eröffneten Verfahren.

2. Insolvenzplanverfahren 29.22

Auch das Insolvenzplanverfahren der GmbH & Co. KG wirft Koordinationsprobleme auf (näher zum Insolvenzplanverfahren in Rz. 31.1 ff.)4. Ist sowohl über das Vermögen der GmbH & Co. KG als auch der Komplementär-GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet worden, bleiben der oder die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH berechtigt, gemäß § 218 Abs. 1 Satz 1 InsO einen Insolvenzplan vorzulegen, der die Sanierung der GmbH & Co. KG vorsieht. Im Mittelpunkt steht auch hier die KG-Insolvenz (Rz. 34.2). Soll die GmbH & Co. KG als Ganzes saniert werden, so ist auf Vorlage eines inhaltlich konsolidierten Insolvenzplans zu achten5, 1 Eingehend Karsten Schmidt in Scholz, 12. Aufl., Anh. § 45 GmbHG Rz. 58 ff. 2 Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 628, 629 f.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1216. 3 Eingehend Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 628, 632 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1216 f. 4 Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 628, 632 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1216 f. 5 Vgl. Karsten Schmidt in FS Binz, 2014, S. 628, 632 ff.; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1216 f.

964 | Karsten Schmidt

§ 29 Die GmbH & Co. KG im gerichtlichen Insolvenzverfahren | Rz. 29.22 § 29

obwohl technisch zwei Pläne in zwei Insolvenzverfahren vorliegen. Dadurch wird das Gericht zu einer Simultanentscheidung über beide Insolvenzplanbestätigungen angehalten und kann keine Bestätigung ohne die andere aussprechen. Kommt ein Insolvenzplan für die GmbH & Co. KG zu Stande, so ist sie nach dessen Durchführung gemäß § 227 Abs. 1 InsO von ihren restlichen Verbindlichkeiten gegenüber ihren Gläubigern befreit1. Für die Komplementär-GmbH hat dies zur Folge, dass sie von der persönlichen Haftung nach den § 161 Abs. 2, § 128 HGB resp. ab 1.1.2024: § 126 HGB n.F. ebenfalls befreit wird (§ 227 Abs. 2 InsO)2. Da durch die Bestätigung des Insolvenzplans bei der GmbH & Co. KG, soweit im Insolvenzplan nichts anderes bestimmt ist, zugleich auch der Umfang der persönlichen Haftung der Komplementär-GmbH begrenzt wird, ist immer zu überlegen, ob die Vorlage eines Insolvenzplans für die KG nicht ausreicht, um eine Simultansanierung unter Beibehaltung der vorhandenen Organisation herbeizuführen. Ist dagegen ein Austausch der Komplementärin vorgesehen, so kann auch dies durch eine koordinierte Abwicklung beider Verfahren auch dadurch herbeigeführt werden, dass nur für die Kommanditgesellschaft ein Insolvenzplan erarbeitet und dieser nach § 249 InsO unter die Bedingung gestellt wird, dass die Komplementär-GmbH ausscheidet und dass die Kommanditisten eine neue – vielleicht nicht mehr von ihnen, sondern von einzelnen Gläubigern beherrschte – GmbH aufnehmen3. Der Ausschluss der Komplementärin kann seit 2012 (ESUG) auch unmittelbar im KG-Insolvenzplan beschlossen und vollzogen werden (Rz. 34.2). Durch das Ausscheiden der Komplementär-GmbH löst sich das GmbH-Insolvenzverfahren bei der Simultaninsolvenz vom KG-Insolvenzverfahren und kann gemäß § 213 InsO mit Zustimmung der Gläubiger eingestellt werden.

1 Vgl. Lüke in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 10.135. 2 So Lüke in Hesselmann/Tillmann/Mueller-Thuns, Handbuch GmbH & Co. KG, 22. Aufl. 2020, Rz. 10.135; Karsten Schmidt in Münchener Kommentar zum HGB, Anh. § 158 HGB Rz. 53. 3 Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1217.

Karsten Schmidt | 965

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen I. Die Beendigung des Insolvenzverfahrens 30.1

Das Insolvenzverfahren endet im Regelfall durch Aufhebung. Bei einer vorzeitigen Beendigung etwa wegen des Fehlens einer hinreichenden Masse (§§ 207, 208 InsO), des Wegfalls des Eröffnungsgrundes (§ 212 InsO) oder der Zustimmung der Insolvenzgläubiger (§ 213 InsO) spricht man von einer Einstellung des Verfahrens.

1. Die Aufhebung des Insolvenzverfahrens a) Die Aufhebung des Regelinsolvenzverfahrens (§ 200 InsO) 30.2

Nachdem der Insolvenzverwalter die Insolvenzmasse an die Insolvenzgläubiger ausgekehrt hat, hebt das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren auf. Hierdurch verliert der Insolvenzverwalter seine Amtsstellung und mit ihr sämtliche Befugnisse im Hinblick auf das schuldnerische Vermögen. Die Bücher und Schriften einer Gesellschaft, die im Verfahren vollbeendigt worden ist (vgl. Rz. 30.35), muss der Insolvenzverwalter nach § 74 Abs. 2 GmbHG einem Gesellschafter oder einem Dritten übergeben, der sie zehn Jahre aufzubewahren hat. In der Praxis wird der Verwalter oft über die Finanzämter Druck auf einen der Gesellschafter ausüben müssen, die Unterlagen zu übernehmen1.

b) Die Aufhebung des Planinsolvenzverfahrens (§ 258 InsO) 30.3

Sobald die Bestätigung des Insolvenzplans rechtskräftig ist, hebt das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren gemäß § 258 InsO durch einen selbstständigen Beschluss förmlich auf. Hierdurch gewinnt die Gesellschaft die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Massegegenstände zurück und der Verwalter verliert seine Amtsstellung (§ 259 Abs. 1 InsO). Der Beschluss ist unanfechtbar2. Einzelheiten zur Aufhebung nach §§ 258 ff. InsO bei Rz. 33.7 ff.

2. Einstellung wegen Massearmut oder Masseunzulänglichkeit (§§ 207, 208 ff. InsO) 30.4

Ergibt sich während des Verfahrens, dass die Masse nicht genügt, um die Kosten des Verfahrens zu decken („Massearmut“), muss das Verfahren gemäß § 207 InsO vorbehaltlich der Zahlung eines Vorschusses von Amts wegen eingestellt werden. Diese Situation, in der nicht einmal die Kosten gedeckt sind, ist von der so genannten „Masseunzulänglichkeit“ (§ 208 InsO) abzugrenzen. Masseunzulänglichkeit liegt vor, wenn die Masse zwar genügt, um die Kosten, nicht aber die Masseverbindlichkeiten zu decken (s. Rz. 30.10). Für beide Fälle enthalten die §§ 207–211 InsO gesetzliche Notordnungen, die dazu dienen, die Entstehung wei1 OLG Düsseldorf v. 31.5.2010 – 3 Wx 104/10, DZWIR 2011, 166 = GmbHR 2010, 817; Zipperer in FS Kübler, 2015, S. 859 ff.; Förster/Tost, ZInsO 1998, 297, 299; Windel in Jaeger, § 207 InsO Rz. 107; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, § 200 InsO Rz. 13. 2 Auch die Rechtspflegererinnerung kommt nicht in Betracht, da seit dem 1.1.2013 das Planverfahren nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 RPflG dem Richter vorbehalten ist.

966 | Brinkmann

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.7 § 30

terer Verluste zu vermeiden und das Insolvenzverfahren zu einem förmlichen Abschluss zu bringen1.

a) Die Einstellung wegen Massearmut (§ 207 InsO) aa) Die Feststellung der Massearmut Zu den bei der Prüfung der Massearmut i.S. von § 207 InsO auf der Passivseite zu berücksichtigenden Posten gehören nach § 54 InsO die Gerichtskosten sowie die Vergütung und die Auslagen des (vorläufigen) Insolvenzverwalters2 bzw. der Mitglieder des Gläubigerausschusses3. Auf der Aktivseite sind alle liquiden Vermögenswerte anzusetzen. Nicht liquide Aktiva können nur in Ansatz gebracht werden, wenn sie während des Zeitraums liquide werden, innerhalb dessen die Massekosten zu begleichen sind4.

30.5

Die zur Beurteilung der Massearmut erforderlichen Informationen muss der Insolvenzverwalter dem Insolvenzgericht verschaffen5. Vor der Einstellung hört das Gericht die Gläubigerversammlung, den Insolvenzverwalter und die Massegläubiger an (§ 207 Abs. 2 InsO).

30.6

bb) Die Abwicklung des Insolvenzverfahrens bei Massearmut Wird kein Kostenvorschuss nach § 207 Abs. 1 Satz 2 InsO gezahlt, muss das Verfahren abgewickelt werden. Hierzu verteilt der Verwalter die in der Masse befindlichen Barmittel an die Kostengläubiger anhand der Verteilungsordnung des § 207 Abs. 3 Satz 1 InsO. Verwertungsmaßnahmen, die freie Mittel generieren können, braucht er gemäß § 207 Abs. 3 Satz 2 InsO nicht mehr vorzunehmen, soweit hierdurch weitere Kosten entstünden. Die Massegläubiger sind während der Abwicklungsphase analog § 210 InsO daran gehindert, ihre Ansprüche im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen6.

1 Rechtspolitisch wird kritisiert, dass das Gesetz Massearmut und Masseunzulänglichkeit, die sich nur graduell als verschiedene Formen der Massedürftigkeit unterscheiden, qualitativ unterschiedlich regelt. Welche Form der Massedürftigkeit vorliegt, kann umstritten sein und sollte innerhalb eines einheitlichen Verfahrens geklärt werden können: Windel in Jaeger, § 207 InsO Rz. 10; Pape/ Hauser, Massearme Verfahren nach der InsO, 2002, S. 79, Rz. 173. Kritisch auch Häsemeyer, Insolvenzrecht, 2007, S. 199 Rz. 7.77; Häsemeyer in FS Gerhardt, 2004, S. 341, 344 f. 2 Zu den Auslagen des Insolvenzverwalters gehören auch Steuerberatungskosten, BGH v. 22.7.2004 – IX ZB 161/03, BGHZ 160, 176 = ZIP 2004, 1717 = NZI 2004, 577, 580 m. Anm. Bernsau = DZWIR 2004, 468, 471 f. m. Anm. Graeber; Gerke/Sietz, NZI 2005, 373; Pape, ZInsO 2004, 1049, 1051; Wienberg/Voigt, ZIP 1999, 1662, 1665 ff. 3 Windel in Jaeger, § 207 InsO Rz. 34; Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1698. 4 Windel in Jaeger, § 207 InsO Rz. 47; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 19, 26. 5 BGH v. 16.7.2009 – IX ZB 221/08, NZI 2009, 602 = ZIP 2009, 1591; BGH v. 21.9.2006 – IX ZB 11/ 04, ZInsO 2006, 1049, 1051 = ZIP 2006, 1999; BGH v. 21.9.2006 – IX ZB 11/04, NZI 2006, 697; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 40; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 207 InsO Rz. 3; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 207 InsO Rz. 9; Westphal in Nerlich/Römermann, § 207 InsO Rz. 19; Ries in Uhlenbruck, § 207 InsO Rz. 16. 6 BGH v. 21.9.2006 – IX ZB 11/04, ZIP 2006, 1999; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 68; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 207 InsO Rz. 32; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 207 InsO Rz. 26 a.E. A.A. Wimmer in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 72 Rz. 44, der eine analoge Anwendung des § 210 InsO ablehnt und den Verwalter auf die Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 767 ZPO verweist.

Brinkmann | 967

30.7

§ 30 Rz. 30.8 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

cc) Der Einstellungsbeschluss nach § 207 InsO

30.8

Nachdem der Verwalter die Barmittel verteilt hat, erlässt das Insolvenzgericht den Einstellungsbeschluss und macht diesen gemäß §§ 215, 9 InsO bekannt. Gegen den Beschluss ist für jeden Insolvenzgläubiger und den Schuldner gemäß § 216 InsO die sofortige Beschwerde statthaft. Der Insolvenzverwalter ist nicht beschwerdebefugt, er kann allenfalls Rechtspflegererinnerung (§ 11 Abs. 1 RPflG) einlegen1. dd) Rechtsfolgen der Einstellung mangels Masse

30.9

Nach der Einstellung muss der Insolvenzverwalter noch vorhandene Vermögensgegenstände zusammen mit den Geschäftsunterlagen2 an die Gesellschaft herausgeben, damit die Gesellschaft durch ein Liquidationsverfahren vollbeendigt werden kann3. Eine Löschung nach § 394 FamFG kommt nur dann in Betracht, wenn die Gesellschaft über gar kein Vermögen mehr verfügt (vgl. Rz. 30.57)4. Die Gesellschaft wird nach § 66 Abs. 1 GmbHG durch die bisherigen Geschäftsführer liquidiert, und zwar auch dann, wenn der Insolvenzverwalter das Anstellungsverhältnis nach § 113 InsO gekündigt hat5. Stellen die Geschäftsführer nach der Einstellung des Verfahrens fest, dass die Gesellschaft doch noch über verteilungsfähiges Vermögen verfügt, so müssen sie das Insolvenzgericht darauf hinweisen, um Nachtragsverteilungen zu ermöglichen, die nach neuerer Rechtsprechung analog § 211 Abs. 3 InsO auch bei Einstellung wegen Massearmut zulässig sind6.

b) Die Einstellung wegen Masseunzulänglichkeit (§§ 208, 211 Abs. 1 InsO) 30.10

Ist genügend Masse vorhanden, um die Massekosten vollständig zu begleichen, reichen die Aktiva aber nicht aus, um auch die anderen Masseverbindlichkeiten des § 55 InsO vollständig zu erfüllen, liegt Masseunzulänglichkeit i.S. von § 208 InsO vor.

1 BGH v. 26. 4. 2007 – IX ZB 221/04, NZI 2007, 406. Rechtspolitisch kritisch, insbesondere weil dem Verwalter auch kein Rechtsmittel abgesehen von der Rechtspflegererinnerung gegen die Ablehnung der Einstellung zusteht, Windel in Jaeger, § 207 InsO Rz. 10, 113. 2 Vgl. OLG Hamm v. 3.7.1974 – 5 U 95/64, NJW 1964, 2355; OLG Stuttgart v. 3.1.1984 – 8 W 477/ 83, ZIP 1984, 1385 = GmbHR 1984, 240; Ries in Uhlenbruck, § 207 InsO Rz. 57; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 79. § 74 GmbHG ist nicht anwendbar, da die von dieser Vorschrift angeordnete Herausgabe an einen Gesellschafter oder einen Dritten erst nach dem Ende der Liquidation stattfindet. 3 Vgl. Karsten Schmidt in FS Ulmer, 2003, S. 323, 328 f.; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 54; Ries in Uhlenbruck, § 207 InsO Rz. 54. 4 Zur Lehre vom Doppeltatbestand s. BGH v. 23.2.1970 – II ZB 5/69, BGHZ 53, 264; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 66; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 74 GmbHG Rz. 15; Mohrbutter/Ringstmeier/Pape, Handbuch Insolvenzverwaltung, § 12 Rz. 64; Ries in Uhlenbruck, § 207 InsO Rz. 54; Uhlenbruck, KTS 1998, 223, 234. 5 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 66 GmbHG Rz. 1; M. Stobbe, Die Durchsetzung gesellschaftsrechtlicher Ansprüche der GmbH in Insolvenz und masseloser Liquidation, 2001, S. 143, Rz. 293; vgl. auch OLG Zweibrücken v. 5.12.2002 – 4 U 231/96, ZIP 2003, 1954, 1955. 6 BGH v. 10.10.2013 – IX ZB 40/13, ZIP 2013, 2320; BGH v. 16.1.2014 – IX ZB 122/12, WM 2014, 328; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 207 InsO Rz. 39; Wimmer in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 72 Rz. 49, Kießner in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 39 ff. A.A. noch LG Darmstadt v. 29.5.2001 – 5 T 794/00, RPfleger 2001, 512 m. Anm. Kneller; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 207 InsO Rz. 85; Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1707.

968 | Brinkmann

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.13 § 30

aa) Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Verwalter

Der Verwalter ist verpflichtet1, dem Insolvenzgericht die Masseunzulänglichkeit anzuzeigen, sobald er feststellt, dass die verfügbare Masse auch unter Ausschöpfung von Vorfinanzierungsmöglichkeiten2 nicht genügen wird, um die fälligen Masseverbindlichkeiten zu decken (§ 208 Abs. 1 InsO). Das Insolvenzgericht macht die Anzeige gemäß § 208 Abs. 2 InsO bekannt; sie ist für das Insolvenzgericht bindend3. Erst in einem Haftungsprozess kann die Berechtigung der Anzeige überprüft werden, wobei dem Verwalter vom BGH ein weiter Handlungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt wird4. Aus haftungsrechtlicher Sicht hat eine berechtigte Anzeige der Masseunzulänglichkeit für den Verwalter die Konsequenz, dass er neue Masseverbindlichkeiten begründen kann, die gemäß § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO im zweiten Rang nach den Kosten zu befriedigen sind, so dass er insoweit der persönlichen Haftung des § 61 InsO entgeht5. Eine Rückkehr in das Regelverfahren ist möglich, wenn der Verwalter glaubhaft macht, dass die Masse wieder „zulänglich“ in dem Sinn ist, dass sie zur Deckung der Masseverbindlichkeiten genügt6.

30.11

bb) Die Abwicklung des Insolvenzverfahrens nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit Auch nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit ist der Verwalter weiterhin verpflichtet, die Masse zu verwalten und zu verwerten. Verwertungshandlungen, die nicht gedeckte Kosten produzieren würden, sollen jedoch nicht vorgenommen werden7.

30.12

Aus den vorhandenen und durch weitere Verwertungsmaßnahmen gewonnenen Barmitteln hat der Verwalter die Massegläubiger entsprechend der in § 209 InsO bestimmten Rangfolge zu befriedigen. Infolge des Vollstreckungsverbots aus § 210 InsO können Massegläubiger während dieser Phase ihre Forderungen nicht durchsetzen. Gegen verbotswidrige Vollstreckungen ist für den Verwalter die Vollstreckungserinnerung (§ 766 ZPO) statthaft8.

30.13

1 Die Anzeigepflicht ist eine Amtspflicht: BGH v. 19.11.2009 – IX ZB 261/08, ZIP 2010, 145; Westphal in Nerlich/Römermann, § 208 InsO Rz. 19; Ries in Uhlenbruck, § 208 InsO Rz. 16; Runkel/ Schnurbusch, NZI 2000, 49, 51; Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1700. 2 AG Hamburg v. 2.2.2000 – 67c 157/99, NZI 2000, 140; Hölzle in Kayser/Thole, § 208 InsO Rz. 7; Weitzmann in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 208 InsO Rz. 10; Kröpelin, Die massearme Insolvenz, 2003, S. 77–84, Rz. 173–192; Ries in Uhlenbruck, § 208 InsO Rz. 22; Uhlenbruck, NZI 2001, 408, 409. 3 BGH v. 3.4.2003 – IX ZR 101/02, ZIP 2003, 914. Kritisch Windel in Jaeger, § 208 InsO Rz. 35 m.w.N.; Dinstühler, ZIP 1998, 1997, 1701 f.; Hölzle in Kayser/Thole, § 208 InsO Rz. 11; Runkel/ Schnurbusch, NZI 2000, 49, 51 f. Der Unüberprüfbarkeit positiv gegenüberstehend etwa Förster, ZInsO 2005, 28 f. 4 BGH v. 20.7.2017 – IX ZR 310/14, ZIP 2017, 1571 Rz. 24. 5 Zum Eintritt einer erneuten Masseunzulänglichkeit, die zur nur teilweisen Befriedigung der neuen Masseverbindlichkeiten führt, Thole, ZIP 2018, 2241. 6 Hierzu bedarf es analog § 212 InsO eines Antrags, in dem der Verwalter die Massezulänglichkeit glaubhaft macht, und eines entsprechenden Beschlusses, Windel in Jaeger, § 208 InsO Rz. 46 f.; A. Schmidt, NZI 1999, 442, 443; Pape, ZInsO 2001, 60, 62; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 208 InsO Rz. 55; Dinstühler, ZIP 1998, 1697, 1705; Uhlenbruck, NZI 2001, 408, 409. A.A. Ludwig in Braun, § 208 InsO Rz. 34; Kießner in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 208 InsO Rz. 28; Ries in Uhlenbruck, § 208 InsO Rz. 62. 7 Ähnlich Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 208 InsO Rz. 20; Pape/Hauser, Massearme Verfahren nach der InsO, 2002, S. 156 ff., Rz. 358 ff.; Kröpelin, Die massearme Insolvenz, 2003, S. 92 f., Rz. 207; Windel in Jaeger, § 208 InsO Rz. 72 f. 8 BGH v. 21.9.2006 – IX ZB 11/04, ZIP 2006, 1999; OLG München v. 30.4.2003 – 11 W 2839/01, ZIP 2004, 138; LG Trier v. 18.1.2005 – 4 T 26/04, NZI 2005, 170; Karsten Schmidt/Brinkmann in

Brinkmann | 969

§ 30 Rz. 30.14 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

30.14

Die Befriedigung der Massegläubiger kann gemäß § 210a InsO nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit auch in einem Insolvenzplan geregelt werden. In diesem Fall rücken die Massegläubiger durch § 210a InsO in die planverfahrensrechtliche Stellung ein, die im normalen Planverfahren den Insolvenzgläubigern zukommt, während diese in die Position zurückgestuft werden, die sonst die nachrangigen Insolvenzgläubiger einnehmen. In der Praxis wird die Ausarbeitung eines Insolvenzplans nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit nur dann sinnvoll sein, wenn diese voraussichtlich temporär ist, so dass mit einer Rückkehr in das ordentliche Insolvenzverfahren zu rechnen ist1. cc) Einstellungsbeschluss nach Befriedigung der Massegläubiger (§ 211 InsO)

30.15

Sobald der Verwalter die Masse nach § 209 InsO verteilt hat, stellt das Insolvenzgericht das Verfahren ein und macht den Beschluss bekannt. Gegen den Beschluss ist allenfalls die Rechtspflegererinnerung statthaft. Die Rechtsfolgen entsprechen im Übrigen denen des Einstellungsbeschlusses nach § 207 InsO (Rz. 30.8).

3. Die Einstellung wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes (§ 212 InsO) 30.16

Auf Antrag des Schuldners wird das Insolvenzverfahren eingestellt, wenn kein Eröffnungsgrund mehr vorliegt. Das Fehlen eines Eröffnungsgrunds ist vom Antragsteller glaubhaft zu machen. Hierzu müssen die Geschäftsführer einen aktuellen Finanzstatus und einen auf mindestens eineinhalb Jahre angelegten Finanzplan vorlegen, aus dem die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft hervorgeht2.

30.17

Nach herrschender Meinung muss der Antrag von sämtlichen organschaftlichen Vertretern des Schuldners gemeinsam gestellt werden, um widersprüchliches Verhalten zu verhindern3. In der führungslosen GmbH müssen analog § 15a Abs. 3 InsO i.V.m. § 15 Abs. 1 InsO alle Gesellschafter gemeinsam den Antrag stellen. Folgt man für die Doppelinsolvenz von KG und Komplementär-GmbH dem Vorschlag, § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB) teleologisch zu reduzieren (Rz. 29.7), muss der Antrag in der Insolvenz der KG namens der GmbH von den (früheren) GmbH-Geschäftsführern gestellt werden4.

30.18

Das Gericht prüft gegebenenfalls nach Anhörung widersprechender Gläubiger (§ 214 Abs. 1 Sätze 1 und 2 InsO), ob ein Insolvenzgrund vorliegt5. Auch Insolvenzverfahren, in denen eine Quote

1 2

3

4 5

Münchener Kommentar zur ZPO, § 766 ZPO Rz. 33; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 210 InsO Rz. 4; Ries in Uhlenbruck, § 210 InsO Rz. 7. Ebenfalls skeptisch zum Insolvenzplanverfahren Windel in Jaeger, § 208 InsO Rz. 87 f.; Häsemeyer in FS Gerhardt, 2004, S. 341, 350 ff.; Kluth, ZInsO 2000, 177, 184 f. BGH v. 7.10.2010 – IX ZB 1/10, NZI 2011, 21; OLG Celle v. 7.9.2000 – 2 W 69/00, ZIP 2000, 1943; AG Hamburg v. 26.4.2006 – 67c IN 312/05, ZIP 2006, 1688; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 212 InsO Rz. 11; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 212 InsO Rz. 5 f.; Möhlmann, KTS 1998, 373, 374 ff. OLG Celle v. 7.9.2000 – 2 W 69/00, ZIP 2000, 1943; AG Hamburg v. 26.4.2006 – 67c IN 312/05, ZIP 2006, 1688; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 212 InsO Rz. 7. A.A. Windel in Jaeger, § 212 InsO Rz. 19 f.; Hölzle in Kayser/Thole, § 212 InsO Rz. 3; Fölsing, ZInsO 2016, 1506, 1508. Der BGH hat die Frage offen gelassen, BGH v. 24.3.2016 – IX ZB 32/15, ZIP 2016, 817 Rz. 15 = GmbHR 2016, 587 m. Anm. Wagner. OLG Celle v. 7.9.2000 – 2 W 69/00, ZIP 2000, 1943. BGH v. 18.6.2009 – IX ZA 13/09, NZI 2009, 517; BGH v. 6.2.2003 – IX ZB 287/02, ZInsO 2003, 216; OLG Celle v. 7.9.2000 – 2 W 69/00, NZI 2001, 28 = ZInsO 2000, 558, 559; LG Göttingen v. 3.11.2008 – 10 T 119/08, NZI 2008, 751.

970 | Brinkmann

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.30 § 30

von 100 % absehbar ist, sind nicht zwingend nach § 212 InsO einzustellen, da bei der Prüfung des Vorliegens eines Insolvenzgrunds die künftige Entwicklung nach einer Einstellung des Verfahrens zu berücksichtigen ist. Die Überschrift des § 212 InsO ist in mehrfacher Hinsicht irreführend: Einerseits ist der Antrag auch dann begründet, wenn ein Eröffnungsgrund von vornherein nicht vorgelegen hat1. Andererseits ist der Antrag nach § 212 InsO nicht begründet, wenn nunmehr ein anderer Insolvenzgrund vorliegt als derjenige, auf den sich das Gericht bei der Eröffnung gestützt hat2. Allein der Wegfall der Forderung des antragstellenden Gläubigers nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens reicht nicht aus, um die Voraussetzungen des § 212 InsO zu erfüllen3. Der Einstellungsbeschluss kann erst ergehen, nachdem der Insolvenzverwalter die unstreitigen Masseverbindlichkeiten beglichen und für die streitigen Masseverbindlichkeiten Sicherheit geleistet hat (§ 214 Abs. 3 InsO). Gegen einen Einstellungsbeschluss steht jedem Insolvenzgläubiger die sofortige Beschwerde zu (§ 216 Abs. 1 InsO). Lehnt das Insolvenzgericht die Einstellung ab, ist für den Insolvenzschuldner die sofortige Beschwerde eröffnet (§ 216 Abs. 2 InsO).

30.19

Durch eine Einstellung nach §§ 212, 214 InsO verliert der Insolvenzverwalter unmittelbar seine Amtsstellung, der Schuldner erhält die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zurück (§ 215 Abs. 2 InsO). Handlungen des Verwalters, die er während des Verfahrens vorgenommen hat – wie etwa eine Erfüllungswahl nach § 103 InsO oder Kündigungen –, bleiben wirksam. Bei anhängigen Prozessen findet ein Parteiwechsel statt, auf den § 239 ZPO analog anzuwenden ist4. Anfechtungsklagen erledigen sich durch die Einstellung des Insolvenzverfahrens5.

30.20

4. Die Einstellung aufgrund einstimmigen Beschlusses der Insolvenzgläubiger (§ 213 InsO) Einem Antrag des Schuldners auf Einstellung des Insolvenzverfahrens ist stattzugeben, wenn der Schuldner Zustimmungserklärungen sämtlicher Insolvenzgläubiger beibringt. Erforderlich ist die Zustimmung aller Gläubiger, die Insolvenzforderungen angemeldet haben und deren Ansprüche nicht voll beglichen wurden. Bei Forderungen, die bestritten wurden, sowie bei Forderungen, für die Absonderungsrechte bestehen, entscheidet das Gericht, inwieweit Zustimmungen beigebracht werden müssen (§ 213 Abs. 1 Satz 2 InsO). Gegen den Einstellungsbeschluss ist für jeden Insolvenzgläubiger die sofortige Beschwerde statthaft (§ 216 Abs. 1 InsO).

30.21

Gerade bei der koordinierten Sanierung eines Konzerns könnte der Weg über § 213 InsO interessant sein, um das Verfahren über eine Konzerngesellschaft – z.B. die Holding – rasch zu beenden.

30.22

Einstweilen frei.

30.23–30.30

1 Offen gelassen von BGH v. 7.10.2010 – IX ZB 1/10, NZI 2011, 20 Rz. 6. 2 Windel in Jaeger, § 212 InsO Rz. 12; Hölzle in Kayser/Thole, § 212 InsO Rz. 2; Pape in Kübler/ Prütting/Bork, § 212 InsO Rz. 1; Westphal in Nerlich/Römermann, § 212 InsO Rz. 4. 3 BGH v. 7.10.2010 – IX ZB 1/10, NZI 2011, 21; BGH v. 27.7.2006 – IX ZB 12/06, NJOZ 2006, 3525, 3527 = ZVI 2006, 564, 565; BGH v. 27.7.2006 – IX ZB 204/04, BGHZ 169, 17 = NZI 2006, 693 = NJW 2006, 3553 = ZIP 2006, 1957, 1960 Rz. 19; Ludwig in Braun, § 212 InsO Rz. 5. 4 Vgl. FG Berlin Brandenburg v. 23.5.2007 – 3 K 1407/03 B; Windel in Jaeger, § 80 InsO Rz. 207 f.; Hefermehl in Münchener Kommentar zur InsO, § 215 InsO Rz. 11; Wegener in Uhlenbruck, § 200 InsO Rz. 22: Ob das Verfahren unterbrochen wird, hängt analog § 246 ZPO davon ab, ob sich der Verwalter hat vertreten lassen. 5 BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 206/08, DZWIR 2010, 199 = ZIP 2010, 102; BGH v. 2.4.2009 – IX ZB 182/08, NZI 2009, 313 ff. = ZIP 2009, 825; Ries in Uhlenbruck, § 215 InsO Rz. 8; Westphal in Nerlich/Römermann, § 215 InsO Rz. 13; Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 207 InsO Rz. 44.

Brinkmann | 971

§ 30 Rz. 30.31 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

II. Fortsetzung oder Abwicklung der Gesellschaft 1. Fortsetzung der Gesellschaft durch Gesellschafterbeschluss 30.31

a) Die Zulässigkeit einer Fortsetzung der Gesellschaft ist in § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG teilweise, nämlich für zwei Fälle, geklärt1: für den Fall der Aufhebung nach Bestätigung eines Insolvenzplans (§ 258 InsO) und für den Fall der Einstellung des Insolvenzverfahrens auf Antrag der Schuldnerin (§§ 212 ff. InsO). Nicht ausdrücklich im Gesetz vorgesehen ist die Fortsetzung der Gesellschaft in den sonstigen Fällen der Verfahrensbeendigung (vgl. zu diesen Fällen Rz. 30.1 ff.). Dabei soll es nach der vorherrschenden Auffassung bleiben. Begründet wird dies mit dem Gesetzeswortlaut und dem Bedürfnis nach Gläubigerschutz sowie dem Fehlen eines unabweisbaren Bedürfnisses nach weiterer Zulassung einer Fortsetzung. Der Verfasser bevorzugt die Gegenansicht, die die Fortsetzung auch in anderen als den in § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG genannten Fällen zulässt2. Die Fortsetzungsfähigkeit aufgelöster Gesellschaften ist Resultat fortgebildeten Rechts, wonach grundsätzlich jeder Auflösungsgrund durch Fortsetzung behoben werden kann (vgl. auch Rz. 41.14). Das gilt entgegen der h.M. auch für eine nach § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG wegen Masselosigkeit aufgelöste Gesellschaft3, vorausgesetzt, dass noch nicht mit der Vermögensverteilung begonnen worden ist (vgl. Rz. 23.4). Die Problemlösung besteht nicht in einem Verbot der Fortsetzung, sondern in den Mindestanforderungen, die an die Fortsetzung zu stellen sind. Die Fortsetzung aufgelöster Gesellschaften ist zulässig, wenn die aufgelöste Gesellschaft noch nicht erloschen, der Auflösungsgrund beseitigt und noch nicht mit der Vermögensverteilung begonnen worden ist4. Anders verhält es sich mit der Löschung nach § 394 FamFG wegen Vermögenslosigkeit. Eine Gesellschaft, die kein verteilungsfähiges Vermögen mehr hat, steht nicht mehr vor der Alternative, ihr Vermögen auszuschütten oder den Auflösungsgrund zu beheben. Hier kommt eine Fortsetzung nicht in Betracht5.

30.32

b) Die Behebung des Auflösungsgrundes, also der Insolvenz, ist unerlässlich. Die bloße Beseitigung der Masselosigkeit macht eine Gesellschaft nicht fortführungsfähig. Das bedeutet, da die Gesellschaft bereits insolvent ist: Beseitigt werden muss die rechnerische Überschuldung. Die nach Liquidationswerten bewerteten Aktiven müssen also die Passiven übersteigen6. Um die Insolvenzreife zu beseitigen, müssen die Gesellschafter i.d.R. neben dem Fortsetzungsbeschluss eine Kapitalerhöhung durchführen. Die Zuführung von Gesellschafterdarlehen genügt nur, wenn sie mit einer Rangrücktrittsklausel verbunden ist. Ob sogar die Wiederherstellung eines dem (Mindest-)Stammkapital entsprechenden Gesellschaftsvermögens (bei der 25.000 Euro-GmbH also die Beseitigung einer Unterbilanz) zu verlangen ist7, ist zu

1 Der folgende Text ist angelehnt an Karsten Schmidt in Scholz, 9. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 88 (jetzt Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 233 ff.). 2 Vgl. LG Berlin v. 12.3.1971 – 92 T 4/71, BB 1971, 759 = MDR 1971, 848; Altmeppen, § 60 GmbHG Rz. 35; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 95. 3 Altmeppen, § 60 GmbHG Rz. 55 ff.; a.M. BGH v. 8.10.1979 – II ZR 257/78, BGHZ 75, 178, 180 = GmbHR 1980, 83 = NJW 1980, 233 (für AG); KG v. 1.7.1993 – 1 W 6135/92, DB 1993, 1918 = GmbHR 1993, 822; BayObLG v. 14.10.1993 – 3 Z BR 116/93, GmbHR 1994, 189 = DB 1993, 2523 = NJW 1994, 594; OLG Düsseldorf v. 17.11.1992 – 3 W 412/92, GmbHR 1993, 231 = ZIP 1993, 214. 4 Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 91 ff.; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 96 ff. 5 Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 98. 6 Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 240. 7 Vgl. LG Berlin v. 12.3.1971 – 92 T 4/71, BB 1971, 759 = MDR 1971, 848.

972 | Karsten Schmidt

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.35 § 30

bezweifeln1. Verlangt wird sie allerdings vom BGH im Fall einer „wirtschaftlichen Neugründung (Mantelverwendung)“2.

c) Der Beschluss wird mit qualifizierter (3/4-)Mehrheit gefasst3. Er ist, sofern nicht darin eine Satzungsänderung enthalten ist, formfrei4, ist jedoch in das Handelsregister einzutragen5. Konstitutive Wirkung nach § 54 Abs. 3 GmbHG hat diese Eintragung jedoch nur, soweit es um eine etwa mit der Fortsetzung einhergehende Satzungsänderung (z.B. Kapitalerhöhung) geht.

30.33

d) Rechtsfolge des Fortsetzungsbeschlusses ist die Beendigung des Auflösungsstadiums6. Die Gesellschaft tritt in das werbende Stadium zurück. Falls nicht mehr vorhanden, müssen Geschäftsführer bestellt werden. Rechtshandlungen des Insolvenzverwalters, die gegenüber der Masse wirksam waren, muss die GmbH auch jetzt noch gegen sich gelten lassen.

30.34

2. Vollabwicklung der GmbH im Insolvenzverfahren a) Der Regierungsentwurf der Insolvenzordnung hatte noch den folgenden § 1 Abs. 2 Satz 3 enthalten: „Bei juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit tritt das Verfahren an die Stelle der gesellschafts- oder organisationsrechtlichen Abwicklung.“ Das ist geltendes Recht7. Nur aus redaktionellen Gründen hat der Gesetzgeber diese Klarstellung aus dem Gesetz gestrichen. Insbesondere zeigt § 199 Satz 2 InsO – eine kaum zur praktischen Anwendung gelangende, jedoch systematisch vielsagende Regelung über die Verteilung etwaiger Überschüsse an die Gesellschafter –, dass das Gesellschafts-Insolvenzverfahren die Gesellschaft, sofern es nicht über den Insolvenzplan zu ihrer Fortsetzung führt, zur Vollbeendigung bringt (vgl. schon Rz. 13.3)8. Dieses Gesamtabwicklungskonzept ist für die Praxis der Insolvenzverwaltung folgenreich: Es zwingt zur Kongruenz von Gesellschaftsvermögen und Insolvenzmasse (vgl. Rz. 24.29), und es hat gravierende Auswirkungen auf die Abwicklungspflichten des Verwalters. Die bisher h.M. ging und geht davon aus, dass der Verwalter mit der Verteilung des Aktivvermögens seine Schuldigkeit getan hat und die Vollbeendigung der GmbH in die Hand der Geschäftsführer legen soll9. Insbesondere sah man die Geschäftsführer und nicht den Verwalter als befugt und verpflichtet an, die GmbH unter Verwertung des massefreien Vermögens abzuwickeln10. Im Hinblick auf das Liquidationsmodell der Insolvenzabwicklung 1 Karsten Schmidt in Scholz, 9. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 89; Bitter in Scholz, 12. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 240. 2 BGH v. 7.7.2003 – II ZB 4/02, BGHZ 155, 318 = GmbHR 2003, 684; speziell zur „wirtschaftlichen Neugründung“ in der Liquidation BGH v. 10.12.2013 – II ZR 53/12, GmbHR 2014, 317 = ZIP 2014, 418; dagegen aber z.B. Altmeppen, DB 2003, 2050; Karsten Schmidt, NJW 2004, 1345 ff.; Karsten Schmidt, ZIP 2010, 857 ff. 3 Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 92; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 103; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 241. 4 Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 102. 5 Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 92a; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 107; Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 242. 6 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 1206. 7 Zu Unrecht a.M. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 15 InsO Rz. 19; Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 118 ff. 8 Karsten Schmidt in Kölner Schrift zur InsO, 2. Aufl., S. 1208; Karsten Schmidt in Scholz, 9. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 54. 9 Vgl. aus der älteren Literatur nur Hachenburg/Ulmer, § 63 GmbHG Rz. 107 f.; Schulze-Osterloh in Baumbach/Hueck, 16. Aufl. 1996, § 63 GmbHG Rz. 47 f. 10 RG v. 26.10.1931 – VIII 117/31, RGZ 134, 91, 94; BayObLG v. 22.2.1979 – BReg. 1 Z 5/79, DB 1979, 831.

Karsten Schmidt | 973

30.35

§ 30 Rz. 30.35 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

war dieser überkommene Standpunkt schon unter der Geltung der Konkursordnung abzulehnen, auch ein von den Geschäftsführern zu verwaltendes massefreies Vermögen nicht anzuerkennen (Rz. 24.29)1. Seit Inkrafttreten der Insolvenzordnung steht fest, dass er nicht dem geltenden Recht entsprechen kann2. Der Insolvenzverwalter ist nicht nur treuhänderischer Verwalter von Gläubigerinteressen, sondern er ist obligatorischer Treuhandliquidator der insolventen GmbH3. Dementsprechend umfassend sind seine Pflichten.

30.36

b) Allerdings ist das Gesamtabwicklungskonzept noch immer umstritten4. Insbesondere hat der IX. Senat des BGH den Gesamtabwicklungszweck des Gesellschafts-Insolvenzverfahrens in zwei wichtigen Entscheidungen abgelehnt: In einem Urteil vom 5.7.2001 hat er ausgesprochen, dass auch in der Insolvenz einer GmbH „denkbare Liquidationsaufgaben“ des Insolvenzverwalters gegenüber der Aufgabe bestmöglicher Gläubigerbefriedigung zurücktreten5. In den Entscheidungsgründen spricht sich die Entscheidung sogar sehr klar gegen das hier vertretene Konzept aus, freilich nur, um einen Vorrang der Gläubigerinteressen zu begründen. Am 18.4.2002 hat sich der Senat im Zusammenhang mit den umstrittenen Fragen der Altlastenhaftung neuerlich gegen das hier vertretene Konzept ausgesprochen (dazu auch Rz. 24.53)6. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dem angeschlossen (Rz. 24.50)7. Zu diesen Entscheidungen ist zu sagen, dass sie der hier vertretenen Auffassung unrichtigerweise unterstellen, sie wolle die Abwicklungsaufgabe über die Gläubigerinteressen stellen. Die Gesamtabwicklungsaufgabe des Verwalters entspricht dem klaren Gesetzgeberwillen. Sie überzeugt auch funktionell8 und hat mit einer Vernachlässigung der Gläubigerinteressen nichts zu tun. Richtig ist nur, dass für die Gläubiger nicht mehr da ist als das, was eine Gesamtabwicklung der Gesellschaft (auch unter Einbeziehung etwa vorhandener Kontaminationen eines Betriebsgrundstücks) ihnen lässt. An dieser Vernunftregel kann der vom BGH reklamierte Vorrang der Gläubigerinteressen nicht vorbeireden.

30.37

c) Die Insolvenzabwicklungspraxis muss also ihre Gewohnheiten ändern. Es ist zwar richtig, dass mit Schlussverteilung (§ 196 InsO) und Schlusstermin (§ 197 InsO) vorerst nur das Insolvenzverfahren, aber noch nicht die Gesellschaft als Rechtsträgerin abgewickelt ist. Richtig ist aber auch, dass das Gesetz dem Insolvenzverwalter die unbequeme Aufgabe einer Vollbeendigung der Gesellschaft aufbürdet9. Er bringt sie zur Löschung im Handelsregister.

3. Fortsetzung oder Vollbeendigung der insolventen GmbH & Co. KG 30.38

a) Ist eine GmbH & Co. KG durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen aufgelöst, das Verfahren aber auf Antrag des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH ein1 Karsten Schmidt in Scholz, 8. Aufl. 1995, § 63 GmbHG Rz. 73. 2 Karsten Schmidt, ZGR 1998, 636 f.; zust. H.-F. Müller, Der Verband in der Insolvenz, 2002, S. 13 ff.; Pape in Uhlenbruck, § 1 InsO Rz. 11; s. auch Haas in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 89 Rz. 15 f.; Ganter/Bruns in Münchener Kommentar zur InsO, § 1 InsO Rz. 47; Henckel in Jaeger, § 35 InsO Rz. 147; Hirte/Praß in Uhlenbruck, § 35 InsO Rz. 305. 3 Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 107 ff. 4 Vgl. nur Peters in Münchener Kommentar zur InsO, § 35 InsO Rz. 118 ff. 5 BGH v. 5.7.2001 – IX ZR 327/99, BGHZ 148, 252 = ZIP 2001, 1469; dazu Flitsch, EWiR 2002, 395; Scherer, DZWIR 2002, 184. 6 BGH v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, ZIP 2002, 1043 = EWiR 2002, 573 (Tetzlaff); vgl. nun auch BGH v. 15.12.2020 – II ZR 108/19, NJW 2021, 928, 935 ff. = GmbHR 2021, 252. 7 BVerwG v. 23.9.2004 – 7 C 22.03, ZIP 2004, 2145, 2147. 8 Vgl. schon unter der Konkursordnung Karsten Schmidt, Wege zum Insolvenzrecht, S. 26 f., 70 ff., 99 ff. 9 Wegener in Uhlenbruck, § 199 InsO Rz. 1.

974 | Karsten Schmidt

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.50 § 30

gestellt oder nach der Bestätigung eines Insolvenzplans, der den Fortbestand der Gesellschaft vorsieht, aufgehoben, so können die Gesellschafter auch hier die Fortsetzung der Gesellschaft beschließen. Die Fortsetzung der Gesellschaft setzt allerdings voraus, dass noch Gesellschaftsvermögen vorhanden ist. Jedenfalls muss der Insolvenzgrund der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit behoben sein, denn ansonsten wären die Geschäftsführer alsbald verpflichtet, erneut Insolvenzantrag zu stellen. Da nach der hier vertretenen Auffassung die Regelung § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB), wonach der Komplementär mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen ausscheidet, auf die Simultaninsolvenz der GmbH & Co. KG keine Anwendung findet (Rz. 29.8 ff.), ist eine Fortsetzung der GmbH & Co. KG selbst dann möglich, wenn der Insolvenzantrag bezüglich der Komplementär-GmbH wegen Masselosigkeit (§ 26 Abs. 1 Satz 1 InsO) unter gleichzeitiger Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der KG abgewiesen worden ist. Die Masselosigkeit bedeutet keine Vermögenslosigkeit1. Ein Fortsetzungsbeschluss muss solchenfalls sowohl für die KG als auch für die Komplementär-GmbH gefasst werden. Das gilt auch für die sog. doppelstöckige GmbH & Co. KG2. Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Komplementär-GmbH mangels Masse abgelehnt (§ 26 Abs. 1 Satz 1 InsO), so ist sie gem. § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG aufgelöst. Sie bleibt nach hier vertretener Auffassung als Liquidationsgesellschaft Komplementärin der Kommanditgesellschaft (dazu Rz. 29.15)3, scheidet also nicht analog § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB aus der KG aus. Anders als im Fall der Vermögenslosigkeit4 kann eine lediglich im Sinne von § 26 InsO massearme GmbH unter Beseitigung ihrer Insolvenz durch Beschluss fortgeführt werden (Rz. 23.4, 30.31)5. Doch dies ist umstritten. Auch aus praktischen Gründen liegt eine Auswechselung der Komplementärin u.U. näher. Dies würde bedeuten, dass die Komplementär-GmbH ausscheidet und vollbeendigt wird, während ein Kommanditist oder eine neu zu gründende Kapitalgesellschaft persönlich haftender Gesellschafter wird. Die Fortsetzung kann auch dann noch beschlossen werden, wenn das Insolvenzverfahren durchgeführt und nach Vollzug der Schlussverteilung aufgehoben wurde (§ 200 Abs. 1 InsO). Zwingende Voraussetzung ist aber immer, dass Vermögen vorhanden ist und der Insolvenzgrund beseitigt wird (Rz. 30.31)6. b) Für die Vollabwicklung der GmbH & Co. KG durch Abwicklung im Insolvenzverfahren gelten sinngemäß die Ausführungen unter Rz. 30.35 ff. Eine zwingende Regel, dass die KG und ihre Komplementärin gleichzeitig zur Vollbeendigung gebracht werden müssten, gibt es nicht.

Einstweilen frei.

30.39

30.40–30.50

1 BGH v. 7.10.1994 – V ZR 58/93, ZIP 1994, 1685 = GmbHR 1995, 234; Schlitt, NZG 1998, 755, 762; Noack in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Gesellschaftsrecht Rz. 582; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 363. 2 Noack in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Gesellschaftsrecht Rz. 584; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 364. 3 Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 136; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1213. 4 Angaben bei Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 98. 5 So Haas/Kolmann/Kurz in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Auflage 2020, § 90 Rz. 310. 6 Einzelheiten zur Fortsetzung der durch Insolvenzverfahrenseröffnung aufgelösten KG bei Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 238 ff.; Noack in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Gesellschaftsrecht Rz. 581 ff.

Karsten Schmidt | 975

§ 30 Rz. 30.51 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

III. Die GmbH und GmbH & Co. KG nach Aufhebung oder Einstellung des Insolvenzverfahrens 30.51

Das Insolvenzgericht hebt das Insolvenzverfahren auf, wenn es vollständig und ordnungsgemäß durchgeführt worden und die Schlussverteilung erfolgt (§ 200 InsO) bzw. ein Insolvenzplan rechtskräftig bestätigt worden ist (§ 258 Abs. 1 InsO1). Wird dagegen das Verfahren vorzeitig beendet, weil die gemeinschaftliche Befriedigung der Insolvenzgläubiger nicht erreicht werden kann, spricht das Gesetz von Einstellung des Verfahrens2. Der in der insolvenzrechtlichen Praxis häufigste Fall der Einstellung des Verfahrens ist die Einstellung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit (§ 211 InsO) (s. dazu Rz. 30.74). Weitere Einstellungsgründe sind darüber hinaus die Einstellung mangels Masse (§ 207 InsO) (näher dazu Rz. 30.73 ff.) sowie der Wegfall des Eröffnungsgrundes (§ 212 InsO) und die Zustimmung der Insolvenzgläubiger (§ 213 InsO). In sämtlichen Fällen entscheidet das Insolvenzgericht durch Beschluss. Unabhängig davon, ob das Gericht seine Entscheidung von Amts wegen oder auf Antrag trifft, führt die entsprechende Beschlussfassung zum Fortfall der seit der Eröffnung bestehenden Beschlagnahme des schuldnerischen Vermögens.

1. Vollabwicklung des Schuldnervermögens als insolvenzrechtliche Aufgabe 30.52

Mit Aufhebung oder Einstellung des Insolvenzverfahrens ist die gesellschaftsrechtliche Abwicklung einzuleiten. Die Geschäftsleiter werden nunmehr auch zu Abwicklern; sie sind daher grundsätzlich auch zur Eintragung ins Handelsregister anzumelden, § 67 Abs. 1 GmbHG (§ 265 Abs. 1 AktG)3. Die Vollabwicklung des Schuldnervermögens ist als insolvenzrechtliche Aufgabe zu bewältigen4. In der Allgemeinen Begründung zur InsO heißt es, das Verfahren übernehme bei Gesellschaften regelmäßig zugleich die Aufgabe der gesellschaftsrechtlichen Abwicklung bis hin zur Herbeiführung der Löschungsreife und anschließenden Löschung5. Für eine außergerichtliche Liquidation bestehe dann kein Bedürfnis mehr. Der Gesetzgeber der Insolvenzordnung hat sein Anliegen indes nur unvollkommen verwirklicht6. Auch wenn nach der Grundkonzeption des Gesetzes davon auszugehen ist, dass im Regelfall nach der Durchführung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH kein Gesellschaftsvermögen mehr vorhanden ist7, hat der Gesetzgeber der Insolvenzordnung die Möglichkeit einer Nachtragsliquidation nicht ausgeschlossen, wie die Vorschrift des § 66 Abs. 5 GmbHG zeigt. Ob es dieser Regelung bedurft hätte, erscheint fraglich. Karsten Schmidt8 hat 1 An der Speicherung der Information über die Aufhebung des Insolvenzverfahrens nach dieser Vorschrift besteht ein berechtigtes Interesse des Geschäftsverkehrs (OLG Frankfurt v. 19.3.2015 – 7 U 187/13, ZD 2015, 377 Rz. 22 = ZIP 2015, 888); siehe dazu auch OLG Oldenburg v. 23.11.2021 – 13 U 63/21, GRUR-RS 2021, 35540. 2 Ludwig in Braun, 8. Aufl. 2020, § 207 InsO Rz. 3; App, DGVZ 2001, 1 ff. 3 Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 148. 4 Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, InsO, Bd. I, 1994, S. 105. 5 Kübler/Prütting, Das neue Insolvenzrecht, InsO, Bd. I, 1994, S. 105/106. 6 Uhlenbruck, ZIP 1996, 1641, 1647. 7 Etwas anderes gilt dann, wenn das eröffnete Insolvenzverfahren nicht durch Schlussverteilung beendet, sondern gemäß § 213 InsO mit Zustimmung der Gläubiger eingestellt worden ist; in diesem Falle ist zwecks Vermeidung eines wesentlichen Verfahrensfehlers die Beiziehung der Insolvenzakten geboten, um die näheren Hintergründe und die nunmehrige Vermögenssituation der Gesellschaft ermitteln zu können (OLG Düsseldorf v. 23.6.2017 – 3 Wx 35/17, ZIP 2017, 1807 = GmbHR 2017, 1146). 8 Karsten Schmidt, GmbHR 1994, 829, 831.

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§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.54 § 30

mit Recht die Frage gestellt, ob es für den Insolvenzfall nicht ausgereicht hätte, den Verwalter durch eine bei § 215 InsO zu platzierende Regelung zu verpflichten, bei Beendigung des Insolvenzverfahrens durch Schlussverteilung die Gesellschaft zur Löschung anzumelden. Eines Amtslöschungsverfahrens bedürfe es nicht. Ist Gesellschaftsvermögen tatsächlich nicht mehr vorhanden, wird man auf die Bestellung von Abwicklern verzichten und dem Insolvenzverwalter gestatten können, das Registergericht auf die Vermögenslosigkeit der Gesellschaft hinzuweisen1 Dieses kann dann nach § 394 Abs. 1Satz 2 FamFG die Gesellschaft im entsprechenden Register löschen und damit ihre Vollbeendigung herbeiführen2.

2. Aufhebung des Insolvenzverfahrens Sobald die Schlussverteilung vollzogen ist, beschließt das Insolvenzgericht die Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 200 Abs. 1 InsO). Sie wird im Zeitpunkt der Beschlussfassung wirksam3. Ein Rechtsmittel gegen den Beschluss ist nicht vorgesehen. Die Aufhebung wirkt nur für die Zukunft4 und führt zur Beendigung des Insolvenzbeschlags für die meisten noch vorhandenen (das heißt nicht verwerteten und noch nicht freigegebenen) Massebestandteile der Gesellschaft, der Schuldner erlangt die Verfügungs- und Verwaltungsbefugnis über die Massebestandteile zurück5., Von der Beschlagnahmewirkung weiter erfasst bleiben indes die zurückgehaltenen Gelder (§ 189 Abs. 2, § 190 Abs. 2 Satz 2, § 198 InsO). Mit der Aufhebung des Verfahrens endet die Unterbrechung des Rechtsstreits gemäß § 240 ZPO, so dass die Fristen von neuem zu laufen beginnen, ohne dass es einer besonderen Fristsetzung durch das Gericht bedarf6. Für die Erledigung seiner steuerlichen Angelegenheiten ist der Schuldner wieder selbst verantwortlich7. Eine Fortschreibung der Insolvenztabelle z.B. wegen eines Wechsels der Inhaberschaft einer Forderung ist nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens unzulässig8. Die Aufhebung des Insolvenzverfahrens ist zu veröffentlichen (§ 200 Abs. 2 InsO). Darüber hinaus sind all diejenigen Stellen von der Aufhebung des Verfahrens zu unterrichten, denen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mitgeteilt worden ist. Dazu zählt auch das Handelsregister (vgl. § 31 Nr. 1 InsO, IX Nr. 4 Abs. 1 Nr. 5 MiZi). Mit der Aufhebung des Verfahrens gilt für die Insolvenzgläubiger grundsätzlich ein unbeschränktes Nachforderungsrecht (s. § 201 InsO)9.

30.53

3. Keine Fortsetzung der GmbH nach Aufhebung des Verfahrens Nach der Schlussverteilung ist eine Fortsetzung der nach § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG aufgelösten Gesellschaft grundsätzlich ausgeschlossen, so dass es unerheblich ist, dass die Löschung der Gesellschaft im Handelsregister noch nicht vollzogen ist10. Dies folgt einerseits aus dem 1 Noack in Kübler/Prütting/Bork, InsO, Gesellschaftsrecht Rz. 413. 2 Näher dazu Rz. 30.57 ff. 3 BGH v. 15.7.2010 – IX ZB 229/07, ZInsO 2010, 1496, 1597 Rz. 5 = ZIP 2010, 1610. Im Falle der vorherigen Bestätigung eines Insolvenzplans in Verfahren, die ab dem 1.1.2021 beantragt wurden, enthält der Aufhebungsbeschluss nach Bestätigung eines Insolvenzplans gemäß § 258 Abs. 3 InsO den Zeitpunkt der Aufhebung, der frühestens zwei Tage nach der Beschlussfassung liegen soll. 4 Uhlenbruck, ZIP 1993, 241 ff. 5 Preß in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, § 200 InsO Rz. 13. 6 BGH v. 30.4.2020 – IX ZB 52/19, ZInsO 2020, 1242 = BeckRs 2020, 8758 Rz. 6. 7 Zu den Einzelheiten s. Riedel in Graf-Schlicker, 6. Aufl. 2022, § 200 InsO Rz. 10 ff. 8 AG Alzey v. 25.9.2020 – 1 IK 7/17, NZI 2021, 607. 9 Laroche in Vallender/Undritz, Praxis des Insolvenzrechts, 3. Aufl. 2021, § 2 Rz. 292. 10 H.M. OLG Celle v. 29.12.2010 – 9 W 136/10, GmbHR 2011, 257 = ZIP 2011, 278; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 98 m.w.N.

Vallender | 977

30.54

§ 30 Rz. 30.54 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

Gesetzeswortlaut, der nur in zwei Ausnahmefällen die Fortsetzung einer Gesellschaft nach deren Insolvenz zulässt, nämlich bei der Einstellung des Insolvenzverfahrens auf Antrag des Schuldners oder der Bestätigung eines Insolvenzplanes, der den Fortbestand der Gesellschaft vorsieht (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG)1. Insoweit reicht es bereits aus, dass der Insolvenzplan die Fortsetzung der Gesellschaft als Möglichkeit darstellt2. Der Schutz der Gläubiger gebietet es nicht, Gesellschaften die Fortsetzungsmöglichkeit zu versagen, deren Insolvenzplan lediglich die abstrakte Möglichkeit eines Fortbestands vorsieht. Andernfalls würde die privatautonome Bewältigung der Insolvenz, die das erklärte Ziel der Einführung des Insolvenzplans war3, ohne rechtfertigenden Grund beschnitten4.

30.55

Wurde bereits mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens unter die Gesellschafter begonnen, kommt eine Fortsetzung der Gesellschaft nicht mehr in Betracht5. Eine vergleichbare Regelung enthält § 274 Abs. 1 AktG für die Aktiengesellschaft. Danach kann ein Fortsetzungsbeschluss bereits dann nicht mehr wirksam getroffen werden, wenn mit der Vermögensverteilung begonnen worden ist. Diese Zäsur der Vermögensverteilung ist so bedeutsam und erweckt den Anschein der Beendigung, dass eine Fortsetzung der Gesellschaft durch schlichten Fortsetzungsbeschluss und dessen Eintragung ohne die bei einer wirtschaftlichen Neugründung erforderliche Registerkontrolle nach §§ 7, 8 GmbHG nicht möglich ist6. Etwas anderes kann auch nicht aus der Regelung des § 394 Abs. 1 Satz 2 FamFG abgeleitet werden, die nur die Voraussetzungen der Löschung der Gesellschaft von Amts wegen betrifft, nicht aber die Frage einer Fortsetzungsfähigkeit der Gesellschaft7.

30.56

Für das Registergericht bedeutet die vorgenannte Entscheidung des BGH vom 8.4.20208, dass es prüfen darf, ob der eingereichte Insolvenzplan eine Fortsetzungsmöglichkeit darstellt. Der vom Insolvenzgericht rechtskräftig festgestellte Planinhalt dient insofern als Tatsachengrundlage. Eine Überschneidung der Prüfungskompetenzen mit denen des Insolvenzgerichts findet sich insofern nicht9.

4. Löschung der Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit 30.57

§ 60 Abs. 1 Nr. 7 GmbHG sieht die Auflösung der GmbH durch Löschung wegen Vermögenslosigkeit nach § 394 FamFG vor. Nach § 394 Abs. 1 Satz 2 FamFG ist die GmbH „von Amts wegen zu löschen, wenn das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft durchgeführt worden ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Gesellschaft noch Vermögen besitzt“10. Zweck der Vorschrift ist die liquidationslose Beseitigung der GmbH, die

1 2 3 4 5 6 7 8 9

BGH v. 28.4.2015 – II ZB 13/14, ZIP 2015, 1533 Rz. 11 = GmbHR 2015, 814. BGH v. 8.4.2020 – II ZB 3/19, ZIP 2020, 1124 = GmbHR 2020, 832 m. Anm. Wachter. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, 90. BGH v. 8.4.2020 – II ZB 3/19, ZIP 2020, 1124 Rz. 28 = GmbHR 2020, 832 m. Anm. Wachter. BGH v. 8.4.2020 – II ZB 3/19, ZIP 2020, 1124 = GmbHR 2020, 832 m. Anm. Wachter. Vgl. im Ergebnis ebenso für die Aktiengesellschaft Koch, 16. Aufl. 2022, § 274 AktG Rz. 6. OLG Celle v. 29.12.2010 – 9 W 136/10, GmbHR 2011, 257 = ZIP 2011, 278. BGH v. 8.4.2020 – II ZB 3/19, ZIP 2020, 1124 = GmbHR 2020, 832 m. Anm. Wachter. Madaus, NZI 2020, 640; OLG Celle v. 8.3.2019 – 9 W 17/19, NZG 2019, 543 Rz. 10 = ZIP 2019, 611 = GmbHR 2019, 478. 10 Die Löschung einer vermögenslosen GmbH hat grundsätzlich zur Folge, dass die Gesellschaft ihre Rechtsfähigkeit verliert und damit nach § 50 Abs. 1 ZPO auch ihre Fähigkeit, Partei eines Rechtsstreits zu sein. Eine nicht parteifähige Partei kann gleichwohl grundsätzlich Rechtsmittel einlegen, um die gegen sie ergangene Sachentscheidung zu beseitigen, wenn sie meint, in der Vorinstanz zu

978 | Vallender

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.60 § 30

trotz ihrer Vermögenslosigkeit noch im Handelsregister eingetragen ist1. Im Falle der Aufhebung des Insolvenzverfahrens hat die anschließende Löschung der Gesellschaft im Handelsregister allerdings nur geringe praktische Bedeutung, weil bereits die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Auflösung der GmbH zur Folge hat. Ist die Gesellschaft tatsächlich vermögenslos, wird sie nach der Lehre vom Doppeltatbestand (näher dazu Rz. 30.67) durch die Löschung vollbeendet und nicht nur aufgelöst. Mithin führt die Amtslöschung nicht zur Auflösung der GmbH sondern zu deren Vollbeendigung. Nach § 394 Abs. 1, 3 FamFG kann eine GmbH, die kein Aktivvermögen besitzt, von Amts wegen oder auf Antrag der Steuerbehörde im Handelsregister gelöscht werden. Der Umstand, dass noch Verwaltungsakte im Steuerverfahren zuzustellen sein können, steht der Löschung nicht entgegen. Maßgeblich bleibt die Frage, ob ein Betrieb ohne weiteres Vermögen eingestellt ist2. Da das Gesetz vermögenslose juristische Personen als eine Gefahr für den Rechtsverkehr ansieht, der durch deren Löschung aus dem Handelsregister zu begegnen ist, rechtfertigt die Vermögenslosigkeit die Löschung3.

30.58

Vermögenslosigkeit der GmbH liegt vor, wenn es an einer verteilungsfähigen Masse, die zur Gläubigerbefriedigung verwertbar wäre, fehlt. Schon das Vorhandensein von Vermögen, auch nur in geringem Umfang, steht der Annahme der Vermögenslosigkeit entgegen4. Bei der Prüfung der gesetzlichen Löschungsvoraussetzungen hat das Registergericht zu berücksichtigen, dass es für die Entscheidungsfindung nicht ausschließlich auf die von einem Antragsteller zu erbringenden bzw. nicht erbrachten „Nachweise“ für eine Vermögenslosigkeit der Gesellschaft ankommt. Wegen der schwerwiegenden Folgen der Löschung sind die Voraussetzungen für die Annahme einer Vermögenslosigkeit genau und gewissenhaft zu prüfen und die erforderlichen Tatsachen ggfls. von Amts wegen (§ 26 FamFG) zu ermitteln5. Die Überzeugung von der Vermögenslosigkeit muss auf einer positiven Feststellung im Einzelfall beruhen; sie kann nicht allein auf die unterlassene Darlegung noch vorhandenen Vermögens gestützt werden. Auch Schulden oder eine fehlende Zahlungsmoral rechtfertigen für sich noch nicht die Annahme von Vermögenslosigkeit. Die Vermögenslosigkeit einer Komplementär-GmbH zeitigt dieselben rechtlichen Folgen wie bei jeder anderen GmbH6.

30.59

Da die Aufhebung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH nach Schlussverteilung die Annahme rechtfertigt, dass keine Vermögenswerte vorhanden sind, die für eine Gläubigerbefriedigung oder eine Verteilung an die Gesellschafter der GmbH in Betracht kommen, ist das Registergericht im Amtslöschungsverfahren insbesondere bei fehlendem Widerspruch gegen die Löschungsankündigung grundsätzlich nicht gehalten, weitere Nachforschungen darüber anzustellen, ob trotz Durchführung der Schlussverteilung noch Vermögen der Gesellschaft vorhanden war7.

30.60

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Unrecht als prozessfähig behandelt worden zu sein (KG v. 6.6.2012 – 8 U 73/12, GmbHR 2012, 1143). Vgl. Nerlich in Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 60 GmbHG Rz. 279. OLG Düsseldorf v. 27.3.2014 – 3 Wx 48/14, NJW-RR 2014, 723 ff. Rz. 14 = ZIP 2014, 879 = GmbHR 2014, 658. OLG Jena v. 18.3.2010 – 6 W 405/09, Rpfleger 2010, 431 ff. Rz. 16. OLG Karlsruhe v. 10.8.1999 – 14 Wx 24/99, GmbHR 1999, 1100 m.w.N. OLG Frankfurt v. 7.3.2019 – 20 W 313/17, BeckRS 2019, 25162 Rz. 8, 9 = juris; OLG Düsseldorf v. 14.9.2012 – 3 Wx 62/12, GmbHR 2012, 1305 = ZIP 2013, 672; OLG Düsseldorf v. 13.11.1996 – 3 Wx 494/96, GmbHR 1997, 131 = ZIP 1997, 201. BGH v. 9.12.1987 – VIII ZR 374/86, NJW-RR 1988, 477 = GmbHR 1988, 139 = ZIP 1988, 247. OLG München v. 3.8.2005 – 31 Wx 4/05, GmbHR 2006, 91, 93, 94 = ZIP 2005, 2214.

Vallender | 979

§ 30 Rz. 30.61 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

30.61

Die Ankündigung der Löschungsabsicht setzt gemäß § 394 Abs. 2 FamFG1 eine gerichtliche Überzeugungsbildung voraus, der abgeschlossene Ermittlungen zur Vermögenslosigkeit vorauszugehen haben, damit das Gericht über entsprechende gesicherte Erkenntnisse verfügt. Das gilt auch bei der GmbH i.L., auch muss das Gericht über Erkenntnisse verfügen, dass die Gesellschaft tatsächlich über kein Vermögen verfügt2.

30.62

Die Absicht der Löschung ist den gesetzlichen Vertretern der GmbH durch Zustellung einer Verfügung bekannt zu machen, in der ihnen gleichzeitig eine angemessene Frist zur Erhebung des Widerspruchs gesetzt wird (§ 393 Abs. 1 FamFG). Soweit das Registergericht trotz des erhobenen Widerspruchs die Löschung wegen Vermögenslosigkeit vornimmt, bleibt das gegen die Ankündigung gerichtete Rechtsmittel zulässig; die Amtslöschung ihrerseits ist von Amts wegen zu löschen.

30.63

Die Eintragung der Löschung wegen Vermögenslosigkeit ist als „Entscheidung“ i.S. des § 37 Abs. 2 FamFG anzusehen und die dort normierte Ausprägung des verfassungsrechtlichen Gebots der Gewährung rechtlichen Gehörs auf das Löschungsverfahren nach § 394 FamFG anzuwenden. Beteiligte des Löschungsverfahrens ist die Gesellschaft selbst, deren gesetzliche Vertreter im Verfahren zuvor anzuhören sind. Das Amtsgericht muss der Gesellschaft mitteilen, auf welche Tatsachen und Beweisergebnisse es seine Überzeugung der Vermögenslosigkeit der Gesellschaft stützt3.

30.64

Die Löschung der GmbH im Handelsregister erfolgt durch Eintragung des Vermerks „von Amts wegen gelöscht“ unter Hinweis auf die gesetzliche Grundlage (§ 395 Abs. 1 Satz 2 FamFG, § 19 Abs. 1 HRV). Sie kann auch dann erfolgen, wenn die GmbH nicht über einen gesetzlichen Vertreter verfügt. Das rechtliche Gehör wird durch die Veröffentlichung der Löschungsabsicht in den für die Bekanntmachung der Eintragung in das Handelsregister bestimmten Blättern gewahrt4. Die Löschung der Gesellschaft als vermögenslos hat grundsätzlich zur Folge, dass die Vertretungsmacht der bisherigen Geschäftsführer und Liquidatoren beendet ist.

30.65

Nach § 58 Abs. 1 FamFG findet die sofortige Beschwerde gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Endentscheidungen der Amts- und Landgerichte in Angelegenheiten nach dem Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) statt, sofern durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Eine beschwerdefähige Endentscheidung des Registergerichts im Sinne dieser Vorschrift liegt nach § 38 Abs. 1 FamFG vor, wenn und soweit durch die Entscheidung der Verfahrensgegenstand ganz oder teilweise erledigt wird. Im Amtslöschungsverfahren der Löschung einer GmbH ist die Gesellschaft beschwerdebefugt, da sie durch die Löschung in ihrer materiellen Existenz betroffen ist5. Für das Verfahren ist sie als fortbestehend anzusehen6. Sie kann in diesem Verfahren von ihren bisherigen gesetzlichen Vertretern vertreten werden, obwohl die Löschung der Ge1 Die Ankündigung der Löschung einer Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit im IuK-System des Registergerichts muss keine Einzelheiten zu Inhalt und Ergebnis der vorangegangenen Ermittlungen enthalten (OLG München v. 22.11.2012 – 31 Wx 421/12, GmbHR 2013, 39 = AG 2013, 137 = ZIP 2012, 2500). 2 OLG Düsseldorf v. 23.6.2017 – 3 Wx 35/17, ZIP 2017, 1807; OLG Düsseldorf v. 5.4.2006 – 3 Wx 222/05, GmbHR 2006, 819. 3 OLG Köln v. 17.3.2011 – 2 Wx 28/11, OLG Report NRW 13/2011 Anm. 10. 4 OLG München v. 3.8.2005 – 31 Wx 4/05, GmbHR 2006, 91 = ZIP 2005, 2214. 5 Vgl. BayObLG v. 12.1.1995 – 3 Z BR 256/94, GmbHR 1995, 531. 6 OLG Hamm v. 12.11.1992 – 15 W 266/92, GmbHR 1993, 295.

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§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.67 § 30

sellschaft als vermögenslos grundsätzlich zur Folge hat, dass die Vertretungsmacht der bisherigen Geschäftsführer und Liquidatoren beendet ist1. Die Löschung der vollzogenen Eintragung der Löschung einer Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit gemäß § 394 FamFG kommt nur in Betracht, wenn die Löschungseintragung auf einer Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften beruht. Zwar kann nach Durchführung eines Insolvenzverfahrens in der Regel von der Vermögenslosigkeit der Gesellschaft ausgegangen werden, nicht so allerdings, wenn das eröffnete Insolvenzverfahren nicht durch Schlussverteilung beendet, sondern gemäß § 213 InsO mit Zustimmung der Gläubiger eingestellt worden ist; in diesem Falle ist zwecks Vermeidung eines wesentlichen Verfahrensfehlers die Beiziehung der Insolvenzakten geboten, um die näheren Hintergründe und die nunmehrige Vermögenssituation der Gesellschaft ermitteln zu können2. Stellt sich nachträglich heraus, dass die Gesellschaft noch über Vermögen verfügt3, ist dies allerdings kein ausreichender Grund für die Löschung der vollzogenen Eintragung der Löschung. In diesem Verfahren sind auch die Gesellschafter beschwerdebefugt4.

30.66

5. Nachtragsverteilung In Rechtsprechung und Literatur ist die Frage umstritten, unter welchen Voraussetzungen eine GmbH nach Löschung noch fortbesteht. Praktische Relevanz erlangt die Fragestellung in den Fällen, in denen sich nach Löschung der Gesellschaft herausstellt, dass sie noch über Vermögenswerte verfügt. Nach einer früher in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung5 war eine Kapitalgesellschaft erst untergegangen, wenn sie vermögenslos ist. Demgegenüber erblickt eine in der Literatur6 häufig vertretene Auffassung in der Handelsregisterlöschung der Kapitalgesellschaft das entscheidende Kriterium für die Vollbeendigung der Kapitalgesellschaft. Unbeachtlich sei, ob die gelöschte Gesellschaft auch tatsächlich bei Löschung vermögenslos war. Die heute herrschende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur7 vertritt die Auffassung, dass eine Kapitalgesellschaft erst dann als vollbeendet gilt, wenn die Gesellschaft sowohl im Handelsregister gelöscht wurde als auch bei Löschung tatsächlich vermögenslos war (Lehre vom Doppeltatbestand). Sofern diese beiden Voraussetzungen nicht erfüllt seien, bestehe die Kapitalgesellschaft weiter fort. 1 Vgl. BayObLG v. 4.6.1997 – 3 Z BR 44/97, GmbHR 1997, 1003 m.w.N. 2 OLG Düsseldorf v. 23.6.2017 – 3 Wx 35/17, ZIP 2017, 1807; OLG München v. 3.8.2005 – 31 Wx 4/05, GmbHR 2006, 91. 3 OLG Hamm v. 8.5.2001 – 15 W 43/01, GmbHR 2001, 819. 4 BayObLG v. 4.6.1997 – 3 Z BR 44/97, GmbHR 1997, 1003 m.w.N. 5 BGH v. 29.9.1981 – VI ZR 21/80, NJW 1982, 238 = GmbHR 1983, 20 (LS) = ZIP 1981, 1268; BGH v. 9.12.1987 – VIII ZR 374/86, GmbHR 1988, 139, 140; BayObLG v. 4.10.1955 – 2 Z 104/55, GmbHR 1956, 76 m. Komm. Gottschling; OLG Düsseldorf v. 13.7.1979 – 3 W 139/79, GmbHR 1979, 227, 228; OLG Frankfurt v. 28.9.1989 – 3 U 30/89, NJW-RR 1991, 318, 319; Ahmann, GmbHR 1987, 439, 440; Bokelmann, NJW 1977, 1130, 1131; Däubler, GmbHR 1964, 246; Müller, JurBüro 1985, 335, 339. 6 Buchner, Amtslöschung, Nachtragsliquidation und masselose Insolvenz von Kapitalgesellschaften, 1988, S. 105; Hönn, ZHR 138 (1974), 50 ff. 7 BGH v. 16.1.2014 – IX ZB 122/12, WM 2014, 328 = ZIP 2014, 437; BAG v. 22.3.1988 – 3 AZR 350/86, GmbHR 1988, 388; BGH v. 4.6.2003 – 10 AZR 448/02, GmbHR 2003, 1009, 1010; KG v. 6.7.2004 – 1 W 174/04, GmbHR 2004, 1286; OLG Frankfurt v. 27.2.2014 – 20 W 548/11, NJW-RR 2014, 1503; OLG Düsseldorf v. 14.11.2003 – 16 U 95/98, GmbHR 2004, 572, 574; OLG Köln v. 11.3.1992 – 2 U 101/91, GmbHR 1992, 536; OLG Stuttgart v. 30.9.1998 – 20 U 21/98, ZIP 1998, 1880, 1882 = AG 1999, 280; Haas in Noack/Servatius/Haas,23. Aufl. 2022, § 60 GmbHG Rz. 6; Karsten Schmidt/Scheller in Scholz, § 74 GmbHG Rz. 14 ff.; Vallender, NZG 1998, 249, 252.

Vallender | 981

30.67

§ 30 Rz. 30.68 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

30.68

Stellt sich nach dem Schlusstermin bzw. nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens (vgl. § 203 Abs. 2 InsO) über das Vermögen der GmbH heraus, dass noch Massegegenstände oder Geldbeträge der früheren Insolvenzmasse aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen bei Aufstellung und Genehmigung des Schlussverzeichnisses und bei der Verteilung nicht berücksichtigt werden konnten, oder werden Vermögensgegenstände nachträglich ermittelt1, weil der Schuldner sie dem Insolvenzverwalter verheimlicht oder ins Ausland verbracht hatte und die deshalb dem Insolvenzverwalter unbekannt geblieben waren2, oder fließen sie zur Masse zurück, müssen sie in einem besonderen Verfahren nach Maßgabe der §§ 203 ff. InsO verteilt werden3. Die Vorschriften gelangen auch dann zur Anwendung, wenn ein Grundpfandgläubiger einer im Insolvenzverfahren nicht mehr valutierten Sicherungsgrundschuld nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens im Zwangsversteigerungsverfahren nach Zuschlag auf die Zuteilung verzichtet. Wegen des dann dem Schuldner zugeteilten Erlösanteils kann die Nachtragsverteilung angeordnet werden4. Die Entscheidung über die Anordnung steht im Ermessen des Insolvenzgerichts. Die Nachtragsverteilung wird entweder von Amts wegen oder auf Antrag eines Insolvenzgläubigers oder des Insolvenzverwalters angeordnet. Nach Anordnung besteht die Insolvenzbeschlagnahme i.S. des § 80 Abs. 1 InsO fort. Die Nachtragsverteilung ist durch den Insolvenzverwalter nach § 205 InsO vorzunehmen. Dieser bleibt ausnahmsweise befugt, anhängige Prozesse fortzusetzen und neue einzuleiten, mit denen die der Nachtragsverteilung vorbehaltenen Masseaktiva realisiert werden sollen5. Der Nachtragsverteilung unterliegen keine Gegenstände, die der Insolvenzverwalter freigegeben hat. Ebenso wenig unterliegt der Veräußerungserlös eines freigegebenen Gegenstands, der nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens verkauft worden ist, der Nachtragsverteilung6. Die den Schuldner im eröffneten Verfahren treffenden Auskunfts- und Mitwirkungspflichten gelten auch im Nachtragsverteilungsverfahren; sie können mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden7. Die Rechtskraft eines mangels hinreichender Bestimmtheit unwirksamen Beschlusses über eine Nachtragverteilung hindert nicht die erneute Entscheidung über die zu erfolgende Nachtragsverteilung8.

30.69

Einen nach § 203 Abs. 1 Nr. 3 InsO ermittelten Gegenstand hat der Insolvenzverwalter zu verwerten; der Erlös und sonst freiwerdende Gegenstände sind an die Gläubiger zu verteilen9. Die Nachtragsverteilung gemäß § 211 Abs. 3 InsO erfasst auch Gegenstände, die der Verwalter zunächst nicht für verwertbar hielt und deswegen nicht zur Masse gezogen hat10. Allerdings ist die Anordnung der Nachtragsverteilung wegen eines versehentlich nicht verwerteten Grundstücks unzulässig, wenn vor der Anordnung die Auflassung erklärt und der Antrag auf Eintragung beim Grundbuchamt vom Erwerber oder vom Notar für diesen gestellt worden war11. 1 BGH v. 27.4.2017 – IX ZB 93/16, NZI 2017, 608 = ZIP 2017, 1169. 2 LG Stuttgart v. 28.1.2020 – 19 T 319/20, BeckRS 2020, 1539. 3 Nach Auffassung des LG Hamburg (v. 22.9.2011 – 326 T 83/11) ist die Kosten/Nutzen-Relation gemäß § 203 Abs. 3 Satz 1 InsO, nach der zwischen der Höhe des zu verteilenden Betrages und den Kosten des für die Nachtragsverteilung erforderlichen Aufwands kein objektives Missverhältnis bestehen darf, selbst bei einem noch vorhandenen Betrag von 711,49 Euro gewahrt; bestätigt durch BGH v. 16.2.2012 – IX ZB 290/11. 4 BGH v. 27.4.2017 – IX ZB 93/16, ZIP 2017, 1169 im Anschluss an BGH v. 30.6.1978 – V ZR 153/ 76, WM 1978, 986. 5 BFH v. 6.7.2011 – II R 34/10, NZI 2011, 911. 6 BGH v. 3.4.2014 – IX ZA 5/14, ZIP 2014, 1183. 7 BGH v. 25.2.2016 – IX ZB 74/15, NJW-RR 2016, 807 = ZIP 2016, 686. 8 OLG Celle v. 15.3.2018 – 16 U 79/17, BeckRS 2018, 31109 Rz. 12 = juris. 9 Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, Rz. 1255. 10 BGH v. 21.9.2006 – IX ZB 287/05, ZInsO 2006, 1105. 11 BGH v. 6.12.2007 – IX ZB 229/06, ZIP 2008, 322.

982 | Vallender

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.74 § 30

Trotz der Löschung der GmbH im Handelsregister bleibt eine Nachtragsverteilung möglich, weil sie nur restliche Abwicklungsmaßnahmen betrifft und kein neues Insolvenzverfahren über das gelöschte Unternehmen darstellt1. Das Insolvenzgericht kann von der Anordnung der Nachtragsverteilung absehen, wenn der für die Verteilung zur Verfügung stehende Betrag oder der voraussichtliche Verwertungserlös des ermittelten Gegenstandes mit den Kosten der Nachtragsverteilung in keinem angemessenen Verhältnis steht (§ 203 Abs. 3 Satz 1 InsO)2. Sieht das Gericht von der Anordnung einer Nachtragverteilung ab, stehen der Geldbetrag oder der Gegenstand der GmbH jedenfalls dann zur Verfügung, wenn der fragliche Gegenstand mit der Aufhebung des Verfahrens aus dem Insolvenzbeschlag entlassen worden ist3.

30.70

6. Nachtragsliquidation nach § 66 Abs. 5 GmbHG Die Regelung des § 66 Abs. 5 GmbHG manifestiert insoweit die Lehre vom Doppeltatbestand (näher dazu Rz. 30.67), als sie eine Liquidation in den Fällen verlangt, in denen sich trotz Löschung der GmbH im Handelsregister nach § 394 Abs. 1 Satz 1 FamFG wegen Vermögenslosigkeit noch verteilbares Vermögen findet4. Dagegen schließt ein nachträglicher Vermögenserwerb die Nachtragsliquidation aus5.

30.71

Nach § 66 Abs. 5 Satz 2 GmbHG sind die Liquidatoren durch das Gericht zu ernennen. Die Liquidation richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 68 ff. GmbHG. Es handelt sich um eine erstmalige Liquidation, nicht um eine Nachtragsliquidation. Ist ein Liquidationserlös zugunsten der Gesellschafter einer aufgelösten und gelöschten Gesellschaft bei der Hinterlegungsstelle hinterlegt, kommt die Bestellung eines Nachtragsliquidators zum Zweck der Verteilung der Beträge unter den Gesellschaftern nicht in Betracht6.

30.72

7. Die GmbH nach Einstellung des Verfahrens Im Falle einer Einstellung des Verfahrens nach § 207 InsO mangels Masse, wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes (§ 212 InsO) oder nach Zustimmung aller Insolvenzgläubiger (§ 213 InsO) ist die Auflösung der Gesellschaft bereits durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewirkt worden (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 InsO). Die gesellschaftsrechtliche Folge der Auflösung ist die Überführung der GmbH in eine Liquidationsphase, die zur Vollbeendigung des Rechtsträgers führt. Allerdings gelten im eröffneten Insolvenzverfahren die gesellschaftsrechtlichen Liquidationsregeln nicht. Vielmehr tritt an deren Stelle die Abwicklung nach der Insolvenzordnung.

30.73

Auch nach einer Abweisung mangels Masse (§ 207 InsO) erfolgt die Löschung nicht bereits auf Grund dieser Abweisung, sondern vielmehr wegen Vermögenslosigkeit. Die Gesellschaft muss tatsächlich vermögenslos sein, damit die Löschung erfolgen kann. Bei einer Einstellung des Insolvenzverfahrens nach § 211 InsO ergeben sich keine grundlegenden Unterschiede zu den Folgen der Einstellung nach § 207 InsO, mit Ausnahme der ausdrücklichen Zulässigkeit von Nachtragsverteilungen7.

30.74

1 2 3 4 5 6 7

Götker, Der Geschäftsführer in der Insolvenz der GmbH, 1999, Rz. 1073 m.w.N. LG München I v. 22.8.2017 – 14 T 11732/17, NZI 2017, 969 = ZIP 2017, 2272. Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2022, Rz. 1259. KG v. 20.10.2011 – 25 W 36/11, GmbHR 2012, 216. v. Gerkan, EWiR § 2 LöschG 1/99, 1073. KG v. 28.9.2018 – 22 W 60/14, ZIP 2019, 1721. Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 211 InsO Rz. 12.

Vallender | 983

§ 30 Rz. 30.75 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

30.75

Umstritten ist die Zulässigkeit von Nachtragsverteilungen nach Einstellung des Verfahrens mangels Masse (§ 207 InsO). Mit seiner Entscheidung vom 10.10.2013 hat der BGH1 die seit langem geführte Diskussion2 beendet, indem er klarstellt, dass eine Anordnung einer Nachtragsverteilung auch im Anschluss an eine Einstellung des Insolvenzverfahrens aufgrund des Fehlens einer die Verfahrenskosten deckenden Masse zulässig ist. Damit schafft er Klarheit für die Praxis. Tatsächlich ist kein Grund ersichtlich, dem unredlichen Schuldner, dem die Kostenstundung aufgehoben wird, Gegenstände zu belassen, die nachträglich – wenn auch nur zur Kostendeckung – zur Masse im Wege der Nachtragsverteilung gezogen werden könnten.

30.76

Wird das Insolvenzverfahren mangels Masse (§ 207 InsO) oder nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit (§ 211 InsO) eingestellt, ist nach h.M.3 für eine Fortsetzung der GmbH kein Raum. Bitter hält zwar weiter an seiner in der 11. Auflage des Scholz vertretenen gegenteiligen Auffassung fest, nach der die Problemlösung nicht im Verbot der Fortsetzung bestehen sollte, sondern in den Mindestanforderungen, die an die Fortsetzung zu stellen sind4. Er räumt aber ein, dass als Wegweiser für die Praxis die Entscheidung des BGH vom 28.4.20155, nach der eine durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen aufgelöste GmbH nur in den in § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG genannten Fällen fortgesetzt werden kann, in jedem Fall anzuerkennen und deshalb zukünftig noch weniger als bisher damit zu rechnen sei, dass eine Eintragung der Fortsetzung der Gesellschaft ins Handelsregister in anderen als den in § 60 Abs. 1 Nr. 4 genannten Fällen gelinge6. Folgt man der h.M., die für sich in Anspruch nehmen kann, dass es der Gesetzgeber bei den in § 60 Abs. 1 Nr. 4 InsO aufgezählten Fällen belassen hat, schließt sich nach § 394 Abs. 1 FamFG die Löschung der Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit an, die ohnehin einem Fortsetzungsbeschluss entgegensteht7.

30.77

Soweit dagegen die Einstellung des Verfahrens gemäß § 212 InsO oder gemäß § 213 InsO erfolgt, ist eine Fortsetzung der GmbH zulässig. Allerdings darf die Gesellschaft noch nicht durch Beendigung erloschen, mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens an die Gesellschafter noch nicht begonnen worden sein und das Gesellschaftsvermögen muss mindestens die Schulden decken8. In diesem Falle haben die Geschäftsführer der GmbH dafür Sorge zu tragen, dass die Gesellschafter die Fortsetzung der aufgelösten Gesellschaft beschließen9. Solange ein Fortsetzungsbeschluss nicht ergangen ist, üben die Geschäftsführer das Amt des Liquidators aus.

30.78

Nach herrschender Meinung bedarf der Beschluss über die Fortsetzung der Gesellschaft in Anlehnung an § 274 Abs. 1 Satz 2 AktG einer Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen der Gesellschafter10. Der Beschluss ist grundsätzlich formfrei. Etwas anderes gilt nur dann, wenn eine Satzungsänderung erforderlich wird (vgl. § 53 GmbHG). Zwar wird die Ansicht 1 BGH v. 10.10.2013 – IX ZB 40/13, NZI 2013, 1019 = ZIP 2013, 2320. 2 Zum Meinungsstand s. die Darstellung in BGH v. 10.10.2013 – IX ZB 40/13, NZI 2013, 1019 Rz. 15 und 16 = ZIP 2013, 2320. 3 Vgl. nur Haas in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 60 GmbHG Rz. 95a. 4 Bitter in Scholz, 11. Aufl. 2015, vor § 64 GmbHG Rz. 179 ff. 5 BGH v. 28.4.2015 – II ZB 13/14, ZIP 2015, 1533 = GmbHR 2015, 814; s. ferner BGH v. 8.4.2020 – II ZB 3/19, ZIP 2020, 1124 Rz. 14 = GmbHR 2020, 832 m. Anm. Wachter. 6 Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 238/239. 7 Haas in Noack/Servatius/Haas, 23. Aufl. 2022, § 60 GmbHG Rz. 95. 8 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff, § 60 GmbHG Rz. 28 ff.; Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 113. 9 Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817, 830. 10 Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 103 m.w.N.

984 | Vallender

§ 30 Beendigung des Verfahrens und gesellschaftsrechtliche Folgen | Rz. 30.80 § 30

vertreten, dass der Fortsetzungsbeschluss auch stillschweigend gefasst werden kann1. Von dieser Möglichkeit sollte indes nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden, weil der Übergang zeitlich nur sehr schwer zu bestimmen ist und dadurch die Anmeldung verzögert werden kann2. Der Fortsetzungsbeschluss ist eintragungspflichtig. Die Eintragung hat jedoch nur deklaratorische Bedeutung und bedarf daher der Anmeldung3. Diese kann nur erfolgen, wenn zuvor auch die Auflösung eingetragen worden ist; spätestens mit der Fortsetzung ist auch die Auflösung anzumelden4. Mit dem Fortsetzungsbeschluss rücken die Liquidatoren wieder in ihre ursprüngliche Rechtsposition als Geschäftsführer der Gesellschaft ein. Eine Kündigung des Dienstvertrags durch den Insolvenzverwalter wird hiervon nicht berührt. Mithin bedarf es eines Neuabschlusses des Geschäftsführervertrages5.

30.79

8. Die GmbH & Co. KG nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der KG wird diese nach § 131 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 161 Abs. 2 HGB6 aufgelöst. Dieser Umstand hat auf den Fortbestand der GmbH, soweit nicht für deren Auflösung ein Grund vorliegt, keinen Einfluss, wenn nicht im Gesellschaftsvertrag der GmbH gemäß § 60 Abs. 2 GmbHG etwas anderes bestimmt ist. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der KomplementärGmbH führt zu deren Auflösung gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG und nach § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB7 zum Ausscheiden der GmbH aus der KG. Karsten Schmidt8 hält diese Rechtsfolge nicht in jedem Fall für sachgerecht. Er schlägt im Falle einer Simultaninsolvenz, bei dem (nahezu) gleichzeitig das Insolvenzverfahren über das Vermögen beider Gesellschaften eröffnet wird, vor, die Vorschrift des § 131 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 130 Abs. 1 Nr. 3 HGB) (Rz. 29.7) teleologisch zu reduzieren, um ein Erlöschen der KG zu vermeiden und so ein Insolvenzverfahren über deren Vermögen zu ermöglichen9. Für eine solche Reduktion ist indes dann kein Raum vorhanden, wenn die Komplementär-GmbH gemäß § 394 FamFG als vermögenslos gelöscht und wegen tatsächlicher Vermögenslosigkeit vollbeendet ist10. Nach der Gegenansicht wird trotz Ausscheidens der Komplementär-GmbH ein über das KG-Vermögen eröffnetes Insolvenzverfahren in jedem Fall fortgeführt, bei Gesamtrechtsnachfolge auf 1 2 3 4 5 6

7 8 9 10

S. dazu BayObLG v. 9.11.1989 – BReg 3 Z 17/89, DB 1990, 168 Rz. 15. Fichtelmann, GmbHR 2005, 67, 69. Fichtelmann, GmbHR 2005, 67, 73. BayObLG v. 6.8.1987 – BReg 3 Z 106/87, GmbHR 1988, 60 = BB 1987, 2119. Uhlenbruck, GmbHR 2005, 817, 830. Am 17.8.2021 ist das Personengesellschaftsrechtsmodernisierungsgesetz (MoPeG) im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 2021, 3436) verkündet worden. Neben der Einführung eines Registers für BGB-Gesellschaften und der Öffnung von Handelsgesellschaften für Freiberufler bringt es zahlreiche weitere Änderungen. Die Reform wird erst am 1.1.2024 in Kraft treten. Das OHG-Recht wurde redaktionell überarbeitet. Weitgehend erhalten, wenn auch neu nummeriert und zum Teil redaktionell überarbeitet, bleibt die ausführliche Regelung zu Ausscheiden, Auflösung und Liquidation (§§ 130–160 HGB n.F.). Die Änderungen finden über den Generalverweis in § 161 Abs. 2 HGB auch auf die KG Anwendung (Bachmann, NJW 2021, 3073, 3077). Das KG-Recht erfährt nur punktuelle Korrekturen. Die bestehenden Vorschriften behalten ihre hergebrachte Nummerierung. Künftig § 138 Abs. 1 Nr. 2 HGB n.F. Karsten Schmidt in Scholz, 9. Aufl., vor § 64 GmbHG Rz. 158; ihm folgend mit ausführlicher Begründung Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 266 ff. Ähnlich OLG Hamm v. 3.7.2003 – 15 W 375/02, GmbHR 2003, 1361, 1362 = ZIP 2003, 2264. Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 271.

Vallender | 985

30.80

§ 30 Rz. 30.80 | 7. Teil Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren

den verbleibenden Kommanditisten als Partikularverfahren in analoger Anwendung der Vorschriften über die Nachlassinsolvenz (§§ 315 ff. InsO)1.

30.81

Der Anwendungsbereich des § 394 FamFG umfasst nach Abs. 4 der Vorschrift auch die GmbH & Co. KG. Die Vorschrift will verhindern, dass eine GmbH & Co. KG, die über kein Vermögen mehr verfügt, weiterhin am Geschäftsverkehr teilnimmt. Eine Löschung der GmbH & Co. KG im Handelsregister setzt, soweit sie sich auf die Vermögenslosigkeit bezieht, indes voraus, dass sowohl die KG als auch die Komplementär-GmbH vermögenslos sind (§ 394 Abs. 4 Satz 2 FamFG). Soweit eine GmbH & Co. KG nach § 131 Abs. 2 Nr. 2 HGB (ab 1.1.2024: § 138 Abs. 2 Nr. 2 HGB) als vermögenslos gelöscht worden ist, scheidet ihre Fortsetzung aus.

30.82

Fortsetzungsfähig ist die GmbH & Co. KG nur, solange nicht mit der Verteilung des KG-Vermögens begonnen worden ist. Für die durch Insolvenzverfahrenseröffnung aufgelöste KG kann nach § 144 HGB (ab 1.1.2024: § 142 HGB) die Fortsetzung beschlossen werden, wenn das Insolvenzverfahren nach Bestätigung des Insolvenzplans aufgehoben oder auf Antrag der Schuldnerin eingestellt ist2. Nach h.M. sind Fortsetzungsbeschlüsse über den Gesetzeswortlaut hinaus zulässig, wenn das Verfahren mangels Masse eingestellt oder nach dem Schlusstermin aufgehoben ist3. Soweit sich die Komplementär GmbH in der Insolvenz befindet, mangelt es der KG zur Fortsetzung an einem geeigneten Komplementär.

1 Albertus/Fischer, ZInsO 2005, 246 ff.; ausf. Bork/Jacoby, ZGR 2005, 611 ff. insbes. 650 ff. 2 Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 297. 3 S. hierzu Bitter in Scholz, 12. Aufl. 2021, vor § 64 GmbHG Rz. 297.

986 | Vallender

8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

§ 31 Der Insolvenzplan I. Überblick 1. Planmotive Für den Schuldner stehen als Motive die Restschuldbefreiung (§ 1 Satz 2, § 227 InsO) und Erhaltung des Unternehmens (§ 1 Satz 1 InsO) im Vordergrund. Ein im Zusammenhang mit dem Suhrkamp-Verfahren in den Focus gerückter Nebeneffekt des eigentlich nur der besseren Gläubigerbefriedigung dienenden Gesellschafterwechsels ist eine Neuordnung des Gesellschafterkreises, namentlich durch Ausschluss oder Entmachtung eines lästigen Gesellschafters1. Deshalb sehen einige den Insolvenzplan schon als „gesellschaftsrechtliches Universalwerkzeug“2 an, was andere wiederum für eine missbräuchliche „Entrechtung der Gesellschafter“3 halten4. Vorrangiges Ziel bleibt jedoch die Gläubigerbefriedigung, was namentlich bedeutet, dass ein Insolvenzgrund von der die Umstrukturierung verfolgenden Gesellschaftergruppe nicht nur vorgeschoben werden darf. Die Neuordnung der gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse ist nur legitim, wenn dies der Gläubigerbefriedigung dient. Der Erhalt des Unternehmens ließe sich auch dadurch erreichen, dass die Aktiva an eine aus den Gesellschaftern der Schuldnerin bestehende neue Gesellschaft verkauft werden würden. Gemäß § 162 InsO müsste darüber die Gläubigerversammlung befinden. Sie entscheidet mit einfacher Forderungsmehrheit (§ 76 Abs. 2 InsO). Über den Insolvenzplan wird hingegen in Gruppen abgestimmt (§§ 222, 243 InsO). In Verbindung mit dem Obstruktionsverbot reicht hingegen das Votum einer Minderheit aus, um dem Plan zum Erfolg zu verhelfen. Als Beispiel sei angenommen, dass die Banken 60 % der Forderungen auf sich vereinigen, die Lieferanten 25 % und diverse Vermieter 15 %. Für die Zustimmung einer Gruppe bedarf es der Kopf- und der Forderungsmehrheit (§ 244 Abs. 1 InsO). Für die Lieferanten- und die Vermietergruppe würden also gerundet 13 % bzw. 8 % der Forderungen genügen, einmal unterstellt, dass auch die Kopfmehrheit erreicht wird, für die viele kleine Gläubiger das Zünglein an der Waage sein können. Dann würden die jeweiligen gruppeninternen Mehrheiten von zusammen 21 % eine Gruppenmehrheit bilden. Diese Mehrheits-Mehrheit kann somit einen Insolvenzplan herbeiführen, selbst wenn die übrigen Gläubiger mit 79 % der Forderungen ihn ablehnen sollten; denn eine etwa fehlende Zustimmung der Bankengruppe würde als erteilt gelten, falls die Voraussetzungen des Ob1 Vgl. die Fallgestaltungen bei BVerfG v. 17.10.2013 – 2 BvR 1978/13, ZIP 2013, 2163; BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 41 f. = AG 2014, 779. 2 Eidenmüller, NJW 2014, 17. 3 Müller, DB 2014, 41. 4 Der Streit basiert auf den unterschiedlichen Wertungen der „Gesellschaftsrechtler“ einerseits, z.B. Schäfer, ZIP 2014, 2417; Wertenbruch, ZIP 2013, 1693 und der „Insolvenzrechtler“ andererseits, z.B. Hölzle, ZIP 2014, 1819; Thole, ZIP 2013, 1937.

Spliedt | 987

31.1

§ 31 Rz. 31.1 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

struktionsverbots gemäß § 245 InsO vorlägen, wenn also insbesondere die in dieser Gruppe vertretenen Gläubiger nicht schlechter gestellt werden würden als ohne Plan (zu den Einzelheiten s. Rz. 32.45 ff.).

31.2

Damit hat das Planverfahren neben dem Erhalt des Unternehmens und dem Fortbestehen des Schuldners als Unternehmensträger (§ 259 Abs. 1 Satz 2 InsO) auch den Zweck, den Willensbildungsprozess zu verändern. Besonders deutlich wird dies, seitdem verfahrensleitende Pläne (§ 217 Abs. 1 InsO: „Verfahrensabwicklung“) zulässig geworden sind. Damit kann in der Regelabwicklung all das, worüber Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung mit Mehrheit entscheiden müssten, durch eine Mehrheits-Mehrheit via Insolvenzplan bestimmt werden. Dahinter steht die aus dem US-amerikanischen Chapter 11-Verfahren übernommene Vorstellung, dass die Willensbildung innerhalb von Interessengruppen zu sinnvolleren Ergebnissen führt als einfache Mehrheitsentscheidungen.

31.3

Für die Gläubiger steht als Motiv die bessere Befriedigung als bei der Regelabwicklung im Vordergrund. Das wird erreicht durch die indirekte Verwertung nicht übertragbarer Vermögensgegenstände wie beispielsweise Miet- oder Lizenzverträge. Während vor dem ESUG die Gläubiger von der Bereitschaft des Schuldners abhängig waren, einen Beitrag für die an der Gesellschaft „klebenden“ Werte zu zahlen, ermöglicht § 225a InsO, die Gesellschafter durch den Insolvenzplan komplett auszuwechseln, so dass ein Investor auch die Vermögensgegenstände vergüten kann, die anderenfalls verloren gingen. So tritt das Insolvenzplanverfahren zunehmend aus seinem „Schattendasein“1.

2. Plangegenstand 31.4

In einem Insolvenzplan dürfen nur die plandispositiven Rechte geregelt werden, die § 217 InsO abschließend2 aufzählt. Seitdem durch das ESUG auch die „Verfahrensabwicklung“ hinzugekommen ist, kann die gesamte Regelabwicklung im Plan modifiziert werden, nur dass das Ergebnis für die Beteiligten nicht verschlechtert werden darf (§ 251 InsO). Auch wurde im Rahmen des SanInsFoG in Abs. 2 die Möglichkeit aufgenommen, die Rechte der Inhaber von Insolvenzforderungen zu gestalten, die diesen aus einer von einem verbundenen Unternehmen im Sinne des § 15 AktG übernommenen Haftung oder an Gegenständen des Vermögens dieses Unternehmens (gruppeninterne Drittsicherheit) zustehen. Planresistent sind naturgemäß die Planvorschriften selbst sowie zentrale verfahrensrechtliche Bestimmungen, zu denen beispielsweise die Befugnisse des Insolvenzgerichts, die Unabhängigkeit und (wohl auch3) Haftung des Verwalters/Sachwalters sowie die Teilnahme der Gläubiger am Verfahren gehören.

31.5

Nach den Planzielen wird unterschieden zwischen einem Fortführungsplan, bei dem das schuldnerische Unternehmen zumindest teilweise vom Schuldner fortgeführt werden soll, einem Liquidationsplan, bei dem die Vermögensgegenstände einzeln oder in Gruppen veräußert werden, sowie einem verfahrensleitenden Plan, mit dem einige Abwicklungsvorschriften modifiziert werden. Die ersten führen zu einer Aufhebung des Insolvenzverfahrens, während der verfahrensleitende Plan die Fortsetzung des Verfahrens zu den im Plan geregelten Bedingungen bezweckt. Mischformen wie beispielsweise ein verfahrensleitender Liquidations1 So Paulus, WM 2011, 2205. 2 BGH v. 15.4.2010 – IX ZR 188/09, ZIP 2010, 1039 Rz. 21 = AG 2010, 491; BGH v. 5.2.2009 – IX ZB 230/07, ZIP 2009, 480 Rz. 25 (beide jeweils zum Recht vor der Ergänzung des § 217 InsO um verfahrensleitende Pläne). 3 Haas in Kayser/Thole, § 217 InsO Rz. 9.

988 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.13 § 31

plan sind zulässig, weil seit dem ESUG große Gestaltungsfreiheit herrscht. In der Praxis gibt es bisher aber nahezu ausschließlich Fortführungspläne1. Einstweilen frei.

31.6–31.10

II. Einzelheiten zum Planinhalt 1. Darstellender Teil, Plananlagen Der Planinhalt soll den Gläubigern laut § 220 Abs. 2 InsO die Entscheidung darüber ermöglichen, ob sie das Ergebnis einer Regelabwicklung zugunsten des Planergebnisses investieren wollen2. Außerdem muss das Gericht in die Lage versetzt werden, die inhaltliche Prüfung nach §§ 231, 250 InsO vorzunehmen3 und über ein Obstruktionsverbot (§ 245 InsO), einen Minderheitenschutzantrag (§ 251 InsO) sowie ein Rechtsmittel (§ 253 InsO) zu entscheiden.

31.11

Deshalb ist als Erstes eine Vermögensübersicht erforderlich. Sie wird in § 229 InsO zwar nur für den Fall verlangt, dass die Gläubiger aus den Erträgen der Unternehmensfortführung befriedigt werden sollen, was sich aber auf die besonderen Fortführungswerte („bei einem Wirksamwerden des Plans“, § 229 Satz 1 InsO) bezieht, auf denen die Aufwendungen und Erträge (Plan-GuV) sowie die Liquiditätsentwicklung für den Zeitraum basieren, in dem die Gläubiger aus Fortführungserträgen befriedigt werden sollen. Unabhängig davon muss immer die Ist-Situation dargestellt werden. Ein Plan ohne Verzeichnis der Massegegenstände (§ 151 InsO), Gläubigerverzeichnis (§ 152 InsO) und Vermögensübersicht (§ 153 InsO) hat das Insolvenzgericht gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 1, § 250 Nr. 1 InsO zurückzuweisen4. Die Gliederungstiefe hängt von der wirtschaftlichen Bedeutung des Vermögensgegenstandes ab5. Eine Bewertung jedes einzelnen Gegenstandes, wie § 151 InsO sie vorschreibt, führt zur Unübersichtlichkeit und Scheingenauigkeit, weil sich sein Wert bei einer Fortführung nur aus dem Gesamtwert aller funktional zusammengehörenden Gegenstände ableiten lässt. Eine Einzeldarstellung macht hingegen Sinn, wenn eine Liquidation angestrebt wird, aber auch dort nur, soweit nicht funktional zusammengehörende Einheiten (z.B. Produktionsstraße, Gebäude mit Betriebsvorrichtungen) veräußert werden sollen. Ansonsten reicht eine Anlehnung an die Gruppen-Gliederung einer Bilanz mit Erläuterung besonders wichtiger Vermögensgegenstände.

31.12

Bei einer Fortführung sind Angaben zum Unternehmenswert (Wert aller materiellen und immateriellen Vermögensgegenstände als Bewertungseinheit) schon im Hinblick auf etwaige Entscheidungen über das Obstruktionsverbot oder den Minderheitenschutz sinnvoll. Die Prüfungstiefe hängt von der Entscheidungsrelevanz ab. Stellen bspw. die Gesellschafter Mittel zur Gläubigerbefriedigung bereit, die jedweden Unternehmenswert übersteigen, bedarf es keiner aufwendigen Sachverständigengutachten. Gleiches gilt, wenn mit Einwänden gegen den Plan nicht zu rechnen ist. Für kleine Unternehmen gibt es häufig näherungsweise heranzuziehende Vergleichswerte6, so dass eine detaillierte Bewertung selten die Entscheidungsgrundlage ver-

31.13

1 Zur Ausnahme eines – vor dem ESUG noch unzulässigen – verfahrensleitenden Plans s. BGH v. 5.2.2009 – IX ZB 230/07, ZIP 2009, 480. 2 BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11, WM 2012, 1640. 3 Zur Qualität der gerichtlichen Vorprüfung s. Frind, WM 2018, 1920, 1922. 4 BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11, WM 2012, 1640. 5 BGH v. 3.12.2009 – IX ZB 30/09, ZIP 2010, 341. 6 Zur Unternehmensbewertung mithilfe von Multiplikatoren bei kontinuierlichen Erträgen: Hachmeister/Ruthardt, DStR 2015, 1702 ff., 1769 ff.

Spliedt | 989

§ 31 Rz. 31.13 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

bessert. Nur bei Unternehmen, bei denen solche Vergleichswerte nicht existieren, müssen die künftigen Erfolge explizit geplant und bewertet werden1. Dann sollte schon dem darstellenden Teil ein Sachverständigengutachten beigefügt werden. Das wird vom Gesetz zwar nicht verlangt, beschleunigt aber das Planverfahren, es sei denn, dass mit dissentierenden Beteiligten nicht gerechnet wird. Ein „Dual Track-Prozess“, bei dem das Unternehmen zum Verkauf angeboten wird, um einen Marktpreis zu ermitteln, ist hingegen nur erforderlich, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass Interessenten wegen der von ihnen realisierbaren Synergieeffekte einen höheren Preis zahlen würden als es dem Wert des Unternehmens in der Hand des Schuldners entspricht (Rz. 32.56, 35.51).

31.14

Bewertungen müssen durch eine Beschreibung der wirtschaftlichen Verhältnisse erläutert werden. Dazu sind die bisherige Entwicklung, die Krisenursachen, die gegenwärtige Lage, die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen bis hin zum Leitbild des sanierten Unternehmens darzustellen (§ 220 Abs. 1 InsO). Eines besonderen Sanierungsgutachtens bedarf es nicht zwingend, erst recht nicht in der Ausführlichkeit des IDW-Standards S 62. Auch ist nicht wie bei einem Schutzschirmantrag gemäß § 270b InsO die Sanierungsbescheinigung eines Sachverständigen beizufügen. Wichtig ist nur die nachvollziehbare und belastbare Erläuterung der Vermögensverhältnisse und künftigen Entwicklung, soweit sie für die Meinungsbildung der Gläubiger und eine streitige Entscheidung des Gerichts erforderlich sind (§ 220 InsO). Dazu gehört auch eine – nunmehr obligatorische – Vergleichsrechnung mit den Ergebnissen für die Gläubiger – und zwar auch für die gesicherten Gläubiger – bei einem Scheitern des Plans. Die Ausführlichkeit der Darstellung und ihre Unterlegung durch Sachverständigengutachten hängen letztlich von der Komplexität des Einzelfalls ab und insbesondere auch von der Vertrauenswerbung, die betrieben werden muss, um die Beteiligten von dem Plan zu überzeugen.

31.15

Besonders wichtig ist die Erläuterung der insolvenzspezifischen Ansprüche aufgrund einer etwaigen Geschäftsführerhaftung gemäß § 64 GmbHG a.F.3 bzw. § 15b InsO oder Anfechtungen gemäß §§ 129 ff. InsO. Auch Ansprüche aus Einlageverpflichtungen oder Einlagenrückgewähr sind aufzunehmen. All das sollte nach Grund und Drittschuldner aufgeschlüsselt werden, weil zusammengefasste Positionen keine Beurteilung der Erfolgsaussichten und Risiken ihrer Durchsetzung zulassen. Eine „Scheu“ vor transparenten Verhältnissen ist bei Forderungen gegen nahestehende Personen und wesentliche Geschäftspartner naturgemäß verbreitet. Unvollständige Angaben führen aber zu einer Versagung der Bestätigung4. Zumindest führen sie zu Verzögerungen wegen Nachfragen des Insolvenzgerichts. Auch droht bei einem in der Eigenverwaltung eingereichten Plan ein Antrag auf Aufhebung der Eigenverwaltung (§ 272 InsO). Die Planvorlage bewirkt keine Aufhebungssperre. Außerdem kann aus fehlerhaften Darstellungen eine Haftung der Geschäftsführung und, soweit er mitgewirkt (§ 284 Abs. 1 Satz 2 InsO) oder über Nachteile nicht informiert hat (§ 274 Abs. 3 InsO), des Sachwalters folgen.

2. Plangestaltungen 31.16

Der gestaltende Teil des Plans betrifft laut § 221 Satz 1 InsO die Veränderungen der Rechtsstellung der Beteiligten. Die Planwirkungen treten mit Rechtskraft der Bestätigung in Kraft (§§ 254 ff. InsO). Deshalb müssen die Gestaltungen – soweit nicht auch sachenrechtliche Änderungen vorgenommen werden – den schuldrechtlichen Anforderungen an Rechtsänderun1 2 3 4

IDW S 1, FN-IDW 2008, 271 ff. FN-IDW 2012, 719 ff. § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11, WM 2012, 1640.

990 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.19 § 31

gen bzw. -begründungen genügen, was letztlich nur bedeutet, dass ein Dissens zu vermeiden ist1. Für die Insolvenzgläubiger ist festzulegen, wann sie welche Zahlungen erhalten sollen. Beides muss nicht terminlich oder betraglich fixiert, sondern kann auch von Bedingungen abhängig gemacht werden wie beispielsweise dem Erfolg einer Unternehmensfortführung. Das ist dann zwar gemäß § 257 InsO nur vollstreckbar, wenn die Fälligkeitsvoraussetzungen durch öffentlich beglaubigte Urkunden nachgewiesen werden2, aber immerhin eine Regelung, die sich für eine Planüberwachung (§ 260 InsO) eignet. Ebenso kann für die gesicherten Gläubiger festgelegt werden, wann und unter welchen Voraussetzungen sie welche Verwertungserlöse erhalten, wobei auch hier der Betrag von den Modalitäten der Verwertung abhängig gemacht werden kann. Bei einem verfahrensleitenden Plan kann für die Insolvenzgläubiger geregelt werden, wie ihre Forderungen berechnet werden3. Sollen Sicherungsrechte geändert werden, ist zu unterscheiden zwischen nur schuldrechtlichen Änderungsabsprachen, die noch des Vollzuges bedürfen, und solche Abreden, die mit der Planbestätigung gemäß § 254a InsO wirksam werden sollen. Sie müssen dann dem sachenrechtlichen Gebot der Bestimmtheit bzw. bei Forderungen der Bestimmbarkeit und bei registrierten Gegenständen den besonderen dafür geltenden Anforderungen genügen (§ 228 InsO). Die Formerfordernisse wie insbesondere die notarielle Beurkundung gelten als durch den Plan gewahrt (§ 254a Abs. 1 InsO).

31.17

Die Parteien der Rechtsänderungen müssen nicht zu den in § 222 InsO genannten Beteiligten gehören. Auch vom Insolvenzverfahren nicht betroffene Dritte können sich dem Plan unterwerfen. § 230 Abs. 3 InsO spricht zwar nur von Verpflichtungen der Dritten gegenüber den Gläubigern. Das beschränkt sich jedoch nicht auf Plangaranten, gegen die Ansprüche der Gläubiger begründet werden. Auch die Verpflichtung eines Dritten beispielsweise zum Verkauf eines für die Betriebsfortführung notwendigen Gegenstandes oder zu einer Sacheinlage im Rahmen einer Kapitalerhöhung (s. hierzu § 230 Abs. 2 InsO) ist eine Verpflichtung, die unmittelbar zwar den Schuldner betrifft, gleichwohl aber auch im Interesse des Gläubigers liegt, weil davon die Realisierung des Planergebnisses abhängt. Deshalb bezieht § 254a Abs. 3 InsO die Einhaltung der Formvoraussetzungen allgemein auf sämtliche „Verpflichtungserklärungen“. Alternativ zur Aufnahme solcher Rechtsänderungen in den Plan kann ihre Durchführung auch als Bedingung vorgesehen werden. Sie muss vor der Planbestätigung vollzogen werden (§ 249 InsO). Sinnvoll ist eine solche separate Durchführung der Rechtsänderung, wenn darüber bis zur Planvorlage mit den Dritten noch nicht in sämtlichen Punkten Einvernehmen erzielt werden konnte.

31.18

Der Insolvenzverwalter kann im Plan zu Ergänzungen und Durchführungsmaßnahmen bevollmächtigt werden (§ 221 Satz 2 InsO). Von der Vollmacht darf aber nur Gebrauch gemacht werden, wenn die Plangestaltung keinen Raum für einen Dissens lässt. In der Eigenverwaltung

31.19

1 Zur Auslegung s. Spliedt in Karsten Schmidt, Einl. § 217 InsO Rz. 6. 2 Dazu Spliedt in Karsten Schmidt, § 257 InsO Rz. 8. 3 Vor der Ergänzung des § 217 InsO um verfahrensleitende Pläne hat BGH v. 5.2.2009 – IX ZB 230/ 07, ZIP 2009, 480 f. Rz. 25 f. eine Änderung der Vorgehensweise bei der Forderungsfeststellung noch für unzulässig gehalten, weil durch Mehrheitsbeschluss einzelnen Gläubigern die Forderung nicht entzogen werden darf. Die Begründung hat auch nach der Ergänzung des § 217 InsO Bedeutung, steht aber nunmehr im Konflikt mit §§ 245, 251 InsO, die eine Prüfung erst nach der Ablehnung durch eine Gruppe oder einen einzelnen Beteiligten zulassen, während planfeste Rechte von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Die Grenze ist dort zu ziehen, wo ein Planeingriff in das Verfahren zur Feststellung von Forderungen nicht mehr durch eine unsichere Tatsachen- oder Rechtslage motiviert ist.

Spliedt | 991

§ 31 Rz. 31.19 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

nimmt der Schuldner die Aufgaben des Insolvenzverwalters als Amtswalter1 wahr (§ 270 Abs. 1 Satz 2 InsO). Wegen seiner unmittelbaren Betroffenheit von den Planregelungen ist die Erteilung der Durchführungsvollmacht an ihn jedoch unzulässig. Da der Wortlaut des § 221 InsO diesen Fall nicht ausdrücklich erfasst, ist im Wege der ergänzenden Auslegung eine Bevollmächtigung des Sachwalters als zulässig anzusehen2.

31.20

Ohne eine ausdrückliche Bestimmung im Plan wird die Rechtsstellung der Beteiligten nicht beeinträchtigt (§ 223 Abs. 1, §§ 224, 225a Abs. 1 InsO). Nur die nachrangigen Forderungen gelten bei einem Schweigen des Plans als erlassen (§ 225 Abs. 1, 3 InsO). Das gilt hingegen nicht für die Anteilsinhaber, obwohl sie wirtschaftlich als nach-nachrangige Gläubiger angesehen werden. Ihre Rechte ändern sich wie die anderer Beteiligter nur, wenn dies im Plan ausdrücklich vorgesehen ist und für sie eine gesonderte Gruppe gebildet wird (§ 222 Abs. 1 Nr. 4, § 225a Abs. 1 InsO).

3. Gruppenbildung 31.21

Die Gruppenbildung ist das Einfallstor für die Mehrheits-Mehrheit, mit der eine Forderungsminderheit das Verfahrensergebnis bestimmen kann (s. Rz. 31.1). Das taktische Motiv für die Gruppenbildung ist neben der Mehrheitsbeschaffung die formale Pflicht zur Gleichbehandlung der Gruppenmitglieder gemäß § 226 Abs. 1 InsO. Bei den Insolvenzgläubigern mögen bspw. Großgläubiger an der Erhaltung der Gesellschaft interessiert sein. Würden sie in einer Gruppe mit verärgerten Kleingläubigern zusammengefasst werden, läuft der Planverfasser Gefahr, dass die für die Abstimmung erforderliche Kopfmehrheit nicht erreicht wird. Deshalb wird er den Kleingläubigern eine höhere Quote anbieten, was aber wegen des Gleichbehandlungsgebots die Bildung einer gesonderten Kleingläubigergruppe erfordert. Allerdings kann an dieser Besserstellung das Obstruktionsverbot scheitern, vgl. § 245 Abs. 2 Nr. 3 InsO.

31.22

Eine Unterteilung der Gläubiger in Gruppen ist andererseits aber auch nicht zwingend. Nur für den Pensionssicherungsverein sieht § 9 Abs. 4 Satz 1 BetrAVG eine Pflichtgruppe vor, wenn er Versorgungsleistungen übernehmen muss. Im Übrigen kann sich der Plan auf eine einzige Gruppe aus den Insolvenzgläubigern beschränken3. Das Abstimmungsverfahren bei einem Ein-Gruppen-Plan unterscheidet sich von dem in der Gläubigerversammlung dadurch, dass es für die Planannahme neben der Summen- auch der Kopfmehrheit bedarf (§ 244 Abs. 1 InsO), während in der Gläubigerversammlung die Summenmehrheit genügt (§ 76 Abs. 2 InsO).

31.23

Beteiligte, in deren Rechtsstellung nicht eingegriffen wird, sind im Plan nicht zu berücksichtigen. Etwas anderes gilt, wie soeben erwähnt, für die nachrangigen Insolvenzgläubiger, deren Forderungen gemäß § 225 InsO als erlassen gelten. Für sie ist eine Gruppe nur zu bilden, wenn sie ausnahmsweise eine Quote erhalten sollen (§ 222 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Ansonsten sind Gruppen für Beteiligte mit unterschiedlichen Rechtstellungen zu bilden (§ 222 Abs. 1 Satz 1 InsO). Darin liegt die Legitimation für die Mehrheits-Mehrheit: Nur wenn Gruppenangehörige nicht von Beteiligten mit einer anderen Rechtsposition majorisiert werden können, ist es gerechtfertigt, der Entscheidung einer Mehrheit der Gruppen eine Richtigkeitsgewähr beizumessen, die ein Obstruktionsverbot der Minderheit der Gruppen rechtfertigt (§ 245 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Erfüllt nur ein Beteiligter ein bestimmtes Kriterium (z.B. Vermieter des Betriebsgrundstücks), darf eine Gruppe auch nur aus ihm bestehen4. Für Arbeitnehmer 1 2 3 4

Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 270 InsO Rz. 141. Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 221 InsO Rz. 11. AG Duisburg v. 15.8.2001 – 43 IN 40/00, NZI 2001, 605. Spliedt in Karsten Schmidt, § 223 InsO Rz. 26.

992 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.25 § 31

sieht das Gesetz wegen der besonderen Rechtsnatur ihrer Ansprüche in § 222 Abs. 3 InsO eine besondere Gruppe vor, wenn sie mit erheblichen Forderungen beteiligt sind (dazu Rz. 32.76 ff.). Die Erheblichkeit wird aus der Arbeitnehmersicht definiert. Auf den Anteil ihrer Forderungen an den gesamten Verbindlichkeiten kommt es nicht an1. In der Praxis hat eine solche „Soll-Gruppe“ kaum Bedeutung, weil den Mitarbeitern wegen des mit dem Insolvenzgeld verbundenen Anspruchsübergangs nur die Vergütungsansprüche verbleiben, die die Beitragsbemessungsgrenze übersteigen. Auch wenn deshalb nur wenige Arbeitnehmer betroffen und die Voraussetzungen für die Soll-Gruppe nach § 222 Abs. 3 InsO nicht erfüllt sind, darf aus ihnen eine „Kann-Gruppe“ wegen der besonderen Interessenlage gebildet werden. Davon wird ein Planinitiator zur Mehrheitsbildung regelmäßig Gebrauch machen, weil den Arbeitnehmern an einer Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und damit auch an der Annahme eines Insolvenzplans gelegen ist, so dass er auf die Zustimmung dieser Gruppe zählen kann. Zu den Kleingläubigern und den geringfügig beteiligten Anteilseignern heißt es in § 222 Abs. 3 Satz 2 InsO, dass für sie gesonderte Gruppen gebildeten werden können. Die Beteiligten gleicher Rechtsstellung können weiter unterteilt werden in Beteiligte mit gleichartigen wirtschaftlichen Interessen (§ 222 Abs. 2 InsO). Ob dafür allein das Interesse am Planerfolg ausreicht, ist zweifelhaft. Dann könnte die Legitimationsgrundlage für die Mehrheits-Mehrheit – nämlich den Erfolgswillen nur innerhalb einer gleichartigen Gruppe durchsetzen zu können – unterlaufen werden. Der BGH hat es ausreichen lassen, dass sich die unterschiedlichen Interessen aus den Planwirkungen ergeben2. Das ist mehr als nur das Interesse an der erwarteten Quote, bspw. also zusätzlich an der Erhaltung des Arbeitsplatzes oder einer Fortsetzung der Geschäftsverbindung oder auch einer weiteren Beteiligung als Gesellschafter. Es dürfen mithin Lieferanten gleichartiger Gegenstände zu gleichartigen Preisen verschiedenen Gruppen zugeordnet werden, wenn mit dem einen die Geschäftsverbindung fortgesetzt werden soll, mit dem anderen hingegen nicht. Dadurch wird nicht das Gleichbehandlungsgebot des § 226 Abs. 1 InsO verletzt; denn dieses Gebot knüpft an die Gruppenmitgliedschaft an, nicht an die Rechtsstellung als Lieferant. Sonst wäre eine zusätzliche Differenzierung nach wirtschaftlichen Interessen nicht möglich.

31.24

Eine besondere Rechtsstellung haben absonderungsberechtigte Gläubiger. Sie sind Insolvenzgläubiger, müssen sich aber den Sicherheitenerlös auf ihre Quote anrechnen lassen. In der Gruppe der Insolvenzgläubiger sind sie deshalb nur mit dem mutmaßlichen Ausfall zu berücksichtigen3. Wird in ihr Sicherungsrecht eingegriffen, ist für die betroffenen Gläubiger gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine gesonderte Gruppe zu bilden, in der sie ein Stimmrecht nach Maßgabe des Sicherungswertes haben. Die Eingriffe in Sicherungsrechte können reichen von einer Verzögerung einer Verwertung über einen Sicherheitentausch bis hin zum gänzlichen Verlust des Sicherungsrechts. Zivilrechtlich wäre die Mitwirkung des Sicherungsnehmers an einer dinglichen Rechtsänderung erforderlich, die durch die rechtskräftige Planbestätigung fingiert wird (§ 254 Abs. 1, § 254a Abs. 1 InsO), selbst wenn der betroffene Gläubiger am Planverfahren nicht teilgenommen oder dem Plan gar widersprochen hat (§ 254b InsO). Diese Möglichkeit zum Eingriff in individuelle Sicherungsrechte ist die Konsequenz der Einbindung von absonderungsberechtigen Gläubigern auch in die Regelabwicklung. Anders verhält es sich hingegen mit den aussonderungsberechtigten Gläubigern, deren Rechte nicht durch die InsO begrenzt werden, sondern sich gemäß § 47 InsO nach den Gesetzen außerhalb des Ver-

31.25

1 Spliedt in Karsten Schmidt, § 222 InsO Rz. 21. 2 BGH v. 7.7.2005 – IX ZB 266/04, ZIP 2005, 1648 unter III.4.b). 3 Anders ist es in der Gläubigerversammlung, in der sich ihr Stimmrecht nach ihrer Nominalforderung bemisst.

Spliedt | 993

§ 31 Rz. 31.25 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

fahrens richten. Das gilt auch für diejenigen aussonderungsberechtigten Gläubiger, die, wie insbesondere Eigentumsvorbehaltslieferanten, eine wirtschaftlich einem Sicherungsgeber vergleichbare Position innehaben.

31.26

Die janusköpfige Beteiligung der gesicherten Gläubiger mit ihrer Ausfallforderung in der Gruppe der Insolvenzgläubiger und mit dem gesicherten Teil ihrer Forderung in der Gruppe der absonderungsberechtigten Gläubiger birgt die Gefahr der verschleierten Ungleichbehandlung. Ist für die gesicherten Gläubiger bspw. eine Quote von 90 % ihrer Forderungen vorgesehen, entspricht der Wert der Sicherheiten dem aber nicht, erhalten sie de facto diese Quote auch auf ihre ungedeckte Forderung. Das wäre eine erhebliche Besserstellung, wenn auf andere Insolvenzforderungen bspw. nur 15 % entfielen. Sie kommt dadurch zustande, dass die gesicherten Gläubiger auch mit ihrer Ausfallforderung der „Absonderungsgruppe“ zugeordnet wurden. Darin wird ein Verstoß gegen die von § 222 Abs. 2 InsO geforderte sachgerechte Abgrenzung gesehen, der schlagwortartig als das „Verbot von Mischgruppen“ bezeichnet wird1. An der Berechtigung eines solchen Verbots gibt es Zweifel, weil das Gleichbehandlungsgebot nur gruppenintern, nicht aber gruppenübergreifend gilt (s. Rz. 31.1). So könnte eine eigene Gruppe für Ausfallforderungen gebildet werden2. Wäre die darauf entfallende Quote höher als die auf andere Insolvenzforderungen, wäre das nur im Rahmen des Obstruktionsverbots oder des Minderheitenschutzes zu prüfen. Voraussetzung für eine solche Prüfung aber wäre eine Ablehnung des Plans durch eine Gruppe oder der Schutzantrag eines Beteiligten. Würde man stattdessen eine Mischgruppe ohne Rücksicht auf das Votum der Beteiligten für unzulässig halten, wäre der Plan schon von Amts wegen im Rahmen der § 231 Abs. 1 Nr. 1, § 250 InsO zu beanstanden. Dagegen spricht, dass eine Bewertung je nach Vermögensgegenstand einen erheblichen Beurteilungsspielraum eröffnet, den auszufüllen in erster Linie die Gläubiger aufgerufen sind, weil die Dispositionsbefugnis über die Befriedigungsquoten bei ihnen liegt3. Selbst aber wenn man mit der hier vertretenen Ansicht Mischgruppen für zulässig hält, müssen die Kriterien für die Gruppenbildung erläutert werden (§ 222 Abs. 2 Satz 3 InsO). Dazu gehört in erster Linie die Bewertung der Sicherheiten, weil nur dann deutlich wird, ob ein verkappter (Ausfall-)Insolvenzgläubiger in der Gruppe der Sicherheitengläubiger ist. Fehlt schon diese Erläuterung, ist der Plan von Amts wegen zurückzuweisen, nicht aber allein deshalb, weil das Gericht die Bewertung für falsch hält und deshalb eine verbotene Mischgruppe annimmt.

31.27

Für die Bewertung des Sicherungsguts ist nach Auffassung des BGH der Fortführungswert heranzuziehen4, wenn der Gegenstand weiterhin der Geschäftstätigkeit dienen soll. Es gibt jedoch keinen Grund, den Sicherungsgläubiger besser zu stellen als ohne Insolvenzplan. Mit dem Ansatz von Fortführungswerten wollte der BGH allerdings auch keinen Anspruch des Sicherungsgläubigers auf einen Erlös zu Fortführungswerten begründen, sondern nur eine Rechtfertigung für die höhere Quote im Vergleich zu den ungesicherten Gläubigern schaffen5. Insofern trifft es zu, dass eine Gruppe ungesicherter Gläubiger ihre Planablehnung nicht darauf stützen darf, dass die Ausfallforderung einiger gesicherter Gläubiger zu gering berechnet wurde, weil zu ihren Gunsten Fortführungswerte angesetzt wurden und sie deshalb auf einen eigentlich höheren Ausfall eine bessere Quote als die gänzlich ungesicherten Gläubiger bezie1 BGH v. 7.7.2005 – IX ZB 266/04, ZIP 2005, 1648. 2 Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 222 InsO Rz. 9. 3 Denkbar wäre aber ein gruppeninterner Verstoß gegen § 226 InsO, wenn ein Sicherungsgläubiger mehr als den tatsächlichen Sicherungswert erhält. Auch dann aber liegt die Dispositionsbefugnis vorrangig bei den anderen Gruppenmitgliedern (§ 226 Abs. 2 InsO). 4 BGH v. 7.7.2005 – IX ZB 266/04, ZIP 2005, 1648. 5 BGH v. 7.7.2005 – IX ZB 266/04, ZIP 2005, 1648.

994 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.31 § 31

hen. Wurden aber die Liquidationswerte angesetzt, darf der Plan nicht von Amts wegen zurückgewiesen werden. Vielmehr ist es das Vorrecht der Absonderungsgläubiger, den Plan abzulehnen, weil sie bei einer Regelabwicklung höhere Werte erzielen würden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Liquidationswert nicht identisch ist mit dem Einzel-Zerschlagungswert. Vielmehr kommt es auf die Zerschlagungsintensität an. Lässt sich eine Vermögensgesamtheit – technische Maschinengruppen über Teilbetriebe bis hin zum gesamten Unternehmen – besser veräußern als der einzelne Gegenstand, ist der dabei erzielbare Teilwert anzusetzen, auch wenn die Aufteilung wieder mit Unsicherheiten verbunden ist. Insofern kann also der Liquidationswert aus der Sicht des Verkäufers durchaus ein Fortführungswert aus der Sicht des Erwerbers sein.

4. Einbeziehung der Gesellschafter a) Gestaltungsmöglichkeiten Der durch das ESUG in die InsO eingefügte § 225a InsO eröffnet die Möglichkeit, die Anteilseigner in den Insolvenzplan einzubeziehen und insbesondere durch neue Investoren zu ersetzen. Dadurch können nicht übertragbare Vermögensgegenstände wie beispielsweise Genehmigungen, Lizenzen oder Mietverträge über einen share deal vergütet werden. Ein Nebeneffekt ist die Erleichterung der Eigensanierung durch den Ausschluss lästiger Gesellschafter1, der jedenfalls dann der Gläubigerbefriedigung dient, wenn ein Gesellschafterstreit zur Beeinträchtigung der operativen Geschäftstätigkeit führt.

31.28

§ 225a Abs. 3 InsO öffnet den Plan für jede gesellschaftsrechtlich zulässige Regelung. Dazu gehören bspw. Kapitalerhöhungen, Umwandlungen2 bzw. Ausgliederungen3, die Beteiligung neuer Gesellschafter, der Ausschluss von Bezugsrechten oder die Abfindung ausscheidender Gesellschafter.

31.29

Gesondert erwähnt § 225a InsO, dass schon im Plan eine Fortsetzung der durch die Insolvenzeröffnung aufgelösten Gesellschaft beschlossen werden darf. § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG lässt einen solchen Fortsetzungsbeschluss zwar erst nach Aufhebung des Verfahrens zu. Angesichts der schon mit der Rechtskraft der Planbestätigung eintretenden Wirkungen, die eine Überschuldung beseitigen, ist § 225a InsO dahingehend zu verstehen, dass der Fortsetzungsbeschluss nicht erst unter der aufschiebenden Bedingung wirksam werden soll, dass das Insolvenzverfahren formell aufgehoben wird. Vielmehr kann er schon mit Rechtskraft der Planbestätigung wirksam werden4.

31.30

b) Debt-Equity-Swap Besonders hervor hebt das Gesetz die Beteiligung der Gläubiger gegen Einlage der Insolvenzforderung (Debt-Equity-Swap; dazu auch Rz. 7.56). Davon wird in der Praxis aber nur Ge1 S. zum „Sanieren oder Ausscheiden“ BGH v. 19.10.2009 – II ZR 240/08, ZIP 2009, 2289 Rz. 28 ff. = GmbHR 2010, 32 m. Anm. Ulrich; BGH v. 25.1.2011 – II ZR 122/09, ZIP 2011, 768 Rz. 19 ff. = GmbHR 2011, 529 m. Anm. Ulrich; BGH v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, ZIP 2014, 565 Rz. 18, 27; BGH v. 21.10.2014 – II ZR 84/13, ZIP 2014, 2231 Rz. 18 f. = GmbHR 2014, 1303 m. Anm. Ulrich/ Schlichting. 2 Vgl. den Suhrkamp-Fall, BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 = AG 2014, 779. 3 Simon/Brünkmans, ZIP 2014, 657. 4 Vgl. zur Beschlussfassung außerhalb des Insolvenzverfahrens Bitter in Scholz, vor § 64 GmbHG Rz. 238 f.

Spliedt | 995

31.31

§ 31 Rz. 31.31 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

brauch gemacht, wenn Gläubiger über einen Forderungskauf von vornherein die Übernahme der Schuldnerin beabsichtigt haben („loan to own“), um dort nach einem Insolvenzplan stille Reserven zu „heben“. Ansonsten macht die Einlage von Forderungen wenig Sinn, weil eine insolvente Gesellschaft meist „fresh money“ braucht und sich die aus „old money“ resultierende Überschuldung schon durch die mit dem Plan gemäß § 227 InsO verbundene Haftungsbefreiung erledigt.

31.32

Bei einem Swap bringt der Gläubiger seine Forderung als Sacheinlage ein und erhält dafür einen Geschäftsanteil an der Gesellschaft. Wegen des Vollwertigkeitsgebots des § 9 GmbHG wird die Bewertung der Forderung als ein Problem angesehen, obwohl eine eigene Schuld aus Sicht der Gesellschaft immer vollwertig ist1. Die Einlage der gegen die Gesellschaft selbst gerichteten Forderung ist nicht vergleichbar mit der Einlage mit einer Forderung, die gegenüber Dritten besteht. Die überwiegende Meinung hält gleichwohl daran fest, dass die im Wege des Debt-Equity-Swaps eingebrachte Forderung nur mit dem Verkehrswert angesetzt werden darf, der auch bei einer Einbringung der Forderung in eine andere Gesellschaft zugrunde zu legen wäre. Bei gesicherten Gläubigern ist das der Verwertungserlös für das Absonderungsgut und die Quote auf den ungedeckten Teil, bei ungesicherten Forderungen nur die Quote. Diese Werte sind mit Prognoseunsicherheiten behaftet, so dass der in die Gesellschaft hineinwechselnde Gläubiger später Gefahr läuft, Differenzhaftungsansprüchen gemäß § 9 GmbHG ausgesetzt zu sein. Um einen Anreiz für den Debt-Equity-Swap zu bieten, bestimmt § 254 Abs. 4 InsO, dass der Schuldner nach der gerichtlichen Bestätigung keine Ansprüche wegen einer Überbewertung geltend machen kann. Gleiches gilt für spätere Gläubiger oder den Verwalter in einem Folgeinsolvenzverfahren, weil die Differenzhaftung ein Anspruch der Gesellschaft ist.

31.33

§ 254 Abs. 4 InsO will nur Bewertungsunsicherheiten vermeiden, ist aber kein Freibrief für sichere Überbewertungen. Eine gezielte Umgehung des Vollwertigkeitsgebots ist ein Verstoß gegen den Inhalt des Plans und gebietet eine Zurückweisung durch das Insolvenzgericht gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 1, § 250 Abs. 1 InsO. Voraussetzung ist jedoch eine evidente und zudem nicht unwesentliche (vgl. § 9c Abs. 1 GmbHG) Überbewertung, weil anderenfalls das Ziel der Haftungsbefreiung nicht erreicht werden würde. Weist das Insolvenzgericht gleichwohl den Plan nicht zurück, kommt eine spätere Differenzhaftung in Betracht, weil § 254 Abs. 4 InsO teleologisch dahingehend zu reduzieren ist, dass unvertretbare Überbewertungen nicht erfasst werden sollen.

c) Minderheitenschutz 31.34

Die in § 225a Abs. 3 InsO erwähnte gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit meint nur die formelle Zulässigkeit nach gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, nicht aber auch die inhaltliche Zulässigkeit im Verhältnis der Gesellschafter zueinander. Eine Inhaltskontrolle auf eine sachliche Rechtfertigung oder die Einhaltung der Treuepflicht findet nicht statt. Dies hat aus Anlass des Suhrkamp-Verfahrens zu einer Diskussion darüber geführt, ob gesellschaftsrechtliche Bindungen vollständig suspendiert sind. Dafür spricht, dass es für das Stimmrecht des Gesellschafters gemäß § 238a InsO nur auf dessen Anteil am gezeichneten Kapital ankommt. Der Gesellschafter wird nach dem Rechtsgedanken des § 199 InsO wie ein letztrangiger Gläubiger behandelt, dessen Verfahrensrechte nur nach finanziellen Kriterien bemessen werden. Sonderstimmrechte oder Vetorechte oder auch Vereinbarungen der Gesellschafter untereinander haben keinen messbaren Wert, so dass sie das Stimmrecht im Planverfahren nicht beeinflussen.

1 Spliedt, GmbHR 2012, 462 ff.

996 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.37 § 31

Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass diese Bindungen für die Gesellschafter auch außerhalb des eigentlichen Planverfahrens keine Rolle spielen. Das Innenverhältnis zwischen den Gesellschaftern gehört zum insolvenzfreien Bereich (Rz. 35.169). Das Insolvenzgericht kann und darf darüber nicht befinden. Von dieser verfahrensrechtlichen Frage, ob und auf welche Weise das Innenverhältnis auf das Insolvenzplanverfahren durchschlagen kann, ist die Frage zu unterscheiden, ob sich das Innenverhältnis selbst durch die Insolvenz verändert. So muss eine Stimmbindungsvereinbarung keineswegs dieselbe Geltung außerhalb eines Insolvenzverfahrens haben wie innerhalb. Auch sind die Treuepflichten in einem anderen Licht zu würdigen, wenn der ursprüngliche Fortführungszweck durch die Notwendigkeit überlagert wird, erst einmal die Insolvenzgründe zu beseitigen.

31.35

Die Treuepflicht im Planverfahren steht im Wechselverhältnis zu dem Gleichbehandlungsgebot des § 226 InsO. Sollte die sklavische Gleichbehandlung sämtlicher Anteilsinhaber geboten sein, bedarf es beispielsweise keiner Überprüfung eines Bezugsrechtsausschlusses anhand eines sachlichen Grundes oder einer Treuepflicht. Die Antwort hängt davon ab, ob sämtliche Anteilsinhaber in einer Gruppe angesiedelt werden müssen. Dagegen spricht schon § 222 Abs. 3 Satz 2 InsO, der eine aus Kleingesellschaftern bestehende Gruppe ausdrücklich gestattet. Aber auch unabhängig davon sieht § 222 Abs. 2 InsO vor, dass Beteiligte mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen in Untergruppen zusammengefasst werden können, die im Planverfahren vollwertige Gruppen sind. Dass nach Gesellschaftergruppen unterschieden werden kann, sieht auch die Regierungsbegründung zum ESUG vor1. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der in § 225a Abs. 2 InsO ausdrücklich zugelassene Bezugsrechtsausschluss bei einer Gleichbehandlungspflicht sämtlicher Gesellschafter nur noch Bedeutung hätte, wenn davon alle Gesellschafter zugunsten eines neuen Gesellschafters betroffen wären, eine Einschränkung, die dem Ziel des ESUG, ein Verfahren zur Sanierung anzubieten, nicht gerecht werden würde.

31.36

Sind alle Gesellschafter in eine Gruppe eingebunden, stellt sich die Frage, ob sich die Gleichbehandlung auf den Planinhalt beschränkt oder auf die Planwirkung zu beziehen ist. Wird bspw. eine GmbH, in der Beschlüsse einer Mehrheit von 75 % bedürfen, in eine AG umgewandelt, dann mag der mit 25 % beteiligte Gesellschafter zwar dieselbe Beteiligungsquote behalten, aber er verliert seinen Einfluss, weil die Willensbildung in der AG anders abläuft als in der GmbH. Der Inhalt des Plans ist dann zwar für alle Gesellschafter gleich, weil jeder die gleichen Anteile an der umgewandelten Gesellschaft erhält, die Wirkungen aber völlig anders. Es spricht zwar einiges dafür, dass diese schon aus den Planunterlagen ersichtlichen unterschiedlichen Auswirkungen als ein Verstoß gegen § 226 Abs. 1 InsO anzusehen sind. Andererseits wiederholt sich hier der oben schon zum Verbot von Mischgruppen angesprochene Konflikt zwischen formellem und inhaltlichem Schutz. Es macht wenig Sinn, den Konflikt über das Gleichbehandlungsgebot innerhalb einer Gruppe zu lösen, wenn dieses Gebot durch die Bildung von zwei Gruppen mit unterschiedlicher Behandlung umgangen werden darf. Das kann durch die Bildung einer fortsetzenden und einer nicht fortsetzenden GesellschafterGruppe geschehen oder in der bestehen bleibenden Gesellschaft – ohne Umwandlung – durch eine Kapitalherabsetzung auf „0“ mit anschließender Kapitalerhöhung unter Ausschluss des Bezugsrechts für eine Anteilsinhaber-Gruppe. Das bedeutet zwar eine Ungleichbehandlung der Gesellschafter, die aber insolvenzrechtlich zu akzeptieren ist. Man denke nur an die Situation, dass zur Sanierung neues Kapital benötigt wird und eine Gesellschaftergruppe nur bereit ist, es ohne die andere aufzubringen. Wäre die Beteiligung der anderen conditio sine qua non, würde die Sanierung scheitern. Die Frage könnte nur noch lauten, ob stattdessen die andere Gesellschaftergruppe den Vorrang hat, wenn auch sie das erforderliche Kapital aufbringt. Die-

31.37

1 BT-Drucks. 17/5712, S. 31.

Spliedt | 997

§ 31 Rz. 31.37 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

se Patt-Situation kann nur gelöst werden, indem diese Gruppe den Gläubigern schlichtweg ein besseres Angebot unterbreitet, über das im Abstimmungsverfahren zu entscheiden ist. Die außerhalb des Insolvenzverfahrens bestehende Option „Sanieren oder Ausscheiden“1 (s. auch Rz. 6.7 f.), die dem sanierungsbereiten Gesellschafter das Recht zur Teilnahme an der Sanierung einräumt, kann im Insolvenzplanverfahren nicht mehr gewährt werden2, solange keine vollständige Befriedigung der Gläubiger erreicht wird.

31.38

Wird nach alldem eine Inhaltskontrolle der gesellschaftsrechtlich formal zulässigen Regelung nicht schon durch das Gleichbehandlungsgebot ersetzt, bleibt entgegen der wohl überwiegenden Ansicht dafür außerhalb des Insolvenzverfahrens Raum3, was reaktiv nur im Wege des Schadensersatzes möglich ist4. In Betracht kommt auch eine einstweilige Verfügung zum Verhalten im Abstimmungstermin5, was aber auf eindeutige Fälle beschränkt ist, weil ein neuer Abstimmungstermin nur mit der Einreichung eines neuen Plans anberaumt werden kann, aus einer einstweiligen Regelung also meist eine endgültige werden würde6. Ein effizienter Schutz hinauszudrängender Gesellschafter wird deshalb nur über eine Einflussnahme auf den Insolvenzantrag und die Prüfung des Insolvenzgrundes zu erzielen sein. Ein Insolvenzantrag wegen nur drohender Zahlungsunfähigkeit bedarf eines Gesellschafterbeschlusses (Rz. 35.8), bei dessen Fassung die Hinausdrängungsabsicht noch nicht zutage getreten sein mag. Fehlt es sogar an einem Insolvenzgrund, kann ein Zurückdrängen lästiger Gesellschafter nicht mit dem Gläubigerinteresse gerechtfertigt werden. Allerdings ist der Insolvenzgrund von einer Geschäftsführung leicht herbeizuführen, so dass im Ergebnis dissentierende Gesellschafter nur geringe Schutzmöglichkeiten haben, die fortsetzungswilligen Gesellschafter dafür aber den Preis des Insolvenzverfahrens zahlen müssen.

d) Obstruktionsverbot 31.39

Bei einer Ablehnung des Plans durch eine Gruppe der Anteilseigner wird das für ein Obstruktionsverbot notwendige allgemeine Angemessenheitskriterium (§ 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO) in § 245 Abs. 3 InsO auf das Verbot der Überbefriedigung und der Besserstellung gleichrangig Beteiligter konkretisiert. Zur Überbefriedigung gilt das Gleiche wie für die Insolvenzgläubiger (Rz. 32.48). Soweit es das Verbot der Besserstellung gleichrangiger Beteiligter betrifft, scheitert eine Zustimmungsersetzung der Gruppe, deren Mitglieder nicht mehr an der fortgesetzten Gesellschaft beteiligt werden sollen, nicht schon an dem Gleichbehandlungsgebot des § 226 InsO, weil das nur formal an die Gruppenzugehörigkeit anknüpft (s. Rz. 31.21). Der Ausschluss einzelner Gesellschafter verstößt auch nicht gegen die wirtschaftliche Gleichbehandlung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, wenn die fortsetzenden Gesellschafter einen ihnen zufallenden Wert vergüten. Natürlich ist es auch möglich, dass sich die ausscheidenden Gesellschafter mit einer Beendigung ihrer Beteiligung ausdrücklich einverstanden erklären. Dann können sie sogar in derselben Gruppe wie die fortsetzenden Gesellschafter zusammengefasst werden (§ 226 Abs. 2 InsO). In der Regel wird das jedoch nur möglich sein, wenn die Gesellschafter eine Abfindung erhalten. Eine solche Regelung sieht § 225a Abs. 2 InsO ausdrücklich 1 2 3 4

Zuletzt BGH v. 9.6.2015 – II ZR 420/13, ZIP 2015, 1626. Tendenziell a.A. Karsten Schmidt, ZGR 2012, 566, 580. Spliedt, ZInsO 2013, 2155 ff. Vgl. BGH v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, ZIP 2014, 565 Rz. 18 zum Recht auf Beteiligung aller Gesellschafter an einer neuen Sanierungsgesellschaft, allerdings bezogen auf die Treuepflicht in der GbR. 5 Spliedt, ZInsO 2013, 2155 ff. 6 OLG Frankfurt v. 1.10.2013 – 5 U 145/13, ZIP 2013, 2018 gegen LG Frankfurt v. 10.9.2013 – 3/09 96/13, ZIP 2013, 1831.

998 | Spliedt

§ 31 Der Insolvenzplan | Rz. 31.40 § 31

vor. Wird sie aus der Masse bezahlt, führt dies jedoch leicht zu einem Scheitern des Plans, weil die Zustimmung einer Gläubigergruppe wegen Zahlungen an nachrangige Beteiligte nicht mehr ersetzt werden kann (§ 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO). Ebenso wird ein Minderheitenschutzantrag leicht begründbar sein, weil es sich um Gelder handelt, die wahrscheinlich auch in der Regelabwicklung an die Gläubiger zu verteilen gewesen wären. Schließlich wird eine solche Abfindung wegen der bilanziellen Überschuldung am Verbot der Einlagenrückgewähr nur dann nicht scheitern, wenn im Zeitpunkt der Planbestätigung genügend freies Vermögen (wieder) vorhanden ist.

Statt einer Abfindungszahlung wäre an eine Ausgleichszahlung der fortsetzenden Gesellschafter an die ausscheidenden zu denken. Das ist nicht zu verwechseln mit den Mitteln, die gemäß § 251 Abs. 3 InsO zur Abwendung eines Minderheitenschutzantrages bereitgestellt werden. Vielmehr handelt es sich um Beträge, die zwar ausdrücklich im Plan für bestimmte Gesellschafter vorgesehen sind, aber von „außen“ durch die fortführenden Gesellschafter gezahlt werden. Nur ohne ausdrückliche Benennung im Plan dürfen solche Vereinbarungen nicht getroffen werden, weil § 226 Abs. 3 InsO einen nicht im Plan offengelegten „Stimmenkauf“ untersagt1. Auch wird dadurch die Zustimmungsersetzung einer ablehnenden Gläubigergruppe nicht verhindert, selbst wenn die Gläubiger nicht voll befriedigt werden. Zwar erhält eine an dem Schuldner beteiligte Person einen wirtschaftlichen Wert, was nach dem Wortlaut des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO eine Zustimmungsersetzung hindern würde. Wird diese Anforderung aber so verstanden (s. Rz. 32.45), dass es damit um die Wahrung der bei einer Regelabwicklung zu berücksichtigenden Befriedigungsreihenfolge geht, tangieren außerhalb der Masse geleistete Zahlungen diese Reihenfolge nicht, weil sie in der Regelabwicklung nicht zu erzielen gewesen wären. Wäre das anders, wäre die nach § 226 Abs. 3 InsO ausdrücklich zugelassene offene Vorteilsgewährung nicht möglich.

1 BGH v. 3.3.2005 – IX ZB 153/04, ZIP 2005, 719.

Spliedt | 999

31.40

§ 32 Verfahrensablauf I. Verfahrensablauf im Überblick 32.1

Das Verfahren beginnt mit der Planvorlage, zu der nur der (vorläufige) Verwalter und der Schuldner berechtigt sind. Der (vorläufige) Sachwalter in der Eigenverwaltung hat kein eigenes Planinitiativrecht, sondern kann einen Plan nur vorlegen, wenn er dazu von der (vorläufigen) Gläubigerversammlung beauftragt wird (§ 284 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO). Die (vorläufige) Gläubigerversammlung wiederum hat das Initiativrecht, aber kein eigenes Vorlagerecht. Dazu muss sie den erwähnten (vorläufigen) Sachwalter oder – in der Regelabwicklung – den Insolvenzverwalter beauftragen (§ 218 Abs. 2 InsO).

32.2

Da das Planverfahren eine Abweichung von der Regelabwicklung bedeutet, müssen die Gläubiger darüber befinden, ob ihre dort erweiterte Quote zugunsten einer Planregelung investiert wird. Deshalb muss der Plan alle Informationen enthalten, die für eine solche Investitionsentscheidung benötigt werden, mithin in einem darstellenden Teil (§§ 220, 229 f. InsO) eine Erläuterung der wirtschaftlichen Verhältnisse und in einem gestaltenden Teil (§ 221 InsO) eine Festlegung der Investitionsmaßnahmen1. Ergänzend bedarf es eines Verfahrensteils, in dem die Abstimmungsgruppen definiert werden (§ 222 InsO).

32.3

Nach einer Vorprüfung (§ 231 InsO, Rz. 32.21 ff.) leitet das Insolvenzgericht den Plan besonders betroffenen Personen und Gremien zur Stellungnahme zu (§ 232 InsO)2, um ihn sodann zur Einsichtnahme für alle Beteiligten niederzulegen (§ 234 InsO). Es folgt die Erörterung und Abstimmung des Plans, die regelmäßig in einem Termin erledigt und sogar mit der Prüfung der Forderungsanmeldungen verbunden werden kann (§§ 235 f., §§ 241 f. InsO).

32.4

Die letzte bedeutsame Hürde ist die Bestätigung des Plans durch das Insolvenzgericht (§ 248 InsO, Rz. 32.91 ff.). Sie ist die Voraussetzung für den Eintritt der Planwirkungen (§ 254 InsO) und die Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 258 InsO), falls es sich nicht um einen nur verfahrensleitenden Plan handelt. Die Bestätigung ist der Kulminationspunkt für sämtliche plannotwendigen Prüfungen des Gerichts und – mit Ausnahme des § 231 Abs. 3 InsO – einziger Gegenstand einer Beschwerde gegen den Plan (§ 253 InsO), da Zwischenentscheidungen wie insbesondere eine Stimmrechtsfestsetzung oder eine unterbliebene Zurückweisung (§ 231 Abs. 1 InsO) nicht gesondert angegriffen werden können. Für die Bestätigung muss das Gericht erneut prüfen, ob die Vorschriften über den Inhalt und die verfahrensmäßige Behandlung des Plans eingehalten wurden. Vor allem erstreckt sich die Prüfung darauf, ob bei einer Ablehnung des Plans durch einige Gruppen die Obstruktionsvoraussetzungen erfüllt sind, so dass deren Zustimmung fingiert wird (§ 245 InsO), und schließlich, ob bei einem Minderheitenschutzantrag ein Beteiligter schlechter als im Regelinsolvenzverfahren behandelt wird (§ 251 InsO). Stimmen alle Gruppen dem Plan zu und stellen einzelne Beteiligte auch keinen Minderheitenschutzantrag, reduziert sich die Prüfung darauf, ob die Gruppen sachgerecht gebildet und gruppenintern gleiche Rechte gewährt wurden (§§ 222, 226 InsO), sowie ob die 1 Zur Bedeutung der Sicherstellung der Kenntnis der Abstimmungsgrundlage s. Frind, WM 2018, 1920, 1921 f. 2 Zur Wirkung der Stellungnahme als „Schutzschrift“ s. Frind, WM 2018, 1920, 1922.

1000 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.11 § 32

Planannahme auf unlautere Weise zustande gekommen ist (§ 250 Nr. 2 InsO). Wird der Plan bestätigt, wirkt er für und gegen alle Beteiligte, unabhängig davon, ob sie ihm zugestimmt oder sich überhaupt an dem Verfahren beteiligt haben. Für ihre Planunterwerfung ist noch nicht einmal erforderlich, dass sie ihre Forderung angemeldet haben (vgl. §§ 259a f. InsO). Auf die Bestätigung folgt die Aufhebung des Insolvenzverfahrens, wenn im Plan nichts anderes bestimmt ist, also kein verfahrensleitender Plan beschlossen wurde (§ 258 Abs. 1 InsO). Dann wird das Insolvenzverfahren zu den Planbedingungen fortgesetzt. Wird das Verfahren hingegen aufgehoben, erhält der Schuldner das Recht zurück, wieder über die Insolvenzmasse zu verfügen (§ 259 Abs. 1 InsO). Zwar kann im Plan vereinbart werden, dass dessen Erfüllung überwacht wird (§§ 260 f. InsO), was insbesondere dann praktiziert wird, wenn die Gläubiger aus künftigen Gewinnen befriedigt werden sollen. Hierfür haben Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter (§ 261, § 284 Abs. 2 InsO) bzw. Gläubigerausschuss und Insolvenzgericht (§ 261 Abs. 1 InsO) jedoch nur eine Kontrollfunktion, während die Verfügungsbefugnis des Schuldners nicht beschränkt werden darf, es sei denn, dass er im Plan einer andere Regelung bspw. in Form einer treuhänderischen Übertragung einzelner Vermögensgegenstände ausdrücklich zugestimmt hat. Seine Befreiung von den Verbindlichkeiten, die die Planquote übersteigen, tritt – vorbehaltlich einer abweichenden Regelung – unabhängig davon ein, ob die im Plan versprochenen Leistungen an die Gläubiger schon bewirkt wurden (§ 227 Abs. 1, § 254 Abs. 1 InsO). Gegenüber den Gläubigern, gegenüber denen der Schuldner mit der Erfüllung des Plans erheblich im Rückstand gerät, wird die Restschuldbefreiung hinfällig (§ 255 Abs. 1 InsO). Kommt es deshalb oder wegen neuer Schulden zu einem Folgeinsolvenzverfahren, entfällt die Restschuldbefreiung gegenüber allen Insolvenzgläubigern, deren Planansprüche bis dahin noch nicht vollständig befriedigt wurden1. Einstweilen frei.

32.5

32.6–32.10

II. Planinitiativrecht Das Recht zur Vorlage des Insolvenzplans an das Insolvenzgericht (Planinitiativrecht) haben der Schuldner und der Insolvenzverwalter (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO). Die Vorlage durch den Schuldner kann mit dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens verbunden werden (§ 218 Abs. 1 Satz 2 InsO)2.Grundsätzlich fällt die Planvorlage als Geschäftsleitungsmaßnahme im Außenverhältnis in die Vertretungskompetenz der Geschäftsleiter. Bei mehreren alleinvertretungsberechtigten Mitgliedern des Vertretungsorgans sind diese nur gemeinschaftlich vorlageberechtigt3. Ob der Geschäftsführer der GmbH vor der Planvorlage die Zustimmung der Gesellschafter einholen muss, hängt davon ab, welche Sanierungsinstrumente die Gesellschaft im Insolvenzverfahren einzusetzen beabsichtigt. Beschränkt sich der Schuldner auf die Einleitung und Durchführung eines Regelinsolvenzverfahrens, ist die Gesellschaft weiterhin weisungsberechtigt4. Denn in diesem Verfahrensstadium bleibt das gesellschafts1 Spliedt in Karsten Schmidt, § 255 InsO Rz. 14. 2 Zur Verbindung der Planvorlage durch den Schuldner mit dem Antrag auf Eigenverwaltung gemäß §§ 270 ff. InsO, näher dazu Wehdeking/Smid, ZInsO 2010, 1713; Eidenmüller, ZHR 175 (2011), 11–38. 3 Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 218 InsO Rz. 76. 4 Beck/Pechartscheck in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 4 Rz. 11; ebenso Spahlinger in Kübler/Prütting/Bork, § 218 InsO Rz. 28 (Stand: September 2020); Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 218 InsO Rz. 81. Im Falle der Insol-

Spliedt und Vallender | 1001

32.11

§ 32 Rz. 32.11 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

rechtliche Kompetenzgefüge erhalten. Erforderlich ist insoweit eine einfache Mehrheit der Gesellschafter. § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG findet im Hinblick auf die dann vorgelagerte Blockadeposition von mehr als 25 % der Anteilseigner keine entsprechende Anwendung. Werden die Gesellschafter nicht mit einbezogen, ist eine Planvorlage im Außenverhältnis wirksam, kann jedoch zu Schadensersatzansprüchen des Geschäftsführers im Innenverhältnis führen1.

32.12

Beantragt der Schuldner indes bei Planvorlage die Anordnung der Eigenverwaltung, entfaltet dies bereits Vorwirkungen, so dass die Geschäftsführung auch schon im vorläufigen Insolvenzverfahren die Interessen der Gläubiger zu wahren hat. Dies gilt insbesondere für das Schutzschirmverfahren nach § 270d InsO, bei dem die Gesellschafter mit Einleitung dieses Verfahrens durch den organschaftlichen Vertreter ihr Einverständnis zur Vorlage des Plans gegeben haben. Da für das (eröffnete) Eigenverwaltungsverfahren die Vorschrift des § 276a Satz 1 InsO, die eine Einflussnahme der Gesellschafterversammlung unterbindet, zu beachten ist, erscheint es gerechtfertigt, auch im Falle einer vorläufigen Eigenverwaltung aus insolvenzrechtlichen Gründen in das gesellschaftsrechtliche Kompetenzgefüge einzugreifen und die vorgenannte Bestimmung jedenfalls für die Ausarbeitung und Vorlage eines Insolvenzplans entsprechend anzuwenden2. Auch wenn es zu dieser Thematik noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung gibt, empfiehlt sich bei beabsichtigter Planvorlage3 bereits aus Haftungsgründen die Einbindung der Gesellschafter durch den Geschäftsführer. Darüber hinaus sollte die Geschäftsführung frühzeitig nicht nur mit den wesentlichen Gläubigern und anderen Stakeholdern, sondern vor allem auch mit dem Insolvenzgericht in Kontakt treten, um erste Planentwürfe zu diskutieren4. Zum einen eröffnet dies strategische Handlungsoptionen, zum anderen können hierdurch Fehler vermieden werden, die nach Planvorlage bei Gericht zu einer Zurückweisung des vorgelegten Plans führen (§ 231 InsO).

32.13

Nach § 10a Abs. 1 Satz 1 InsO5 hat der Schuldner, der mindestens zwei der drei in § 22a Abs. 1 InsO genannten Voraussetzungen erfüllt, Anspruch auf ein Vorgespräch mit dem für ihn zuständigen Insolvenzgericht. Da der Katalog in § 10a Abs. 1 InsO nicht abschließend ist6, kann der Schuldner auch einen Planentwurf zum Gegenstand dieses Vorgesprächs machen. Denn dabei handelt es sich um einen für das Verfahren relevanten Gegenstand i.S. der Vorschrift. Besteht kein Anspruch auf ein solches Gespräch, liegt das Angebot eines Vorgesprächs im Ermessen des Gerichts (§ 10a Abs. 1 Satz 2 InsO). Hierbei wird das Gericht zu berücksichtigen haben, dass dieses Gespräch dann, wenn bereits ein ausgearbeiteter Planentwurf unter-

1 2 3 4 5 6

venz einer Aktiengesellschaft geht der BGH (v. 26.4.2004 – II ZR 155/02, ZIP 2004, 993) davon aus, dass Geschäftsleitungsmaßnahmen, die schwerwiegende Eingriffe in die Rechte und Interessen der Aktionäre beinhalten, der Zustimmung der Hauptversammlung bedürfen. Vgl. OLG München v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, ZIP 2013, 1121, 1122 = GmbHR 2013, 590 m. Anm. Leinekugel; AG Mannheim v. 21.2.2014 – 4 IN 115/14, ZIP 2014, 484, 485, dazu EWiR 2014/331 (Neussner). Spahlinger in Kübler/Prütting/Bork, § 218 InsO Rz. 30 (Stand: September 2020); Skauradszun/ Spahlinger, DB 2015, 2559, 2563; Tresselt/Müller, KSzW 2015, 198, 205. Aus dem Recht des Schuldners zur Planvorlage kann für den GmbH-Geschäftsführer im Verhältnis zur Gesellschaft eine Pflicht werden, wenn der Insolvenzplan das optimale Instrument zur Sanierung der Gesellschaft ist (vgl. Schluck-Amend/Walker, GmbHR 2001, 375). Madaus, NZI 2020, 436; Laroche in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 15 Rz. 6. Eingefügt durch Art. 5 Nr. 6 des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz – SanInsFoG) v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. Begr. RegE SanInsFoG, BT-Drucks. 19/24181, S. 192/193.

1002 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.15 § 32

breitet wird, der verfahrensökonomischen Abwicklung der Insolvenz dient. Die im Rahmen eines Vorgesprächs vorgelegten Planentwürfe zählen noch nicht als Planvorlage. Sie erlauben insbesondere keine erleichterte Zurückweisung eines daraus entstandenen Schuldnerplans gemäß § 231 Abs. 2 InsO1. Das Planverfahren beginnt erst mit der Vorlage des Insolvenzplans (§ 218 Abs. 1 InsO). Hat sich der Schuldner genügend Zeit zur Planvorbereitung genommen, bestehen gute Aussichten, dass nach einer vorgerichtlichen „Testabstimmung“2 und einem Vorgespräch mit dem Gericht der „prepackaged“ (vorbereitete) Insolvenzplan der Zustimmung der wesentlichen Gläubigergruppen im Abstimmungstermin sicher ist.

Der Verwalter hat ein eigenes Recht zur Erstellung eines Insolvenzplans (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO). Dieses Recht verpflichtet ihn aber auch zugleich zur Planerstellung, und zwar bereits mit Amtsübernahme, wenn ein Plan im Hinblick auf das Verfahrensziel geboten ist3. Zusätzlich kann die Gläubigerversammlung ihn mit der Planerstellung beauftragen und ihm das Ziel des Plans vorgeben (§ 157 Satz 2 InsO)4. Die Beauftragung durch die Gläubigerversammlung entbindet den Verwalter nicht von der Verpflichtung zur Erstellung eines eigenen Plans, wenn er die Planvorgaben der Gläubigerversammlung im Interesse der Gläubigergesamtheit für unzweckmäßig hält5. Wird der Verwalter gemäß § 157 InsO von der Gläubigerversammlung mit der Planerstellung beauftragt, so hat er den Plan „innerhalb angemessener Frist“ dem Gericht vorzulegen (§ 218 Abs. 2 InsO). Die Angemessenheit der Frist wird von dem Insolvenzgericht im Einzelfall zu bestimmen sein6. Nimmt der Insolvenzverwalter seine Arbeiten tatsächlich erst mit Auftragserteilung durch die Gläubigerversammlung, also sechs Wochen bis drei Monate nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 InsO) auf, so kann eine der Situation des Schuldnerunternehmens angemessene Frist nur noch in Tagen zu bemessen sein, wenn es nicht ohnehin zur Erstellung eines Plans längst zu spät ist.

32.14

Hat der Verwalter neben einem eigenen Plan auch einen Plan im Auftrag der Gläubigerversammlung erstellt, so sind beide Pläne dem Insolvenzgericht vorzulegen. § 218 Abs. 1 Satz 1 InsO, der den Verwalter zur Vorlage „eines“ Plans berechtigt, kann nicht als zahlenmäßige Begrenzung der Pläne verstanden werden. Ggf. tritt zu zwei Verwalterplänen noch ein Schuldnerplan. Im Gesetz findet sich keine Regelung dazu, wie bei Vorlage mehrerer Insolvenzpläne zu verfahren ist. Die Reihenfolge der Abstimmung über konkurrierende Pläne und die Reihenfolge der Abstimmung der verschiedenen Gruppen legt das Insolvenzgericht fest. Es wird die Gläubiger über den zuerst vorgelegten Plan in Kenntnis des zweiten oder des dritten Plans abstimmen lassen. Werden alle Pläne im jeweiligen Erörterungs- und Abstimmungster-

32.15

1 Madaus, NZI 2020, 437. 2 Engberding, DZWiR 1998, 95, weist allerdings zu Recht darauf hin, dass, wenn die Testabstimmung zu einer Zustimmung aller Gläubiger führt, ein Insolvenzverfahren unnötig ist oder ein bereits eröffnetes Verfahren nach §§ 214 ff. InsO eingestellt werden sollte. Die Notwendigkeit zur Durchführung des Verfahrens bleibt, wenn sich bei der Testabstimmung Akkordstörer offenbart haben. 3 Lüke in FS Uhlenbruck, 2000, S. 527. 4 Planziele in diesem Sinne sind die Verwertungsalternativen Liquidation, übertragende Sanierung und Sanierung des insolventen Rechtsträgers. Riggert, WM 1998, 1524, nennt die Planziele „Gestaltungsvorstellungen“ der Gläubiger, zu deren Umsetzung der Verwalter verpflichtet sein soll. In dem Beispielsfall von Riggert muss die Hausbank des Schuldners, die keinen Einfluss auf den Schuldnerplan nehmen kann, versuchen, eine Mehrheit in der Gläubigerversammlung dafür zu gewinnen, den Verwalter mit der Planerstellung zu beauftragen. Weil eigennütziges Interesse der Hausbank nicht auszuschließen ist, wird der Verwalter zu prüfen haben, ob er den „Gestaltungsvorschlägen“ folgen kann. 5 Lüke in FS Uhlenbruck, 2000, S. 527. 6 Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 474.

Vallender | 1003

§ 32 Rz. 32.15 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

min angenommen, so liegt die Wahl zwischen den Plänen wiederum beim Insolvenzgericht. Das Insolvenzgericht wird im Zweifelsfall denjenigen Plan bestätigen, der die größte Zustimmung der Gläubiger gefunden hat. Wird einer der Pläne rechtskräftig, so tritt hinsichtlich des anderen Plans Erledigungswirkung ein. Schuldner, Insolvenzverwalter und Gläubiger können die Möglichkeit des alternativen Planinitiativrechts (§ 218 Abs. 1 Satz 1 InsO) nutzen, um eine Konfrontationsstrategie durch Einreichung eines konkurrierenden Plans1 zu entwickeln. Der konkurrierende Planeinreicher muss verhindern, dass die anderen Pläne rechtskräftig werden. Es tritt ein Wettlauf ein, welcher Plan zuerst Rechtskraft erlangt2.

32.16

Hat das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung angeordnet (§ 270f Abs. 1 InsO), so kann die Gläubigerversammlung den Sachwalter oder den Schuldner mit der Ausarbeitung eines Insolvenzplans beauftragen (§ 284 Abs. 1 InsO). Dies erscheint nur dann sachgerecht, wenn zwischen dem Schuldner und dem Sachwalter Einvernehmen über die Ziele des Insolvenzplanverfahrens besteht3. Anders als der Sachwalter ist der Schuldner auch ohne einen solchen Auftrag zur Vorlage des Plans befugt. Eine Überwachung der Planerfüllung ist Aufgabe des Sachwalters (§ 284 Abs. 2 InsO).

32.17–32.20

Einstweilen frei.

III. Die Vorprüfung des Insolvenzplans 32.21

Das Insolvenzgericht hat gemäß § 231 InsO eine Vorprüfung des Insolvenzplans vorzunehmen. Auf diese Weise soll die Rechtmäßigkeit eines im Wesentlichen den Beteiligten zur autonomen Gestaltung überlassenen Verfahrens gewährleistet werden4. Gleichzeitig soll den Beteiligten die Beschäftigung mit einem gesetzwidrigen und aussichtslosen Insolvenzplan und eine damit verbundene Verzögerung der Masseverwertung erspart werden5. Eine endgültige Überprüfung des Plans erfolgt erst, wenn der Plan von den Beteiligten angenommen worden ist und nun bestätigt werden soll (§ 250 Nr. 1 InsO). Das Vorprüfungsverfahren geschieht von Amts wegen6 und muss nach Einreichung des Plans stattfinden7. Das Gericht prüft unter Berücksichtigung sämtlicher rechtlicher Gesichtspunkte, ob die gesetzlichen Bestimmungen über das Vorlagerecht und den Inhalt des Plans beachtet sind. Dabei hat es nicht nur offensichtliche Rechtsfehler zu beanstanden. Inhaltlich hat das Insolvenzgericht zwar die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und Erfolgsaussicht des Plans nicht zu prüfen, wohl aber die Vollständigkeit und Richtigkeit der Informationen. Dabei ist es nicht auf offensichtliche Fehler beschränkt8. Rechtsfragen sind bereits zu diesem Zeitpunkt zu entscheiden. Dadurch werden Doppelprüfungen i.R. der erst deutlich später und nach der Beschlussfassung der Gläubigerversammlung erfolgenden Planbestätigung nach §§ 248, 251 InsO vermieden9. Allerdings ist das Insolvenzgericht bei seiner Entscheidung, ob die Bestätigung eines Insolvenzplans zu versagen 1 2 3 4 5 6

Riggert, WM 1998, 1525. Riggert, WM 1998, 1525. Zipperer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 284 InsO Rz. 3. Otte in Kübler/Prütting/Bork, § 231 InsO Rz. 4. Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 1. Zum Prüfungsumfang des Gerichts s. Stapper/Jacobi, ZInsO 2014, 1821 einerseits und Horstkotte, ZInsO 2014, 1297 andererseits. 7 Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 12. 8 BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346 Rz. 8. 9 Laroche in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, § 14 Rz. 20.

1004 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.23 § 32

ist, nicht an seine im Rahmen der Vorprüfung des Insolvenzplans getroffene Entscheidung gebunden1. Bei Planvorlage durch den Schuldner mit dem Eröffnungsantrag hat die Vorprüfung alsbald nach Eröffnung des Verfahrens zu erfolgen2. Nach § 231 Abs. 1 Satz 2 InsO, eingeführt durch das ESUG, soll die Entscheidung des Gerichts einen Zeitraum von zwei Wochen nicht überschreiten. Es liegt auf der Hand, dass eine übermäßig lange Prüfungsdauer das Zustandekommen eines Plans gefährden kann. Soweit Silcher3 mutmaßt, dass die 2-Wochen-Regelung in der Praxis zu keiner spürbaren Beschleunigung führen werde, weil es sich lediglich um eine Sollvorschrift handele, verkennt er, dass eine schuldhafte Verzögerung im Einzelfall zu Amtshaftungsansprüchen führen kann. Die bisherige Praxis hat im Übrigen gezeigt, dass die Gerichte bestrebt sind, die Frist einzuhalten. Das Vorprüfungsverfahren endet nach § 234 InsO mit der Niederlegung des Plans bzw. spätestens gemäß § 235 InsO mit der Anberaumung des Erörterungs- und Abstimmungstermins. Eines positiven Zulassungsbeschlusses bedarf es nicht. Die Vorprüfung des Plans stellt das Gericht vor nicht zu unterschätzende Anforderungen4 und birgt erhebliche Haftungsrisiken in sich. Dies gilt insbesondere bei Nichtannahme des Plans. Die dadurch bedingte Verzögerung eines angestrebten Sanierungsverfahrens kann zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Sanierungschancen führen. Die Vorprüfung ist umso schwieriger, als sie regelmäßig unter großem Zeitdruck zu erledigen sein wird. Aus diesem Grunde wird sich das Gericht grundsätzlich einer sachverständigen Hilfe nicht bedienen dürfen5. Es ist aber nicht zu verkennen, dass vor allem bei komplexen betriebswirtschaftlichen Sachverhalten die Gerichte mit der Vorprüfung des Plans zumeist überfordert sein dürften, so dass sich der Einsatz von Sachverständigen geradezu aufdrängt6. Der Gesetzgeber hat diese Schwierigkeiten erkannt und dem Insolvenzgericht dadurch „eine Brücke gebaut“, dass sich die Prüfung, soweit betriebswirtschaftliche Sachverhalte Prüfungsgegenstand sind, nur auf „offensichtliche“ Feststellungen zu beziehen hat. Mithin reicht eine summarische Prüfung aus. Diese setzt aber ebenfalls Grundkenntnisse über betriebswirtschaftliche Zusammenhänge voraus und ändert nichts an der erheblichen Verantwortung des Insolvenzgerichts für den weiteren Gang des Verfahrens7. Im Rahmen der Vorprüfung ist das Gericht befugt, den Vorlegenden zu ergänzenden Angaben aufzufordern (§ 4 InsO i.V.m. § 139 ZPO)8. Bei der in einem Insolvenzplan notwendigen „Vergleichsrechnung“ sind alle verwertbaren Teile der Insolvenzmasse mit einzubeziehen und ggf. nachvollziehbar ein behauptetes – schlechteres – Schicksal der Fortführung des Unternehmens darzulegen. Die Zahlung eventueller „Drittzahlungen“ für den Fall des Zustandekommens des Plans ist im gestaltenden Teil bestandssicher nachzuweisen9.

32.22

Das Vorprüfungsverfahren ist ein formell-verfahrensrechtlicher Prüfungsabschnitt10. Seine Gestaltung unterliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Das Gericht darf für die

32.23

1 BGH v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, NZI 2017, 260 Rz. 15 = ZIP 2017, 482. 2 Vgl. aber AG Siegen v. 28.12.1999 – 25 IN 161/99, NZI 2000, 236, das einen vom Schuldner vorgelegten Plan bereits vor der Entscheidung über den Eröffnungsantrag gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 3 InsO zurückgewiesen hat, weil der Schuldner den Plan offensichtlich aus rechtlichen Gründen voraussichtlich nicht würde erfüllen können (hier: drohende Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO). 3 Silcher in Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, Insolvenzrecht, § 231 InsO Rz. 14. 4 Haarmeyer/Wutzke/Förster, Handbuch zur Insolvenzordnung, Kap. 9 Rz. 16, bezeichnen die Vorprüfung des Plans gar als die „mit Abstand schwierigste Aufgabenstellung für das Insolvenzgericht“. 5 A.A. LG Dresden v. 15.7.2005 – 5 T 830/02, ZIP 2005, 1607 = ZInsO 2005, 831, 832. 6 Vgl. Hess/Weis, InVo 1996, 93. 7 Hess/Weis, InVo 1996, 93. 8 Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 1.43 ff. 9 AG Hamburg v. 20.5.2014 – 67c IN 232/13, ZIP 2014, 1601. 10 Koch/De Bra in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 66 Rz. 10.

Vallender | 1005

§ 32 Rz. 32.23 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

Prüfung nach § 231 Abs. 1 InsO den Vorlegenden zu ergänzenden Angaben auffordern (§ 4 InsO i.V.m. § 139 ZPO)1. Hat das Insolvenzgericht vor einer beabsichtigten Zurückweisung des Plans den Hauptgläubiger zu einer möglichen Annahme angehört, steht jedenfalls die Vorschrift des § 231 Abs. 1 Nr. 2 InsO einer Verwertung der dabei gewonnenen Erkenntnisse nicht entgegen2. Dies gilt gleichermaßen für Äußerungen des Insolvenzverwalters und der Mitglieder des Gläubigerausschusses3. Soweit das Insolvenzgericht nach einer kursorischen Prüfung zu dem – vorläufigen – Ergebnis gelangt, der Plan sei zulässig, bietet es sich an, bereits zu diesem Zeitpunkt Stellungnahmen zum Plan gemäß § 232 InsO einzuholen. Die Regelung zwingt das Insolvenzgericht nicht, erst nach einem positiven Ausgang des Verfahrens die Anhörung der anderen Beteiligten zu veranlassen4. Eine solche Handhabung trägt nicht unwesentlich zu einem zügigen Ablauf des Verfahrens bei. Darüber hinaus ist auch eine Entscheidung über den Antrag des Schuldners oder Insolvenzverwalters auf Aussetzung von Verwertung und Verteilung näher in Betracht zu ziehen (§ 233 InsO). Funktionell zuständig für das Verfahren über den Insolvenzplan und damit auch für die Vorprüfung des Plans gemäß § 231 InsO ist auf Grund Art. 5 des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG)5 seit dem 1.1.2013 der Richter (vgl. § 18 Abs. 1 Nr. 2 RPflG).

32.24

Das Insolvenzgericht hat den Plan zurückzuweisen6, wenn – die Vorschriften zur Vorlage und zum Inhalt des Plans nicht beachtet wurden und der Vorlegende den Mangel nicht beheben kann oder ihn nicht innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist behebt (§ 231 Abs. 1 Nr. 1 InsO)7, – ein vom Schuldner vorgelegter Plan offensichtlich keine Aussicht auf Annahme durch die Gläubiger oder auf Bestätigung durch das Gericht hat8 (§ 231 Abs. 1 Nr. 2 InsO), – oder die im gestaltenden Teil den Beteiligten zugesagten Ansprüche offensichtlich nicht erfüllt werden können (§ 231 Abs. 1 Nr. 3 InsO), oder – der Insolvenzverwalter die Zurückweisung eines neuen Plans beantragt, nachdem ein vorheriger vom Schuldner vorgelegter Plan von den Gläubigern nicht angenommen, vom Gericht nicht bestätigt oder vom Schuldner nach der öffentlichen Bekanntmachung des Erörterungstermins zurückgezogen wurde (§ 231 Abs. 2 InsO9).

32.25

Zu den Vorschriften, die nicht Gegenstand der Regelungen in einem Insolvenzplan sein können und damit der Beanstandung durch das Insolvenzgericht unterliegen, gehören die Bestimmungen über die Feststellung der Forderungen der Gläubiger (§§ 174 bis 186 InsO)10. Ebenso kann das Insolvenzgericht einen vom Schuldner vorgelegten Insolvenzplan im Vorprüfungsverfahren zurückweisen, wenn offensichtlich ist, dass ein erfolgreicher Antrag auf Versagung 1 Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 12. 2 BGH v. 30.6.2011 – IX ZB 30/10, ZInsO 2011, 1550; BGH v. 23.7.2004 – IX ZB 276/03 n.v. 3 BGH v. 30.6.2011 – IX ZB 30/10, ZInsO 2011, 1550; Fortführung BGH v. 16.12.2010 – IX ZB 21/ 09, ZIP 2011, 340. 4 A.A. Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 12. 5 BGBl. I 2011, 2582. 6 Zutreffend weist Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 13, darauf hin, dass der Prüfungsmaßstab größtenteils ein negativer sei. 7 S. LG Düsseldorf v. 16.4.2020 – 25 T 139/20, NJW-spezial 2020, 535: Zurückweisung des Plans wegen Zweifel an Zahlungsfähigkeit eines Drittmittelgebers. 8 Näher dazu LG Mannheim v. 24.7.2020 – 4 T 127/17, VIA 2021, 52. 9 Die Vorschrift ist nur auf den nach der Vorprüfung gescheiterten Plan des Schuldners anwendbar. 10 BGH v. 5.2.2009 – IX ZB 230/07, NZI 2009, 230, 233 = ZIP 2009, 480.

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§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.26 § 32

der gerichtlichen Bestätigung zum Schutz von Minderheiten gestellt werden wird1. Das Insolvenzgericht hat daher eine Prognose zu treffen. Bezugspunkt der Prognose ist die nach der Annahme des Insolvenzplans durch die Beteiligten und der Zustimmung des Schuldners vom Gericht nach § 248 InsO zu treffende Entscheidung über die Bestätigung des Insolvenzplans. Die Prognose hat sich mithin auf die Frage zu erstrecken, ob die Bestätigung aus einem gesetzlichen Grund zu versagen sein wird2. Die Hürde für das Insolvenzgericht ist die Einschätzung zur Offensichtlichkeit der Bestätigungsversagung des vom Schuldner vorgelegten Plans. Daher wird das Gericht nur in eindeutigen Fällen von der Zurückweisungsbefugnis Gebrauch machen können. Aus diesem Grunde ist der Planersteller gut beraten, Bewertungsfragen im Vorfeld mit den Sicherungsgläubigern abzustimmen3. Eine Zurückweisung des Plans kommt darüber hinaus in Betracht, wenn er keinen vollstreckungsfähigen Inhalt hat4. Das gewichtigste Argument für die Erforderlichkeit der Vollstreckbarkeit liegt in dem Schutz der Nachzügler. Diesen gegenüber entfaltet der Plan entsprechende Wirkung gemäß § 254b InsO, auch wenn sie nicht am Verfahren teilgenommen haben. Gelangt das Insolvenzgericht im Rahmen seiner Vorprüfung zu der Auffassung, dass der planvorlegende Schuldner Forderungen fingiert und unwahre Tatsachen vorgetragen hat, um eine Annahme des Plans durch die erforderlichen Mehrheiten zu erreichen, so muss die Planbestätigung gemäß § 250 Nr. 2 InsO versagt werden5. Da eine Bestätigung des Plans mithin ausgeschlossen und das damit zerstörte Vertrauen in den Planvorlegenden auch durch eine Korrektur des Planinhalts nicht wiederherstellbar ist, ist das Gericht befugt, in solchen Fällen den Plan bereits in der gerichtlichen Vorprüfung nach § 231 Abs. 1 Nr. 1, § 231 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO zurückzuweisen, da eine Planbestätigung offensichtlich nicht mehr erfolgen wird6. Allerdings ist ein dauerhaft enttäuschtes Gläubigervertrauen, und damit eine Zurückweisung nach den vorgenannten Bestimmungen wegen der restriktiven Anwendung dieser Norm vom Gericht hingegen nur anzunehmen, wenn sich die für die Planannahme notwendigen Gläubiger dem Gericht gegenüber entsprechend geäußert haben7. Da im Plan alle Fakten zu den Grundlagen und den Auswirkungen des Plans anzugeben sind, die für die Entscheidung der Beteiligten über die Zustimmung zum Plan und für dessen gerichtliche Bestätigung erheblich sind8, kann deren Nichtbeachtung zur Zurückweisung gemäß § 231 Abs. 1 InsO führen9. Zu den Prüfungsaufgaben des Gerichts gemäß § 231 Abs. 1 Nr. 1 InsO zählt auch die Kontrolle der gesetzlich vorgeschriebenen sachgerechten Abgrenzung der Gläubigergruppen. Aus diesem Grunde ist im Insolvenzplan anzugeben, nach welchen Vorschriften die Gruppen gebildet wurden. Bei der Bildung fakultativer Gruppen ist zu erläutern, aufgrund welcher gleichartigen insolvenzbezogenen wirtschaftlichen Interessen die Gruppe gebildet wurde und inwiefern alle Beteiligten, deren wichtigste insolvenzbezogene wirtschaftliche Interessen übereinstimmen, derselben Gruppe zugeordnet wurden10. Dieser Prüfungsaufgabe ist eine erhöhte Bedeutung beizumessen. Dies gilt vor allem bei einer Planvorlage durch einen – unredlichen – Schuldner. Diesem eröffnet die Gruppenbildung (und damit die Beeinflussung der Abstim1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

BGH v. 20.7.2017 – IX ZB 13/16, NZG 2017, 1316 Rz. 9 = ZIP 2017, 1576. BGH v. 20.7.2017 – IX ZB 13/16, NZG 2017, 1316 Rz. 9 = ZIP 2017, 1576. Herzig, FD-InsR 2017, 394397. AG Hannover v. 30.9.2016 – 902 IN 607/14, ZIP 2016, 2081. Allg. Meinung, vgl. nur Streit/Lüer in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 250 InsO Rz. 30. AG Köln v. 6.4.2016 – 74 IN 45/15, NZI 2016, 537 = ZIP 2016, 1240. Madaus, NZI 2016, 539. BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346 Rz. 29. LG Wuppertal v. 15.9.2015 – 16 T 324/14, NZI 2016, 494 m. Anm. Becker, NZI 2016, 495. BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346.

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32.26

§ 32 Rz. 32.26 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

mungsmehrheiten) „ein erhebliches Potential an Missbrauchsmöglichkeiten“1. Soweit Smid deshalb von dem Insolvenzgericht die Prüfung verlangt, ob die Gruppenbildung manipulativen Charakter2 hat, überspannt dies allerdings die Anforderungen an die vom Gericht im Rahmen der Vorprüfung zu erfüllenden Pflichten. Auch insoweit gilt das Gebot der summarischen Prüfung; eine umfassende Inhaltskontrolle verlangt der Gesetzgeber nicht. Da im Vorprüfungsverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 5 InsO eingeschränkt ist, liefe das Postulat einer solch umfassenden Prüfungspflicht letztlich ins Leere, weil dem Gericht „die Hände gebunden wären“, wenn es erst auf Grund umfangreicher Ermittlungen den manipulativen Charakter einer Gruppenbildung aufklären könnte. Im Übrigen sind die Gläubiger durch die durchgängige Regel, dass sie durch den Plan nicht schlechter gestellt sein dürfen als ohne Plan (u.a. § 251 InsO), hinreichend geschützt. Der Planvorlegende hat die Gruppenbildung zu erläutern. Werden mehrere Gruppen aus „gleichstufigen“ Gläubigern gebildet, ist dies mit Angabe der jeweiligen Tabellenforderungen nachvollziehbar darzulegen3.

32.27

Sieht der Insolvenzplan die Bildung einer Mischgruppe vor, die Gläubiger mit unterschiedlicher Rechtsstellung – insbesondere solche, denen eine abgesonderte Befriedigung gestattet ist, und einfache Insolvenzgläubiger – in sich vereint, ist eine solche unzulässige Gruppenbildung zu beanstanden und der Insolvenzplan ggfls. nach Maßgabe des § 231 Abs. 1 Nr. 1 InsO zurückzuweisen4. Dagegen ist nach Ansicht des BGH5 gegen die Bildung gesonderter Gruppen für absonderungsberechtigte Gläubiger innerhalb und außerhalb des Fortführungsbereichs des Schuldners nichts einzuwenden. Tatsächlich ist eine gesonderte Gruppenbildung für Absonderungsgläubiger, deren Gegenstände, Forderungen usw. weiter für die geschäftlichen Aktivitäten benötigt werden, nicht willkürlich, weil sich die Gruppenbildung durch die besonderen Interessen der dem Fortführungsbereich zugeordneten gesicherten Gläubiger an der Unternehmensfortführung und dem damit einhergehenden Erhalt des Wertes ihrer Sicherheiten rechtfertigt6. Macht der Schuldner im darstellenden Teils des Insolvenzplanes keine Angaben zu in seinem Vermögen stehenden Beteiligungen, liegt ein zur Versagung der Planbestätigung führender Verstoß gegen die Bestimmung des § 220 Abs. 2 InsO unabhängig davon vor, ob der Schuldner selbst die Beteiligungen für wertlos hält7. Nach Auffassung des LG Düsseldorf8 kann das Insolvenzgericht einen Insolvenzplan gemäß § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO auch dann zurückweisen, wenn die Zahlungsfähigkeit eines Drittmittelgebers nicht hinreichend nachgewiesen wird. Dies ist der Fall, wenn nicht feststeht, ob der Drittmittelgeber allein verfügungsbefugt und der Geldbetrag überhaupt frei verfügbar ist.

32.28

Die gesetzliche Regelung zur Bildung einer Gruppe der Kleingläubiger in § 222 Abs. 3 Satz 2 InsO enthält keine Vorgaben für die Abgrenzung der Gruppe. Daraus schließt das AG Ludwigshafen9, dass die Abgrenzung nicht an die Voraussetzungen des § 222 Abs. 2 InsO gebunden werden kann. Dies bedeute aber nicht, dass der Planersteller bei der Abgrenzung völlig frei sei. Der Verzicht auf die verfahrensrechtliche Sicherung durch die Gruppenbildungskrite1 S. dazu die Entscheidung des LG Neuruppin v. 19.4.2013 – 2 T 33/13, ZIP 2013, 646 m. Anm. Raab, jurisPR-InsR 15/2013 Anm. 4; Smid, InVo 1997, 171. 2 Smid, InVo 1997, 176 ff.; ähnlich Haas in Kayser/Thole, § 231 InsO Rz. 4. 3 AG Hamburg v. 20.5.2014 – 67c IN 232/13, ZIP 2014, 1601. 4 BGH v. 7.7.2005 – IX ZB 266/04, NZI 2005, 619, 621 = ZInsO 2005, 927 = ZIP 2005, 1648; Lüer/ Streit in Uhlenbruck, § 231 InsO Rz. 19. 5 BGH v. 26.4.2007 – IX ZB 5/06, ZInsO 2007, 713. 6 Paul, ZInsO 2007, 856, 857. 7 AG Köln v. 15.5.2019 – 72 IN 269/17, NZI 2019, 711 = ZIP 2019, 1182. 8 LG Düsseldorf v. 16.4.2020 – 25 T 135/20, ZInsO 2020, 1935. 9 AG Ludwigshafen v. 26.1.2021 – 3a IN 139/19, ZIP 2021, 809 Rz. 14.

1008 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.30 § 32

rien des § 222 Abs. 2 InsO könnte ansonsten zu einer willkürlichen Rechtsbeeinträchtigung der in die Gruppe der Kleingläubiger zugeteilten Gläubiger führen. Die Abgrenzung der Zugehörigkeit zur Gruppe der Kleingläubiger müsse mithin mindestens mit nachvollziehbaren und sachgerechten Kriterien vorgenommen werden. Dazu seien fixe betragsmäßige Kriterien regelmäßig ungeeignet. Erforderlich sei zumindest eine, den besonderen Verhältnissen des Einzelfalls gerecht werdende Begründung1.

Gewillkürte Präklusionsvorschriften im Insolvenzplan, durch die Insolvenzgläubiger, die sich am Insolvenzverfahren nicht beteiligt haben, mit ihren Forderungen auch in Höhe der im Plan auf Forderungen ihrer Art festgeschriebenen Quote ausgeschlossen sind, sind nicht zulässig. Sie verstoßen gegen den Grundsatz, dass innerhalb jeder Gruppe allen Beteiligten gleiche Rechte anzubieten sind (§ 226 Abs. 1 InsO). Denn sie bewirken eine Ungleichbehandlung von Insolvenzgläubigern derselben Rechtsstellung allein aus dem Umstand der rechtzeitigen Forderungsanmeldung2. Sieht der Plan eine Präklusionsklausel nur hinsichtlich „Nachzügler-Gläubiger“ vor, ist er für Insolvenzverfahren unter Geltung des ESUG unzulässig, weil der Gesetzgeber die Frage der Durchsetzbarkeit der Forderungen von Nicht-Planteilnehmern nunmehr gesetzlich eindeutig mit §§ 259a, 259b InsO aufgegriffen und mit dem „ESUG“ geregelt hat3. Insbesondere §§ 254b, 259b InsO zeigen, dass Forderungen, die bei Planerstellung noch unbekannt waren, durch die Planbestätigung nicht ausgeschlossen werden können4. Vereinbarungen über die Vergütung des Insolvenzverwalters können nicht Inhalt eines Insolvenzplans sein. Diese gehört nicht zu den Gegenständen, die nach den gesetzlichen Bestimmungen Inhalt eines Insolvenzplans sein können. Weder § 217 InsO noch andere Vorschriften über den Insolvenzplan eröffnen diese Möglichkeit5. Auch für die Planüberwachung darf im Insolvenzplan keine Vergütung des Insolvenzverwalters bindend geregelt werden, wenn von diesem keine verbindliche Erklärung i.S. von § 230 Abs. 3 InsO zum Einverständnis mit dieser Vergütung vorliegt6.

32.29

Im Falle des § 207 Abs. 1 InsO scheidet ein Insolvenzplan mangels Durchführbarkeit aus. Das Gericht hat in diesem Fall den Plan gemäß § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO zurückzuweisen. Bei Masseunzulänglichkeit i.S. des § 208 InsO ist nach § 210a InsO die Vorlage eines Insolvenzplans möglich. Gegenstand des Plans wäre in der Hauptsache die Regelung der Altmasseverbindlichkeiten7. Bei Anzeige der Masseunzulänglichkeit sind in einem Planverfahren die sogen. Altmassegläubiger (im Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO) so zu behandeln, wie ansonsten die nicht nachrangigen Insolvenzgläubiger i.S. des § 38 InsO8. Da in die Rechte der

32.30

1 AG Ludwigshafen v. 26.1.2021 – 3a IN 139/19, ZIP 2021, 809 Rz. 14; vgl. ferner Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 222 InsO Rz. 37; Pink/Werheit in Kraemer/Vallender/Vogelsang, Handbuch Insolvenz, 96. Lfg. 2020, Kap. 23 Rz. 56; Beck/Pechartscheck in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, Gruppenbildung Rz. 54. Das LG Bielefeld (v. 20.1.2021 – 23 T 478/20, NZI 2021, 891 m. Anm. Madaus, NZI 2021, 892) hält die Bildung von Kleingläubigergruppen bei der insolvenzrechtlichen Planbildung für nicht sachgerecht. Es seien insoweit die Gruppenbildungskriterien des § 222 Abs. 2 Satz 1 und 2 InsO zu beachten, da der Planersteller es anderenfalls in der Hand hätte, durch die Bildung einer hinreichenden Anzahl von Kleingläubigergruppen die Gruppenmehrheit bei der Abstimmung zu erlangen. 2 BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346 Rz. 15. 3 AG Hamburg v. 20.5.2014 – 67c IN 232/13, ZIP 2014, 1601; Küpper/Heinze, ZInsO 2013, 471; Bremen, NZI 2014, 137, 142. 4 Bremen, NZI 2014, 137, 142; Stephan, VIA 2014, 25, 26. 5 BGH v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, NZI 2017, 260 Rz. 20 = ZIP 2017, 482. 6 LG Hamburg v. 7.2.2018 – 326 T 120/16, NZI 2018, 261. 7 Breuer in Münchener Kommentar zur InsO, § 231 InsO Rz. 24. 8 Riedel in Graf-Schlicker, § 210a InsO Rz. 3.

Vallender | 1009

§ 32 Rz. 32.30 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

Massegläubiger eingegriffen werden muss, erhalten sie ein Stimmrecht1. Die Ansprüche der Neumassegläubiger (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO) sind hiervon nicht erfasst und müssen voll bedient werden können2.

32.31

Im Rahmen seiner Vorprüfung des Insolvenzplans ist das Gericht nicht befugt, das Abstimmungsergebnis der Gläubiger zu prognostizieren. Erst recht darf es die Entscheidung der Gläubiger nicht durch seine Einschätzung ersetzen3. Das Gericht ist indes nicht daran gehindert, bei offenkundig und objektiv fehlender Erfolgsaussichten in Einzelfällen bereits eingeholte Stellungnahmen mit der gebotenen Vorsicht zu berücksichtigen4. Zutreffend hat das LG Bielefeld in seinem Beschluss vom 30.11.20015 darauf hingewiesen, dass es an der Erfüllbarkeit eines vom Schuldner vorgelegten Plans offensichtlich nur dann fehle, wenn sich bei einem Vergleich der Planregelungen mit den Angaben über die wirtschaftliche Lage des Schuldners die Unerfüllbarkeit aufdrängt. An der Offensichtlichkeit i.S. des § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 InsO fehle es auch dann, wenn hinsichtlich einer möglichen Belastung durch einen so genannten Sanierungsgewinn die zuständige Finanzverwaltung zwar wohlwollende Prüfung zugesagt hat, aber die Entscheidung noch aussteht. Das gehört zu den allgemeinen Prognoserisiken eines Plans, die vom Gläubiger grundsätzlich hinzunehmen sind6.

32.32

Die Zurückweisung des Plans hat in Beschlussform zu ergehen. Dem Vorlegenden steht gegen diese Entscheidung das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde zu (§ 231 Abs. 3 InsO). Diese ist binnen einer Notfrist von zwei Wochen beim Insolvenzgericht einzulegen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 InsO). Die Beschwerdefrist beginnt mit der Verkündung der Entscheidung, oder, wenn diese nicht verkündet wird, mit deren Zustellung (§ 6 Abs. 2 InsO). Die Beschwerde hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung (§ 4 InsO i.V.m. § 572 ZPO). Dadurch wird dem Planvorlegenden die Möglichkeit eröffnet, nach Einlegung des Rechtsmittels bis zum SchlussVgl. Begr. RegE, BT-Drucks. 127/11, S. 44. Riedel in Graf-Schlicker, § 210a InsO Rz. 4. Wenzel in Haarmeyer/Wutzke/Förster, § 231 InsO Rz. 11. BGH v. 16.12.2010 – IX ZB 21/09, ZIP 2011, 340; BGH v. 30.6.2011 – IX ZB 30/10, ZInsO 2011, 1550 mit Anm. Paul, ZInsO 2012, 259; s. ferner LG Mannheim v. 24.7.2020 – 4 T 127/17, VIA 2021, 52; LG Düsseldorf v. 16.4.2020 – 25 T 139/20, NJW-Spezial 2020, 535. 5 LG Bielefeld v. 30.11.2001 – 23 T 36/01, ZInsO 2002, 198. 6 Der Deutsche Bundestag hat am 27.4.2017 eine gesetzliche Regelung zur (Nicht) Besteuerung von Sanierungsgewinnen (BT-Drucks. 18/12128) verabschiedet, die im Wesentlichen dem BMFSchreiben vom 27.3.2003 (BStBl. I 2003, 240) entspricht. Die Voraussetzungen einer unternehmensbezogenen Sanierung sind gemäß § 3a Abs. 2 EStG n.F. die vom Steuerpflichtigen nachzuweisende (1) Sanierungsbedürftigkeit und Sanierungsfähigkeit des Unternehmens, (2) die Sanierungseignung des Forderungserlasses und (3) die Sanierungsabsicht der Gläubiger. Die neuen Vorschriften zur (Nicht) Besteuerung von Sanierungsgewinnen treten gemäß Art. 6 des Änderungsgesetztes vom 27.4.2017 erst dann in Kraft, wenn die EU festgestellt hat, dass die Regelungen entweder keine oder mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfen darstellen. Zwar hält die EU-Kommission es nicht für eine rechtswidrige Beihilfe, wenn sogenannte Sanierungsgewinne in Deutschland nicht besteuert werden. Allerdings hat sich die Kommission nur in Form eines sogenannten Comfort Letters vom 31.7.2018 geäußert, in dem sie die Bundesregierung ermutigt, eine gesetzliche Neuregelung auf den Weg zu bringen. Rechtlich bindende Wirkung hat der Brief aus Brüssel zunächst nicht. Der deutsche Gesetzgeber sah sich daher zum Handeln gezwungen und hob daraufhin in Art. 15a des Steuergesetzes 2018 (BGBl. I 2018, 2338) den Vorbehalt der formellen Beschlussfassung auf, womit § 3a EStG und § 7b GewStG in Kraft getreten sind. Gemäß § 54 Abs. 4a EStG und § 36 Abs. 2c GewStG sind die neuen Vorschriften auf Fälle anzuwenden, in denen die Schulden ganz oder teilweise nach dem 8.2.2017 erlassen wurden und bei Erlass vor dem 9.2.2017 auf Antrag des Steuerpflichtigen.

1 2 3 4

1010 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.43 § 32

termin einen neuen, geänderten Insolvenzplan einzureichen1. Soweit Pläne nach dem 31.12.2012 eingereicht worden sind, steht die Abhilfebefugnis allein dem Richter zu. Für die vor diesem Zeitpunkt eingereichten Pläne bleibt es auch hinsichtlich der Abhilfebefugnis bei der Zuständigkeit des Rechtspflegers. Die Entscheidung über die Beschwerde wird erst mit der Rechtskraft wirksam (§ 6 Abs. 3 Satz 1 InsO). Bei einer Entscheidung durch den bis zum 31.12.2012 funktional noch zuständigen Rechtspfleger gilt § 11 Abs. 1 RPflG. Soweit das Gericht ausnahmsweise einen Zulassungsbeschluss erlässt, ist hiergegen ein Rechtsmittel nicht gegeben (§ 6 Abs. 1 InsO)2.

Eine Prüfung eines alternativen („hilfsweisen“) Insolvenzplanes hat weder das Insolvenzgericht noch das Beschwerdegericht (im Rahmen der Abhilfeprüfung) vorzunehmen. Der Schuldner hat sich zu entscheiden, welchen, ggf. geänderten Insolvenzplan er der Gläubigerversammlung vorlegen will3. Allerdings ist der Schuldner befugt, nach rechtskräftiger Zurückweisung des ersten Plans einen zweiten vorzulegen, der auch nicht auf Antrag des Verwalters abzulehnen ist, solange vorher keines der in § 231 Abs. 2 InsO genannten Verfahrensstadien erreicht worden ist4.

32.33

32.34–32.40

Einstweilen frei.

IV. Planentscheidung 1. Abstimmungsverfahren Weist das Insolvenzgericht den Plan nicht gemäß § 231 InsO zurück, hat es einen Erörterungs- und Abstimmungstermin anzusetzen, der möglichst innerhalb eines Monats stattfinden soll. Dazu sind die vom Plan betroffenen Beteiligten und etwaige Arbeitnehmervertretungen sowie natürlich der Insolvenzverwalter und der Schuldner besonders zu laden. Mit der Ladung ist der Plan oder eine Zusammenfassung seines wesentlichen Inhalts zu übersenden (§ 235 Abs. 3 InsO). Meistens wird dann noch im selben Termin, gelegentlich aber auch in einem gesonderten Termin oder schriftlich (§§ 241, 242 InsO), über den Plan abgestimmt.

32.41

Die Abstimmung vollzieht sich getrennt nach Gruppen (§ 243 InsO). Innerhalb jeder Gruppe bedarf es für die Zustimmung sowohl der Kopf- als auch der Summenmehrheit der sich an der Abstimmung beteiligenden Gläubiger (§ 244 Abs. 1 InsO).

32.42

2. Obstruktionsverbot a) Bedeutung Der Plan ist angenommen, wenn alle Gruppen zugestimmt haben. Eine fehlende Zustimmung kann fingiert werden, wenn die Ablehnung als obstruktiv anzusehen ist. Das in § 245 InsO geregelte Obstruktionsverbot gehört zusammen mit der Vorschrift über die Gruppenbildung (§ 222 InsO) zu den „Königsnormen“ des Planverfahrensrechts, indem es ermöglicht, abweichend von der Abstimmung in einer normalen Gläubigerversammlung eine alle Beteiligten bindende Entscheidung durch die Mehrheits-Mehrheit – mithin durch eine Minderheit der Gläubiger – herbeizuführen (Rz. 31.1 f.). 1 2 3 4

Otte in Kübler/Prütting/Bork, § 231 InsO Rz. 23. Breuer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 231 InsO Rz. 25. LG Darmstadt v. 4.9.2014 – 5 T 410/14, BeckRS 2016, 612. BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346 Rz. 42.

Vallender und Spliedt | 1011

32.43

§ 32 Rz. 32.44 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

b) Voraussetzungen 32.44

Formelle Voraussetzung ist, dass die Mehrheit der Gruppen dem Plan mit der gruppeninternen Kopf- und Summenmehrheit zugestimmt hat (§ 245 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Wesentlich schwieriger als die formellen Voraussetzungen sind die inhaltlichen Voraussetzungen zu beurteilen.

32.45

Die erste ist das Schlechterstellungsverbot in § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Kein Beteiligter soll im Verhältnis zur Regelabwicklung Nachteile erleiden, ein Kriterium, das bei dem individuellen Minderheitenschutz gemäß § 251 InsO erneut relevant wird. Das Ergebnis der Regelabwicklung ist den Gläubigern gleichsam garantiert, nur dass sie diese Garantie durch ihr Abstimmungsverhalten (bzw. einen Minderheitenschutzantrag) einfordern müssen.

32.46

Schwierig ist die Anwendung des allgemeinen Schlechterstellungsverbots auf absonderungsberechtigte Gläubiger, die in einer Gruppe zusammengefasst sind, denn jeder Sicherungsgegenstand hat einen anderen Realisationswert. Kurante Ware lässt sich schneller veräußern als Ladenhüter, das eine Grundstück ist besser verwertbar als das andere und Forderungen sind je nach Drittschuldner mit unterschiedlichen Risiken behaftet. Jedes Sicherungsrecht gewährt eine eigene Rechtsstellung, so dass auch für jeden Sicherungsnehmer eine eigene Gruppe gebildet werden dürfte. Das aber sieht § 222 Abs. 1 Nr. 1 InsO gerade nicht vor. Er spricht nur von einer Gruppe der absonderungsberechtigten Gläubiger, wenn in deren Absonderungsrechte eingegriffen werden soll. Untergruppen können zwar, müssen aber nicht gebildet werden. Die Konsequenz dieser im Gesetz vorgesehenen Vereinheitlichung ist, dass für die Gruppe der absonderungsberechtigten Gläubiger eine Durchschnittsbetrachtung vorzunehmen ist. Die individuelle Schlechterstellung gegenüber der Regelabwicklung kann nur über einen Minderheitenschutzantrag gemäß § 251 InsO berücksichtigt werden, freilich mit dem Nachteil, dass dort die Glaubhaftmachungslast beim Gläubiger angesiedelt ist.

32.47

Das zweite inhaltliche Obstruktionskriterium ist eine angemessene Beteiligung der Gruppenmitglieder am wirtschaftlichen Wert, der den Beteiligten auf der Grundlage des Plans zufließen soll (§ 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Die Angemessenheit wird in § 245 Abs. 2 InsO für die Gläubigergruppe(n) und in § 245 Abs. 3 InsO für die Anteilseignergruppe(n) (dazu Rz. 31.39) konkretisiert. Die fehlende Zustimmung einer Gläubigergruppe darf ersetzt werden, wenn (1.) kein Gläubiger mehr als das zur Befriedigung seines Anspruchs Erforderliche erhält und (2.) bis zur vollen Befriedigung des Gläubigers kein ihm nachrangiger Gläubiger oder der Schuldner einen wirtschaftlichen Wert erhält sowie (3.) kein gleichrangiger Gläubiger besser gestellt wird.

32.48

Da kaum ein Planverfasser den Gläubigern ausdrücklich mehr zugestehen wird, als sie beanspruchen können, ist das Verbot der „Überbefriedigung“ nur relevant für Leistungen an Erfüllung statt, insbesondere also für die Herausgabe von Absonderungsgut in Anrechnung auf die Insolvenzforderung (vgl. § 168 Abs. 3 InsO). Deshalb ist bei § 245 InsO auch nicht die Rede von Zahlungen – denn für sie würde es schon an einem Rechtsgrund fehlen –, sondern von „Werten“.

32.49

Das als weitere Voraussetzung genannte Verbot von Leistungen an nachrangige Gläubiger vor einer vollen Befriedigung vorrangiger Beteiligter knüpft an die bei der Regelverteilung gemäß §§ 38 f., § 187 InsO geltende Reihenfolge an. Dieses Verbot geht über das allgemeine Schlechterstellungsverbot des § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO insofern hinaus, als ein vorrangiger Gläubiger trotz Zahlungen an die nachrangigen durchaus im Vergleich zur Regelabwicklung besser stehen kann. Dass es trotzdem eine Obstruktionsvoraussetzung ist, liegt daran, dass anderenfalls mit der normalerweise gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht erforderlichen Einbeziehung von nachrangigen Gläubigern leicht „Zähl-Gruppen“ geschaffen werden können, die dem Insolvenzplan zur Erreichung einer großen Mehrheit zustimmen. 1012 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.53 § 32

Das Verhältnis zwischen absonderungsberechtigten Gläubigern und Insolvenzgläubigern wird teilweise ebenfalls als ein Rangverhältnis angesehen. Dies beruht auf der Überlegung, dass Verwertungserlöse aus der Masse abzuführen sind (§ 170 InsO), so dass ein Absonderungsrecht im Regelverfahren vor einer Insolvenzforderung bedient wird. Wäre das ein Rangverhältnis i.S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, wäre die Ablehnung des Plans durch auch nur eine einzige Gruppe gesicherter Gläubiger nicht obstruktiv und müsste zu einer Bestätigungsversagung führen, wenn die Insolvenzgläubiger – wie regelmäßig – eine Quote erhalten sollen, bevor die Verwertungserlöse vollständig ausgekehrt wurden.

32.50

Das Verhältnis zwischen Absonderungsanspruch und Insolvenzforderung ist kein Rangverhältnis gemäß §§ 53, 38 f. InsO, was besonders deutlich wird, wenn das Verwertungsrecht gemäß § 166 Abs. 1, 2 InsO nicht beim Verwalter liegt. Dann findet die Befriedigung des Absonderungsanspruchs außerhalb der Masseverteilung statt. Das Absonderungsrecht hängt nur von dem zivilrechtlichen Bestand der gesicherten Forderung ab, nicht aber von deren insolvenzrechtlicher Einordnung. Deshalb ist das Sicherungsrecht sogar dann durchsetzbar, wenn die nach Verfahrenseröffnung laufenden Zinsen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 1 InsO insolvenzrechtlich am Verfahren nicht teilnehmen1, was deutlich macht, dass die Ansprüche unabhängig voneinander sind, aber nicht hintereinander stehen.

32.51

Ebenfalls zur Rangwahrung gemäß § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO gehört, dass dem Schuldner oder einer an ihm beteiligten Person kein wirtschaftlicher Wert zufließt. Genau einen solchen Wert zu erhalten, ist jedoch die Motivation des Schuldners für die Fortführung des Unternehmens und insbesondere für die frühzeitige Einleitung eines Insolvenzverfahrens zum Zwecke der Sanierung. Es würde wenig Sinn machen, ihm solche Vorteile durch eine Bestätigungsversagung vorzuenthalten, wenn die Gläubiger diese Werte in der Regelabwicklung nicht realisieren könnten. Das gilt insbesondere für die nicht übertragbaren Vermögensgegenstände (z.B. Genehmigungen, Lizenzen, Mietverträge). Sogar im Regelinsolvenzverfahren kann ein Schuldner, wenn er eine natürliche Person ist, Vorteile aus einer Freigabe seiner selbständigen Tätigkeit ziehen, weil er aus dem Gewinn nur einen Anteil in Höhe eines angenommenen Gehaltes abgeben muss, den Rest aber behalten darf (§ 35 Abs. 2, § 295 Abs. 2 InsO). Dem Schuldner einen Fortführungsvorteil einzuräumen, ist dem Insolvenzrecht also nicht fremd. Die Lösung für die Obstruktionsbeurteilung folgt aus dem Charakter des Vorteilsverbots als Rangordnungsverstoß. Der Schuldner ist im Regelinsolvenzverfahren gemäß § 199 InsO letztrangiger Gläubiger. Deshalb darf er nur das nicht erhalten, was im Regelverfahren die Gläubiger bezogen hätten. Bleiben ihm hingegen die Werte der im Regelverfahren nicht veräußerbaren Vermögensgegenstände, wird den Gläubigern nichts vorenthalten, so dass auch ein Verstoß gegen § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO nicht vorliegt. Das Problem ist entschärft worden, seitdem im Plan ein Austausch der Gesellschafter vorgesehen werden kann, so dass neue Investoren den Wert nicht übertragbarer Vermögensgegenstände vergüten können. Das wirkt schon im Vorwege auf eine Erhöhung des Sanierungsbeitrags auch der Altgesellschafter hin. Dadurch hat sich die Vorteilsprüfung verändert: Ist nicht zu erwarten, dass Investoren den Unternehmenswert höher vergüten, als die Gesellschafter des Schuldners aufzubringen bereit sind, erhält der Schuldner keinen wirtschaftlichen Wert, der eine Planablehnung durch andere Beteiligte rechtfertigt.

32.52

Das dritte Kriterium für eine angemessene Beteiligung am wirtschaftlichen Wert ist schließlich der Quervergleich mit Gläubigern gleicher Rangordnung. Falls Kleingläubiger besser gestellt werden, scheitert hieran die Zustimmungsersetzung gegen den (mehrheitlichen) Willen von Großgläubigern. Dieser Quervergleich ist ein erneutes Einfallstor für die Beanstan-

32.53

1 BGH v. 17.2.2011 – IX ZR 83/10, ZIP 2011, 579 Rz. 12.

Spliedt | 1013

§ 32 Rz. 32.53 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

dung einer Leistung an absonderungsberechtigte Gläubiger, die oben schon mit dem Schlagwort des Verbots von Mischgruppen erläutert wurde (Rz. 31.26). Da die gesicherten Gläubiger in der Regel janusköpfig sowohl in der Gruppe der Insolvenzgläubiger in Höhe des Ausfalls als auch in der Gruppe der gesicherten Gläubiger in Höhe des Sicherungswertes vertreten sind, kann durch eine Überbewertung des Absonderungsgutes eine zu hohe Befriedigung der ungedeckten Insolvenzforderung zustande kommen. Das wäre dann ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot, das aber nicht schon bei der Planvorlage von Amts wegen, sondern, wie bereits erläutert, erst zu berücksichtigen ist, wenn das Verhalten der Beteiligten durch die Ablehnung einer Gruppe dazu Veranlassung gibt.

c) Darlegungs- und Beweislast 32.54

Die Bedeutung des Obstruktionsverbots hängt ganz wesentlich von der Darlegungs- und Beweislast für die Obstruktionsvoraussetzungen ab. Für die ablehnende Gruppe besteht keine Begründungspflicht. Insofern unterscheiden sich die Voraussetzungen des Obstruktionsverbots vom Minderheitenschutz, bei dem es Sache des Antragstellers ist, die voraussichtliche Benachteiligung im Vergleich zur Regelverwaltung glaubhaft zu machen (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Auch enthält § 245 InsO keinen Vermutungstatbestand, dass ohne substantiierte Einwände weder eine Schlechterstellung im Vergleich zur Regelabwicklung noch keine angemessene Beteiligung am Planergebnis vorliegt. Vielmehr ist es umgekehrt so, dass das Insolvenzgericht bei der Zustimmungsersetzung überzeugt sein muss, dass es an der Schlechterstellung fehlt und die Angemessenheit gewahrt ist. Ein non liquet wirkt zugunsten der dissentierenden Gruppe.

32.55

Das Insolvenzgericht kann seine Erkenntnisse unter Anwendung des allgemeinen Verfahrensgrundsatzes der Amtsermittlung gewinnen (§ 5 InsO). In diesem Zusammenhang können Sachverständige und Zeugen vernommen werden. Eine Entscheidung über das Schicksal des Insolvenzplans ist allerdings eilbedürftig. Es bleibt keine Zeit für „Sachverständigenschlachten“. Das Spannungsfeld zwischen materieller Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Notwendigkeit bestimmt den Umfang der Amtsermittlung. Der Planinitiator muss erläutern, dass sein Plan die Anforderungen an ein Obstruktionsverbot erfüllt. Wurde der Plan vom Insolvenzverwalter vorgelegt, ist der Schuldner zu hören, stammt der Plan vom Schuldner, gilt Gleiches für den Insolvenzverwalter oder Sachwalter. Ein weiteres Erkenntnismittel sind die Einlassungen der Mitglieder des Gläubigerausschusses. Äußern sich die Angehörigen der ablehnenden Gruppe(n) dazu nicht, kann zwar die Ablehnung nicht allein deshalb als obstruktiv bezeichnet werden. Das Gericht kann jedoch den Verzicht auf eine Beibringung weiterer Erkenntnisse in die Gesamtwürdigung einbeziehen. Schließlich wird es auch die Eingaben anderer Beteiligter berücksichtigen. Hierzu bestehen zwar keine Vortragsfristen oder Präklusionsvorschriften. Was aber formlos beigebracht wird, muss zur Kenntnis genommen werden.

32.56

Ein häufiger Einwand gegen einen Fortführungsplan ist, dass die Masse durch einen Unternehmensverkauf höher ausfallen würde. Deshalb wird von einigen schon vorbereitend ein Dual Track-Verfahren empfohlen, bei dem doppelgleisig sowohl die Konditionen für eine Sanierung durch fremde Investoren als auch durch die vorhandenen Gesellschafter geprüft wird. Soll ein solcher Markttest nicht nur Alibifunktion haben, müssen die Geschäftsgeheimnisse weitgehend offengelegt werden. Das sorgt für Verunsicherung bei Geschäftspartnern, die während dieser Phase nicht wissen, mit wem sie es später zu tun haben werden. Auch besteht die Gefahr einer Schmälerung des Unternehmenswertes durch die Informationserteilung an Wettbewerber. Ihnen muss eine umfassende Due Diligence ermöglicht werden. Die Gefahr ist dann groß, dass sie dies nur zum „Ausspionieren“ nutzen. Solange Interessenten wissen, dass es erst um einen Test geht, werden sie sich auf indizielle Angebote beschränken. Dass dazu 1014 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.71 § 32

später auch tatsächlich gekauft oder investiert wird, ist höchst fraglich. Ein Dual Track-Verfahren bringt somit nur eine Scheingenauigkeit. Außerdem wirkt es dem Ziel des ESUG entgegen, Anreize für eine möglichst frühzeitige Antragstellung zu schaffen. Wenn Gesellschafter und Management Gefahr laufen, das Unternehmen jederzeit verlieren zu können, werden sie einen Insolvenzantrag möglichst lange hinauszögern. Zur Entscheidung der Frage, ob dem Schuldner oder den an ihm beteiligten Personen entgegen § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO ein wirtschaftlicher Wert zufließt, ist eine Unternehmensbewertung ausreichend. Der ermittelte Wert kann zwar erheblich von dem erzielbaren Preis abweichen, weil etwaige Käufer künftige mit dem Unternehmen erzielbare Erträge anders einschätzen oder wegen unterschiedlicher Risikopräferenzen anders bewerten. Ein erzielbarer Preis muss keineswegs höher, sondern kann auch wesentlich niedriger liegen. Eindrucksvolle Beispiele sind die Gutachten in Zwangsversteigerungsverfahren. Der tatsächlich erzielte Erlös entspricht nur sehr selten dem Taxwert. Das mit jeder Begutachtung verbundene Prognoserisiko ist nicht zu vermeiden und im Übrigen auch typisch für viele insolvenzverfahrensrechtliche Entscheidungen. Das beginnt mit der Fortführungsprognose beim Insolvenzgrund der Überschuldung, wiederholt sich bei der nach § 157 InsO von der Gläubigerversammlung zu treffenden Entscheidung über die Stilllegung oder Fortsetzung des Geschäftsbetriebes. Es gibt keinen Grund, bei § 245 InsO das gutachterliche Prognoserisiko zu vermeiden. § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO spricht deshalb zu Recht nur von einer voraussichtlichen, also prognostischen Schlechterstellung. Allerdings ist eine Ausnahme zu machen: Gibt es konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Interessenten aufgrund von Synergieeffekten einen höheren Preis zahlen würden, als es dem Wert des Unternehmens in der Hand des Schuldners bei einer „stand-alone-Lösung“ entspricht, ist dem nachzugeben. Diese Anhaltspunkte sind schon bei der Bewertung zu berücksichtigen, weil dafür Angaben zu Markverhältnissen und Konkurrenten erforderlich sind.

32.57

Eine gutachterliche Bewertung reicht somit regelmäßig aus. Der Bewertungsaufwand hängt vom Einzelfall ab. Er muss in einem angemessenen Verhältnis zu etwaigen Nachteilen fehlerhafter Ergebnisse stehen. Eine Unternehmensbewertung durch Wirtschaftsprüfer nach dem IDW-Standard S 1 wird in vielen Fällen nicht erforderlich sein, sondern eine Beurteilung durch Steuer- bzw. Unternehmensberater oder auch durch den Sachwalter genügen.

32.58

Einstweilen frei.

32.59–32.70

V. Arbeitnehmerbeteiligung im Insolvenzplanverfahren Arbeitsrechtliche Aspekte kommen im Insolvenzplanverfahren in dreifacher Hinsicht zum Tragen. Der Gesetzgeber hat erstens eine Beteiligung der Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmervertretungen bei der Aufstellung des Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter vorgesehen1. Die Bedeutung arbeitsrechtlicher Aspekte findet zweitens im darstellenden Teil ihren Niederschlag. Arbeitsrechtliche Maßnahmen sind drittens häufig auch im gestaltenden Teil betroffen. Diese Beteiligung ist von den Beteiligungsrechten nach dem BetrVG oder den §§ 121 ff. InsO bei bestimmten Maßnahmen im Insolvenzverfahren bzw. auch im Schutzschirmverfahren zu unterscheiden2. 1 Vgl. dazu auch Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 26 ff.; Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 76 ff. 2 S. zur betrieblichen Mitbestimmung im Schutzschirmverfahren etwa Krolop, ZfA 2015, 287 ff.

Spliedt und Mückl | 1015

32.71

§ 32 Rz. 32.72 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

1. Aufstellung a) Beratung 32.72

Der Betriebsrat und der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten wirken bei der Aufstellung des Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter beratend mit (§ 218 Abs. 3 InsO).

32.73

Im Umkehrschluss aus dem von der h.M. als insoweit abschließend qualifizierten § 284 InsO wird angenommen, dass sie bei einer Aufstellung des Insolvenzplans durch den Schuldner selbst nicht einmal beratend zu beteiligen sind1. Im Rahmen der Eigenverwaltung wird danach differenziert, ob der Schuldner den Plan selbst ausgearbeitet hat (dann keine Mitwirkung) oder der Sachwalter den Plan vorgelegt hat (dann Mitwirkung entsprechend § 218 Abs. 3 InsO)2.

32.74

Die beratende Funktion von Betriebsrat und Sprecherausschuss bei der Aufstellung des Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter bedeutet, dass diese Gremien keine Stellung haben, die eine erzwingbare inhaltliche Einwirkung ermöglicht. Betriebsrat und Sprecherausschuss können einen bestimmten Inhalt des Insolvenzplans weder erzwingen noch verhindern. Ebenso wenig hängt die Aufstellung des Insolvenzplans durch den Insolvenzverwalter von einer Zustimmung des Betriebsrats oder des Sprecherausschusses ab.

32.75

Die Beratung bedeutet, dass Betriebsrat und Sprecherausschuss zu unterrichten und dass sie berechtigt sind, ihre Meinung zu den Regelungsvorschlägen des Insolvenzverwalters substantiiert vorzutragen3. Es geht um Mitsprache und nicht um Mitbestimmung4. Der Insolvenzverwalter ist an die Stellungnahmen von Betriebsrat und Sprecherausschuss nicht gebunden, sondern kann jederzeit von diesen abweichen5. Der Insolvenzverwalter muss sich inhaltlich mit den Vorstellungen von Betriebsrat und Sprecherausschuss auseinandersetzen und mit diesen die zur Sprache gebrachten Gesichtspunkte mit dem Willen einer Verständigung erörtern; anderenfalls kann nicht von einer Beratung gesprochen werden: Beratung geht über Unterrichtung des anderen und Zurkenntnisnahme der Vorstellungen des anderen hinaus. Beratung beinhaltet mehr als Anhörung6.

32.76

Die streitige Frage, ob den Betriebsrat und den Sprecherausschuss über ein bloßes Beratungsrecht hinaus eine Mitwirkungspflicht trifft7, ist in der Praxis bedeutungslos8, weil der Insolvenzverwalter seiner Informationspflicht aus § 218 Abs. 3 InsO – auch gegenüber den Arbeitnehmervertretungen – typischerweise nachkommen wird, um eine Diskussion9 um eine von 1 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 74; Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 90 beide m.w.N. 2 Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 90 m.w.N. 3 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 75. 4 Vgl. Moll in der 5. Aufl., Rz. 8.92 m.w.N. 5 Vgl. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 474; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2019, § 218 InsO Rz. 50, 53. 6 S. zur Beratungskategorie etwa 5. Aufl., Rz. 8.92. 7 Zum Streitstand vgl. Andres in Andres/Leithaus, 4. Aufl. 2018, § 218 InsO Rz. 8 m.w.N. 8 Ebenso Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 75. 9 Diese Frage ist umstritten. Eine Zurückweisungspflicht annehmend für viele Andres in Andres/ Leithaus, 4. Aufl. 2018, § 218 InsO Rz. 9; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 78 m.w.N.; a.A. z.B. Braun/Frank in Braun, 8. Aufl. 2020, § 218 InsO Rz. 10; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 218 InsO Rz. 39.

1016 | Mückl

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.81 § 32

Amts wegen vorzunehmende Zurückweisung des Plans nach § 231 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO durch das Insolvenzgericht zu verhindern1. Ein anschließendes Berufen des – trotz Information durch den Insolvenzverwalter – untätigen Betriebsrats bzw. Sprecherausschusses darauf, nicht beteiligt worden zu sein, wäre in dieser Situation treuwidrig und unbeachtlich2. Die beratende Tätigkeit von Betriebsrat und Sprecherausschuss im Rahmen von § 218 Abs. 3 InsO gehört zu deren gesetzlichen Aufgaben und wird von den allgemeinen Entgeltzahlungsund Kostentragungsregelungen (§§ 37, 40 BetrVG, § 14 SprAuG) erfasst3.

32.77

b) Stellungnahme Der Insolvenzplan wird, nachdem er entweder vom Insolvenzverwalter oder vom Schuldner vorgelegt worden und vom Insolvenzgericht nicht nach § 231 Abs. 1 oder Abs. 2 InsO zurückgewiesen worden ist, von dem Insolvenzgericht dem Betriebsrat und dem Sprecherausschuss gemäß § 232 Abs. 1 Nr. 1 InsO zur Stellungnahme zugeleitet. Deren Stellungnahmen sind wie der Insolvenzplan und alle übrigen beim Insolvenzgericht eingegangenen Stellungnahmen in der Geschäftsstelle zur Einsicht auszulegen (§ 234 InsO).

32.78

Der Betriebsrat und der Sprecherausschuss sind gemäß § 235 Abs. 3 Satz 1 InsO ebenso wie die Insolvenzgläubiger, die Absonderungsberechtigten, der Insolvenzverwalter und der Schuldner zum Erörterungs- und Abstimmungstermin zu laden. Sie haben im Termin Rederecht. Die Äußerungen von Betriebsrat und Sprecherausschuss werden insbesondere bei einer mit dem Insolvenzplan verfolgten Unternehmensfortführung als wünschenswert und zweckmäßig anzusehen sein4. Der Insolvenzplan kann nach § 240 InsO – auch – auf Grund der Äußerung der Arbeitnehmervertreter noch im Erörterungstermin geändert werden.

32.79

c) Abstimmung Die Abstimmung über den Insolvenzplan erfolgt in Gruppen (§§ 243, 244 InsO)5.

32.80

Die Arbeitnehmer „sollen“6 eine besondere Gruppe bilden, wenn sie als Insolvenzgläubiger (§§ 38, 108 Abs. 2 InsO) mit nicht unerheblichen Forderungen7 beteiligt sind (§ 222 Abs. 3 Satz 1 InsO). Die Bedeutung des Erheblichkeitskriteriums ist ungeklärt. Teilweise wird auf einen Prozentsatz der Gesamtforderungen abgestellt bzw. bildet das Einkommen und den Anteil der betroffenen Arbeitnehmer im Verhältnis zur Arbeitnehmerschaft insgesamt den Maßstab. Überwiegend wird eine gruppenbezogene Komponente befürwortet, d.h., die Forderungen

32.81

1 Ob – außer im Fall einer Genehmigung des Plans durch den Betriebsrat/Sprecherausschuss – in derartigen Fällen eine Behebung des Beteiligungsmangels möglich ist, ist zweifelhaft, vgl. Breuer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 231 InsO Rz. 10; zustimmend Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 78. 2 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 75; Stahlschmidt, ZInsO 2019, 494, 496 m.w.N. 3 Vgl. Begr. zu § 254 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 108, 196; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 79 m.w.N. 4 Vgl. Begr. zu § 279 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 108, 206; Warrikoff, BB 1994, 2338, 2346. 5 S. zur Altersversorgung und zum Pensionssicherungsverein etwa Rieger, NZA 2013, 671. 6 D.h. im Regelfall wird eine Arbeitnehmergruppe gebildet, so dass hiervon nur aufgrund besonderer Umstände im Ausnahmefall abgewichen werden kann, h.M. vgl. für viele nur Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 222 InsO Rz. 132 m.w.N. zum Streitstand. 7 Zu den zu berücksichtigenden Forderungen vgl. Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 30.

Mückl | 1017

§ 32 Rz. 32.81 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

müssen für die Arbeitnehmerschaft erheblich sein1. Vielfach wird eine Objektivierung durch ein Abstellen auf 10 %2 des Jahreseinkommens von mindestens 25 % der Arbeitnehmer versucht3. Fehlt es an einer nicht unerheblichen Forderung, finden die allgemeinen Regeln mit der Folge Anwendung, dass sich die Gruppenbildung nach § 222 Abs. 1 und Abs. 2 InsO richtet4.

32.82

Die Beteiligung der Arbeitnehmer als Gruppe beruht darauf, dass sich ihre Interessenlage in der Regel von der anderer Insolvenzgläubiger abhebt5. Die Arbeitnehmer sind nicht nur an der Regulierung von Forderungen auf rückständiges Arbeitsentgelt interessiert (soweit es sich bei den Rückständen um Insolvenzforderungen (!) handelt), sondern gerade im Zusammenhang mit der Aufstellung und Durchführung des Insolvenzplans an der Erhaltung der Arbeitsplätze. Deren Existenz kann maßgeblich von der Gestaltung des Insolvenzplans abhängen. Insolvenzforderungen von Arbeitnehmern können auch aus der Durchbrechung von „Unkündbarkeit“ resultieren (§ 113 Satz 3 InsO). Der Insolvenzplan kann zudem Sozialplanbestimmungen bzw. Sozialplanvorgaben enthalten. § 123 Abs. 2 Satz 2 InsO stellt die relative Obergrenze für die Gesamtheit von Sozialplanforderungen unter den Vorbehalt einer abweichenden Regelung im Insolvenzplan6. Diese Gesichtspunkte rechtfertigen es, für den Regelfall eine einheitliche Arbeitnehmergruppe im Rahmen der Gruppenbildung im Sozialplanverfahren vorzusehen, auch wenn die Interessenlage von entlassenen Arbeitnehmern unterschiedlich ist7.

32.83

Arbeitnehmer können ausnahmsweise jedoch auch typisierte unterschiedliche Interessen haben, so dass auch mehrere Gruppen von Arbeitnehmern gebildet werden können, die gesondert über den Plan abstimmen (§ 222 Abs. 2 Satz 1 InsO)8. Denkbar ist z.B., dass zwischen gekündigten und ungekündigten Arbeitnehmern differenziert wird9 bzw. zwischen denen, die einen Sanierungsbeitrag leisten und denen, die dies nicht tun10, oder dass zwischen Arbeitnehmern differenziert wird, die einem zu erhaltenden oder einem stillzulegenden Betrieb angehören. Die Gruppen müssen sachgerecht abgegrenzt werden (§ 222 Abs. 2 Satz 2 InsO). Die Abgrenzungskriterien sind im Insolvenzplan anzugeben (§ 222 Abs. 2 Satz 3 InsO)11. § 222 Abs. 3 Satz 1 InsO steht der Bildung mehrerer Arbeitnehmergruppen nicht entgegen. Die Regelung normiert lediglich den nach der Vorstellung des Gesetzgebers gegebenen Regelfall. Dieser liegt darin, dass normalerweise alle Arbeitnehmer übereinstimmende wirtschaftliche 1 Vgl. LG Mühlhausen v. 17.9.2007 – 2 T 190/06, NZI 2007, 724; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 222 InsO Rz. 34; Rühle in Nerlich/Römermann, 44. EL November 2021, § 222 InsO Rz. 20; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 222 InsO Rz. 129 alle m.w.N. 2 Vgl. z.B. Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 222 InsO Rz. 34; Rühle in Nerlich/Römermann, 44. EL November 2021, § 222 InsO Rz. 22; geringer LAG Düsseldorf v. 15.9.2011 – 11 Sa 591/11, ZIP 2011, 2487 Rz. 34: bereits mehr als 500,- Euro. 3 Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 106 m.w.N. 4 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 34. 5 Vgl. Begr. zu § 265 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 108, 199 f. 6 S. dazu näher Moll in Kübler/Prütting/Bork, Stand: September 2020, §§ 123, 124 InsO Rz. 79, 99 m.w.N. 7 Vgl. Krolop, ZfA 2015, 287, 308. Anders Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 222 InsO Rz. 127, 133. 8 Vgl. Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 35; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 222 InsO Rz. 133; Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 108 m.w.N. 9 Vgl. Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 222 InsO Rz. 133. 10 LAG Niedersachsen v. 1.6.2010 – 11 Sa 1658/09, NZI 2011, 156 f. 11 S. auch BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, DB 2015, 1651 = ZIP 2015, 1346.

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§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.87 § 32

Interessen haben. Das Wort „sollen“ erweist, dass dies nicht zwingend ist, so dass unter Beachtung von § 222 Abs. 2 Satz 1 InsO Gruppen auch innerhalb der Arbeitnehmerschaft gebildet werden können. Die Abstimmung der Gruppe der Arbeitnehmer richtet sich nach den allgemeinen, auch für die anderen Gruppen geltenden Vorschriften.

32.84

Der Arbeitnehmerschaft und erst recht etwa gebildeten (Unter-)Gruppen innerhalb der Arbeitnehmerschaft kommt im Hinblick auf die Bedeutung der einzelnen Gruppen ein erhebliches Einflusspotential zu1. Dies hat im Schrifttum zu dem Vorschlag geführt, die Arbeitnehmer dann nicht als Gruppe zu berücksichtigen, wenn kein Betriebsrat besteht oder mit einem Betriebsrat keine Einigung über einen Interessenausgleich/Sozialplan erzielt worden ist2. Dem kann de lege lata nicht gefolgt werden. Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Betriebsratsmitbestimmung geregelt, dass die Arbeitnehmer eine Gruppe bilden „sollen“. Diese Regel kann dann aber nicht durch das Bestehen eines Betriebsrats und eine mit diesem erzielte Einigung beiseite geschoben werden.

32.85

2. Darstellender Teil Die Bedeutung arbeitsrechtlicher, personalbezogener Aspekte kommt regelmäßig im darstellenden Teil des Insolvenzplans (§ 220 InsO) zum Ausdruck. Der Regierungsentwurf sah eine ausdrückliche Erwähnung zum einen von Betriebsänderungen und anderen organisatorischen und personellen Maßnahmen innerhalb des Unternehmens und zum anderen des Gesamtbetrags der Sozialplanforderungen vor (§ 258 Abs. 2 Nr. 1 und 2 RegE). Diese Aspekte wurden als „beispielhaft wichtige“ Maßnahmen bei der Sanierung eines Unternehmens angesehen. Die Nichterwähnung im Gesetzeswortlaut hat nichts daran geändert, dass diese Maßnahmen im Insolvenzplan darzustellen sind3. Umstrukturierungsmaßnahmen jeder Art sind in der Tat mit vielfältigen organisatorischen und personellen Maßnahmen verbunden. Die Mitteilung über derartige Maßnahmen ist sowohl für Arbeitnehmer als auch für Gläubiger jeder Art eine wichtige Grundlage für die Entscheidung über den Insolvenzplan. In gleicher Weise muss Klarheit über die mit der Sanierung verbundenen Sozialplanforderungen bestehen. Je größer die Unsicherheit über den Gesamtbetrag der Sozialplanforderungen ist, desto mehr wird die Bereitschaft zur Annahme des Insolvenzplans herabgesetzt4.

32.86

Ein Insolvenzplan kann aber nicht die Umsetzung insbesondere individualarbeitsrechtlicher Maßnahmen ersetzen. Trotz eines gewissen Gestaltungsspielraums im gestaltenden Teil (dazu sogleich), kann eine Vielzahl arbeitsrechtlicher Maßnahmen nicht im Insolvenzplan selbst umgesetzt werden, sondern muss durch den Insolvenzverwalter parallel dazu ergriffen und ggf. durch eine Planbedingung i.S. des § 249 InsO mit dem Insolvenzplan „verknüpft“ werden5. Diese außerhalb des Insolvenzplans ergriffenen Maßnahmen sind im darstellenden Teil zu schildern6.

32.87

1 Hermann in Göpfert/Schöne, Handbuch Arbeitsrecht in Restrukturierung und Insolvenz, 2. Aufl. 2019, § 18 Rz. 103; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 26. 2 Vgl. Krolop, ZfA 2015, 287, 308. 3 Pape/Uhlenbruck/Voigt-Salus, Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2010, Kap. 38 Rz. 15. 4 Vgl. Begr. zu § 258 RegE, BT-Drucks. 12/2443, S. 108, 197; Burger/Schellberg, DB 1994, 1833, 1834. 5 Krings, ZInsO 2017, 577, 578; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 55 ff.; Lau/Schlicht in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 2 Rz. 110. 6 Lau/Schlicht in Röger, Insolvenzarbeitsrecht, 2018, § 2 Rz. 110.

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§ 32 Rz. 32.88 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

3. Gestaltender Teil 32.88

Der gestaltende Teil des Insolvenzplans (§ 221, 254 Abs. 1 InsO) kann Regelungen vorsehen, durch die Arbeitnehmeransprüche beschränkt, insbesondere entstandene, rückständige Forderungen erlassen werden. Dies ist unproblematisch, wenn es sich um Ansprüche handelt, die zur Disposition der Arbeitnehmer stehen. Diese Dispositionsfreiheit besteht jedoch nicht immer. § 4 Abs. 3 Satz 1 TVG sieht vor, dass Arbeitnehmer auf durch Tarifvertrag eingeräumte Rechte nur mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien verzichten können. § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG lässt einen Verzicht auf durch Betriebsvereinbarung begründete Ansprüche nur mit Zustimmung des Betriebsrats zu. Entsprechende Fragestellungen entstehen, wenn es sich um gesetzlich unverzichtbare Ansprüche handelt (Bsp.: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaub nach dem BUrlG). Die Auflösung des Konkurrenzverhältnisses zwischen arbeitsrechtlichen und insolvenzrechtlichen Regelungen in diesem Zusammenhang ergibt sich aus Inhalt und Rechtsnatur des Insolvenzplans. Der Insolvenzplan ist ein Übereinkommen zwischen Schuldner und (allen beteiligten) Gläubigern1. Der Insolvenzplan kann daher keine Betriebsvereinbarungs- oder Tarifregelungen ändern. Die Erfüllung bereits entstandener Forderungen wird durch den Insolvenzplan nun aber dadurch berührt, dass nach § 224 InsO der wesentliche Inhalt des Insolvenzplans darin besteht, anzugeben, um welchen Bruchteil Forderungen von Insolvenzgläubigern gekürzt werden. Diese Wirkungen treten für und gegen die Insolvenzgläubiger auch dann ein, wenn der einzelne dem Insolvenzplan nicht zugestimmt hat (§ 254 Abs. 1 InsO i.V.m. § 254b InsO). Entscheidend ist mithin nicht ein „Verzicht“ des einzelnen Arbeitnehmers i.S. von § 4 Abs. 3 Satz 1 TVG oder § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG. § 4 Abs. 3 Satz 1 TVG und § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG stehen daher einer Reduzierung von Ansprüchen durch den Insolvenzplan nicht entgegen2. Entscheidend ist das Zustandekommen des Insolvenzplans im Rahmen eines formell-justizförmig geregelten Verfahrens. Einen Verzicht i.S. von § 4 Abs. 3 Satz 1 TVG oder § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG stellt dies nicht dar, so dass entstandene Ansprüche von Arbeitnehmern auf Grund einer Betriebsvereinbarung oder eines Tarifvertrags zur Disposition durch den Insolvenzplan stehen, ohne dass Betriebsrat oder Tarifvertragsparteien zustimmen müssten.

32.89

Eine andere Situation besteht, wenn es sich darum handelt, ob Entgeltreduzierungen für künftige Zeiträume festgelegt werden. Die §§ 224, 254 Abs. 1 InsO sind insoweit schon deshalb nicht anwendbar, weil die Arbeitnehmer im Hinblick auf die künftigen Ansprüche nicht Insolvenzgläubiger sind, sondern Massegläubiger. § 217 InsO lässt nicht erkennen, dass der Insolvenzplan auch in derartig künftig zu erdienende Ansprüche eingreift. Regelungen über künftige Ansprüche oder Entwicklungen im Arbeitsverhältnis sind daher durch den Insolvenzplan – unabhängig davon, dass es sich beim Zustandekommen des Insolvenzplans nicht um einen „Verzicht“ i.S. von § 4 Abs. 3 Satz 1 TVG oder § 77 Abs. 4 Satz 2 BetrVG handelt – nicht möglich, weil dies Inhalt und Regelungskompetenz des Insolvenzplans, wie sie in § 217 InsO festgelegt sind, überschreitet. Die Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern im Rahmen der künftigen Entwicklung des Arbeitsverhältnisses sind nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Bestimmungen zu gestalten, gegebenenfalls unter Anwendung insolvenzspezifischer Besonderheiten (Bsp.: § 120 InsO).

32.90

Das Volumen von nach Insolvenzeröffnung aufgestellten Sozialplänen wird durch § 123 InsO in absoluter und relativer Höhe begrenzt. Während die absolute Obergrenze des § 123 Abs. 1 1 Vgl. Braun/Uhlenbruck, Unternehmensinsolvenz, S. 463 ff.; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO,4. Aufl. 2020, § 217 InsO Rz. 25, 31. 2 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 43; a.A. Breuer in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 224 InsO Rz. 7.

1020 | Mückl

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.101 § 32

InsO nach h.M. auch im Insolvenzplan eingreift1, gilt die in § 123 Abs. 2 Satz 2 InsO normierte relative Obergrenze ausdrücklich nicht. Es ist den Betriebsparteien jedoch unbenommen, die Anwendbarkeit der relativen Obergrenze auch für den Fall der Vorlage eines Insolvenzplans zu vereinbaren2. Wird ein Sozialplan in der sicheren Erwartung eines Insolvenzplans abgeschlossen, der dann im weiteren Verlauf nicht zustande kommt, kann dies einen Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) mit der Konsequenz bedeuten3, dass der Sozialplan entsprechend angepasst werden muss, wobei die Arbeitnehmer keinen Vertrauensschutz hinsichtlich bereits entstandener Ansprüche aus dem Sozialplan genießen4. Der Sozialplan darf vielmehr auch zum Nachteil der Arbeitnehmer angepasst werden5. Soweit empfohlen wird, den Sozialplan unter die aufschiebende Bedingung der Annahme und Bestätigung des Insolvenzplans zu stellen, um unklaren nachträglichen Anpassungsbedarf zu vermeiden6, wird sich dies in der Praxis gegenüber dem Betriebsrat nicht durchsetzen lassen7. Zweifelhaft ist selbst, ob ein Lösungsweg wäre, den Interessenausgleich ebenfalls entsprechend zu bedingen. Denn ein bedingter Interessenausgleich ist jedenfalls dann als zumindest „versucht“ i.S. von § 113 Abs. 3 BetrVG anzusehen, wenn die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen (z.B. Schriftform) erfüllt sind, und zwar unabhängig davon, ob die vereinbarte Bedingung zulässig ist8. Der Betriebsrat würde sich also selbst durch einen aufschiebend bedingten Abschluss eines wesentlichen Druckmittels begeben.

Einstweilen frei.

32.91

32.92–32.100

VI. Gerichtliche Planbestätigung 1. Das Verfahren §§ 248 ff. InsO regeln des Planbestätigungsverfahren. Mit der Bestätigung des Plans leistet das Insolvenzgericht einen „gesetzlichen Mindestschutz für alle Beteiligten“9. Pleister10 nennt folgende Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen, damit das Gericht einen Plan bestätigen kann: Gesetzmäßigkeit des Planinhalts11 (§ 250 Nr. 1 InsO), korrekte Gruppenbil1 Schöne in Kübler/Prütting/Bork, Stand: 92. EL 2022, §§ 123, 124 InsO Rz. 78 f.; Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 123 InsO Rz. 73; Hamacher in Nerlich/Römermann, Stand: 44. EL November 2021, § 123 InsO Rz. 12; Krings, ZInsO 2017, 577, 580; a.A. Zwanziger, Arbeitsrecht der InsO, 5. Aufl. 2015, § 123 Rz. 4. 2 Niering, NZI 2010, 285, 288; Eisemann, NZA 2019, 81, 84; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 46. 3 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 123 InsO Rz. 76 f.; Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 54. 4 Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 54. 5 BAG v. 10.8.1994 – 10 ABR 61/93, NZA 1995, 314 = ZIP 1995, 1037. 6 Caspers in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 123 InsO Rz. 77. 7 So Krings in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 38 Rz. 54. 8 BAG v. 21.7.2005 – 6 AZR 592/04, BAGE 115, 225 = ZIP 2006, 199. 9 Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 248 InsO Rz. 2 (Stand: September 2020). Eine fortdauernde Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des vormaligen Insolvenzverwalters nach rechtskräftiger Bestätigung eines Insolvenzplans und Aufhebung des Insolvenzverfahrens gibt es nicht (OLG Celle v. 20.11.2006 – 4 U 166/06, ZIP 2006, 2394). 10 Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 248 InsO Rz. 2 (Stand: September 2020). 11 Allein das Fehlen einer Seite des den Insolvenzgläubigern übersandten Insolvenzplans begründet jedenfalls dann nicht die Rüge der § 250 Nr. 1, § 235 Abs. 3 Satz 2 InsO, wenn für die Gläubiger

Mückl und Vallender | 1021

32.101

§ 32 Rz. 32.101 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

dung, Gleichbehandlung der gruppenzugehörigen Gläubiger (§ 226 InsO), erforderliche Mehrheiten: Zustimmung der Gläubigergruppen oder Ersetzung ihrer Zustimmung, Zustimmung des Schuldners oder Ersetzung seiner Zustimmung, Entscheidung über alle form- und fristgerecht erhobenen Widersprüche, keine unlautere Herbeiführung des Plans1, Wahrung der Minderheitenrechte (§ 251 InsO) sowie Eintritt der im darstellenden oder gestaltenden Teil des Plans vorgesehenen Bedingungen (§ 249 InsO). Raum für eigene wirtschaftliche Gestaltungen räumt das Gesetz dem Gericht nicht ein2. Insbesondere ist es nicht befugt, Veränderungen an dem Plan vorzunehmen oder Auflagen zu erteilen3. Auch ist es dem Gericht nicht gestattet, einen Plan nur teilweise zu bestätigen.

32.102

Die Annahme des Plans setzt auch die Zustimmung des Schuldners voraus. Dies gilt ohne Einschränkung für alle Arten von Insolvenzplänen4. Nach § 247 Abs. 1 InsO gilt die Zustimmung des Schuldners zum Plan als erteilt, wenn er dem Plan nicht spätestens im Abstimmungstermin schriftlich widerspricht. Zugleich unterliegt der Widerspruch des Schuldners gemäß § 247 Abs. 2 InsO einem Obstruktionsverbot.

32.103

Der Widerspruch des Schuldners ist unbeachtlich, wenn – der Schuldner durch den Plan nicht schlechter gestellt wird, als er ohne den Plan stünde, und – kein Gläubiger einen wirtschaftlichen Wert erhält, der den vollen Betrag seines Anspruchs übersteigt.

32.104

Die Annahme des Plans durch die Beteiligten folgt den Regeln der §§ 244−246a InsO. Liegen die Voraussetzungen für eine Bestätigung vor, so muss das Insolvenzgericht die Bestätigung aussprechen. Ein Ermessen steht ihm nicht zu5. Bei Vorlage und Annahme mehrerer Pläne6 kommt eine Bestätigung gemäß § 248 InsO nicht in Betracht, weil das Gesetz ersichtlich davon ausgeht, dass nur ein Plan bestätigt werden kann. Das Gericht beschließt in einem solchen Fall die Versagung der Bestätigung, indem es feststellt, dass kein Plan i.S. von § 248 InsO angenommen worden ist7. Dabei ist jedem der angenommenen Pläne die Bestätigung zu versagen. Allerdings kann es die Erörterung der Pläne wiedereröffnen (§ 156 ZPO) und den Beteiligten die Möglichkeit der Neuverhandlung einräumen. Demgegenüber vertreten Lüer/Streit8 die Auffassung, das Gericht habe jeden angenommenen Plan zu bestätigen, soweit kein Versagungsgrund

1 2 3 4 5 6

7 8

das Fehlen der Seite ersichtlich war und sie die Möglichkeit hatten, diese beim Insolvenzverwalter vor dem Abstimmungstermin, in dem der Verwalter die fehlende Seite im entschiedenen Fall nachgereicht hatte, anzufordern (OLG Dresden v. 21.6.2000 – 7 W 951/00, NZI 2000, 436 = ZIP 2000, 1303). S. dazu die Beispiele bei Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 248 InsO Rz. 2 (Stand: September 2020). Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 248 InsO Rz. 2. Hess, 2. Aufl. 2021, § 248 InsO Rz. 10; Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 248 InsO Rz. 10 (Stand: September 2020). Thole in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 18 Rz. 6. Thole in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 18 Rz. 28. Bei wörtlicher Anwendung des § 218 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 InsO ist eine gleichzeitige Vorlage zweier konkurrierender Pläne nur bei Planvorschlägen des Verwalters und des Schuldners möglich. Die Zulässigkeit der Vorlage zweier Pläne durch den Verwalter ist ohnehin ein mehr theoretisches Problem (Lüke in FS Uhlenbruck, 2000, S. 526). So Haas in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 248 InsO Rz. 5. Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 248 InsO Rz. 7.

1022 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.106 § 32

gemäß §§ 250, 251 InsO vorliege. Die Bestätigung müsse gegebenenfalls jeweils der sachlichen Reihenfolge nach (Zeitpunkt der Befassung) mit einem Tag Unterschied verkündet werden, so dass auch die Beschwerdefrist unterschiedlich ende. Thole1 hält es jedenfalls für denkbar, dass mehrere Pläne angenommen oder jedenfalls zur Abstimmung gestellt werden. Sowohl die Bestätigung eines Insolvenzplans durch das Insolvenzgericht gemäß § 248 InsO als auch die Beschwerdeentscheidung nach § 253 InsO sind der rechtsprechenden Gewalt i.S. von Art. 92 GG und nicht der öffentlichen Gewalt i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG zuzuordnen, so dass der Schutzbereich des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG) eröffnet ist2. Mit der Insolvenzplanbestätigung gemäß § 248 InsO erfolgt, insbesondere soweit der Schutz eines dem Insolvenzplan widersprechenden Gläubigers in Rede steht, eine letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall in einem besonders geregelten Verfahren3. Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass das Insolvenzgericht insoweit „ein Urteil in einer Rechtssache fällt“. Damit hat das Insolvenzgericht bei Planbestätigungen ein Rechtsprechungsprivileg4.

32.105

Funktionell zuständig für die Entscheidung über die Bestätigung oder Versagung der Bestätigung des Plans gemäß § 248 InsO ist der Richter5. Vor seiner Entscheidung soll das Insolvenzgericht den in § 248 Abs. 2 InsO Genannten rechtliches Gehör gewähren. Als Verfahrensbeteiligter ist auch dem Schuldner rechtliches Gehör zu gewähren. Eine Entscheidung ohne vorherige Anhörung des Insolvenzverwalters, des Schuldners und des Gläubigerausschusses, wenn ein solcher bestellt ist, stellt einen Verfahrensmangel dar, der grundsätzlich zu einer Aufhebung der Entscheidung führt6. Gegen den Beschluss, durch den der Insolvenzplan bestätigt oder die Bestätigung versagt wird, steht den Gläubigern, dem Schuldner und den am Schuldner beteiligten Personen die sofortige Beschwerde zu (§ 253 Abs. 1 InsO, § 6 Abs. 1 InsO)7. Das Beschwerderecht der Gläubiger ist nicht auf die stimmberechtigten Gläubiger beschränkt; es steht vielmehr auch den Gläubigern streitiger Forderungen zu, denen das Gericht kein Stimmrecht zuerkannt hat8. Sind im Insolvenzplan und in der für die Gläubiger be-

32.106

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Thole in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 18 Rz. 30. BVerfG v. 28.10.2020 – 2 BvR 764/20 Rz. 41, NZI 2020, 1119. BVerfG v. 28.10.2020 – 2 BvR 764/20 Rz. 41, NZI 2020, 1119. Madaus, NZI 2020, 1118, 1119. § 18 Abs. 1 Nr. 2 RPflG. Abs. 1 der Vorschrift wurde durch das ESUG mit Wirkung vom 1.1.2013 neu gefasst. Bis zu diesem Zeitpunkt fiel die Entscheidung in die Regelzuständigkeit des Rechtspflegers. Die neue Richterzuständigkeit gilt nur für Verfahren, die ab dem 1.1.2013 beantragt werden (Art. 103g Satz 2 EGInsO). 6 Vgl. OLG Düsseldorf v. 16.10.1957 – 3 W 234/57 und 3 W 245–249/57, KTS 1959, 175; Vallender in Kölner Schrift zur InsO, S. 255 Rz. 14; das rechtliche Gehör kann allerdings im Abhilfeverfahren gemäß § 4 InsO, § 572 Abs. 1 ZPO nachgeholt werden. 7 Nach Auffassung des LG Köln (v. 17.12.2020 – 1 T 440/20, ZIP 2021, 1124 = NZI 2021, 397 m. Anm. Madaus NZI 2021, 399) ist die sofortige Beschwerde gegen eine Insolvenzplanbestätigung nur bei Glaubhaftmachung einer wesentlichen Schlechterstellung von mindestens zehn Prozent durch den Plan als bei Durchführung des Insolvenzverfahrens ohne den Plan zulässig. Die Entscheidung verdient uneingeschränkte Zustimmung. Denn sie unterstreicht, dass Gerichte nicht bereit sind, einen „räuberischen Forderungserwerb im Planverfahren“ hinzunehmen. „Im vorliegenden Fall hatte der Bf. in einem laufenden Insolvenzverfahren ohne Quotenaussicht eine wertlose Insolvenzforderung erworben, um auf dieser Basis durch Ablehnung, Widerspruch und sofortige Beschwerde für Unruhe zu sorgen. Die Schuldnerin kaufte ihn dennoch nicht aus dem Verfahren heraus, sondern verließ sich auf die Möglichkeiten des rechtlichen Ausschaltens solcher Beteiligter“ (Madaus, NZI 2021, 399). 8 Begr. RegE zu § 300, BR-Drucks. 1/92, S. 212.

Vallender | 1023

§ 32 Rz. 32.106 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

stimmten Zusammenfassung widersprüchliche Regelungen enthalten, ist der rechtskräftig bestätigte Insolvenzplan maßgeblich1, weil nur der Plan bestätigt wird. Offensichtliche Fehler des Plans können vom Verwalter nach § 221 Satz 2 InsO bei entsprechender Ermächtigung berichtigt werden, was der gerichtlichen Bestätigung bedarf (§ 248a InsO)2. Bei dieser Entscheidung ist es dem Gericht nicht gestattet, eine umfassende Kontrolle des Insolvenzplans nachzuholen und den Plan erneut umfassend zu prüfen3.

32.107

Für das summarische Verfahren der Aussetzung der Vollziehung (AdV) von Steuerbescheiden hat der BFH4 offen gelassen, ob es sich bei der Erklärung der Anfechtung der Zustimmung zum Insolvenzplan um einen Verwaltungsakt nach § 118 AO handelt. Für Zwecke dieses Verfahrens sei jedenfalls davon auszugehen, dass der nach § 248 InsO gerichtlich bestätigte Insolvenzplan nicht angefochten werden könne.

2. Minderheitenschutz 32.108

Die Planbestätigung ist auf Antrag eines Gläubigers oder, wenn der Schuldner keine natürliche Person ist, einer am Schuldner beteiligten Person zu versagen (§ 251 InsO), wenn der Antragsteller dem Plan spätestens im Abstimmungstermin schriftlich oder im Abstimmungstermin zu Protokoll (Terminsprotokoll)5 widersprochen hat und er durch den Plan voraussichtlich schlechter gestellt wird, als er ohne einen Plan stünde.

32.109

Der Minderheitenschutz des § 251 InsO trägt dem Umstand Rechnung, dass die Gruppenbildung (§§ 222 ff. InsO; dazu Rz. 31.21 ff.) nicht die unterschiedlichen Interessen aller einzelnen Gläubiger angemessen berücksichtigen kann. So mag die Mehrheit der Lieferantengläubiger die Kombination von Forderungsverzicht und Fortführung des Unternehmens durch den Schuldner favorisieren, weil sie sich Vorteile von den künftigen Geschäftsbeziehungen mit dem Schuldner versprechen, während einzelne (z.B. wegen Aufgabe des eigenen Geschäfts) an einer solchen Lösung nicht interessiert sind und deshalb in der Gruppe gegen den Plan stimmen. Letztlich schützt § 251 InsO den einzelnen Gläubiger und Anteilsinhaber davor, dass er von den planzustimmenden Beteiligten zu seinem Nachteil überstimmt wird6. Die Vorschrift soll jedem Gläubiger den Wert garantieren, den seine Rechtsposition im Insolvenzverfahren noch hat. Die Mehrheitsentscheidung ist keine ausreichende Legitimation dafür, dass einem einzelnen Beteiligten gegen seinen Willen Vermögenswerte entzogen werden7.

32.110

Die Gewährung des Minderheitenschutzes nach § 251 InsO setzt einen entsprechenden Antrag voraus. Dieser kann frühestens nach Abschluss des Erörterungstermins gestellt werden. Der Versagungsantrag ist nur zulässig, wenn der Antragsteller spätestens im Abstimmungstermin seinen individualisierten Widerspruch schriftlich erklärt oder zum gerichtlichen Terminsprotokoll des Abstimmungstermins gegeben hat8. Der Widerspruch ist von dem Antrag 1 2 3 4 5

BGH v. 9.1.2014 – IX ZR 209/11 Rz. 18, MDR 2014, 622 = ZIP 2014, 330. BGH v. 9.1.2014 – IX ZR 209/11 Rz. 18, MDR 2014, 622 = ZIP 2014, 330. Thole in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 18 Rz. 24 m.w.N. BFH v. 27.3.2018 – V B 120/17, ZIP 2018, 1192. Vor Inkrafttreten des ESUG am 1.3.2012 konnte der Widerspruch zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden. Diese Möglichkeit wurde zur Vereinfachung der Abläufe bei Gericht gestrichen (BT-Drucks. 17/5712, S. 35). 6 Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 211. 7 BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11 Rz. 6, WM 2012, 1640. 8 Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 35; s. auch BGH v. 17.12.2009 – IX ZB 124/09, ZIP 2010, 292 Rz. 6.

1024 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.112 § 32

auf Versagung der gerichtlichen Bestätigung zu unterscheiden. Zutreffend weisen Lüer/Streit1 darauf hin, dass ein Antrag gemäß § 251 Abs. 1 InsO kein Widerspruch gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist, noch in einem Widerspruch ein Antrag gemäß Abs. 1 enthalten ist2. Eines ausdrücklich erklärten Widerspruchs in der Form des § 251 Abs. 1 Nr. 1 InsO bedarf es dann nicht, wenn der Antrag auf Minderheitenschutz bereits im Abstimmungstermin gestellt wurde3.

Nach § 251 Abs. 2 InsO hat der Antragsteller glaubhaft zu machen, dass er durch den Plan voraussichtlich schlechter gestellt wird, als er ohne einen Plan stünde. Die behauptete Schlechterstellung durch den Insolvenzplan ist mit konkreten Tatsachen zu begründen, die glaubhaft zu machen sind4. Das Erfordernis der Glaubhaftmachung soll das Insolvenzgericht davor bewahren, dass ein Antrag, der auf bloße Vermutungen gestützt wird, zu umfangreichen Ermittlungen führt. Ob der Gläubiger durch den Plan wirtschaftlich benachteiligt wird, ist ausschließlich auf der Grundlage seines glaubhaft gemachten (§ 294 ZPO) Vorbringens zu beurteilen. Vergleichsmaßstab für eine Schlechterstellung ist das Liquidationsszenario5. Jens Schmidt6 weist hierzu mit Recht darauf hin, dass im Grundsatz mit der Liquidation und der Zerschlagung sowie alternativen Sanierungsoptionen, insbesondere in Form der übertragenden Sanierung, zwei Vergleichsmaßstäbe denkbar seien. Allerdings fordert die h.M. in der Literatur angesichts des eindeutigen Wortlauts („[...] als sie ohne Plan stünde [...]“, vgl. z.B. § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO) keinen Vergleich mit Alternativplänen7. Bis zur Entscheidung des LG Stade vom 20.12.20178 existierte zu der Thematik keine ausdrückliche Rechtsprechung9. Auch das vorgenannte Gericht erteilt dem Alternativplan als Vergleichsszenario eine ausdrückliche Absage. Das Szenario einer Gesamtveräußerung (übertragene Sanierung) komme nur unter der Voraussetzung als Vergleichsmaßstab in Betracht, dass konkrete Angebote hierfür vorlagen und im Beurteilungszeitraum noch vorliegen. Abstrakte Übertragungs- und Gesamtverkaufsmöglichkeiten müssten gerade nicht als Vergleichsmaßstab herangezogen werden. Insbesondere bestehe auch keine Pflicht, einen M&A-Prozess durchzuführen10.

32.111

Zu vergleichen sind letztlich die Positionen des Antragstellers bei Abwicklung des Insolvenzverfahrens nach den Vorschriften der Insolvenzordnung und bei Ausführung des Insolvenzplans. Bringt der Plan für den widersprechenden Antragsteller wirtschaftliche Nachteile, hat

32.112

1 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 251 InsO Rz. 18. 2 Nach Auffassung des BGH (BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14 Rz. 11 f., MDR 2014, 1110 = ZIP 2014, 1442 – „Suhrkamp“) ist es weder mit dem Gesetzeswortlaut des § 253 Abs. 2 Nr. 1 InsO noch mit den Gesetzesmaterialien vereinbar, die Zulässigkeit einer sofortigen Beschwerde an die ungeschriebene Voraussetzung eines vor dem Insolvenzgericht gestellten Minderheitenschutzantrags (§ 251 InsO) zu knüpfen (s. dazu auch Haas in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 253 InsO Rz. 6; G. Fischer, NZI 2013, 513, 515; Fölsing, EWiR 2014, 293 ff.; Skauradszun, DZWiR 2014, 338, 339 f.; § 253 InsO Rz. 6; Sinz in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 251 InsO Rz. 57). 3 BGH v. 22.3.2007 – IX ZB 10/06, ZInsO 2007, 442, 443. 4 S. in diesem Zusammenhang BGH v. 3.11.2011 – IX ZA 86/11, NZI 2012, 141. Nach dem vorgenannten Beschluss ist die Beurteilung, die Gläubiger einer Gruppe würden durch den vom Schuldner vorgelegten Plan schlechter gestellt als bei Durchführung des Insolvenzverfahrens, eine überwiegend in den Verantwortungsbereich des Tatrichters fallende Prognoseentscheidung und kann im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt nachgeprüft werden. 5 Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 251 InsO Rz. 8; Hirte/Knof/Mock, DB 2011, 632, 641. 6 Jens Schmidt, NZI 2019, 32. 7 Brünkmans in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 2 Rz. 90 m.w.N. 8 LG Stade v. 20.12.2017 – 7 T 151/17, NZI 2019, 32. 9 S. nur LG Wuppertal v. 18.5.2016 – 16 T 116/16, ZInsO 2016, 1164. 10 So auch Spliedt in Karsten Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 245 InsO Rz. 41.

Vallender | 1025

§ 32 Rz. 32.112 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

der Widerspruch Erfolg1. Allein der Hinweis auf Vermutungen und allgemeine Prognosen sind nicht ausreichend2. Die Glaubhaftmachung hat spätestens im Abstimmungstermin zu erfolgen. Eine Glaubhaftmachung zu einem späteren Zeitpunkt führt zur Unzulässigkeit des Antrags gemäß § 251 Abs. 1 InsO3.

32.113

Der Minderheitenschutzantrag ist begründet, wenn der Antragsteller bei der Durchführung des Plans voraussichtlich schlechter gestellt wird, als er ohne Plan stünde und für diesen Fall im gestaltenden Teil des Insolvenzplans keine Mittel bereitgestellt werden, die die Schlechterstellung ggfls. ausgleichen (§ 251 Abs. 3 InsO). Die Darlegungs- und Beweislast trifft den Antragsteller; verbleibende Ungewissheit geht zu seinen Lasten4. Durch die Einfügung des Wortes „voraussichtlich“ in § 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO wurde die Darlegungs- und Beweislast als solche nicht abgeändert, wohl aber erleichtert5.

32.114

Dagegen hat das Insolvenzgericht den Minderheitenschutzantrag gemäß § 251 Abs. 3 Satz 1 InsO zurückzuweisen, wenn im Plan Mittel bereitgestellt werden, die für eine nachgewiesene Schlechterstellung des Gläubigers bzw. Anteilsinhabers einen finanziellen Ausgleich bieten. Vor der Abweisung eines Minderheitenschutzantrags oder der Verwerfung einer sofortigen Beschwerde wegen der Ausgleichsmittel hat das Insolvenzgericht zu prüfen, ob diese ausreichend sind. Bei dieser Prüfung ist nur die voraussichtliche Schlechterstellung der Beteiligten zu berücksichtigen, deren Rechtsbehelfe gerade wegen der Ausgleichsmittel abgewiesen werden, und dies nur in der im Rechtsbehelfsverfahren glaubhaft gemachten Höhe6. Ein Streit um den finanziellen Ausgleich lässt das Insolvenzplanverfahren unberührt; er ist gesondert vor den ordentlichen Gerichten auszutragen (§ 251 Abs. 3 Satz 2 InsO)7. Gegen den Zurückweisungsbeschluss steht dem Antragsteller kein Rechtsmittel zur Verfügung8. Wohl aber kann der Antragsteller gegen den Beschluss, durch den das Insolvenzgericht den Insolvenzplan bestätigt, gemäß § 253 Abs. 1 InsO sofortige Beschwerde einlegen (§ 6 InsO).

32.115

Die Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs gemäß § 251 Abs. 3 Satz 2 InsO kann durch eine Ausschlussfrist im Plan zeitlich beschränkt werden. In Anlehnung an § 189 Abs. 1 InsO hat die Frist hierbei mindestens zwei Wochen ab dem Eintritt der Rechtskraft des Plans zu betragen9. Nach allgemeiner Ansicht verjährt der Ausgleichanspruch nach der regelmäßigen Verjährungsfrist10. Bei einer Klage auf Zahlung eines Ausgleichs aus den im Insolvenzplan bereitgestellten Mitteln wegen behaupteter Schlechterstellung bedarf es der Benennung konkreter einzelner Positionen höheren oder geringeren Wertes durch den Kläger, weil nur ein derart konkreter Tatsachenvortrag die Gegenseite in die Lage versetzt, konkrete Tatsachenbehauptungen zu bestreiten, und weil anschließend dem Gericht nur so eine gezielte Beweiserhebung unter Inanspruchnahme fremder Sachkunde möglich ist11. 1 Vgl. BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11, WM 2012, 1640. 2 LG Nürnberg v. 4.2.2011 – 11 T 10430/10, NZI 2011, 592; AG Berlin-Lichtenberg v. 1.9.2015 – 39 IK 19/15, NZI 2016, 41; AG Bonn v. 27.5.2014 – 99 IN 153/13, ZInsO 2015, 353. 3 Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 251 InsO Rz. 14. 4 Haas in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 251 InsO Rz. 7. 5 Haas in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 251 InsO Rz. 7. 6 Lehmann/Rühle, NZI 2015, 151, 156. 7 Sofern der Insolvenzplan bei der Gestaltung der Nachbesserungsklausel keine Bestimmung hinsichtlich des Klagegegners getroffen hat, dürfte der Schuldner der richtige Klagegegner sein (Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 251 InsO Rz. 25). 8 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 251 InsO Rz. 24. 9 Lehmann/Rühle, NZI 2015, 151, 157. 10 Hirschberger in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2. Aufl. 2020, § 20 Rz. 77 m.w.N. 11 OLG Köln v. 18.5.2017 – 18 U 169/16 Rz. 36, BeckRS 2017, 151857.

1026 | Vallender

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.133 § 32

Bereits vor Aufnahme des Abs. 3 in die Vorschrift des § 251 InsO durch das ESUG konnte nach Auffassung des Gesetzgebers1 das Risiko der Versagung der Planbestätigung dadurch verhindert werden, dass im Plan zusätzliche Leistungen an solche Beteiligte vorgesehen werden, die dem Plan widersprechen und den Nachweis führen, dass sie ohne eine solche Zusatzleistung durch den Plan schlechter gestellt werden als ohne einen Plan. Der Hinweis des Gesetzgebers hat in der Praxis zur Anwendung salvatorischer Klauseln geführt, mit denen an durch den Plan benachteiligte Gläubiger Abfindungen gezahlt werden sollen, sofern die Benachteiligung rechtskräftig festgestellt werden sollte2. Einstweilen frei.

32.116

32.117–32.130

VII. Rechtsmittel 1. Beschwerdevoraussetzungen Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den vom Gesetz ausdrücklich bestimmten Fällen einem Rechtsmittel (§ 6 Abs. 1 InsO). Gegen Zwischenentscheidungen während des Planverfahrens ist es nicht vorgesehen, insbesondere auch nicht vorbeugend gegen eine Durchführung des Erörterungs- und Abstimmungstermins, dem unmittelbar (§ 252 Abs. 1 InsO) die Bestätigung folgen kann. Verfassungsrechtlich ist das nicht zu beanstanden3. Einzige Ausnahme von der Rechtsmittelfreiheit verfahrensbegleitender Entscheidungen ist die Zurückweisung des Plans gemäß § 231 InsO, gegen die der Planeinreicher vorgehen darf, nicht aber ein Beteiligter, mögen die beabsichtigten Planregelungen auch noch so günstig für ihn sein. Unzulässig ist eine Beschwerde insbesondere gegen eine Stimmrechtsfestsetzung4. Entscheidungen über das Obstruktionsverbot oder einen Minderheitenschutzantrag fließen in den Beschluss über die Bestätigung des Insolvenzplans ein. Nur er ist rechtsmittelfähig (§ 253 Abs. 1 InsO).

32.131

Die gegen die Planbestätigung oder deren Versagung gerichtete sofortige Beschwerde ist ausschließlich5 beim Insolvenzgericht einzureichen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 InsO), obgleich für die Beschwerdeentscheidung das Landgericht zuständig ist, wenn das Insolvenzgericht nicht abhilft (§ 72 Abs. 1 GVG). Durch die Einlegung beim Insolvenzgericht soll die Abhilfeprüfung beschleunigt werden. Die Beschwerdefrist beträgt zwei Wochen ab Verkündung der Entscheidung (§ 6 Abs. 2, § 252 Abs. 1 InsO, § 569 Abs. 1 ZPO). Das Rechtsmittel hat entgegen § 570 ZPO einen Suspensiveffekt, weil die Planwirkungen erst mit der Rechtskraft eintreten (§ 254 InsO).

32.132

Für die Zulässigkeit jeder Beschwerde bedarf es einer formellen und einer materiellen Beschwer. Eine formelle Beschwer des Gläubigers liegt vor, wenn er mit einem Verfahrensantrag gescheitert ist. Eine gegen den Plan abstimmende Gruppe ist nicht parteifähig, obwohl die Obstruktionsentscheidung sie und nicht das einzelne Gruppenmitglied betrifft. Beschwerdeführer kann nur ein Beteiligter sein. Dazu verlangt § 253 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 InsO, dass er sowohl dem Plan widersprochen als auch gegen ihn gestimmt hat. Ein formeller Minderheitenschutzantrag ist hingegen nicht erforderlich. Zwar wäre das verfahrensökonomisch

32.133

1 Begr. RegE zu § 298, BR-Drucks. 1/92, S. 221, 212. 2 Zum Muster einer solchen salvatorischen Klausel vgl. Braun/Uhlenbruck, Muster eines Insolvenzplans, 1998, S. 63 f. 3 BVerfG v. 17.10.2013 – 2 BvR 1978/13, ZIP 2013, 2163. 4 §§ 237, 238, 77 Abs. 2 InsO, dazu Haas in Kayser/Thole, § 237 InsO Rz. 14, § 238 InsO Rz. 9, § 238a InsO Rz. 10. 5 Demgegenüber ließe § 569 Abs. 1 ZPO die Wahl.

Vallender und Spliedt | 1027

§ 32 Rz. 32.133 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

sinnvoll1, ist aber als Voraussetzung in § 253 InsO nicht genannt, so dass ein solcher Antrag wegen der gerade bei Rechtsmitteln erforderlichen Klarheit der Anfechtungsvoraussetzungen nicht verlangt werden darf2. Der Widerspruch und die Planablehnung sind entbehrlich, wenn auf deren Notwendigkeit nicht in der öffentlichen Bekanntmachung des Termins und (!) der entsprechenden Ladung hingewiesen wurde (§ 253 Abs. 3 InsO). Hat ein Beteiligter kein Stimmrecht erhalten, kann er allein gegen die Stimmrechtsfestsetzung zwar nicht vorgehen3. Ihm steht aber die Beschwerdemöglichkeit offen4. Sein Votum gegen den Plan ist – mangels Stimmrechts – naturgemäß keine Beschwerdevoraussetzung5. Erklären muss er aber den Widerspruch, falls er, wie es § 235 Abs. 3 InsO vorsieht, zum Termin geladen wurde. Hat ein Gläubiger keine Forderung angemeldet („Nachzügler“), hat er allein dadurch seine verfahrensrechtlichen Befugnisse nicht verwirkt. Das Gesetz kennt keine Ausschlussfrist6. Der Gläubiger gehört qua lege7 zu den Beteiligten, auch wenn er nicht teilgenommen hat. Dann ist er allerdings auch nicht gemäß § 235 Abs. 3 InsO zum Erörterungs- und Abstimmungstermin zu laden mit der Folge, dass er sich auf die Nichteinhaltung der formellen Beschwerdevoraussetzungen nur dann berufen darf, wenn die Hinweise auf die Notwendigkeit von Planwiderspruch und -ablehnung auch in der öffentlichen Bekanntmachung nicht erfolgten8. Ein unterlassener Hinweis in der Ladung spielt keine Rolle, weil dieses Erfordernis ihm gegenüber nicht besteht.

32.134

Die formelle Beschwer des Schuldners ist gegeben, wenn der Plan nicht bestätigt wird, den er vorgelegt hat. Hat der Verwalter den Plan vorgelegt, dessen Bestätigung versagt wird, folgt die Beschwer des Schuldners aus seiner Zustimmung, die er entweder ausdrücklich erklärt hat oder die gemäß § 247 Abs. 1 InsO als erklärt gilt. Wird der Plan hingegen bestätigt, kann der Schuldner ihn nur angreifen, wenn er im Abstimmungstermin widersprochen hat9.

32.135

Dem Insolvenzverwalter fehlt eine formelle Beschwer. Er ist ein von allen Beteiligten unabhängiger10 Amtswalter, der keine eigenen Verfahrensrechte wahrnimmt11. Nur wegen des ihm ausdrücklich zugewiesenen12 Planinitiativrechts steht ihm gemäß § 231 Abs. 3 InsO die sofortige Beschwerde zu, nicht jedoch, wenn die Bestätigung des Plans später nach § 250 InsO vertagt wird.

32.136

Eine materielle Beschwer liegt vor, wenn der Beschwerdeführer in seinen wirtschaftlichen Belangen beeinträchtigt wird. Eine Bestätigungsversagung belastet den Schuldner, dem die in § 227 Abs. 1 InsO vorgesehene Restschuldbefreiung nicht gewährt wird. Die Gläubiger sind 1 Fischer, NZI 2013, 513, 514; Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 6. 2 BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 = AG 2014, 779; Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 6 ff. 3 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 237 InsO Rz. 12. 4 A.A. Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 17. Dabei wird aber übersehen, dass nicht der Stimmrechtsausschluss geprüft wird, sondern die Rechtsbeeinträchtigung, Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 11; Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 25. 5 Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 5; Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 6; Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 7. 6 Vgl. demgegenüber für die Durchsetzung nach Planbestätigung § 259b InsO. 7 Vgl. § 222 Abs. 1 InsO. 8 A.A. Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 16. 9 § 247 Abs. 1, § 253 Abs. 2 Nr. 1 InsO. Einem Fortführungsplan für Schuldner mit persönlicher Haftung ist gemäß § 230 Abs. 1 InsO die Zustimmung als Plananlage beizufügen. 10 § 56 Abs. 1 InsO. 11 Deshalb würde ihm im Übrigen auch die materielle Beschwer fehlen. 12 § 218 Abs. 1 InsO.

1028 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.138 § 32

materiell beschwert, wenn sie aufgrund des Plans Leistungen erhalten hätten. Es erfolgt kein Vergleich mit dem Ergebnis der Regelabwicklung, weil es allein auf die im Plan vorgesehenen Leistungen ankommt, die dem Gläubiger bei einer Versagung vorenthalten werden1. Anders ist es bei der Beschwer gegen eine Planbestätigung (s. sogleich). Auch die absonderungsberechtigten Gläubiger können beschwert sein, selbst wenn bei einer Bestätigungsversagung eine im Plan vorgesehene Beeinträchtigung ihrer Rechtsstellung nicht wirksam wird. Für sie gilt das Gleiche wie für die ungesicherten Insolvenzgläubiger: Sieht der Plan Leistungen an sie vor, ist eine Beschwerde zulässig2. Bei einer Planbestätigung nennt § 253 Abs. 2 InsO als besondere materielle Beschwer, dass der Beschwerdeführer durch den Plan gegenüber der Regelabwicklung wesentlich schlechter gestellt und dies auch nicht durch etwaige gemäß § 251 Abs. 3 InsO vorgesehene Ausgleichsmittel (dazu Rz. 32.114) kompensiert wird. Als wesentlich sieht die Gesetzesbegründung eine Schlechterstellung an, wenn die Abweichung mindestens 10 % beträgt3. Diese allgemein akzeptierte4 relative Grenze versagt bei kleineren Differenzen, so dass teilweise in Anlehnung an § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO eine absolute Grenze von 600 Euro verlangt wird5. Da die Wesentlichkeitsschwelle einen Missbrauch verhindern soll, ist es sinnvoller, sowohl frühere Verhaltensweisen des Beschwerdeführers zu berücksichtigen, wenn sie auf das Erstreben von Sondervorteilen (Lästigkeitsentschädigung) durch die Planblockade hindeuten, als auch die Rechtsverfolgungskosten in Betracht zu ziehen6. Wer viel Aufwand in eine Beschwerde investiert, von der er nur einen verhältnismäßig geringen Vorteil erwarten kann, strebt andere Ziele als den Ausgleich einer wesentlichen Schlechterstellung an. Der Schuldner ist schon durch das Zustimmungserfordernis der §§ 247 f. InsO geschützt, so dass es seiner Beschwerde nur bedarf, wenn sein berechtigter Widerspruch vom Gericht übersehen wurde7.

32.137

Die wesentliche Schlechterstellung ist glaubhaft zu machen (§ 253 Abs. 2 Nr. 3 InsO). Zulässig sind gemäß § 294 ZPO nur präsente Beweismittel und die eidesstattliche Versicherung8, insbesondere in Verbindung mit dem Gutachten eines Sachverständigen. Das Beweismaß ist die überwiegende Wahrscheinlichkeit. Die Glaubhaftmachung muss sich auch auf die Forderung erstrecken9, falls sie nicht zur Tabelle festgestellt wurde, sowie auf die Unzulänglichkeit der Ausgleichsmittel des § 251 Abs. 3 InsO. Das kann der Beschwerdeführer nur beurteilen, wenn er das Ausmaß der Schlechterstellung sowohl derjenigen kennt, die einen Minderheitenschutzantrag gestellt haben, als auch derjenigen, die sich erstmals mit der Beschwerde gegen den Plan wenden dürfen, weil sie beispielsweise nicht gesondert geladen wurden und deshalb die Voraussetzungen des § 253 Abs. 2 InsO nicht erfüllen müssen. Informationen dazu kann der Beschwerdeführer nur den Unterlagen entnehmen, die zur Gerichtsakte gereicht wurden. In Großverfahren mit zahlreichen Beschwerden wird die Einsichtnahme innerhalb der Beschwerdefrist schon aus technischen Gründen schwierig sein. Eine nachträgliche Glaubhaftmachung kommt an sich nicht in Betracht, da es um die Zulässigkeitsvoraussetzungen geht und nicht um die

32.138

1 2 3 4 5 6 7

Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 26. A.A. Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 11 f. BT-Drucks. 17/5712, S. 35. Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 7. Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 19. Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 11. Anders kann es bei einer natürlichen Person sein, die als Alternative die Restschuldbefreiung gemäß §§ 286 ff. InsO hat. 8 BGH v. 19.5.2009 – IX ZB 236/07, ZIP 2009, 1384 Rz. 14. 9 BGH v. 15.7.2010 – IX ZB 65/10, ZIP 2010, 1499 Rz. 21 f.

Spliedt | 1029

§ 32 Rz. 32.138 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

Beschwerdebegründung, für die gemäß § 571 Abs. 3 ZPO eine Frist gesetzt werden kann1. Gegebenenfalls ist, wenn die Glaubhaftmachung in diesem Punkt unverschuldet nicht innerhalb der Frist stattfinden kann, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen (§§ 233, 236 ZPO) und mit einer nachgeholten Glaubhaftmachung der Mittelunzulänglichkeit zu verbinden.

32.139

Ist die Beschwerde nach dem Vorgesagten zulässig, hat das Landgericht – falls nicht schon das Insolvenzgericht der Beschwerde gemäß § 572 Abs. 1 InsO abhilft – den Planinhalt und das Planverfahren vollständig zu überprüfen. Der Umfang entspricht den Aufgaben des Insolvenzgerichts bei der Bestätigungsentscheidung2. Es gilt das Amtsermittlungsprinzip des § 5 InsO3, allerdings hinsichtlich der Tatsachen beschränkt auf das vom Beschwerdeführer glaubhaft gemachte Vorbringen4, was insbesondere für die Schlechterstellung von Bedeutung ist. Soweit es um Rechtsverstöße geht, ergeben sie sich aus der Gerichtsakte, bedürfen also keines weiteren Beweises. Zwar liegt es nahe, dass nur diejenigen Rechtsverstöße erheblich sind, die eine wesentliche Schlechterstellung i.S. des § 253 Abs. 2 Nr. 3 InsO begründen, darf die Beschwerde dem Beschwerdeführer doch sogar durch die Ausgleichsmittel „abgekauft“ werden, weil die Prüfung der Rechtsverstöße dem Gericht dann entzogen ist5. Nach Auffassung des BGH hat die Wesentlichkeitsgrenze jedoch nur Einfluss auf die Zulässigkeit der Beschwerde, nicht aber auf deren Begründetheit6. Die Konsequenz ist, dass bei einem Verstoß gegen Planvorschriften die Beschwerde auch dann begründet ist, wenn sich die glaubhaft gemachte Schlechterstellung in der weiteren Prüfung nicht bestätigt7, aber Rechtsverstöße vorliegen. Eine Verletzung des Minderheitenschutzes darf jedoch, so der BGH, nicht mehr geltend gemacht werden, wenn versäumt wurde, gegenüber dem Insolvenzgericht die Schlechterstellung glaubhaft zu machen8. Da § 251 InsO ohne einen formellen Minderheitenschutzantrag nicht verletzt wird9, wird wohl bis zum Abstimmungstermin nicht nur die Schlechterstellung glaubhaft gemacht, sondern auch der Versagungsantrag gestellt werden müssen. Ist das geschehen, kann die Beschwerde begründet sein, wenn die nach § 251 InsO erforderliche Schlechterstellung gegeben ist. Als wesentlich muss sie sich dann nicht erweisen. Die Wesentlichkeit ist nur die Zulässigkeitshürde, nicht aber Voraussetzung für die Begründetheit.

32.140

Als Entscheidung kann das Gericht gemäß § 572 Abs. 3 ZPO entweder abschließend über die Beschwerde befinden oder die Sache an das Insolvenzgericht zurückverweisen. Richtet sich die Beschwerde gegen eine Bestätigungsversagung, was in der Praxis insbesondere dann vorkommt, wenn die Voraussetzungen des Obstruktionsverbots verneint wurden, wird das Beschwerdegericht den Plan zumindest dann bestätigen, wenn es keiner weiteren Ermittlungen im Rahmen des § 5 InsO bedarf. Erachtet das Gericht die Beschwerde gegen eine Planbestätigung für begründet, hängt die Vorgehensweise vom Verfahrensstadium ab, in dem der Gesetzesverstoß begangen wurde. Liegt er in einer fehlerhaften Durchführung des Erörterungs- und Abstimmungstermins, muss das Verfahren in den Stand davor zurückversetzt und der Temin erneut durchgeführt werden. Sowohl für die Bestätigung als auch für die Versagung gilt, dass das Verfahren nicht endgültig kassiert werden sollte, solange der Mangel noch repariert werden kann, was insbesondere durch eine Änderung gemäß § 240 InsO geschehen kann. 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 13. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 35 = AG 2014, 779. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 35 = AG 2014, 779. BGH v. 19.7.2012 – IX ZB 250/11, WM 2012, 1640 Rz. 6 zu § 251 InsO. Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 10. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 36 ff. = AG 2014, 779. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 24 = AG 2014, 779. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 39 = AG 2014, 779. BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 thematisiert dies nicht.

1030 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.143 § 32

2. „Freigabeverfahren“ a) Zurückweisungsbeschluss Mit dem ESUG wurde in § 253 Abs. 4 InsO nach dem Vorbild des § 246 AktG ein „Freigabeverfahren“ eingeführt. Danach ist die Beschwerde auf Antrag des Insolvenzverwalters zurückzuweisen, wenn die Nachteile einer Bestätigungsverzögerung die vom Beschwerdeführer behaupteten Nachteile eines Vollzugs überwiegen, es sei denn, dass ein besonders schwerer Rechtsverstoß vorliegt. Der Beschwerdeführer kann nach einer solchen Zurückweisung nur noch Schadensersatz geltend machen. Der „Freigabeantrag“ wird zweckmäßigerweise mit einer Stellungnahme des Verwalters zur Beschwerde verbunden, so dass er sowohl beim Insolvenzgericht1, als dem Adressaten der Beschwerdeschrift, als auch beim Landgericht eingereicht werden kann, in dessen alleinige Zuständigkeit die Entscheidung über den Freigabeantrag wegen der Eilbedürftigkeit fällt. Eine Abhilfemöglichkeit des Insolvenzgerichts besteht dann nicht mehr. Vielmehr muss es die Akten sofort dem Landgericht vorlegen (§ 253 Abs. 4 InsO, § 572 Abs. 1 ZPO). Antragsbefugt ist nur der Insolvenzverwalter. In der Eigenverwaltung tritt an seine Stelle der Schuldner, nicht der Sachwalter2, weil der Schuldner das Vollzugsinteresse wegen der bei ihm verbliebenen Verwaltungspflichten (§ 270 Abs. 1 Satz 2, § 80 InsO) hat.

32.141

Vergleichbar mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz3 erfolgt bei einem Freigabeantrag nur eine summarische Prüfung der für die Nachteilsabwägung erheblichen Tatsachen. Da eine Verzögerung alle Planbefürworter trifft, müssen beim Zweiten auch die Nachteile aller Planablehner zusammengerechnet werden, soweit sie eine zulässige Beschwerde eingereicht haben4. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Planablehner eine Kompensationsmöglichkeit durch den Schadensersatzanspruch erhalten, die Planbefürworter hingegen nicht, so dass deren Vollzugsinteresse tendenziell höher zu bewerten ist5. Ob die Erfolgsaussichten der Beschwerde geprüft werden müssen, ist zweifelhaft; denn anders als bei der einstweiligen Verfügung, bei der zwischen dem auf Schlüssigkeit zu prüfenden Verfügungsanspruch6 und dem nur glaubhaft zu machenden Verfügungsgrund7 unterschieden wird, kommt es bei § 253 Abs. 4 InsO allein auf eine Abwägung der Vollzugs- gegen die Verzögerungsfolgen an. Sie hat nur zu unterbleiben, wenn ein besonders schwerer Rechtsverstoß anzunehmen ist § 253 Abs. 4 Satz 2 InsO). Voraussetzungen dafür sind sowohl eine Evidenz der Rechtsverletzung8, als auch der Bezug zu einer grundlegenden Norm des Verfahrensrechts, als auch deren gravierende wirtschaftliche Auswirkungen. Werden beispielsweise die Absonderungsrechte eines Lieferanten nicht berücksichtigt, mag diese Verletzung evident und wegen des grundrechtlichen Eigentumsbezugs auch schwer sein. Handelt es sich jedoch um Gegenstände von geringem Wert, ist der Rechtsverstoß bei einer Gesamtbetrachtung nicht besonders schwer.

32.142

Der auf § 253 Abs. 4 InsO gestützte Zurückweisungsbeschluss kann nicht mehr nachgeholt werden, wenn sich nachträglich herausstellt, dass eine aus anderen Erwägungen zurückgewie-

32.143

1 BT-Drucks. 17/7511, S. 36; Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 25; Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, §§ 251, 253 InsO Rz. 35; a.A. Fischer, NZI 2013, 513, 517: nur LG. 2 LG Berlin v. 24.4.2014 –51 T 107/14, ZIP 2014, 893; Thies/Lieder in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 253 InsO Rz. 26. 3 BGH v. 17.9.2014 – IX ZB 26/14, ZIP 2014, 2040 Rz. 14, 17. 4 Fischer, NZI 2013, 513, 518; Haas in Kayser/Thole, § 253 InsO Rz. 15. 5 Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 19. 6 Vollkommer in Zöller, § 935 ZPO Rz. 7. 7 Vollkommer in Zöller, § 935 ZPO Rz. 10 ff. 8 BGH v. 17.9.2014 – IX ZB 26/14, ZIP 2014, 2040 Rz. 18.

Spliedt | 1031

§ 32 Rz. 32.143 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

sene Beschwerde im (zugelassenen) Rechtsbeschwerdeverfahren zu großen Verzögerungen führt1. Die „Freigabeentscheidung“ ist unanfechtbar. Eine etwaige Zulassung der Rechtsbeschwerde2 ändert daran nichts, weil sich schon aus dem Eilcharakter des „Freigabeverfahrens“ die Unstatthaftigkeit einer Rechtsbeschwerde ergibt3. Deshalb ist es auch wichtig, dass das Gericht deutlich macht, ob die Beschwerde gemäß § 253 Abs. 4 InsO oder aus anderen Gründen zurückgewiesen wird. Selbst wenn durch die Freigabe in das Grundrecht insbesondere von (zurückgesetzten) Gesellschaftern eingegriffen wird, kann der Vollzug des Insolvenzplans nicht mit einer einstweiligen Anordnung des BVerfG blockiert werden, es sei denn, dass ausnahmsweise die Nachteile des Antragstellers den Nachteil einer Verzögerung deutlich überwiegen4.

b) Schadensersatz 32.144

Wird entsprechend § 253 Abs. 4 InsO verfahren, kann der Beschwerdeführer einen aus dem Planvollzug resultierenden Schaden außerhalb des Insolvenzverfahrens geltend machen. Anspruchsgegner ist der Schuldner, der dafür unbeschränkt haftet, da nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens keine Insolvenzmasse mehr existiert, auf die sich die Haftung begrenzen ließe5. Ausschließlich zuständig für die gerichtliche Entscheidung über eine Schadensersatzklage ist das Landgericht, das die sofortige Beschwerde zurückgewiesen hat. Das hat zwar den Vorteil der Aktenkenntnis, aber den Nachteil, dass dasselbe Gericht über die Folgen seiner Freigabeentscheidung zu befinden hat.

32.145

In der Regel wird der Beschwerdeführer auch einen Minderheitenschutzantrag gestellt haben, der u.U. wegen der Ausgleichsmittel des § 251 Abs. 2 InsO zurückgewiesen worden sein könnte. Reichen diese Mittel aus, fehlt es an der Zulässigkeit der Beschwerde. Nur wenn er glaubhaft gemacht hat, dass sie nicht genügen, kann der Beschwerdeführer zusätzlich den Schadensersatz des § 253 Abs. 4 InsO beanspruchen, was sowohl verfahrensrechtlich als auch hinsichtlich des Haftungsschuldners – die Kompensationsmittel können u.a. von dritter Seite bereitgestellt werden – zu einer unglücklichen Gemengelage führen kann.

32.146

Eine Zurückweisung nach § 253 Abs. 4 InsO darf an sich nur erfolgen, wenn die Beschwerde den Zulässigkeitsanforderungen des § 253 Abs. 2 InsO genügt. Äußert sich das Beschwerdegericht dazu nicht oder nimmt es die Zulässigkeit irrtümlich an, darf dies im Schadensersatzprozess nicht mehr überprüft werden, weil nach dem Wortlaut allein die Zurückweisung gemäß § 253 Abs. 4 InsO einen Schadensersatzanspruch dem Grunde nach ermöglicht.

3. Rechtsbeschwerde 32.147

Gegen eine Beschwerdeentscheidung des Landgerichts sieht die InsO keine weitere Beschwerde vor. Die Einschränkung von Rechtsmitteln auf die in der InsO ausdrücklich genannten Fälle (§ 6 Abs. 1 InsO) betrifft aber nur die Entscheidungen des Insolvenzgerichts. Im Übrigen kommt der allgemeine Verweis in § 4 InsO auf die Vorschriften der ZPO zum Zuge, die in § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO die Rechtsbeschwerde ermöglichen, wenn das Beschwerdegericht sie zugelassen hat. Ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung ist, dass es sich um einen Beschluss handelt, der der Art nach überhaupt beschwerdefähig ist. Für eine „Freigabeentscheidung“ 1 2 3 4 5

BGH v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442 Rz. 28 ff. = AG 2014, 779. So bei LG Berlin v. 24.4.2014 –51 T 107/14, DZWIR 2014, 375 = ZIP 2014, 893. BGH v. 17.9.2014 – IX ZB 26/14, ZIP 2014, 2040. BVerfG v. 18.12.2014 – 2 BvR 1978/13, ZIP 2015, 80. Spliedt in Karsten Schmidt, § 253 InsO Rz. 23.

1032 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.162 § 32

lehnt der BGH dies wegen des Eilcharakters und der Ähnlichkeit mit der aktienrechtlichen Freigabeentscheidung ab, die in § 246a Abs. 2 Satz 6 AktG ausdrücklich als unanfechtbar bezeichnet wird1. Allerdings laufen in aktienrechtlichen Freigabeverfahren Beschlussanfechtungsklage und Freigabeantrag parallel (vgl. § 246a Abs. 4 AktG), während § 253 Abs. 4 InsO einen Beschluss auf Zurückweisung der Beschwerde und damit eine endgültige Erledigung sämtlicher Angriffsgründe vorsieht. Die weitere sofortige Beschwerde kraft Natur der Sache auszuschließen, begegnet deshalb Zweifeln2. Die gegenteilige Ansicht des BGH macht es jedenfalls erforderlich, dass das Landgericht deutlich zu erkennen gibt, dass es die Zurückweisung der Beschwerde auf § 253 Abs. 4 InsO stützt. Lässt es offen, ob es die Beschwerde für unbegründet oder den Planvollzug für vorrangig hält, bleibt die weitere Beschwerde zulässig. Einstweilen frei.

32.148–32.160

VIII. Vollstreckungsschutz und Verjährung 1. Vollstreckungsschutz Der Vollstreckungsschutz soll einer Gefährdung des Planziels durch Nachzügler entgegenwirken. Im Regelinsolvenzverfahren werden Forderungen bei der Verteilung nur berücksichtigt, wenn sie angemeldet und im Falle des Bestreitens ihre Feststellung zur Tabelle innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Wochen betrieben wird (§ 189 InsO). Unterbleibt die Anmeldung, geht die Forderung nicht unter, der Gläubiger kann nur an der Masseverteilung nicht partizipieren, seinen Anspruch aber nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens weiter gegen den Schuldner verfolgen (§ 201 Abs. 1 InsO). Die Stellung als Insolvenzgläubiger hat er unabhängig davon inne, ob er sich am Verfahren beteiligt (§ 38 InsO). Gleiches gilt nach der Verfahrensaufhebung im Anschluss an einen rechtskräftigen Insolvenzplan. Die Planregelungen wirken auch gegenüber einem Nachzügler, der keine Forderungen angemeldet hat (§ 254b InsO). Zu den im Plan für vergleichbare Gläubiger genannten Fälligkeitsterminen kann er seinen Anspruch in Höhe der entsprechenden Quote durchsetzen. Dazu muss er sich einen Titel beschaffen, weil mangels Forderungsanmeldung ein gemäß § 257 Abs. 1 InsO für die Vollstreckung ausreichender Tabellenauszug nicht existiert. Gemäß § 259 ZPO darf er aber auf künftige Leistung klagen, falls der Schuldner schon vor dem Fälligkeitstermin seinen Quotenanspruch bestreitet. Die anschließende Vollstreckung kann bei genügender Höhe der Forderung die Erreichung des gesamten Planziels gefährden. Um das zu vermeiden, kann das Insolvenzgericht gemäß § 259a InsO auf Antrag des Schuldners die Zwangsvollstreckung beschränken, wenn er die Gefährdung glaubhaft macht. Sie muss nicht unbedingt darin bestehen, dass die Planquote an andere Beteiligte nicht mehr gezahlt werden kann, sondern für die Gefährdung reicht es aus, dass für die Unternehmensfortführung notwendige Liquidität entzogen wird. Die Einschränkung der Zwangsvollstreckung ist auf längstens drei Jahre befristet. Voraussetzung ist, dass der Schuldner anschließend die Quote an den Nachzügler zu zahlen in der Lage ist, weil sonst die Durchführung des Plans auch ohne Vollstreckungsschutz scheitern würde.

32.161

Die Anordnung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, bei dessen Ausübung die Schutzwürdigkeit des Schuldners berücksichtigt wird. War dem Schuldner der Gläubiger bekannt, hat er aber darauf spekuliert, dass keine Ansprüche geltend gemacht werden, ist er weniger schutzwürdig, als wenn er mit der Verbindlichkeit nicht zu rechnen brauchte. Das ist

32.162

1 BGH v. 17.9.2014 – IX ZB 26/14, ZIP 2014, 2040. 2 Spliedt, EWiR 2014, 685 = ZIP 2014, 2040.

Spliedt | 1033

§ 32 Rz. 32.162 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

insbesondere der Fall, wenn sich nachträglich hohe Mängelgewährleistungsansprüche aus früheren Leistungen ergeben.

2. Verjährung 32.163

Der Vollstreckungsschutz wird ergänzt durch die besondere Verjährungsfrist des § 259b InsO. Danach verjähren Forderungen, die nicht bis zum Abstimmungstermin angemeldet wurden, innerhalb eines Jahres, beginnend mit der Rechtskraft der Planbestätigung, frühestens jedoch mit der Fälligkeit der Forderung. Die Fälligkeitsfiktion des § 41 InsO ist mangels Anmeldung nicht maßgebend. Da § 259b InsO den Schuldner schützen will, wird eine nach dem Forderungsstatut früher eintretende Verjährung durch diese Vorschrift nicht verlängert.

32.164

Fraglich ist, ob die Vorschrift auch den Gläubiger schützt gegen eine Planregelung, die eine kürzere als die in § 259b InsO genannte Frist enthält. Zeiträume von nur zwei Wochen in Anlehnung an die Ausschlussfrist des § 189 Abs. 1 InsO sind in der Praxis keine Seltenheit. Eine Schutzwirkung zugunsten des Gläubigers wird man § 259b InsO jedoch nur schwerlich entnehmen können. Andererseits wäre diese Vorschrift überflüssig, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass sich der Schuldner durch eine entsprechende Planklausel selbst schützen könnte. Die Motive äußern sich nur zu einer Ausschlussfrist, die wegen verfassungsrechtlicher Bedenken verworfen wurde1. Wenig später hat auch der BGH zur Ausschlussfrist gemeint, dass sie wegen des Eingriffs in das Eigentumsrecht des Forderungsgläubigers der ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedürfe2. Zwar führt ein Verjährungseintritt nur zu einem Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners (§ 214 Abs. 1 BGB) und nicht, wie die Ausschlussfrist, zu einem Untergang der Forderung. In beiden Fällen geht es jedoch um einen Rechtsverlust. Unter dem Blickwinkel des Art. 14 GG macht es keinen Unterschied, ob jemand ein Recht verliert oder nur nicht mehr durchsetzen kann. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass verjährungserleichternde Vereinbarungen zulässig sind (§ 202 Abs. 1 BGB); denn es geht ja gerade um die Frage, ob der eine Verjährung vorsehende Planinhalt von Gesetzes wegen (§ 254b InsO) auf Gläubiger erstreckt werden darf, die sich am Verfahren nicht beteiligen. Eine Analogie zur kurzen Frist des § 189 Abs. 1 InsO, die ebenfalls den passiven Gläubiger trifft, ist nur gerechtfertigt, wenn es um dessen Berücksichtigung bei anstehenden Auszahlungen geht3. Insoweit handelt es sich um eine plandispositive Regelung des Verteilungsverfahrens (§ 201 Abs. 1 InsO). Davon zu unterscheiden ist die hier in Rede stehende Frist für die Durchsetzbarkeit der (quotalen) Forderung gegen das nach der Verteilung vorhandene Vermögen des fortgeführten Schuldners. Ein gänzlicher Verlust des Anspruchs auf die Quote wäre schließlich auch noch ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des § 226 Abs. 1 InsO; denn der Nachzügler wird wie die Gläubiger derjenigen Gruppe behandelt, in die er bei einer Forderungsanmeldung eingeordnet worden wäre4. Dann aber darf er auch nicht schlechter gestellt werden, es sei denn, dass das Gesetz eine solche Schlechterstellung selbst vorsieht. Das ist durch § 259b InsO geschehen – aber eben auch nur in den dort genannten Grenzen. Kürzere Fristen für die Verjährung der Forderung – nicht nur für die Berechtigung an der jeweils anstehenden Verteilung – im Plan vorzusehen, ist unzulässig.

32.165

Eine nach § 259b InsO eingetretene Verjährung der Forderung erfasst nicht die Ansprüche, die aus einem Sicherungsrecht folgen (§ 216 BGB). Somit stellt sich hier erneut die Frage, ob 1 2 3 4

Begr. RegE BT-Drucks. 127/11, S. 54. BGH v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359 Rz. 10. BGH v. 15.7.2010 – IX ZB 65/10, ZIP 2010, 1499 Rz. 9 f. OLG Celle v. 14.7.2011 – 13 U 26/11, ZIP 2011, 1577 Rz. 39; Begr. RegE BT-Drucks. 127/11, S. 54.

1034 | Spliedt

§ 32 Verfahrensablauf | Rz. 32.165 § 32

eine Verjährung der Absonderungsansprüche im Plan geregelt werden kann. Das könnte schon deshalb zu verneinen sein, weil der Anspruch auf den Verwertungserlös eine Masseschuld ist1, Massegläubiger aber nicht zu den vom Insolvenzplan erfassten Beteiligten gehören2, vgl. § 258 Abs. 2 InsO. Indes gestattet § 223 Abs. 1 InsO ausdrücklich Regelungen über „das Recht der absonderungsberechtigten Gläubiger“. Statt an eine fehlende Forderungsanmeldung könnte der Rechtsverlust an die entgegen § 28 Abs. 2 InsO unterbliebene Anzeige der Sicherungsansprüche anknüpfen. Ob eine solche Pauschalregelung ohne die Bezeichnung des konkreten Absonderungsguts den Anforderungen des § 223 Abs. 2 InsO genügt, ist bereits zweifelhaft. Aber selbst wenn dem so wäre, müsste die Frist länger sein als die für die bloße Forderung geltende Jahresfrist, weil dem Schuldner nichts entzogen wird, was bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise dem Werte nach in sein Vermögen gehört. Dass ein Schuldner durch Zeitablauf gegen einen dinglichen Anspruch weniger geschützt ist als gegen einen nur schuldrechtlichen, zeigt schon § 216 BGB. Allenfalls zulässig sollte sein, den Gläubiger entsprechend § 258 Abs. 2 InsO so zu behandeln, als wenn der Anspruch auf den Verwertungserlös mit der Bestätigung des Insolvenzplans fällig geworden wäre, auch wenn eine tatsächliche Verwertung noch nicht stattgefunden hat. Eine Planregelung, die die Regelfrist des § 195 BGB von drei Jahren unterschreitet, wäre danach unzulässig.

1 BGH v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, ZIP 2010, 739 Rz. 41; Gehrlein, ZIP 2011, 5, 11. 2 Die Ausnahme des § 210a Nr. 1 InsO ist hier nicht relevant.

Spliedt | 1035

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans I. Eintritt der rechtsgestaltenden Wirkungen 33.1

Mit der Rechtskraft der Bestätigung des Plans1 äußert der Plan seine (unmittelbaren materiellen) Wirkungen gegenüber allen Beteiligten2, also gegenüber den absonderungsberechtigten Gläubigern, gegenüber den Insolvenzgläubigern3, gegenüber dem Schuldner und, wenn dieser keine natürliche Person ist, gegenüber den am Schuldner beteiligten Personen4 sowie gleichermaßen gegenüber denjenigen, die dem Plan widersprochen haben5.Werden Steuerforderungen erst durch die Bestimmungen des Insolvenzplans „begründet“ (vgl. § 38 InsO), wird der Fiskus als deren Gläubiger nicht Beteiligter des Insolvenzplanverfahrens. Bei diesen Steuerforderungen handelt es sich nicht um Insolvenzforderungen6. Auch Massegläubiger sind ebenso wenig wie Aussonderungsberechtigte und Neugläubiger7 Beteiligte des Insolvenzplanverfahrens. Auf die Teilnahme am Planverfahren kommt es dabei ebenso wenig an wie auf einen Widerspruch gegen den Plan (§ 254b InsO). Damit wirken die Planregelungen zu Lasten und zu Gunsten der Insolvenzgläubiger, die ihre Forderungen nicht oder nicht rechtzeitig angemeldet haben. Die so genannten „Nachzügler“ müssen ihre Forderungen zunächst rechtskräftig durch das Prozessgericht feststellen lassen, bevor sie ihre Ansprüche durch Leistungsklage gegenüber dem Schuldner durchsetzen können. Dass solche Nachzügler das Planziel gefährden können, liegt auf der Hand, wenn der Planersteller deren Ansprüche wirtschaftlich nicht oder zumindest quantitativ unzureichend einkalkuliert hat8. Ob mit Aufnahme von Präklusionsklauseln, die über die gesetzlichen Regelungen der §§ 254 ff. InsO hinaus den Verlust von Ansprüchen fingieren, die dem Gläubiger bei rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans unbekannt waren, das Problem gelöst werden kann, erscheint fraglich. Die herrschende Mei-

1 Die gesetzliche Regelung, dass die Frist von zwei Wochen zur Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss, durch den der Insolvenzplan bestätigt wird, mit der Verkündung des Beschlusses beginnt, bleibt auch dann maßgebend, wenn vom Gericht hierüber falsch belehrt worden ist (BGH v. 16.10.2003 – IX ZB 36/03, ZInsO 2003, 1100 = ZIP 2003, 2382). 2 FG Niedersachsen v. 15.3.2017 – 2 K 59/16, ZInsO 2017, 2631. 3 Der Gläubiger einer vormerkungsgesicherten Forderung ist weder der Gruppe der absonderungsberechtigten Gläubiger noch der Gruppe der Insolvenzgläubiger zuzurechnen (BVerfG v. 28.10.2020 – 2 BvR 765/20 Rz. 61, NZI 2020, 1112, 1118 = ZIP 2021, 46). Die Einbeziehung einer vormerkungsberechtigten Forderung in den Insolvenzplan stellt deshalb einen offensichtlichen Verstoß gegen § 217 InsO dar (BVerfG a.a.O.). 4 Begr. RegE, BR-Drucks. 1/92, S. 212, 213. Zur Kritik an der Fassung des § 254 InsO s. Koch/de Bar in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 67 Rz. 1. 5 Koch/de Bar in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 67 Rz. 1. 6 FG Düsseldorf v. 12.8.2021 – 11 K 2335/19 GE, AA n.rkr, ZIP 2021, 2142, 2144 (beim BFH wurde Revision eingelegt, welche unter dem Az. VII R 30/21 geführt wird); vgl. ferner BFH v. 15.11.2018 – XI B 49/18, ZIP 2019, 427 = GmbHR 2019, 241; Neumann in Gosch, AO/FGO, 164. Akt., 11/ 2021, § 251 AO Rz. 204. 7 LG Düsseldorf v. 21.9.2015 – 25 T 404/15, ZIP 2015, 2182 Rz. 17, dazu EWiR 2016, 119 (Leib/ Rendels). 8 Kebekus/Wehler in Graf-Schlicker, 5. Aufl. 2020, § 254b InsO Rz. 2; Smid, jurisPR-InsR 18/2011 Anm. 5.

1036 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.2 § 33

nung in Rechtsprechung und Literatur lehnt solche Klauseln ab1. Mag auch bis zum Inkrafttreten der § 259a InsO und § 259b InsO durch das ESUG ein großes Bedürfnis für die Aufnahme solcher Klauseln in den Plan bestanden haben, stellen diese Regelungen eine wesentliche gesetzgeberische Maßnahme zum Schutz der im Plan ausgestalteten Sanierung dar und sind zumindest ein gewichtiges Indiz gegen die Zulässigkeit von Präklusionsklauseln. Die Wirkungen des Plans ergeben sich primär aus dem Plan selbst, nämlich dem gestaltenden Teil des rechtskräftig bestätigten Plans2. Unter Gestaltungswirkungen sind materiellrechtliche Regelungen wie Erlass, Verzicht, Stundung oder Fristverlängerung zu verstehen. Die Rechtsqualität oder der Rechtsgrund der jeweiligen Forderung ändert sich dadurch nicht. Es entstehen weder neue Forderungen i.S. einer Novation noch zusätzliche i.S. einer Kumulation3. Die gestalterische Wirkung des Insolvenzplans sperrt nur die Durchsetzung im Vollstreckungsverfahren und hat somit keine Auswirkung auf die Entscheidung im Erkenntnisverfahren4. Nach § 254a Abs. 1 InsO sollen Willens- und Verpflichtungserklärungen, die sich auf die Abtretung von GmbH-Anteilen beziehen und in den Plan aufgenommen wurden (vgl. § 228 InsO), mit dem Wirksamwerden des Plans als abgegeben gelten. Dadurch etwa einzuhaltende Formvorschriften werden durch die vorgenannte Bestimmung ersetzt5. Insbesondere bedarf es keiner zusätzlichen notariellen Beurkundung oder Beglaubigung der Willenserklärungen6. Die Vorlage einer Ausfertigung des Insolvenzplans erbringt den Nachweis der Abtretung des Geschäftsanteils an einer GmbH (§ 15 Abs. 3 GmbHG)7. Sieht der Insolvenzplan Eingriffe in die Anteils- oder Mitgliedschaftsrechte der am Schuldner beteiligten Personen vor, gelten die in den Plan aufgenommenen Gesellschafterbeschlüsse sowie sonstige Willenserklärungen der Beteiligten, die zur Durchführung der Eingriffe notwendig sind, nach § 254a Abs. 2 Satz 1 InsO ebenfalls als formwirksam abgegeben und bekanntgemacht8. Um Wirksamkeit zu erlangen, müssen die im Insolvenzplan gefassten Beschlüsse bzw. sonstigen Willenserklärungen nach Maßgabe der einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen eingetragen werden9. Der Insolvenzverwalter ist gemäß § 254a Abs. 2 Satz 3 InsO berechtigt, die erforderlichen Anmeldungen beim jeweiligen Registergericht vorzunehmen. Im gestaltenden Teil des Plans kann der Insolvenzverwalter auch zu weiteren Durchführungshandlungen ermächtigt werden, die der Vorbereitung des Gesellschafterbeschlusses dienen10. Es erscheint 1 BGH v. 7.5.2015 – IX ZB 75/14, ZIP 2015, 1346 (bestätigt durch BGH v. 3.12.2015 – IX ZA 32/14, NZI 2016, 170); ebenso jedenfalls nach Neufassung der Insolvenzordnung mit Wirkung v. 1.3.2012 Küpper/Heinze, ZInsO 2013, 471, 473 ff.; ähnlich zum alten Recht Schreiber/Flitsch, BB 2005, 1173, 1176 ff.; a.A. zum alten Recht OLG Hamm v. 3.12.2010 – 30 U 98/10 – zu II 1c bis f der Gründe; Jacobi/Stapper, NJ 2012, 265, 266; Martini, jurisPR-InsR 16/2010 Anm. 2. 2 Bork in Leipold, Insolvenzrecht im Umbruch, S. 51. 3 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 254 InsO Rz. 8; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 254 InsO Rz. 9 ff. 4 OLG Oldenburg v. 13.11.2019 – 5 U 108/18 Rz. 78, BeckRS 2019, 27994. 5 Eidenmüller, ZGR 2001, 681, 691. Realakte kann der Insolvenzplan als Willensakt nicht ersetzen. Entsprechendes gilt auf Grund seiner subjektiven Reichweite für Maßnahmen und Handlungen von nicht plangebundenen Dritten (Madaus, ZIP 2013, 2133, 2138). 6 BT-Drucks. 127/11, S. 21 ff. 7 Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 254a InsO Rz. 7. 8 Vgl. z.B. § 183 Abs. 1 Satz 2, § 186 Abs. 4 Satz 1 AktG. 9 Kebekus/Wehler in Graf-Schlicker, § 254a InsO Rz. 3. 10 Dagegen ist er auch im Fall der Verwertung der Firma einer Aktiengesellschaft nicht befugt, die Satzung hinsichtlich der Firma zu ändern. Er kann eine Firmenänderung auch nicht außerhalb der Satzung kraft eigener Rechtsstellung herbeiführen (BGH v. 26.11.2019 – II ZB 21/17, ZIP 2020, 66; dazu EWiR 2020, 103 Heckschen (Priester).

Vallender | 1037

33.2

§ 33 Rz. 33.2 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

sachlich gerechtfertigt, die vorgenannte Bestimmung entsprechend anzuwenden, um das Planverfahren nicht unnötig zu verzögern1.

33.3

Nach § 254a Abs. 1 InsO gelten die in den Plan aufgenommenen Willenserklärungen der Beteiligten bezüglich der Begründung, Änderung, Übertragung oder Aufhebung von Rechten an Gegenständen oder der Abtretung von Geschäftsanteilen an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung als in der vorgeschriebenen Form abgegeben. Entsprechendes gilt für Verpflichtungserklärungen bezüglich solcher Rechte (§ 254a Abs. 3 InsO). Die Vorschrift ersetzt die für derartige Erklärungen denkbaren Formanforderungen aus § 311b Abs. 3 BGB oder § 15 Abs. 4 GmbHG. Auch die Schriftform gilt als eingehalten2. Der Insolvenzplan kann allerdings nicht die Übertragung des Besitzes an einer Sache oder die Eintragung einer Rechtsänderung im Grundbuch ersetzen3.

33.4

§ 225a Abs. 24 und 3 InsO erlauben die Aufnahme der nach dem Plankonzept erforderlichen gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen in den gestaltenden Teil des Insolvenzplans. Zu den zulässigen Beschlussgegenständen nach Maßgabe dieser Bestimmungen zählen insbesondere Fortsetzungsbeschlüsse (§ 225a Abs. 3 InsO), satzungsändernde Beschlüsse über eine vereinfachte Kapitalherabsetzung durch Bareinlage oder Sacheinlage oder über einen Ausschluss des Bezugsrechts nach § 55 Abs. 2 GmbHG5. Nach Auffassung des AG Charlottenburg6 hat das Registergericht die registerrechtliche Eintragungsfähigkeit von im Insolvenzplan vorgesehenen Maßnahmen ohne Einschränkung oder Bindung aufgrund der vorrangigen Zuständigkeit des Insolvenzgerichts oder der Bestätigung des Insolvenzplans selbstständig zu prüfen. Die Bestätigung eines Insolvenzplans durch das Insolvenzgericht führe dementsprechend nicht zu einer Bindung des Registergerichts dahingehend, dass auch im Insolvenzplan zwar vorgesehene, aber gesellschaftsrechtlich unzulässige Maßnahmen einzutragen wären. Da in Zukunft mit entsprechenden Entscheidungen der Registergerichte in der Schnittmenge zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht gerechnet werden müsse, solange keine obergerichtliche Klärung der Sachlage erfolgt sei, empfiehlt Horstkotte7 Vorabstimmungen der beabsichtigten gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen zwischen den Handelsregistern und Insolvenzgerichten.

33.5

Ohne Vorbild in den früheren Insolvenzgesetzen ist die Regelung des § 254 Abs. 3 InsO. Hiernach besteht kein Rückforderungsanspruch an einen Gläubiger, der mehr erhalten hat, als ihm nach dem Plan zustünde. Auch wenn im Plan ein teilweiser Forderungserlass geregelt ist, besteht eine natürliche Verbindlichkeit fort, die den Rechtsgrund für eine volle Befriedigung bildet8. 1 2 3 4

5 6 7 8

Horstkotte/Martini, ZInsO 2012, 557, 573; Madaus, ZIP 2012, 2133, 2138. Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 254a InsO Rz. 19. Begr. RegE, BR-Drucks. 1/92, S. 212, 213. In der Insolvenz einer AG ist eine „sanierende Kapitalherabsetzung auf null“, verbunden mit einem entschädigungslosen Bezugsrechtsausschluss der Altaktionäre und unter gleichzeitiger Vornahme einer Kapitalerhöhung, an der nur neue Gesellschafter teilnehmen, auf der Grundlage eines gerichtlich bestätigten Insolvenzplans gemäß § 225a Abs. 2 InsO zulässig. Der Verlust aus dem entschädigungslosen Entzug von Aktien durch eine Kapitalherabsetzung auf null samt eines Bezugsrechtsausschlusses für die anschließende Kapitalerhöhung auf der Grundlage eines Insolvenzplans ist in entsprechender Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 20 Abs. 4 Satz 1 EStG als Aktienveräußerungsverlust steuerbar (BFH v. 3.12.2019 – VIII R 34/16, ZIP 2020, 967; dazu EWiR 2020, 359 [Wachter]). Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 254a InsO Rz. 10. AG Charlottenburg v. 9.2.2015 – HRB 153203 B, ZIP 2015, 394. Horstkotte, ZInsO 2015, 416. Begr. RegE, BR-Drucks. 1/92, S. 212, 213.

1038 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.8 § 33

Die überplanmäßige Befriedigung eines Gläubigers durch den Insolvenzverwalter vor der Bestätigung des Insolvenzplans stellt keinen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz dar. Dies folgt daraus, dass der Plan auf den Zeitpunkt seiner Bestätigung bezogen ist und eine in diesem Zeitpunkt noch bestehende Forderung voraussetzt.

Der durch das ESUG neu eingeführte § 254 Abs. 4 InsO führt für die Gläubiger mehr Planungssicherheit herbei. Die Vorschrift schließt eine spätere Nachschusspflicht nach den Grundsätzen der Differenzhaftung aus, wenn ein Gläubiger Forderungen im Rahmen eines Debt Equity Swap (§ 225a Abs. 2 InsO) in Gesellschaftsanteile an der GmbH umgewandelt hat. Weder der Schuldner noch der in einem Folgeinsolvenzverfahren bestellte Insolvenzverwalter können mit Erfolg geltend machen, dass die eingebrachte Forderung im Plan überbewertet war. Die Begründung zum Regierungsentwurf verweist insoweit darauf, dass Einwendungen gegen die Bewertung der Forderung im Insolvenzplanverfahren vorgebracht werden können1.

33.6

Die prozessualen Wirkungen des Insolvenzplans ergeben sich aus §§ 257 bis 259a InsO. Sobald die Bestätigung des Insolvenzplans rechtskräftig ist, beschließt das Gericht die Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 258 Abs. 1 InsO). Zuvor hat der Insolvenzverwalter die unstreitigen Masseansprüche zu berichtigen und für die streitigen Ansprüche Sicherheit zu leisten (§ 258 Abs. 2 InsO)2. Mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens erlöschen die Ämter des Insolvenzverwalters und der Mitglieder des Gläubigerausschusses. Der Schuldner erhält das Recht zurück, über die Insolvenzmasse frei zu verfügen (§ 259 Abs. 1 Satz 2 InsO). Nach Auffassung des OLG Frankfurt3 besteht an der Speicherung der Information über die Aufhebung des Insolvenzverfahrens nach § 258 InsO ein berechtigtes Interesse des Geschäftsverkehrs. Entscheidend sei insoweit, ob eine Information geeignet ist, etwaige Kreditgeber zu einer sorgfältigen Bonitätsprüfung zu veranlassen4. Bereits aus dem Umstand, dass das Insolvenzverfahren nach § 258 InsO beendet wurde, ergäben sich Hinweise, die zu einer genaueren Bonitätsprüfung berechtigten Anlass geben können. Denn die Kunden desjenigen, der die Daten gespeichert habe, könnten aufgrund dieser Information mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der Insolvenzplan einen teilweisen Forderungsverzicht der Gläubiger vorsieht.

33.7

Nach zutreffender Auffassung des OLG Jena5 ist es nicht erforderlich, einen bestimmten Anfechtungsrechtsstreit oder eine Anzahl von Rechtsstreiten im gestaltenden Teil des Plans näher zu beschreiben, weil die Entscheidung, welche Prozesse er führt, letztlich beim Insolvenzverwalter verbleibt. Der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung mit Urteil vom 6.10.20056 bestätigt und klargestellt, dass es den Personen, die über die Annahme des Plans zu entscheiden haben und nicht wissen, was in § 259 Abs. 3 InsO steht, zuzumuten sei, die Gesetzesbestimmung nachzulesen. Ist das Insolvenzverfahren indes aufgehoben worden, schließt das Gesetz eine Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters für neue, erst anhängig zu ma-

33.8

1 BT-Drucks. 17/5712, S. 36. 2 Ob die Vorschrift auch in den Fällen Anwendung findet, in denen die Masseverbindlichkeiten nach der Bestätigung des Insolvenzplans bzw. sogar nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens, aber noch vor der entsprechenden öffentlichen Bekanntmachung begründet werden, die Fälligkeit indes erst nach der Veröffentlichung eintritt, erscheint fraglich. Das LG Stuttgart (v. 11.12.2002 – 27 O 295/02, DZWIR 2003, 171 ff.) vertritt die Ansicht, § 258 Abs. 2 InsO finde auf derartige Fälle keine Anwendung (kritisch dazu Busch, DZWIR 2003, 172 ff.; Paul, ZInsO 2004, 72, 75). 3 OLG Frankfurt v. 19.3.2015 – 7 U 187/13, ZIP 2015, 888 = NZI 2015, 632. 4 OLG Frankfurt v. 1.9.2009 – 21 U 45/09 – Rz. 13 in juris und OLG Frankfurt v. 22.10.2012 – 4 U 190/11 – Rz. 13 in juris. 5 OLG Jena v. 6.2.2002 – 2 U 1033/01, ZIP 2002, 538 ff.; dazu auch Michels, EWiR 2001, 1067 ff. 6 BGH v. 6.10.2005 – IX ZR 36/02, NZI 2006, 100 = ZInsO 2006, 38 = ZIP 2006, 39.

Vallender | 1039

§ 33 Rz. 33.8 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

chende Anfechtungsklagen schlechthin aus1. Eine solche Rechtsmacht kann dem Insolvenzverwalter auch nicht durch eine Anordnung des Insolvenzgerichts verliehen werden2.

33.9

Da sich der bestätigte Insolvenzplan als „gerichtlicher Vergleich“ darstellt, tituliert der Plan die Forderungen der Gläubiger3. Haben Gläubiger gegen den Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Titel erstritten, führt der Plan zu einer Novation des Titels. Nach § 257 Abs. 1 Satz 1 InsO kann ein Gläubiger, der im Plan Tilgungszusagen erhalten hat, die der Schuldner nicht erfüllt, aus dem rechtskräftig bestätigten Plan in Verbindung mit der Eintragung in die Tabelle vollstrecken. Die Eintragung in die Tabelle (§ 175, § 178 Abs. 2 und 3, § 183 Abs. 2 InsO), der Plan sowie der Bestätigungsbeschluss gemäß § 248 InsO bilden zusammen den Vollstreckungstitel4. Soweit Dritte als Plangaranten auftreten5, ermöglicht § 257 Abs. 2 InsO die Zwangsvollstreckung auch gegen diese Personen. Die Vollstreckungsvoraussetzungen und Rechtsbehelfe gegen Vollstreckungsmaßnahmen sowie Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren richten sich nach den allgemeinen Bestimmungen der §§ 724 bis 793 ZPO6. Dies folgt mittelbar aus § 257 Abs. 3 InsO, der von der Notwendigkeit der Erteilung einer Vollstreckungsklausel ausgeht.

33.10

Ein bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehendes Aufrechnungsrecht bleibt auch dann erhalten, wenn die aufgerechnete Gegenforderung nach einem rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan als erlassen gilt7. Mit seiner Entscheidung vom 19.5.2011 beantwortet der BGH die durch die divergierenden Entscheidungen des OLG Celle (16. Zivilsenat8 versus 14. Zivilsenat9) aufgeworfene Streitfrage zur weiter bestehenden Aufrechnung nach rechtskräftig bestätigtem Insolvenzplan i.S. des § 94 InsO. Für Insolvenzgläubiger steht damit nach dieser Entscheidung fest, dass sie trotz eines im Plan enthaltenen (Teil-)Verzichts auf ihre Forderungen weiterhin die Aufrechnung erklären können, soweit im Übrigen die Voraussetzungen der Aufrechnungslage gegeben sind10. Etwas anderes gilt indes dann, wenn im Zeitpunkt der Eröffnung noch keine Aufrechnungslage bestand. Mit Eintritt der Rechtskraft eines Insolvenzplans verdrängen die Wirkungen des Plans, insbesondere die hieraus entstehende Folge des § 390 BGB, die Aufrechnungsmöglichkeit des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO. Der Insolvenzgläubiger, dem ein Aufrechnungsrecht nach der vorgenannten Bestimmung zusteht, hat keine mit § 94 InsO vergleichbare gesicherte Rechtsposition, die ihn durch ein Insolvenzplanverfahren trägt11.

33.11–33.20

Einstweilen frei.

1 BGH v. 26.4.2018 – IX ZB 49/17, ZIP 2018, 1141; BGH v. 11.4.2013 – IX ZR 122/12, DZWIR 2013, 437; BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 206/08, WM 2010, 136. 2 BGH v. 10.12.2009 – IX ZR 206/08 Rz. 11 ff., ZIP 2010, 102. 3 Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 19.3. 4 Haas in Kayser/Thole, § 257 InsO Rz. 2; Spahlinger in Kübler/Prütting/Bork, § 257 InsO Rz. 6; a.A. Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 28.84; Schiessler, Der Insolvenzplan, 1997, S. 201; Hess, § 257 InsO Rz. 18. 5 Unter Plangarantie ist die schriftlich beim Insolvenzgericht eingereichte Erklärung eines Dritten zu verstehen, für die Erfüllung des Plans neben dem Schuldner ohne Vorbehalt der Einrede der Vorausklage einstehen zu wollen. 6 Hess, § 257 InsO Rz. 26. 7 BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, MDR 2011, 1074 = ZIP 2011, 1271. 8 OLG Celle v. 13.11.2008 – 16 U 63/08, ZInsO 2008, 1327 = ZIP 2008, 2372. 9 OLG Celle v. 23.12.2008 – 14 U 108/08, ZIP 2009, 140. 10 Schrader, jurisPR-PrivBauR 11/2011 Anm. 6. 11 VG Stuttgart v. 27.7.2017 – 10 K 2902/16, NZI 2018, 30.

1040 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.21 § 33

II. Auswirkungen des Plans auf die Haftung von Gesellschaftern, Mitschuldnern und Bürgen 1. Haftung der Gesellschafter Ein Insolvenzplan wirkt nur gegenüber den Beteiligten (§ 254 Abs. 1 InsO), und das auch nur, soweit sie als Träger der in §§ 222–225a InsO genannten Rechte betroffen sind. Gläubiger, die zugleich Schuldner der Gesellschaft sind, werden trotz ihrer Beteiligtenstellung nicht von ihrer Verbindlichkeit befreit, wenn der Plan nichts anderes regelt. Das gilt auch für Ansprüche gegen Gesellschafter, es sei denn, dass diese Forderungen nur im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verfolgt werden können. So sind Erstattungsansprüche wegen zurückgewährter Gesellschafterdarlehen oder Befreiung von Gesellschaftersicherheiten nach Verfahrensaufhebung nur noch durchsetzbar, falls dies gemäß § 259 Abs. 3 InsO ausdrücklich vorgesehen und eine Klage bis zur Aufhebung des Verfahrens rechtshängig ist1. Ansprüche wegen der Verletzung von Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsvorschriften oder einer Vorbelastung der Gesellschaft schon im Zeitpunkt der Eintragung sind hingegen nicht verfahrensverstrickt. Sie können auch nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens verfolgt werden, was in der Praxis insbesondere bei einem Folgeinsolvenzverfahren vorkommt, wenn der Verwalter frühere Vorgänge anders beurteilt. Das führt zu erheblichen Belastungen der Gesellschafter, wenn sie im ersten Insolvenzverfahren Sanierungsbeiträge geleistet haben. Vermeiden lässt sich die künftige Inanspruchnahme nur, wenn ein Verzicht ausdrücklich im Plan geregelt ist. Gesellschaftsrechtlich ist der Verzicht auf Haftungsansprüche wegen falscher Angaben bei der Gründung – insbesondere also im Zusammenhang mit fehlerhaften Sacheinlagen – nur zulässig, wenn der Ersatz zur Befriedigung der Gläubiger nicht erforderlich ist (§ 9b Abs. 1 GmbHG). Die Erforderlichkeit entfällt, wenn die Planwirkungen zur Befriedigung der Gläubiger eintreten. Die in § 9b Abs. 1 GmbHG ausdrücklich für zulässig erklärte Regelung in einem Insolvenzplan gilt hingegen nur für das Verfahren über das Vermögen des Ersatzpflichtigen2. Soweit es die Haftung der Gesellschafter gemäß § 19 GmbHG wegen nicht geleisteter Einlagen betrifft, steht ein Verzicht unter sehr engen Voraussetzungen3. In § 19 Abs. 3 GmbHG vorgesehen ist eine Befreiung zusammen mit einer Kapitalherabsetzung, wobei in den Kommentierungen auf § 58 GmbHG und nicht auch auf die vereinfachte Kapitalherabsetzung nach §§ 58a, 58f GmbHG verwiesen wird4. Der Unterschied besteht darin, dass ein gesonderter Gläubigerschutz nur bei der normalen Kapitalherabsetzung durch § 58 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG vorgesehen ist. Eine Herabsetzung wird erst in das Handelsregister eingetragen und somit auch erst zugunsten des Gesellschafters wirksam, wenn versichert wird, dass die der Herabsetzung nicht zustimmenden Gläubiger befriedigt wurden. Im Planverfahren macht diese Vorschrift jedoch keinen Sinn, weil die Gläubiger nur nach Maßgabe der InsO eine Befriedigung erhalten dürfen (§ 87 InsO). Deshalb tritt die Haftungsbefreiung i.S. des § 19 Abs. 3 GmbHG auch durch eine vereinfachte Kapitalherabsetzung ein, die üblicherweise in Plänen enthalten ist. Ansprüche schließlich aus der Verletzung des Kapitalerhaltungsgebots dürfen ebenfalls nicht erlassen werden (§ 31 Abs. 4 GmbHG). Eine Ausnahme wird nur bei der Zahlungsunfähigkeit des Gesellschafters gemacht5. Da es jedoch nur um den Schutz der Insolvenzgläubiger geht, sollte man ihre Befriedigung nach Maßgabe des Plans genügen lassen, um in einer flankierenden 1 Die Anhängigkeit genügt laut BGH v. 11.4.2013 – IX ZR 122/12, DZWIR 2013, 437 = ZIP 2013, 998 nicht. 2 Veil in Scholz, § 9b GmbHG Rz. 12 ff. 3 Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 44 ff. 4 Veil in Scholz, § 19 GmbHG Rz. 58; Altmeppen, § 19 GmbHG Rz. 37. 5 Verse in Scholz, § 31 GmbHG Rz. 72.

Spliedt | 1041

33.21

§ 33 Rz. 33.21 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

Regelung über die Ansprüche gegen die Gesellschafter keinen Verstoß gegen Verzichtsverbote zu sehen. Der Vertrauensschutz der künftigen Neugläubiger auf eine werthaltige Kapitalgarantie ist nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens schon durch § 254 Abs. 4 InsO eingeschränkt, so dass auch eine Regelung der vor Planbestätigung entstandenen Ersatzansprüche ihre Interessen nicht unangemessen beeinträchtigt. Eine analoge Anwendung des die Enthaftung der Personengesellschafter betreffenden § 227 Abs. 2 InsO kommt hingegen nicht in Betracht. Wegen der im GmbHG ausdrücklich vorgesehenen Verzichtsverbote fehlt es an einer Gesetzeslücke, die es rechtfertigen würde, auch die Haftung der GmbH-Gesellschafter bei einem Schweigen des Plans automatisch zu beschränken.

33.22

Sind Gesellschafter zugleich Geschäftsführer, ist auch eine Haftung gemäß § 64 GmbHG a.F.1 bzw. § 15b InsO n.F. zu berücksichtigen. Der BGH2 hält die Norm im GmbHG a.F. zu Recht für eine insolvenzrechtliche Vorschrift3, so dass eine Haftung wegen masseschmälernder Zahlungen nach Verfahrensaufhebung nicht mehr durchgesetzt werden könnte. Ob der für Anfechtungsprozesse geltende § 259 Abs. 3 InsO analog heranzuziehen ist, wird bisher nicht diskutiert. Praktisch bedeutsam ist dies vor allem im Verhältnis zu ausgeschiedenen Geschäftsführern, denen eine Schuld an der Krise beigemessen wird. Für einen Verzicht auf die Haftung im Insolvenzplan gilt das Vorgesagte entsprechend. § 64 Satz 4 GmbHG a.F.4 verweist auf § 43 Abs. 3 GmbHG, der wiederum auf § 9b GmbHG Bezug nimmt, wonach ein Verzicht nur zulässig ist, wenn der Geschäftsführer zahlungsunfähig ist, ein Insolvenzverfahren vermieden werden soll oder die Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt ist. Nach der hier vertretenen Auffassung muss der Geschäftsführer, mit dem eine Fortführung der Schuldnerin beabsichtigt ist, nicht nachweisen, dass er eigentlich zahlungsunfähig ist. Das Gläubigerinteresse wird durch den Plan gewahrt.

2. Haftung von Mitschuldnern und Bürgen 33.23

Ein Insolvenzplan führt mangels abweichender Bestimmungen nicht zum Erlöschen der gegen den Schuldner gerichteten Forderungen, sondern beschränkt nur deren Durchsetzbarkeit, arg e § 254 Abs. 3 InsO. Bei einer nicht akzessorischen Mithaftung können die Ansprüche schon nach allgemeinen Vorschriften gegen den Dritten verfolgt werden. Das gilt bspw. für die gesamtschuldnerische Haftung (§ 425 Abs. 1 BGB) und für die steuerrechtliche Haftung nach § 69 AO5. Bei einer akzessorischen Haftung – Paradigma: Bürgschaft, vgl. § 768 Abs. 1 BGB – schließt § 254 Abs. 2 Satz 1 InsO die Einrede der beschränkten Forderungsdurchsetzung gegen den Hauptschuldner aus. Das gilt sogar dann, wenn der Plan einen Erlass der Forderung vorsieht, wobei die InsO unter einem planbedingten Erlass das Fortbestehen als Naturalobligation versteht (§ 255 Abs. 1, § 254 Abs. 3 InsO)6. Ein darüber hinausgehendes Erlöschen der Forderung ist regelbar, bedarf aber der Zustimmung des betroffenen Gläubigers.

33.24

Begleitend trifft § 254 Abs. 2 Satz 2 InsO für sämtliche Fälle der Mithaftung dagegen Vorsorge, dass die Planwirkungen nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Mithaftende Freihalte- oder Erstattungsansprüche geltend macht. Ihnen gegenüber wird der Schuldner ebenso befreit wie gegenüber dem Gläubiger, was bedeutet, dass er keinem Regress ausgesetzt ist, solange er die Planbestimmungen gegenüber dem Gläubiger einhält. 1 2 3 4 5 6

§ 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). BGH v. 2.12.2014 – II ZR 119/14, GmbHR 2015, 79 Rz. 18 ff. = ZIP 2015, 68. Überblick bei Rz. 38.51 ff. § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2021, 3256). BFH v. 15.5.2013 – VII R 2/12, ZIP 2013, 1732 = AG 2013, 756. BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271 Rz. 8.

1042 | Spliedt

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.43 § 33

Abweichende Regelungen über die Mithaftung sind zulässig. Sie finden sich in der Praxis vor allem für persönliche oder dingliche Sicherheiten von Gesellschaftern, die sich an der Sanierung beteiligen. Da es sich bei den Haftungsansprüchen der Gläubiger gegen Dritte anders als bei Sicherungsrechten an Massegegenständen (vgl. § 50 Abs. 1 InsO) um Rechtspositionen handelt, die in der Regelabwicklung nicht in das Verfahren einbezogen werden, bedarf es zur Beschränkung der ausdrücklichen Zustimmung des Gläubigers1.

33.25

§ 254 Abs. 2 Satz 1 InsO lässt die dingliche Mithaftung nur von Gegenständen unberührt, die nicht zur Insolvenzmasse gehören. Für die an Massegegenständen gesicherten Gläubiger hat § 223 Abs. 2 InsO Vorrang, wonach diese Rechte durch den Plan nur dann nicht beeinträchtigt werden, wenn keine andere Regelung vorhanden ist. Vorrangig ist auch die Aufrechnungsbefugnis des Gläubigers gemäß § 94 InsO2. Da die Aufrechnungslage einem Absonderungsrecht des Gläubigers an der gegen ihn gerichteten Forderung des Schuldners entspricht, ist aber hier eine abweichende Regelung gemäß § 223 Abs. 2 InsO zulässig3.

33.26

33.27–33.40

Einstweilen frei.

III. Kreditgeschäfte im Insolvenzplanverfahren Das Insolvenzplanverfahren will die Sanierung der insolventen GmbH oder eines anderen Unternehmens im Insolvenzverfahren erleichtern. Es sieht insbesondere auch – vor allem für den Fall des Scheiterns der Sanierungsbemühungen – klare Regelungen für Kredite vor, die das Unternehmen im Insolvenzplanverfahren neu aufnimmt. Denn auch im Insolvenzplanverfahren werden Kreditgeber nur bereit sein, neue Kreditmittel zur Verfügung zu stellen, wenn sie eine gewisse Sicherheit haben, beim Scheitern der Sanierung im Insolvenzplanverfahren und der anschließenden Eröffnung eines neuen Insolvenzverfahrens ihren Rückzahlungsanspruch realisieren zu können4.

33.41

1. Privilegierung von Neukrediten Für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Kredite im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens als Masseverbindlichkeiten privilegiert sind, muss zwischen den verschiedenen Stadien des Insolvenzplanverfahrens unterschieden werden.

33.42

a) Insolvenzantragsverfahren Kredite, die der vorläufige Insolvenzverwalter mit Verfügungsbefugnis oder mit gerichtlicher Ermächtigung im Insolvenzantragsverfahren aufgenommen hat, führen (wie unter Rz. 17.94 ff. erläutert) nach Verfahrenseröffnung zu Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 2 InsO). An dieser Einordnung als Masseverbindlichkeiten und deren vorzugsweiser Befriedigung kann auch ein Insolvenzplan nichts ändern. Denn nach § 217 Abs. 1 Satz 1 InsO kann lediglich die Befriedigung der absonderungsberechtigten Gläubiger, der Insolvenzgläubiger und der nachrangigen 1 2 3 4

OLG Dresden v. 18.12.2012 – 13 U 1032/12, ZIP 2013, 1341. BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271 Rz. 9 ff. BGH v. 19.5.2011 – IX ZR 222/08, ZIP 2011, 1271 Rz. 14 f. Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.500 ff.; Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 261 ff.; Zuleger in Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017, § 26 Rz. 110 ff.; Wittig, DB 1999, 197 ff.

Spliedt und Kuder/Unverdorben | 1043

33.43

§ 33 Rz. 33.43 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

Insolvenzgläubiger anders als im Gesetz vorgesehen geregelt werden. Seit dem 1.1.2021 kann gemäß § 217 Abs. 2 InsO zudem durch den Insolvenzplan in die Rechte von Insolvenzgläubigern eingegriffen werden, denen Forderungen aus gruppeninternen Drittsicherheiten zustehen, obwohl diese Drittsicherheiten kein Bestandteil der Insolvenzmasse sind. In die Rechte der Aussonderungsberechtigten und der Massegläubiger kann der Plan dagegen nicht eingreifen1. Reicht die Insolvenzmasse zur Deckung der Verfahrenskosten und der sonstigen Masseverbindlichkeiten aus, sind diese Ansprüche gemäß § 53 InsO vorab zu begleichen2.

b) Eröffnetes Insolvenzverfahren 33.44

Kredite, die dem Insolvenzverwalter in der Zeit zwischen Verfahrenseröffnung und Bestätigung des Insolvenzplanes gewährt werden (sog. echte oder unechte Massedarlehen), sind in gleicher Weise privilegiert. Denn wie im allgemeinen Insolvenzverfahren führen im Insolvenzplanverfahren Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters begründet werden, gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu vorrangig zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten. Damit sind auch im Planverfahren Kreditforderungen aus neuen Darlehen Masseverbindlichkeiten, die vorrangig gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 53 InsO zu bezahlen sind. Der Kreditgeber kann also nach Maßgabe des Kreditvertrages volle Befriedigung verlangen, ohne dass durch den Plan in seine Ansprüche eingegriffen werden könnte. Insbesondere bleiben von den Regelungen des Insolvenzplanes auch die vereinbarten Fälligkeiten und Kündigungsrechte unberührt.

33.45

Die Insolvenzordnung sieht keine Fortsetzung des Planverfahrens für die Zeit zwischen Bestätigung des Insolvenzplanes und der Erfüllung der Insolvenzforderungen vor. Gemäß § 258 Abs. 1 InsO hat das Insolvenzgericht immer die Aufhebung des Insolvenzverfahrens zu beschließen, sobald der Insolvenzplan rechtskräftig bestätigt worden ist. Vor der Aufhebung muss der Verwalter gemäß § 258 Abs. 2 InsO die unstreitigen fälligen Masseansprüche berichtigen3. Da nicht fällige Masseverbindlichkeiten nicht vor der Aufhebung des Insolvenzverfahrens zu begleichen sind, sondern für diese gemäß § 258 Abs. 2 Satz 1 InsO nur eine Sicherheitsleistung zu erbringen ist oder gemäß § 258 Abs. 2 Satz 2 InsO ein Finanzplan vorgelegt werden kann, ist in den Verträgen über die Gewährung von Massedarlehen nahezu immer vorgesehen, dass das Darlehen spätestens bei Beendigung des Insolvenzverfahrens zur Rückzahlung fällig ist.

33.46

Soweit der zunächst während des Insolvenzverfahrens neu gewährte Massekredit von dem Schuldnerunternehmen auch in der Zeit nach Bestätigung des Insolvenzplanes benötigt wird, kann dies nach den gesetzlichen Vorgaben der Insolvenzordnung ohne besondere Regelung im Insolvenzplan nur geschehen, indem der Kredit bei Bestätigung des Insolvenzplanes zurückgezahlt und nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens neu gewährt wird. Für diesen Fall kommt allerdings der neuen Forderung aus der Ablösung des Massekredits und aus der Gewährung sonstiger neuer Kredite in einer „Anschlussinsolvenz“, also in einem Insolvenz-

c) Planbestätigung

1 Begr. RegE zu § 264 und zu § 217 InsO; vgl. auch § 258 Abs. 2 InsO; BGH v. 16.2.2017 – IX ZB 103/1, NZI 2017, 260 Rz. 21; Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 217 InsO Rz. 74 ff.; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 217 InsO Rz. 36; Spliedt in K. Schmidt, 19. Aufl. 2016, § 217 InsO Rz. 20; Kebekus/Handschumacher in Graf-Schlicker, 6. Aufl. 2022, § 217 InsO Rz. 8; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.501. 2 Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 217 InsO Rz. 74. 3 Dazu Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 258 InsO Rz. 10 ff.

1044 | Kuder/Unverdorben

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.49 § 33

verfahren, das in der Zeit zwischen Planbestätigung und Planerfüllung eröffnet wird, keine vorrangige Stellung zu, sondern die Forderung ist dann grundsätzlich eine bloße Insolvenzforderung1. Damit ist die Möglichkeit, einen Massekredit als vorrangige Forderung über den Zeitpunkt der Planbestätigung hinaus stehen zu lassen, grundsätzlich abgeschnitten. Falls der Kreditnehmer die Mittel aus dem Massedarlehen noch in dem sich an die Aufhebung des Verfahrens anschließenden Zeitraum benötigt, muss also der Kreditgeber bei seiner Kreditentscheidung beachten, dass er dann seinen Vorrang verliert. Falls der Kreditgeber über Sicherheiten verfügt, kann er darauf aber zurückgreifen.

d) Rahmenkredite im Insolvenzplan Zu dieser gesetzlichen Vorgabe kann der Insolvenzplan eine abweichende Regelung treffen. Damit trägt der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass auch nach Bestätigung des Insolvenzplans jedes sanierte Unternehmen eine schwierige Anlaufzeit durchzustehen hat, so dass kein Kreditgeber ohne eine Absicherung in irgendeiner Form bereit sein wird, Kredit zu gewähren. Da aber nach einer Sanierung beleihbares Aktivvermögen in der Regel nicht mehr vorhanden ist, stehen dem Unternehmen die üblichen Kreditsicherheiten nicht zur Verfügung2. Zum Ausgleich sieht § 264 Abs. 1 InsO vor, dass im Insolvenzplan durch Beschluss der Insolvenzgläubiger ein Kreditrahmen für bestehen bleibende Massekredite beschlossen werden kann3. Im Fall einer übertragenden Sanierung gilt dies gemäß § 264 Abs. 1 Satz 1 InsO auch für Kredite an eine Übernahmegesellschaft, wenn über deren Vermögen während der Zeit der Planüberwachung des Schuldners ebenfalls ein Insolvenzverfahren eröffnet wird4. Forderungen, die in diesen Kreditrahmen fallen, können in einer „Anschlussinsolvenz“ Vorrang genießen.

33.47

Dazu kann im gestaltenden Teil des Insolvenzplans vorgesehen werden, dass die Insolvenzgläubiger nachrangig sind gegenüber Gläubigern mit Forderungen aus Darlehen oder sonstigen Krediten, die ein Massegläubiger in die Zeit der Überwachung hinein stehen lässt (§ 264 Abs. 1 Satz 1 InsO). Da sowohl der Darlehensgeber als auch die Höhe und die Art des Darlehens bei der Erstellung des Insolvenzplans bekannt sind, wird ein Kreditinstitut in der Regel darauf bestehen, dass das Darlehen im Insolvenzplan möglichst genau bezeichnet wird. Der Plan kann die Kreditgeber zur Verlängerung der Darlehenslaufzeit in die Phase der Planüberwachung hinein allerdings nicht zwingen, vielmehr kann er ihnen nur durch Schaffung des Vorrangs einen Anreiz geben, sich mit einer Prolongation einverstanden zu erklären.

33.48

Der Insolvenzplan kann nicht nur für die in die Zeit der Überwachung hinein stehen bleibenden Massedarlehen, sondern für alle so genannten Rahmenkredite einen vorrangigen Kreditrahmen schaffen. Zu den Rahmenkrediten zählen auch Kredite, die in der Zeit der Planüberwachung neu aufgenommen werden, sofern dies im Insolvenzplan entsprechend vorgesehen ist. Die Privilegierung der Rahmenkredite durch den Insolvenzplan kann für alle Arten von Krediten vorgesehen werden, also nicht nur für Barkredite, sondern z.B. auch für Avalund Diskontkredite. Davon ausgenommen sind aber, worauf bei Rz. 33.56 noch einzugehen ist, Gesellschafterdarlehen (§ 264 Abs. 3 InsO). Privilegiert sind jedenfalls Gelddarlehen; aber

33.49

1 Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 258 InsO Rz. 11. 2 Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 1 f.; Uhlenbruck, ZBB 1992, 284, 285. 3 Dazu auch Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 263 ff.; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 10; Dinstühler, ZInsO 1998, 243. 4 Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 6.

Kuder/Unverdorben | 1045

§ 33 Rz. 33.49 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

auch der Lieferantenkredit, also die Stundung von Kaufpreisforderungen, fällt unter den Begriff der „sonstigen“ Kredite in § 264 InsO1.

33.50

Voraussetzung eines vorrangigen Kreditrahmens ist zunächst, dass sich an die Bestätigung des Insolvenzplans die Überwachung der Planerfüllung durch den Insolvenzverwalter anschließt (§ 264 InsO). Dies muss gemäß § 260 InsO im Insolvenzplan beschlossen werden; die Überwachung durch einen bloßen Überwachungsbeauftragten, der bei einem im Regelinsolvenzverfahren vorgelegten Insolvenzplan abweichend von der gesetzlichen Regelung anstelle des vom Gesetz vorgesehenen Insolvenzverwalters und anstelle der in §§ 260 bis 269 InsO geregelten Überwachung auf Grundlage einer gewillkürten Bestimmung im Insolvenzplan die Überwachung des Plans vornimmt, genügt nicht. Solche an Stelle des Insolvenzverwalters mit der Planüberwachung betraute Überwachungsbeauftragte werden häufig irreführend als „Sachwalter“ bezeichnet; sie dürfen aber nicht mit einem Sachwalter im Eigenverwaltungsverfahren verwechselt werden2. Der Vorrang gilt nur in einem Insolvenzverfahren, das vor Aufhebung der Überwachung eröffnet wird (§ 266 InsO). Die Überwachung wird spätestens drei Jahre nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens beendet. Dies kann aber auch früher geschehen, nämlich wenn die Ansprüche, zu deren Erfüllung die Überwachung dient, erfüllt sind oder die Erfüllung gewährleistet ist. Die Beendigung ist öffentlich bekannt zu geben, wenn sie beschlossen ist. Eine vorherige Warnung der vorrangigen Gläubiger ist nicht vorgesehen3. Darüber hinaus sind in einem innerhalb der Überwachungsphase eröffneten Insolvenzverfahren weder die Aufnahme von Rahmenkrediten noch ihre Rückzahlung anfechtbar4.

33.51

Weiterhin muss im Insolvenzplan beschlossen werden, welche Kreditforderungen zu Rahmenkrediten werden, also im Falle des Scheiterns der Sanierung im Insolvenzplanverfahren Vorrang genießen sollen (§ 264 Abs. 1 Satz 1 InsO): – Forderungen aus Darlehen und sonstigen Krediten, die der Schuldner während der Zeit der Überwachung neu aufnimmt und/oder – Forderungen aus Krediten, die ein Massegläubiger in die Zeit der Überwachung hinein stehen lässt.

33.52

Schließlich muss der Insolvenzplan einen Gesamtbetrag für die Rahmenkredite festlegen. Dieser Kreditrahmen ist beschränkt: Er darf den Wert der Vermögensgegenstände nicht übersteigen, die in der Vermögensübersicht des Plans (§ 229 InsO) aufgeführt sind (§ 264 Abs. 1 Satz 3 InsO). Das gebietet einerseits schon die kaufmännische Vernunft, weil es alle Beteiligten vor den Folgen einer übermäßigen Kreditaufnahme schützt. Zum anderen werden hiermit auch die Interessen von Neugläubigern gewahrt, die gegenüber den Forderungen aus Rahmenkrediten gemäß § 265 InsO im Nachrang sind, obwohl sie auf das Zustandekommen des Insolvenzplans keinen Einfluss haben5. 1 So der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers gemäß Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 311 RegE, S. 216. Ebenso Haas in Kayser/Thole, 10. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 2, 5; Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 7; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 3 ff. 2 Vgl. zur Abgrenzung zu einem Sachwalter im Eigenverwaltungsverfahren ausführlich Rz. 36.102. 3 Zur Laufzeit des Kreditrahmens s. auch Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 266 InsO Rz. 7 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.509. 4 Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 32. 5 Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 311 RegE, S. 216; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.507; kritisch zum wirtschaftlichen Sinn dieser Obergrenze Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 20 ff.

1046 | Kuder/Unverdorben

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.55 § 33

Ist auf diese Weise ein Kreditrahmen für vorrangige Kreditforderungen festgelegt worden, müssen bestimmte Anforderungen erfüllt sein, damit ein einzelner Kredit in den Kreditrahmen fällt und Vorrang genießen kann (§ 264 Abs. 2 InsO). Der Vorrang nach § 264 Abs. 1 InsO besteht nur für Gläubiger, mit denen vereinbart wird, dass und in welcher Höhe der von ihnen gewährte Kredit nach Kapital, Zinsen und Kosten innerhalb des Kreditrahmens liegt und gegenüber denen der Insolvenzverwalter diese Vereinbarung schriftlich bestätigt (§ 264 Abs. 2 InsO)1. Ein Kreditgeber muss daher auf Folgendes achten:

33.53

– Zum einen muss das kreditnehmende Unternehmen jeweils mit dem Kreditgeber vereinbaren, dass und in welcher Höhe der gewährte Kredit nach Hauptforderung, Zinsen und Kosten innerhalb des Kreditrahmens liegt. – Zum anderen muss der Insolvenzverwalter, der gemäß § 261 InsO in seinem Amt bleibt, um die Planerfüllung zu überwachen, die jeweilige Vereinbarung schriftlich bestätigen. Der Vorrang der Rahmenkredite, also von Kreditforderungen, die die vorgenannten Voraussetzungen erfüllen, gilt gemäß § 266 InsO gegenüber allen bisherigen Insolvenzgläubigern, falls während der Überwachung der Planerfüllung erneut ein („Anschluss-“)Insolvenzverfahren eröffnet wird2. Darüber hinaus genießen solche Forderungen Vorrang in einem eventuellen „Anschlussinsolvenzverfahren“ auch gegenüber allen Neugläubigern (§ 265 InsO), d.h. gegenüber Gläubigern mit vertraglichen Ansprüchen, die erst nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens während der Zeit der Überwachung begründet worden sind, und gegenüber Gläubigern aus fortlaufenden Dauerschuldverhältnissen nach dem erstmöglichen Kündigungstermin3. Dies soll die Kreditgeber von Rahmenkrediten davor schützen, dass ihnen faktisch ihre Privilegierung entzogen wird, indem der Schuldner durch die Aufnahme neuer, nicht in den Kreditrahmen fallender Kredite gleichrangige Forderungen begründet4.

33.54

Kreditgeber müssen aber bedenken, dass der Vorrang der Rahmenkredite allenfalls von begrenztem Wert ist5. Denn er gilt zum einen zwar gemäß §§ 264, 266 InsO gegenüber allen Insolvenzgläubigern des ersten Insolvenzverfahrens, falls während der Überwachung der Planerfüllung ein („Anschluss-“)Insolvenzverfahren eröffnet wird. Falls die Insolvenzgläubiger jedoch über Kreditsicherheiten verfügen und diese nicht auf Grund des Insolvenzplans freigegeben haben, bleibt ihnen in einem „Anschlussinsolvenzverfahren“ ihr bevorrechtigtes Absonderungsrecht auch gegenüber den Rahmenkrediten erhalten6. Zum anderen genießen die Forderungen aus den Rahmenkrediten in einem „Anschlussinsolvenzverfahren“ den Vorrang zwar gegenüber vertraglichen Neugläubigern (§§ 265, 266 InsO). Gläubiger eines gesetzlichen Schuldverhältnisses, das erst während der Überwachung entsteht, also z.B. Gläubiger mit Ansprüchen aus unerlaubter Handlung, werden aber nicht zurückgesetzt7. Schließlich sieht § 266

33.55

1 Dazu Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 12; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.508. 2 Ausführlich zu den Rangverhältnissen im Anschlussinsolvenzverfahren Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 266 InsO Rz. 11 ff.; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 266 InsO Rz. 3. 3 Ausführlich zu den Neugläubigern i.S. von § 265 InsO Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 265 InsO Rz. 8 ff. 4 Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 312 RegE, S. 216 f.; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 265 InsO Rz. 1. 5 Dazu auch Wittig, DB 1999, 197 ff. 6 Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 18; Lüer/ Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 29 f. 7 Im Detail dazu Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 265 InsO Rz. 22 ff.

Kuder/Unverdorben | 1047

§ 33 Rz. 33.55 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

InsO keine Privilegierung für die Rahmenkredite als Masseverbindlichkeiten in einem neuen Insolvenzverfahren vor, so dass es sich zwar um vorrangige Insolvenzforderungen handelt, sie aber nachrangig zu den Masseverbindlichkeiten der Folgeinsolvenz sind1. Damit bleiben, vor allem angesichts der zahlreichen massearmen Verfahren, erhebliche Risiken, dass die Gläubiger von Rahmenkrediten trotz ihres Vorrangs in einem Folgeinsolvenzverfahren Ausfälle erleiden.

33.56

Gesellschafterdarlehen können nicht in den Genuss der Privilegierung als Rahmenkredite kommen (§ 264 Abs. 3 InsO)2. Der Gesetzgeber sähe in einer Privilegierung von Gesellschafterdarlehen eine bedenkliche Einladung zur Fremdfinanzierung in der Sanierungsphase. Denn können dritte Kreditgeber nicht gewonnen werden, so dass die Gesellschafter Darlehen gewähren müssen, dann erscheint die Gesellschaft kreditunwürdig. Die Privilegierung von Gesellschafterdarlehen durch Einbeziehung in den Kreditrahmen würde daher dem Ziel einer ordnungsgemäßen Kapitalausstattung der zu sanierenden Gesellschaft widersprechen3.

33.57

Der Vorrang der als Rahmenkredite privilegierten Kreditforderungen wird schließlich in einem weiteren Insolvenzverfahren nur berücksichtigt, wenn dieses weitere Insolvenzverfahren vor Aufhebung der Überwachung eröffnet wird (§ 266 InsO)4. Die Überwachung wird gemäß § 268 InsO durch das Insolvenzgericht aufgehoben, – wenn die Ansprüche, deren Erfüllung überwacht wird, erfüllt sind oder Erfüllung gewährleistet ist, – spätestens aber drei Jahre nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens, falls kein neuer Insolvenzantrag vorliegt5.

e) Auswirkungen auf das Kreditgeschäft 33.58

Sollen im Rahmen eines Insolvenzplanverfahrens neue Kredite aufgenommen werden, um die Sanierung des Unternehmens nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens zu begleiten, muss der Kreditgeber neben der geschilderten besonderen Rechtslage des Weiteren – wie bei jedem Sanierungskredit – sehr sorgfältig prüfen, ob das Unternehmen sanierungsfähig und sanierungswürdig ist (ausführlich dazu Rz. 7.71 ff.). Um Haftungsrisiken zu vermeiden, wird es in der Regel im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Sanierungskrediten erforderlich sein, Kredite nur auf Basis und nach den Vorgaben eines Sanierungsgutachtens zu gewähren6.

33.59

Allein die Tatsache, dass es sich nicht um eine vorinsolvenzliche freie Sanierung handelt, sondern die Sanierung in einem Insolvenzplanverfahren stattfindet, führt nicht dazu, dass die Einholung eines Sanierungsgutachtens von vorne herein entbehrlich wäre. Kreditgeber kön1 Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 25, § 266 InsO Rz. 3. 2 Drukarczyk/Fridgen in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 28, allerdings kritisch zur Ratio; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.505; Häuser in Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, § 65 Rz. 265; a.A. aber Bieder, ZInsO 2000, 531, 532 f. 3 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 266 InsO Rz. 20 f.; Uhlenbruck, ZBB 1992, 284, 285 f.; Karsten Schmidt, Finanzierungsaspekte der Insolvenzrechtsreform, in Bericht über die Fachtagung des Instituts der Wirtschaftsprüfer 1985, S. 165, 174; Begr. RegE InsO, BRDrucks. 1/92, § 311 RegE, S. 216. 4 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.509; Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 25. 5 Dazu auch Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.509. 6 Oswald, NZI 2018, 825 ff.

1048 | Kuder/Unverdorben

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.61 § 33

nen nach der Bestätigung des Insolvenzplans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens durch das Insolvenzgericht nicht allein auf Grund der Tatsache, dass das Insolvenzgericht diese Entscheidungen getroffen hat, davon ausgehen, dass das Unternehmen sanierungsfähig und sanierungswürdig ist. Das Gericht überprüft dies nicht. Vielmehr nimmt das Insolvenzgericht bei der Vorprüfung des Plans (§ 231 InsO), bei dessen Bestätigung (§ 248 InsO) sowie bei der Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 258 InsO) vorrangig eine Kontrolle von Verfahrens- und Formerfordernissen vor1. Zusammengefasst führt die geschilderte Rechtslage dazu, dass die Kreditgeber in der Praxis des Kreditgeschäfts Folgendes beachten müssen2. – Ein Kreditgeber, der einem sanierungsfähigen Unternehmen nach Aufhebung des Verfahrens neuen Kredit gewährt oder alten Kredit stehen lässt, wird in der Regel darauf bestehen, dass ein Sanierungsgutachten eingeholt wird und der Kredit im Rahmen dieses Sanierungsgutachtens gewährt wird. – Zudem muss der Kreditgeber Wert darauf legen, dass dieser Kredit in den vom Gesetz vorgesehenen Kreditrahmen fällt und auf diese Weise mit Zustimmung des Verwalters eine Privilegierung erfährt. – Die Kreditlaufzeit sollte die Dauer der Überwachung nicht überschreiten. – Mit dem Verwalter ist ein enger Kontakt zu halten, damit der Kreditgeber rechtzeitig von einer Abweichung vom Sanierungsplan oder einer vorgezogenen Aufhebung der Überwachung erfährt.

2. Besicherung des Neukredits Für die Praxis des Kreditgeschäfts wird man trotz der vorstehend beschriebenen Privilegierung davon ausgehen müssen, dass auch Rahmenkredite nur besichert vergeben werden. Denn es ist zweifelhaft, ob die Regelungen zum Insolvenzplan und die damit gewährleistete Privilegierung ausreichen, der zu sanierenden GmbH oder einem anderen Schuldner die Kreditaufnahme in der Sanierungsphase zu ermöglichen, weil zum einen der Vorrang, wie bei Rz. 32.105 erläutert, nur einen begrenzten Schutz vor Ausfällen in einer evtl. Folgeinsolvenz bietet. Zum anderen ist die zeitliche Begrenzung der Privilegierung kurz bemessen und damit das Risiko hoch, in diesem Zeitraum der Krisenanfälligkeit ungesicherte Kredite zu vergeben, die nach Beendigung der Überwachungsphase von maximal drei Jahren3 die Privilegierung verlieren.

33.60

Dabei kann die GmbH den Kreditgebern als Sicherungsgegenstand das gesamte nach Planbestätigung neu erworbene Vermögen anbieten, also vor allem neu hergestellte Waren und die Forderungen aus ihrer Veräußerung. Denn diese Gegenstände sind selbst dann nicht mit Sicherungsrechten Dritter belastet, wenn vor dem Insolvenzverfahren Globalsicherungsverträge zu Gunsten anderer Gläubiger bestanden, weil diese Verträge mit Verfahrenseröffnung ihr Ende gefunden haben (§ 103 InsO) und der Verlust der Verfügungsbefugnis des Schuldners (§ 80

33.61

1 Oswald, NZI 2018, 825 ff. 2 Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, Rz. 5.510. 3 Nach Auffassung des AG Duisburg soll es mit Zustimmung des Schuldners möglich sein, in einem Insolvenzplan den Zeitraum der Überwachung abweichend von § 268 InsO auf mehr als drei Jahre ab Aufhebung des Insolvenzverfahrens festzusetzen; für die Anwendung der §§ 264 bis 266 InsO gelte jedoch auch in einem solchen Fall als „Zeit der Überwachung“ nur ein Zeitraum von höchstens drei Jahren, AG Duisburg v. 1.4.2003 – 62 IN 187/02, NZI 2003, 447.

Kuder/Unverdorben | 1049

§ 33 Rz. 33.61 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

InsO) die Entstehung von Sicherungsrechten verhindert. Zum anderen kann der Insolvenzplan vorsehen, dass absonderungsberechtigte Gläubiger Einschränkungen ihrer Sicherungsrechte hinnehmen (§ 223 Abs. 2 InsO), um freies Vermögen für die Besicherung der Rahmenkredite zu schaffen1.

33.62

Sollen Kredite besichert werden, die schon vor Bestätigung des Insolvenzplanes aufgenommen worden sind und in die Zeit der Überwachung hinein stehen bleiben, sollte der Kreditgeber vorsorglich davon ausgehen, dass ihre Besicherung im gestaltenden Teil des Insolvenzplanes (§ 215 InsO) vorgesehen sein muss. Mit rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplanes gelten dann gemäß § 254 InsO alle für die Begründung der Sicherungsrechte erforderlichen Willenserklärungen als abgegeben. Soweit zur wirksamen Bestellung der Kreditsicherheiten noch weitere Umstände hinzutreten müssen, beispielsweise die Besitzübertragung bei der Verpfändung beweglicher Gegenstände oder die Grundbucheintragung bei der Grundbuchbestellung, werden diese durch die gestaltende Wirkung des Insolvenzplanes aber nicht ersetzt2.

33.63

Demgegenüber kann, sofern nicht gemäß § 263 InsO der gestaltende Teil des Insolvenzplanes die Sicherheitenbestellung durch den Schuldner an die Zustimmung des Insolvenzverwalters bindet, nach Bestätigung des Insolvenzplanes der Schuldner für in der Zeit der Überwachung neu aufgenommene Rahmenkredite Sicherheiten bestellen. Denn mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens, die der Überwachung vorausgeht, erlangt der Schuldner grundsätzlich die volle Verfügungsbefugnis über sein Vermögen, d.h. über alle Gegenstände der Insolvenzmasse zurück3. Dies gilt allerdings nicht, wenn im gestaltenden Teil des Insolvenzplans gemäß § 263 InsO vorgesehen ist, dass die Bestellung von Kreditsicherheiten generell oder speziell die Verfügung über bestimmte Vermögensgegenstände, die als Kreditsicherheit dienen sollen (z.B. Immobilien), nur wirksam sind, wenn der Insolvenzverwalter ihnen zustimmt. Denn dann kann eine Kreditsicherheit auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens in der Zeit der Überwachung gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO wirksam nur mit Zustimmung des Insolvenzverwalters bestellt werden, falls nicht gemäß § 81 Abs. 1 Satz 2 InsO ausnahmsweise bei einer Grundschuld oder anderen Registerrechten der gute Glaube an die Verfügungsmacht des Schuldners geschützt wird4. Bestellt der Schuldner, ggf. mit der Zustimmung des Insolvenzverwalters, für den Neukredit Sicherheiten, ist dies – als Bargeschäft – auch nicht anfechtbar, falls es zu einem weiteren Insolvenzverfahren kommt5.

3. Kündigung von Krediten 33.64

Sofern der Insolvenzplan einen Debt Equity Swap (s. hierzu Rz. 7.41 ff.) vorsieht, berechtigt eine solche Maßnahme nicht zum Rücktritt oder zur Kündigung von Krediten (§ 225a Abs. 4 InsO). Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass es auf Grundlage der inzwischen weit verbreiteten Change-of-Control-Klauseln in Finanzierungs- und anderen Verträgen zu einer Beendigung von Vertragsverhältnissen kommt und damit die Sanierung gefährdet wird6. Im Hinblick auf Kreditverträge hat diese Bestimmung allerdings keine praktische Bedeutung. 1 2 3 4

Lüer/Streit in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 264 InsO Rz. 30. Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 301 RegE, S. 212 f. Begr. RegE InsO, BR-Drucks. 1/92, § 310 RegE, S. 216. Zu den Rechtsfolgen nach § 263 InsO bei fehlender Zustimmung s. auch Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 263 InsO Rz. 9. 5 Braun/Frank in Braun, 8. Aufl. 2020, § 264 InsO Rz. 11; Wittig, DB 1999, 197, 205. 6 Zur Entstehungsgeschichte dieser Norm Eidenmüller in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 225a InsO Rz. 15 f.

1050 | Kuder/Unverdorben

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.82 § 33

Kredite, die der vorläufige oder der endgültige Verwalter als Massedarlehen1 aufgenommen hat, sind als Masseverbindlichkeit gemäß § 258 Abs. 2 InsO spätestens vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens zurückzuzahlen. Zudem werden Massedarlehen in der Praxis nur befristet eingeräumt, z.B. bis zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bzw. bis zur Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Für Kreditgeber von Rahmenkrediten nach § 264 InsO wird die Frage der Eigentums- und Kontrollverhältnisse regelmäßig keine Rolle spielen. Sollte dies dennoch der Fall sein, wird der Kreditgeber die Einräumung eines Rahmenkredits oder das Stehenlassen eines Massekredits verweigern. Einstweilen frei.

33.65–33.80

IV. Wiederauflebensklausel § 255 InsO unterscheidet zwischen Rechtswirkungen, die nur gegenüber bestimmten Insolvenzgläubigern eintreten (§ 255 Abs. 1 InsO) und solchen Rechtsfolgen, die sich auf alle Insolvenzgläubiger erstrecken (§ 255 Abs. 2 InsO)2. Die Vorschrift gilt auch für Insolvenzgläubiger, die nicht am Verfahren teilgenommen haben (§ 254b InsO)3. Sie können sich indes nur dann auf die Vorschrift berufen, wenn ihre Forderung zuvor vom Prozessgericht rechtskräftig festgestellt worden ist4. Dies zeigt erneut auf, welche praktischen Schwierigkeiten daraus erwachsen, dass die Insolvenzordnung zur Anmeldung von Insolvenzforderungen keine Ausschlussfristen vorsieht5.

33.81

§ 255 Abs. 1 Satz 1 InsO regelt die Rechtsfolgen der insolvenzplanbedingten Leistungsstörungen abschließend. Ein Gläubiger, dessen (schuldrechtlichen) Forderungen oder dessen Ausfallforderungen6 im gestaltenden Teil des Insolvenzplans gestundet oder teilweise erlassen worden sind, kann nicht auf die allgemeinen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs zurückgreifen, wenn der Schuldner ihm gegenüber mit der Erfüllung des Plans erheblich in Rückstand gerät. Vielmehr bestimmt § 255 Abs. 1 Satz 1 InsO, dass in einem solchen Fall die Stundung oder der Erlass für den Gläubiger hinfällig wird. Wurde die nicht erfüllte Forderung nicht zur Tabelle festgestellt und ist keine Entscheidung des Insolvenzgerichts über die vorläufige Berücksichtigung der Forderung ergangen, gerät der Schuldner nicht mit der Erfüllung des Insolvenzplans in Rückstand7. Liegen die Voraussetzungen des § 255 Abs. 1 InsO vor, le-

33.82

1 2 3 4 5

Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 258 InsO Rz. 10 f. Vgl. Rühle in Nerlich/Römermann, § 255 InsO Rz. 11 (Stand: Juni 2018). Haas in Kayser/Thole, § 255 InsO Rz. 4. BGH v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359 = NZI 2013, 84. Der amtlichen Begründung zufolge ist der Gesetzgeber des ESUG der vielfach erhobenen Forderung (s. nur Reinhart, WuB VI A § 255 InsO 1.12), eine materielle Ausschlussfrist für im Insolvenzverfahren nicht angemeldete Forderungen zu schaffen, bewusst nicht gefolgt, weil eine Ausschlussfrist aus verfassungsrechtlichen Gründen mit der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung verbunden sein müsse und die vergleichbare Ausschlussfrist des § 14 GesO zu zahlreichen und langwierigen Streitigkeiten über die Frage des Verschuldens bei der Fristversäumnis geführt habe (BTDrucks. 17/5712, S. 37). 6 § 52 Satz 2 InsO. Da der Anwendungsbereich des § 255 InsO auf schuldrechtliche Forderungen beschränkt ist, leben dingliche Ansprüche (Sicherungsrechte) nicht wieder auf. Braun in Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, § 69 Rz. 69.9, rät dringend zur Gestaltung von „Ersatzlösungen“ im Plan, um bei Leistungsstörungen eine Aufrechterhaltung der dinglichen Position des gesicherten Gläubigers zu gewährleisten. 7 BGH v. 10.5.2012 – IX ZR 206/11, ZIP 2012, 1359 = NZI 2013, 84.

Kuder/Unverdorben und Vallender | 1051

§ 33 Rz. 33.82 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

ben Haupt- und Nebenforderung wieder vollständig auf. Dies gilt auch für die Zinsen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens1. Ein erheblicher Rückstand i.S. des § 255 Abs. 1 Satz 1 InsO liegt nur dann vor, wenn der Schuldner eine fällige Verbindlichkeit nicht rechtzeitig bezahlt, obwohl der Gläubiger schriftlich gemahnt und eine Nachfrist von mindestens zwei Wochen gesetzt hat (§ 255 Abs. 1 Satz 2 InsO)2. Diese Mahnung ist inhaltlich identisch mit der in § 286 Abs. 1 BGB normierten Mahnung. Denn gemeint ist die Aufforderung des Schuldners durch den Gläubiger, die nach dem Insolvenzplan ausstehende Leistung zu erbringen3. Ob darüber hinaus nur Forderungen ab einer bestimmten Höhe als „erheblich zu qualifizieren sind, wird nicht einheitlich beantwortet4. Beck/Pechartscheck5 empfehlen, das Kriterium der Erheblichkeit im Insolvenzplan eindeutig zu bestimmen, um spätere Streitigkeiten bei der Auslegung zu vermeiden. Die Rechtsfolgen des § 255 Abs. 1 Satz 1 InsO treten nur für denjenigen Gläubiger ein, in dessen Person die Voraussetzungen erfüllt sind6.

33.83

Bei Eröffnung eines neuen Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners während des Zeitraums der Planerfüllung fallen gemäß § 255 Abs. 2 InsO die Stundungen und Erlasse für alle Gläubiger weg7. Die Forderungen der (Alt-)Gläubiger leben in vollem Umfang wieder auf und nehmen als Insolvenzforderungen am neuen Insolvenzverfahren teil, soweit sie nicht erfüllt worden sind8. Selbst wenn der Schuldner seiner bisherigen Ratenzahlungsverpflichtung nachgekommen ist und weitere Raten noch nicht fällig sind, findet die Vorschrift des § 255 Abs. 2 InsO Anwendung. Die Regelung ist konsequent, weil die im Insolvenzplan getroffenen Vereinbarungen auf Grund der erneuten Verfahrungseröffnung nicht mehr eingehalten werden können. Den beteiligten Gläubigern wird allerdings die Möglichkeit eröffnet, ihre Forderungen auch im neuen Insolvenzverfahren mit dem vollen Betrag anzumelden. Sie sind wegen der ihnen noch zustehenden Forderung nicht auf die Planquote aus dem alten Verfahren beschränkt9. Hatte der Schuldner bereits vor Eröffnung des neuen Verfahrens sämtliche Insolvenzforderungen erfüllt, findet § 255 Abs. 2 InsO nach seinem klaren Wortlaut keine Anwendung10.

33.84

Nach § 255 Abs. 3 Satz 1 InsO können die Beteiligten Regelungen treffen, die von den in Absatz 1 und Absatz 2 normierten Rechtsfolgen abweichen. Soweit sie die Wiederauflebensklausel gänzlich ausschließen, bleibt den Gläubigern bei Nichterfüllung der im Plan übernommenen Verpflichtungen nur die Möglichkeit der Zwangsvollstreckung aus dem Plan (§ 257 InsO). § 255 Abs. 3 Satz 2 InsO sieht ausdrücklich vor, dass von der Regelung in § 255 Abs. 1 InsO nicht zum Nachteil des Schuldners abgewichen werden kann. Eine Verschärfung der Fristen und Anforderungen an die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen ein erheblicher Rückstand angenommen wird, sind indes zulässig11.

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

Rühle in Nerlich/Römermann, § 255 InsO Rz. 3 (Stand: Juni 2018); Hess, § 255 InsO Rz. 20. Eine ähnliche Regelung enthält § 498 Abs. 1 Satz 1 BGB. OVG Magdeburg v. 6.3.2021 – 4 M 140/20, DÖV 2021, 648. Zum Streitstand s. Beck/Pechartscheck in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, § 3 Rz. 50 Fn. 73. Beck/Pechartscheck in Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, § 3 Rz. 50. Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 255 InsO Rz. 29. Der Pensions-Sicherungs-Verein ist unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 4 Satz 2 BetrAVG von den Rechtsfolgen des § 255 Abs. 2 InsO ausgenommen. OLG Düsseldorf v. 17.12.2020 – 12 U 27/20, NZI 2021, 681 Rz. 8; Huber/Madaus in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 255 InsO Rz. 35 ff.; Haas in Kayser/Thole, § 255 InsO Rz. 10 ff. Haas in Kayser/Thole, § 255 InsO Rz. 10. Haas in Kayser/Thole, Kommentar zur InsO, § 255 InsO Rz. 10. Rühle in Nerlich/Römermann, § 255 InsO Rz. 7; Haas in Kayser/Thole, § 255 InsO Rz. 13.

1052 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.101 § 33

In Ergänzung zu § 255 InsO regelt § 256 InsO den Fall, dass eine Forderung im Prüfungstermin bestritten wurde und deshalb nicht feststeht, inwieweit diese als bestehend behandelt werden kann1. Danach ist ein Rückstand, der die Wiederauflebensklausel auslöst, dann nicht gegeben, wenn der Schuldner die Forderung bis zur endgültigen Feststellung ihrer Höhe in dem Ausmaß berücksichtigt, das dem gewährten Stimmrecht entspricht (§ 256 Abs. 1 Satz 1 InsO). Ist eine Entscheidung über das Stimmrecht nicht getroffen worden, hat das Gericht gemäß § 256 Abs. 1 Satz 2 InsO auf Antrag des Schuldners oder des Gläubigers nachträglich festzustellen, in welchem Ausmaß der Schuldner vorläufig die Forderung zu berücksichtigen hat. Ferner ist ein Rückstand mit der Erfüllung des Insolvenzplans i.S. des § 255 Abs. 1 InsO nicht anzunehmen, wenn die Höhe der Ausfallforderung eines absonderungsberechtigten Gläubigers noch nicht feststeht und der Schuldner die Forderung bis zur endgültigen Feststellung ihrer Höhe in dem Ausmaß berücksichtigt, das der Entscheidung des Insolvenzgerichts über das Stimmrecht des Gläubigers bei der Abstimmung über den Plan entspricht. Das Absonderungsrecht, also nach § 223 Abs. 1 InsO das Recht zur Befriedung aus Gegenständen, und die Ausfallforderung sind nicht gleichbedeutend. Ihnen liegt zwar dieselbe Forderung gegenüber dem Insolvenzschuldner zugrunde, sie nehmen im Rahmen des Insolvenzverfahrens aber völlig unterschiedliche Stellungen ein2. § 256 InsO ist auf das Absonderungsrecht als Recht auf Befriedigung aus einer Sicherheit nicht anwendbar, sondern umfasst nur die nach § 190 InsO geltend gemachte Ausfallforderung3.

33.85

Ergibt sich nach einer endgültigen Feststellung der Forderung, dass der Schuldner zu wenig gezahlt hat, ist der Fehlbetrag nachzuzahlen. Ein „erheblicher Rückstand“ i.S. des § 255 Abs. 1 Satz 1 InsO liegt erst dann vor, wenn der Schuldner das Fehlende nicht nachzahlt, obwohl der Gläubiger ihn schriftlich gemahnt und ihm dabei eine mindestens zweiwöchige Nachfrist gesetzt hat (§ 256 Abs. 2 InsO). Eine Überzahlung kann der Schuldner nur insoweit zurückfordern, als der Mehrbetrag auch den nicht fälligen Teil der Forderung übersteigt, der dem Gläubiger nach dem Insolvenzplan zusteht (§ 256 Abs. 3 InsO). Ausfallforderungen unterliegen den gleichen Regelungen wie streitige Forderungen (§ 256 Abs. 1 Satz 1 InsO). Steht die Höhe der Ausfallforderung nicht fest, ist ein Rückstand i.S. des § 255 InsO nicht anzunehmen, wenn der Schuldner die vermutete Ausfallforderung insoweit bedient, als sie vom Insolvenzverwalter anerkannt ist4. Das Gericht hat nicht über die Höhe der Ausfallforderung zu befinden.

33.86

Einstweilen frei.

33.87–33.100

V. Planüberwachung 1. Anordnung der Überwachung im Insolvenzplan Im gestaltenden Teil des Insolvenzplans kann nach § 260 Abs. 1 InsO vorgesehen werden, dass die Erfüllung des Plans überwacht wird5. Die Überwachung findet außerhalb des Insolvenz1 2 3 4 5

Rühle in Nerlich/Römermann, § 256 InsO Rz. 1. OVG Magdeburg v. 16.3.2021 – 4 M 140/20, DÖV 2021, 648. OVG Magdeburg v. 16.3.2021 – 4 M 140/20, DÖV 2021, 648. Hess/Obermüller, Insolvenzplan, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, Rz. 424. Grundsätzlich zur Insolvenzplanüberwachung Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, 4. Aufl. 2015, Rz. 22.1 ff.; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 1 ff.; W. Schiessler, Der Insolvenzplan, 1997, S. 207 ff.; T. Frank, Die Überwachung der Insolvenzplanerfüllung, 2002; R.A. Fischer, Die unternehmerischen Mitwirkungsrechte der Gläubiger in der Überwachungsphase des Insolvenzplans, 2002; V. Mai, Insolvenzplanverfahren, 2008, S. 129 ff., Rz. 346 ff.

Vallender | 1053

33.101

§ 33 Rz. 33.101 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

verfahrens statt (§ 260 Abs. 1 InsO), so dass das eigentliche Insolvenzverfahren aufgehoben werden kann. Die Planüberwachung ist nicht als Regelfall vorgesehen. Vielmehr soll es dem Planaufsteller überlassen bleiben, zu entscheiden, ob er eine Überwachung der Planerfüllung für angebracht hält. Die Planüberwachung liegt zwar vorrangig im Interesse der Gläubiger, zugleich aber auch im Schuldnerinteresse (vgl. §§ 227, 247 Abs. 2 Nr. 1 InsO)1. So können z.B. bestimmte Geschäfte des Schuldnerunternehmens oder einer Übernahmegesellschaft gemäß § 263 InsO von der Zustimmung des Insolvenz- oder Sachwalters abhängig gemacht werden, wodurch eine Kreditaufnahme durch das Schuldnerunternehmen (§§ 264 ff. InsO) erleichtert wird2. Die Überwachung ist Aufgabe des Insolvenzverwalters (§ 261 Abs. 1 Satz 1 InsO). Auf Grund der Vertragsfreiheit der Beteiligten und der Gläubigerautonomie sind auch andere Formen der Überwachung möglich, wie z.B. die Überwachung durch einen von den Gläubigern bestimmten Sachwalter3. Einzelheiten der Überwachung können abweichend vom Gesetz im Insolvenzplan geregelt werden, jedoch nicht zu Lasten des Schuldnerunternehmens oder dritter Personen4. Umstritten ist, ob der überwachende Sachwalter die gleichen Rechte hat wie der Insolvenzverwalter5. Nachteilig kann sich im Einzelfall auswirken, dass der Sachwalter auf Grund seines Vertrages mit dem Schuldnerunternehmen tätig wird, während der überwachende Insolvenzverwalter der insolvenzgerichtlichen Aufsicht unterliegt. Deshalb wird empfohlen, den Vertrag nach § 328 BGB zu Gunsten Dritter, nämlich der Gläubiger des Schuldners, auszugestalten6. Zutreffend weist Jaffé7 darauf hin, dass die Gläubiger, die vor der Entscheidung stehen, einen Sachwalter an Stelle des Insolvenzverwalters mit der Überwachung zu betrauen, zu bedenken haben, „dass diese Freiheit mit erheblichen Konsequenzen für die Effizienz der Überwachung verbunden ist.“ Wird ein Gläubigerausschuss zur Überwachung des Schuldners gesondert eingesetzt, kann die Vergütung der Mitglieder dieses Ausschusses Gegenstand einer nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens geschlossenen Vereinbarung zwischen dem Schuldner und den Ausschussmitgliedern sein8. Dies steht nicht in Widerspruch zu der Entscheidung des BGH vom 16.2.2017, nach der die Vergütung des Insolvenzverwalters nicht im Insolvenzplan disponiert werden kann9.Denn anders als beim Insolvenzverwalter besteht kein berechtigtes Interesse an einer unabhängigen Festsetzung der Vergütung bei einem Planüberwachungsausschuss.

33.102

Das Planüberwachungsverfahren ist ein eigenständiges Verfahren, nicht etwa ein Nachverfahren. Es hindert die Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht (§ 260 Abs. 2, § 258 Abs. 1 InsO). Mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens entfallen grundsätzlich sämtliche Rechtswirkungen, die mit der Eröffnung des Verfahrens verbunden sind, wie z.B. Verfügungsbeschränkungen, Fremdverwaltung und Vollstreckungssperre. Zur Sicherung der Kontroll1 Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 260 InsO Rz. 4.6; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 3; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 260 InsO Rz. 2; R.A. Fischer, Die unternehmerischen Mitwirkungsrechte der Gläubiger in der Überwachungsphase des Insolvenzplans, 2002, S. 111 Rz. 322 ff. 2 Vgl. auch Haas in Kayser/Thole, § 260 InsO Rz. 1. 3 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 7, 8, 18, 19; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 260 InsO Rz. 3; Haas in Kayser/Thole, § 260 InsO Rz. 7; Pleister in Kübler/ Prütting/Bork, § 260 InsO Rz. 15; Smid/Rattunde, § 260 InsO Rz. 5. 4 Haas in Kayser/Thole, § 260 InsO Rz. 7; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 9. 5 Bejahend Hess, § 260 InsO Rz. 9; Smid/Rattunde, § 260 InsO Rz. 5; str., a.A. Breutigam in Blersch/ Goetsch/Haas, § 260 InsO Rz. 17 ff. Vgl. auch Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 19. 6 So Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 19; Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 261 InsO Rz. 10; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 261 InsO Rz. 5 ff. 7 Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 261 InsO Rz. 10. 8 BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 57/20, ZIP 2021, 1282. 9 BGH v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, ZIP 2017, 482.

1054 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.103 § 33

befugnisse ordnet § 261 Abs. 1 Satz 2 InsO lediglich an, dass die Ämter des Verwalters und des Gläubigerausschusses sowie die Aufsicht des Insolvenzgerichts fortbestehen. Gegenstand der Überwachung ist die Erfüllung der Ansprüche der Insolvenzgläubiger sowie der absonderungsberechtigten Gläubiger, die diesen nach dem Insolvenzplan zustehen (§ 223 Abs. 2 InsO)1. Eine Planüberwachung ist nicht nur zulässig bei Fortführung des Schuldnerunternehmens oder bei Fortsetzung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern auch, wenn der Liquidationsplan eine sofortige Liquidation des Unternehmens vorsieht2.

2. Überwachung von Übernahmegesellschaften Wird das Schuldnerunternehmen durch eine nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegründete Übernahmegesellschaft fortgeführt, erstreckt sich nach § 260 Abs. 3 InsO die Überwachung auf die Erfüllung der Ansprüche, die den Gläubigern nach dem gestaltenden Teil gegen eine juristische Person oder Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit zustehen3. Der Zweck der Regelung besteht darin, auch bei der Übernahme des Schuldnerunternehmens im Wege einer übertragenden Sanierung die Kontrolle der Planerfüllung zu gewährleisten. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers ist den Gesellschaftern einer schon vor Verfahrenseröffnung bestehenden Gesellschaft und den Gläubigern einer solchen Gesellschaft eine Überwachung nicht zuzumuten. Die Kontrolle durch Überwachung kommt nur in Betracht für juristische Personen und Gesellschaften ohne eigene Rechtspersönlichkeit, wie z.B. eine BGBGesellschaft4, OHG, KG, Partenreederei oder EWIV. Ist im gestaltenden Teil des Insolvenzplans vorgesehen, dass eine vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegründete Gesellschaft den Schuldnerbetrieb übernehmen soll, ist die Planüberwachung nach § 260 Abs. 3 InsO ausgeschlossen5. Einer Übernahmegesellschaft, die nicht unter § 260 Abs. 3 InsO fällt, ist es jedoch unbenommen, sich freiwillig im Übernahmevertrag einer Überwachung zu unterwerfen6. Die Erstreckung der Überwachung auf die Übernahmegesellschaft ist nach § 67 Abs. 2 Nr. 1 InsO 1 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 5; Stephan in Münchener Kommentar zu InsO, 4. Aufl. 2020, § 260 InsO Rz. 15; Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 260 InsO Rz. 5; Braun in Nerlich/ Römermann, § 260 InsO Rz. 3; Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 260 InsO Rz. 2, 6; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 260 InsO Rz. 13. 2 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 5. 3 Einzelheiten Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 10 ff.; Haas in Kayser/Thole, § 260 InsO Rz. 6; Frank in Braun, § 260 InsO Rz. 8; Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 260 InsO Rz. 23 ff. 4 Am 17.8.2021 ist das 1.1.2024 in Kraft tretende Personengesellschaftsmodernisierungsgesetz (MoPeG) im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 2021, 3436) verkündet worden. Elementarer Reformpunkt ist die klare Unterscheidung von rechtsfähiger und nicht rechtsfähiger GbR. Dass eine GbR rechtsfähig sein kann, ist bislang nur Rechtsprechung und Lehrwerken zu entnehmen, nicht jedoch dem Gesetz. Nun wird dies – in Anlehnung an § 124 Abs. 1 HGB (künftig: § 105 Abs. 2 HGB n.F.) – unmissverständlich ausgesprochen (vgl. § 705 Abs. 2 BGB n.F.: „kann Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen“), näher dazu Bachmann, NJW 2021, 3073. 5 Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 260 InsO Rz. 25; Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 260 InsO Rz. 28, 32; Kebekus/Wehler in Graf-Schlicker, § 260 InsO Rz. 2; Andres in Andres/Leithaus, § 260 InsO Rz. 5; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 260 InsO Rz. 27, 28; Haas in Kayser/Thole, § 260 InsO Rz. 6. Weitergehend Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 260 InsO Rz. 20 ff.; Hess, § 260 InsO Rz. 7; Frank in Braun, § 260 InsO Rz. 7; vgl. auch Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 15, 16. In vielen Fällen dürfte man zu praxisnahen Ergebnissen gelangen, wenn man für § 260 Abs. 3 InsO ausreichen lässt, „dass der Abschluss des Gründens während des Insolvenzverfahrens erfolgt.“ Der Neugründung steht der Erwerb einer schon früher gegründeten sog. Vorratsgesellschaft gleich (so Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 260 InsO Rz. 16). 6 So auch Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 260 InsO Rz. 18.

Vallender | 1055

33.103

§ 33 Rz. 33.103 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

zusammen mit dem Beschluss über die Aufhebung des Insolvenzverfahrens öffentlich bekannt zu machen und dem Registergericht mitzuteilen.

3. Aufgaben und Befugnisse des Insolvenzverwalters im Rahmen der Überwachung 33.104

Dem mit der Überwachung betrauten Insolvenzverwalter räumt das Gesetz durch die Verweisung in § 261 Abs. 1 Satz 3 InsO auf die Vorschrift des § 22 Abs. 3 InsO weitgehend die Rechte eines vorläufigen Insolvenzverwalters ein. Er ist somit befugt, die Geschäftsräume des Schuldnerunternehmens bzw. der Übernahmegesellschaft zu betreten, Einsicht in Bücher und Geschäftspapiere zu nehmen sowie Auskünfte von den organschaftlichen Vertretern und Angestellten (§§ 97, 101 InsO) zu verlangen1. Der Verwalter hat die monatlichen Umsatzsteuererklärungen ebenso wie betriebswirtschaftliche Auswertungen zu sichten und zu bewerten. Eine intensive Liquiditätskontrolle ist ebenso unverzichtbar wie eine Kontrolle der vom Schuldnerunternehmen neu begründeten Verbindlichkeiten. Nach § 262 InsO hat der Insolvenzverwalter im Rahmen der Überwachung festzustellen, ob Ansprüche, deren Erfüllung er zu überwachen hat, nicht erfüllt werden oder werden können. Bei Gefahr der Nichterfüllung hat er unverzüglich dem Gläubigerausschuss und dem Insolvenzgericht gegenüber Anzeige zu machen (§ 262 Satz 1 InsO). Ist ein Gläubigerausschuss nicht bestellt, hat der Verwalter alle Gläubiger zu unterrichten, denen nach dem gestaltenden Teil des Insolvenzplans Ansprüche gegen das Schuldnerunternehmen oder die Übernahmegesellschaft zustehen (§ 262 Satz 2 InsO). Ist im gestaltenden Teil des Insolvenzplans ein Zustimmungsvorbehalt (§ 263 InsO) vorgesehen, sind Rechtsgeschäfte des Schuldners oder der Übernahmegesellschaft während der Zeit der Überwachung nur wirksam, wenn der Insolvenzverwalter ihnen zustimmt (§ 263 Satz 1 InsO). Gegen das Zustimmungsgebot verstoßende Handlungen des Schuldners werden nach dem Gesetz so behandelt, als wären sie während des laufenden Insolvenzverfahrens vorgenommen worden (§ 263 Satz 2, § 81 Abs. 1, § 82 InsO)2. Ist im Insolvenzplan die Überwachung durch einen Sachwalter vorgesehen, so obliegt diesem die Überwachung der Planerfüllung3. Die Überwachung durch einen Sachwalter ist für die Gläubiger keineswegs risikolos, weil der Schuldnervertreter zum einen seine Rechtsstellung aus einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Schuldnerunternehmen herleitet, zum anderen nicht der gerichtlichen Aufsicht nach § 58 InsO unterliegt und sich seine Haftung nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen bestimmt4.

4. Aufgaben des Gläubigerausschusses und Aufsichtsfunktion des Insolvenzgerichts 33.105

§ 261 Abs. 1 Satz 2 InsO bestimmt, dass trotz Aufhebung des Verfahrens das Amt der Mitglieder des Gläubigerausschusses und die Aufsicht des Insolvenzgerichts fortbestehen. Auf 1 Zum Kontrollumfang vgl. Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 261 InsO Rz. 3 ff.; Lüer/ Streit in Uhlenbruck, § 261 InsO Rz. 15–19; Braun in Nerlich/Römermann, § 261 InsO Rz. 3, 3a; Hess, § 261 InsO Rz. 1; Smid/Rattunde/Martini, Der Insolvenzplan, Rz. 22.5. 2 Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 263 InsO Rz. 5, 6; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rz. 28.59; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 263 InsO Rz. 18. 3 Smid/Rattunde, § 260 InsO Rz. 5; Hess, § 260 InsO Rz. 9 und § 261 InsO Rz. 4; Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 261 InsO Rz. 10; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 261 InsO Rz. 18. 4 Vgl. Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, § 261 InsO Rz. 12; Braun in Nerlich/Römermann, § 261 InsO Rz. 6; Pleister in Kübler/Prütting/Bork, § 261 InsO Rz. 3; Breutigam in Blersch/ Goetsch/Haas, § 261 InsO Rz. 10.

1056 | Vallender

§ 33 Rechtswirkungen des bestätigten Plans | Rz. 33.107 § 33

Grund dessen kann der Gläubigerausschuss jederzeit einzelne Auskünfte oder einen Zwischenbericht des mit der Planüberwachung betrauten Insolvenzverwalters verlangen (§ 261 Abs. 2 Satz 2 InsO)1. Weitergehende Befugnisse räumt das Gesetz der Gläubigervertretung allerdings nicht ein. Insbesondere gewährleistet es keine rechtzeitige Informationsbeschaffung2. Auch die Aufsichtspflicht des Gerichts hat weitgehend formalen Charakter. Das Insolvenzgericht ist aber befugt, gemäß § 98 InsO ggfls. mit Zwangsmaßnahmen die Mitwirkungspflichten des Schuldners sowie der in § 22 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 i.V.m. § 101 Abs. 1 und 2 InsO bezeichneten Personen durchzusetzen3.

5. Dauer und Aufhebung der Überwachung Hinsichtlich der Dauer der Überwachung einer Planerfüllung hat der Gesetzgeber eine Begrenzung auf drei Jahre ab Aufhebung des Insolvenzverfahrens vorgesehen (§ 268 Abs. 1 Nr. 2 InsO)4. Solange die Überwachung der Planerfüllung durch den Insolvenzverwalter noch andauert, rechtfertigt dies nicht die Annahme, die Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers sei beendet und ein neues Insolvenzereignis, das einen Anspruch auf Insolvenzgeld (§ 165 Abs. 1 SGB III) auslösen kann, könne eintreten5. Dies gilt auch, wenn das erste Insolvenzverfahren nach rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans aufgehoben, die im Insolvenzplan festgelegte Quote in den folgenden drei Jahren vollständig gezahlt und der Insolvenzplan lediglich hinsichtlich des Besserungsscheins noch nicht erfüllt worden ist6.

33.106

Eine vorzeitige Aufhebung der Überwachung ist möglich, wenn die Ansprüche, deren Erfüllung überwacht werden, erfüllt sind oder die Erfüllung dieser Ansprüche gewährleistet ist (§ 268 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Gewährleistet ist Erfüllung der Gläubigeransprüche nur, wenn entsprechende Sicherheiten für die Erfüllung vorliegen. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Erfüllung reicht nicht aus7. Erst der Beschluss über die Aufhebung der Planüberwachung führt zur die Beendigung des Insolvenzplanverfahrens8 und ist in gleicher Weise öffentlich bekannt zu machen wie die Überwachung selbst. Mit der Rechtskraft des Aufhebungsbeschlusses erlangt der Schuldner bzw. die Übernahmegesellschaft die volle Verfügungsbefugnis über das gesamte Vermögen. Zustimmungsvorbehalte (§ 263 InsO) entfallen. Der in § 264 InsO festgelegte Nachrang der Insolvenzgläubiger gegenüber Neugläubigern entfällt, soweit sie nicht dem festgelegten Kreditrahmen unterfallen. Der Verwalter oder ein Sachwalter hat die in seinem Besitz befindlichen aus der Überwachung resultierenden Unterlagen an das Schuldner-

33.107

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Thies in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 7. Aufl. 2019, § 261 InsO Rz. 6. Lissner, ZInsO 2012, 1452, 1454. Hess, Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2020, § 261 Rz. 10. Soweit von einigen Gerichten (vgl. z.B. AG Duisburg v. 1.4.2003 – 62 IN 187/02, NZI 2003, 447 f.) angenommen wird, die Frist könne mit Zustimmung des Schuldners verlängert werden, ist dem nicht zuzustimmen. Vgl. Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 268 InsO Rz. 10; Haas in Kayser/Thole, § 268 InsO Rz. 2; Hess, § 268 InsO Rz. 1. BSG v. 29.5.2008 – B 11a AL 57/06 R, ZIP 2008, 1889; Bestätigung und Weiterführung von BSG v. 21.11.2002 – B 11 AL 35/02, ZIP 2003, 157 = BSGE 90, 157. LSG NRW v. 10.4.2014 – L 16 AL 171/11, ZIP 2014, 1602. Breutigam in Blersch/Goetsch/Haas, § 268 InsO Rz. 5; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 268 InsO Rz. 6; Frank in Braun, § 268 InsO Rz. 3; Thies in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 268 InsO Rz. 3. Nach Auffassung von Lüer/Streit (in Uhlenbruck, § 268 InsO Rz. 3) genügt es, dass die Erfüllung gewährleistet ist. LG Frankfurt v. 3.12.2013 – 2-14 O 85/13, Rz. 24, bestätigt durch OLG Frankfurt v. 20.10.2014 – 23 U 1/14.

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§ 33 Rz. 33.107 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

unternehmen bzw. die Übernahmegesellschaft herauszugeben1. Auch der Insolvenzbeschlag nach § 263 Satz 2, § 81 Abs. 1, § 82 InsO entfällt. Die Aufhebung der Überwachung ist in den Registern entsprechend § 268 Abs. 2 Satz 2, § 267 Abs. 3, § 31, § 32 InsO zu vermerken und entsprechende Eintragungen sind zu löschen.

6. Kosten der Überwachung 33.108

Nach § 269 Satz 1 InsO trägt der Schuldner die Kosten der Überwachung. Im Fall des § 260 Abs. 3 InsO hat die Übernahmegesellschaft für die durch die Überwachung anfallenden Kosten einzustehen (§ 269 Satz 2 InsO). Zu den Kosten der Überwachung gehören auch die Vergütung des Insolvenzverwalters2 und der Mitglieder des Gläubigerausschusses3, nicht dagegen die Kosten eines Sachwalters. Im Insolvenzplan kann die Kostentragungspflicht abweichend geregelt werden4. Es empfiehlt sich, die Vergütungs- und Auslagenansprüche vor der Aufhebung der Überwachung zu berichtigen5. Jedoch besteht auch nach Aufhebung der Überwachung die Möglichkeit, etwaige Kostenersatzansprüche durchzusetzen, denn der Festsetzungsbeschluss stellt einen Vollstreckungstitel dar6.

1 OLG Stuttgart v. 3.1.1984 – 8 W 477/83, ZIP 1984, 1385 = GmbHR 1984, 240; LG Hannover v. 5.7.1972 – 23 T 2/72, KTS 1973, 191; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 268 InsO Rz. 12; Hess, § 268 InsO Rz. 4; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 268 InsO Rz. 5; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 268 InsO Rz. 16. 2 Das Insolvenzgericht hat die Vergütung für die Überwachung des Insolvenzplans jedenfalls dann im Sinne eines Vollstreckungstitels gegen den ehemaligen Schuldner festzusetzen, wenn dieser die Kosten der Überwachung materiellrechtlich zu tragen hat und die Überwachertätigkeit durch den ehemaligen Insolvenzverwalter wahrgenommen worden ist (LG Memmingen v. 28.2.2011 – 44 T 207/11, ZInsO 2011, 1567). 3 S. BGH v. 6.5.2021 – IX ZR 57/20, ZIP 2021, 1282 zur Zulässigkeit einer Vereinbarung zwischen Schuldner und Mitglieder eines Gläubigerausschusses über die Vergütung der Ausschussmitglieder. 4 Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 269 InsO Rz. 10; Smid/Rattunde, Der Insolvenzplan, S. 327 Rz. 18.14 ff.; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 269 InsO Rz. 1; Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 269 InsO Rz. 2, 2a/b, 3–6; Andres in Andres/Leithaus, § 269 InsO Rz. 1; Mai, Insolvenzplanverfahren, S. 135, Rz. 366. 5 Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 269 InsO Rz. 8; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 269 InsO Rz. 14. 6 Jaffé in Frankfurter Kommentar zur InsO, § 269 InsO Rz. 2b; Haas in Kayser/Thole, § 269 InsO Rz. 1; Lüer/Streit in Uhlenbruck, § 269 InsO Rz. 3; Frank in Braun, § 269 InsO Rz. 3; a.A. Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl. 2020, § 269 InsO Rz. 15, der darauf verweist, dass mit dem Vergütungsfestsetzungsbeschluss grundsätzlich nur die Höhe der Vergütung des Insolvenzverwalters und der Mitglieder des Gläubigerausschusses festgesetzt werde. Der Vergütungsbeschluss enthalte in der Regel keine Entscheidung über die Kostentragungspflicht.

1058 | Vallender

§ 34 Besonderheiten bei der GmbH & Co. KG I. GmbH-Insolvenz und KG-Insolvenz Über das Verhältnis der GmbH-Insolvenz zur KG-Insolvenz (getrennte oder konsolidierte Abwicklung?) informieren die Ausführungen bei Rz. 29.5 ff. Die Gesellschaften können im Insolvenzverfahren getrennte Wege gehen, aber im Ausgangspunkt verdient eine konsolidierte Unternehmensinsolvenz den Vorzug. Diese besteht, wenn über beide Gesellschaftsvermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, in einer Verzahnung der Insolvenzverfahren.

34.1

II. Die Kommanditgesellschaft als Zentrum des Insolvenzplanverfahrens Im Insolvenzplanverfahren steht regelmäßig die Kommanditgesellschaft als Unternehmensträgerin im Mittelpunkt (vgl. schon Rz. 29.22). Ein auch im Verfahren der GmbH-Insolvenz zu vollziehender koordinierter Insolvenzplan ist möglich (auch dazu Rz. 29.22). Ziel des Insolvenzplans kann es aber auch sein, sich der gleichfalls insolventen Komplementär-GmbH zu entledigen, falls dies nicht schon geschehen ist, und eine neue Komplementärin zu gründen. Diese Maßnahme kann auch Gegenstand eines bedingten Insolvenzplans nach § 249 InsO sein (vgl. wiederum Rz. 29.22).

34.2

III. Fortsetzung oder Vollbeendigung der insolventen GmbH & Co. KG 1. Fortsetzung Ist eine GmbH & Co. KG durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen aufgelöst, das Verfahren aber auf Antrag des Geschäftsführers der Komplementär-GmbH eingestellt oder nach der Bestätigung eines Insolvenzplans, der den Fortbestand der Gesellschaft vorsieht, aufgehoben, so können die Gesellschafter die Fortsetzung der Gesellschaft beschließen (näher Rz. 30.38). Die Fortsetzung kann und wird häufig Gegenstand des Insolvenzplans sein. Ein Fortsetzungsbeschluss muss solchenfalls sowohl für die KG als auch für die Komplementär-GmbH gefasst werden. Das gilt auch für die sog. doppelstöckige GmbH & Co. KG1. Wird die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Komplementär-GmbH mangels Masse abgelehnt (§ 26 Abs. 1 Satz 1 InsO), so ist sie gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG aufgelöst. Sie bleibt im Fall der Simultaninsolvenz beider Gesellschaften als Liquidationsgesellschaft Komplementärin der Kommanditgesellschaft (str.; dazu Rz. 29.7)2, scheidet also nicht analog § 131 Abs. 3 Nr. 2 HGB aus der KG aus. Anders als im Fall der Vermögenslosigkeit kann eine lediglich im Sinne von § 26 InsO massearme GmbH unter Beseitigung ihrer Insolvenz durch Beschluss fortgeführt werden (Rz. 29.4). Doch ist dies umstritten3. Auch aus praktischen Gründen liegt näher, dass die Komplementär-GmbH ausscheidet und voll1 Kübler/Prütting/Noack, InsO, Gesellschaftsrecht Rz. 184; Hirte in Uhlenbruck, § 11 InsO Rz. 364. 2 Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 136; Karsten Schmidt, GmbHR 2002, 1209, 1213. 3 Nachweise zur abweichenden herrschenden Meinung bei Scheller in Scholz, § 60 GmbHG Rz. 116.

Karsten Schmidt | 1059

34.3

§ 34 Rz. 34.3 | 8. Teil Das Insolvenzplanverfahren

beendet wird, während ein Kommanditist oder eine neu zu gründende Kapitalgesellschaft persönlich haftender Gesellschafter wird. Die Fortsetzung kann auch dann noch beschlossen werden, wenn das Insolvenzverfahren durchgeführt und nach Vollzug der Schlussverteilung aufgehoben wurde (§ 200 Abs. 1 InsO). Zwingende Voraussetzung ist aber immer, dass Vermögen vorhanden ist und der Insolvenzgrund beseitigt wird.

2. Liquidation 34.4

Auf die Vollabwicklung der GmbH & Co. KG im Insolvenzverfahren wurde unter Rz. 30.39 hingewiesen. Hervorgehoben sei, dass die Abwicklung auch durch den gestaltenden Teil eines Insolvenzplans geregelt werden kann.

1060 | Karsten Schmidt

9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten bei Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren I. Verhältnis Insolvenzverfahren, Eigenverwaltungsverfahren, Schutzschirmverfahren Der Anteil der Eigenverwaltungen hat sich im Jahr 2018 geringfügig auf 3,46 % gesteigert. Deutlich überproportional wird dieses Instrument von größeren Unternehmen genutzt. So ist in der Presse regelmäßig zu lesen, das Unternehmen XY habe sich zur Vermeidung der Insolvenz in ein Sanierungsverfahren begeben. Diese öffentliche Wahrnehmung ist unzutreffend, war aber vom Gesetzgeber durchaus beabsichtigt, wird als Ziel der im März 2012 mit dem ESUG1 und der im Januar 2021 mit dem SanInsFoG in Kraft getretenen Reformen doch die Verbesserung der Sanierungschancen unterstrichen2. Die Ergänzungen durch das ESUG betrafen nur die Eigenverwaltung, die eine Variante des Insolvenzverfahrens ist und in „besonders intensiver Weise der Sanierung“ dient3. Mit Wirkung ab 1.1.2021 hinzugekommen ist das StaRUG, das eine weitgehend gerichtsfreie Restrukturierung ermöglicht, sich aber nur auf die finanzwirtschaftliche Sanierung beschränkt, weil Eingriffe in schwebende Geschäfte nicht zulässig sind. Das ist weiterhin dem Insolvenzverfahren vorbehalten. Sein Grundmuster, das als Regelverfahren bezeichnet wird, ist die Bestellung eines Insolvenzverwalters. Die Eigenverwaltung unterscheidet sich davon allein dadurch, dass – ganz nach dem US-amerikanischen Vorbild des debtor in possession4 – die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 80 InsO) beim Schuldner verbleibt, § 270 Abs. 1 Satz 1, § 282 InsO. Da der Schuldner als Verwalter agiert, muss er auch die Vorschriften einhalten, die für das Regelverfahren gelten (§ 270 Abs. 1 Satz 2 InsO), soweit sich aus den relativ wenigen Bestimmungen über die Eigenverwaltung nichts anderes ergibt. Das betrifft insbesondere die Kontrolle des Schuldners und die Durchsetzung von einigen besonders konfliktträchtigen Ansprüchen.

35.1

Das Schutzschirmverfahren ist nur eine „Spielart“5 des auf einen Eigenverwaltungsantrag folgenden Vorverfahrens („Eröffnungsverfahren“) bis zur Entscheidung über die Insolvenzeröffnung. Vom normalen Eigenverwaltungs-Eröffnungsverfahren unterscheidet es sich allein dadurch, dass der Schuldner einen Anspruch auf bestimmte Anordnungen im Eröffnungsverfahren hat. Dazu gehört die Bewilligung einer Schonfrist von längstens drei Monaten zur Er-

35.2

1 „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ vom 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. 2 BT-Drucks. 17/5712, S. 1 f. 3 So OLG Düsseldorf v. 19.7.2021 – 3 Wx 152/20, ZIP 2021, 2547 = GmbHR 2022, 87. 4 BT-Drucks. 12/2443, S. 116. 5 Wimmer, Das neue Insolvenzrecht nach der ESUG-Reform, 2012, S. 25.

Spliedt | 1061

§ 35 Rz. 35.2 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

arbeitung eines Insolvenzplans, die vorläufige Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und vor allem die Bestellung einer vom Schuldner benannten Person zum vorläufigen Sachwalter, es sei denn, dass sie offensichtlich ungeeignet ist. All dies ist auch im Eröffnungsverfahren der Eigenverwaltung ohne Schutzschirmantrag möglich, nur dass die Anordnungen im Ermessen des Insolvenzgerichts stehen. Es wird aber ohne sachlichen Grund regelmäßig keine Veranlassung haben, Anregungen des Schuldners nicht zu folgen. Nach § 10a InsO hat der Schuldner, der kein i.S. von § 22a Abs. 1 InsO kleines Unternehmen betreibt, Anspruch auf ein Gespräch mit dem Gericht schon vor Einreichung des Insolvenzantrages. Hier werden im allgemeinen auch Personalien hinsichtlich sowohl des Sachwalters als auch der Mitglieder eines Gläubigerausschusses erörtert. Votiert der alsbald eingesetzte vorläufige Gläubigerausschuss einstimmig für eine Person als vorläufigen Sachwalter, muss das Gericht sie bestellen, es sei denn, dass sie ungeeignet ist, § 270b Abs. 1, 2, § 274 Abs. 1, § 56a Abs. 2 InsO. In der Praxis wird ein Schuldner also meist schon im Vorfeld eines Antrags Konsens in der Personalie erzielen. Auch die im Schutzschirmverfahren zu gewährende Schonfrist von bis zu drei Monaten hat mehr theoretische Bedeutung, weil die Dauer in der Praxis durch den Insolvenzgeldzeitraum bestimmt wird. Unterm Strich sind die Vorteile des Schutzschirmverfahrens vor allem psychologischer Natur. Das ESUG und Folgeänderungen haben damit eine auf eine Sanierung ausgerichtete „Insolvenzkultur“1 geschaffen. Die Insolvenz soll zum vorhersehbaren betriebswirtschaftlichen Kalkül werden, dessen Anwendung bei einigen Gerichten allerdings noch auf Widerstand stößt2.

35.3

Nachfolgend werden die Grundform der Eigenverwaltung (Rz. 35.6 ff.) und dann die Besonderheiten des Schutzschirmverfahrens (Rz. 35.101 ff.) dargestellt.

35.4–35.5

Einstweilen frei.

II. Eigenverwaltung ohne Schutzschirm 1. Antrag 35.6

Die Eigenverwaltung setzt zunächst einen „normalen“ Insolvenzantrag voraus. Der Antrag auf Eigenverwaltung ist nur eine Ergänzung für diese Verfahrensvariante, die nicht von Amts wegen angeordnet werden darf. Auch wenn die Einleitung des Insolvenzverfahrens von einem Gläubiger beantragt wird, kann der Schuldner bis zur Eröffnungsentscheidung die Eigenverwaltung beantragen. Zwar sieht das Gesetz nicht vor, dass er bei einem bereits vorliegenden Fremdantrag zusätzlich einen Eigenantrag stellen muss. Hält er jedoch den Fremdantrag wegen der Verkennung eines Insolvenzgrundes irrtümlich für unzulässig, ist das ein Indiz für die Nachteilhaftigkeit der Eigenverwaltung. Je später der Antrag gestellt wird, umso näher liegt jedoch die Vermutung, dass die Geschäftsführung zögerlich handelt und Nachteile für die Gläubiger entstehen können. Wenn schon die Initiative für die Einleitung des Insolvenzverfahrens nicht vom Schuldner stammt, sollte er den Antrag spätestens anlässlich der auf einen Fremdantrag hin durchzuführenden Anhörung (§ 14 Abs. 2 InsO) einreichen. Ab Verfahrenseröffnung kann die Eigenverwaltung nur noch von der Gläubigerversammlung beantragt und angeordnet werden, sofern der Schuldner zustimmt (§ 271 InsO).

35.7

Der Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens muss den Anforderungen der §§ 13, 15, 15a InsO genügen. Bestandteil des Insolvenzantrags sollte eine Liste möglicher Mitglieder ei1 Vallender, NZI 2008, 838 ff. 2 Exemplarisch AG Hamburg v. 19.12.2013 – 67c IN 501/13, ZIP 2014, 487.

1062 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.10 § 35

nes vorläufigen Gläubigerausschusses sein (§ 21 Abs. 2 Nr. 1a InsO) samt deren Einverständniserklärungen1; denn gemäß § 270f Abs. 3 i.V.m. § 270b Abs. 3 Satz 1 und 2 InsO ist der Ausschuss zu dem Antrag auf Eigenverwaltung möglichst zu hören. Unterstützt er ihn einstimmig, gilt die Anordnung einer vorläufigen Eigenverwaltung gemäß § 270f Abs. 3 InsO i.V.m. § 270b Abs. 3 Satz 3 InsO als nicht nachteilig, wie umgekehrt die Anordnung bei einer einstimmigen Ablehnung zu unterbleiben hat. Gleiches gilt für die Entscheidung über die Eigenverwaltung bei Eröffnung des Verfahrens, §§ 270f, 270b InsO. Besteht noch keine Antragspflicht gemäß § 15a InsO, muss dem Insolvenzantrag ein Gesellschafterbeschluss vorausgehen, weil es den Gesellschaftern obliegt zu entscheiden, ob die mit der Verfahrenseröffnung verbundene Auflösung der Gesellschaft (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 InsO) eintreten oder eine Sanierung außerhalb des Verfahrens stattfinden soll2. Anderenfalls wäre auch die Verpflichtung zur Einberufung der Gesellschafterversammlung bei Verlust des hälftigen Stammkapitals (§ 49 Abs. 3 GmbHG) überflüssig3. Doch ist das Vorliegen eines ordnungsgemäß gefassten Beschlusses nicht vom Insolvenzgericht zu prüfen4, denn es kommt für die verfahrensrechtliche Wirksamkeit des Insolvenzantrags gemäß § 18 Abs. 3 InsO allein auf die Vertretungsbefugnis der Geschäftsführer an. Etwas anderes wäre mit dem Eilcharakter des Insolvenzverfahrens nicht vereinbar.

35.8

Eine Begründung des Antrages auf Eigenverwaltung sieht das Gesetz im klassischen Sinne nicht vor. Die Ablehnung setzt voraus, dass Umstände bekannt sind, die Nachteile für die Gläubiger erwarten lassen. Die Begründungslast für eine Ablehnung liegt beim Insolvenzgericht, was § 270b Abs. 4 InsO für die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters vorschreibt, weil das zugleich die Ablehnung einer vorläufigen Eigenverwaltung bedeutet, vgl. § 270e InsO. Die Beibringungslast liegt hingegen beim Schuldner5, von dem das Gericht Informationen anfordern wird. Das Verfahren sollte er dadurch erleichtern, dass er seinerseits schon im Antrag Umstände darlegt, die die Eigenverwaltung als für die Gläubiger vorteilhaft erscheinen lassen6. Das beinhaltet Angaben zum Zeitpunkt, in dem ein Insolvenzgrund eintrat, damit eine etwaige für die Gläubiger nachteilige Verschleppung ausgeschlossen werden kann. Des Weiteren ist die Erläuterung eines planvollen Vorgehens wichtig, so dass das Sanierungskonzept grob umrissen werden muss.

35.9

Die Zugangsregelungen zur Eigenverwaltung wurden durch das SanInsFoG präzisiert. Nunmehr soll der Schuldner mit Antragstellung eine sog. Eigenverwaltungsplanung nach Maßgabe des § 270a InsO vorlegen. Anhand dieser Eigenverwaltungsplanung soll das Gericht die Anordnung der Eigenverwaltung, insbesondere deren Erfolgsaussichten, prüfen7. § 270a InsO umfasst in Abs. 1 eine Reihe von Planungen sowie Planungsprämissen und in Abs. 3 diverse

35.10

1 Zur Bestellung der Ausschussmitglieder Rz. 19.16 ff. 2 OLG München v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, GmbHR 2013, 590 m. Anm. Leinekugel; Geißler, ZInsO 2013, 919, 922; Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593; Schäfer, ZIP 2013, 2237, 2241 f.; Spliedt in FS Vallender, 2015, S. 613, 614 ff.; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, 2014, Rz. 75 ff.; Madaus, ZIP 2014, 500, 502; Haas in Noack/Servatius/Haas, § 60 GmbHG Rz. 29; Balthasar, NZI-Beilage 2021, 18, 20; a.A. Eidenmüller, ZIP 2014, 1197, 1203; Hölzle, ZIP 2013, 1846, 1849 f.; Meyer-Löwy/Pickerill, GmbHR 2013, 1065, 1068; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370, 2372. 3 Wertenbruch, DB 2013, 1592, 1593. 4 Lang/Muschalle, NZI 2013, 953, 955 f.; Brünkmans/Uebele, ZInsO 2014, 265, 268; Fehrenbach, ZIP 2020, 2370, 2372. 5 Undritz in Karsten Schmidt, § 270 InsO Rz. 9; Henkel, ZIP 2015, 563, 570. 6 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 270 InsO Rz. 24. 7 Proske, ZRI 2020, 641, 643; Harig/Höfer/Reus, NZI 2021, 993, 994 ff.

Spliedt | 1063

§ 35 Rz. 35.10 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

Erklärungspflichten, die insbesondere dazu dienen, die Zuverlässigkeit des Schuldners zu belegen. Der Antrag umfasst insbesondere nach Nr. 1) einen Finanzplan für sechs Monate als „Herzstück“ und Ausgangspunkt; Nr. 2) das Sanierungskonzept als Zielplanung; Nr. 3) eine Darstellung des Ist-Zustands der Verhandlung mit den Beteiligten; Nr. 4) eine Darstellung zur Gewährleistung des Erfüllens der insolvenzrechtlichen Pflichten; sowie Nr. 5) einen Kostenvergleich im Vergleich zum Regelverfahren. Proske weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Darlegungsanforderungen an das Eigenverwaltungsverfahren die des speziellen Schutzschirmverfahrens bei weitem übersteigen1. Zur Erfüllung dieser Voraussetzung bedarf es einer funktionsfähigen Geschäftsführung und nicht zuletzt genügend Liquidität. Das Hinzuziehen von insolvenzrechtlichen Fachkräften, sofern nicht vorhanden, wird durch § 270a Abs. 1 Nr. 4 InsO unumgänglich2. Insofern sollte auf die besonderen Vorteile der handelnden Personen hingewiesen werden, weil dies der wesentliche Unterschied zur Fremdverwaltung ist. Hierbei kann es sich um persönliche Beziehungen zu Geschäftspartnern oder besondere Fähigkeiten im leistungswirtschaftlichen Bereich handeln. Auch sollte dargestellt werden, dass die insolvenzverfahrensrechtlichen Anforderungen beherrscht werden3. Häufig wird ein Insolvenzverwalter als Chief Restructuring Officer („CRO“) in die Geschäftsführung berufen4, um damit die insolvenzrechtliche Expertise zu unterstreichen. Die Organstellung von Personen mit insolvenzrechtlicher Expertise wird wegen der analogen Anwendung der §§ 60 f. InsO auf Geschäftsführer des Schuldners gelegentlich sogar als Voraussetzung für die Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung genannt. Der Regierungsbegründung zu § 270a InsO ist jedoch zu entnehmen, dass die Erfüllung insolvenzrechtlicher Pflichten auch durch Generalbevollmächtigte oder Berater sichergestellt werden kann5. Die leistungswirtschaftliche Sanierung beherrschen allerdings nur sehr wenige Insolvenzverwalter. Ihr Know-how liegt eher im Verfahrensablauf und in der finanzwirtschaftlichen Sanierung, so dass sie eher die Position eines „Chief Insolvency Officer“ („CIO“) ausfüllen und als CRO eine weitere in der betriebswirtschaftlichen Sanierung erfahrenen Person erforderlich ist. Beide können ihre Aufgaben auch als Berater erfüllen. Die Geschäftspartner erwarten allerdings, dass der Schuldner – repräsentiert durch seine Organe – und nicht nur ein Berater Verhandlungen führt. Das Hinzuziehen von insolvenzrechtlichem Fachpersonal wird in der Regel mit nicht geringen Kosten verbunden sein.

35.11

Die Anforderungen an den nach § 270a Abs. 1 Nr. 1 InsO erforderlichen Finanzplan6 sind „anspruchsvoll“7. Die Planungsprämissen können nur auf einem kaufmännisch sinnvollen Verhalten der Geschäftspartner, Mitarbeiter und Gesellschafter basieren. Ein Insolvenzereignis führt jedoch regelmäßig zu Verunsicherung und einer vorübergehenden „Insolvenzstarre“. Kunden halten Zahlungen und Aufträge zurück, Lieferanten verlangen Vorkasse oder gar die Bezahlung von Rückständen. Banken lassen keine Verfügungen mehr zu, auch wenn sich das 1 2 3 4 5 6 7

Proske, ZRI 2020, 641, 643. Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1123. AG Hamburg v. 19.12.2013 – 67c IN 501/13, ZIP 2014, 487; Vallender, DB 2015, 231, 233. Zum Aufgabenbereich: Klein/Thiele, ZInsO 2013, 2233 ff. BT-Drucks. 19/24181, S. 205. Ausführlich Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1121 f. Thole, NZI-Beilage 2021, 90, 92.

1064 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.15 § 35

Risiko der Beteiligten bspw. bei einer Ermächtigung zur Begründung „künftiger“ Masseschulden nicht erhöht. Eine rationale Planung irrationalen Verhaltens ist mit hohen Unsicherheiten behaftet, so dass sich ein dem Insolvenzantrag beigefügter Plan alsbald als falsch erweisen wird, was eine Information an das Gericht erfordert, § 270c Abs. 2 InsO. Das heißt nicht, dass die vorläufige Eigenverwaltung gemäß § 270c Abs. 1 InsO aufgehoben werden muss, solange sie noch gemäß § 270b Abs. 2 InsO sinnvoll ist. Ebenso mit großen Unsicherheiten behaftet ist das gemäß § 270a Abs. 1 Nr. 2 InsO vorzulegende Sanierungskonzept. Hierfür bieten die Prüfungspunkte nach dem vom IDW veröffentlichten Standard S9-Gutachten Anhaltpunkte1, ohne dass es jedoch von einem Wirtschaftsprüfer bestätigt werden muss. Es bleibt zwar nach wie vor ein Grobkonzept. So werden das Geschäftsmodell, die Geschäftsprozesse, die Situation im Markt und Wettbewerb sowie die Unternehmenskennzahlen berücksichtigt.

35.12

Die Darlegung der Verhältnisse zu den verschiedenen Stakeholdern2 (§ 270a Abs. 1 Nr. 3 InsO) verschafft dem Gericht einen Einblick in die Struktur der Unternehmensgeschäfte, um Interessenskonflikte zu erkennen. Der Schuldner sollte darauf eingehen, ob Gläubiger eine Eigenverwaltung im Rahmen der bisherigen Sanierungsgespräche schon abgelehnt haben. Zwar kann ein einziger Gläubiger die Anordnung im Gegensatz zum früheren Recht nicht mehr verhindern. Deshalb hat auch eine vorsorglich beim Gericht hinterlegte Schutzschrift eines Gläubigers nur den Charakter einer Anregung3. Etwaige Bedenken sollten jedoch von vornherein entkräftet werden4.

35.13

Bisher schon von den Gerichten verlangt und nunmehr gemäß § 270a Abs. 1 Nr. 5, § 270b Abs. 2 InsO als angabepflichtiges Entscheidungskriterium gesetzlich festgehalten ist ein Kostenvergleich des Eigenverwaltungsverfahrens mit dem Regelinsolvenzverfahren (§ 270a Abs. 1 Nr. 5 InsO). Diese lassen sich zum einen nicht genau für die Zukunft beziffern5, noch geht eine Benachteiligung der Gläubiger unmittelbar bei höheren Kosten im Eigenverwaltungsverfahren einher. Die Verfahrenskosten hängen von der Bemessungsgrundlage für die Gerichtskosten und die Verwaltervergütung sowie von Zuschlägen für die Vergütung ab. Beides ist von vornherein nur grob zu schätzen6. Die Praxis behilft sich damit, dass sich die insolvenzrechtlichen Berater verpflichten, nicht mehr als 40 % einer am Ende des Verfahrens zu ermittelnden Verwaltervergütung zu liquidieren, so dass die Summe aus Berater- und Verwaltervergütung 100 % der an einem Regelinsolvenzverfahren anfallenden Vergütung nicht überschreitet. Der Sachwalter erhält 60 % der Vergütung eines Regelverwalters, § 12 InsVV.

35.14

Eine Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung setzt nach (§ 270f Abs. 3 InsO i.V.m.) § 270b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO schließlich voraus, dass die vorgenannte Eigenverwaltungsplanung „vollständig“ und „schlüssig“ ist. Schlüssig ist ein Konzept dann, wenn es nach Bewertung des Gerichts ohne inhaltliche Detailprüfung und ohne second-guessing dazu geeignet ist, das angestrebte Sanierungsziel i.S. des § 270a Abs. 1 Nr. 2 InsO zu erreichen7. Es ist somit eine Formalprüfung analog § 231 InsO8. Teilweise wird auch verlangt, dass die Planungsergeb-

35.15

1 2 3 4 5 6 7 8

S. Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1120, a.A. Erbe, NZI 2021, 753, 755. Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1123. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 270 InsO Rz. 41 f. Zur Bedeutung einer „Schutzschrift“ für das Insolvenzgericht s. Frind, WM 2018, 1920, 1922. Näher Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1124. Ähnlich kritisch Proske, ZRI 2020, 641, 644. So Thole, NZI-Beilage 2021, 90, 93. So Frind, ZIP 2021, 171, 175.

Spliedt | 1065

§ 35 Rz. 35.15 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

nisse überwiegend wahrscheinlich sind1. Ferner dürfen „amtswegig“ keine Umstände bekannt sein, aus denen sich ergibt, dass die Eigenverwaltungsplanung in wesentlichen Punkten auf unzutreffenden Tatsachen beruht2. Weist der Eigenverwaltungsplan behebbare Mängel auf, sieht § 270b Abs. 1 Satz 2 InsO eine Anordnungsmöglichkeit bei binnen 20 Tagen nachgebesserten Eigenverwaltungsplänen vor. Sodann sind eine Bestellung des vorläufigen Sachwalters und die vorläufige Eigenverwaltung selbst anzuordnen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn ein Tatbestand nach § 270b Abs. 2 InsO verwirklicht ist. Demnach muss der Schuldner erklären, ob (erhebliche) Zahlungsrückstände gegenüber bestimmten Gläubigern und Vollstreckungsoder Verwertungssperren in den letzten 3 Jahren nach InsO oder StaRUG bestanden sowie ob er in diesem Zeitraum die Offenlegungspflichten nach §§ 325–328, § 339 HGB erfüllt hat3. Ist dies zu bejahen, wird in aller Regel die Zuverlässigkeit des Schuldners („Eigenverwaltungswürdigkeit“)4 anzuzweifeln sein, so dass es interessensgerecht erscheint, die Bestellung des vorläufigen Sachwalters nur vorzunehmen, wenn erwartbar ist, dass trotz dessen der Schuldner seine Geschäftsführung an den Interessen des Gläubigers ausrichten wird. Das kann bei mittelständischen Unternehmen bspw. der Fall sein, wenn der Jahresabschluss nicht spätestens sechs Monate nach dem Bilanzstichtag aufgestellt wurde. Das ist zwar nach § 264 Abs. 1 HGB erforderlich. Die meisten Schuldner verlassen sich jedoch auf den Steuerberater, die sich irrtümlich an den längeren steuerrechtlichen Erklärungsfristen orientieren. In der Literatur wird die durch die ESUG-Evaluation geforderte Konkretisierung der Anforderungen an das Eigenverwaltungsverfahren begrüßt5, in diesem Zusammenhang jedoch zu Recht diskutiert, ob ein gescheitertes StaRUG-Verfahren ein anschließendes Eigenverwaltungsverfahren ausschließen soll6.

35.16

Wesentlich ist auch die Einbindung durch Anhörung des vorläufigen Gläubigerausschusses zum Antrag des Schuldners auf (vorläufige) Eigenverwaltung (§ 270f Abs. 3 InsO i.V.m.) § 270b Abs. 3 InsO. Dies gilt jedoch nur bei Fällen zweifelhafter Eigenverwaltungswürdigkeit. Zur Stärkung der Stellung der Gläubiger ist eine Anhörung auch außerhalb des Anwendungsbereiches des Abs. 2 sinnvoll und interessensgerecht.

2. Eröffnungsverfahren a) Befugnisse des Schuldners aa) Sicherungsmaßnahmen

35.17

Für das Insolvenzeröffnungsverfahren gelten gemäß § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO die allgemeinen Vorschriften sowie die in §§ 270b, 270c InsO vorgesehenen Besonderheiten. Sofern der Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung und die damit verbundene Eigenverwaltungsplanung vollständig und schlüssig ist (§ 270b Abs. 1 Satz 1 InsO), darf keine Verfügungsbeschränkung i.S. von § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO angeordnet werden. Diese kann nur nach Ermessen des Gerichts in besonderen Anordnungsfällen erfolgen (§ 270c Abs. 3 Satz 1 InsO). Deshalb ist statt eines vorläufigen Insolvenzverwalters auch nur ein vorläufiger Sachwalter zu bestellen (§ 270b Abs. 1 und 2 InsO). Vor dem ESUG gab es eine solche Vorschrift nicht. Es wurde häufig ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt und damit vollendete Tatsachen geschaffen, die die angestrebte Eigenverwaltung unterliefen. Nunmehr soll der Schuldner seine Verwaltungs1 2 3 4 5 6

Ballmann/Uhlenbruck, DB 2021, 1450, 1451; Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1121. Frind, ZIP 2021, 171, 172. Ausführlich Stefan/Oberg/Poppe, ZInsO 2021, 1116, 1120. Thole, NZI-Beilage 2021, 90, 93. Frind, ZIP 2021, 171, 173 m.w.N. So auch Erbe, NZI 2021, 753, 754 m.w.N.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.21 § 35

und Verfügungsbefugnis möglichst vollumfänglich behalten. Da über vorläufige Maßnahmen schon unmittelbar nach dem Antrag zu einem Zeitpunkt entschieden werden muss, zu dem die Nachteilsfrage nur überschlägig beurteilt werden kann, kann das Gericht einen vorläufigen Sachwalter mit weiteren Prüfungen beauftragen. In § 270b Abs. 2 InsO hat der Gesetzgeber drei Vermutungstatbestände aufgenommen, bei deren Vorliegen die Eigenverwaltung für die Gläubiger zu Nachteilen i.S. des § 270b Abs. 2 Nr. 2 InsO führen könnte, es sei denn, dass der Schuldner trotzdem noch in der Lage ist, die Geschäftsführung an den Interessen der Gläubiger auszurichten, was er durch die Vermutung entkräftende Tatschen vorzutragen hat. Verfügungsbeschränkungen unter Bestellung eines vorläufigen Sachwalters soll das Gericht laut § 270c Abs. 3 Satz 2 InsO nur anordnen, wenn die Eigenverwaltungsplanung des Schuldners Mängel aufweist (§ 270b Satz 2 InsO). Sind die Mängel nicht behebbar, fehlt es schon an der Berechtigung zur vorläufigen Eigenverwaltung. Im Übrigen ist eine Verfügungsbeschränkung des Schuldners nicht möglich. Auch auf § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO kann insofern nicht mehr zurückgegriffen werden, da der Gesetzgeber hier eine abschließende Regelung geschaffen hat.

35.18

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sogar für die Eröffnungsentscheidung ein non liquet bei Beantwortung der Nachteilsfrage zugunsten des Schuldners wirkt. Das muss dann umso mehr gelten für die Entscheidung über vorläufige Sicherungsmaßnahmen. Auch hier gilt im Übrigen wie im Regelinsolvenzverfahren, dass Eingriffe in die Verfügungsbefugnis des Schuldners dem Verhältnismäßigkeitsgebot entsprechen müssen1. Falls der Schuldner selbst Sicherungsmaßnahmen vorschlägt, können sie natürlich angeordnet werden. Das mag gelegentlich zur Vertrauensbildung sinnvoll sein, um eine spätere Anfechtung auszuschließen2 oder einen Neukredit an Vermögensgegenständen zu besichern; denn gegen eine insolvenzrechtliche Verfügungsbeschränkung verstoßende Maßnahmen sind insgesamt unwirksam (§ 81 Abs. 1 InsO), so dass der Gläubiger keinen Verlust seines Sicherungsguts durch einen gutgläubigen Erwerb befürchten muss. In der Regel wird es aber so sein, dass eine Eigenverwaltung keinen Erfolg haben wird, wenn die Gläubiger dem Schuldner misstrauen.

35.19

Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Schuldner und vorläufigen Eigenverwalter kommt gemäß § 270c InsO dem Sachwalter die Aufsicht und Kontrolle zu, während der Schuldner die laufenden Geschäfte weiter selbst führt. Dies soll gewährleisten, dass eine bestmögliche fachliche Expertise in der Unternehmensleitung besteht und dabei eine Gläubigerbenachteiligung ausgeschlossen wird.

35.20

bb) Masseschuldermächtigung Bis zur Verfahrenseröffnung begründete Verbindlichkeiten dürfen später nur mit der Insolvenzquote bedient werden (§§ 38, 87, 187 ff. InsO). Damit trotzdem Verträge mit hinausgeschobener Abwicklung geschlossen werden können, hat die Rechtsprechung für das Regelinsolvenzverfahren in Anlehnung an die gerichtliche Ausgestaltungsbefugnis des § 22 Abs. 2 InsO das Institut der sog. Einzelermächtigung entwickelt. Das Gericht darf einen vorläufigen Insolvenzverwalter auch ohne Übergang der Verfügungsbefugnis zur gesonderten Begründung künftiger Masseschulden analog § 55 Abs. 2 InsO ermächtigen3. Bei der vorläufigen 1 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625. 2 BGH v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, ZIP 2005, 314; BGH v. 25.4.2013 – IX ZR 235/12, ZIP 2013, 1127 Rz. 36; BGH v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, ZIP 2013, 528. 3 BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, ZIP 2002, 1625; BGH v. 16.6.2005 – IX ZB 264/03, ZIP 2005, 1372; BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, ZIP 2007, 438; BGH v. 15.3.2012 – IX ZR 249/09, ZIP 2012, 737; Hölzle in Karsten Schmidt, § 21 InsO Rz. 65.

Spliedt | 1067

35.21

§ 35 Rz. 35.21 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

Eigenverwaltung findet sich ein dahingehender Verweis in § 270c Abs. 4 InsO. Diese Vorschrift soll das richterliche Ermessen beschränken, um dem Schuldner eine größere Rechtssicherheit zu geben1. Liegen die Voraussetzungen für eine vorläufige Eigenverwaltung vor, hat (!) das Gericht eine Masseschuldermächtigung zu erteilen, wenn es der Schuldner beantragt. Etwas anderes gilt gemäß § 270c Abs. 4 Satz 2 InsO nur dann, wenn sich die Ermächtigung auf Verbindlichkeiten erstreckt, die nicht im Finanzplan berücksichtigt sind. Steuerschulden sind nach dem durch das SanInsFoG eingeführten § 55 Abs. 4 InsO auch dann Masseverbindlichkeiten, wenn keine Masseschuldermächtigung erteilt wurde. Ausreichend ist, dass sie nach der Darstellung eines vorläufigen Sachwalters begründet wurden.

35.22

Die Masseschuldermächtigung richtet sich nach den in § 270 Abs. 1 InsO erwähnten allgemeinen Vorschriften, so dass die Anforderung zu berücksichtigen sind, die für eine Masseschuldermächtigung im vorläufigen Regelinsolvenzverfahren gelten. Dort wird betont, dass es sich um eine Einzelermächtigung zur Begründung bestimmter Verbindlichkeiten handeln muss2. Praktikabel ist das bei größeren Unternehmen nicht, weil Mengen, Preise und Vertragspartner einem stetigen Wandel unterliegen, erst recht innerhalb des vom Gesetz verlangten Planungszeitraums von sechs Monaten, von denen in der Praxis bis zur drei Monate auf die vorläufige Verwaltung entfallen können. Auch kann ein Lieferant nicht wissen, ob gerade seine Forderung von der Masseschuldermächtigung gedeckt ist. Trotzdem heißt es in der Begr. RegE zu § 270c Abs. 4 InsO, dass nur die Verbindlichkeiten erfasst sind, die in dem vorgelegten Finanzplan enthalten sind3. Dem Insolvenzgericht ist es bei einer Vielzahl von Geschäftsverhältnissen jedoch nicht möglich, die Notwendigkeit der bei der Planung zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten zu prüfen, geschweige denn sich eine Überzeugung davon zu bilden, ob mit der Begründung der genannten Verbindlichkeiten die geplanten Umsätze erzielt werden können. Auch besteht auf Seiten des Schuldners ein Interesse an der Vertraulichkeit seiner Kundenund Lieferantenbeziehungen, so dass die Einzelheiten, auf denen der vorgelegte Finanzplan beruht, zumindest in einem Sonderband zur Insolvenzakte abgelegt werden sollten4. § 270c Abs. 4 Satz 2 InsO ermöglicht immerhin die Ermächtigung zur Begründung von Verbindlichkeiten außerhalb des Finanzplans. Davon sollten die Gerichte angesichts der Unmöglichkeit einer sachgerechten Prüfung von Einzelermächtigungen möglichst Gebrauch machen5.

35.23

Da somit ein Ermächtigungsbeschluss des Gerichts erforderlich ist6, kann die Frage im Hinblick auf § 275 InsO nur lauten, ob zusätzlich auch noch eine Zustimmung des Sachwalters notwendig ist, obwohl schon das Gericht den Schuldner zur Eingehung von Masseverbindlichkeiten ermächtigt hat. Diese Vorschrift kann auch schon im vorläufigen Verfahren eingreifen, § 270b Abs. 1 InsO. In entsprechender Anwendung der allgemeinen Vorschriften (§ 22 Abs. 2 InsO) darf das Gericht ein Zustimmungserfordernis für die Eingehung von Verbindlichkeiten anordnen. Diese zusätzliche Kontrollmöglichkeit durch den vorläufigen Verwalter könnte außerdem die Ermächtigung zur Begründung von Masseschulden außerhalb des Finanzplans erleichtern.

35.24

Unklar ist, ob den Sachwalter eine Haftung für die Nichterfüllung der Verbindlichkeiten trifft, wenn er deren Begründung zustimmt. § 277 Abs. 1 Satz 2 InsO greift erst nach Verfahrens1 M. Hofmann in Kübler, HRI, § 6 Rz. 103 f.; Klinck, ZIP 2013, 853, 859; Undritz, BB 2012, 1551, 1552. 2 Grundlegend BGH v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, NJW 2002, 3326 = ZIP 2002, 1625; für die vorläufige Eigenverwaltung: BGH v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 15 f., ZIP 2018, 2488. 3 BT-Drucks. 19/24181, S. 206 f. 4 Sämisch/Noffz/Haug, ZRI 2021, 741, 743. 5 A.A. Sämisch/Noffz/Haug, ZRI 2021, 741, 746; Blankenburg, ZInsO 2021, 753, 764. 6 LG Köln v. 4.7.2014 – 16 O 575/13, ZIP 2014, 1849.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.28 § 35

eröffnung ein, zumal § 277 InsO einen Gläubigerantrag voraussetzt und die bloße gerichtliche Anordnung der Zustimmungsbedürftigkeit nicht genügt1. Deshalb wird man einer vom Gericht für erforderlich erklärten Zustimmung nur Innenwirkung beimessen2. Die Masseschuldgläubiger sind ausreichend dadurch geschützt, dass der BGH die §§ 60 f. InsO auf die Geschäftsführer des Schuldners entsprechend anwendet3.

Adressat der Masseschuldermächtigung ist der Schuldner4, also die Gesellschaft, nicht die Geschäftsführung oder der vorläufige Sachverwalter5. Beiden fehlt die Befugnis, im eigenen Namen Verbindlichkeiten für den Schuldner zu begründen, so dass sie auch nicht darüber befinden können6, ob Verbindlichkeiten in den Rang künftiger Masseschulden „gehoben“ werden sollen.

35.25

Allerdings hat auch der Sachwalter kein Wahlrecht, ob eine von der Ermächtigung gedeckte Verbindlichkeit als künftige Insolvenzforderung begründet werden soll. Er kann nur von der Begründung der Verbindlichkeit absehen, trotz der Bezeichnung als „Ermächtigung“ aber nicht über den Rang der Verbindlichkeit entscheiden, um die Gläubigergleichbehandlung nicht zu verletzten7.

35.26

Gegen die Entscheidung über einen Ermächtigungsantrag gibt es kein Rechtsmittel8, und zwar weder von Gläubigern, die sich mit ihren Forderungen bspw. aus einem Dauerschuldverhältnis bei einer erteilten Einzelermächtigung übergangen fühlen, noch vom Schuldner gegen eine Ermächtigungsablehnung und nicht vom Sachwalter, selbst wenn die Ausübung der Ermächtigung von seiner Zustimmung abhängig gemacht wird, denn gemäß § 6 Abs. 1 InsO ist ein Rechtsmittel nur gegeben, wenn die InsO das ausdrücklich vorsieht. Selbst wenn man die Ermächtigung als Sicherungsmaßnahme i.S. des § 21 Abs. 1 InsO ansehen wollte9, wäre ihre Ablehnung nicht beschwerdefähig10; dies allerdings um den Preis der Rechtszersplitterung, weil der BGH keine einheitliche Linie vorgeben kann11.

35.27

Dem Schuldner in der vorläufigen Eigenverwaltung kann es ebenfalls obliegen, im Interesse einer bestmöglichen Gläubigerbefriedigung das Handelsgeschäft an einen Erwerber im Ganzen zu veräußern und mit dem Erlös die Gläubiger zu befriedigen. § 25 Abs. 1 Satz 1 HGB steht dem entgegen, da der Erwerber für die Altverbindlichkeiten des Unternehmens haften muss. Der BGH hat zwar klargestellt, dass diese Norm nicht nur bei Veräußerung des Geschäftsbetriebes durch den Insolvenzverwalter, sondern auch durch den Schuldner in der Ei-

35.28

1 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 270a InsO Rz. 27 f. 2 Frind, ZInsO 2012, 1099, 1103 f. (mit der Begründung, dass die Masseschuldermächtigung schon aus § 275 InsO folgt); Undritz in Karsten Schmidt, § 270a InsO Rz. 6. 3 BGH v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, NZI 2018, 519 = ZIP 2018, 977 m. Anm. Bitter = GmbHR 2018, 632 m. Anm. Hoos/Forster. 4 LG Duisburg v. 29.11.2012 – 7 T 185/12, ZIP 2012, 2453; AG München v. 27.6.2012 – 1506 IN 1851/12, ZIP 2012, 1470; AG Köln v. 26.3.2012 – 73 IN 125/12, ZIP 2012, 788; Undritz in Karsten Schmidt, § 270a InsO Rz. 6; Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, §§ 270, 270a InsO Rz. 22. 5 So aber AG Hamburg v. 4.4.2012 – 67g IN 74/12, ZIP 2012, 787; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 270a InsO Rz. 44. 6 A.A. Frind, ZInsO 2012, 1099, 1102 ff. und Oppermann/Smid, ZInsO 2012, 862, 864 ff., die dem Schuldner auch ohne gerichtlichen Beschluss eine Masseschuldbegründungskompetenz beimessen, für deren Ausübung es der Zustimmung des vorläufigen Sachwalters gemäß § 275 InsO bedarf. 7 BGH v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, NZI 2016, 779 = ZIP 2016, 1295. 8 BGH v. 7.2.2013 – IX ZB 43/12, ZIP 2013, 525. 9 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 270a InsO Rz. 20, 24. 10 BGH v. 7.2.2013 – IX ZB 43/12, ZIP 2013, 525. 11 Pape, ZInsO 2013, 2129 f., 2134.

Spliedt | 1069

§ 35 Rz. 35.28 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

genverwaltung unanwendbar bleibt1. Dies gilt jedoch ebenso wie für die Verbindlichkeiten aus Arbeitsverhältnissen gemäß § 613a Abs. 2 BGB oder bei der Steuerhaftung gemäß § 75 AO erst bei einem Verkauf nach Verfahrenseröffnung, so dass der Schuldner während der vorläufigen Eigenverwaltung kaum einen Käufer finden wird.

b) Vorläufiger Sachwalter 35.29

Auf den vorläufigen Sachwalter sind die für den endgültigen Sachwalter geltenden §§ 274 f. InsO über die Bestellung sowie die Kontroll- und Mitwirkungspflichten entsprechend anzuwenden (§ 270b Abs. 1 Satz 1 InsO), so dass auf die Ausführungen bei Rz. 35.50 ff. Bezug genommen wird. Die wichtigste Aufgabe ist die Anzeige von Nachteilen der Eigenverwaltung2, was eine Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Dazu gehört auch eine Plausibilitätsprüfung des Sanierungskonzepts, weil eine Bewertung von Vermögenspositionen von deren Verwendbarkeit abhängt, die sich nur anhand der Unternehmensplanung beurteilen lässt. In diesem Zusammenhang müssen auch die Kosten der Eigenverwaltung mit denen der Regelabwicklung verglichen werden3, was in diesem frühen Verfahrensstadium jedoch nur eine Missbrauchskontrolle sein kann; denn Mehrkosten können kompensiert werden durch ein Mehrergebnis für die Gläubiger, das aber nur sehr grob prognostizierbar ist. Da sich eine Sanierungsplanung erst langsam entwickelt, ist ein Monitoring mit ständigem Soll-Ist-Vergleich erforderlich. Das Gericht kann dem vorläufigen Sachwalter ausdrücklich beauftragen, Bericht zu erstatten über die vom Schuldner vorgelegte Eigenverwaltungsplanung, der Vollständigkeit und Geeignetheit der Rechnungslegung sowie Buchführung als auch dem Bestehen von Haftungsansprüchen des Schuldners gegen amtierende oder ehemalige Organmitglieder (§ 270c Abs. 1 InsO). Insoweit kann man von einer Begutachtung ähnlich einem Sachverständigen sprechen4. Sowohl die Prüfung der Schlüssigkeit als auch der buchhalterischen Pflichten und Haftungsansprüche bedarf einer großen Expertise und wird regelmäßig zu einem erheblichen zusätzlichen Aufwand und nicht geringen Kosten führen, wenn die der Planung zugrundeliegenden Arbeitsunterlagen des Schuldners nicht vollständig sind, was dann bereits ein Indiz für die Nachteilhaftigkeit dieser Verfahrensart ist. Diese Aufzählung ist nicht abschließend, vielmehr kann der vorläufige Sachwalter mit diversen Arbeitsbereichen beauftragt werden, die sodann vergütungsrelevant berücksichtigt werden müssen5. Von der Informationspflicht an das Gericht umfasst ist auch die Meldung von Gefahren für die Neugläubiger, deren Forderungen Bestandteil einer Masseschuldermächtigung sind6, denn dann ist die Eigenverwaltungsplanung nicht mehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einzuhalten.

35.30

Der vorläufige Sachwalter ist kein Berater des Schuldners. Andererseits trifft ihn eine Redepflicht nicht nur gegenüber dem Gericht. Auch dem Schuldner wird er mitteilen müssen, worin er eigenverwaltungshindernde Nachteile erblickt, was dann sinnvollerweise zur Erörterung von Verbesserungsmöglichkeiten führt. Damit verliert er seine Unabhängigkeit ebenso wenig7 wie ein Wirtschaftsprüfer, der mit der zu prüfenden Gesellschaft Bilanzierungsfehler erörtert. § 284 Abs. 1 InsO sieht sogar ausdrücklich die Beratung vor, wenn auch beschränkt auf einen sog. Auf1 BGH v. 3.12.2019 – II ZR 457/18, DStR 2020, 607 = ZIP 2020, 263. 2 Frind, NZI 2014, 937, 939. 3 Frind, NZI 2014, 937 941, der eine Prüfung des Sanierungskonzepts ablehnt, gleichwohl aber einen Kostenvergleich verlangt. 4 Erbe, NZI 2021, 753, 758. 5 Ausführlich Frind, ZIP 2021, 171, 177. 6 Frind, NZI 2014, 977, 980. 7 A.A. Frind, NZI 2014, 937, 940.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.32 § 35

trags-Insolvenzplan. Der (vorläufige) Sachwalter darf bei all dem aber nicht Auftragnehmer des Schuldners werden1 und insbesondere die Insolvenzgeldfinanzierung für den Schuldner bearbeiten2, obwohl er dafür im Vergleich zum Schuldner regelmäßig die besseren technischen und fachlichen Kapazitäten hat. Eine Unterstützung des Schuldners lässt das Gesetz mit § 274 Abs. 2 Satz 2 InsO nunmehr ausdrücklich zu. Das gilt auch schon für den vorläufigen Sachwalter, § 270b Abs. 1 InsO. Erforderlich ist jedoch wegen der Transparenz eine Anordnung des Gerichts. Überschreitet der vorläufige Sachwalter seinen Aufgabenbereich gegenüber dem Schuldner durch Beratung oder gegenüber den Gläubigern durch „Gutsagung“ der Zahlung neuer Verbindlichkeiten, haftet er nach den allgemeinen Vorschriften (c.i.c., §§ 276, 280 BGB)3 und läuft Gefahr, wegen Verlustes der Unabhängigkeit (§ 274 Abs. 1, § 56 InsO) entlassen zu werden (§ 59 InsO).

c) Vorläufiger Gläubigerausschuss Ein vorläufiger Gläubigerausschuss ist von Amts wegen zu bestellen, wenn der Schuldner die in § 22a Abs. 1 InsO genannten Größenkriterien erfüllt. Das Insolvenzgericht kann den Schuldner zur Benennung geeigneter Personen auffordern, § 22a Abs. 4 InsO. Werden die Größenkriterien unterschritten, kann ein Ausschuss auf Antrag eingesetzt werden, mit dem eine Benennung der möglichen Mitglieder verbunden werden sollte. In sämtlichen Fällen handelt es sich nur um Vorschläge, denen das Gericht zu folgen nicht verpflichtet ist. Entsprechen sie jedoch den Anforderungen der § 21 Abs. 2 Nr. 1a, § 67 Abs. 2 InsO, wird das Insolvenzgericht i.d.R. die genannten Personen berufen, es sei denn, dass eine anhand der gemäß § 13 Abs. 1 InsO einzureichenden Unterlagen vorgenommene Plausibilitätsprüfung zu Bedenken Anlass gibt. Ein „Family and Friends“-Ausschuss ist genauso unzulässig wie eine Überkreuzbesetzung durch eine Person, die z.B. Sachwalter in einem anderen Verfahren ist, bei dem der jetzige Sachwalter im Gläubigerausschuss sitzt. Der Ausschuss muss das Interesse der Gläubigergemeinschaft vertreten4, so dass das Gericht neben oder anstatt der vorgeschlagenen auch weitere natürliche oder juristische5 Personen ernennen darf. Üblicherweise sind Banken, Lieferanten, Arbeitnehmer, Kleingläubiger und ggfls. Vertreter besonders wichtiger Geschäftspartner Mitglieder des Ausschusses. Bei den Ausschussmitgliedern muss es sich nicht um Gläubiger handeln, § 21 Abs. 1a, § 67 Abs. 3 InsO. Die Aufgaben des vorläufigen Gläubigerausschusses6 entsprechen denen des endgültigen Ausschusses, allerdings erweitert um den Einfluss auf die Bestellung des (vorläufigen) Sachwalters (§ 270b Abs. 3 Satz 1, § 274 Abs. 1, § 56a Abs. 2 InsO) und den Einfluss auf die Nachteilsprognose, die in einer gerichtlichen Entscheidung bei einem einstimmigen Votum des Ausschusses zwingend sowohl für als auch gegen die Eigenverwaltung ausfallen muss (§ 270b Abs. 3, § 270f Abs. 1 InsO).

35.31

d) Sachverständiger Das Insolvenzgericht kann zur Nachteilsermittlung einen Sachverständigen beauftragen (§ 270c Abs. 1 InsO). Dem Wortlaut des § 270c Abs. 1 InsO ist keine Einschränkung des für das gesamte Insolvenzverfahren geltenden Amtsermittlungsprinzips (§ 5 Abs. 1 InsO) zu entnehmen7. Da1 2 3 4 5 6 7

A.A. LG Dresden v. 11.9.2013 – 1 O 1168/13, ZIP 2013, 2116. Frind, NZI 2014, 937, 941. Frind, NZI 2014, 977, 978. Jungmann in Karsten Schmidt, § 67 InsO Rz. 6. Zur Zulässigkeit: Jungmann in Karsten Schmidt, § 67 InsO Rz. 15 ff. Umfassend: Buchalik/Haarmeyer, Der (vorläufige) Gläubigerausschuss, abrufbar unter www.diai.org. Schon im ursprünglichen RegE InsO hieß es zur damals vorgesehenen Eigenverwaltung, dass keine Nachforschungen erforderlich seien, BT-Drucks. 12/2443, S. 223; zum Schutzschirmverfahren

Spliedt | 1071

35.32

§ 35 Rz. 35.32 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

raus folgt aber noch nicht, dass es sich dazu auch eines zusätzlichen Sachverständigen bedienen darf; denn für das Eröffnungsverfahren wird ein vorläufiger Sachwalter bestellt (§ 270b Abs. 1 InsO), der gemäß § 270c Abs. 1 InsO zur Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Schuldners und gemäß § 270 Abs. 2 InsO zur Mitteilung über Änderungen der Eigenverwaltungsplanung verpflichtet ist. Einen darüber hinausgehenden Ermittlungsbedarf für einen gesonderten Sachverständigen gibt es nicht, so dass ein mit diesem Aufgabenbereich versehener Auftrag unzulässig ist1. Wird trotzdem ein Sachverständiger beauftragt, steht dem Schuldner kein Rechtsmittel zu, weil es sich nicht um eine Sicherungsmaßnahme handelt. Allerdings hat der Sachverständige dann auch keine weitergehenden Befugnisse als das Gericht. Nur ein vorläufiger Sachwalter darf ergänzend von den in § 22 Abs. 3 InsO genannten Rechten Gebrauch machen.

35.33

Von der Beauftragung eines Sachverständigen zur Nachteilsermittlung zu unterscheiden ist ein Auftrag zur Ermittlung der Insolvenzgründe und der Verfahrenskostendeckung (dazu Rz. 22.1 ff.). Das ist zulässig2. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse des Sachverständigen können auch auf die Nachteilsprognose ausstrahlen. Stellt er nämlich fest, dass eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung schon länger vorliegen und deshalb der Insolvenzantrag verschleppt wurde, begründet dies regelmäßig weitere Nachteile für die Gläubiger (s. Rz. 35.37 ff.). Der Sachverständige kann personenidentisch sein mit dem vorläufigen Sachwalter3, es sei denn, dass ein schuldnerinterner Interessenskonflikt zwischen Geschäftsführern oder Gesellschaftern besteht. In solchen Fällen ist es zweckmäßig, eine andere Person zum Gutachter zu bestellen, weil die Belastung des Sachwalters mit einem solchen Konflikt für das Verfahren nicht förderlich ist4.

e) Öffentliche Bekanntmachung 35.34

Der Antrag auf Eigenverwaltung hat den Vorteil, dass die Geschäftsführer damit ihrer Antragspflicht nachkommen, ohne dass dies veröffentlicht wird; denn bekannt gemacht werden müssen gemäß § 23 InsO nur Verfügungsbeschränkungen, vor denen auch ohne Schutzschirmantrag ja gerade abgesehen werden soll (§ 270 Abs. 1 InsO). Die Bestellung eines vorläufigen Sachwalters ist wegen der nur internen Wirkung keine Verfügungsbeschränkung, ebenso wenig die Masseschuldermächtigung5. Gegen ein Veröffentlichungsverbot wird eingewandt, dass die Gläubiger zu schützen seien6. Verfahrensrechtlich ist ein solcher Schutz mangels Verfügungsbeschränkungen aber nicht erforderlich, wirtschaftlich wird er durch die fort-

1

2 3 4 5 6

wird in der Begr. RegE wiederholt, dass kein Sachverständiger bestellt werden soll, Begr. RegE BTDrucks. 17/5712, S. 40 f., was allerdings im jeweiligen Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck kommt, Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 270 InsO Rz. 12. Fiebig in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 270c InsO Rz. 2; Frind, ZInsO 2011, 2249, 2260; Hölzle in Bork/Hölzle, Handbuch Insolvenzrecht, Kap. 14 Rz. 17 ff.; Undritz in Karsten Schmidt, § 270 InsO Rz. 9; Vallender, DB 2015, 231, 235; Vallender, GmbHR 2012, 445, 447; a.A. AG Kleve v. 2.12.2012 – 34 IN 38/12, n.v.; Schmidt/Linker, ZIP 2012, 963, 965; Henkel, ZIP 2015, 562, 570 m.w.N. in Fn. 113, der die zusätzliche Bestellung eines Sachverständigen als „best practice“ bezeichnet, ohne Kriterien für das „best“ zu nennen. Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, §§ 270, 270a InsO Rz. 77; Schmidt/Linker, ZIP 2012, 963, 965; Vallender, DB 2015, 231, 235; Vallender, GmbHR 2012, 445, 446 f., 450, 452 f.; a.A. (hinsichtlich der Eröffnungsgründe) Smid, ZInsO 2013, 209, 215. Vallender, DB 2015, 231, 235. Vallender, GmbHR 2012, 445, 447, 450, 453. Laroche, NZI 2010, 965, 972. Desch, BB 2011, 841; Frind, DB 2014, 165, 166.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.36 § 35

bestehende Haftung des § 64 GmbHG a.F.1 bzw. § 15b InsO n.F. und gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit verschiedenen Schutzgesetzen erreicht. Zwar führt ein „Geheimverfahren“2 meist zur Verbitterung der später vor vollendete Tatsachen gestellten Gläubiger, aber eine vom Gericht veranlasste öffentliche Bekanntmachung ist nicht zulässig3.

f) Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung Wird im Laufe des Eröffnungsverfahrens offensichtlich, dass die vorläufige Eigenverwaltung zu Nachteilen für die Gläubiger führt, muss das Insolvenzgericht unverzüglich Sicherungsmaßnahmen anordnen. Nach § 270e Abs. 1 Nr. 1 InsO wird die vorläufige Eigenverwaltung aufgehoben, wenn der Schuldner in schwerwiegender Weise gegen insolvenzrechtliche Pflichten verstößt oder nicht mehr bereit oder in der Lage ist, seine Geschäftsführung am Interesse der Gläubiger auszurichten. Weitere Aufhebungsgründe sind gemäß § 270e Abs. 1 Nr. 2 ff. InsO Planungsmängel, insbesondere die Aussichtslosigkeit einer Sanierung, und ein Aufhebungsantrag des vorläufigen Sachwalters mit Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses. Die Entscheidungsgrundlage liefern vor allem die Informationen, die der Sachwalter zu erheben und ggfls. auch dem Insolvenzgericht zu übermitteln hat (§ 270c InsO). Eine förmliche Aufhebung des Eröffnungsverfahrens ist nicht erforderlich. In diesem Punkt unterscheidet sich die normale vorläufige Eigenverwaltung vom Schutzschirmverfahren, in dem das Insolvenzgericht keine Sicherungsmaßnahmen treffen darf, bevor die Anordnung des § 270d Abs. 1 InsO nicht gemäß § 270d Abs. 4 InsO aufgehoben wurde. Die Aufhebung vollzieht sich durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, vgl. § 270e Abs. 2 InsO. Dem vorläufigen Gläubigerausschuss ist vor Erlass der Entscheidung gemäß § 270e Abs. 4 Satz 1 InsO Gelegenheit zur Äußerung zu geben.

35.35

Ein Rechtsmittel gewährt § 270e Abs. 2 Satz 3 InsO ausschließlich für den Fall einer Aufhebung der vorläufigen Eigenverwaltung auf Antrag eines absonderungsberechtigten Gläubigers oder eines Gläubigers gemäß § 270e Abs. 2 Satz 1 InsO. Diese Vorschrift hat Ausnahmecharakter. Entscheidungen des Insolvenzgerichts unterliegen nur in den Fällen einem Rechtsmittel, in denen die InsO die sofortige Beschwerde vorsieht, § 6 Abs. 1 Satz 1 InsO. Auch in der Gesetzesbegründung wurde ein weitergehendes Beschwerderecht – insbesondere für den Schuldner – diskutiert, im Ergebnis aber abgelehnt, da über dem Antrag über die Aufhebung ein Gericht entscheide und so eine gerichtliche Überprüfung erfolge4. Daraus folgt, dass hinsichtlich der übrigen Aufhebungstatbestände in § 270e Abs. 1 InsO kein Rechtsmittel statthaft ist5. Allerdings wird die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters meist durch die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen flankiert, so dass ein Beschwerderecht des Schuldners dann aus § 21 Abs. 1 InsO folgt. Unabhängig davon ist ihm vor einer Entscheidung des Gerichts rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG.

35.36

1 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2020, 3256). 2 Frind, DB 2014, 165 f. 3 Horstkotte, ZInsO 2012, 1161; Keller, ZIP 2012, 1895; Undritz in Karsten Schmidt, § 270a InsO Rz. 5. 4 RegE, BT-Drucks. 17/5712, S. 38 f. 5 BGH v. 27.1.2022 – IX ZB 41/21, ZIP 2022, 433.

Spliedt | 1073

§ 35 Rz. 35.37 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

3. Eröffnungsentscheidung a) Voraussetzung der Anordnung aa) Verstoß gegen insolvenzrechtliche Pflichten

35.37

Die Anordnung der Eigenverwaltung im eröffneten Verfahren setzt voraus, dass der Schuldner diese beantragt. Im Übrigen folgt die Eigenverwaltung den Regeln der vorläufigen Eigenverwaltung. Votiert ein vorläufiger Gläubigerausschuss einstimmig dafür, ist die Entscheidung zur Eröffnung einer Eigenverwaltung bindend (§ 270f Abs. 3 InsO i.V.m. § 270b Abs. 3 Satz 3 InsO). Ebenso verhält es sich, wenn der vorläufige Ausschuss einstimmig dagegen votiert.

35.38

Gibt es kein einstimmiges Ausschussvotum (oder besteht kein vorläufiger Gläubigerausschuss), ist die Eigenverwaltung anzuordnen, wenn keine Gründe dagegen sprechen. Diese entgegenstehenden Gründe sind dieselben, die auch eine Ablehnung der vorläufigen Eigenverwaltung oder eine Aufhebung rechtfertigen würden. Die Eigenverwaltung wird somit nicht angeordnet, wenn der Schuldner in schwerwiegender Weise gegen insolvenzrechtliche Pflichten verstößt oder das Eigenverwaltungsziel nicht erreicht werden kann (§ 270f Abs. 1 InsO mit Verweis auf §§ 270b, 270e InsO). So ist die Eröffnung eines Eigenverwaltungsverfahrens abzulehnen, wenn die Kosten unter Einrechnung der Beraterhonorare voraussichtlich erheblich über denjenigen einer Insolvenzverwaltung liegen. Manifestiert wird diese Vermutung der Gläubigerbenachteiligung, wenn im Antrag keine hinreichenden Gründe vorgetragen werden, weshalb die Eigenverwaltung im Vergleich zur klassischen Insolvenzverwaltung begünstigt werden soll. Die überhöhten Kosten können zwar durch besondere Leistungen gerechtfertigt sein − zumal es durchaus sinnvoll sein kann, eine übertragende Sanierung mittels eines M&A Prozesses, der Weiternutzung der Expertise der Geschäftsführung als auch des Know-Hows im jeweiligen Geschäftsbetrieb anzustrengen. Sofern ohnehin in einem eröffneten Verfahren allein die Liquidation als Verfahrensziel in Betracht kommt, überwiegt das Interesse der Gläubiger an einer möglichst effizienten Verwaltung und geringen Verfahrenskostenhöhe1.

35.39

Neben den vom Gesetz genannten Ablehnungsgründen ist – anders als zur Situation vor der Reform der Eigenverwaltungsvorschriften mit Wirkung ab 1.1.2021 – kein Raum für allgemeine Erwägungen, so dass durchaus von einem Anspruch des Schuldners auf Eigenverwaltung gesprochen werden kann, wenn keine Negativmerkmale vorliegen. Das kollidiert allerdings mit dem Verzicht des Gesetzgebers auf eine Beschwerdemöglichkeit gegen die Ablehnung eines Eigenverwaltungsantrags, was nur damit zu rechtfertigen ist, dass bei Vorliegen eines Eröffnungsgrundes im vorrangigen Interesse der Gläubiger keine Verzögerungen eintreten dürfen2.

bb) Integrität der Geschäftsführung

35.40

Hindernisse gegen die Eigenverwaltung können sich daraus ergeben, dass die Geschäftsführung in der Vergangenheit gläubigerschützende Bestimmungen verletzt hat, so dass auch künftig i.S. von § 270e Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht erwartet werden kann, dass der Schuldner sich am Gläubigerinteresse orientiert. Schon ein konkreter Verdacht der Begehung von Vermögens-, Urkunden- oder Bankrottdelikten rechtfertigt eine negative Prognose3. Eine Verurteilung ist nicht erforderlich. In Vermögensübersichten oder Angaben gegenüber dem Sachwalter dürfen weder Vermögensgegenstände noch Haftungsansprüche gegen nahestehende Personen ver1 AG Aachen v. 1.12.2017 – 92 INI 187/17, BeckRS 2017, 140125. 2 Madaus, NZI 2022, 336 f. 3 AG Hamburg v. 18.12.2013 – 67c IN 410/13, ZIP 2014, 390.

1074 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.42 § 35

schwiegen werden. Auch eine Befangenheit bei der Durchsetzung solcher Ansprüche (Rz. 35.66) kann der Eigenverwaltung entgegenstehen1, wobei der Gesetzgeber allerdings eine gewisse Befangenheit unterstellt, weil dem Sachwalter in § 280 InsO die von besonderen Interessengegensätzen geprägten Ansprüche gemäß §§ 92 f. InsO und aufgrund Insolvenzanfechtung zur Durchsetzung überantwortet werden. Deshalb kann nicht jeder Kontrollbedarf zugleich eine Nachteilserwartung begründen2. Anderenfalls wären Verfahren über verbundene Unternehmen, zwischen denen es Geschäftsverkehr gibt, nur in Eigenverwaltung durchzuführen, wenn es jeweils unterschiedliche Organmitglieder gäbe. Das aber wird vom Gesetz nicht verlangt. Deshalb steht der Eigenverwaltung auch nicht entgegen, dass ein Gesellschafter-Geschäftsführer ein Interesse am Erwerb des Unternehmens durch eine Gesellschaft hat, in der er ebenfalls Gesellschafter-Geschäftsführer ist3. Ohne Eigeninteresse der Gesellschafter am Erhalt des Unternehmens in ihrer Hand könnte die Eigenverwaltung nicht die Anreizfunktion entfalten, die der ESUG-Gesetzgeber ihr zugedacht hat. Das bedarf zwar der Kontrolle. Das Unabhängigkeitserfordernis gilt aber nur für den Sachwalter (§ 274 Abs. 1, § 56 InsO), nicht auch für den Schuldner oder seine Organe. Unabhängig davon wirkt es vertrauensbildend, wenn sich der Schuldner von vornherein einem Katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte unterwirft. Ob eine Insolvenzverschleppung der Eigenverwaltung entgegensteht, ist zweifelhaft4. In der Rechtswirklichkeit werden Insolvenzanträge regelmäßig zu spät gestellt. Je höher die Anforderungen an einen Eigenverwaltungsantrag sind5, umso größer ist die Gefahr einer Verzögerung. In jeder Insolvenzverschleppung ein Hindernis für die Eigenverwaltung zu sehen, würde bedeuten, diese Verfahrensart selbst bei einem nur geringen Verschulden zu sperren. Eine von Dauer und Ursache der Insolvenzverschleppung abhängige Beurteilung ist sinnvoller als ein „Alles oder nichts“. Entscheidend sind die Eigenschaften der handelnden Personen. Selbst größere Pflichtverletzungen der Vergangenheit rechtfertigen nicht unbedingt die Erwartung von Nachteilen, wenn die Handelnden ausgewechselt werden6. Zwar können neue Geschäftsführer eine mangelhafte Organisation und Kontrolle nicht von heute auf morgen ändern. Das aber kann ein Insolvenzverwalter ebenfalls nicht, so dass ein Regelverfahren nicht vorteilhafter wäre. Allerdings wird ein Insolvenzverwalter i.d.R. ein Team von Spezialisten einbeziehen. Soweit die neuen Geschäftsführer zur Beseitigung von Organisationsmängeln Gleiches tun, ist die Nachteilserwartung erschüttert. Sie werden jedoch die Indizien aus der Vergangenheit plausibel widerlegen und insbesondere darstellen müssen, dass die ehemaligen Entscheidungsträger auch mittelbar keinen Einfluss mehr ausüben können7.

35.41

cc) Gläubigereinfluss Die Mitteilung einzelner Geschäftspartner, die Geschäftsverbindung zum Schuldner nur mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter fortzusetzen, kann ebenfalls das Ziel der Eigenverwaltungsplanung gefährden (§ 270a Abs. 1 Nr. 3 InsO)8. Zwar besteht im Gegensatz zur Rechts1 AG Hamburg v. 28.2.2014 – 67c IN 1/14, NZI 2014, 566. 2 Vallender, DB 2015, 231, 234. 3 Neußner in Kübler, HRI, § 10 Rz. 68; a.A. AG Hamburg v. 28.2.2014 – 67c IN 1/14, NZI 2014, 566; Laroche/Pruskowski/Schöttler/Siebert/Vallender, ZIP 2014, 2153, 2163; Henkel, ZIP 2015, 562, 568. 4 Bejahend: Frind, DB 2014, 165, 166. 5 AG Hamburg v. 19.12.2013 – 67c IN 501/13, ZIP 2014, 487 verlangt „wohl vorbereitete“ Anträge. 6 A.A. Henkel, ZIP 2015, 562, 566, der von einer „Unzuverlässigkeit des Unternehmens“ spricht. 7 Vgl. LG Halle v. 14.11.2014 – 3 T 86/14, ZIP 2014, 2355. 8 AG Köln v. 1.7.2013 – 72 IN 211/13, ZIP 2013, 1390.

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35.42

§ 35 Rz. 35.42 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

lage vor dem SanInsFoG keine Verhinderungsmöglichkeit einzelner Gläubiger mehr1. Hier geht es aber nicht um die Gläubigerstellung, sondern um die Bereitschaft, als künftiger Lieferant oder Kunde oder Bank für einen Massekredit Nachteile der Eigenverwaltung zu vermeiden. Das hat Tatbestandswirkung und ist keine Ausübung von Verfahrensrechten. Ist der Geschäftspartner durch andere nicht zu ersetzen, kann er die Unternehmensfortführung und damit die Eigenverwaltung zu Fall bringen, wenn er nur mit einem Insolvenzverwalter die Geschäftsbeziehung aufrechterhalten würde2. Lehnen hingegen einzelne Gläubiger die Eigenverwaltung ab, ohne dass dies mit einer tatsächlichen Auswirkung auf die Tätigkeit der Schuldnerin verbunden ist, genügt dies selbst bei einem einstimmig ablehnenden Beschluss des Gläubigerausschusses nicht. Erst nach Eröffnung des Eigenverwaltungsverfahrens reicht für die Aufhebung gemäß § 272 InsO ein Beschluss der Gläubigerversammlung oder gar ein Antrag – dann aber mit Begründung – einzelner Gläubiger. Das darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Gläubigerausschuss erklärt, seine Zustimmung zu wesentlichen Maßnahmen zu versagen. Er ist verpflichtet, die Befriedigungsaussichten der Altgläubiger nicht durch eine Blockadepolitik zu beeinträchtigen. Bedenken der Gläubiger werden aber meist auf Gründen beruhen, die unabhängig vom Gläubigervotum Nachteile indizieren3. dd) Prognosewahrscheinlichkeit

35.43

Erweist sich die angestrebte Sanierung als aussichtslos, so dass das Ziel der Eigenverwaltungsplanung gefährdet ist, kann dies die Aufhebung des Verfahrens begründen (§ 270e Abs. 1 Nr. 3 InsO). Ein non liquet, bei dem sich die für und gegen Nachteile sprechenden Umstände die Waage halten, wirkt nicht mehr zugunsten des Schuldners4, weil die vom Schuldner nach § 270a InsO beizubringenden Unterlagen Prognosen beinhalten und als Prognoseergebnis immer nur das angesetzt werden kann, was mit der überwiegenden Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Andererseits muss auch nicht sicher sein, dass ein Scheitern eintritt, sondern den Nachteilen muss nur ein gewisser „Erwartungswert“5 beizumessen sein, also ihr Eintritt aufgrund einer Prognose wahrscheinlicher sein als ihr Ausbleiben. Maßgebend ist eine Gesamtbetrachtung. Einzelne Nachteile können durch größere Vorteile ausgeglichen werden6. Ein Erwartungswert ist niemals monokausal.

35.44

Will das Gericht den Eigenverwaltungsantrag zurückweisen, hat es dem Schuldner Gelegenheit zu geben, einen wegen nur drohender Zahlungsunfähigkeit gestellten Antrag zurückzunehmen (§ 270c Abs. 5 InsO). Bei juristischen Personen hat das nur Sinn, solange keine Antragspflicht nach § 15a InsO eingreift.

b) Rechtsmittel, Nachträgliche Anordnung 35.45

Lehnt das Gericht die Anordnung der Eigenverwaltung ab und eröffnet stattdessen das Regelinsolvenzverfahren, sieht die InsO in § 34 Abs. 2 InsO nur ein Rechtsmittel gegen die Verfahrenseröffnung vor, nicht jedoch gegen die Ablehnung des Eigenverwaltungsantrags7. 1 2 3 4 5 6 7

Henkel, ZIP 2015, 562, 567. LG Halle v. 14.11.2014 – 3 T 86/14, ZIP 2014, 2355 m. Anm. Spliedt, EWiR 2014, 789. Vallender, DB 2015, 231, 232. Undritz in Karsten Schmidt, § 207 InsO Rz. 8. AG Hamburg v. 28.2.2014 – 67c IN 1/14, NZI 2014, 566: „gewisse Wahrscheinlichkeit“. Brünkmans in Kayser/Thole, § 270 InsO Rz. 13 f.; a.A.: Undritz in Karsten Schmidt, § 270 InsO Rz. 8. BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 10/05, ZIP 2007, 448; LG Frankfurt v. 13.1.2014 – 2/09 T 66/13, ZIP 2014, 742; Undritz in Karsten Schmidt, § 270 InsO Rz. 26.

1076 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.48 § 35

Der Schuldner hat de facto also keine Möglichkeit, die Anordnung der Fremdverwaltung daraufhin überprüfen zu lassen, ob eine Eröffnung mit Eigenverwaltung weniger stark in seine Rechte eingreifen würde. Verfassungsrechtlich ist das nur dann unproblematisch1, wenn man mit dem BGH2 die Eigenverwaltung als eine Verfahrensvariante im Interesse der Gläubiger und nicht auch im Interesse des Schuldners ansähe. Insofern hat das ESUG aber einen „Paradigmenwechsel“3 gebracht, der die frühere Entscheidung des BGH in einem anderen Licht erscheinen lässt. Trotzdem wurde ein Rechtsmittel im Gesetzgebungsverfahren abgelehnt4. Obwohl somit nach dem Gesetzeswortlaut die Ablehnung der Eigenverwaltung nicht anfechtbar ist, ist sie gemäß § 270f Abs. 1 InsO zu begründen. Damit soll der Gläubigerversammlung eine Entscheidungsgrundlage an die Hand gegeben werden, um ggfls. nachträglich eine Eigenverwaltung gemäß § 271 InsO zu beschließen. Erforderlich ist dafür eine Kopf- und Summenmehrheit. Stimmt der Schuldner zu, muss das Gericht dem folgen. Es kommt nicht mehr darauf an, ob Nachteile für die Gläubiger zu erwarten sind. Eine solche Prüfung hat auch nicht auf einer Vorstufe bei der Beschlusskontrolle nach § 78 InsO stattzufinden5. Jedenfalls lehnt der BGH dies für den umgekehrten Fall ab, dass die Gläubigerversammlung die Aufhebung der Eigenverwaltung beschließt (Rz. 35.75). Da es in dem einen wie dem anderen Fall um die Frage geht, ob die Gläubigerautonomie Vorrang hat, müssen die Beschlüsse für die Anordnung und die Aufhebung dieselben Rechtsfolgen haben.

35.46

Gegen die Anordnung der Eigenverwaltung gibt es gleichfalls kein eigenständiges Rechtsmittel, das gegen jede Verfahrenseröffnung gemäß § 34 Abs. 2 InsO statthaft ist. Anfechtungsbefugt ist gemäß § 34 Abs. 2 InsO nur der Schuldner gegen eine Eröffnungsentscheidung aufgrund eines Gläubigerantrags. Ist er hingegen nur hinsichtlich der Eigenverwaltung anderen Sinnes geworden, kann er deren Aufhebung gemäß § 272 Abs. 1 Nr. 3 InsO beantragen. Ein Gläubiger ist nicht befugt, die Anordnung isoliert anzufechten. Auch ihm bleibt nur der Weg über § 272 InsO, so dass er die Gläubigerversammlung zu einem Aufhebungsantrag bewegen muss6.

35.47

4. Sachwalter a) Auswahl Auf die Auswahl des Sachwalters finden die für die Auswahl des Insolvenzverwalters geltenden Grundsätze entsprechende Anwendung (§ 274 Abs. 1 InsO). Das betrifft sowohl seine Qualifikation und Unabhängigkeit (§ 56 InsO) als auch die Beteiligung des vorläufigen Gläubigerausschusses und insbesondere die Bindung des Gerichts an ein einstimmiges Votum des Ausschusses (§ 56a InsO) mit der Folge, dass selbst in der normalen Eigenverwaltung ohne Schutzschirmantrag die „mitgebrachte“ Person bestellt wird, wenn dies im Vorwege mit denjenigen abgestimmt wurde, die zu Mitgliedern des Gläubigerausschusses ernannt werden. Dadurch wird dem Schuldner ein „nahezu perfektes System“7 für größtmöglichen Einfluss mit größtmöglichen Freiheiten geboten. Bei einem Ausschussvotum sind etwaige Interessenkonflikte der Ausschussmitglieder zu berücksichtigen, sofern sie auf die Eignung der vorgeschlagenen Person ausstrahlen könnten. Anders als nach verbreiteter Ansicht zum Insolvenz1 2 3 4 5 6 7

Mit Recht kritisch Smid, KTS 2008, 82 ff. BGH v. 11.1.2007 – IX ZB 10/05, ZIP 2007, 448. Brinkmann/Zipperer, ZIP 2011, 1337; Vallender, NZI 2010, 838, 840. BT-Drucks. 17/5712, S. 58. Brünkmans in Kayser/Thole, § 271 InsO Rz. 6 f. AG Köln v. 22.8.2005 – 71 IN 426/05, ZIP 2005, 1975. Pape, ZInsO 2013, 2077, 2079 f.

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35.48

§ 35 Rz. 35.48 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

verwalter1 bei einer Konzern- oder Gruppeninsolvenz in Regelabwicklung kann bei einer Eigenverwaltung in den jeweils selbständigen Verfahren dieselbe Person zum Sachwalter bestellt werden2, weil auf sie nicht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnisse (§ 80 InsO) übergehen. Die Unsicherheit über die Person des Sachwalters ist eine große Hemmschwelle für einen frühzeitigen Insolvenzantrag, weil die Geschäftsführer häufig Angst haben, die Macht mit jemanden teilen zu müssen, mit dem sie nicht zusammenarbeiten können. Deshalb sollte das gemäß § 10a InsO zulässige Vorgespräch auch die Personenfrage beinhalten3.

35.49

Eine Eigenverwaltung wird nicht zuletzt wegen der Vorbereitungsmaßnahmen sehr stark von Beratern beeinflusst, die zu dem künftigen Sachwalter schon vor der Antragstellung Kontakt aufnehmen und ihn häufig aus früheren Verfahren kennen. Der Beratereinfluss beeinträchtigt die Unabhängigkeit nicht notwendigerweise. Erfahrungen mit der Person aus anderen Fällen zu nutzen und Vorbesprechungen im konkreten Fall zu führen, verlangt sogar die Professionalität des Beraters. § 56 Abs. 1 Nr. 1 InsO lässt Personenvorschläge ausdrücklich zu, was naturgemäß eine Personenkenntnis voraussetzt. Eine „dauernde Geschäftsverbindung“ zwischen einem Berater und meist auch zugleich Verfahrensbevollmächtigten des Schuldners kann allerdings die Unabhängigkeit gefährden4. Wann die Geschäftsverbindung so intensiv ist, dass sie analog § 100 Abs. 1 Nr. 3 AktG einem institutionalisierten Kontrollverlust gleich kommt, hängt von der Art der Zusammenarbeit ab. Sowohl eine intensive Beratung des Schuldners als auch die Sachwaltertätigkeit nehmen über mehrere Monate einen erheblichen Teil der Arbeitszeit in Anspruch. Das schafft Abhängigkeiten, wenn das mit gleicher oder getauschter Rollenverteilung in den letzten (bspw.) drei Jahren mehrfach geschah, so dass (bspw.) vier gemeinsame Verfahren jedenfalls dann ernstliche Zweifel an der Unabhängigkeit wecken, wenn sich der Sachwalter veranlasst sieht, die Verbindung nicht von sich aus zu offenbaren5. Ein Einfluss kann auch durch die Bindung eines Massekredits an die Bestellung einer Person zum Sachwalter im eröffneten Verfahren ausgeübt werden. Behält sich die Bank anderenfalls die fristlose Kündigung vor, kann das einer Unabhängigkeit dieser Person entgegenstehen, wenn die Bank Insolvenzgläubigerin ist. Darüber hinaus kann das Zweifel an ihrer Eignung wecken, wenn der vorläufige Sachwalter durch sein Einverständnis mit solchen Bindungsklauseln die richterliche Bestellungskompetenz unterläuft6. Sachliche Gründe für ein solches Vorgehen wird es in aller Regel nicht geben, weil die Bonität des Schuldners nicht nur von einer einzigen als Sachwalter in Betracht kommenden Person abhängt. Im Übrigen kann die Vereinbarung einer vorzeitigen Kündbarkeit für Geschäftsführung (§ 43 Abs. 1 GmbHG) und zustimmenden Sachwalter (§ 60 InsO) eine Haftung begründen, wenn die Liquidität für eine vorgezogene Tilgung nicht vorhanden ist7.

35.50

Der Sachwalter ist Kontrollorgan im Verwaltungsbereich (§§ 274 f., § 277, §§ 283 f. InsO) und Handlungsorgan im Konfliktbereich (§ 280 InsO). So hat er die wirtschaftliche Lage

b) Kontrollaufgaben

1 Überblick über den Diskussionsstand zum Interessenkonflikt bei Graeber in Münchener Kommentar zur InsO, § 56 InsO Rz. 44 ff. Zur Verwalterbestellung im Konzerninsolvenzrecht: Flöther in Flöther, Handbuch zum Konzerninsolvenzrecht, 2. Aufl. 2018, § 4 Rz. 173 ff. sowie Pleister in Flöther, Handbuch zum Konzerninsolvenzrecht, 2018, § 5 Rz. 24. 2 Pleister in Flöther, Handbuch zum Konzerninsolvenzrecht, 2. Aufl. 2018, § 5 Rz. 25. 3 A.A. Sämisch, ZInsO 2022, 438 f. 4 Pape, ZInsO 2013, 2129, 2132. 5 So der Fall AG Stendal v. 31.8.2012 – 7 IN 164/12, ZIP 2012, 1875. 6 Ganter, ZIP 2013, 597, 600; Frind, DB 2014, 165, 170; Pape, ZInsO 2013, 2129, 2132. 7 Ganter, ZIP 2013, 597, 600 ff.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.51 § 35

und die Geschäftsführung des Schuldners (§ 274 Abs. 2 InsO) sowie das Verteilungsverzeichnis (§ 283 Abs. 2 InsO) zu prüfen. Besonders hervor hebt das Gesetz in § 281 Abs. 1, § 283 Abs. 2 InsO, dass sich die Prüfung auch auf die Verzeichnisse der Massegegenstände und der Verbindlichkeiten sowie auf die Vermögensübersichten und schließlich das Verteilungsverzeichnis zu erstrecken hat, zu denen sich der Sachwalter schriftlich erklären muss. § 283 Abs. 1 InsO gewährt ihm ein eigenes Widerspruchsrecht gegen angemeldete Forderungen mit der Folge, dass die Forderung bei der Verteilung nur zu berücksichtigen ist, falls der Gläubiger auf eine rechtzeitig (§ 189 InsO) erhobene Feststellungsklage gegen den Sachwalter (§ 179 Abs. 1 InsO) obsiegt. Ebenfalls zu prüfen hat er die am Ende des Verfahrens vom Schuldner zu erstellende Schlussrechnung, § 281 Abs. 3 InsO. Er hat das Insolvenzgericht sowie den Gläubigerausschuss bzw., sollte keiner bestellt worden sein, die Insolvenzgläubiger unverzüglich über drohende Nachteile der Eigenverwaltung zu informieren, § 274 Abs. 2, 3 InsO. Unabhängig von einer solchen anlassbezogenen Redepflicht muss der Sachwalter im Berichtstermin zu den Ausführungen des Schuldners (umfassend) Stellung nehmen (§ 281 Abs. 2 InsO) und neben dem Schuldner eigene Berichtspflichten erfüllen, soweit Vorgänge betroffen sind, die gemäß § 280 InsO allein seiner Verwaltung unterliegen oder bei denen er mitzuwirken hat. Eine Vergleichsrechnung zwischen übertragender Sanierung und Fortführung durch die Schuldnerin anzustellen1, gehört nur bei leicht überschaubaren Verhältnissen zur Aufgabe eines Sachwalters. Meist wird eine Unternehmensbewertung erforderlich sein, die besondere Sachkunde verlangt (vgl. § 5 InsVV). Einen Bewertungsauftrag darf der Sachwalter nicht erteilen. Überdies weicht der Wert vom erzielbaren Preis meist stark ab, weil Kaufinteressenten unterschiedliche Synergieeffekte und Risikopräferenzen haben. Deshalb wird gelegentlich ein Markttest als Sorgfaltsstandard der Eigenverwaltung verlangt2. In einem „Dual Track-Prozess“ seien sowohl der Kaufpreis als auch der Gläubigervorteil bei einer Eigensanierung zu ermitteln, was durch die Einbeziehung weiterer Finanzierungsvarianten auch zu einem „Multi Track-Prozess“ ausgeweitet werden könne. Ein solches Verfahren anzustoßen, gehört noch weniger zu den Aufgaben des Sachwalters als die Auftragserteilung zu einer Unternehmensbewertung. Zwar hat er vor wie nach Verfahrenseröffnung Gläubigerausschuss und Insolvenzgericht zu informieren, sobald er Nachteile feststellt, § 274 Abs. 3 InsO. Das aber betrifft Nachteile der Verfahrensart, nicht des Verfahrensziels. Ob eine übertragende oder eine eigene Sanierung vorteilhafter ist, obliegt den Gläubigern zu entscheiden im Rahmen entweder des § 160 InsO oder des § 245 InsO (s. Rz. 32.44 ff.). Stattdessen können sie auch in einem gesonderten Beschluss gemäß § 78 InsO darüber befinden, ob ein M & A-Prozess durchgeführt werden soll. Lehnen sie ihn ab, ist das genauso wenig insolvenzzweckwidrig3 wie vorher die Unterlassung des Schuldners, das Unternehmen auf dem Markt anzubieten. Erst recht muss der Sachwalter nicht darauf drängen. Er gehört noch nicht einmal zu den Personen, die gemäß § 232 InsO einen Insolvenzplan votieren müssen. Vielmehr muss er von Gesetzes wegen – anders die Praxis, in der er regelmäßig einbezogen wird – nur tätig werden, wenn die Gläubigerversammlung ihn ausdrücklich mit der Erstellung eines Plans beauftragt oder zumindest dem Schuldner einen Auftrag erteilt, an dem er beratend mitwirken muss (§ 284 Abs. 1 InsO). Stets ein Dual Track-Vorgehen zu fordern, wäre nicht nur doppelgleisig, sondern auch doppelzüngig; denn die Eigenverwaltung hat regelmäßig i.S. von § 1 InsO den Erhalt des Unternehmens für den Schuldner als Ziel. Wenn das ESUG die Stärkung dieser Verfahrensvariante als Anreiz für eine frühzeitige Antragstellung bietet, darf nicht zugleich die Vorbereitung eines Unter1 AG Hamburg v. 20.12.2013 – 67g IN 419/12, ZIP 2014, 237. 2 Fröhlich/Ziegenhagen, return 2014, 30, 31 ff. 3 LG Hamburg v. 10.12.2014 – 326 T 143/14, ZInsO 2015, 209 sogar in einem Fall, in dem es ein unter Prüfungsvorbehalt stehendes Beteiligungsangebot gab.

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35.51

§ 35 Rz. 35.51 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

nehmensverkaufs verlangt werden. Als Hüter der Gläubigerinteressen ist der Sachwalter befugt, die Aufhebung eines nachteiligen Beschlusses der Hauptversammlung gemäß § 78 InsO zu beanstanden. Dem Schuldner steht dieses Recht nicht zu1.

c) Mitwirkungsbefugnisse 35.52

Neben diesen Prüfungs- und Informationspflichten hat der Sachwalter Mitwirkungsbefugnisse, die nicht nur einseitig als eine Beschränkung des Schuldners zu verstehen sind, sondern dem Sachwalter auch eine Mitwirkungspflicht auferlegen2. So soll die Begründung ungewöhnlicher Verbindlichkeiten von der Zustimmung des Sachwalters, für besonders bedeutsame Rechtshandlungen sogar des Gläubigerausschusses gemäß § 276 InsO (Rz. 35.70 f.) abhängen und die Eingehung üblicher Verbindlichkeiten unterbleiben, wenn er widerspricht (§ 275 Abs. 1 InsO). Außerdem soll die Erfüllungswahl bei schwebenden Verträgen wie auch die Beendigung von Dauerschuldverhältnissen nur im Einvernehmen mit ihm erfolgen (§ 279 InsO). Gleiches gilt für die Verwertung von Gegenständen, die mit Absonderungsrechten belastet sind (§ 282 Abs. 2 InsO). Einer Entscheidung des Insolvenzgerichts bedarf es dafür nicht. Adressat von Erklärungen des Sachwalters ist allein der Schuldner. Eine Außenwirkung kommt dem mit Ausnahme von bestimmten Maßnahmen im kollektiven Arbeitsrecht (§ 279 Satz 3 InsO, dazu sogleich) nicht zu. Eine trotz Zustimmungsverweigerung begründete Verbindlichkeit ist genauso wirksam3, wie eine ohne Mitwirkung des Sachwalters erfolgte Verwertung von Absonderungsgut4.

35.53

Eine Zustimmung kann zivilrechtlich sowohl als Einwilligung (§ 183 BGB) vor als auch als Genehmigung (§ 184 BGB) nach Vornahme des Rechtsgeschäfts erklärt werden. Der Schutzfunktion des § 275 InsO wird zwar nur eine vorherige Abstimmung mit dem Sachwalter gerecht. Da aber eine Sanktion für die Verletzung der Mitwirkungsbefugnis des Sachwalters nur in einer Aufhebung der Eigenverwaltung bestehen kann, ist es de facto unschädlich, wenn der Sachwalter das Geschäft nachträglich genehmigt.

35.54

Das Prüfungskriterium ist, ob durch die zu begründenden Verbindlichkeiten die Masse trotz einer Gegenleistung gemindert wird oder sie aus anderen Gründen dem Insolvenzzweck widersprechen. Auf die Erfüllbarkeit der Verbindlichkeiten kommt es nur an, soweit dies für etwaige Nachteile der Gläubiger Bedeutung hat. Die Mitwirkungsbefugnis dient nicht dem Schutz der Massegläubiger, zumal das Gesetz in § 285 InsO die Möglichkeit der Masseunzulänglichkeit ausdrücklich vorsieht, ohne dass dies einen Nachteil begründet, dem die Aufhebung der Eigenverwaltung folgen muss. Natürlich darf der Sachwalter nicht sehenden Auges Verbindlichkeiten zustimmen, von denen er weiß, dass sie nicht zu erfüllen sind. Das wäre Beteiligung an einem Eingehungsbetrug. Er muss aber die Erfüllbarkeit nicht selbst prüfen. Anders verhält es sich nur bei den Masseverbindlichkeiten, für deren wirksame Begründung das Insolvenzgericht gemäß § 277 InsO die Zustimmung ausdrücklich anordnet.

35.55

Die Verwaltungsbefugnis des Schuldners (§ 270 Abs. 1 InsO) umfasst sowohl die Verfügungsbefugnis (vgl. § 81 InsO) als auch die Verpflichtungsbefugnis. Für eine Einschränkung dieser Befugnisse durch das Gericht fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Einzige Ausnahme ist § 277 InsO. Insofern ist die Situation vergleichbar mit der Aufhebung eines Regelinsolvenzver1 2 3 4

BGH v. 22.6.2017 – IX ZB 82/16, NZI 2017, 758 = ZIP 2017, 1377. Hölzle in Bork/Hölzle, Handbuch Insolvenzrecht, Kap. 15 Rz. 42 ff., 58. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 275 InsO Rz. 15. BGH v. 8.4.2021 – III ZR 62/20, NJW-RR 2021, 1568 Rz. 56 = ZIP 2021, 1454.

1080 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.58 § 35

fahrens nach einem Insolvenzplan. Auch dort kann die in § 259 Abs. 1 InsO vorgesehene Wiedererlangung der Verfügungsbefugnis nicht eingeschränkt werden1. Auswirkungen hat das namentlich auf die Befugnisse des Sachwalters bei einer Übernahme der Kassenführung2. Aus der gemeinsamen Verortung dieser Befugnisse in § 275 InsO mit dem nur intern wirkenden Zustimmungsvorbehalt in Abs. 1 und aus der Gesetzesformulierung („vom Schuldner verlangen“) wird deutlich, dass es sich um eine Maßnahme im Innenverhältnis handelt. Die Übernahme wird nicht wie eine gerichtlich angeordnete Verfügungsbeschränkung veröffentlicht. Der Sachwalter erhält nur eine vom Schuldner abgeleitete Berechtigung zur Verfügung über Konten und Entgegennahme von Zahlungen. Er handelt deshalb auch nicht wie ein Insolvenzverwalter als Amtsträger im eigenen Namen, sondern als Vertreter des Schuldners3. Diese Vertretung wurde schon früher aufgrund der ähnlich lautenden Bestimmung des § 57 Abs. 2 VglO als eine gesetzliche angesehen4, obwohl das nach dem Gesetzestext erforderliche „Verlangen“ des Sachwalters eher darauf hindeutet, dass es noch einer Erfüllung durch die Vollmachtserteilung des Schuldners bedarf. Sieht man mit der weitgehend einhelligen Meinung die Vertretung als schon eine durch das Gesetz erteilte Befugnis an, reicht gegenüber der Bank zur Erlangung der Kontoführungsbefugnis die Vorlage des Bestellungsbeschlusses. Gleiches gilt für den Forderungseinzug gegenüber Drittschuldnern5.

35.56

Die Kontoführungs- und Inkassobefugnis ist keine den Schuldner verdrängende Berechtigung6. Eine an ihn direkt geleistete Zahlung hat weiterhin Erfüllungswirkung. § 82 InsO findet keine analoge Anwendung. Ebenso haben Überweisungsaufträge des Schuldners Bestand7. Vermieden werden kann das, indem der Sachwalter ein Sonderkonto einrichtet, bei dem zwar der Schuldner Rechtsträger ist, die Kontoführungsbefugnis aber allein dem Sachwalter obliegt8.

35.57

Der Sachwalter darf die Kontoführung nicht zur „Schattenverwaltung“ nutzen, indem er darüber befindet, welche Verbindlichkeiten bedient werden sollen. Will der Schuldner nicht zahlen, darf es auch der Sachwalter nicht, selbst wenn er die Forderung des Gläubigers für berechtigt hält. Will umgekehrt der Schuldner zahlen, darf der Sachwalter es nicht verweigern. Das gilt sogar, wenn die Verbindlichkeit ohne seine nach § 277 Abs. 1 InsO etwa erforderliche Zustimmung begründet wurde. Die Verletzung seiner Mitwirkungsbefugnisse wirkt eben nur im Innenverhältnis. Die Abhängigkeit von den Entscheidungen des Schuldners verdeutlicht, dass es sich bei der Kontoführung nur um eine Kontrollmaßnahme handelt. Davon müssen unter dem Blickwinkel der Pflichtenkollision zwei Ausnahmen gemacht werden. Die erste ist der Eintritt der Masseunzulänglichkeit. Sie verpflichtet den Sachwalter nicht nur zur unverzüglichen Anzeige an das Insolvenzgericht (§ 285 InsO), sondern wegen des auf ihn anwendbaren § 60 InsO (i.V.m. § 274 Abs. 1 InsO) auch zur Verhinderung einer Befriedigung von Alt-Mas-

35.58

1 2 3 4 5 6 7 8

Spliedt in Karsten Schmidt, § 259 InsO Rz. 7. Zur Handhabung in Großverfahren s. M. Hofmann in Kübler, HRI, § 7 Rz. 72 ff. BGH v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 zum Vergleichsverwalter. BGH v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 zum Vergleichsverwalter; Kilger/Karsten Schmidt, § 57 VglO Anm 3b. Im Widerspruch dazu steht allerdings, dass als Voraussetzung der Zugang des Verlangens beim Schuldner als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung angesehen wird, Rattunde/Stark, Der Sachwalter, 2015, Rz. 388. Fiebig in Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, § 275 InsO Rz. 14 f.; Harder, NZI 2015, 162 f.; Thole, DB 2015, 662, 668; a.A. Frind, ZInsO 2015, 22, 25. Zumal es sich dabei nicht um ein Verfügungs-, sondern um ein Verpflichtungsgeschäft handelt (Rz. 20.27 ff.), für die ein Zustimmungsbedarf gemäß § 275 Abs. 1 InsO keine Außenwirkung hätte. BGH v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 zum Vergleichsverwalter.

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§ 35 Rz. 35.58 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

segläubigern in einer dem § 209 InsO widersprechenden Reihenfolge1. Voraussetzung ist natürlich, dass er überhaupt die Rechtsmacht hat, diese Befriedigung zu verhindern, weil das mangels einer verdrängenden Kontoführungsbefugnis nur der Fall ist, wenn ausnahmsweise ein Sonderkonto eingerichtet wurde, über das allein er verfügen kann. Die zweite Ausnahme ist eine Kollision mit der Haftung nach § 61 InsO, die den Sachwalter für die Erfüllung derjenigen Verbindlichkeiten trifft, die kraft gerichtlicher Anordnung wirksam nur mit seiner Zustimmung begründet werden dürfen (§ 277 Abs. 1 Satz 3 InsO). Denkbar wäre zwar, eine Haftung bei Erfüllungsunwilligkeit des Schuldners abzulehnen, falls die Erfüllbarkeit bei Begründung der Verbindlichkeit bestand (§ 61 Satz 2 InsO). Dem Schutz des Neugläubigers wird man aber nur gerecht, wenn der Verwalter auch für die Erfüllung als solche Sorge trägt, also eine Zahlung von sich aus veranlassen darf, sofern keine rechtlichen Gründe (z.B. Schlechterfüllung des Vertragspartners) entgegenstehen. Keine Pflichtenkollision schafft hingegen eine vermeintliche Haftung gemäß § 69 AO. Zwar wird in der Übernahme der Kassenführung zunehmend die Erfüllung der Voraussetzungen des § 35 AO gesehen2, wonach ein Verfügungsberechtigter die Pflichten des gesetzlichen Vertreters hat, sofern er sie rechtlich oder tatsächlich erfüllen kann. Da die Entscheidungsbefugnis jedoch beim Schuldner liegt, darf der Sachwalter eine Steuerschuld „rechtlich“ nur erfüllen, wenn der Schuldner einverstanden ist. Die Übernahme der Kassenführung ist in erster Linie ein Instrument zur Überwachung des Schuldners. Was in seinem Zahlungsplan nicht enthalten ist, darf der Verwalter außer in den beiden vorgenannten Sonderfällen nicht bedienen. Selbst bei begrenzter Liquidität ist es allein Sache des Schuldners, darüber zu befinden, wie er die Mittel einsetzt. Deshalb gehört der Sachwalter nicht zu den von §§ 34 f. AO erfassten Personen und haftet nicht nach § 69 AO3.

35.59

Gelegentlich wird der Sachwalter auch außerhalb der Kassenführung als eine Art Treuhänder eingesetzt, so bei der Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen (vgl. § 280 InsO und dazu Rz. 35.66). Ein solcher Anfechtungsanspruch kann mit dem einer anderen Konzerngesellschaft gegen denselben Gegner konkurrieren, wenn Zahlungen im Dreiecksverhältnis abgewickelt wurden4. Im Regelinsolvenzverfahren wird der „Wettbewerb der Massen“5 dadurch entschieden, dass der eine Verwalter seinen Anfechtungsanspruch an den anderen abtritt6, der sodann beide Ansprüche gemeinsam geltend macht. Die Verteilung wird im Innenverhältnis zwischen den Verwaltern geregelt. In der Eigenverwaltung liegt eine Abtretung an einen der Sachwalter nahe. Ein anderer Anwendungsfall ist, dass der Sachwalter in die Abwicklung von Verträgen eingeschaltet wird, indem an ihn Zahlungen geleistet werden, die bei einem Scheitern der Vertragserfüllung insbesondere aufgrund einer Masseunzulänglichkeit erstattet werden sollen.

35.60

Gegen solche Gestaltungen spricht, dass ein Sachwalter in dieser Eigenschaft nicht Rechtsträger von Vermögen sein kann. Rechtsträger ist der Schuldner. Für eine Beschränkung seiner Verfügungsbefugnis fehlt die gesetzliche Grundlage. Er kann sich noch nicht einmal freiwillig 1 Zur Haftung des Insolvenzverwalters in diesen Situationen vgl. Thole in Karsten Schmidt, § 60 InsO Rz. 26 f.; Spliedt in Pape/Graeber, Handbuch der Insolvenzverwalterhaftung, 2009, Rz. 350 ff. 2 Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 233; Rattunde/Stark, Der Sachwalter, 2015, Rz. 570 f. m.w.N. in Fn. 936; ablehnend FG Düsseldorf v. 12.3.2021 – 14 K 3658/16 H(L), EWIR 2021, 729. 3 FG Düsseldorf v. 12.3.2021 – 14 K 3658/16 H(L), ZIP 2021, 1410. 4 Der häufigste Fall ist die Zahlung auf die Schuld einer Konzerngesellschaft, die in der Insolvenz der zahlenden Gesellschaft gemäß § 134 InsO anfechtbar ist, z.B. LG Köln v. 22.10.2014 – 26 O 140/13, NZI 2015, 76. 5 Den BGH v. 16.11.2007 – IX ZR 194/04, ZIP 2008, 125 Rz. 34 zugunsten der Deckungsanfechtung in der Insolvenz des Forderungsschuldners entscheidet, falls die Anfechtung dort tatsächlich durchgesetzt wird. 6 Zur Zulässigkeit der Abtretung: Büteröwe in Karsten Schmidt, § 143 InsO Rz. 17 f.

1082 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.63 § 35

einer Verfügungsmacht mit absoluter Wirkung nach außen begeben. Selbst die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen gemäß § 280 InsO nimmt der Sachwalter nur als Partei kraft Amtes vor. Rechtsträger bleibt auch hier der Schuldner. Entweder geht ein Rechtserwerb des Sachwalters ins Leere, so dass bspw. die vermeintlich abgetretenen Anfechtungsansprüche weiterhin dem Zedenten zustehen, oder aber der Schuldner wird Rechtsinhaber, wenn die Abtretungsvereinbarung dahingehend ausgelegt werden kann. Der Sachwalter würde diesen Anspruch dann nur in Prozessstandschaft oder als Bevollmächtigter durchsetzen. Fataler sind die Folgen bei der Zahlung an den Sachwalter zum Schutz vor einer gescheiterten Vertragsabwicklung. Gehört das Geld zur Masse, darf es auch bei einer Masseunzulänglichkeit, vor der diese Gestaltung gerade schützen soll, nicht zurückgezahlt werden. Durch das SanInsFoG wurde § 274 Abs. 2 InsO dahingehend ergänzt, dass das Gericht dem Sachwalter eine Unterstützungsaufgabe zuweisen kann für die Insolvenzgeldfinanzierung, die insolvenzrechtliche Buchführung und Verhandlungen mit Kunden und Lieferanten. Hinzu kommt die Beratung bei der Erstellung eines Insolvenzplans, wenn die Gläubigerversammlung oder der vorläufige Gläubigerausschuss den Schuldner dazu beauftragt, § 278 Abs. 1 InsO.

35.61

Die Ausübung der Mitwirkungsbefugnisse steht nicht im freien Belieben des Sachwalters. Er darf sich keine „Generalzustimmungen“ erteilen oder bei der Kassenführung jedem Zahlungsvorschlag ohne Prüfung Folge leisten. Vielmehr muss er auf eine intensive Einbindung in die Unternehmensplanung drängen. Letztlich fallen ihm dieselben Aufgaben zu, die auch ein Insolvenzverwalter erledigen muss, nur mit dem Unterschied, dass ihm die Rechtsmacht im Außenverhältnis fehlt. Das kann die Sachwaltertätigkeit erheblich erschweren. Er sollte deshalb mit der schuldnerischen Geschäftsführung konkrete Vereinbarungen über die Einhaltung und Aktualisierung der Informationen und Unternehmenspläne treffen1. Beachtet der Schuldner das nicht, kann der Sachwalter seine Aufgabe nicht erfüllen, worüber er die in § 274 Abs. 3 InsO genannten Beteiligten zu informieren hat. Die Konsequenzen daraus zu ziehen, obliegt freilich allein der Gläubigerversammlung.

35.62

d) Zustimmung zur Wirksamkeit bestimmter Rechtsgeschäfte Ausnahmsweise hat eine Mitwirkungsbefugnis des Sachwalters Außenwirkung, wenn das Insolvenzgericht diese Wirksamkeit bestimmter Rechtsgeschäfte von seiner Zustimmung abhängig macht (§ 277 Abs. 1 InsO). Dazu gehören auch einseitige (Gestaltungs-)Erklärungen wie z.B. Kündigungen2. Erforderlich ist ein Antrag der Gläubigerversammlung, bei Gefahr im Verzug auch eines einzelnen Gläubigers. Ein Antrag des Sachwalters reicht nicht aus. Auch kann das Insolvenzgericht den Zustimmungsbedarf nicht von Amts wegen beschließen. Die Anordnung muss sich auf bestimmte Rechtsgeschäfte erstrecken. Sie darf die engen Voraussetzungen für eine nachträgliche Aufhebung der Eigenverwaltung (§ 272 InsO) nicht dadurch umgehen, dass (nahezu) alle Rechtsgeschäfte der Zustimmung unterworfen werden; denn ein Beschluss der Gläubigerversammlung über die Aufhebung bedarf sowohl einer Kopf- als auch einer Summenmehrheit (§ 272 Abs. 1 Nr. 1 InsO), während über den Antrag auf Erlass des Zustimmungsvorbehalts nur die Mehrheit entscheidet (§ 76 Abs. 2 InsO). Die erfassten Geschäfte müssen so konkret bezeichnet werden, dass Dritte der Anordnung zweifelsfrei entnehmen können, was von ihr erfasst wird3. Die Verfügungsbeschränkung ist öffentlich bekannt zu machen und ggfls. in Register einzutragen (§ 278 Abs. 3 InsO). 1 Hölze in Bork/Hölzle, Handbuch Insolvenzrecht, Kap. 14 Rz. 58. 2 Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 277 InsO Rz. 16. 3 Undritz in Karsten Schmidt, § 277 InsO Rz. 2.

Spliedt | 1083

35.63

§ 35 Rz. 35.64 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

35.64

Die Rechtsfolgen des Zustimmungsvorbehalts nach § 277 InsO sind dieselben, wie die eines Zustimmungsvorbehalts im Rahmen der „schwachen“ vorläufigen Insolvenzverwaltung (Rz. 20.21). Ohne Zustimmung des Sachwalters geschlossene Geschäfte sind absolut unwirksam (§ 277 Abs. 1 Satz 1 InsO). Nur der gute Glaube an die Richtigkeit von Registern wird geschützt (§ 81 Abs. 1 Satz 2 InsO). Die für teilweise Verfügungsverbote bei der vorläufigen Verwaltung eingreifende nur relative Unwirksamkeit und der damit eröffnete Gutglaubensschutz (§§ 135 f. BGB) werden für den auf bestimmte Geschäfte beschränkten Zustimmungsvorbehalt (erstaunlicherweise) nicht diskutiert1 Unwirksamkeit bedeutet auch hier keine Nichtigkeit, so dass der Sachwalter die Zustimmung in Form der Genehmigung (§ 184 BGB) erteilen kann, was allerdings bei einseitigen Rechtsgeschäften versagt (§ 182 Abs. 3 BGB). Leistungen an den Schuldner haben schuldbefreiende Wirkung, falls der Drittschuldner die Verfügungsbeschränkung nicht kannte, was nur vor der öffentlichen Bekanntmachung zu seinen Gunsten vermutet wird, danach aber von ihm zu beweisen ist2 (§ 82 InsO). Auch eine solche Erfüllung kann der Sachwalter aber nachträglich genehmigen.

35.65

Selbst ohne gerichtliche Anordnung gelten gemäß § 279 Satz 3 InsO dieselben Rechtsfolgen für einige Maßnahmen im (kollektiven) Arbeitsrecht. Darunter fallen die Kündigung von Betriebsvereinbarungen (§ 120 InsO) und Anträge auf gerichtliche Zustimmung zu einer Betriebsänderung (§ 122 InsO) bzw. gerichtliche Feststellung der Sozialauswahl (§ 126 InsO). Trotz der großen Bedeutung zählen dazu nicht der Abschluss eines Interessenausgleichs oder eines Sozialplans (§ 123 InsO). Diese Vorgänge unterliegen nur der allgemeinen Mitwirkungsklausel des § 275 InsO.

e) Durchsetzung von Anfechtungs- und Haftungsansprüchen 35.66

Als Handlungsorgan wird der Sachwalter im Konfliktbereich tätig (§ 280 InsO). Dazu gehören die insolvenzrechtliche Anfechtung gemäß §§ 129 ff. InsO und die Durchsetzung von Haftungsansprüchen gemäß § 92 und § 93 InsO. Die letztgenannte Vorschrift betrifft die persönliche Haftung des Mitglieds einer Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit. Für die GmbH hat sie nur Bedeutung, soweit eine analoge Anwendung zulässig ist3. Zwar werden vom Wortlaut des § 280 InsO nicht erfasst Ansprüche aufgrund von Verstößen gegen die Kapitalaufbringung und -erhaltung oder das Masseerhaltungsgebot des § 64 GmbHG a.F.4 bzw. § 15b InsO n.F. oder gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht. Hier gibt es jedoch denselben Interessenkonflikt wie bei der Verfolgung von Haftungsansprüchen gegen persönlich haftende Gesellschafter. Deshalb ist § 280 InsO analog anzuwenden5, wobei aus Gründen der Rechtssicherheit eine generalisierende Betrachtungsweise erforderlich ist. Ob konkret ein Interessenskonflikt vorliegt, spielt keine Rolle, so dass auch Ansprüche gegen ausgeschiedene Geschäftsführer bzw. Gesellschafter vom Sachwalter geltend zu machen sind. Flankierend ist es sinnvoll, dass der Schuldner den Sachwalter zur Verfolgung dieser Ansprüche gesondert ermächtigt. Damit vermeidet der Schuldner zugleich die Besorgnis der Befangenheit6, die eine die Anordnung der Eigenverwaltung hindernde Nachteilserwartung begründen. Gleiches soll1 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 277 InsO Rz. 5, 11; Undritz in Karsten Schmidt, § 277 InsO Rz. 6 und das, obwohl § 277 InsO noch nicht einmal auf § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO Bezug nimmt. 2 Sternal in Karsten Schmidt, § 83 InsO Rz. 18. 3 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt, § 93 InsO Rz. 9 f. 4 § 64 GmbHG aufgehoben m.W.v. 1.1.2021 durch Gesetz v. 22.12.2020 (BGBl. I 2020, 3256). 5 Kirchhof/Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 280 InsO Rz. 5; Hofmann, ZIP 2007, 260, 262. 6 AG Hamburg v. 28.2.2014 – 67c IN 1/14, NZI 2014, 566.

1084 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.68 § 35

te für etwaige Schadensersatzansprüche gegen Berater gelten, falls dafür Anhaltspunkte vorhanden sind.

f) Insolvenzplan Eine Zwitterstellung nimmt der Sachwalter bei der Ausarbeitung eines Insolvenzplans ein. Zur Planvorlage ist nur der Schuldner befugt (§ 218 Abs. 1 InsO), dessen Bemühungen der Sachwalter nicht durch einen eigenen Alternativplan konterkarieren kann1. Nur die Gläubigerversammlung oder der vorläufige Gläubigerausschuss können ihn zur Erstellung eines „Auftragsplans“ mandatieren (§ 284 Abs. 1 InsO), der binnen angemessener Frist vorzulegen ist (§ 218 Abs. 2 InsO). Insofern bedarf § 218 Abs. 1 InsO, der den Sachwalter als Planeinreicher nicht nennt, der Korrektur. Darüber hinaus hat der Sachwalter kein selbständiges Planinitiativrecht2 nach dem klaren Wortlaut des § 284 InsO. Zwar steht ein solches dem Insolvenzverwalter zu. Er aber hat auch die Verfügungsbefugnis über die Massegegenstände und deshalb ein Interesse, durch einen Insolvenzplan die Verwertungsform zu beschließen. Der Sachwalter ist zur Unterstützung des Schuldners verpflichtet, nach dem Gesetzeswortlaut zwar nur, wenn die Gläubigerversammlung den Schuldner anstatt den Sachwalter mit der Planerstellung beauftragt, § 284 Abs. 1 InsO. Ohne eine Abstimmung der laufenden Maßnahmen mit den Planzielen ist der Sachwalter jedoch nicht in der Lage, seine Mitwirkungsbefugnisse gemäß §§ 274 f. InsO auszuüben.

35.67

g) Haftung Für die Haftung des Sachwalters gilt § 60 InsO entsprechend (§ 274 Abs. 1 InsO). Er muss für eine Verletzung seiner Überwachungs- und Mitwirkungspflichten einstehen. Ein Schaden kann daraus sowohl dem Schuldner als auch den Gläubigern erwachsen. Allerdings dienen die im Rahmen der Eigenverwaltung genannten Mitwirkungsbefugnisse der Kontrolle und – außer beim Auftrags-Insolvenzplan – nicht der Unterstützung des Schuldners. Obwohl der Gesetzgeber für das Regelverfahren dem Gläubigerausschuss, der ebenfalls ein Kontrollorgan ist, in § 69 Satz 1 InsO auch die Unterstützung des Insolvenzverwalters zugewiesen hat, fehlt eine solche Vorschrift für den Sachwalter im Verhältnis zum Schuldner. In der Praxis sieht das anders aus, weil der Sachwalter ohne gegenseitige Abstimmung seine Verpflichtungen nicht erfüllen kann. Dadurch gelangt der Schuldner aber nicht in den Schutzbereich der Kontrollpflichten, soweit es Maßnahmen betrifft, die er selbst initiiert. Anders verhält es sich, wenn der Sachwalter die Zustimmung zu notwendigen Geschäften gegen den Willen des Schuldners verweigert und dadurch ein Schaden entsteht. Zwar wird sich der in erster Linie in einem Gesamtschaden der Gläubiger niederschlagen. Ein Schaden des Schuldners liegt vor, wenn ihm ohne die Pflichtverletzung ein Vermögensüberschuss verblieben wäre. Ein Gesamtgläubigerschaden kann entstehen, wenn der Sachwalter seiner Redepflicht (§ 274 Abs. 3 InsO) – bspw. über eine Zahlung von Insolvenzforderungen – oder der Anzeige einer Masseunzulänglichkeit (§ 285 InsO) nicht nachkommt und er den Gläubigern dadurch die Möglichkeit nimmt, künftige mit der Eigenverwaltung verbundene Nachteile durch den in einer Gläubigerversammlung beschlossenen Aufhebungsantrag zu verhindern. In der Praxis ist ein Nachweis der haftungsausfüllenden Kausalität allerdings schwierig. Ein Einzelgläubigerschaden ist vor allem durch Fehler bei der Verwertung von Sicherungsgut denkbar, an der der Verwalter gemäß § 282 Abs. 2 InsO mitzuwirken hat. Ebenso kann ein Einzelgläubigerschaden entstehen, wenn 1 Undritz in Karsten Schmidt, § 270b InsO Rz. 10. 2 Spliedt in Karsten Schmidt, § 218 InsO Rz. 11; a.A. Hölzle, Praxisleitfaden ESUG, §§ 270, 270a InsO Rz. 32 ff.

Spliedt | 1085

35.68

§ 35 Rz. 35.68 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

bei Ausschüttungen, die der Sachwalter gemäß § 283 Abs. 2 InsO zu prüfen hat, Fehler auftreten. Die in der Praxis größte Haftungsgefahr gegenüber einzelnen Gläubigern droht dem Sachwalter, wenn er die Anzeige der Masseunzulänglichkeit gemäß § 285 InsO verzögert. Dann verlieren nach Eintritt der Masseunzulänglichkeit hinzukommende Gläubiger ihren nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO bevorzugten Rang und werden nur quotal mit den Alt-Massegläubigern im Rang des § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO befriedigt. Einem Neugläubiger wird wegen der Nichterfüllung von Masseverbindlichkeiten ein auf § 61 InsO gestützter Schadensersatzanspruch eingeräumt, wenn die Begründung der Masseverbindlichkeit erst durch die Zustimmung des Sachwalters wirksam wurde (§ 277 Abs. 1 Satz 3 InsO). § 61 InsO erfasst im Regelinsolvenzverfahren auch die Verhinderung einer Vorleistung des Gläubigers auf eine schon vorher begründete Verbindlichkeit, wenn diese Verhinderung rechtlich noch zulässig ist1. Der Sachwalter hat hingegen nur Einfluss auf den Vertragsabschluss, nicht mehr auf die spätere Vertragsabwicklung. Er ist somit auch nicht in der Lage, eine Leistung noch zurückzuweisen. Für seine Haftung kann es deshalb nur auf die Umstände bei dem Abschluss des Vertrages ankommen.

35.69

Eine Haftung des Sachwalters für die unterbliebene Entrichtung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung (§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266a Abs. 1, § 14 StGB) kommt nicht in Betracht, weil Adressat der Strafvorschrift die GmbH als Arbeitgeber ist und der Sachwalter nicht zu den von § 14 StGB erfassten Personen gehört. Genauso wenig kann eine Haftung für die Entrichtung von Steuern gemäß §§ 69, 34 AO eingreifen, weil er nicht zu den von § 34 AO erfassten Personen gehört. Er ist nicht, wie der Insolvenzverwalter, ein Vermögensverwalter i.S. von § 34 Abs. 3 InsO2. Ob der Sachwalter i.S. von § 35 AO Verfügungsberechtigter ist, wenn er die Kassenführung an sich zieht, ist umstritten3. Im Verhältnis zu § 34 AO ist es ein Auffangtatbestand, der nur eingreift, wenn die Voraussetzungen des § 34 AO nicht erfüllt sind4. Deshalb erfasst § 35 AO weder einen Bevollmächtigten, auch wenn er beispielsweise zu einem umfassenden Inkasso befugt ist, noch die Bank, die aufgrund einer Globalzession sämtliche Forderungen vereinnahmt5. Da § 35 AO nur Lückenfüllungsfunktion hat, muss die Verfügungsberechtigung eine ähnliche umfassende wie bei § 34 AO sein6. Das trifft auf den Sachwalter nicht zu. Selbst mit der Kassenführung erhält er keine den Schuldner verdrängende Befugnisse7. Insbesondere darf er nicht etwas zahlen, was der eigenverwaltende Schuldner nicht zahlen will, so dass seine Haftung zumindest an der rechtlichen Unmöglichkeit einer Pflichterfüllung scheitert8. Zwar hat der BFH § 35 AO auf einen Prokuristen angewendet, dem eine den Einfluss der Geschäftsführer ebenfalls nicht verdrängende Verfügungsbefugnis eingeräumt worden war. Für zusätzlich erforderlich hielt der BFH jedoch, dass die fristgerechte Abgabe von Steuererklärungen und die fristgerechte Zahlung zu den ihm im Innenverhältnis übertragenen Pflichten gehörten9. Eine solche Zuständigkeit hat der Sachwalter nicht. In die 1 BGH v. 6.5.2004 – IX ZR 48/03, ZIP 2004, 1107. 2 Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 227; Hobelsberger, DStR 2013, 2546, 2548 (für den vorläufigen Sachwalter). S. Anforderungen in FG Düsseldorf v. 12.3.2021 – 14 K 3658/16 H(L), ZIP 2021, 1410. 3 Bejahend: Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 233 (anders wohl noch Kahlert, ZIP 2012, 2089); Schmittmann/Dannemann, ZIP 2014, 1405, 1407; verneinend: Pape in Kübler/Prütting/Bork, § 274 InsO Rz. 49. 4 Rüsken in Klein, 15. Aufl. 2020, § 35 AO Rz. 1. 5 Rüsken in Klein, 15. Aufl. 2020, § 35 AO Rz. 15 f. 6 A.A. Kahlert in Kübler, HRI, § 57 Rz. 232 ff., der den Sachwalter als Vertreter des Schuldners i.S. des § 35 AO ansieht. 7 Sonnleitner/Winkelhog, BB 2015, 88, 96 zum vorläufigen Sachwalter. 8 Thole, DB 2015, 662, 670: kein Verschulden wegen Pflichtenkollision. 9 BFH v. 23.4.2007 – VII B 92/06, ZIP 2007, 1659 Rz. 8 = GmbHR 2007, 1004.

1086 | Spliedt

§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.72 § 35

Position des § 35 AO könnte er nur rutschen, wenn man die Übernahme der Kassenführung als Einschränkung der Verfügungsbefugnis des Schuldners interpretiert. So wird im Eröffnungsverfahren versucht, eine Haftung der Geschäftsführer für nicht abgeführte Steuern dadurch zu umgehen, dass der vorläufige Sachwalter die Kassenführung übernimmt und Zahlungsanweisungen des Schuldners nicht ausführt (s. Rz. 35.56 ff.). Diese Flucht des Organs aus der Haftung gemäß § 34 AO könnte für den „Fluchthelfer“ zur Haftung gemäß § 3 AO führen.

5. Gläubigerausschuss Im Eröffnungsverfahren kann der Gläubigerausschuss das „Zünglein an der Waage“ sein; denn ein einstimmiges Votum des vorläufigen Gläubigerausschusses für oder gegen die Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung bindet das Gericht gemäß § 270b Abs. 3 InsO. Auch ist er in die Auswahl des Sachwalters einzubinden. Er kann durch einstimmigen Beschluss sogar eine Person vorgeben, die das Insolvenzgericht dann ernennen muss, es sei denn, dass sie ungeeignet ist (§ 274 Abs. 1, § 56a Abs. 2 InsO). Im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren hat der Gläubigerausschuss dieselben Aufgaben wie im Regelverfahren. Die in § 276 InsO angesprochenen Mitwirkungen haben nur klarstellende Bedeutung. Er ist an grundlegenden Entscheidungen des Eigenverwalters ebenso zu beteiligen wie an solchen des Insolvenzverwalters. Das ergibt sich bereits aus der Generalverweisung in § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO auf die allgemeinen Vorschriften. Die Zustimmung des Gläubigerausschusses hat der Schuldner einzuholen, nicht der Sachwalter (§ 276 InsO)1.

35.70

Der Zustimmung des Gläubigerausschusses unterliegen bedeutsame Rechtshandlungen. Sie umfassen die Begründung von Verbindlichkeiten, die über den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb hinausgehen und deshalb gemäß § 275 Abs. 1 InsO auch noch der Zustimmung des Sachwalters unterliegen2. Im Überschneidungsbereich ist allein die Entscheidung des Gläubigerausschusses maßgebend3. Das entspricht sowohl dem das Verfahren beherrschenden Grundsatz der Gläubigerautonomie als auch dem beredten Schweigen des Gesetzes über die Lösung einer ansonsten entstehenden Patt-Situation. Nur die Gläubigerversammlung ist befugt, einen Zustimmungsbeschluss des Gläubigerausschusses außer Kraft zu setzen (§ 161 Satz 2 InsO). Will der Sachwalter das erreichen, muss er Gläubiger mit dem in § 75 Abs. 1 Nr. 3 bzw. Nr. 4 InsO genannten Quoren veranlassen, die Einberufung einer Gläubigerversammlung zu beantragen. Bis dahin kann das Gericht die Durchführung der umstrittenen Rechtshandlung vorläufig untersagen. Die Entscheidung über eine Betriebsveräußerung an besonders Interessierte obliegt gemäß § 270 Abs. 1 Satz 2, § 162 InsO ohnehin der Gläubigerversammlung, auch wenn ein Gläubigerausschuss bestellt ist.

35.71

Ergänzend sind die Beteiligungsrechte des Gläubigerausschusses im Planverfahren zu berücksichtigen. Der Ausschuss kann bereits bei der Aufstellung beratend mitwirken (§ 218 Abs. 2 InsO) und zu dem eingereichten Plan Stellung nehmen (§ 232 Abs. 1 Nr. 2 InsO), bevor er zur Einsicht für die Beteiligten ausgelegt wird. Vor der gerichtlichen Bestätigung des Insolvenzplans hat das Insolvenzgericht den Ausschuss zu hören (§ 248 InsO), was insbesondere im kontroversen Planverfahren von Bedeutung ist, weil mit der Bestätigung zugleich über das Obstruktionsverbot (§ 245 InsO) und einen Minderheitenschutzantrag (§ 251 InsO) entschieden wird.

35.72

1 Auch dies ergibt sich schon aus den allgemeinen Vorschriften, da der eigenverwaltende Schuldner an die Stelle des Insolvenzverwalters tritt. 2 AG Köln v. 15.11.2017 – 74 IN 103/16, NZI 2018, 210. 3 Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 276 InsO Rz. 6; a.A. Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 276 InsO Rz. 9.

Spliedt | 1087

§ 35 Rz. 35.73 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

35.73

Der Gläubigerausschuss entscheidet mit der Präsenzmehrheit, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder an der Beschlussfassung teilgenommen hat (§ 274 Abs. 1, § 72 InsO). Als Kontrollorgan, das die Belange sämtlicher Gläubiger wahrnehmen muss, besteht eine Haftung der Mitglieder nicht gegenüber dem Schuldner, sondern nur gegenüber den Gläubigern (§ 71 InsO).

35.74

Bei einer Gesamtbetrachtung von Verfahrensbeginn bis zu dem in der Eigenverwaltung meist durch Insolvenzplan herbeigeführten Verfahrensende kommt dem Gläubigerausschuss eine größere Bedeutung als im Regelinsolvenzverfahren zu. Formaljuristisch ist es zwar möglich, gegen ihn zu agieren. De facto wird eine Sanierung wegen seines meinungsbildenden Einflusses auf die Gläubigergesamtheit und seine Verfahrensrechte kaum gelingen. Daraus folgt sowohl für den Schuldner als auch für den Sachwalter, dass der Ausschuss über die wenigen zustimmungspflichtigen Geschäfte hinaus über den Verwaltungsgang laufend informiert werden sollte, wenn er es wünscht.

6. Aufhebung der Eigenverwaltung 35.75

Die Eigenverwaltung ist unter den in § 272 InsO genannten Voraussetzungen aufzuheben. Nach Änderung der Vorschrift durch das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts1 bedarf es keines Antrags mehr. Eine Aufhebung durch das Gericht erfolgt nunmehr in Fällen des schwerwiegenden Verstoßes gegen insolvenzrechtliche Pflichten (§ 272 Abs. 1 Nr. 1 InsO) und der Aussichtslosigkeit der Einreichung des Eigenverwaltungsziels (§ 272 Abs. 1 Nr. 2 InsO) von Amts wegen. Zu beachten ist aber, dass gemäß Art. 103m EGInsO dies nicht für Insolvenzverfahren, die vor dem 1.1.2021 beantragt wurden, gilt. Hier verbleibt es bei § 272 InsO a.F., wonach ein Antrag des Gläubigers erforderlich war und die Aufhebung nicht von Amts wegen erfolgen konnte2. Ein Verstoß hiergegen stellt eine Grundrechtsverletzung gegen Art. 3 Abs. 1 GG da und kann mittels Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden3.

35.76

Ein Antrag kann gleichwohl weiterhin zur Aufhebung der Eigenverwaltung in den Fällen des § 272 Abs. 1 Nr. 3−5 InsO führen. Beantragt der Schuldner die Aufhebung (§ 272 Abs. 1 Nr. 5 InsO), muss dem schon deshalb Folge geleistet werden, weil eine Fortsetzung gegen seinen Willen für die Gläubiger gefährlich ist; denn der Schuldner würde nicht mehr ausreichend Sorge für die Masse tragen. Für einen Aufhebungsantrag der Gläubigerversammlung reicht die Kopf- und Summenmehrheit (§ 272 Abs. 1 Nr. 3, § 76 Abs. 2 InsO). Eine Begründung ist nicht erforderlich. Der Beschluss unterliegt keiner inhaltlichen Kontrolle gemäß § 78 InsO4, so dass das Insolvenzgericht an den Antrag gebunden ist. Ein Antrag allein des Gläubigerausschusses genügt nach Verfahrenseröffnung hingegen nicht, obwohl der Gläubigerausschuss neben dem Insolvenzgericht Adressat der Mitteilung des Sachwalters (§ 274 Abs. 3 InsO) und der gemäß § 69 InsO vom Schuldner zu leistenden Informationen ist. Sowohl Gericht als auch Gläubigerausschuss verweist das Gesetz auf die Einberufung einer Gläubigerversammlung gemäß §§ 74 f. InsO, die dann über die Aufhebung zu entscheiden hat. So hat das Gericht gemäß § 270 Abs. 1 Satz 2, § 74 Abs. 1 Satz 1 InsO eine Gläubigerversammlung einzuberufen, wenn die bislang angefallenen Kosten der Eigenverwaltung die vor Eröffnung im Rahmen einer Vergleichsrechnung prognostizierten Beratungs- und Sachwaltungskosten in erheblichem Maße überschreiten, um über die Fortsetzung der Eigenverwaltung zu ent1 2 3 4

SanInsFoG v. 22.12.2020, BGBl. I 2020, 3256. BVerfG v. 17.8.2021 – 2 BvR 1086/21, NZI 2021, 989. So BVerfG v. 17.8.2021 – 2 BvR 1086/21, NZI 2021, 989. BGH v. 21.7.2011 – IX ZB 64/10, ZIP 2011, 1622.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.101 § 35

scheiden. Schließlich ergeben sich regelmäßig Nachteile für die Gläubiger bei Kostenüberschreitung, da bei Fortführung der Eigenverwaltung für die Befriedigung der Gläubiger eine geringere Masse zur Verfügung steht1. Im Aufhebungsantrag eines einzelnen Gläubigers (§ 272 Abs. 1 Nr. 4 InsO) muss sowohl dargelegt werden, dass die Anordnungsvoraussetzungen weggefallen sind, als auch, dass eine Fortsetzung Nachteile für die Gläubiger erwarten lässt, die darüber hinaus für den Antragsteller persönlich sogar die Schwelle der Erheblichkeit erreichen müssen. All das hat er glaubhaft zu machen (§ 272 Abs. 2 InsO). „Wegfall“ der Voraussetzungen bedeutet, dass zur Begründung nur solche Umstände in Betracht kommen, die bei der Anordnung noch nicht bekannt waren. Dass sie schon vorher eingetreten waren, steht dem nicht entgegen, nur eine andere Würdigung ist unzulässig2. Anders ist es, wenn erst eine Gesamtschau von altbekannten und neu bekannten Umständen das Nachteilsurteil rechtfertigen.

35.77

Ein Rechtsmittel gewährt § 272 Abs. 2 InsO sowohl dem Schuldner als auch einem Gläubiger nur, wenn die Aufhebung auf einen Antrag einzelner Gläubiger erfolgte. Gegen die Aufhebung auf Antrag der Gläubigerversammlung oder des Schuldners ist kein Rechtsmittel vorgesehen. In offensichtlichen, schwerwiegenden fehlerhaften Rechtsanwendungen, so bspw. bei Nichtbeachtung einer einschlägigen Norm, kann eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden3.

35.78

Die Aufhebung wirkt für die Zukunft. Für die Vergangenheit bleiben die Maßnahmen des Schuldners wirksam, da es sich auch nach der Aufhebung um ein einheitliches Insolvenzverfahren handelt. An die Stelle des Schuldners als Eigenverwalter tritt nunmehr ein Insolvenzverwalter. Zweckmäßigerweise wird dieses Amt dem bisherigen Sachwalter angetragen, den das Gesetz in § 272 Abs. 3 InsO ausdrücklich als geeignet benennt.

35.79

Einstweilen frei.

35.80–35.100

III. Schutzschirmverfahren Das so genannte „Schutzschirmverfahren“ ist nur eine auf das Eröffnungsverfahren beschränkte Unterart der Eigenverwaltung, die in einer einzigen Vorschrift geregelt ist, § 270d InsO (zum Verhältnis zwischen Schutzschirmverfahren und Eigenverwaltung s. Rz. 35.1). In der Öffentlichkeit vielfach als Sanierungsverfahren gepriesen, erschöpft sich die Bedeutung in der Einschränkung des richterlichen Beurteilungsspielraums bei der Dauer des Vorverfahrens, der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen, der Bestellung des vorläufigen4 Sachwalters und schließlich der Masseschuldermächtigung. Es dient der Vorbereitung einer Sanierung, die ihren Abschluss durch einen Insolvenzplan erst im eröffneten Insolvenzverfahren finden kann.

1 AG Köln v. 15.11.2017 – 74 IN 103/16, NZI 2018, 210. 2 Undritz in Karsten Schmidt, § 272 InsO Rz. 4 f.; Kern in Münchener Kommentar zur InsO, § 272 InsO Rz. 25. 3 S. eindrucksvoll BVerfG v. 17.8.2021 – 2 BvR 1086/21, NZI 2021, 989. 4 Die Beschränkung des gerichtlichen Auswahlermessens gilt nicht für die Bestellung des „endgültigen“ Sachwalters bei Verfahrenseröffnung, für die die allgemeinen Vorschriften Anwendung finden, Begr. RegE BT-Drucks. 17/5712, S. 41. Ein Personenwechsel ist in der Praxis zwar selten, aber auch nicht ausgeschlossen, z.B. AG Stendal v. 31.8.2012 – 7 IN 164/12, ZIP 2012, 1875.

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35.101

§ 35 Rz. 35.102 | 9. Teil Eigenverwaltung, Schutzschirmverfahren, Restschuldbefreiung

1. Antragsvoraussetzungen a) Eigenverwaltungs- und Schutzschirmanträge 35.102

Es gelten zunächst die allgemeinen Anforderungen an die Anträge auf Verfahrenseröffnung und auf Anordnung der Eigenverwaltung. Ob auch die in § 270a InsO genannten Unterlagen beizufügen sind, geht aus dem Gesetzeswortlaut nicht eindeutig hervor. Nach den Gesetzesmaterialien entspricht § 270d InsO der früheren Regelung des § 270b InsO a.F.1. Damals waren weitere Unterlagen zwar nicht erforderlich. Dass diese Bezugnahme auch den jetzigen § 270a InsO beim Schutzschirmantrag ausschließen soll, ist nicht zwingend. Nach dem Zweck des Schutzschirmverfahrens, vor dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit unter Vollstreckungsschutz erst die Erarbeitung eines Sanierungskonzepts zu ermöglichen, wird man die Beifügung der Unterlagen aber wohl nicht verlangen dürfen2. Die in § 270d InsO genannten Schutzschirmanträge sind verfahrensrechtlich selbständig neben dem Antrag auf Eigenverwaltung (§ 270d Abs. 1 Satz 1 InsO)3. Da sie Maßnahmen im Eröffnungsverfahren für eine spätere Eigenverwaltung betreffen, darf deren Anordnung nicht i.S. von § 270d Abs. 1 Satz 1 InsO „offensichtlich aussichtslos“ sein (s. dazu Rz. 35.107 ff.), ein Kriterium, das schon in der Sanierungsbescheinigung (Rz. 35.113 ff.) berücksichtigt werden muss. Der Schutzschirmantrag kann ebenso wie der Antrag auf Eigenverwaltung auch nach dem Insolvenzantrag eines Gläubigers gestellt werden (Rz. 35.4). Im Gegensatz zur Eigenverwaltung können die Schutzschirmanordnungen jedoch nur getroffen werden, wenn noch keine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, was bei einem Gläubigerantrag regelmäßig der Fall ist, einmal davon abgesehen, dass die Sanierungs- und Nachteilsprognosen bei einer solchen Verzögerung meist negativ sind. Der Schutzschirmantrag muss den Antrag auf eine Frist zur Vorlage eines Insolvenzplans enthalten. Nach dem Gesetzeswortlaut obliegt es dem Gericht, die Länge der Frist festzusetzen4. Der Anreizfunktion des Schutzschirmverfahrens entspricht es hingegen, dass sich die richterliche Prüfung nur auf das „Ob“ der Fristgewährung erstreckt, nicht auf deren Länge, wenn die Voraussetzungen des § 270f Abs. 1 InsO erfüllt sind. Gemäß § 270d Abs. 1 Satz 2 InsO darf die Frist höchstens drei Monate betragen. Eine kürzere beantragte oder bewilligte Frist ist verlängerbar, darf jedoch insgesamt nicht mehr als drei Monate betragen (§ 270d Abs. 1 Satz 2 InsO)5. Die Länge der Frist sollte auf den Insolvenzgeldzeitraum abgestimmt werden, weil anderenfalls eine Anordnung der Eigenverwaltung hindernde Nachteile drohen. Die Anträge auf Bestellung einer bestimmten Person zum Sachwalter und Anordnung vorläufiger Maßnahmen gemäß § 270d Abs. 2 und Abs. 3 InsO können, müssen aber nicht gestellt werden.

b) Insolvenzgrund 35.103

Als Insolvenzgründe dürfen nur die drohende Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung vorliegen. Zahlungsunfähigkeit schließt das Schutzschirmverfahren aus, muss also, falls doch bereits eingetreten, vorher behoben werden, und sei es auch nur vorübergehend. Diese Voraussetzung hat mehr eine Anreizfunktion für den Schuldner, weniger eine Schutzfunktion für die Gläubiger. Der Schutzschirmantrag wird, wenn eine einmal eingetretene Zahlungs1 BT-Drucks. 19/24181, S. 207. 2 Smid, NZI 2022, 7, 8; a.A. Riggert in Braun, § 270d InsO Rz. 5; Ellers in BeckOK/Insolvenzrecht, Stand: 15.1.2022, § 270d InsO Rz. 18. 3 Zur Strafbarkeit bei einem Missbrauch des Schutzschirmverfahrens: Brand, KTS 2014, 1 ff. 4 Schmidt/Linker, ZIP 2012, 963, 964: 1 Monat mit Verlängerungsmöglichkeit. 5 Vallender, GmbHR 2012, 450, 454; a.A. evtl. Graf-Schlicker in Graf-Schlicker, § 270b InsO Rz. 28 unter Hinweis auf § 224 Abs. 2 ZPO, der jedoch nur die Höchstfrist, nicht eine kürzere richterliche Frist betrifft.

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§ 35 Insolvenz- und haftungsrechtliche Besonderheiten | Rz. 35.106 § 35

unfähigkeit nur vorübergehend wieder beseitigt wird, von einigen für eine unzulässige Umgehung der Antragsvoraussetzungen gehalten1. Es gibt jedoch keine Missbrauchskontrolle2, auch wenn der BGH im Anfechtungsrecht für die Beseitigung der einmal eingetretenen Zahlungsunfähigkeit die allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen3, mithin die tatsächliche Bedienung der fälligen Verbindlichkeiten verlangt. Im Anfechtungsrecht wird die tatsächliche Wiederaufnahme deshalb auch nur als Gegen-Indiz für die Indizwirkung einer Zahlungseinstellung verwendet4. Ein Anfechtungsgegner kann die Vermutungswirkung einer Zahlungseinstellung auch durch eine Liquiditätsbilanz5 widerlegen6. Ebenso ist es beim Schutzschirmantrag. Auch hier kommt es auf die wahren Verhältnisse an. Würde stattdessen verlangt werden, dass die einer Stundung nicht zustimmenden Gläubiger tatsächlich bedient werden, anstatt die Mittel im Interesse einer späteren gleichmäßigen Befriedigung aller zurückzuhalten, würde das einen Anreiz für eine Gläubigerbenachteiligung schaffen. Nach dem herrschenden Verständnis des § 17 InsO bedarf es einer Prognose der Liquiditätsentwicklung (dazu Rz. 14.32 ff.). Sie ist noch gegeben, wenn der Schuldner mindestens 90 % seiner Verbindlichkeiten befriedigen kann – es sei denn, dass sich die Liquiditätslücke voraussichtlich erhöhen wird7. Um die für ein Sani