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German Pages 300 [301] Year 2014
Mückl Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz
RWS-Skript 376
Arbeitsrecht in Krise und Insolvenz Aktuelle Entwicklungen, Praxis und Arbeitshilfen
2014
von Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. Patrick Mückl, Düsseldorf
RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH Köln
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Vorwort Mit dem vorliegenden Buch soll vor allem Insolvenzverwaltern, Personalleitern, Rechtsanwälten und Verbandsvertretern, aber auch interessierten Käufern von sich in der Krise oder Insolvenz befindenden Unternehmen, ermöglicht werden, sich ohne fortlaufende Recherche über die aktuelle Entwicklung der Besonderheiten des Arbeitsrechts in Krise und Insolvenz zu informieren. Auf der Grundlage der relevanten gesetzgeberischen Maßnahmen und gerichtlichen Entscheidungen des Jahres 2013 werden deshalb deren wesentliche Inhalte zusammenfassend dargestellt, bewertet und mit Handlungshilfen für die praktische Umsetzung versehen fortentwickelt. Das vorliegende Werk befindet sich auf dem Stand 30.11.2013 und soll das erste einer fortlaufenden Reihe sein, in der das jeweils für Unternehmen in Krise und Insolvenz relevante Arbeitsrecht jährlich zusammengefasst wird. Für Kritik, Anregungen und Verbesserungsvorschläge, die ich gerne unter [email protected] entgegennehme, bin ich dementsprechend dankbar. Für seine Unterstützung bei der Recherche zu aktuellen Entwicklungen und beim Korrekturlesen der Druckfahnen danke ich herzlich Herrn Wiss. Mit. Rechtsreferendar Daniel Krause.
Düsseldorf, im Januar 2014
Patrick Mückl
V
Inhaltsverzeichnis Rn.
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Vorwort ............................................................................................................ V Literaturverzeichnis .................................................................................... XXI A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa ........... 1 ........ 1 I.
Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte ........................................ 1 1. Bedeutung des Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens für die betriebliche Praxis ................. 3 2. Umgestaltung des Restschuldbefreiungsverfahrens ........... 5 a) Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens ........ 6 aa) Aufhebung des sogenannten Motivationsrabatts .................................................................. 10 bb) Zusätzliche Versagungsgründe .......................... 11 b) Erweiterung der ausgenommenen Forderungen ........ 12 3. Unwirksamkeit von Abtretungsverboten oder -einschränkungen ................................................................ 13 4. Streichung von § 114 InsO ................................................. 14
........ 1 ........ 1 ........ 2 ........ 2 ........ 3 ........ 3 ........ 4 ........ 4 ........ 4
II. Entwurf eines Gesetz über Konzerninsolvenzen ..................... 20 ........ 5 III. Neue Pfändungsfreigrenzen ...................................................... 23 ........ 7 IV. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode .................................................................. 1. Insolvenzverfahren im Unternehmensverbund und mögliche Reform des Insolvenzanfechtungsrechts .......... 2. Arbeitsbedingungen ............................................................ a) Kurzarbeit .................................................................... b) Änderung der Rahmenbedingung für Vergütung und Einsatzformen ...................................................... aa) Arbeitnehmer-Entsendegesetz ........................... bb) Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz .............................................. cc) Allgemeine gesetzliche Mindestlohnregelung .... dd) Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen ...... ee) Arbeitnehmerüberlassung .................................. ff) Tariftreue im Vergaberecht ................................ gg) Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit .............. hh) Weiterentwicklung des Teilzeitrechts ............... 3. Fazit .....................................................................................
26 ........ 7 27 ........ 7 31 ........ 8 32 ........ 8 33 ........ 8 34 ........ 8 35 38 45 49 52 54 56 58
........ 9 ........ 9 ...... 11 ...... 11 ...... 12 ...... 12 ...... 13 ...... 13
VII
Inhaltsverzeichnis Rn.
Seite
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung des Insolvenzverwalters ............. 59 ...... 15 I.
Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen ............................................................................... 59 1. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Sonderleistungen – Incentive Bonus und Halteprämien (Retention Boni) ................................................................. 59 a) Insolvenzrechtliche Relevanz ..................................... 62 b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ....................... 64 aa) Insolvenzrechtliche Qualifikation von Sonderleistungen ................................................. 69 bb) Bestimmung des maßgeblichen Zwecks der Sonderleistung ..................................................... 71 cc) Insolvenzrechtliche Qualifikation anhand der Zweckbestimmung .............................................. 73 dd) Insolvenzrechtliche Zuordnung von Schadensersatzansprüchen ................................................. 79 ee) Bewertung eines Incentive Bonus ...................... 80 c) Zwecksetzung und insolvenzrechtliche Qualifikation eines Retention Bonus ......................... 83 d) Anforderungen an die Ausgestaltung von Sonderleistungen ......................................................... 86 2. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen durch Insolvenzplan ............................................................ 97 3. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Abfindungen ..... 101 4. Insolvenzrechtliche Qualifikation einer Wiedereinstellungszusage ............................................................. 113 5. Insolvenzrechtliche Qualifikation eines Anspruchs des Betriebsrats auf Freistellung von Rechtsanwaltskosten ................................................................................. 123 6. Insolvenzrechtliche Qualifikation eines Urlaubsabgeltungsanspruchs – Anforderungen an die Formulierung einer Freistellungserklärung ..................... 128 a) Qualifikation von Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen ............................................... 129 b) Schlussfolgerungen für die Freistellungserklärung .... 132 aa) Qualifikation einer Aufzählung als Tilgungsbestimmung ........................................ 135 bb) Irrelevanz des Aufrechnungsverbots nach §§ 94, 95 InsO .......................................... 137
...... 15
...... 15 ...... 15 ...... 16 ...... 17 ...... 17 ...... 18 ...... 19 ...... 19 ...... 20 ...... 20 ...... 22 ...... 23 ...... 26
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...... 30 ...... 30 ...... 31 ...... 31 ...... 32
II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen ............................. 141 ...... 33 1. Darlegungslast des Arbeitnehmers für Vergütungsansprüche im insolvenzrechtlichen Anfechtungszusammenhang .................................................................. 141 ...... 33
VIII
Inhaltsverzeichnis Rn.
2.
3.
4.
Insolvenzanfechtung von Urlaubskassenbeiträgen ......... a) Sachverhalt der Entscheidung ................................... b) Anforderungen an eine Vorsatzanfechtung ............. c) Vorsatzanfechtung gegenüber der Urlaubskasse ..... Insolvenzanfechtung wegen inkongruenter Deckung bei Leistung eines Dritten ................................................ a) Inkongruente Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO .................................................................. aa) Sachverhalt ........................................................ bb) Voraussetzungen der Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO ................................... b) Inkongruente Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO .................................................................. aa) Sachverhalt ........................................................ bb) Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ......... Anfechtbarkeit von Lohnzahlungen durch Schwesterunternehmen .....................................................................
III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit .................... 1. Flexibilisierung durch Gewährung eines Leistungsbonus .................................................................................. 2. Anforderungen an einen wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt ............................................................................ a) Frühere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ....................................................................... b) Abschied vom allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalt ..................................................................... c) Anforderungen an die Ausgestaltung eines konkreten Freiwilligkeitsvorbehalts ......................... d) Fazit ............................................................................ 3. Wirksamkeit einer Vereinbarung über eine unbezahlte Arbeitszeiterhöhung ...................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Begründung des Bundesarbeitsgerichts .................... 4. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Überarbeit bei gescheiterten Sanierungsbemühungen aufgrund Sanierungsvereinbarung .................................................... a) „Rückfallklausel“ bei Scheitern des Sanierungsversuchs ...................................................................... b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... c) Insolvenzrechtliche Qualifikation von „Sanierungsstunden“ ................................................. 5. Betriebsvereinbarungsoffenheit von Arbeitsverträgen ..... 6. Konkludenter Tantiemeanspruch auch bei jährlich unterschiedlichen Zahlungen ............................................
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...... ...... ...... ......
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IX
Inhaltsverzeichnis Rn.
7.
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung ................................................ 1. Maßnahmen zur Absicherung von Ansprüchen auf Leistungen aus betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen für den Fall der Arbeitgeberinsolvenz ..... a) Vorgaben der Richtlinie ............................................ b) Gesetzliche und betriebliche Altersversorgung in Irland ...................................................................... c) Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ........................ d) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ......... 2. Garantien für Arbeitnehmeransprüche nicht in jeder Phase des Insolvenzverfahrens ......................................... 3. Insolvenzsicherung bei Altersteilzeit im Blockmodell ... a) Ablauf der Förderungsdauer ..................................... b) Bedeutung einer Insolvenz für das Blockmodell ..... aa) Insolvenzsicherungspflicht nach § 8a AltTZG ...................................................... bb) Verstoß des Arbeitgebers gegen die Insolvenzsicherungspflicht .............................. cc) Anspruch auf Sicherheitsleistung gegen die Insolvenzmasse bei unterbliebener Insolvenzsicherung? ......................................... 4. Sicherung von Altersteilzeitansprüchen durch doppelstöckige Treuhand ................................................. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts und wesentliche Überlegungen ........................................ c) Bewertung und Bedeutung für die Praxis ................. V. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern .................................. 1. Gleiches Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer ................ a) Klarstellungen des Bundesarbeitsgerichts zum Equal-Pay-Anspruch ................................................. b) Begründung des Bundesarbeitsgerichts .................... 2. Folgen für die betriebliche Praxis .................................... VI. Haftung des Insolvenzverwalters ............................................ 1. Freistellung zur Erzielung von Arbeitslosengeld ............ a) Sachverhalt ................................................................. b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ................. c) Folgen für die Insolvenzpraxis ................................. 2. Haftung bei Abkürzung der Kündigungsfrist nach § 113 InsO ......................................................................... a) Sachverhalt des Hessischen Landesarbeitsgerichts ....................................................................... X
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Einseitiges Leistungsbestimmungsrecht bei Weihnachtsgratifikation ................................................... 266 ...... 65 273 ...... 66
273 ...... 66 274 ...... 67 275 ...... 67 278 ...... 68 281 ...... 68 283 289 290 291
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69 71 71 71
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82 82 83 83 84
350 ...... 85 352 ...... 85
Inhaltsverzeichnis Rn.
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b) Wesentliche Erwägungen des Gerichts .................... 355 ...... 86 c) Bedeutung für die Praxis ........................................... 358 ...... 87 VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz ............................. 1. Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers im Verbraucherinsolvenzverfahren ....................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Umfang der Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers ........................................................... aa) Insolvenzfreiheit der Arbeitskraft ................... bb) „Insolvenzfreiheit“ des Arbeitsverhältnisses ...................................................... c) Grenzen der Dispositionsfreiheit? ........................... 2. Behandlung von abgetretenen Vergütungsansprüchen in der Verbraucherinsolvenz ............................................. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Wirksamkeit der Abtretung nach § 400 BGB .......... aa) Systematischer Zusammenhang mit § 114 InsO ......................................................... bb) Systematischer Zusammenhang mit § 91 InsO ........................................................... c) Bewertung im Lichte der Streichung von § 114 InsO .................................................................. VIII. Urlaubsrecht ........................................................................... 1. Urlaubsgewährung durch (rechtswidrige) unwiderrufliche Freistellung ............................................ 2. Untergang des Urlaubsanspruchs trotz Arbeitsunfähigkeit ............................................................ 3. Verzicht des Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung ........ 4. Ersatzurlaub bei Verzug des Arbeitgebers mit der Urlaubsgewährung ............................................................ 5. Keine Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers .....
362 ...... 88 362 ...... 88 363 ...... 88 365 ...... 88 367 ...... 89 372 ...... 90 380 ...... 91 385 ...... 92 387 ...... 93 388 ...... 94 391 ...... 94 392 ...... 94 394 ...... 95 395 ...... 96 398 ...... 96 407 ...... 98 410 .... 100 418 .... 102 420 .... 102
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen .................................. 424 .... 105 I.
Betriebsbedingte Kündigung ................................................... 1. Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung .................. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Auslegung einer Kündigungserklärung .................... aa) Angabe des Beendigungszeitpunkts ................ bb) Regelmäßig keine weiteren inhaltlichen Anforderungen .................................................. c) Anforderungen an die Mitteilung des Beendigungszeitpunkts in der Betriebsratsanhörung ................... 2. Betriebsbedingte Kündigung trotz Leiharbeitnehmereinsatz? ..............................................................................
424 424 425 427 428
.... .... .... .... ....
105 105 105 106 106
431 .... 107 434 .... 108 437 .... 109 XI
Inhaltsverzeichnis Rn.
3.
4.
5.
6.
7.
a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ................. c) Bewertung für die Praxis ........................................... Kündigungsschutz: Leiharbeitnehmer und Größe des Betriebs .............................................................................. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts ....................................................................... c) Bedeutung für die Praxis ........................................... Kündigung Schwerbehinderter in der Insolvenz: Integrationsamt darf Zustimmung nicht allein auf Namensliste stützen .......................................................... a) Sachverhalt des VG Stuttgart .................................... b) Bewertung durch das VG Stuttgart .......................... aa) Auslegung von § 85 SGB IX ............................ bb) Ermesseneinschränkung in der Insolvenz ....... c) Anforderungen an die Ausgestaltung von Interessenausgleichen ................................................ d) Bewertung für die Praxis ........................................... Betriebsbedingte Kündigung eines Leiharbeitnehmers – Anforderung an eine Sozialauswahl ................................. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Anforderungen an die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern ........................................................... c) Besonderheiten bei Leiharbeitsunternehmen .......... d) Auswirkung von Fehlern bei der Sozialauswahl ...... e) Unabdingbarkeit und Gestaltungsspielraum durch Vereinbarung ................................................... f) Darlegungs- und Beweislast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl ........................... Freier Arbeitsplatz im Ausland ........................................ a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Irrelevanz im Ausland belegener Arbeitsplätze ....... „Virtueller“ Alt-Betrieb bewirkt auch bei unerheblichen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses Kündigungsschutz ...................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts .......................................................................
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen ............ 1. Zuständiger Betriebsrat .................................................... a) Abgrenzung zwischen Betriebsrat, Gesamt- und Konzernbetriebsrat .................................................... b) Zuständigkeit bei Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG ................................................................. XII
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439 .... 110 441 .... 110 446 .... 111 447 .... 112 448 .... 112 449 .... 112 455 .... 114
458 461 463 464 465
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466 .... 117 469 .... 117 470 .... 118 471 .... 118 473 .... 119 475 .... 119 484 .... 121 487 .... 122 488 491 493 494
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496 .... 124 498 .... 124 499 .... 125 501 .... 126 502 .... 126 503 .... 127 514 .... 129
Inhaltsverzeichnis Rn.
2. 3. 4. 5.
Inhalt der Unterrichtung des Betriebsrats ....................... Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrats ................ Form der Unterrichtung ................................................... Einbeziehung von Leiharbeitnehmern ............................. a) Berücksichtigung bei der Betriebsgröße .................. b) Berücksichtigung bei der Anzahl der Entlassungen ..............................................................
III. Befristung von Arbeitsverhältnissen ....................................... 1. Wirksamkeit von Altersgrenzenregelungen in Kollektivvereinbarungen ................................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Zulässigkeit von Altersgrenzen in Betriebsvereinbarungen ........................................................... c) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts ............................................................ 2. Verlängerung befristeter Leiharbeitnehmerverträge ....... a) Sachverhalt des Europäischen Gerichtshofs ............ b) Wesentliche Überlegungen des Europäischen Gerichtshofs ............................................................... 3. Rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots hindert Berufung auf Befristung ........ a) Vermeidung vs. Umgehung des Verbots der Zuvor-Beschäftigung ................................................. b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... c) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts ....................................................................... 4. Voraussetzung der Sachgrundbefristung bei Abordnungsvertretung ..................................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Grenzen des Sachgrunds der Vertretung bei Beschäftigung des Vertretenen im Unternehmen ...
517 523 526 535 538
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543 .... 137 546 .... 138 546 .... 138 547 .... 138 548 .... 139 552 .... 139 556 .... 140 558 .... 141 560 .... 142 565 .... 143 566 .... 143 567 .... 143 568 .... 144 570 .... 144 571 .... 145 574 .... 146
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/ Betriebsänderung ..................................................................... 576 .... 147 I.
Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs ..................................................................... 1. Kennzeichnung des Tatbestands eines Betriebsübergangs ............................................................. a) Bestehende organisatorische Einheit beim übertragenden Rechtsträger ...................................... b) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer ...................... aa) Übergang bei betriebsmittelintensiver Tätigkeit ............................................................
577 .... 147 577 .... 147 582 .... 148 584 .... 149 585 .... 149
XIII
Inhaltsverzeichnis Rn.
2.
3.
XIV
bb) Übergang bei betriebsmittelarmer Tätigkeit ..... c) Abgrenzung zur Auftrags- und Funktionsnachfolge .................................................................... d) Keine wesentliche Unterbrechung ........................... aa) Vorliegen einer Unterbrechung ....................... bb) Abgrenzung zur Stilllegung ............................. e) Tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder gleichartigen Tätigkeit ............................................... aa) Änderung des Betriebszwecks oder der Betriebsorganisation ......................................... bb) Keine Betriebsidentität bei Ablehnung von Angeboten des potenziellen Erwerbers ........... Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs ............................. a) Übergang von Arbeitsverhältnissen ......................... b) Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers .................... c) Konsequenzen des Betriebsübergangs für arbeitsvertragliche Rechte und Pflichten ................. aa) Umfang des Eintritts in individualrechtliche Positionen .......................................................... bb) Anrechnung der Betriebszugehörigkeit .......... cc) Übernahme arbeitsvertraglicher Rechte und Pflichten ..................................................... d) Kollektivvertragliche Konsequenzen eines Betriebsübergangs ...................................................... aa) Rechtsfolgen bei gesetzlicher Tarifbindung .... (1) Übernahme eines Betriebs durch Erwerber ohne Tarifbindung .................... (2) Ablösung durch Tarifvertrag des Erwerbers ................................................... bb) Rechtsfolgen für Arbeitnehmer mit Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag ............ cc) Inkrafttreten eines Tarifvertrags nach Betriebsübergang .............................................. dd) Ablösung einer Betriebsvereinbarung nach Betriebsübergang durch Betriebsvereinbarung des Erwerbers .................................................... e) Haftung des aufnehmenden Rechtsträgers in der Insolvenz .................................................................... Alemo-Herron – Ende der Dynamik einer Bezugnahmeklausel bei Betriebsübergang? ............................... a) Tarifwechsel durch Betriebsübergang ...................... aa) Kollektivrechtliche Bewertung ......................... bb) Individualrechtliche Bewertung ....................... b) Wann wirkt eine Bezugnahmeklausel tariflich sanierungshindernd? ..................................................
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597 .... 153 604 609 610 613
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696 .... 179 700 .... 180 704 705 705 713
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181 182 182 183
717 .... 184
Inhaltsverzeichnis Rn.
4.
aa) Vor dem 1.1.2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln .............................................................. bb) Ab dem 1.1.2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln .............................................................. cc) Ab dem 1.1.2002 geschlossene Änderungsvereinbarungen .................................................. c) Alemo-Herron ........................................................... aa) Sachverhalt ........................................................ bb) Begründung des Europäischen Gerichtshofs ...................................................... (1) Spielraum für erforderliche Anpassungen .............................................. (2) Negative Vereinigungsfreiheit und Vertragsfreiheit als unternehmerische Freiheit ....................................................... (3) Folgen für die Rechtsprechung des BAG ........................................................... (a) Aufrechterhaltung durch funktionale Betrachtung? ................ (b) Differenzierungsnotwendigkeit nach Art. 3 RL 2001/23/EG? .......... (c) Verstoß gegen das „Vorher-Nachher-Prinzip“? ........... (d) Art. 16 GRC als Maßstab ............... d) Lösungsansätze .......................................................... e) Fazit ............................................................................ Keine Beendigung von Rückkehransprüchen durch Betriebsübergang ............................................................... a) Für Kollektivvereinbarungen maßgebliche Auslegungsgrundsätze ............................................... b) Vorgaben für die kollektivrechtliche Formulierung von Rückkehrrechten ................................................
II. Besonderheiten bei der Einbindung von Beschäftigungsund Qualifizierungsgesellschaften – Außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch die BQG wegen Wegfall der Finanzierungsgrundlagen ......................... 1. Qualifikation des Beschäftigungsverhältnisses mit Kurzarbeit „Null“ als Arbeitsverhältnis ........................... 2. Nichtvorliegen eines Grundes für eine außerordentliche Kündigung bei Wegfall der Refinanzierung und Insolvenzgefahr ............................... 3. Konsequenzen für die betriebliche Praxis und BQG-Betreiber ..................................................................
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786 .... 201 794 .... 202
XV
Inhaltsverzeichnis Rn.
III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung (Betriebstilllegung, -spaltung und -verlagerung) .................... 1. Wirtschaftliche Vertretbarkeit eines Sozialplans ............ a) Rechtsweg, Antragstellung und Frist ....................... b) Darlegungslast ........................................................... c) Gerichtlicher Kontrollmaßstab ................................. d) Gestaltungsspielraum der Einigungsstelle ............... e) Grundsätzlich keine Besonderheiten infolge bloßer Konzernbindung ............................................ f) Kriterien für die Bestimmung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit eines Sozialplans ................................ 2. Sozialplangestaltung – Diskriminierung wegen des Alters und/oder einer Behinderung bei Abfindungen .... a) Ausgangssituation ..................................................... b) Ungleichbehandlung wegen des Alters und/oder einer Behinderung ...................................................... c) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ................. aa) Notwendigkeit einer Rechtfertigung? ............. bb) Veränderte Vorgaben durch die Rechtsprechung des EuGH .............................. (1) Gestaltungsspielraum ohne Vorliegen einer Behinderung ..................................... (2) Gestaltungsspielraum bei Vorliegen einer Behinderung ..................................... (3) Fernwirkungen für einen Anspruchsausschluss bei Möglichkeit des Altersrentenbezugs? .................................. d) Adaption durch das Bundesarbeitsgericht ............... aa) Keine Verpflichtung zu einer mindestens hälftigen Regelabfindung .................................. bb) Umfang des notwendigen Ausgleichs ............. cc) Keine Notwendigkeit von Abschlägen wegen Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrente ......................................................... dd) Beispiele für den bestehenden Gestaltungspielraum ........................................................... e) Rechtsfolgen bei unzulässiger Differenzierung ....... f) Praktische Möglichkeiten einer Anpassung bisheriger Sozialplanregelungen ................................ g) Ausgestaltungsmöglichkeiten für künftige Sozialpläne .................................................................. 3. Verjährung von Sozialplanansprüchen bei Masseunzulänglichkeit ................................................................ a) Sachverhalt .................................................................
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Inhaltsverzeichnis Rn.
4.
5.
b) Fälligkeit mit Abschluss des Insolvenzverfahrens und Verteilung der Masse .......................................... c) Berufung auf Verjährung als Verstoß gegen Treu und Glauben ...................................................... Nachteilsausgleichsanspruch bei Umsetzung einer Betriebsänderung ohne ausreichende Betriebsratsbeteiligung ......................................................................... a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ..................... b) Differenzierende Bewertung von Regelungen eines Interessenausgleichs ......................................... aa) Kennzeichnung von Folgeregelungen ............. bb) Begründung ....................................................... c) Praxisfolgen ................................................................ Änderung einer Auswahlrichtlinie durch einen Interessenausgleich mit Namensliste ...............................
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857 .... 219 858 .... 219
859 .... 219 862 .... 220 864 866 868 874
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221 221 222 222
875 .... 223
E.
Tarifrecht – Anwendbarkeit einer tariflichen Ausschlussfrist auf insolvenzrechtliche Rückgewähransprüche infolge Anfechtung ................................................................. 880 .... 225
I.
Landesarbeitsgerichtliche Rechtsprechung ............................. 880 .... 225
II. Bewertung des Bundesarbeitsgerichts ..................................... 888 .... 227 F.
Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung ...... 892 .... 229
I.
Zurückweisung einer Kündigungserklärung mangels Vollmachtsvorlage und Unanwendbarkeit des § 174 Satz 1 BGB auf die Betriebsratsanhörung ..................... 1. Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts ............................. 2. Anforderung an die wirksame Zurückweisung einer Kündigung ......................................................................... 3. Keine (analoge) Anwendung von § 174 BGB auf die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG ....................... 4. Unwirksamkeit der Kündigung wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats im Rahmen eines Interessenausgleichsverfahrens ................
892 .... 229 893 .... 229 894 .... 230 897 .... 231
904 .... 233
II. Vorübergehende Einstellung von Leiharbeitnehmern und Mitbestimmung des Betriebsrats ............................................. 908 .... 234 G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen ............. 912 .... 237 I.
Insolvenzgeld und neues Insolvenzereignis ............................ 912 .... 237
II. Arbeitslosengeld ....................................................................... 921 .... 239 1. Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung durch eine unternehmerische Entscheidung ................... 921 .... 239
XVII
Inhaltsverzeichnis Rn.
2.
Seite
Umfang des Forderungsübergangs bei „Hartz IV-Leistungen“ ..................................................... 924 .... 239
III. Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen – Inanspruchnahme des GmbH-Geschäftsführers wegen Vorenthaltung ........................................................................... 928 .... 240 IV. Lohnsteuer – Anspruch eines Grenzgängers auf Auszahlung von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag nach Insolvenzgeldzahlung ...................................................... 936 .... 242 H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen ............... 939 .... 245 I.
Kündigungsschutzklage eines GmbH-Geschäftsführers nach Insolvenzeröffnung ......................................................... 939 .... 245
II. Wiederaufnahme eines infolge Insolvenzeröffnung unterbrochenen Klageverfahrens über angeblich rückständige Arbeitsvergütung – Teil 1 (Insolvenzforderung) .... 951 .... 248 III. Wiederaufnahme eines infolge Insolvenzeröffnung unterbrochenen Klageverfahrens über angeblich rückständige Arbeitsvergütung – Teil 2 (Insolvenzforderung) .... 955 .... 249 1. Wirksame Verfahrenswiederaufnahme ............................ 957 .... 250 2. Unzulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde ............ 962 .... 250 IV. Keine Passivlegitimation des Insolvenzverwalters für Kündigungsschutzklage nach Freigabe gem. § 35 Abs. 2 InsO ....................................................................... 964 .... 251 V. Berechnung des pfändbaren Anteils des Arbeitseinkommens .............................................................................. 1. Anwendbarkeit der Nettomethode .................................. 2. Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts ..... 3. Berechnung des pfändungsfreien Arbeitsentgelts bei Unterhaltsleistungen ......................................................... VI. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs und der Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens auf eine Lohnpfändung ................................................................... 1. Sachverhalt ......................................................................... 2. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs auf eine Lohnpfändung ................................... 3. Auswirkungen der Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens auf eine Lohnpfändung ...................
968 .... 252 969 .... 252 972 .... 253 973 .... 254
974 .... 254 975 .... 255 980 .... 256 990 .... 258
VII. Streitwert einer Klage auf Feststellung zur Insolvenztabelle ...................................................................... 1004 .... 261
XVIII
Inhaltsverzeichnis Rn.
VIII. Rechtsweg bei der Anfechtung von Versorgungsleistungen (Direktversicherung) .............................................................. 1. Eröffnung des Rechtswegs zu den Arbeitsgerichten .... a) Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Versicherer ............................................................... b) Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ........................................................... c) Bedeutung für den Rechtsweg ................................ 2. Qualifikation von Schadensersatzansprüchen ...............
Seite
1011 .... 262 1012 .... 262 1014 .... 263 1016 .... 263 1017 .... 263 1018 .... 264
IX. Mangelnde Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers für die GmbH bei Vergütungsklage des Treuhänders gegen die GmbH ..................................................................... 1022 .... 265 Stichwortverzeichnis ................................................................................... 267
XIX
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XXVII
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa I. Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte Zum 1.3.2012 war das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von 1 Unternehmen (ESUG) in Kraft getreten. Als zweite Stufe der Insolvenzrechtsreform ist am 16.5.2013 das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte mit den Änderungen der Beschlussempfehlung verabschiedet worden. Am 7.6.2013 hat der Bundesrat beschlossen, keinen Antrag auf Einberufung des Vermittlungsausschusses zu stellen. Das Inkrafttreten ist mit zwei Ausnahmen auf den 1.7.2014 verschoben, um 2 den Beteiligten – insbesondere der gerichtlichen Praxis – ausreichend Vorlauf zu gewähren. Die Ausnahmen sind die Regelung zur Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters und die Änderungen im Genossenschaftsgesetz. Zusätzlich wird festgelegt, dass mit Ausnahme der Möglichkeit des Insolvenzplanverfahrens auch für Verbraucher nur neue Verfahren von den Neuregelungen erfasst werden. Es gibt ansonsten keine Rückwirkung auf Altverfahren. 1. Bedeutung des Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens für die betriebliche Praxis Die Bedeutung von Verbraucherinsolvenzen mit Restschuldbefreiung hat in 3 der Lohnabrechnungspraxis deutlich zugenommen, weil sich der Schuldner über ein Restschuldbefreiungsverfahren – mit wenigen Ausnahmen (§ 302 InsO) – sämtlicher Schulden entledigen kann. Derartige Verfahren werden durch die Möglichkeit der Stundung der Kosten des Insolvenzverfahrens (§§ 4a ff. InsO) zudem von den Schuldnerberatungsstellen als Ausweg aus der Verschuldung empfohlen. Die 2. Stufe der Insolvenzrechtsreform ist daher auch für die betriebliche Praxis von Bedeutung. Denn in Verbraucherinsolvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung zieht der Treuhänder den pfändbaren Teil des Arbeitslohns zur Insolvenzmasse. Der Arbeitgeber muss ihn als Drittschuldner ermitteln und auf das Anderkonto des Treuhänders überweisen. Der Zahlungsanspruch des Treuhänders folgt aus § 611 Abs. 1 BGB i. V. m. §§ 35, 80 Abs. 1, 304 Abs. 1 Satz 2 InsO. Durch eine Zahlung an den Arbeitnehmer erlischt dessen Entgeltanspruch gem. § 362 Abs. 1 BGB nach § 82 Satz 1 InsO nur dann, wenn der Arbeitgeber zur Zeit der Leistung des pfändbaren Teils des Arbeitsentgelts an den Arbeitnehmer die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über dessen Vermögen nicht gekannt hat. „Kennen“ i. d. S. ist dabei nur positive Kenntnis von der Eröffnung des Verfahrens. Grobfahrlässige Unkenntnis oder Kenntnis von dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens reichen nicht aus. LAG Düsseldorf, v. 3.5.2012 – 11 Sa 196/11, ZIP 2012, 1726.
1
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa
4 Über die Kosten der Bearbeitung derartiger Arbeitnehmerinsolvenzen hinaus trägt der Arbeitgeber je nach Lohnart daher auch das Risiko der zu treffenden Feststellung des pfändbaren Betrags im Rahmen der Lohnabrechnung. 2. Umgestaltung des Restschuldbefreiungsverfahrens 5 Nach derzeitiger Rechtslage wird die Restschuldbefreiung durch einen rechtsgestaltenden Beschluss des Insolvenzgerichts erteilt (§§ 287 Abs. 2, 300 InsO), wenn kein Versagungsgrund vorliegt und der Schuldner seine pfändbaren Bezüge aus dem Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits seit sechs Jahren, beginnend nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, an einen gerichtlich bestimmten Treuhänder abgetreten hatte. a) Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens 6 Mit dem Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 31.10.2012, vgl. dazu und zu vorhergehenden Entwürfen Harder, NZI 2013, 70 ff.; Schmerbach, NZI 2012, 689 ff.; Buchholz, NZI 2012, 655 f.; Ehlers, DStR 2013, 1338 ff.; Schmerbach, NZI 2013, 566 ff.,
wird die Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens von sechs Jahre auf drei Jahre verkürzt. Der Schuldner kann danach eine Reduzierung der Verfahrensdauer auf drei Jahre beantragen. Der Antrag ist begründet, wenn der Schuldner die Verfahrenskosten beglichen und innerhalb dieses Zeitraums eine Mindestbefriedigungsquote von 35 Prozent erzielt hat (§ 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO n. F.). Erreicht er die Mindestbefriedigungsquote nicht, wird die Verfahrensdauer auf Antrag auf fünf Jahre reduziert, sofern der Schuldner in diesem Zeitraum zumindest die Verfahrenskosten begleichen kann (§ 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 InsO). 7 Der Gesetzgeber will damit dem Schuldner einen Anreiz verschaffen, durch eigene Bemühungen zumindest die Verfahrenskosten zu begleichen, weil er nach den Vorschriften über das Stundungsverfahren noch vier Jahre nach Erteilung der Restschuldbefreiung für die gestundeten Verfahrenskosten aufkommen muss (§ 4b Abs. 1 Satz 2 InsO n. F., § 115 Abs. 2 Satz 1 ZPO). 8 Nach § 287a Abs. 1 Satz 1 InsO n. F. prüft das Insolvenzgericht zudem von Amts wegen mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Zulässigkeit des Antrags des Schuldners auf Restschuldbefreiung. Ziel dieser Entscheidung ist, frühzeitig Rechtsklarheit herzustellen. 9 Aus Arbeitgebersicht sind diese Änderungen begrüßenswert, weil sich durch diese Maßnahmen der mit Arbeitnehmerinsolvenzen verbundene Verwaltungsaufwand und die hiermit verbundene Ressourcenbindung ebenso reduziert
2
I. Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens
wie das Risiko, infolge fehlerhafter Berechnung und Lohnabführung in Anspruch genommen zu werden. aa) Aufhebung des sogenannten Motivationsrabatts Der sog. Motivationsrabatt im fünften Jahr um 10 % und im sechsten Jahr 10 um 15 % (§ 292 Abs. 1 Satz 4 InsO) von den zu verteilenden Beträgen entfällt für alle Restschuldbefreiungsanträge, also auch für Antragsteller ohne Aussicht auf eine Verkürzung der Wartezeit. bb) Zusätzliche Versagungsgründe Die Versagungsgründe werden zum Schutz der Gläubiger erweitert, auch 11 wenn der Gesetzgeber durch die 2. Stufe der Insolvenzrechtsreform bei Verstößen z. T. ausdrücklich Verschulden voraussetzt (§§ 175 Abs. 2, 290 Abs. 1 Nr. 7 InsO n. F.). Insbesondere wird x
unter Anpassung an die Rechtsprechung des BGH eine gesetzliche Regelung der Sperrfristen für einen erneuten Antrag eingeführt; d. h. zur Vermeidung einer ständigen Antragswiederholung wird ein erneutes Restschuldbefreiungsverfahren je nach Versagungsgrund entweder für fünf (§ 287a Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 InsO n. F. i. V. m. § 297 InsO bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Insolvenzstraftat) oder drei Jahre versagt (§ 287a Abs. 2 Nr. 2, § 297a i. V. m. § 290 Abs. 1 Nr. 5, 6, 7 InsO n. F. bei Verstößen gegen Obliegenheiten); nach einer früher erteilten Restschuldbefreiung beträgt die Frist zehn Jahre für einen Neuantrag (§ 287a Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 InsO n. F.);
x
die Versagung wegen Verletzung von Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach § 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO n. F. auf die Phase der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erstreckt und eine Ausdehnung der Vorlauffrist für Verschwendungsvorwürfe auf drei Jahre vorgesehen (§ 290 Abs. 1 Nr. 4 InsO n. F.);
x
die Versagung der Restschuldbefreiung wegen einer Verletzung der Erwerbsobliegenheit bereits im eigentlichen Insolvenzverfahren und nicht nur – wie bisher – erst in der Wohlverhaltensperiode (§ 287b InsO n. F. i. V. m. § 290 Abs. 1 Nr. 7 InsO n. F., § 295 Abs. 1 und § 296 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO n. F.) ermöglicht, also eine Ausdehnung der Erwerbsobliegenheit auf die gesamte Verfahrensdauer, wie sie bereits Selbständigen bisher oblag, eingeführt;
x
die Versagung der Restschuldbefreiung auch dann ermöglicht, wenn den Gläubigern erst nach dem Schlusstermin Versagungsgründe nach § 290 Abs. 1 InsO bekannt geworden sind (§ 297a InsO n. F.). Es geht dabei in erster Linie um verschwiegene, erst später aufgedeckte Vermögenswerte.
3
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa
b) Erweiterung der ausgenommenen Forderungen 12 Erweitert worden ist auch der Kreis der von der Erteilung der Restschuldbefreiung ausgenommenen Forderungen (§§ 302 Nr. 1, 174 Abs. 2, 175 Abs. 2 InsO n. F.): x
Verbindlichkeiten aus rückständigem Unterhalt, den der Schuldner vorsätzlich pflichtwidrig nicht gewährt hat und der in kritischen Fällen von staatlichen Leistungsträgern auf Grund von Legalzessionen (§§ 7 UVG, 37 BaföG, 33 SGB II, 72 SGB III, 95 SGB VIII und § 94 SGB XII) geltend gemacht wird, und
x
Verbindlichkeiten aus einem Steuerschuldverhältnis, sofern der Schuldner wegen einer Steuerstraftat nach §§ 370, 373 oder 374 AO rechtskräftig verurteilt worden ist.
3. Unwirksamkeit von Abtretungsverboten oder -einschränkungen 13 Das Gesetz belässt es dabei, dass Vereinbarungen, die eine Abtretung der Forderungen des Schuldners auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis ausschließen, von einer Bedingung abhängig machen oder sonst einschränken, insoweit unwirksam sind, als sie die Abtretungserklärung vereiteln oder beeinträchtigen würden (§ 287 Abs. 3 InsO). Diese Regelungen sind für die betriebliche Praxis vor allem mit Blick auf häufig arbeitsvertraglich vereinbarte Abtretungsverbote wichtig. 4. Streichung von § 114 InsO 14 Lohnabtretungen regelt das Gesetz aber in einem anderen Kontext neu: Nach bisherigem Recht sieht § 114 Abs. 1 InsO als Ausnahme zu §§ 35 f. InsO vor, dass Lohnabtretungen während der ersten zwei Jahre des Insolvenzverfahrens wirksam bleiben und damit die abgetretenen Beträge der Gesamtheit der Insolvenzgläubiger entzogen werden. Dadurch soll dem Dienstverpflichteten, der nur die Abtretung seiner Bezüge als Sicherheit anbieten kann, die Kreditbeschaffung ermöglicht bzw. erleichtert werden. Vgl. BGH, v. 11.5.2010 – IX ZR 139/09, ZIP 2010, 1186 = NZA-RR 2010, 425, dazu EWiR 2010, 499 (Looff).
15 § 114 InsO ist für die betriebliche Praxis u. a. mit Blick auf Arbeitgeberdarlehen wichtig, weil diese Norm eine außerhalb der Verbraucherinsolvenz mögliche Rückführung des Darlehens gewährleistet. Der Gesetzentwurf will § 114 InsO allerdings entfallen lassen und damit dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung uneingeschränkt Geltung verschaffen. Erhebliche negative Auswirkungen auf die Praxis der Kreditvergabe befürchtet der Gesetzgeber dabei nicht. Vgl. BT-Drucks. 17/11268, S. 23.
4
II. Entwurf eines Gesetz über Konzerninsolvenzen
Auf die Kreditvergabepraxis von Arbeitgebern dürfte sich die Änderung aus 16 Arbeitnehmersicht allerdings durchaus negativ auswirken, weil für Arbeitgeber bei der Entscheidung über die Gewährung eines Darlehens die Werthaltigkeit der Lohnforderung regelmäßig besonders wichtig ist. Dies gilt umso mehr, als für sie die „Sicherheit“ der Forderung besser kalkulierbar ist als für andere Kreditgeber. Auf die geringe praktische Bedeutung der Werthaltigkeit von Lohnforderungen 17 aufgrund der mit ihnen aus Sicht dritter Kreditgeber verbundenen Unsicherheiten stützt sich die Regierungsbegründung, vgl. BT-Drucks. 17/11268, S. 23.
Dass der Gesetzgeber nicht nur § 114 Abs. 1 InsO, sondern auch das in § 114 18 Abs. 2 InsO normierte Aufrechnungsprivileg des Arbeitgebers entfallen lassen will, ist nicht nur für die Rückführung von Darlehen, sondern auch für Bereicherungsansprüche aus überzahlter Vergütung bedeutsam. Denn abweichend von §§ 94 und 96 InsO, wonach die Aufrechnungslage bzw. die Hauptforderung zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestanden haben muss, darf der Arbeitgeber derzeit gegen die innerhalb des Zweijahreszeitraums entstehenden Lohnforderungen des Insolvenzschuldners mit Gegenforderungen aller Art, die bereits zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung entstanden waren, die Aufrechnung erklären. Vgl. BAG, v. 21.1.2010 – 6 AZR 593/07, ZIP 2010, 867 = NZA-RR 2010, 46, dazu EWiR 2010, 463 (Grüter).
Schließlich soll die in § 114 Abs. 3 InsO enthaltene – wenn auch im Ver- 19 gleich zu § 114 Abs. 1 InsO eingeschränkte – Privilegierung von Verfügungen im Rahmen von Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung gestrichen werden. Begründet wird dies mit einem Widerspruch zum Grundsatz des § 91 Abs. 1 InsO sowie des § 89 Abs. 1 und 2 InsO (Vollstreckungsverbot). Mit der Streichung des § 114 Abs. 3 InsO soll deshalb „ein Wertungswiderspruch behoben [werden], der darin gesehen werden kann, dass die Pfändung der Bezüge für die letzten drei Monate vor Insolvenzeröffnung der Anfechtung wegen inkongruenter Deckung unterliegt […], während sie durch § 114 Abs. 3 InsO für den Monat nach der Insolvenzeröffnung wirksam sein soll“. BT-Drucks. 17/11268, S. 23.
II. Entwurf eines Gesetz über Konzerninsolvenzen Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Bewältigung von 20 Konzerninsolvenzen der Bundesregierung, abrufbar auf der Website des Bundesministeriums der Justiz (BMJ),
der auf einem Diskussionsentwurf des BMJ aufbaut abrufbar auf der Website des RWS Verlags
5
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa
und zu dem zwischenzeitlich eine Gegenäußerung des Bundesrates vorliegt, BR-Drucks. 663/13
will die Bundesregierung die Möglichkeit ausbauen, die wirtschaftliche Einheit von konzernförmig organisierten Unternehmen auch im Insolvenzfalle zu erhalten und damit die Chancen zur Sanierung einer Gruppe von Unternehmen zu verbessern. Der Entwurf verzichtet bewusst auf eine Konsolidierung von Verfahren oder Haftungsmassen. Er verfolgt vielmehr den Grundansatz, Insolvenzverfahren über konzernangehörige Unternehmen besser aufeinander abzustimmen und enthält hierzu folgende Schwerpunkte: x
Einführung eines als Wahlgerichtsstand ausgestalteten Konzerngerichtsstands;
x
Regelung einer einheitlichen Verwalterbestellung in Insolvenzverfahren über konzernangehörige Schuldner;
x
Festlegung allgemeiner Kooperationsrechte und -pflichten zwischen Insolvenzverwaltern, Insolvenzgerichten und Gläubigerausschüssen;
x
Schaffung eines Koordinationsverfahrens mit einem Koordinationsgerichtsstand, in dem ein Koordinationsverwalter ernannt werden kann, dessen Maßnahmen in den Insolvenzverfahren über das Vermögen von Konzerngesellschaften umzusetzen sind. Zu den Entwürfen z. B. Commandeur/Knapp, NZG 2013, 176 ff.; Frind/Siemon, NZI 2013, 1 ff.; Göb, NZI 2013, 243 ff.; Lojowsky/Harder, NZI 2013, 327 ff.; Möhlenkamp, BB 2013, 579 ff.; Römer/Commandeur, NZG 2013, 978 ff.; Römermann, ZRP 2013, 201 ff.
21 Arbeitsrechtliche Regelungen enthält der Entwurf bislang im Grunde nicht. Lediglich ein neuer § 13a InsO soll eingefügt werden, der für die Antragstellung in Abs. 1 Nr. 1 die Angabe der durchschnittlichen „Zahl der Arbeitnehmer des letzten Geschäftsjahres der anderen gruppenangehörigen Unternehmen, die nicht lediglich von untergeordneter Bedeutung sind“ vorsieht. Zudem wird die Übertragung wesentlicher Betriebsteile als Regelungsgegenstand des Insolvenzverwaltervertrages dahingehend gekennzeichnet, dass sie von erheblicher Bedeutung für das betroffene Verfahren ist und daher nach § 160 InsO der Zustimmung des jeweiligen Gläubigerausschusses bedarf. Besondere Beteiligungsrechte für konzernweit tätige Arbeitnehmervertretungen wie Konzern- oder Europäischer Betriebsrat sind ebenso wenig vorgesehen wie besondere Rechte der Arbeitnehmer. 22 Wie sich der Entwurf mit den derzeit auf europäischer Ebene angestellten Überlegungen zum selben Thema verträgt, ist noch nicht geklärt.
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III. Neue Pfändungsfreigrenzen Vgl. zum Ansatz der Kommission http://europa.eu/rapid/ press-release_IP-13-655_de.htm (zuletzt aufgerufen am 20.11.2013).
III. Neue Pfändungsfreigrenzen Am 8.4.2013 wurde die Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung im Bundes- 23 gesetzblatt verkündet. BGBl I, 710.
Danach gelten ab dem 1.7.2013 höhere Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen, d. h. die geschützten Beträge, die bei einer Zwangsvollstreckung in Forderungen und andere Vermögensrechte nicht gepfändet werden dürfen: Ab dem 1.7.2013 beträgt der monatlich unpfändbare Grundbetrag 1.045,04 € 24 (bisher: 1.028,89 €). Dieser Betrag erhöht sich, wenn gesetzliche Unterhaltspflichten zu erfüllen sind, um monatlich 393,30 € (bisher: 387,22 €) für die erste und um jeweils weitere 219,12 € (bisher 215,73 €) für die zweite bis fünfte Person. Wenn Schuldner mehr verdienen als den so ermittelten pfändungsfreien Betrag, verbleibt ihnen vom Mehrbetrag ebenfalls ein bestimmter Anteil. Ziel des Pfändungsschutzes ist, dass Schuldner auch bei einer Pfändung ihres 25 Arbeitseinkommens ihr Existenzminimum sichern und die gesetzlichen Unterhaltspflichten erfüllen können. Die Höhe der Pfändungsfreigrenzen für Arbeitseinkommen wird jeweils zum 1.7. eines jeden zweiten Jahres an die Entwicklung des steuerlichen Freibetrags für das sächliche Existenzminimum angepasst. Zuletzt sind die Pfändungsfreigrenzen zum 1.7.2011 erhöht worden. Der steuerliche Grundfreibetrag hat sich seit dem letzten Stichtag um 1,57 % erhöht. Daraus folgt eine entsprechende Erhöhung der Pfändungsfreigrenzen. IV. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode Nach wochenlangem Ringen hat die „Große Koalition“ am 27.11.2013 ihren 26 Koalitionsvertrag vorgestellt, der auch arbeitsrechtlich bedeutsame Regelungen enthält, die allerdings Sanierungen nicht unbedingt erleichtern dürften. Der Koalitionsvertrag ist (zuletzt geprüft am 28.11.2013) abrufbar unter https://www.cdu.de/sites/default/files/media/ dokumente/koalitionsvertrag.pdf
1. Insolvenzverfahren im Unternehmensverbund und mögliche Reform des Insolvenzanfechtungsrechts Insolvenzen in einem Unternehmensverbund sollen künftig durch intensive- 27 re Abstimmung der Einzelinsolvenzverfahren effizienter bewältigt werden. Koalitionsvertrag, S. 25.
Ob die Große Koalition an den vorstehend (vgl. Rn. 20 ff.) vorgestellten 28 Entwürfen zur Bewältigung von Konzerninsolvenzen festhalten wird oder Veränderungen erfolgen, bleibt also abzuwarten. 7
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29 Losgelöst davon soll das Insolvenzanfechtungsrecht „im Interesse der Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte Löhne auf den Prüfstand“ gestellt werden. Koalitionsvertrag, S. 25.
30 Ob sich hieraus Änderungen zu dem nachfolgend (vgl. unter Rn. 141 ff.) dargestellten, von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ergeben werden, bleibt ebenfalls abzuwarten. Mit Blick darauf, dass das BAG Anfechtungen zum Vorteil der Arbeitnehmer zunehmend erschwert, ist denkbar, dass die Überprüfung nicht zu einer Änderung führen wird. 2. Arbeitsbedingungen 31 Mit dem Ziel, Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen, die ihr auf dem globalen Arbeitsmarkt Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Beweglichkeit ermöglichen, sollen auch die Arbeitsbedingungen teilweise ein (sanierungshemmende) Neuregelung erfahren. Denn im Zentrum der arbeitsrechtlichen Überlegungen der Großen Koalition stehen Mindestlöhne und – jedenfalls im Ergebnis – eine Stärkung des Einflusses der Gewerkschaften, die damit im Rahmen von Sanierungen eine noch wichtigere Rolle einnehmen werden. a) Kurzarbeit 32 Aus Sicht der Sanierungspraxis zutreffend ist die Feststellung, das „Instrument der Kurzarbeit ha[be] in der Krise enorm dazu beigetragen, wertvolle Fachkräfte in den Betrieben zu halten“. Erfreulich ist die in diesem Zusammenhang bekundete Einigkeit der Koalition darüber, „in einer mit der Krise in den Jahren 2009/2010 vergleichbaren wirtschaftlichen Situation schnell zu handeln und kurzfristig die bewährten Sonderregelungen zur Förderung der Kurzarbeit und damit zur Sicherung von Arbeitsplätzen durch Gesetz wieder in Kraft zu setzen“. Koalitionsvertrag, S. 66.
b) Änderung der Rahmenbedingung für Vergütung und Einsatzformen 33 Unter dem Titel „Modernes Arbeitsrecht“ sieht der Koalitionsvertrag eine Reihe von Anpassungen der Rahmenbedingungen für den Einsatz und die Vergütung von Arbeitnehmern vor. Koalitionsvertrag, S. 67 ff.
aa) Arbeitnehmer-Entsendegesetz 34 Die tariflich vereinbarten Branchenmindestlöhne nach dem ArbeitnehmerEntsendegesetz (AEntG) haben sich nach der Bewertung der Großen Koali-
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IV. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode
tion bewährt. Deshalb soll eine Änderung des AEntG die Erfassung weiterer Branchen ermöglichen. Praxistipp: Für die Sanierungspraxis ist das dann nachteilig, wenn keine Öffnungsklausel für Sanierungsfälle vorgesehen wird. Dies scheint nicht geplant zu sein. Denn dann sind die Bedingungen des kraft Rechtsverordnung erstreckten Mindestlohntarifvertrags § 8 AEntG grundsätzlich zwingend einzuhalten. Auch ein Verzicht des Arbeitnehmers auf das Mindestentgelt ist nur im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs möglich (§ 9 AentG).
bb) Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Tarifvertragsgesetz Mit derselben Intention will die Große Koalition die Allgemeinverbindlich- 35 erklärung (AVE) nach dem TVG erleichtern. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist nach dem Koalitionsvertrag das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses. Dies soll insbesondere dann gegeben sein, wenn alternativ: x
die Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien (Sozialkassen) gesichert werden soll,
x
die AVE die Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
x
die Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 % glaubhaft darlegen. Praxistipp: Insbesondere der zweite Bulletpoint wird dem Gestaltungsspielraum gerade in der Krise weitere Grenzen setzen.
Zudem sollen die den Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien an 36 den Beratungen und Entscheidungen des Tarifausschusses beteiligt werden. Um sich widersprechende Entscheidungen von Gerichten unterschiedlicher 37 Gerichtsbarkeiten zu vermeiden, soll die Zuständigkeit für die Überprüfung von AVE nach dem TVG und von Rechtsverordnungen nach dem AEntG und AÜG bei der Arbeitsgerichtsbarkeit konzentriert werden. cc) Allgemeine gesetzliche Mindestlohnregelung Zusätzlich zu dieser Ausdehnung heteronomer Tarifbindung soll ein allge- 38 mein verbindlicher Mindestlohn wie folgt eingeführt werden: Zum 1.1.2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 € 39 je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG. 9
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa
40 Tarifliche Abweichungen sind – für die Sanierungspraxis wichtig – nur unter den folgenden Bedingungen möglich: x
Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31.12.2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene.
x
Ab 1.1.2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt.
x
Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31.12.2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
x
Für Tarifverträge, bei denen bis 31.12.2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1.1.2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
x
Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohniveau bis spätestens zum 1.1.2017 erreicht wird, europarechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das AentG bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen. Praxistipp: Sanierungsfälle sind dabei erkennbar nicht berücksichtigt und rechtfertigen scheinbar keine Ausnahme. Das folgt im Umkehrschluss auch aus den – nachfolgend vorgestellten – Ausnahmeüberlegungen. Umso wichtiger wäre es für die Sanierungspraxis, insoweit eine Öffnungsklausel aufzunehmen oder – parallel zu § 120 InsO – ein Kündigungsrecht (ohne Nachwirkung) vorzusehen.
41 Die Höhe des allgemein verbindlichen Mindestlohns wird in regelmäßigen Abständen – erstmals zum 10.6.2017 mit Wirkung zum 1.1.2018 – von einer Kommission der Tarifpartner überprüft, ggf. angepasst und anschließend über eine Rechtsverordnung staatlich erstreckt und damit allgemein verbindlich. 42 Die Mitglieder der Kommission werden von den Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer benannt (Größe: 3 zu 3 plus Vorsitz). Wissenschaftlicher Sachverstand (ohne Stimmrecht) wird auf Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (1 plus 1) hinzugezogen. Der Vorsitz ist alternierend, die genaue Regelung wird hierzu im Gesetz getroffen. 43 Das Gesetz soll „im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Branchen, in denen der Mindestlohn wirksam wird“, erarbeitet werden. Mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, sollen bei der Umsetzung berücksichtigt werden. Praxistipp: Sinnvoll wäre, als derartiges „Problem“ auch Sanierungsfälle anzuerkennen. Die Sanierungspraxis sollte genau beobachten, ob diesbezügliche Überlegungen berücksichtigt werden und ggf. hierauf hinwirken.
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IV. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode
Für ehrenamtliche Tätigkeiten, die im Rahmen der Minijobregelung vergütet 44 werden, soll die Mindestlohnregelung schließlich nicht einschlägig sein, weil sie in aller Regel nicht den Charakter abhängiger und weisungsgebundener Beschäftigung haben. dd) Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Ar- 45 beitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden. Dafür ist es nach der Bewertung der Großen Koalition erforderlich, x
die Prüftätigkeit der Kontroll- und Prüfinstanzen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu konzentrieren, organisatorisch effektiver zu gestalten, zu erleichtern und im ausreichenden Umfang zu personalisieren,
x
die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats sicherzustellen, zu konkretisieren und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu sanktionieren.
Der vermeintliche Werkunternehmer und sein Auftraggeber dürfen – so die 46 Große Koalition – auch bei Vorlage einer Verleiherlaubnis nicht besser gestellt sein, als derjenige, der unerlaubt Arbeitnehmerüberlassung betreibt. Der gesetzliche Arbeitsschutz für Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer müsse sichergestellt werden. Um dies zu erreichen, soll eine gesetzliche Regelung eingeführt werden. In- 47 haltliche Neuerungen sollen damit für die Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag aber offenbar nicht verbunden sein. Zur Abgrenzung in der Rechtsprechung zuletzt BAG, v. 25.9.2013 – 10 AZR 282/12, BeckRS 2013, 73664.
Die Große Koalition stellt insoweit lediglich fest:
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„Zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden werden die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt.“
ee) Arbeitnehmerüberlassung Widmen will sich die Große Koalition demgegenüber offenbar der stark um- 49 strittenen und durch die Rechtsprechung nicht geklärten Frage, wann eine Arbeitnehmerüberlassung noch „vorübergehend“ ist (vgl. unter Rn. 908 ff.). Insoweit soll eine Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten gesetzlich fest- 50 legt werden. Dabei soll es sich aber nicht um eine starre Frist handeln. Vielmehr soll durch „einen Tarifvertrag der Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche oder auf Grund eines solchen Tarifvertrags in einer Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung […] unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Stammbelegschaften abweichende Lösungen vereinbart werden“ können. 11
A. Gesetzliche Neuerungen in Deutschland und Europa
51 Mit dem Ziel, „die Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen hin [zu] orientieren“, sollen darüber hinaus die folgenden Anpassungen erfolgen: x
Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer sollen künftig spätestens nach 9 Monaten hinsichtlich des Arbeitsentgelts mit den Stammarbeitnehmern gleichgestellt werden.
x
Ein Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern als „Streikbrecher“ soll ausgeschlossen werden.
x
Zur Erleichterung der Arbeit der Betriebsräte soll gesetzlich klargestellt werden, dass Leiharbeitnehmer bei den betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten grundsätzlich zu berücksichtigen sind, sofern dies der Zielrichtung der jeweiligen Norm nicht widerspricht. Praxistipp: Der Gestaltungsspielraum wird zu Lasten der Unternehmen also weiter eingeschränkt und parallel – sachfremd wirkend – eine Stärkung der Arbeitskampfkraft der Gewerkschaften beabsichtigt, die bereits durch die Rechtsprechung des BAG zu Flashmobs und Unterstützungsstreik erfolgt ist. Gesetzlicher Unterstützung bedürfen die Gewerkschaften insoweit zur Herstellung von Kampfparität nicht erkennbar. Eher lässt sich aus Arbeitgebersicht fragen: Was bleibt?
ff) Tariftreue im Vergaberecht 52 Auf Länderebene bestehen bereits Vergabegesetze, die die Vergabe öffentlicher Aufträge von der Einhaltung allgemeinverbindlicher Tarifverträge abhängig machen. Überblick bei Windeln/Schäffer, ArbRB 2013, 279 ff.
53 Die Große Koalition beabsichtigt nun, eine europarechtskonforme Einführung vergleichbarer Regelungen auch auf Bundesebene zu prüfen. gg) Gesetzliche Regelung der Tarifeinheit 54 Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, soll der Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich geregelt werden. Praxistipp: Das entspricht einer seit langem gehegten Forderung der Mehrheitsgewerkschaften und Arbeitgeberverbände, schränkt aber den Gestaltungsspielraum auf Unternehmensebene ggf. ein.
55 Durch flankierende Verfahrensregelungen soll verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen werden. Ideen zur Ausgestaltung z. B. bei Greiner, NZA 2012, 529 ff.
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IV. Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode
hh) Weiterentwicklung des Teilzeitrechts Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich z. B. wegen Kinderer- 56 ziehung oder Pflege von Angehörigen zu einer zeitlich befristeten Teilzeitbeschäftigung entschieden haben, soll sichergestellt werden, dass sie wieder zur früheren Arbeitszeit zurückkehren können. Dazu soll das Teilzeitrecht geändert und ein Anspruch auf befristete Teilzeitarbeit geschaffen werden (Rückkehrrecht). Für bestehende Teilzeitarbeitsverhältnisse soll die Darlegungslast im TzBfG 57 auf den Arbeitgeber übertragen werden. Bestehende Nachteile für Teilzeitbeschäftigte sollen beseitigt werden. 3. Fazit Die beabsichtigten arbeitsrechtlichen Neuregelungen des Koalitionsvertrags 58 schränken die unternehmerische Gestaltungsfreiheit weiter ein. Dass damit das Ziel erreicht wird, Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen, die ihr auf dem globalen Arbeitsmarkt Wettbewerbsfähigkeit, Innovationskraft und Beweglichkeit ermöglichen, lässt sich jedenfalls aus Sicht der Sanierungspraxis bezweifeln.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung des Insolvenzverwalters I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen 1. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Sonderleistungen – Incentive Bonus und Halteprämien (Retention Boni) Unter welchen Umständen Sonderleistungen des Arbeitgebers bei seiner nach- 59 folgenden Insolvenz als Masseverbindlichkeit bzw. Insolvenzforderung zu qualifizieren sind, war jüngst insbesondere mit Blick auf sog. Retention Boni (auch Treue- oder Halteprämien genannt) Gegenstand einer intensiven Diskussion der Landesarbeitsgerichte. Zuletzt LAG München, v. 10.10.2012 – 11 Sa 505/12, n. v.; Sächsisches LAG, v. 5.6.2012 – 5 Sa 303/11, n. v.; Mückl, ZIP 2012, 1642, 1645 f.
Hintergrund hierfür ist der – naheliegende – Versuch krisengeschüttelter 60 Unternehmen, Leistungs- und Know-how-Träger an das Unternehmen zu binden, weil ohne sie eine Sanierung nur geringe Erfolgsaussichten hat. Näher dazu Mückl, ZIP 2012, 1642 ff.
Ohne (zusätzliche) wirtschaftliche Anreize ist dies – abhängig vom (lokalen) 61 Wettbewerb und entsprechenden alternativen Arbeitsmöglichkeiten – häufig nicht möglich. a) Insolvenzrechtliche Relevanz Welche Bedeutung der Verbleib von Leistungs- und Know-how-Trägern vor 62 diesem Hintergrund für die Sanierungschancen eines Unternehmens hat, ist insolvenzrechtlich unter zwei Gesichtspunkten bedeutsam: einerseits bei der insolvenzrechtlichen Qualifikation des Bonusanspruchs und andererseits bei der Bewertung seiner Anfechtbarkeit nach den §§ 129 ff. InsO. Die Revision der durchaus unterschiedlich ausgefallenen landesarbeitsge- 63 richtlichen Entscheidungen zu diesem Themenfeld ist zumeist bei dem für das Insolvenzrecht zuständigen 6. Senat des BAG anhängig. Ein Teil der Verfahren war allerdings auch bei dem u. a. für Gratifikationen, Sondervergütungen, und ergebnisorientierte Zahlungen zuständigen 10. Senat des BAG anhängig. Der 10. Senat hat dies in seinen Urteilen vom 14.11.2012 – 10 AZR 3/12, ZIP 2013, 532, dazu EWiR 2013, 287 (Stütze) und – 10 AZR 793/11, NZA 2013, 273
genutzt, um – am Beispiel eines Incentive Bonus, d. h. einer leistungsabhängigen Vergütung – grundlegend zur insolvenzrechtlichen Qualifikation von Sonderleistungen Stellung zu nehmen.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 64 Der Kläger machte in den entschiedenen Fällen gegenüber dem beklagten Insolvenzverwalter der Q AG, über deren Vermögen mit Beschluss vom 23.1.2009 das vorläufige Insolvenzverfahren und am 1.4.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet worden war, jeweils Bonusansprüche geltend. Teil seines Zieleinkommens war neben einem festen Jahresgehalt ein jährlicher Bonus, dessen Einzelheiten jährlich in einer Zielvereinbarung vereinbart werden sollten. Für das Geschäftsjahr 2008/2009 wurde indes keine Zielvereinbarung abgeschlossen. 65 Bereits am 16.10.2008 hatte der Kläger losgelöst davon zusätzlich eine Zusage der Q AG über ein „Retention Payment“ erhalten, nach der er Einmalbeträge i. H. v. 27.600,00 bzw. 27.700,00 € u. a. zu den Stichtagen 31.5.2009 und 30.9.2009 unter der Voraussetzung erhalten sollte, dass das Arbeitsverhältnis im Auszahlungszeitpunkt nicht von ihm gekündigt war. Bei einer arbeitgeberseitigen Kündigung oder einer vom Arbeitgeber veranlassten Auflösung des Arbeitsverhältnisses sollten die Zahlungen vollständig erbracht werden. 66 Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis am 1.4.2009 zum 31.7.2009. Der Kläger kündigte am 20.4.2009 zum 30.4.2009 und machte dann klagweise für die Zeit vom 1.10.2008 bis 31.3.2009 – mangels Zielvereinbarungsabschluss – Schadensersatz wegen des entgangenen anteiligen Incentive Bonus geltend. Darüber hinaus verlangte er die Zahlung des Retention Bonus, da die Voraussetzungen hierfür am 31.5.2009 und 30.9.2009 erfüllt gewesen seien. 67 Das BAG hat die Klage ebenso wie die Vorinstanzen mit der Begründung abgewiesen, bei dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch handele es sich um eine Insolvenzforderung; den Retention Bonus könne der Kläger nicht verlangen, weil die Voraussetzungen für dessen Auszahlung nicht erfüllt seien. Praxistipp: Die Vereinbarung eines Retention Bonus ist allerdings nicht nach § 134 BGB bzw. § 119 InsO unwirksam (BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 953/11, NZA-RR 2014, 29).
68 Der Kläger könne selbst dann von dem Beklagten keine Zahlung des anteiligen Incentive Bonus verlangen, wenn man unterstelle, dass ihm ein Schadensersatzanspruch gem. § 280 Abs. 1 und Abs. 3 i. V. m. § 283 Satz 1 BGB wegen einer von der Q AG zu vertretenden Pflichtverletzung zustehe, weil keine Zielvereinbarung für das Geschäftsjahr 2008/2009 zustande gekommen ist. Ein derartiger Anspruch sei jedoch keine Masseforderung, sondern eine Insolvenzforderung i. S. d. § 108 Abs. 3 InsO. Der Kläger könne den Anspruch gem. § 87 InsO nur im Rahmen des Insolvenzverfahrens verfolgen und muss ihn gem. § 174 InsO beim Insolvenzverwalter anmelden. Eine Masseverbindlichkeit i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO liege nicht vor.
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
aa) Insolvenzrechtliche Qualifikation von Sonderleistungen Da der Arbeitnehmer trotz Insolvenz seine vertraglich geschuldete Arbeits- 69 leistung erbringen müsse und im Gegenzug seine vertraglich vereinbarten Ansprüche behalten solle, fielen unter § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO alle Lohnund Gehaltsansprüche, die aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern nach der Verfahrenseröffnung durch den Insolvenzverwalter erwachsen, sowie alle sonstigen Ansprüche, die sich aus dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ergeben. Maßgeblich sei – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des 6. Senats –, BAG, v. 19.7.2007 – 6 AZR 1087/06, BAGE 123, 269 = ZIP 2007, 2173; BAG, v. 19.1.2006 – 6 AZR 529/04, BAGE 117, 1 = ZIP 2006, 1366,
ob die geltend gemachten Ansprüche vor oder nach der Verfahrenseröffnung entstanden seien, wobei nicht auf die Fälligkeit, sondern auf den Zeitpunkt des Entstehens der Forderung abzustellen sei. Ebenso BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 953/11, NZA-RR 2014, 29; LAG Berlin-Brandenburg, v. 10.5.2013 – 10 Sa 2241/12, ZInsO 2013, 1703.
Da die Frage, unter welchen Voraussetzungen der Anspruch entsteht, vom 70 Zweck, der mit der Leistung verfolgt wird, abhängt, ist für die insolvenzrechtliche Qualifikation – auch von Sonderleistungen – der Leistungszweck entscheidend. bb) Bestimmung des maßgeblichen Zwecks der Sonderleistung Das BAG bildet insoweit zwei – auch insolvenzrechtlich – unterschiedlich zu 71 behandelnde Fallgruppen: Zweck einer Sonderleistung ist entweder x
die zusätzliche Vergütung erbrachter Arbeitsleistung (Fallgruppe 1) oder
x
es werden „sonstige“ Zwecke verfolgt, d. h. die Zahlung hängt nicht von einer bestimmten Arbeitsleistung, sondern regelmäßig nur vom Bestand des Arbeitsverhältnisses ab (Fallgruppe 2).
Beispiel: Der Fallgruppe 2 ordnet der Senat z. B. x
die Honorierung (kurzfristiger) künftiger Betriebstreue (durch Zusage eines Retention Bonus) oder
x
die Beteiligung an typischerweise erhöhten Aufwendungen zu bestimmten Tagen (durch Zusage eines Weihnachtsgelds)
zu. Letztlich der Fallgruppe 1 zugeordnet hat derselbe Senat Sonderzahlungen mit Mischcharakter. Zuletzt BAG, v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12, n. v.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
72 Welcher Fallgruppe die jeweilige Sonderleistung zuzuordnen sei, müsse durch Auslegung der Vereinbarung ermittelt werden, die der Zusage zugrunde liege. Praxistipp: Dabei geht der Senat davon aus, der Vergütungscharakter sei eindeutig, wenn die Sonderzahlung an das Erreichen quantitativer oder qualitativer Ziele geknüpft werde. Vgl. bereits BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620, dazu EWiR 2012, 445 (Reichold).
cc) Insolvenzrechtliche Qualifikation anhand der Zweckbestimmung 73 Bei Fallgruppe 1 entstehe der Anspruch auf die Sonderzuwendung regelmäßig während des Bezugszeitraums entsprechend der zurückgelegten Dauer („pro rata temporis“) und werde nur zu einem anderen Zeitpunkt insgesamt fällig. So bereits BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620.
74 Insolvenzrechtlich seien solche arbeitsleistungsbezogenen Sonderzuwendungen dem Zeitraum zuzuordnen, für den sie als Gegenleistung geschuldet seien: x
Soweit mit ihnen Arbeitsleistungen vergütet würden, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erbracht wurden, handele es sich um Masseforderungen.
x
Soweit durch sie vor Verfahrenseröffnung erbrachte Arbeitsleistungen honoriert würden, lägen Insolvenzforderungen vor.
75 Für einen ratierlichen Erwerb des Anspruchs im vorgenannten Sinne genüge es, dass der Anspruch – unabhängig von einer gleichmäßigen Zielerfüllung im Geschäftsjahr – kontinuierlich an die Arbeitsleistung anknüpfe. Sei die zusätzliche Vergütung dagegen für besondere, zu bestimmten Zeiten während des Geschäftsjahres zu erbringende Leistungen versprochen, könne es allein auf diese Zeiträume ankommen. 76 Bei Fallgruppe 2 hänge die Zahlung der Sonderzuwendungen nicht von einer bestimmten Arbeitsleistung, sondern regelmäßig nur vom Bestand des Arbeitsverhältnisses ab. So bereits BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620.
77 Insolvenzrechtlich seien derartige stichtags- oder anlassbezogene Sonderzuwendungen – in Übereinstimmung mit dem 9. Senat des BAG – BAG, v. 11.12.2001 – 9 AZR 459/00, ZIP 2002, 628 = NZA 2002, 975, dazu EWiR 2002, 815 (Berscheid),
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
dem Zeitraum zuzurechnen, in den der Stichtag falle: ebenso BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 953/11, NZA-RR 2014, 29,
x
liege der Stichtag zeitlich nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, handele es sich um eine Masseverbindlichkeit;
x
liege der Stichtag zeitlich vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens, handele es sich in voller Höhe um eine Insolvenzforderung.
Das entspreche auch der Rechtsprechung des BSG zur Einbeziehung von 78 Vergütungsbestandteilen in die Insolvenzgeldberechnung. Vgl. BSG, v. 21.7.2005 – B 11a/11 AL 53/04 R, ZIP 2005, 1933 = NZA-RR 2006, 437, dazu EWiR 2006, 281 (Wank).
dd) Insolvenzrechtliche Zuordnung von Schadensersatzansprüchen Schadensersatzansprüche eines Arbeitnehmers, die an die Stelle von Vergü- 79 tungsansprüchen aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis treten, sind dabei nach den Feststellungen des 10. Senats insolvenzrechtlich wie die ihnen zugrunde liegenden Vergütungsansprüche zu behandeln, d. h. sie sind demjenigen Zeitraum zuzuordnen, auf den sich der ursprüngliche Vergütungsanspruch bezog. ee) Bewertung eines Incentive Bonus Im entschiedenen Fall setzte die Zahlung des Bonus das Erreichen bestimm- 80 ter, in einer Zielvereinbarung festzulegender Ziele voraus. Die Höhe des Bonus richtete sich nach dem Grad des Erreichens dieser Ziele. Eine solche erfolgsabhängige Vergütung werde – so der 10. Senat – als unmittelbare Gegenleistung für die entsprechend der Zielvereinbarung erbrachte Arbeitsleistung geschuldet. Keine Rolle spiele, dass der Zielerreichungsgrad erst nach Ablauf des Geschäftsjahres ermittelt werde. Ausgehend von der vorstehenden Differenzierung handele es sich daher bei 81 dem Schadensersatzanspruch nicht um eine Masseverbindlichkeit i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO, sondern um eine Insolvenzforderung. Denn der vom Kläger geltend gemachte Anspruch beziehe sich auf die Monate Oktober 2008 bis März 2009 und damit auf einen vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens liegenden Zeitraum und es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass es nach der Art der zu vereinbarenden Ziele auf besondere Ergebnisse oder Leistungen außerhalb dieses Zeitraums habe ankommen können. Der Kläger habe nichts dafür vorgetragen, dass der Incentive Bonus entgegen 82 der dargestellten Regel überwiegend erst in der zweiten Hälfte des Geschäftsjahres verdient worden wäre. Keinesfalls wäre der Bonus erst nach Abschluss des Geschäftsjahres entstanden.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
c) Zwecksetzung und insolvenzrechtliche Qualifikation eines Retention Bonus 83 Auch der Retention Bonus steht dem Kläger nach der Bewertung des BAG nicht zu, weil er das Arbeitsverhältnis vor dem vereinbarten Stichtag (der nach der Insolvenzeröffnung lag) gekündigt habe. Der Verlust des Anspruchs bei vorzeitiger Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Kläger entspreche dem Sinn der Halteprämie, den das BAG wie folgt definiert: 84 Zweck der Zusage sei die Belohnung von Betriebstreue. Vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Insolvenzschuldnerin seien den Arbeitnehmern Zahlungen für den Fall versprochen worden, dass ihr Arbeitsverhältnis zu bestimmten, in der Zukunft liegenden Stichtagen entweder von Arbeitnehmerseite ungekündigt fortbesteht oder aber allein deshalb nicht mehr besteht, weil es auf Veranlassung des Arbeitgebers vorzeitig beendet worden ist. Damit sei ein Anreiz für die Arbeitnehmer geschaffen worden, ihr Kündigungsrecht trotz der schwierigen finanziellen Lage nicht auszuüben und der Insolvenzschuldnerin bis zu den vereinbarten Stichtagen bzw. der von ihr veranlassten Beendigung des Arbeitsverhältnisses Betriebstreue zu erweisen. 85 Da der Anspruch nicht besteht, nimmt der 10. Senat zur insolvenzrechtlichen Qualifikation eines Bonus nicht mehr Stellung. Ausgehend von den für die insolvenzrechtliche Bewertung von Sonderleistungen aufgestellten Grundsätzen wäre angesichts des vom 10. Senat festgestellten Leistungszwecks der Retention Bonus im vorliegenden Fall aber mit der Folge in die Fallgruppe 2 einzuordnen, dass er als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren gewesen wäre, wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen hätten. Entgegengetreten ist das BAG damit der von der 11. Kammer des LAG München vertretenen Auffassung, LAG München, v. 5.10.2011 – 11 Sa 112/11, ZIP 2012, 585; ablehnend bereits Mückl, ZIP 2012, 1642, 1645 f.,
wonach Retention Boni stets als Insolvenzforderungen zu qualifizieren sein sollen. Näher BAG, v. 12.9.2013 – 6 AZR 953/11, NZA-RR 2014, 29.
d) Anforderungen an die Ausgestaltung von Sonderleistungen 86 Die betriebliche Praxis wird bei der Ausgestaltung von Sonderleistungen insolvenzrechtlich von den unter d) dargestellten Grundsätzen ausgehen und anhand des Leistungszwecks differenzieren müssen. Um den verfolgten Zweck wirksam erreichen zu können, müssen allerdings zusätzlich die von der Rechtsprechung des BAG entwickelten Grenzen zulässiger Vereinbarungsinhalte beachtet werden. Vgl. dazu zusammenfassend Dzida/Klopp, ArbRB 2013, 49 ff.
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
Dabei muss zwischen Klauseln über die Gewährung eines Bonus mit und oh- 87 ne Entgeltcharakter sowie hinsichtlich der zeitlichen Lage etwaiger Stichtage differenziert werden: Arbeitsrechtlich weitestgehend unproblematisch sind Boni ohne Entgeltcha- 88 rakter, die nicht der Vergütung geleisteter Arbeit dienen, sondern nur den Bestand des Arbeitsverhältnisses bis zu einem Stichtag innerhalb des Bemessungszeitraums voraussetzen. BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620, dazu EWiR 2012, 445 (Reichold).
Ein Stichtag außerhalb des Bemessungszeitraums sollte auch bei Boni ohne 89 Entgeltcharakter nur unter Berücksichtigung der vom BAG für Rückzahlungsklauseln entwickelten Grundsätze gewählt werden. Denn der 10. Senat hat angedeutet, die insoweit entwickelten Vorgaben zum angemessenen Verhältnis von Bindungsdauer und Bonushöhe auch auf Stichtagsklauseln anwenden zu wollen. BAG, v. 24.10.2007 – 10 AZR 825/06, ZIP 2008, 658 = NJW 2008, 680, dazu EWiR 2008, 133 (Henssler/ D. Schneider).
Für Sonderleistungen mit Entgeltcharakter gelten strengere Vorgaben als für 90 Sonderleistungen ohne Entgeltcharakter, weil erstere durch die Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung erdient worden sind, sodass ihre Zahlung nicht vom Vorliegen weiterer Voraussetzungen abhängig gemacht werden kann. BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620.
Nach Ansicht des BAG hat eine Sonderleistung regelmäßig dann Entgelt- 91 charakter, wenn sie einen wesentlichen Teil der Gesamtvergütung ausmacht. Das soll der Fall sein, wenn sie mindestens 25 % der Gesamtvergütung erreicht. BAG, v. 6.5.2009 – 10 AZR 443/08, NZA 2009, 783.
Nicht möglich ist im Fall einer Sonderleistung mit Entgeltcharakter, einen 92 Stichtag außerhalb des Bemessungszeitraums zu wählen. Denn eine Sonderzahlung, die jedenfalls auch Vergütung für erbrachte Arbeitsleistung darstellt, kann nach der Rechtsprechung des BAG nicht vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem außerhalb des Bezugszeitraums liegenden Stichtag abhängig gemacht werden. BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620, dazu EWiR 2012, 445 (Reichold).
Dies gilt auch dann, wenn entsprechende Regelungen in Betriebsvereinba- 93 rungen enthalten sind, BAG, v. 12.4.2011 – 1 AZR 412/09, NZA 2011, 989,
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
oder die Klausel Mischcharakter hat, d. h. erbrachte Arbeitsleistung vergütet und Betriebstreue honoriert. BAG, v. 18.1.2012 – 10 AZR 667/10, ZIP 2012, 1093 = NZA 2012, 620; BAG, v. 13.11.2013 – 10 AZR 848/12, n. v.
94 Nach aktueller Rechtsprechung nicht mehr zulässig ist auch, eine Sonderleistung mit Entgeltcharakter an einen innerhalb des Bemessungszeitraums liegenden Stichtag anzuknüpfen. Das BAG hatte dies früher für zulässig gehalten, wenn in der Klausel betriebsbedingte Kündigungen des Arbeitgebers ausgenommen und das Geschäftsjahr als Zielperiode einer entgeltrelevanten Vergütungsvereinbarung gewählt wird. BAG, v. 6.5.2009 – 10 AZR 443/08, NZA 2009, 783.
95 Der 10. Senat scheint an dieser Rechtsprechung aber nicht mehr festzuhalten. Denn in seinem Urteil vom 13.11.2013 – 10 AZR 848/12, n. v.
hat er eine Klausel mit Mischcharakter für unzulässig gehalten, die den 31. Dezember des Jahres als Stichtag vorsah. Die Entscheidung liegt bislang erst als Pressemitteilung vor. 96 Dass danach diese Gestaltungsmöglichkeit scheinbar nicht mehr besteht, ist gerade in der Krise misslich, weil sie ggf. helfen konnte, eine insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit von Retention Boni zu verhindern. Näher Mückl, ZIP 2012, 1642, 1646 ff.
2. Kein Ausschluss nicht angemeldeter Forderungen durch Insolvenzplan 97 Die „CGZP“-Entscheidung des BAG vom 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289
hat nicht nur für die Leiharbeit wichtige Klarstellungen zum Equal-PayGrundsatz ausgelöst (vgl. dazu unter Rn. 328 ff.), sondern auch eine Reihe von Folgefragen aufgeworfen, welche die Rechtsprechung nach und nach beantwortet. Insolvenzrechtlich hat sich durch die Entscheidung des BAG vom 12.9.2013 – 6 AZR 907/11, ZIP 2013, 2268
zuletzt die Klarstellung ergeben, dass „Nachzügler“ mit Forderungen, die bei rechtskräftiger Bestätigung eines Insolvenzplans unbekannt waren, grundsätzlich nicht ausgeschlossen sind. 98 Im entschiedenen Fall war der Kläger in den Jahren 2007 und 2008 als Leiharbeitnehmer für die Beklagte tätig. Der Arbeitsvertrag sah vor, dass sich die Rechte und Pflichten der Parteien nach den Tarifverträgen zwischen dem
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
Arbeitgeberverband mittelständischer Personaldienstleister e. V. und der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) richteten. Im September 2009 wurde über das Vermögen der Beklagten das Insolvenzverfahren eröffnet. Der vom Insolvenzgericht rechtskräftig bestätigte Insolvenzplan enthielt u. a. einen Ausschluss unangemeldeter Forderungen. Das Insolvenzverfahren wurde im November 2009 aufgehoben. Der Kläger nahm die Beklagte mit seiner Anfang Januar 2011 zugestellten Klage auf höhere Vergütung entsprechend einer Vergleichsperson im Entleihunternehmen („Equal-Pay-Zahlungen“) in der Gesamthöhe von 9.845,52 € in Anspruch. Die Forderungen wurden zuvor nicht rechtskräftig festgestellt. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen und eine entsprechende Aus- 99 schlussklausel im Insolvenzplan für wirksam gehalten. Die Revision des Klägers hatte vor dem 6. Senat schon nach dem gesetzlichen Regelungsprogramm der §§ 254 ff. InsO keinen Erfolg. Die Insolvenzordnung sieht nach den Feststellungen des BAG zwar nicht vor, dass Ansprüche, die im Insolvenzverfahren nicht angemeldet wurden, nach rechtskräftiger Bestätigung des Insolvenzplans und Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht mehr gegen den Insolvenzschuldner geltend gemacht werden können. „Nachzügler“ müssen ihre Forderungen jedoch zunächst rechtskräftig durch das Prozessgericht feststellen lassen, bevor sie ihre Ansprüche durch Leistungsklage gegenüber dem Schuldner durchsetzen können. Denn sei eine Forderung nicht zur Tabelle festgestellt und habe das Insolvenzgericht auch keine Entscheidung über das Stimmrecht oder über die vorläufige Berücksichtigung der Forderung nach § 256 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO getroffen, könne der Gläubiger einer nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens vom Schuldner bestrittenen Forderung erst dann wirksam eine Frist nach § 255 Abs. 1 Satz 2 InsO setzen, wenn seine Forderung vom Prozessgericht rechtskräftig festgestellt worden sei. Frühere Fristsetzungen seien wirkungslos. Diese Voraussetzungen waren im entschiedenen Fall nicht erfüllt. Der Senat 100 konnte deshalb nach seiner Bewertung auch offenlassen, ob der Ausschluss unbekannter Forderungen in einem Insolvenzplan wirksam ist oder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG verstößt. 3. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Abfindungen Mit der insolvenzrechtlichen Qualifikation eines Abfindungsanspruchs aus 101 einem vor Insolvenzeröffnung abgeschlossenem Sozialplan hat sich das LAG Hessen in seinem Urteil vom 21.5.2013 – 8 Sa 1235/12, BeckRS 2013, 72573
beschäftigt. Im entschiedenen Fall war der Kläger ab 1.9.2000, zuletzt als Personalleiter 102 mit einem monatlichen Bruttogehalt von 5.500 €, bei der A AG beschäftigt.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Am 1./4.7.2011 hatte er mit der A AG einen Aufhebungsvertrag geschlossen, in dem es auszugsweise heißt: „1. Die Parteien sind sich einig, dass das Arbeitsverhältnis aus betriebsbedingten Gründen wegen Wegfall des Arbeitsplatzes zur Vermeidung einer ansonsten auszusprechenden Kündigung zum gleichen Zeitpunkt einvernehmlich am 31.3.2012 endet. 2. Herr B wird ab 4.7.2011 bis zum Vertragsende unter Fortzahlung der Vergütung und unter Anrechnung noch vorhandener Urlaubsansprüche sowie Guthaben auf Arbeitszeitkonten unwiderruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt. 3. A zahlt Herrn B für den Verlust des Arbeitsplatzes eine Abfindung gemäß Sozialplan und Interessenausgleich vom 7.12.2010 in Höhe von 21.196 EUR brutto. Die Auszahlung wird mit der Gehaltszahlung im März 2012 erfolgen.“
103 Am 1.2.2012 wurde über das Vermögen der A AG das Insolvenzverfahren eröffnet. Zum 31.3.2012 hatte die B, die spätere Beklagte, vom Insolvenzverwalter den Betrieb im Rahmen eines Betriebsübergangs gem. § 613a BGB übernommen. Die Parteien stritten darüber, ob die Beklagte für den Abfindungsanspruch haftet. Der Kläger hatte die Ansicht vertreten, der Abfindungsanspruch sei erst nach dem Betriebsübergang am 31.3.2012 entstanden, sodass die Beklagte als Betriebsübernehmerin für den Anspruch hafte. 104 Das LAG Hessen hat dies – im Gegensatz zum ArbG Offenbach – in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BAG zu Recht abgelehnt. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist die Haftung des Erwerbers eines Betriebes in der Insolvenz aufgrund einer teleologischen Reduktion des § 613a Abs. 2 BGB beschränkt. Soweit die Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts griffen, gingen diese als Spezialregelungen vor. Damit werde sichergestellt, dass alle Gläubiger gleichmäßig befriedigt werden. Außerdem würden Betriebsübernahmen in der Insolvenz erleichtert. Die insolvenzrechtliche Beschränkung des Eintritts der Haftung nach § 613a Abs. 2 BGB für den Erwerber betreffe danach Insolvenz-, nicht jedoch Masseforderungen. Vgl. BAG, v. 14.11.2012 – 5 AZR 778/11, BeckRS 2013, 67325.
105 Ausgehend von diesen Grundsätzen konnte der Kläger – wie das LAG Hessen zu Recht annimmt – von der B als Betriebserwerberin die Zahlung der Abfindung gem. § 613a Abs. 2 BGB nicht verlangen. Denn der Abfindungsanspruch, der bei der Insolvenzeröffnung bereits entstanden war, stellte keine Masseverbindlichkeit, sondern eine Insolvenzforderung nach § 38 InsO dar. 106 Der Abfindungsanspruch sei – so das LAG Hessen – bereits mit Abschluss des Aufhebungsvertrages und damit bei Insolvenzeröffnung entstanden gewesen. Dabei berücksichtigt das LAG Hessen ergänzend, dass die Abfindung nach der im Aufhebungsvertrag verlautbarten Interessenlage in erster Linie eine Gegenleistung des Arbeitgebers für die Einwilligung des Klägers in die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses darstellte. Dies spreche dafür,
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
dass diese gleichzeitig mit der Erteilung der Einwilligung, also mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrages, entstehen sollte. Für dieses Verständnis spreche schließlich auch, dass die Umsetzung des Aufhebungsvertrages direkt im Anschluss an dessen Abschluss mit der Freistellung des Klägers begonnen habe. Der Abfindungsanspruch sei auch nicht durch eine Handlung des Insolvenz- 107 verwalters i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet worden und deshalb als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren, für welche die B nach § 613a Abs. 2 BGB hafte. Das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin habe seit dem 1.9.2000 bestanden. Der Bestand des Arbeitsverhältnisses sei durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt worden (§ 108 Abs. 1 InsO). Der Aufhebungsvertrag sei am 1./4.7.2011 und damit vor Insolvenzeröffnung am 1.2.2012 zwischen dem Kläger und der Insolvenzschuldnerin zustande gekommen. Werde eine Abfindungsforderung – wie hier – durch eine Vereinbarung vor dem Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet, liege auch für den Zeitraum nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Masseverbindlichkeit i. S. v. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor. Es fehle an der Begründung durch den Insolvenzverwalter. Vgl. BAG, v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, BAGE 124, 150 = ZIP 2008, 374, dazu EWiR 2008, 335 (Holzer).
Bei dem Abfindungsanspruch handele es sich schließlich auch nicht um eine 108 Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO. Danach seien Masseverbindlichkeiten Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen, soweit deren Erfüllung für die Zeit nach Insolvenzeröffnung erfolgen muss. Mit dem Wort „für“ sei zum Ausdruck gebracht, dass es bei den gem. § 53 InsO vorweg aus der Insolvenzmasse zu berichtigenden Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen nicht allein auf die vereinbarte Leistungszeit, sondern auf die Zwecksetzung ankomme. Es genüge nicht, dass die Verbindlichkeiten in der Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt werden müssen. Für die Einordnung als Masse- oder Insolvenzforderung sei entscheidend, ob es sich bei ihr um eine Leistung mit Entgeltcharakter handele. Dies ergebe sich aus Sinn und Zweck des § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO und aus dessen systematischem Zusammenhang mit der Regelung des § 108 Abs. 3 InsO. Grundsätzlich können nur solche Leistungsansprüche, die in einem teilweise synallagmatischen Verhältnis zu der erbrachten Arbeitsleistung stehen, als Masseforderung anerkannt werden, weil sie eine Gegenleistung für die der Masse nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugutegekommene Arbeitsleistung darstellen. Entscheidend sei somit, ob ein Entgelt im weitesten Sinne für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschuldet werde. Vgl. BAG, v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, BAGE 124, 150 = ZIP 2008, 374.
Daraus folge, dass die streitgegenständliche Forderung keine Masseverbind- 109 lichkeit sei. Abfindungen seien in der Regel kein Entgelt für nach Insolvenz-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
eröffnung erbrachte Arbeitsleistungen, sondern stellen einen Ausgleich für durch den Verlust des Arbeitsplatzes entstehende Nachteile und/oder eine Honorierung der Zustimmung des Arbeitnehmers zur vorzeitigen Vertragsauflösung dar. Der Anspruch auf eine Abfindung, die vor Insolvenzeröffnung vereinbart worden sei, sei selbst dann nur einfache Insolvenzforderung i. S. d. § 38 InsO und keine Masseverbindlichkeit, wenn er erst nach Insolvenzeröffnung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehe. BAG, v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, BAGE 124, 150 = ZIP 2008, 374.
110 Das LAG Hessen bestätigt damit die ständige Rechtsprechung des BAG. Dieselben Grundsätze gelten allerdings auch für einzelvertraglich vor Insolvenzeröffnung vereinbarte Abfindungszahlungen für den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der Insolvenz. BAG, v. 25.2.1981 – 5 AZR 922/78, ZIP 1981, 1021 = NJW 1982, 127.
111 Gleiches gilt für eine für den Fall der Kündigung vereinbarte Abfindung eines Geschäftsführers. Vgl. OLG Frankfurt/M., v. 16.9.2004 – 3 U 205/03, ZIP 2005, 409 = NZI 2004, 667.
112 Abfindungen, die im Kündigungsschutzprozess über eine unwirksame Kündigung des Insolvenzverwalters vereinbart oder nach den §§ 9, 10 KSchG festgesetzt werden, sind demgegenüber nach § 55 InsO durch den Insolvenzverwalter begründet und daher Masseverbindlichkeiten. LAG Hamm, v. 23.10.1973 – 3 SA 541/73, DB 1974, 50.
4. Insolvenzrechtliche Qualifikation einer Wiedereinstellungszusage 113 Wiedereinstellungszusagen können Unternehmen stark belasten. Dies gilt umso mehr, als sie – wie die jüngere Rechtsprechung des BAG noch einmal deutlich gemacht hat (zu ihr unter Rn. 769 ff.) – abhängig von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung auch 30 Jahre nach dem Zeitpunkt der Zusage zur Anwendung kommen können. 114 Eine Möglichkeit, sich wirtschaftlich von derartigen Zusagen zu lösen, kann indes die Insolvenz bilden, wie das Urteil des LAG Mainz vom 2.5.2013 – 2 Sa 423/12, ZIP 2013, 1638 = ZInsO 2013, 2027
deutlich gemacht hat. Im entschiedenen Fall war die Klägerin seit 1998 (mit Unterbrechungen) bei der Firma A beschäftigt. Mit Schreiben vom 31.8.2011 kündigte die A das mit der Klägerin bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.1.2012. Im Kündigungsschreiben heißt es: „Ihre Wiedereinstellung zu gleichen Konditionen erfolgt bis spätestens 1. Juni 2012“.
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
Die Klägerin erhob keine Kündigungsschutzklage. Mit Beschluss vom 1.2.2012 115 wurde über das Vermögen der A. am 1.2.2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Auf ein Schreiben der Klägerin vom 24.2.2012, mit dem sie eine Wiedereinstellung forderte, teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass „aufgrund der derzeitigen Unternehmenssituation keine Neu- bzw. Wiedereinstellungen erfolgen können“. Mit anwaltlichem Schreiben vom 12.3.2012 forderte die Klägerin den Beklagten auf, ihr gegenüber bis spätestens 25.3.2012 schriftlich zu bestätigen, dass sie bis spätestens zum 1.6.2012 zu den bisherigen Bedingungen des Arbeitsverhältnisses wieder eingestellt werde. Dem kam der Beklagte nicht nach. Das Landesarbeitsgericht wies die – nach Auslegung – auf Wiederbegründung des Arbeitsverhältnisses gerichtete Klage auf die Berufung des Beklagten hin mit folgender Begründung als unbegründet ab: Im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei das Arbeitsverhält- 116 nis der Klägerin bereits beendet gewesen, so dass sie Ansprüche aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur als Insolvenzgläubigerin geltend machen könne (§§ 38, 108 Abs. 3, 87, 174 ff. InsO). Gem. § 80 Abs. 1 InsO gehe das Recht des Schuldners, das zur Insolvenz- 117 masse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO bestünden Dienstverhältnisse mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. Durch die Formulierung „Fortbestehen“ werde deutlich, dass hiervon nicht Arbeitsverhältnisse betroffen sein können, die vor dem Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts bereits beendet waren. § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO fingiere keine Arbeitgeberstellung für bereits beendete Arbeitsverhältnisse. Dementsprechend regele § 108 Abs. 3 InsO, dass Ansprüche aus Dienstverhältnissen für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom Arbeitnehmer nur als Insolvenzgläubiger gegen den Insolvenzverwalter geltend gemacht werden können. BAG, v. 23.6.2004 – 10 AZR 495/03, ZIP 2004, 1974 = NZA 2004, 1392, dazu EWiR 2004, 1185(Richter); BGH, v. 2.6.2005 – IX ZR 221/03, ZIP 2005, 1325 = NZI 2005, 628, dazu EWiR 2006, 147 (Schröder).
Bei dem Klageanspruch auf Abschluss eines Arbeitsvertrags handle es sich 118 um eine Insolvenzforderung i. S. v. § 38 InsO. Der Begriff des Insolvenzgläubigers wird in § 38 InsO definiert. Danach dient 119 die Insolvenzmasse zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Dies sei hier der Fall, da der Klageanspruch auf die von der Insolvenzschuld- 120 nerin im Kündigungsschreiben vom 31.8.2011 abgegebene Wiedereinstellungszusage gestützt werde, die bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1.2.2012 eine entsprechende Wiedereinstellungsverpflichtung der In27
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solvenzschuldnerin begründet habe. Mithin sei der Rechtsgrund für die Entstehung des Klageanspruchs bereits vor Insolvenzeröffnung gelegt gewesen. Aus § 41 Abs. 1 InsO ergebe sich, dass die bei Insolvenzeröffnung noch nicht eingetretene Fälligkeit des Wiedereinstellungsanspruchs seiner Einordnung als Insolvenzforderung nicht entgegensteht. 121 Es handle sich dabei um ein Vermögensrecht, das zugleich die Insolvenzmasse des Schuldners betreffen könne. Zwar habe der Wiedereinstellungsanspruch als solcher keinen zur Insolvenztabelle anmeldbaren Inhalt, weil er auf einen Leistungsaustausch und nicht auf eine schlichte, zur Tabelle anzumeldende Geldforderung ziele. Daraus folge jedoch nicht, dass alle Ansprüche auf Abschluss eines Arbeitsvertrags, die nicht zur Insolvenztabelle angemeldet werden können, mit ihrem Hauptinhalt gegen den Insolvenzverwalter durchzusetzen seien. Analog § 103 InsO stehe es dem Insolvenzverwalter frei, die Kontrahierungspflicht des Schuldners an dessen Stelle zu erfüllen, wenn Abschluss und Durchführung des Vertrags im Interesse der Masse liegen. Lehne der Insolvenzverwalter die vom Insolvenzschuldner zugesagte Wiedereinstellung dagegen ab, könne der Anspruchsberechtigte eine Forderung wegen der Nichterfüllung als Insolvenzgläubiger geltend machen, also entsprechend § 103 Abs. 2 InsO statt des Leistungsaustauschs eine einseitige Schadensersatzforderung zur Tabelle anmelden. 122 Ausgehend von diesen Grundsätzen bietet die Insolvenz eine Möglichkeit für Unternehmen, sich wirtschaftlich von unliebsamen Wiedereinstellungszusagen zu lösen. Denn lehnt der Verwalter die Wiedereinstellung ab, sind entsprechende Wiedereinstellungszusagen lediglich als Insolvenzforderung zu qualifizieren. Zu hoffen bleibt, dass das BAG diese Bewertung in der unter dem Aktenzeichen 6 AZR 702/13
anhängigen Revision bestätigen wird. Denn eine andere Bewertung würde die Masse dann, wenn in der Vergangenheit aufgrund vorhergehender Umstrukturierungen – wie von Arbeitnehmerseite häufig gefordert – (ggf. unterschiedliche) Rückkehrzusagen erfolgt sind, mit unübersehbaren Kosten belasten. Der Verwalter müsste dann ggf. zunächst Prozesse um die Auslegung der Zusage und im Anschluss Kündigungsschutzprozesse aufgrund erforderlich gewordener Kündigungen führen. 5. Insolvenzrechtliche Qualifikation eines Anspruchs des Betriebsrats auf Freistellung von Rechtsanwaltskosten 123 Nach § 40 Abs. 1 BetrVG trägt der Arbeitgeber die durch die Tätigkeit des Betriebsrats entstehenden Kosten. Hierzu gehören auch die Honorarkosten für einen Rechtsanwalt, dessen Heranziehung der Betriebsrat in einem arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren in Wahrnehmung seiner betriebsverfassungsrechtlichen Rechte für erforderlich halten durfte. BAG, v. 18.1.2012 – 7 ABR 83/10, NZA 2012, 683.
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
Die Prüfung der Erforderlichkeit hat der Betriebsrat nicht allein anhand sei- 124 ner subjektiven Bedürfnisse vorzunehmen. Er ist vielmehr gehalten, die Interessen der Belegschaft an einer sachgerechten Ausübung des Betriebsratsamts einerseits und die berechtigten Interessen des Arbeitgebers andererseits gegeneinander abzuwägen. Der Betriebsrat darf bei der Wahl seiner Rechtsverfolgung bzw. -verteidigung das Interesse des Arbeitgebers an der Begrenzung seiner Kostentragungspflicht nicht außer Acht lassen. Er hat wie jeder, der auf Kosten eines anderen handeln kann, die Maßstäbe einzuhalten, die er ggf. bei eigener Kostentragung anwenden würde, wenn er selbst bzw. seine beschließenden Mitglieder die Kosten tragen müssten. BAG, v. 18.1.2012 – 7 ABR 83/10, NZA 2012, 683.
Die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers entfällt dementsprechend bei 125 einer offensichtlich aussichtslosen oder mutwilligen Rechtsverfolgung des Betriebsrats. Offensichtlich aussichtslos ist die Rechtsverfolgung, wenn die Rechtslage unzweifelhaft ist und das eingeleitete Beschlussverfahren zu einem Unterliegen des Betriebsrats führen muss. Mutwilligkeit kann vorliegen, wenn das Interesse des Arbeitgebers an der Begrenzung seiner Kostentragungspflicht missachtet wird. Der Betriebsrat darf bei der Wahl der Rechtsdurchsetzung unter mehreren gleich geeigneten Möglichkeiten nur die für den Arbeitgeber kostengünstigere Lösung für erforderlich halten. BAG, v. 18.1.2012 – 7 ABR 83/10, NZA 2012, 683.
Soweit der Betriebsrat nach diesen Grundsätzen die Freistellung von ent- 126 standenen Aufwendungen verlangen kann, ergibt sich nichts anderes durch die Vorschrift in § 65 Abs. 1 BetrVG, die § 40 BetrVG für entsprechend anwendbar erklärt. BAG, v. 18.1.2012 – 7 ABR 83/10, NZA 2012, 683.
Im Insolvenzfall sind aber auch derartige Freistellungsansprüche dann als In- 127 solvenzforderung i. S. d. § 38 InsO zu qualifizieren, soweit sie bereits vor Stellung des Insolvenzantrages entstanden sind. Dies hat das LAG Rheinland-Pfalz in seinem Beschluss vom 21.3.2013 – 2 TaBV 43/12, ZInsO 2013, 1480
für Kostenforderungen bestätigt, die aus der anwaltlichen Vertretung des Betriebsrates in den Beschlussverfahren vor Stellung des Insolvenzantrages resultierten und die unstreitig bereits vor der Bestellung des Antragsgegners zum (starken) vorläufigen Insolvenzverwalter entstanden waren. Der hierdurch ausgelöste Freistellungsanspruch des Betriebsrates nach § 40 Abs. 1 BetrVG stelle daher – so das LAG Rheinland-Pfalz – eine Insolvenzforderung i. S. v. § 38 InsO dar. Damit befindet sich das LAG Rheinland-Pfalz in Übereinstimmung mit dem BAG. BAG, v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, ZIP 2010, 588 = DB 2010, 678, dazu EWiR 2010, 543 (Tintelnot/Graj).
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung Praxistipp: Wurde ein Berater vom Betriebsrat vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinzugezogen und dauert dessen Tätigkeit bis nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens an, sind die Honoraransprüche für die vor Insolvenzeröffnung erbrachten Beratungsleistungen keine Masseverbindlichkeiten, sondern Insolvenzforderungen (BAG, v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, ZIP 2010, 588 = DB 2010, 678). Denn bei der Beratungstätigkeit handelt es sich um eine teilbare Leistung i. S. d. § 105 InsO, sodass auch bei Fortführung der Beratertätigkeit über die Eröffnung hinaus zwischen vor und nach der Eröffnung erbrachter Leistung zu unterscheiden ist.
6. Insolvenzrechtliche Qualifikation eines Urlaubsabgeltungsanspruchs – Anforderungen an die Formulierung einer Freistellungserklärung 128 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG, vgl. nur BAG, v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, ZIP 2013, 1033, dazu EWiR 2013, 517 (Budnik),
kommt es für die Qualifikation einer Arbeitnehmerforderung als Masseverbindlichkeit darauf an, „für“ welche Zeit die Forderung entstanden ist. Daher ist nicht die Fälligkeit der Forderung maßgeblich, sondern die Frage, auf welchen Zeitraum sie bezogen, und wann sie entstanden ist. a) Qualifikation von Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen 129 Für die Urlaubsabgeltung hat das BAG insoweit in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehen, Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 InsO sind. BAG, v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, ZIP 2007, 834, dazu EWiR 2008, 87 (Henkel).
130 Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bildet nach dieser Rechtsprechung für den noch nicht festgelegten Urlaub keine Zäsur. Eine Aufteilung in einen vor und einen nach Verfahrenseröffnung entstehenden Teilurlaubsanspruch ist mit dem gesetzlichen Urlaubsrecht nach den Feststellungen des BAG nicht vereinbar. Daran ändere – so das BAG – auch § 108 InsO nichts. Zwar werde dort deutlich, dass die aus einem Dauerschuldverhältnis resultierenden Rechte nach Zeitabschnitten oder anderen Merkmalen ratierlich berichtigt werden sollten. Das rechtfertige aber keine Nichtanwendung der urlaubsrechtlichen Grundsätze. Nach § 1 BUrlG sei dem abhängig Beschäftigten zwingend in jedem Kalenderjahr Erholungsurlaub zu gewähren. Dafür sei nach § 7 Abs. 7 BUrlG möglichst eine zusammenhängende Gewährung erforderlich. Eine Stückelung auf einzelne Tage sei unzulässig. Daran ändere auch § 105 InsO nichts, der für teilbare geschuldete Leistungen und teilweise Erbringung der Leistung vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinsichtlich dieses Teils dem Forderungsinhaber die Stellung eines Insolvenz-
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I. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Vergütungsbestandteilen
gläubigers zuweise. Denn der Urlaub bemisst sich zwar nach Tagen und sei insoweit auch „teilbar“. Dies gelte aber nicht für den Urlaubsanspruch, der einheitlich nach Erfüllung der Wartezeit am 1.1. eines Jahres in voller Höhe entstehe und von keiner Arbeitsleistung des Arbeitnehmers abhänge. Dass nach § 5 BUrlG der Urlaubsanspruch bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der ersten Jahreshälfte auf ein Zwölftel für jeden vollen Beschäftigungsmonat verkürzt werde und bei einem Eintritt des Arbeitnehmers in der zweiten Jahreshälfte ebenfalls nur ein Teilanspruch entstehe, ändere an der Unteilbarkeit des Anspruchs als solchem Nichts. Diese Grundsätze hat das Sächsische LAG in seinem Urteil vom 26.2.2013
131
– 1 SA 360/12, NZI 2013, 810
noch einmal bestätigt. b) Schlussfolgerungen für die Freistellungserklärung Für die Insolvenzpraxis wichtig ist diese Entscheidung insbesondere mit 132 Blick auf ihre Feststellungen zur Formulierung von Freistellungserklärungen, für die sich in der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zunehmend neue Vorgaben herausbilden. Vgl. dazu Mückl, EWiR 2013, 137; ders., EWiR 2012, 443.
Im entschiedenen Fall hatte der beklagte Insolvenzverwalter den Kläger
133
„unter Anrechnung seiner Ausgleichsansprüche nach dem Arbeitszeitkonto, unter Anrechnung seiner Urlaubsansprüche von der Arbeitsleistung unwiderruflich bis zum Ende der Kündigungsfrist“
freigestellt. Zu diesem Zeitpunkt wies das Arbeitszeitkonto ein Arbeitszeitguthaben des Klägers von 336,5 Stunden, die der Kläger vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet hatte, auf. Die vom beklagten Insolvenzverwalter vorgenommene Aufzählung in der 134 Freistellungserklärung hatte nach den Feststellungen des sächsischen LAG zur Folge, dass mit der Freistellung zunächst nicht der offene Urlaubsanspruch nach § 362 Abs. 1 BGB mit der Folge erfüllt wurde, dass ein Urlaubsabgeltungsanspruch nicht besteht. Insoweit liege lediglich eine Teilerfüllung vor. Denn mit der Freistellung habe der beklagte Insolvenzverwalter entsprechend seiner Freistellungserklärung zunächst die Ausgleichsansprüche auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers und erst im Anschluss daran dessen Urlaubsansprüche erfüllt. aa) Qualifikation einer Aufzählung als Tilgungsbestimmung Der Beklagte habe mit seiner Freistellungserklärung i. S. d. § 366 Abs. 1 BGB 135 bestimmt, welche Ansprüche er in welcher Reihenfolge mit der Freistellung erfüllen wolle. Durch die Reihenfolge „unter Anrechnung seiner Ausgleichs31
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
ansprüche nach dem Arbeitszeitkonto, unter Anrechnung seiner Urlaubsansprüche“ habe der Beklagte die Reihenfolge bestimmt. Zuerst solle die Freistellung danach unter Anrechnung seiner Ausgleichsansprüche nach dem Arbeitszeitkonto und im Anschluss unter Anrechnung seiner Urlaubsansprüche erfüllt werden. Ein anderer Sinn komme dieser aufgeführten Reihenfolge für den Kläger erkennbar (§ 133 BGB) nicht zu. Dementsprechend habe das BAG in einem vergleichbaren Fall festgestellt, dass sich aus der Reihenfolge der erklärten Freistellung von den Arbeitspflichten ergebe, in welcher Reihenfolge die Freistellungsansprüche erfüllt würden. BAG, v. 23.1.2001 – 9 AZR 26/00, BAGE 97, 18 = ZIP 2001, 897, dazu EWiR 2001, 751 (Pirscher).
136 Die bei der Leistung – hier der Freistellungserklärung – vorliegende Tilgungsbestimmung des § 366 Abs. 1 BGB, BAG, v. 1.10.1991 – 9 AZR 92/90, BAGE 68, 308,
gelte auch – wie im vorliegenden Fall – bei einer Mehrheit von Forderungen aus demselben Schuldverhältnis. BAG, v. 7.8.2012 – 9 AZR 760/10, NZA 2013, 104.
bb) Irrelevanz des Aufrechnungsverbots nach §§ 94, 95 InsO 137 Die Auffassung des Beklagten, bei der Auslegung seiner Freistellungserklärung habe berücksichtigt werden müssen, dass er sich als Insolvenzverwalter rechtmäßig verhalten müsse und wolle, d. h. der nach Insolvenzeröffnung entstandene Anspruch auf Freistellung von der Arbeitsleistung sei nicht mit dem vor der Insolvenzeröffnung entstandenen Anspruch auf Überstundenvergütung zu verrechnen, sodass ein Verstoß gegen §§ 94, 95 InsO vorliege, weist das Landesarbeitsgericht – völlig zu Recht – ausdrücklich zurück. Es weist insoweit zutreffend darauf hin, dass es vorliegend schon deshalb nicht um ein Aufrechnungsverbot i. S. d. §§ 94, 95 InsO handelt, weil sich keine aufrechenbaren Gegenforderungen gegenüberstehen, sondern es hier um mehrere Forderungen des Klägers gegen den Beklagten und damit lediglich um die Reihenfolge ihrer Befriedigung gehe. Diese ergebe sich aus der eindeutigen Leistungsbestimmung des Beklagten gem. § 366 Abs. 1 BGB. 138 Das Urteil macht noch einmal deutlich, dass Insolvenzverwalter insbesondere bei der Formulierung von Freistellungserklärungen sorgfältig vorgehen müssen. Werden dort „anzurechnende“ (d. h. mit der Freistellung zu erfüllende) Freizeitansprüche geregelt, sollte bei deren Aufzählung darauf geachtet werden, dass Ansprüche aus Arbeitszeitkonten nachrangig genannt werden. Denn derartige Ansprüche sind nach ständiger Rechtsprechung des BAG dann als Insolvenzforderung zu qualifizieren, wenn sie in der Zeit vor Insolvenzeröffnung erworben worden sind. BAG, v. 24.9.2003 – 10 AZR 640/02, ZIP 2004, 124 = AP InsO § 47 Nr. 1, dazu EWiR 2004, 391 (Bezani/Richter).
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen
Dies gilt auch für Altersteilzeitansprüche aus der Freistellungsphase des 139 Blockmodells in der Insolvenz. BAG, v. 23.2.2005 – 10 AZR 600/03, AP InsO § 108 Nr. 1.
Insoweit findet – anders als bei Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen 140 – keine einheitliche Betrachtung infolge einer untrennbaren Verbindung statt. Die Masse wird also geschont, wenn in derartigen Fällen während der Phase nach Insolvenzeröffnung im Rahmen einer Freistellung zunächst die offenen Urlaubsansprüche erfüllt werden. Etwaige Ansprüche auf Arbeitszeitkonten, die vor der Insolvenz erworben worden sind, sind bloße Insolvenzforderungen. Darauf müssen Insolvenzverwalter zur Haftungsvermeidung achten. Denn eine abweichende Aufzählung in der Freistellungserklärung ist als Pflichtverletzung zu bewerten. II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen 1. Darlegungslast des Arbeitnehmers für Vergütungsansprüche im insolvenzrechtlichen Anfechtungszusammenhang §§ 129 ff. InsO eröffnen dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, gläubiger- 141 benachteiligende Zahlungen des Schuldners anzufechten. Aus Mitarbeitersicht besonders nachteilig sind unentgeltliche Verfügungen i. S. d. § 134 InsO, weil sie mit den geringsten Anforderungen angefochten werden können. Gem. § 134 InsO ist eine unentgeltliche Leistung des Schuldners nämlich anfechtbar, es sei denn, sie ist früher als vier Jahre vor dem Insolvenzantrag vorgenommen worden. Eine Verfügung erfolgt i. d. S. unentgeltlich, wenn ein Vermögenswert des Ver- 142 fügenden zugunsten einer anderen Person aufgegeben wird, ohne dass dem Verfügenden oder einem Dritten (z. B. einem Gläubiger) ein angemessener Gegenwert zufließt oder zufließen soll. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589; LAG Rheinland-Pfalz, v. 15.2.2013 – 6 Sa 451/11, ZInsO 2013, 1263.
Demgegenüber ist Entgeltlichkeit anzunehmen, wenn der Schuldner für seine 143 Leistungen – vereinbarungsgemäß – BGH, v. 21.6.2007 – IX ZR 165/04, n. v.; LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589
eine angemessene (nicht notwendig synallagmatische) Gegenleistung erhalten hat oder erhalten soll. BGH, v. 19.11.2009 – IX ZR 9/08, ZIP 2010, 36 = NJW-RR 2010, 1144, dazu EWiR 2010, 257 (Freudenberg).
Ausreichend ist jeder werthaltige Vermögensvorteil, den der Schuldner durch 144 die vorgenommene Rechtshandlung erlangt. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
145 Entsprechend dem Zweck des § 134 InsO (Gläubigerschutz), BGH, v. 28.2.1991 – IX ZR 74/90, ZIP 1191, 454 = NJW 1991, 1610,
sind für die Frage der Unentgeltlichkeit im ersten Schritt nicht die subjektiven Vorstellungen des Schuldners und seines Vertragspartners maßgebend. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589; LAG München, v. 5.10.2011 – 11 Sa 112/11, ZIP 2012, 585.
146 Es muss zunächst eine objektive Wertrelation zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegen. Erst dann ist zu prüfen, ob die Beteiligten ein Entgelt vereinbart „oder gleichwohl das Geschäft als Freigebigkeit angesehen haben“. BGH, v. 28.2.1991 – IX ZR 74/90, ZIP 1991, 454 = NJW 1991, 1610.
147 Für die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gilt insoweit nach den Feststellungen den LAG Rheinland-Pfalz im Urteil vom 15.2.2013 – 6 Sa 451/11, ZInsO 2013, 1263
Folgendes: Dem anfechtenden Insolvenzverwalter obliege die Darlegungsund Beweislast für die Vornahme einer unentgeltlichen Leistung sowie die Verursachung einer Gläubigerbenachteiligung. Soweit die Entscheidung von (sei es auch indiziellen) Umständen aus dem Bereich des Anfechtungsgegners abhänge – z. B. davon, ob dieser eine Gegenleistung erbracht habe –, treffe ihn eine sekundäre Darlegungslast. Ebenso Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 134 Rn. 49.
148 In Bezug auf Lohn- und Vergütungsansprüche konkretisiert das Landesarbeitsgericht diese Grundsätze wie folgt: Die Verbindlichkeiten der Insolvenzschuldnerin aus dem Arbeitsverhältnis mit der Beklagten beträfen Vergütungs- und Gratifikationsansprüche. Für Gratifikationen, die der Arbeitgeber im bestehenden Arbeitsverhältnis leiste, gelte – so das Landesarbeitsgericht (zu weitgehend) – „generell, dass sie nicht unentgeltlich i. S. d. § 134 InsO erfolgen“. Ebenso aber Gottwald/Huber, InsR-Hdb., § 49 Rn. 14.
149 Soweit der Kläger daneben Lohnansprüche der Beklagten bezweifele, gelte außerhalb des insolvenzrechtlichen Anfechtungszusammenhangs, dass zum Beleg von Vergütungsansprüchen regelmäßig ausreiche, wenn ein Arbeitnehmer darlege, sich zur rechten Zeit am rechten Ort bereitgehalten zu haben, um die Arbeitsanweisungen seines Arbeitgebers zu befolgen – die konkret zu leistende Arbeit durch Weisungen zu bestimmen, sei dann dessen Sache (§ 106 GewO). Vgl. auch BAG, 18.4.2012 – 5 AZR 248/11, NZA 2012, 998.
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen
Diese Anforderungen überträgt das Landesarbeitsgericht – ohne weitere Be- 150 gründung – auf den insolvenzrechtlichen Anfechtungszusammenhang, weil insoweit an die sekundäre Darlegungslast von Arbeitnehmern keine höheren Anforderungen gestellt werden könnten. Belege der Arbeitnehmer sein ausreichendes Angebot, sei es Sache des Anfechtenden das Gegenteil darzulegen und zu beweisen. Praxistipp: Mit Blick auf diese strengen Anforderungen sollten Insolvenzverwalter möglichst genau recherchieren, ob ein entsprechendes Arbeitsangebot vorlag, und hierzu möglichst genau vortragen.
Dass das Landesarbeitsgericht die außerhalb der Insolvenzanfechtung maß- 151 geblichen Grundsätze unmodifziert auf den Insolvenzanfechtungsfall überträgt, entspricht einer arbeitsgerichtlichen Tendenz, Arbeitnehmer gegenüber sonstigen Gläubigern scheinbar „besser“ zu stellen. Führt man sich aber vor Augen, dass das Arbeitsverhältnis nach § 108 InsO durch die Insolvenzeröffnung grundsätzlich nicht berührt wird, sprechen die besseren Gründe dafür, die Anforderungen an die Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers und ihre Äußerung im Insolvenzkontext nicht zu erhöhen. 2. Insolvenzanfechtung von Urlaubskassenbeiträgen Das BUrlG geht vom Kalenderjahr als Berechnungszeitraum für den Urlaub 152 aus. Sofern ein Arbeitnehmer in diesem Zeitraum häufig den Arbeitgeber wechselt, ist dies nicht sonderlich praktikabel. Insbesondere im Baugewerbe wurden daher durch für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag (auch gegenüber ausländischen Arbeitgebern, die ihre Arbeitnehmer aus dem Ausland mit nach Deutschland bringen) Urlaubskassen geschaffen (Soka-Bau; vgl. dazu § 13 Abs. 2 BUrlG). In diese wird vom Arbeitgeber ein Beitrag für jeden Arbeitnehmer eingezahlt. Wenn der Arbeitnehmer Urlaub nimmt, wird die Entgeltfortzahlung anstelle des Arbeitgebers von der Urlaubskasse geleistet. Für Forderungen der Urlaubskasse gegen zahlungspflichtige Arbeitgeber wurde tarifvertraglich ein besonderer Gerichtsstand am Sitz der Urlaubskasse festgesetzt. In seinem rechtskräftigen Urteil vom 27.2.2013
153
– 18 Sa 1165/12
hat sich das LAG Hessen mit der Frage beschäftigt, unter welchen Umständen die Urlaubskasse aufgrund eines Beitragsrückstands von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit des Bauunternehmers ausgehen muss. Im entschiedenen Fall oblag der Beklagten, einer gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes, nach dem Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) der Einzug der Sozialkassenbeiträge gem. § 18 VTV von den Arbeitgebern des Baugewerbes mit Sitz in der BRD.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
a) Sachverhalt der Entscheidung 154 Ab 2002 bis August 2009 beantragte die Beklagte gegen die Schuldnerin insgesamt 20 Mahnbescheide und erwirkte daraus mindestens 15 Vollstreckungsbescheide über ein Gesamtbetrag von 108.264,13 €. Es kam zu erfolglosen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Der Saldo der Schuldnerin auf ihrem Beitragskonto bei der Beklagten betrug zwischen Anfang 2002 und September 2009 zwischen 38.382,87 € und 110.059,78 €. Die Schuldnerin gab regelmäßig Beitragsmeldungen ab und zahlte Teilbeträge. Die Beklagte verrechnete fortlaufend Erstattungsansprüche der Schuldnerin nach § 13 VTV mit deren Beitragsschulden. 155 Der klagende Insolvenzverwalter focht diese Zahlung mit der Behauptung an, bei der Schuldnerin habe bereits zum 31.12.2001 eine Liquiditätslücke von umgerechnet 319.250,07 € bestanden, was mehr als 43 % ausgemacht habe. Die Zahlungsfähigkeit sei bis zur Insolvenzeröffnung am 1.7.2010 nicht wieder hergestellt worden. Der Beklagten sei die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin nach dem unstreitigen Sachverhalt bekannt gewesen. Die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit indiziere die Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin. Im Übrigen seien alle Zahlungen nur wegen der von der Beklagten durchgeführten Zwangsvollstreckungsmaßnahmen erbracht worden. b) Anforderungen an eine Vorsatzanfechtung 156 Das Landesarbeitsgericht hat die Frage der Zahlungsunfähigkeit (die wohl vorlag) offengelassen, weil jedenfalls die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO nach seiner Bewertung nicht eingriff. Insoweit schließt sich das Landesarbeitsgericht zunächst der Rechtsprechung des BGH an, der – soweit ersichtlich – auch die übrigen Landesarbeitsgerichte (jedenfalls ganz überwiegend) folgen. 157 Danach setzt eine Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung gem. § 133 Abs. 1 InsO voraus, dass der Anfechtungsgegner zur Zeit der Vornahme der angefochtenen Handlung (§ 140 InsO) den Vorsatz des Schuldners – hier: des Arbeitgebers –, die Gläubiger zu benachteiligen, kannte. Nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO wird diese Kenntnis – widerleglich – vermutet, wenn der Anfechtungsgegner wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die jeweilige Handlung die Gläubiger benachteiligte. Dabei ist eine Kenntnis der Umstände ausreichend, die zwingend auf eine drohende oder bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit hinweisen (vgl. § 130 Abs. 2 InsO). BGH, v. 13.8.2009 – IX ZR 159/06, ZIP 2009, 1966, dazu EWiR 2010, 25 (Heublein).
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen Praxistipp: Anhaltspunkte und Beweisanzeichen für die Kenntnis des Anfechtungsgegners von Vermutungstatsachen sind u. a.: Die Kenntnis des Anwachsens von Rückständen, die Kenntnis der Nichteinhaltung von Zahlungszusagen, insbesondere vom Schuldner selbst vorgeschlagener Ratenzahlungen, die Kenntnis des Rückstands mit fälligen Sozialversicherungsbeiträgen, die Kenntnis des erneuten Entstehens von Rückständen nach vorheriger (teilweiser) Befriedigung des Gläubigers, die Kenntnis der Nichtzahlung oder der schleppenden Zahlung von Löhnen und Gehältern, die Kenntnis der Häufung von Klagen und Zwangsvollstreckungen, die Kenntnis der verstärkten Inanspruchnahme von Bürgen des Schuldners, Informationen durch den Schuldner, z. B. bei Betriebsversammlungen, sowie Presseberichte über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens des Schuldners (BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366, dazu EWiR 2011, 817 (M. Huber)). Eine mit kurzfristigen Engpässen begründete bloße Stundungsbitte des Schuldners reicht dagegen allein regelmäßig nicht als Zurechnungsgrundlage aus (BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366).
c) Vorsatzanfechtung gegenüber der Urlaubskasse Ausgehend von diesen Grundsätzen ließ nach den Feststellungen des Hessi- 158 schen LAG allein die Zahl der Vollstreckungsbescheide über Beiträge zum Sozialkassenverfahren von 2002 bis 2009 keinen sicheren Schluss auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers i. S. d. § 17 Abs. 2 InsO zu. Dabei stützte sich das Gericht auf folgende – für die Beklagte verallgemeinerbare – Überlegungen: Es komme zunächst einmal nicht selten vor, dass Zahlungen an die Beklagte – 159 bzw. mittlerweile die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (ULAK) – gegenüber anderen Zahlungsverpflichtungen nachrangig erfüllt würden. Zinsen fielen nach § 24 VTV nur in Höhe der gesetzlichen Zinsen an. Daraus schlussfolgert das Gericht offenbar implizit, dass – ohne ergänzende Maßnahmen – regelmäßig kein großer Zahlungsdruck entsteht. Dafür sprechen offenbar auch die weiteren Feststellungen des Landesarbeitsgerichts: Die Beklagte sei nämlich keine Einrichtung öffentlichen Rechts. Sozialkassenbeiträge seien keine Sozialversicherungsbeiträge und ihre rechtzeitige Zahlung damit nicht über § 266a StGB gesichert. Aus gemeldeten und sogar titulierten Beiträgen folge daher nicht zwingend, dass in dieser Höhe tatsächlich eine (saldierte) Schuld des Arbeitgebers bestanden habe. Verallgemeinerbar dürfte auch die weitere Feststellung sein, trotz des in § 18 160 Abs. 5 Satz 1 VTV geregelten Aufrechnungsverbots habe die Beklagte bis 2010 zumindest bei Arbeitgebern mit Sitz im Inland regelmäßig Saldierungen ihrer Ansprüche auf dem Beitragskonto mit Erstattungsansprüchen nach § 13 VTV trotz Beitragsrückständen vorgenommen. Zahlte ein Arbeitgeber also tarifliche Urlaubsvergütung an seine Arbeitnehmer, verringerte sich die Gesamtverpflichtung des Arbeitgebers um den Wert seiner Erstattungsan-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
sprüche gegen die Beklagte in Höhe der tatsächlich gezahlten Urlaubsvergütungen, sobald diese gemeldet wurden. 161 Darüber hinaus – und auch dies dürfte verallgemeinerbar sein – habe es der Prozesspraxis der Beklagten entsprochen, Beiträge grundsätzlich quartalsweise, d. h. viermal pro Jahr per Mahnbescheid geltend zu machen, wenn mit Zahlungsverzögerungen zu rechnen gewesen sei. Damit seien ihre tariflichen Ansprüche ohne hohen Aufwand gegen einen Verfall gem. § 25 Abs. 1 VTV abgesichert und vollstreckbar gewesen. Dies dürfte – ohne dass das Landesarbeitsgericht dies gesondert unterstreicht – die Rolle der Mahnbescheide bei der Bewertung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit erheblich relativiert haben. 162 Schließlich weist das Landesarbeitsgericht – auch insoweit verallgemeinerbar – darauf hin, dass dann, wenn kein Streit darüber bestehe, dass ein Arbeitgeber nach § 1 Abs. 2 VTV als baugewerblicher Betrieb dem Verfahrenstarifvertrag unterliege, sich aus dem Verhalten, Mahn- oder Vollstreckungsbescheide gegen sich ergehen zu lassen, nicht zwingend eine drohende Zahlungsfähigkeit ableiten lasse, sondern vielmehr auch die Erkenntnis, dass eine weitere prozessuale Verzögerung unwirtschaftlich sein werde. Praxistipp: Die Entscheidung stellt an die Vorsatzanfechtung gegenüber Urlaubskassen hohe Anforderungen, die Insolvenzverwalter angesichts der Rechtskraft der Entscheidung (infolge Verwerfung der eingelegten Nichtzulassungsbeschwerde durch das BAG) beachten sollten. Sie gelten allerdings zunächst einmal nur für baugewerbliche Betriebe und sind zunächst lediglich insoweit verallgemeinerbar. Sie machen allerdings deutlich, dass die Bewertung von Mahnbescheiden für die Vorsatzanfechtung insbesondere dann kritisch hinterfragt werden muss, wenn sich in einer bestimmten Branche ein Verhalten etabliert hat, das regelmäßige Mahnbescheide einkalkuliert und hinnimmt.
3. Insolvenzanfechtung wegen inkongruenter Deckung bei Leistung eines Dritten 163 Mehrfach beschäftigt haben sich die Landesarbeitsgerichte im Jahr 2013 mit Fragen einer Anfechtung wegen inkongruenter Deckung bei Leistung eines Dritten. a) Inkongruente Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO 164 Den Fall einer (behaupteten) inkongruenten Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO hatte das Hessische LAG zu entscheiden. LAG Frankfurt/M., v. 4.3.2013 – 16 Sa 1217/12, ZIP 2013, 1829.
aa) Sachverhalt 165 In dem zugrunde liegenden Fall hatte die Rechtsnachfolgerin (B) des insolventen Schuldners mit dessen Prokuristen/kaufmännischen Leiter (P), wäh-
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen
rend dieser Insolvenzgeld bezog, einen Geschäftsbesorgungsvertrag abgeschlossen, aufgrund dessen der P mit der „ordnungsgemäßen Befriedigung anstehender Zahlungen“ über sein Konto beauftragt wurde. Mit Blick auf sein „Engagement“ schloss die B darüber hinaus mit dem späte- 166 ren Beklagten eine Tantiemevereinbarung, die eine von investorenseitigen Sanierungsbeiträgen unabhängige Tantiemenzahlung vorsah. Zur Bindung von Leistungsträgern in der Insolvenz vgl. Mückl, ZIP 2012, 1642 ff. und oben Rn. 60 ff.
Auf Weisung des Gesellschafters der B löste der P einen auf die B ausgestell- 167 ten Orderscheck eines Dritten ein. Aus dem eingelösten Betrag wurde u. a. die versprochene Tantieme an den Beklagten finanziert. Der Insolvenzverwalter focht diese Zahlung unter Berufung auf § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO an. bb) Voraussetzungen der Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insol- 168 venzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist. Es kommt – auch nach der Rechtsprechung des BAG – weder darauf an, ob der Schuldner zum Zeitpunkt der Zwangsvollstreckung zahlungsunfähig oder überschuldet war, noch darauf, ob der Beklagte hiervon Kenntnis hatte oder nicht. BAG, v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628.
Der Gläubiger hat eine Befriedigung zunächst nicht „in der Art“ zu bean- 169 spruchen, wenn er anstelle der Leistung, die er zu fordern hat, in der kritischen Zeit eine andere, nicht geschuldete Leistung erhält. BAG, v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628.
Ausgehend von diesen Grundsätzen nahm das Landesarbeitsgericht vorlie- 170 gend eine Anfechtbarkeit nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO an und wies zunächst das Argument des Beklagten als unerheblich zurück, es komme darauf an, ob die Rechtshandlung zu einer weitergehenden Benachteiligung der Insolvenzgläubiger geführt habe, insbesondere ob der Scheck, falls er bei der Hausbank der Insolvenzschuldnerin eingereicht worden wäre, zu 100 Prozent einbehalten und keinerlei Beträge an den Beklagten ausgezahlt worden wären. Denn § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO sehe dies nicht als Anfechtungsvoraussetzung vor. Die Anfechtung sei vielmehr ohne weiteres möglich. Das letztlich teleologische Argument des Beklagten, ein hypothetischer Kau- 171 salverlauf, überzeugte das Gericht – ohne nähere Begründung – nicht. Das Gericht befindet sich damit allerdings in Übereinstimmung mit der in der Literatur wohl herrschenden Meinung, die teleologische Überlegungen zur
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Gläubigerbenachteiligung im Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO letztlich mit dem Argument verneint, der Gesetzgeber habe insoweit eine typisierende Betrachtung vorgenommen, die nicht im Einzelfall korrigiert werden könne. Etwaige Härten seien insoweit hinzunehmen. Vgl. Braun/de Bra, InsO, § 131 Rn. 30; Schäfer, in: Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, Rn. D 2 f.
172 Das entspricht im Ergebnis auch der Rechtsprechung des BGH in anderem Kontext, vgl. Bork/Gehrlein, Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung, Rn. 311 ff. m. w. N.
173 Unbeachtlich sei im Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO auch, dass die Zahlung der Honorierung eines Sanierungsversuchs durch den Beklagten diente. Ein fehlgeschlagener Sanierungsversuch könne zwar im Zusammenhang mit einer Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO von Bedeutung sein. Vgl. dazu BGH, v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137 = DB 2012, 173, dazu EWiR 2012, 147 (Freudenberg/Jan Wolf).
174 Die Kammer stütze ihre Entscheidung jedoch ausschließlich auf § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Auch darin kommt noch einmal zum Ausdruck, dass sonstige teleologische Überlegungen im Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO nach der Bewertung des Gerichts keine Rolle spielen sollen. 175 In der Sache geht das Landesarbeitsgericht – zu Recht – von einer nicht in der Art geschuldeten Leistung aus. Der hier eingeschlagene Zahlungsweg sei nicht verkehrsüblich gewesen. Dies wäre der Fall gewesen, wenn die Überweisung von einem Konto der Insolvenzschuldnerin erfolgt wäre. Die Gutschrift eines Kundenschecks auf das Konto eines Beauftragten der Insolvenzschuldnerin, der sodann den eingegangenen Betrag auf Anweisung der Insolvenzschuldnerin an ausgewählte Gläubiger weiter verteilte, sei aber nicht verkehrsüblich gewesen. 176 Der Beklagte habe auch nicht dargetan, dass er diese Art der Erfüllung seiner Tantiemeforderung hätte fordern können. Sein Anspruch richtete sich ausdrücklich gegen die B. Eine Zahlung vom (Privat-)Konto von deren Beauftragten konnte er unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt fordern. Da er zu diesem in keiner Rechtsbeziehung stand, hätte er die Leistung auch ablehnen dürfen. 177 Durch den vorgenommenen Zahlungsweg sei eine dritte Person zwischengeschaltet worden, um (objektiv) den Zugriff sonstiger Gläubiger auszuschalten. Dies gelte auch und gerade dann, wenn man das Konto des Beauftragten, über das der Zahlungsverkehr tatsächlich gelaufen ist, als ein solches der späteren Insolvenzschuldnerin ansehe, wie der Beklagte dies tue. Denn der Beklagte hatte keinen Anspruch auf die Befriedigung seiner Forderung aus ei-
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen
nem bestimmten, dem Gläubigerzugriff entzogenen Konto der Insolvenzschuldnerin. Gerade hieraus ergebe sich die Inkongruenz der Leistung. Praxistipp: Eine andere Bewertung kann nach aktueller landesarbeitsgerichtlicher Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn Schuldner und Dritter von ein und derselben Person wirtschaftlich einheitlich geführt werden (vgl. LAG Thüringen, v. 8.12.2011 – 6 Sa 99/11, n. v.). Mit Blick auf § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO „anfechtungssicher“ gestaltbar wäre die Gewährung eines Retention Bonus durch die Schuldnerin (bzw. deren Rechtsnachfolgerin) gewesen. Modifizierte Voraussetzungen wegen einer inkongruenten Deckung sind in den Fällen eines Retention Bonus typischerweise nicht zu beachten. Denn in der Regel liegt keine inkongruente Deckung (§ 131 InsO) vor (vgl. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589), da der Retention Bonus auf der Grundlage einer gesonderten Vereinbarung nur für den Fall der weiteren Erbringung der Betriebs- bzw. Unternehmenstreue gezahlt wird. Es handelt sich daher nicht lediglich um eine Sicherung bestehender oder künftiger Ansprüche, auf die der Leistungs- bzw. Know-how-Träger (noch) keinen Anspruch hat (vgl. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589). Der Retention Bonus sichert oder erfüllt auch nicht sonstige Ansprüche. Es handelt sich vielmehr um eine (eigene) entgeltliche Leistung und nicht um die (bloße) Modifizierung von bereits bestehenden Vertragsabreden, die nicht mehr insolvenzfest abänderbar gewesen wären (vgl. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der Leistungs- bzw. Know-how-Träger seine Arbeitsleistung bereits aufgrund des Arbeitsvertrags erbringen muss. Denn aufgrund der Retention-Bonus-Vereinbarung verzichtet er zusätzlich auf einen jederzeit möglichen Kündigungsausspruch; bereits darin liegt eine über den Arbeitsvertrag hinausgehende Verpflichtung (vgl. LAG München, v. 20.9.2011 – 6 Sa 68/11, ZIP 2012, 589). Ist die Höhe des Retention Bonus zielabhängig ausgestaltet, muss der Leistungs- bzw. Know-how-Träger auch nicht nur tun, was er kraft Arbeitsvertrags soll, und zwar so gut wie er kann (so die typische Umschreibung des Pflichtinhalts, vgl. BAG, v. 11.12.2003 – 2 AZR 667/02, NJW 2004, 2545), sondern er muss sich besonders für die Sanierung einsetzen, sodass eine weitere eine über die gewöhnliche arbeitsvertragliche Leistungszusage hinausgehende Verpflichtung vorliegt. Zum Einsatz von Retention Boni in der Insolvenz vgl. allgemein Mückl, ZIP 2012, 1642 ff.
b) Inkongruente Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO Dass Zahlungen durch Dritte – abhängig von dem Zeitraum, in dem sie er- 178 folgen – auch als kongruent und damit nicht nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO anfechtbar ausgestaltet werden können, bestätigt das Urteil des LAG Niedersachsen vom 27.5.2013 – 10 Sa 1042/12, ZIP 2013, 1875; vgl. auch nachfolgend Rn. 190 ff.
aa) Sachverhalt In dem zugrunde liegenden Fall hatte der beklagte Arbeitnehmer am 31.3.2008 179 sein Nettoentgelt für den März 2008 erhalten. Am 27.6.2008 war das Insol-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
venzverfahren über das Vermögen seines Arbeitgebers eröffnet worden. Der klagende Insolvenzverwalter trug vor, am 26.3.2008 seien vom Geschäftskonto des Arbeitgebers 100.000,00 € mit dem Verwendungszweck „Löhne“ auf ein Konto seiner Ehefrau überwiesen worden; am Folgetage seien von diesem Konto die für den Monat März 2008 geschuldeten Arbeitsentgelte aller Arbeitnehmer, u. a. des Beklagten, nebst Sozialversicherungsbeiträgen überwiesen worden. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er sei nach § 131 InsO zur Anfechtung berechtigt, denn bei der Entgeltzahlung handele es sich um eine inkongruente Deckung. Im Zeitpunkt der Zahlung sei der Arbeitgeber zahlungsunfähig gewesen. Denn er habe die auf seine übrigen Verbindlichkeiten zu leistenden Zahlungen eingestellt und seine eigenen Forderungen an seine Ehefrau abgetreten. Ein Schiedsgutachten habe die Zahlungsunfähigkeit bestätigt. Die Inkongruenz der an den Beklagten geleisteten Zahlung ergebe sich daraus, dass diese nicht direkt, sondern über das Konto der Ehefrau des Arbeitgebers erfolgt sei. Auf hypothetische, nur gedachte Kausalverläufe wie eine direkte Zahlung des Arbeitsentgelts durch den Arbeitgeber an den Beklagten komme es im Rahmen der Insolvenzanfechtung nicht an. Ein Bargeschäft i. S. v. § 142 InsO scheide bei inkongruenter Deckung aus. bb) Entscheidung des Landesarbeitsgerichts 180 Dem ist das Landesarbeitsgericht mit überzeugender Begründung nicht gefolgt. Die Frage der Zahlungsunfähigkeit ließ es dabei offen, weil der Beklagte das geleistete Entgelt in der geleisteten Höhe (insoweit unstreitig), zu der Zeit und auch in der Art habe beanspruchen können. 181 Zunächst habe der Beklagte die Leistung – sein Entgelt für den Monat März 2008 – zu der Zeit selbst dann beanspruchen können, wenn man auf den 26.3.2008 abstelle, an dem 100.000,00 € vom Konto des Arbeitgebers auf dasjenige seiner Ehefrau überwiesen worden seien. Denn gem. § 614 Satz 2 BGB sei die Vergütung nach dem Ablauf der einzelnen Zeitabschnitte zu entrichten, hier also mit Ablauf des 31.3.2008. Dieser Tag sei ein Montag gewesen. Wäre die Überweisung am 26.3.2008 nicht auf das Konto der Ehefrau des Arbeitgebers, sondern direkt an den Beklagten erfolgt, so wäre dies – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH – nicht verfrüht gewesen: Zwischen diesem Tag und dem 31.3.2008 lagen nämlich nur zwei Banktage. Es sei daher weder auffällig noch verdächtig, die Überweisung mit diesem kurzen zeitlichen Vorlauf zu veranlassen, um sicherzugehen, dass sie bei Fälligkeit dem Konto des Gläubigers gutgebracht ist. Denn auch eine verfrühte Zahlung müsse als kongruent angesehen werden, wenn die Zeitspanne der Verfrühung die voraussichtliche Dauer des Zahlungsvorgangs nicht nennenswert überschreite. BGH, v. 9.6.2005 – IX ZR 152/03, ZIP 2005, 1243, dazu EWiR 2005, 829 (Paulus).
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II. Anfechtbarkeit von Arbeitgeberleistungen
Die vorzitierte Rechtsprechung des BGH, der sich das erkennende Gericht 182 insoweit anschließe, gehe davon aus, dass – erst – eine Zahlung, die mehr als fünf Bankgeschäftstage vor Fälligkeit erfolge, inkongruent ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, sodass eine zeitliche Inkongruenz ausscheide. Eine inkongruente Deckung ergebe sich auch nicht daraus, dass der Beklagte 183 die Entgeltzahlung nicht in der Art, d. h. im Wege der Überweisung vom Konto der Ehefrau des Arbeitgebers, habe beanspruchen können. Wie die vorstehend dargestellte Entscheidung des Hessischen LAG bestätigt 184 und auch das Niedersächsische LAG annimmt, kann die Inkongruenz zwar grundsätzlich dadurch begründet werden, dass die Befriedigung aus dem Vermögen eines Dritten erfolgt. Die Anfechtbarkeit wegen einer nicht in der Art zu beanspruchenden Befriedigung sei jedoch ausgeschlossen, sofern die Abweichung nur geringfügig oder verkehrsüblich sei. Dies entspricht mit Blick auf die Verkehrsüblichkeit der Rechtsprechung des BGH, vgl. Bork/Gehrlein, Aktuelle Probleme der Insolvenzanfechtung, Rn. 323 ff. m. w. N.
Die Prüfung sei insbesondere daran auszurichten, ob die tatsächliche De- 185 ckung im Hinblick auf die Gläubigerbefriedigung als gleichwertig mit der geschuldeten anzusehen ist. Vgl. auch Kirchhof, in: MünchKomm-InsO, § 131 Rn. 31.
Bei Anwendung dieser Grundsätze erweise sich die angefochtene Lohnzah- 186 lung nicht als inkongruent. Es handele sich um eine geringfügige, die Gläubigerinteressen nicht beeinträchtigende Abweichung. Die Überweisung auf das Konto der Ehefrau des Arbeitgebers sei zweckgebunden erfolgt, nämlich mit dem ausdrücklich genannten Verwendungszweck „Löhne“. Zwischen den Parteien sei unstreitig, dass der Betrag von 100.000,00 € fast genau den Lohnkosten für den März 2008 entsprach. Der am 27.3.2008 auf dem Konto der Ehefrau des Arbeitgebers eingegangene Betrag sei unverzüglich und bestimmungsgemäß an die Gläubiger, darunter den Beklagten, in jeweils korrekter Höhe weitergeleitet worden. Bei dieser Sachlage sei eine ins Gewicht fallende Abweichung, die eine Anfechtbarkeit begründen könne, nicht zu erkennen. Dieses Ergebnis sichert das Landesarbeitsgericht noch einmal teleologisch 187 ab: Die Insolvenzanfechtung rechtfertigte sich aus einer objektiven Gläubigerbenachteiligung. Andere Gläubiger sollen nicht durch die Rechtshandlung zurückgesetzt werden. BAG, v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = EzA InsO § 131 Nr. 3.
Eine Gläubigerbenachteiligung liege vor, wenn eine Rechtshandlung entwe- 188 der die Schuldenmasse vermehre oder die Aktivmasse verkürze und dadurch den Zugriff auf das Schuldnervermögen vereitelt, erschwert oder verzögert habe.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung BGH, v. 20.1.2011 – IX ZR 58/10, ZIP 2011, 438, dazu EWiR 2011, 287 (Koza); BGH, v. 16.10.2008 – IX ZR 2/05, ZIP 2008, 2324, dazu EWiR 2009, 151 (M. Huber).
189 Im Vergleich zur Entscheidung des Hessischen LAG zu § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO fällt auf, dass im Rahmen des § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO teleologische Bewertungen in der Rechtsprechungspraxis eine stärkere Rolle spielen. Das lässt im vorliegenden Fall – ausnahmsweise – den gewählten Zahlungsweg als nicht anfechtbar erscheinen. Dass mit ihm offenbar eine inkongruente Gestaltung jedenfalls „vorbereitet“ werden sollte, ist – da jedenfalls nicht in dem von § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO erfassten Zeitraum erfolgt – unerheblich. Stünde eine Zahlung in dem von § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO erfassten Zeitraum in Rede, hätte sich das LAG Niedersachsen mit der Entscheidung des Hessischen LAG auseinandersetzen müssen, die vorliegend zu einem anderen Ergebnis kommen müsste. Ggf. bringt die beim BAG unter dem Az. 6 AZR 631/13 anhängige Revision insoweit eine – wünschenswerte – Klarstellung. 4. Anfechtbarkeit von Lohnzahlungen durch Schwesterunternehmen 190 Wie vorstehend erläutert, kann nach § 131 InsO eine Rechtshandlung u. a. dann angefochten werden, wenn eine Forderung eines Insolvenzgläubigers erfüllt worden ist, ohne dass er dies „in der Art“ beanspruchen konnte. Denn dann liegt eine inkongruente Deckung vor. 191 Eine derartige inkongruente Deckung hat das BAG in seinem Urteil vom 21.11.2013 – 6 AZR 159/12 (bislang lediglich als Pressemitteilung veröffentlicht)
auch dann angenommen, wenn der Schuldner einen Dritten anweist, die geschuldete Leistung gegenüber dem Gläubiger zu erbringen. In diesem Fall bewirke die Zahlung im Regelfall eine inkongruente Deckung, weil die Erfüllung nicht „in der Art“ erfolgt, in der sie geschuldet ist. Das gilt nach der Bewertung des BAG folgerichtig auch dann, wenn der Schuldner und der Dritte Schwesterunternehmen sind oder einen Gemeinschaftsbetrieb unterhalten. Etwas anderes sei nur dann anzunehmen, wenn die Zahlung auf einer dreiseitigen, insolvenzfest getroffenen Abrede beruhe. 192 Im entschiedenen Fall war der Kläger bis zum 31.1.2009 bei der Schuldnerin als Polier beschäftigt. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde auf Antrag vom 19.1.2009 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer der Schuldnerin war zugleich alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer eines Schwesterunternehmens. Die Schuldnerin führte hauptsächlich Aufträge dieses Unternehmens aus. Beide Unternehmen unterhielten denselben Geschäftssitz, nutzten denselben Geschäftsraum und führten Verrechnungskonten. Vom 30.10.2008 bis zum 12.1.2009 erhielt der Kläger fünf Zahlungen über
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
insgesamt 3.656,75 € vom Konto des Schwesterunternehmens als Entgelt für August bis Oktober 2008. Der Beklagte hat diese Zahlungen u. a. nach § 131 InsO angefochten und mit seiner Widerklage die Rückzahlung zur Masse verlangt. Der Kläger hat geltend gemacht, er habe diese Zahlungen nicht als verdächtig empfunden, weil Lohnzahlungen durch das Schwesterunternehmen nicht unüblich gewesen seien und er auch für dieses tätig geworden sei. Das Landesarbeitsgericht hat, anders als das Arbeitsgericht, eine Rückzah- 193 lungspflicht des Klägers verneint; die Zahlungen hätten eine kongruente Deckung bewirkt. Auf die Revision des Beklagten hat der 6. Senat des BAG das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Aufklärung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dieses habe – so das BAG – zu Unrecht angenommen, dass eine kongruente Deckung deshalb vorliege, weil die Unternehmen im Ergebnis alles aus einem „Topf“ entnommen hätten. Diese Annahme widerspreche wesentlichen Grundgedanken des Insolvenzverfahrens, das rechtsträgerbezogen ausgestaltet ist. Es sei noch aufzuklären, ob eine Gläubigerbenachteiligung erfolgt ist, ob die Schuldnerin zahlungsunfähig war und ob weitere Anfechtungstatbestände erfüllt sind. III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit 1. Flexibilisierung durch Gewährung eines Leistungsbonus Die Gewährung von Gratifikationen (Leistungsbonus, Leistungszuschläge) 194 für besondere Leistungen oder eine besondere Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers ist in der betrieblichen Praxis weit verbreitet und häufig Gegenstand von Zielvereinbarungen. Ein derartiger Anspruch kann sich aus einem Tarifvertrag, einer Betriebsvereinbarung, dem Arbeitsvertrag, betrieblicher Übung oder dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz ergeben, darüber hinaus aber – wie das BAG in seinem Urteil vom 17.4.2013 – 10 AZR 251/12, DB 2013, 2568
noch einmal klargestellt hat – z. B. auch losgelöst von den Vorgaben für die Entstehung einer betrieblichen Übung im Wege einer durch Auslegung zu ermittelnden konkludenten Abrede gegenüber einzelnen Mitarbeitern. Praxistipp: Der in der betrieblichen Praxis häufig zu findende Hinweis, man habe entsprechende Leistungen aber lediglich an einzelne Mitarbeiter und in unterschiedlicher Höhe gewährt, ist aus Beratersicht durchaus kritisch mit Blick auf eine mögliche konkludente Absprache zu hinterfragen.
In seiner Entscheidung vom 15.5.2013
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– 10 AZR 679/12, NJW-Spezial 2013, 563 (Kurzwiedergabe)
hat das BAG die Grenzen des insoweit für den Arbeitgeber bestehenden Spielraums für die Festlegung der Zielerfüllung näher gekennzeichnet. Eine Erweiterung der im Fall der (drohenden) Insolvenz bestehenden Kompeten45
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
zen hat es dabei zu Recht nicht vorgenommen. Es handelt sich um einen Ausnahmefall, aus dem sich allerdings für die betriebliche Praxis wichtige Handlungsvorgaben ableiten lassen. 196 In dem entschiedenen Fall hatte die beklagte Bank – vor der Krise ab dem Jahr 2008 – u. a. mit dem Kläger (in Ziff. II seines Anstellungsvertrags) folgende Regelung getroffen: „Vergütung Sie erhalten ein jährliches Gesamtgehalt, das sich aus Grundgehalt, Sonderzahlung und Leistungsbonus zusammensetzt. Leistungsbonus Sie erhalten darüber hinaus einen Leistungsbonus. Dieser richtet sich nach der individuellen Zielerreichung, dem Teamverhalten sowie dem Erfolg der Bank. Er wird jedes Jahr neu für das abgelaufene Jahr festgesetzt. Der Leistungsbonus wird derzeit mit dem Maigehalt eines Jahres für das zurückliegende Kalenderjahr gezahlt. Er kann zwischen 0 – 200 % des Basiswertes betragen, der zurzeit bei EUR 5.400,00 brutto liegt“.
197 Ergänzende Vorgaben enthielt eine zwischen der Bank und ihrem Betriebsrat abgeschlossene Betriebsvereinbarung: „Die Höhe des individuellen Bonus hängt zum einen von der Höhe des jährlichen Bonustopfes ab. Dieser wird wiederum grundsätzlich vom Gesamtbankerfolg bestimmt. Darüber hinaus honoriert der Bonus auch die Zielerreichung des Mitarbeiters. Die konkrete Höhe des individuellen Bonus ist damit – neben der Abhängigkeit vom Erfolg der Bank – auch abhängig von der durch die Führungskraft im Mitarbeitergespräch durchgeführten Gesamtbewertung.“
198 Die Rechtsvorgängerin der Beklagten zahlte bis einschließlich September 2008 an ausscheidende Mitarbeiter anteilige Boni. Ab 29.9.2008 stellte sie diese Praxis ein. Am 12.3.2009 teilte der Vorstand der Bank in einem Mitarbeiterbrief im Intranet mit, für das Geschäftsjahr 2008 werde keine diskretionäre variable Vergütung gezahlt. Der Kläger, der seine individuellen Ziele unstreitig übertroffen hatte, war der Auffassung, ihm stehe ein Bonus in Höhe von 30.000,00 € (brutto) zu. 199 Dem folgt das BAG nicht und stellt dabei – das ist für die Praxis wichtig – klar, dass ein Leistungsbonus (ausnahmsweise) auch dann „Null“ betragen kann, wenn er sich aus überindividuellen und persönlichen Zielen zusammensetzt und die persönlichen Ziele voll bzw. sogar übererfüllt sind. 200 Denn Nach Ziff. II des Anstellungsvertrags erhält der Kläger einen Leistungsbonus, der sich nach der individuellen Zielerreichung, dem Teamverhalten sowie dem Erfolg der Bank richtet und der jährlich für das abgelaufene Jahr festgesetzt wird. Dieser Anspruch ist – so das BAG – auf Bestimmung der Leistung nach billigem Ermessen gem. § 315 Abs. 1 BGB gerichtet. Das beinhaltet nach Auffassung des BAG die Möglichkeit, nicht nur bei kumula-
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
tiver Nichterreichung aller Ziele, sondern – im Ausnahmefall – auch bei Nichterreichung eines Teils der Ziele keinen Leistungsbonus zu zahlen. Begründet wird dies vom BAG wie folgt: Ausgehend vom Vertragswortlaut (der vom BAG zutreffend nach Maßgabe 201 der §§ 305 ff. BGB ausgelegt wird) bestehe zwar grundsätzlich ein Anspruch, dieser sei der Höhe nach aber nicht bestimmt. Vereinbart seien lediglich die Kriterien für die Bemessung des Bonus, die inhaltlich nicht konkretisiert seien und deren Verhältnis zueinander nicht festgeschrieben sei. Aus der vertraglichen Vorgabe „[der Leistungsbonus] kann zwischen 0 – 200 % 202 des Basiswertes betragen“ folgert das BAG, die Auffassung, bei Erfüllung eines der drei Kriterien müsse in jedem Fall ein Mindestbetrag gezahlt werden, stehe mit den vertraglichen Vorgaben nicht im Einklang. Denn diese ließen die Festsetzung auf 0 % ausdrücklich zu, ohne dafür besondere Voraussetzungen zu nennen. Der Vertrag setze demnach voraus, dass die Ausübung „billigen Ermessens“ auch die Bestimmung des Bonus mit dem Wert „Null“ ermöglichen kann. Für einen verständigen Vertragspartner folge daraus, dass der Verwender sich ein Leistungsbestimmungsrecht sowohl in Bezug auf die Höhe des Anspruchs als auch in Bezug auf die Gewichtung der Kriterien vorbehalten hat und die Festlegung des jeweiligen Bonus nach billigem Ermessen erfolgen müsse. Das wirft die Frage auf, welche Bedeutung der im Vertrag enthaltenen Be- 203 schreibung der Kriterien für die Bonuszahlung zukommt: Sie setzt nach den Feststellungen des BAG die Maßstäbe für die Ausübung des billigen Ermessens durch den Arbeitgeber. Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis ist daher, mit Blick auf mögliche Unternehmenskrisen, nicht nur bereits im Wortlaut der Klausel einen Spielraum für eine Einschränkung von Bonuszahlungen zu sichern, der im Idealfall den (liquiditätsschonenden) Verzicht auf Bonuszahlungen ermöglicht. Gleiches gilt auch für die Formulierung von entsprechenden vertragliche Vorgaben ausgestaltenden Zielvereinbarungen. Denn haben die Vertragsparteien – z. B. durch eine Zielvereinbarung – die Voraussetzungen für die Zahlung einer zusätzlichen Vergütung abschließend vereinbart, so kann sich der Arbeitgeber von der Zahlungspflicht nicht mehr einseitig durch anderweitige Leistungsbestimmung befreien. BAG, v. 17.10.2012 – 10 AZR 620/11, AP Nr. 106 zu § 315 BGB (red. Leitsatz).
Auch wenn ein entsprechender Spielraum vorbehalten ist, entspricht die 204 Leistungsbestimmung – nach den insoweit verallgemeinerbaren Feststellungen des BAG – regelmäßig nur dann billigem Ermessen, wenn vereinbarte und erreichte persönliche Ziele ihren angemessenen Ausdruck in dem festgelegten Leistungsbonus finden. Eine Leistungsbestimmung auf „Null“ kann
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
also – so das BAG – nur dann billiges Ermessen wahren, wenn für eine vom Regelfall abweichende Gewichtung vereinbarter Kriterien ausnahmsweise besonders wichtige Gründe sprechen. 205 Diese Gründe konkretisiert das BAG in seiner Entscheidung – nach der Klarstellung, dass die in Rede stehende Klausel in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung nicht gegen §§ 308 Nr. 4, 307 BGB verstößt – wie folgt: 206 Die Festsetzung des Leistungsbonus auf „Null“ trotz Erreichung vereinbarter persönlicher Ziele könne bei einem negativen Ergebnis der Bank im Rahmen „normaler“ Schwankungsbreiten zwar billigem Ermessen i. S. v. § 315 Abs. 1 BGB widersprechen; für das Geschäftsjahr 2008 hätten aber besonders gewichtige, außergewöhnliche Umstände vorgelegen, die ausnahmsweise die Festsetzung des Leistungsbonus auf „Null“ gerechtfertigt hätten. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hatte im Geschäftsjahr 2008 einen Jahresfehlbetrag i. H. v. 2,824 Mrd. Euro, die H-Gruppe sogar einen solchen i. H. v. 5,461 Mrd. Euro ausgewiesen. Die H-Gruppe sei nur durch Liquiditätshilfen in den Jahren 2008 bis 2009 i. H. v. 102 Mrd. Euro gerettet worden; allein das Volumen der von der Rechtsvorgängerin der Beklagten selbst in Anspruch genommenen Liquiditätshilfen habe zum 31.12.2008 6,37 Mrd. Euro betragen. Dies zeige, dass sich im Geschäftsjahr 2008 nicht die im Dienstvertrag vorausgesetzten und vom Arbeitgeber ggf. selbst zu tragenden Risiken einer „normalen“ negativen Geschäftsentwicklung verwirklicht hätten. Die Risiken überträfen auch bei Weitem die typischerweise mit einer Insolvenz einhergehenden Gefährdungen, weil sie nicht nur Gläubiger der Bank betrafen, sondern das gesamte Bankensystem. Die Rettung von Banken diene nicht der Sicherung von Vergütungsansprüchen ihrer Arbeitnehmer, sondern ausschließlich dem öffentlichen Interesse an der Abwehr schwerer Gefahren für die Volkswirtschaft. Vgl. BAG, v. 29.8.2012 – 10 AZR 385/11, NZA 2013, 148.
207 Es bestand deshalb eine Ausnahmesituation, die es auch unter Berücksichtigung der guten Leistungen des Klägers nicht unangemessen erscheinen lässt, dass die Rechtsvorgängerin der Beklagten den Leistungsbonus auf „Null“ festgesetzt hat. 208 Die Entscheidung macht deutlich, dass eine Festlegung eines Leistungsbonus auf „Null“ trotz guter Leistungen nur in Extremfällen in Betracht kommt. Als Weg zur Kostensenkung bei „gewöhnlichen“ Krisen kommt sie nicht in Betracht. Denkbar erscheint eine Festlegung auf „Null“ aber im Fall drohender Insolvenz. Praxistipp: Hier muss aber sichergestellt werden, dass die wesentlichen Leistungs- und Know-how-Träger durch derartige Maßnahmen nicht „verprellt“ werden, da ohne sie eine erfolgreiche Sanierung zumeist ausscheidet.
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
2. Anforderungen an einen wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt Bereits die Entstehung eines Anspruchs kann durch einen sog. Freiwillig- 209 keitsvorbehalt verhindert werden. Die Rechtsprechung hat die Anforderungen hieran allerdings zunehmend verschärft. a) Frühere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Noch im Urteil vom 30.7.2008
210
– 10 AZR 606/07, ZIP 2008, 1839 = NZA 2008, 1173, dazu EWiR 2008, 645 (Wißmann/D. Schneider)
hatte das BAG festgestellt, dass die Gewährung von Geld- oder Sachleistungen auch durch eine allgemeine Vertragsklausel mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt verknüpft werden kann. In diesem Fall sei der Arbeitgeber nicht verpflichtet, bei jeder einzelnen Sonderleistung noch einmal den Freiwilligkeitsvorbehalt zu wiederholen. Vielmehr genüge es, wenn abstrakt-generell im Arbeitsvertrag festgehalten werde, dass Leistungen, die nicht bereits durch den Arbeitsvertrag selbst zugesagt werden, für den Fall ihrer künftigen Gewährung jeweils freiwillig und ohne Anerkennung einer Rechtspflicht für die Zukunft gewährt würden. Dies schließe dann auch einen Anspruch aus betrieblicher Übung aus, weil kein Vertrauen der betroffenen Arbeitnehmer darauf entstehen könne, dass nach mehrmaliger Gewährung der Arbeitgeber daran auch für die Zukunft festhalten wolle. b) Abschied vom allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalt In seinem Urteil vom 14.9.2011
211
– 10 AZR 526/10, ZIP 2012, 385 = NZA 2012, 81, dazu EWiR 2012, 131 (Rolfs)
hat das BAG diese Rechtsprechung aufgegeben und festgestellt, dass ein vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt, der alle zukünftigen Leistungen unabhängig von ihrer Art und ihrem Entstehungsgrund erfasse, den Arbeitnehmer regelmäßig unangemessen i. S. d. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 BGB benachteilige und deshalb unwirksam sei. Ein solcher Freiwilligkeitsvorbehalt beziehe zunächst unzulässigerweise lau- 212 fende Leistungen ein und verstoße darüber hinaus sowohl gegen den in § 305b BGB bestimmten Vorgang der Individualabrede als auch gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass vertragliche Regelungen einzuhalten seien („pacta sunt servanda“). Denn letztlich habe er zur Folge, dass auch Zahlungen, die auf der Grundlage einer späteren, individual- oder kollektivrechtlichen Zusage des Arbeitgebers mit Rechtsgrund gewährt würden, theoretisch mit dem Freiwilligkeitsvorbehalt verknüpft wären. Selbst wenn entsprechende Zusagen zum Inhalt hätten, dass zusätzliche Leistungen auch in der Zukunft gewährt werden sollten, würde aus dem Freiwilligkeitsvorbehalt folgen, dass gerade kein Anspruch auf weitere Zahlungen in der Zukunft gege49
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
ben wäre. Denn es werde bei solchen Klauseln gerade nicht auf den Entstehungsgrund der Leistung abgestellt. Vielmehr erfassten solche Regelungen sowohl Fälle der betrieblichen Übung als auch konkludente, z. B. auf einer Gesamtzusage beruhende Vereinbarungen und sogar ausdrückliche vertragliche Einzelabreden. Dies stehe im Widerspruch zu den § 305b BGB bzw. §§ 307 Abs. 2 Nr. 2, 305, 611 BGB, ohne dass dies durch Besonderheiten des Arbeitsrechts i. S. d. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB geboten sei. BAG, v. 14.9.2011 – 10 AZR 526/10, ZIP 2012, 385 = NZA 2012, 81. Praxistipp: Für die Praxis folgt daraus, dass Leistungen, die im Arbeitsvertrag nicht bereits ausdrücklich geregelt wurden, im Zeitpunkt ihrer Gewährung unter einem ausdrücklichen und nachweisbaren Freiwilligkeitsvorbehalt erfolgen müssen. Nur dann ist sichergestellt, dass auch bei mehrmaliger Leistung kein Rechtsanspruch für die Zukunft entsteht. Damit gleichwohl durch entsprechende Freiwilligkeitsvorbehalte betriebliche Übungen mit Blick auf Sachleistungen bzw. begünstigende Verhaltensweisen des Arbeitgebers außerhalb konkreter Zahlungen vermieden werden, wird man auch in Zukunft über die Vereinbarung eines – ergänzenden – abstrakt-generellen Freiwilligkeitsvorbehalts im Arbeitsvertrag nachdenken können. Allerdings sollte dieser Vorbehalt sicherstellen, dass er nur dort der Entstehung eines Rechtsanspruchs für zukünftige Leistungen entgegensteht, wo der Arbeitgeber zukünftige Leistungen (gleich welcher Art) erbringt, ohne dass darauf durch eine gesonderte individual- oder kollektivrechtliche Zusage ein Anspruch des Arbeitnehmers begründet würde.
c) Anforderungen an die Ausgestaltung eines konkreten Freiwilligkeitsvorbehalts 213 Da Freiwilligkeitsvorbehalte – wie gerade gezeigt – der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB unterliegen, müssen sie angemessen und transparent sowie in sich widerspruchsfrei sein. BAG, v. 10.12.2008 – 10 AZR 1/08, NZA-RR 2009, 576.
214 Unerheblich ist ausgehend von diesen Grundsätzen zunächst einmal der bloße Vorbehalt einer „freiwilligen Leistung“. Denn er besagt nichts anderes, als dass der Arbeitgeber bislang nicht zu dieser Leistung verpflichtet war, sie also nach seiner Bewertung freiwillig erbringt. Vermieden wird ein zukünftiger Rechtsanspruch auf diese Leistung infolge betrieblicher Übung dadurch aber nicht. Und obwohl der Freiwilligkeitsvorbehalt darauf abzielt, genau einen solchen Rechtsanspruch auszuschließen, darf auch die Formulierung „ohne Rechtsanspruch“ nicht verwendet werden. Sie ist widersprüchlich, weil der Arbeitgeber bei der Gewährung der Leistung ja gerade einen Anspruch auf die gegenwärtig gewährte Leistung begründet.
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit Praxistipp: Ein „richtiger“, d. h. dem Maßstab des § 307 BGB gerecht werdender Freiwilligkeitsvorbehalt verbindet die (verbindliche) Zusage einer einmaligen (gegenwärtigen) Leistungen mit dem Hinweis auf das Fehlen einer Zusage für die Zukunft.
Seine Rechtsprechung hierzu hat das BAG in seinem Urteil vom 17.4.2013
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– 10 AZR 281/12, NZA 2013, 787,
noch einmal bestätigt. In dem entschiedenen Fall hatte der beklagte Arbeitgeber mit der Klägerin zur Vergütung u. a. folgende Regelung getroffen: „Die Zahlung eines 13. Gehalts ist eine freiwillige Leistung der Firma, die anteilig als Urlaubs- und Weihnachtsgeld gewährt werden kann.“
Das BAG hat diese Vereinbarung zu Recht für unklar gehalten und sie gem. 216 § 305c Abs. 2 BGB dahin ausgelegt, dass der Klägerin ein Anspruch auf ein 13. Gehalt zusteht. Denn die Auslegung derartiger Vereinbarungen lässt ernsthaft mehrere Ergebnisse vertretbar erscheinen: Denkbar sei zunächst, dass unmittelbar ein vertraglicher Anspruch auf ein 217 13. Gehalt begründet worden sei. Die Regelung könne nämlich wie folgt verstanden werden: „Es wird ein 13. Gehalt als freiwillige Leistung der Firma gezahlt, wobei die Leistung anteilig als Urlaubs- und Weihnachtsgeld gewährt werden kann.“ Das überzeugt. Denn nach dem Wortlaut wird „die Zahlung eines 13. Gehalts“ festgelegt, ohne dass sich – für den durchschnittlichen Vertragspartner ohne weiteres erkennbar – der Verwender die jeweilige Entscheidung über die Zahlung vorbehalten hat. Praxistipp: Dazu hätte dem BAG offenbar eine kleine sprachliche Nuance genügt (etwa: „Wird ein 13. Gehalt gezahlt. …“). Sinnvoll dürfte aus Gründen der Sicherheit aber sein, einen Vorbehalt hinsichtlich des „Ob“ und ggf. des „Wie“ der Zahlung einer jährlichen Sonderleistung ausdrücklich zu formulieren.
Das war im vorliegenden Fall nicht geschehen. Die Formulierung der Klausel 218 im Übrigen spricht – worauf das BAG zu Recht hinweist – eher für das Gegenteil. Denn ein Vorbehalt bestehe – so das BAG – ausdrücklich nur insoweit, als das 13. Gehalt anteilig als Urlaubs- und Weihnachtsgeld gewährt werden kann. Daraus möge für den durchschnittlichen Vertragspartner zwar folgen, dass der Verwender sich die Entscheidung über die Aufteilung, nicht aber über das „Ob“ einer Zuwendung vorbehalten habe. Auch deren Höhe sei mit der Bezeichnung „13. Gehalt“ eindeutig bestimmbar.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
219 Anknüpfend an seine ständige Rechtsprechung stellt der Senat sodann noch einmal klar, dass es – entgegen einer insbesondere bei kleineren Unternehmen verbreiteten Auffassung – unerheblich ist, dass die Zahlung eines 13. Gehalts als „freiwillige Leistung“ der Firma bezeichnet wird. Denn damit werde – jedenfalls unmissverständlich – nur zum Ausdruck gebracht, dass der Arbeitgeber nicht durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder Gesetz zu dieser Leistung verpflichtet ist. Vgl. bereits BAG, v. 23.10.2002 – 10 AZR 48/02, BAGE 103, 151.
220 Der Hinweis genüge für sich genommen nicht, um einen Anspruch auf die Leistung auszuschließen. Vgl. aus jüngerer Zeit vorhergehend z. B. bereits BAG, v. 20.2.2013 – 10 AZR 177/12, NZA 2013, 1015.
221 Daran ändert angesichts des Eingreifens von § 305c Abs. 2 BGB auch der Umstand nichts, dass die Verwendung des unbestimmten Artikels dadurch, dass im Anstellungsvertrag nur die Zahlung „eines“ und nicht „des“ 13. Gehalts vereinbart ist, in diesem Regelungszusammenhang – nach Ansicht des BAG – eine Auslegung dahin vertretbar erscheinen lässt, ein vertraglicher Anspruch solle nicht unmittelbar begründet werden. Der Regelung käme dann – so das BAG – die Bedeutung zu: „Die etwaige Zahlung eines 13. Gehalts ist eine freiwillige Leistung …“ bzw. „Es kann ein 13. Gehalt als freiwillige Leistung der Firma gezahlt werden …“. d) Fazit 222 Angesichts der in den Entscheidungen vom 14.9.2011 und 17.4.2013 – 10 AZR 526/10, ZIP 2012, 385 = NZA 2012, 81 und – 10 AZR 281/12, NZA 2013, 787,
erkennbaren Tendenz, den „allgemeinen“ Freiwilligkeitsvorbehalt zurückzudrängen, kann eher nicht angenommen werden, dass das BAG hiermit (vor allem mit der letzten Formulierung) einen Vorschlag für einen wirksamen „allgemeinen“ oder „abstrakten“ Freiwilligkeitsvorbehalt unterbreitet. Die Praxis wird sich daher weiterhin nicht auf derartige Vorbehalte im Arbeitsvertrag verlassen dürfen. Praxistipp: Stattdessen sollte die Leistungsgewährung im Einzelfall stets mit einem wirksamen Freiwilligkeitsvorbehalt verbunden werden (vgl. BAG, v. 16.1.2013 – 10 AZR 26/12, NZA 2013, 1013 und dazu Rn. 266 ff.). Absichern kann sich der Arbeitgeber zusätzlich dadurch, dass lediglich „betragslose“ Zusagen oder Zusagen mit kalenderjährlicher Festsetzung der Anspruchsvoraussetzungen erfolgen. Denn auch dies schließt zukünftige Ansprüche in bestimmter Höhe oder unter bestimmten Voraussetzungen aus.
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
3. Wirksamkeit einer Vereinbarung über eine unbezahlte Arbeitszeiterhöhung Als kostenneutrales Mittel zur Erhöhung der Produktivität kommt in der 223 Krise (und ggf. Insolvenz) – bei entsprechender Auslastung des Betriebs – die Anordnung von Überstunden in Betracht, soweit die geleisteten Überstunden mit dem gezahlten Gehalt abgegolten sind und nicht zusätzlich vergütet werden müssen. Alternativ kann eine Vereinbarung über eine unbezahlte Erhöhung der Arbeitszeit erfolgen, die dann, wenn sie nicht nur „vorübergehend“ i. S. d. § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG erfolgt, nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegt. Zum Merkmal „vorübergehend“ vgl. BAG, v. 3.6.2003 – 1 AZR 349/02, NZA 2003, 1155, dazu EWiR 2004, 631 (Haußmann).
Zu beachten sind bei entsprechenden Änderungsvereinbarungen allerdings die 224 Vorgaben der §§ 305 ff. BGB. Wie das BAG mit seinem Urteil vom 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, ZIP 2013, 474 = NZA 2013, 266, dazu EWiR 2013, 311 (Semioli/Neumaier)
deutlich gemacht hat, kommt die AGB-Kontrolle allerdings nur sehr eingeschränkt zur Anwendung, wenn durch die in Rede stehende Regelung keine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Vorgaben getroffen werden (vgl. § 307 Abs. 3 BGB). a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts In dem zugrunde liegenden Fall war der Kläger von 1989 bis 2011 als gewerb- 225 licher Arbeitnehmer bei der Beklagten beschäftigt. Sein Stundenlohn betrug im März 2009 12,28 € (brutto). Am 27.3.2009 traf eine Vielzahl von Arbeitnehmern – darunter der Kläger – mit der Beklagten gleichlautende Änderungsvereinbarungen. Sie lauteten wie folgt: Es wird hiermit ab dem 1.4.2009 folgendes vereinbart: 1. Der Stundenlohn erhöht sich um 3 %. 2. Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt 40 Stunden wöchentlich, von denen 35 Stunden wöchentlich vergütet werden. Für die Differenz zur bisherigen regelmäßigen Arbeitszeit von 35 Stunden wird keine gesonderte Vergütung gezahlt. Überstunden, die über 40 Stunden wöchentlich hinausgehen, werden als solche weiterhin regulär vergütet. Die Verrechnung der Stunden wird monatsweise durchgeführt, die angeordneten Mehrarbeitsstunden müssen in jedem Fall in dem aktuellen Monat erbracht werden. 3. Die Anordnung zur monatlichen Arbeitszeit erfolgt für den Folgemonat immer am Monatsende“.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger restliche Vergütung für die Monate April 226 2009 bis November 2010 in Höhe von 3.482,60 € (brutto). Er machte geltend, dass das Verlangen nach unbezahlter Arbeit sittenwidrig sei. Zudem
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
habe er der Änderungsvereinbarung ohne Gelegenheit zur Überlegung zustimmen müssen. Denn die Beklagte habe ihm signalisiert, sie sei in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und ohne drastische Kostenreduzierungen drohe die Insolvenz. b) Begründung des Bundesarbeitsgerichts 227 Dem folgte der 5. Senat des BAG zu Recht nicht. Mit Ziff. 2 Satz 2 der Änderungsvereinbarung hatte sich der Kläger wirksam verpflichtet, unentgeltlich fünf Stunden pro Woche zu arbeiten. Eine Unwirksamkeit der Klausel wegen Unangemessenheit gem. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB war ausgeschlossen. Denn mit der in Rede stehenden Regelung hatten die Parteien keine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen getroffen. Eine Klausel, nach der eine gesonderte Vergütung für die 36. bis 40. Arbeitsstunde pro Woche ausgeschlossen wird, betrifft – so das BAG – allein die (Mit-)Vergütung dieser Arbeitsleistung und damit eine Hauptleistungsabrede. Sie regele die Gegenleistung des Arbeitgebers für die vom Arbeitnehmer erbrachte Arbeitsleistung und unterliege als Bestimmung des Preis-/ Leistungsverhältnisses vorbehaltlich verbindlicher Mindestentgelte bis zur Grenze der Gesetz- und Sittenwidrigkeit der Vereinbarung durch die Parteien. Es sei nicht Aufgabe des Gerichts, über die §§ 305 ff. BGB den „gerechten“ Preis zu ermitteln. BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, ZIP 2013, 474 = NZA 2013, 266; BAG, v. 16.5.2012 – 5 AZR 331/11, ZIP 2012, 1679 = NZA 2012, 908, dazu EWiR 2012, 719 (Kock).
228 Eine Inhaltskontrolle der Vereinbarung ist dadurch allerdings nicht ausgeschlossen. Sie setzt indes eine Gesetzes- oder Sittenwidrigkeit voraus, die das BAG auch unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung zu § 138 BGB entwickelten Grundsätze vorliegend zu Recht abgelehnte. Denn sowohl der Lohnwucher (§ 138 Abs. 2 BGB) als auch das wucherähnliche Geschäft (§ 138 Abs. 1 BGB) setze – so das BAG – ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung voraus. Ob dies der Fall sei, bestimme sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. 229 Ausgangspunkt der Wertbestimmung seien insoweit regelmäßig die Tarifentgelte des jeweiligen Wirtschaftszweiges oder – wenn die verkehrsübliche Vergütung geringer sei – das allgemeine Entgeltniveau im Wirtschaftsgebiet. Ein Missverhältnis sei auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne weiteres ins Auge springe. Als „Richtwert“ könne hiervon jedenfalls dann ausgegangen werden, wenn eine Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem betreffenden Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts erreiche und eine spezifische Rechtfertigung nicht bestehe.
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, ZIP 2013, 474 = NZA 2013, 266; BAG, v. 18.4.2012 – 5 AZR 630/10, NZA 2012, 978.
Ausgehend von diesen Grundsätzen führte der Umstand, dass der Arbeit- 230 nehmer einzelne Stunden unentgeltlich zu leisten hatte, nicht zur Sittenwidrigkeit. Denn darauf, ob der Arbeitnehmer für jede erbrachte Arbeitsstunde ein gleichbleibendes Stundenentgelt, für einzelne Arbeitsstunden ein besonders hohes, für andere aber ein niedrigeres Stundenentgelt erhalte oder – wie bei der Pauschalvergütung von Überstunden – mit der vereinbarten Vergütung weitere Arbeitsstunden „abgegolten“ seien, komme es insoweit nicht an. Entscheidend für die Bestimmung eines auffälligen Missverhältnisses sei vielmehr der Vergleich zwischen dem objektiven Wert der Arbeitsleistung und der „faktischen“ Höhe der Vergütung, die sich aus dem Verhältnis von geschuldeter Arbeitszeit und versprochener Vergütung für eine bestimmte Abrechnungsperiode ergebe. BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, ZIP 2013, 474 = NZA 2013, 266.
Im vorliegenden Fall hätten die Parteien die Abrechnungsperiode Kalender- 231 monat gewählt. Maßgeblich sei damit das „faktische“ Stundenentgelt pro Monat. Dieses habe im Streitzeitraum unter Berücksichtigung der in der Änderungsvereinbarung vorgesehenen Erhöhung des Stundenlohns – bezogen auf die zu leistenden 40 Wochenstunden – 11,07 € (brutto) betragen. Würde man als Vergleichsmaßstab den ab 1.5.2010 geltenden Lohn- und Gehaltstarifvertrag für die Polstermöbel- und Matratzenindustrie in NRW zugrunde legen, habe der Kläger immer noch 81 % des Stundenlohns der höchsten Lohngruppe für gewerbliche Arbeitnehmer bezogen. Dass er wegen der Einschlägigkeit anderer Tarifwerke weniger als zwei Drittel der (tarif-)üblichen Vergütung erhalten hätte, hatte der Kläger selbst nicht behauptet. Wenn ein objektives Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung 232 nicht gegeben ist, kommen die Umstände des Vertragsabschlusses selbst nach Auffassung des BAG im Zweifel nicht zum Tragen. Unerheblich sei auch, dass entsprechende Vereinbarungen unbefristet abgeschlossen würden. Denn ein Bedarf nach Rechtfertigung durch dringende betriebliche Erfordernisse bestehe nur für die einseitige Entgeltsenkung durch Änderungskündigung (§§ 1 Abs. 2 Satz 1, 2 Satz 1 KSchG), nicht aber für eine einvernehmliche Verschlechterung der Vergütung. BAG, v. 17.10.2012 – 5 AZR 792/11, ZIP 2013, 474 = NZA 2013, 266. Praxistipp: Die Entscheidung überzeugt im Ergebnis und in der Begründung. Für die betriebliche Praxis macht sie zunächst deutlich, dass bei Vereinbarungen über die unentgeltliche Anhebung der Arbeitszeit darauf geachtet werden muss, dass die Vergütung dadurch nicht insgesamt die Grenze der durch Tarifverträge vorgegebenen Vergütungsrahmen zu stark unterschreitet.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung Losgelöst davon muss darauf geachtet werden, dass nicht bereits infolge einer Allgemeinverbindlicherklärung oder der Anwendbarkeit des AEntG ein (gesetzlicher) Mindestlohn gilt, der auch einvernehmlich nicht unterschritten werden kann. Schließlich muss bei der Ausgestaltung unter Praktikabilitätsgesichtspunkten darauf geachtet werden, dass Entgeltfortzahlungsvorschriften (z. B. bei Krankheit oder Urlaub) sicher und leicht handhabbar umgesetzt werden können. Denkbar ist insoweit, die unentgeltliche Arbeitszeit prozentual auf die einzelnen Arbeitsstunden zu verteilen oder das Entgelt insoweit generell abzusenken. Andernfalls können Schwierigkeiten entstehen, die Höhe des Entgeltfortzahlungsanspruchs zu bestimmen, weil nicht klar ist, wann die unentgeltliche Arbeit und wann entgeltliche Arbeit geleistet wird.
4. Insolvenzrechtliche Qualifikation von Überarbeit bei gescheiterten Sanierungsbemühungen aufgrund Sanierungsvereinbarung 233 Im Vorfeld einer Insolvenz kommt es zumeist zu Sanierungsbemühungen, die regelmäßig entweder die Senkung der Personalkosten oder aber ihre Beibehaltung bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung einschließen. Häufig wird dies im Rahmen sog. „Bündnisse für Arbeit“ auf der Grundlage einer sog. „Sanierungsvereinbarung“ vorgesehen. Sofern der damit erhoffte Sanierungserfolg nicht eintritt und ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, stellt sich dann die Frage, wie in der Sanierungsvereinbarung vorgesehene Ansprüche der Arbeitnehmer insolvenzrechtlich zu bewerten sind. a) „Rückfallklausel“ bei Scheitern des Sanierungsversuchs 234 Regelmäßig sind entsprechende Sanierungsvereinbarungen – jedenfalls dann, wenn sie kollektiv rechtlich abgeschlossen werden – mit einer Klausel versehen, wonach etwaige Entgeltansprüche, auf die der Arbeitnehmer während des Sanierungszeitraums verzichtet hat, bzw. während des Sanierungszeitraums geleistete Überarbeit ohne zusätzliche Vergütung dann auszuzahlen bzw. zu vergüten sind, wenn der Sanierungszweck scheitert und das Insolvenzverfahren eröffnet wird bzw. deshalb betriebsbedingte Kündigungen erforderlich werden, die während des Sanierungszeitraums als „Arbeitgeberleistung“ typischerweise ausgeschlossen sind. 235 Zu diesen Fragen hat das BAG in seinem Urteil vom 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, ZIP 2013, 1033, dazu EWiR 2013, 517 (Budnik)
wichtige Klarstellungen getroffen. b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 236 In der zugrunde liegenden Entscheidung hatte der Kläger auf der Grundlage einer Sanierungsvereinbarung der zuständigen Tarifvertragsparteien vor Eröffnung der Insolvenz der Schuldnerin Arbeit ohne Entgeltausgleich geleistet. Die Sanierungsvereinbarung lautete auszugsweise
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit „§ 2 Entgelte […] 2. […] Die in Ziff. 2.1.3. und 2.1.5. des Lohntarifvertrags sowie in Ziff. 4.1.3. und 4.1.5. des Gehaltstarifvertrages für die Metall- und Elektroindustrie […] vorgesehenen Pauschal- und Einmalbeträge entfallen ersatzlos. § 4 Wöchentliche Arbeitszeit Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit bleibt unverändert. Je nach Auftragslage können bis zu 4 Stunden wöchentlich ohne Entgeltausgleich mehr gearbeitet werden. […] § 6 Beschäftigungssicherung […] Scheiden Mitarbeiter während der Laufzeit dieser betrieblichen Sonderregelung aufgrund betriebsbedingter Beendigungskündigung aus, wird die nach § 4 dieser betrieblichen Sonderregelung mehr geleistete Arbeitszeit für die letzten 12 Monate vor dem Ausscheiden monetär vergütet. […] § 9 Schlussbestimmungen […] 6. Verliert diese betriebliche Sonderreglung ihre Wirkung, weil sie vor Ablauf des 31.12.2010 von einer Seite aus wichtigem Grund gekündigt worden ist, sind die in dieser tariflichen Sonderreglung getroffenen Regelungen […] zu der wöchentlichen Mehrarbeit ohne Entgeltausgleich (nach § 4) von Anfang an wirkungslos. […] Die nach § 4 geleistete Mehrarbeit ohne Entgeltausgleich ist ebenfalls zum Ende des auf die Kündigung dieser Vereinbarung folgenden Monats fällig.“
Der Kläger leistete von März bis Mai 2009 und im August 2009 zusätzliche 237 Arbeitsstunden i. S. d. § 4 Satz 2 Sanierungsvereinbarung. Mehrarbeit i. d. S. war die Arbeitszeit, die nach dem Arbeitszeitkonto des Klägers täglich 7 Stunden oder wöchentlich 35 Stunden überschritt. Über das Vermögen der Schuldnerin wurde am 1.9.2009 das Insolvenzverfah- 238 ren eröffnet und die Beklagte zur Insolvenzverwalterin bestellt. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete aufgrund ordentlicher Kündigung der Beklagten vom 28.11.2009 mit dem 28.2.2010. Die Beklagte begründete die Kündigung mit betriebsbedingten Gründen. Der Kläger nahm die Beklagte auf sog. Mehrarbeitsvergütung in Anspruch, die er als Masseverbindlichkeit qualifizierte. Praxistipp: Die Klage ist bereits unzulässig, wenn sie mit der Behauptung erhoben wird, es handele sich um eine Insolvenzforderung. Der Arbeitnehmer kann diese Ansprüche nach § 87 InsO nur im Rahmen des Insolvenzverfahrens verfolgen
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung und muss sie gegenüber dem Insolvenzverwalter nach § 174 InsO anmelden (BAG, v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, ZIP 2013, 1033). Beruft sich der Arbeitnehmer dagegen auf eine vorweg zu berichtigende Masseverbindlichkeit i. S. d. § 55 InsO, ist die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet, wenn es sich in Wirklichkeit um eine Insolvenzforderung handelt (BAG, v. 21.2.2013 – 6 AZR 406/11, ZIP 2013, 1033).
c) Insolvenzrechtliche Qualifikation von „Sanierungsstunden“ 239 Das BAG hat die Klage zu Recht mit dem Argument abgewiesen, dass es sich bei den geltend gemachten Ansprüchen nicht um Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 53 i. V. m. § 50 Abs. 1 Nr. 1 oder § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO handelt, sondern um Insolvenzforderungen i. S. d. §§ 38, 108 Abs. 3 InsO. Praxistipp: Um die übrigen Gläubiger nicht zu gefährden und die Erfolgschancen einer Sanierung im Insolvenzverfahren zu erhöhen, sollten Arbeitgeber darauf achten, in Krisenzeiten etwa erforderlich werdende Sanierungsvereinbarungen analog der im entschiedenen Fall ausgestalteten Sanierungsvereinbarung abzuschließen. Denn dies bewirkt, dass etwaige „Sanierungsstunden“ der Arbeitnehmer im Insolvenzfall lediglich als Insolvenzforderungen zu qualifizieren sind. Dies schont die Masse und dient der Befriedigung der übrigen Gläubiger, wie sie im Insolvenzverfahren angestrebt wird, in dem sich nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen, sondern das der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubiger – einschließlich der Arbeitnehmer – dient.
240 Die Qualifikation der „Sanierungsstunden“ als Insolvenzforderung begründet das BAG überzeugend wie folgt: Zunächst lehnt es zu Recht eine Qualifikation als Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO deshalb ab, weil das Arbeitsverhältnis nicht durch die Beklagte Insolvenzverwalterin begründet worden war, sondern bereits vor der Insolvenz zwischen dem Kläger und der Schuldnerin bestand. Dies blieb durch die Öffnung des Insolvenzverfahrens nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO unberührt. 241 Die geltend gemachten Ansprüche waren aber auch nicht als Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO zu qualifizieren. Denn danach sind Masseverbindlichkeiten Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen, soweit deren Erfüllung für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgen muss. 242 § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO unterfallen daher alle Entgeltansprüche, die aus der Beschäftigung von Arbeitnehmern durch den Insolvenzverwalter nach Verfahrenseröffnung erwachsen sowie alle sonstigen Ansprüche, die sich aus dem bloßen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ergeben. Ist im Arbeitsverhältnis ein regelmäßiges Arbeitsentgelt vereinbart, entstehen die Entgeltansprüche mit den Zeitabschnitten, nach denen die Vergütung zu bemessen ist (§ 614 Satz 2 BGB). Fallen die Zeitabschnitte in die Zeit nach Insolvenzeröffnung, handelt es sich um Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO. 58
III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
Diese Regelung hat nach den Feststellungen des BAG Ausnahmecharakter. 243 Denn – wie die Regelung der Insolvenzforderung in §§ 38, 108 Abs. 3 InsO – deutlich machen, sollen gem. dem in § 1 Satz 1 InsO ausgedrückten Ziel des Insolvenzverfahrens grundsätzlich alle Gläubiger des Schuldners in der Regel gemeinschaftlich befriedigt werden. Als Ausnahmevorschrift mache § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO daher – so das BAG – mit dem Wort „für“ deutlich, dass es bei den nach § 53 InsO vorweg aus der Masse zu berichtigenden Verbindlichkeiten aus gegenseitigen Verträgen nicht allein auf die vereinbarte Leistungszeit, sondern auf die Zwecksetzung ankomme. Es genüge demnach für eine Qualifikation als Masseverbindlichkeit nicht, dass die Verbindlichkeit „in der Zeit“ nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt werden müsse. Vgl. BAG, v. 27.9.2007 – 6 AZR 975/06, BAGE 124, 150 = ZIP 2008, 374, dazu EWiR 2008, 335 (Holzer).
Um einen Anspruch als Insolvenzforderung bzw. Masseverbindlichkeit ein- 244 ordnen zu können, sei angesichts der vorgenannten Zwecksetzung entscheidend, ob die Forderung einer Leistung mit Entgeltcharakter zum Gegenstand hat oder nicht. Grundsätzlich könnten dabei nur solche Leistungsansprüche, die in einem zumindest teilweise synallagmatischen Verhältnis zu den nach Insolvenzeröffnung erbrachten Arbeitsleistungen stünden, als Masseverbindlichkeiten qualifiziert werden. Ihre vorweg vorzunehmende Berichtigung sei eine Gegenleistung für die Arbeitsleistung, die der Masse nach Insolvenzeröffnung zu Gute gekommen sei. Entscheidend sei damit, ob Entgelt im weitesten Sinne für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschuldet werde. Vgl. nur BAG, v. 14.11.2012 – 10 AZR 793/11, NZA 2013, 273.
Ausgehend von diesen Grundsätzen waren die vom Kläger erhobenen An- 245 sprüche nach der Bewertung des BAG keine Masseverbindlichkeiten. Das folgte nach den Feststellungen des BAG schon daraus, dass die Forderungen weder synallagmatisch mit Arbeitsleistung nach Insolvenzeröffnung verknüpfte Ansprüche auf Arbeitsentgelt noch sonstige Ansprüche waren, die sich aus dem bloßen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses ergaben. Nur diese beiden Anspruchsgruppen unterfallen – wie das BAG ausdrücklich klarstellt – aber der Ausnahmeregelung des § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO. Hier erfolgte die Arbeitsleistung, für die Vergütung begehrt wird, aufgrund 246 der Sanierungsvereinbarung unstreitig vor Insolvenzeröffnung. Sie stand damit in einem synallagmatischen Zusammenhang mit dieser vor Insolvenzeröffnung geleisteten Arbeit. Zu Recht hat das BAG sich vom Gegenteil nicht mit dem Argument der Revision überzeugen lassen, § 4 Satz 2 Sanierungsvereinbarung siehe vor, dass die sog. Mehrarbeit (richtig: Überarbeit) ohne Entgeltausgleich geleistet werde und der bei wirksamer betriebsbedingter Kündigung entstandene Vergütungsanspruch das Entgeltinteresse anstelle des weggefallenen besonderen Kündigungsschutzes sichere. Insoweit weist
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
das Gericht zu Recht darauf hin, dass die Entgeltsansprüche trotz der weiteren Voraussetzung einer wirksam gewordenen betriebsbedingten Kündigung nicht von dem Erfordernis geleisteter Überarbeit gelöst sind, so dass zumindest teilweise eine synallagmatische Verknüpfung von Arbeit und Entgelt besteht. Die Forderungen gehören damit – wie das BAG explizit klarstellt – wie anderes laufendes Arbeitsentgelt und Jahressonderzahlungen mit Arbeitsleistungs- oder Betriebstreueaspekt zu den Ansprüchen mit Entgeltcharakter. Sie seien keine Ansprüche, die an den bloßen Bestand des Arbeitsverhältnisses anknüpfen, wie dies z. B. für Gratifikationsansprüche, die nur an Stichtage gebunden sind, und Urlaubsabgeltungsforderung anzunehmen sei. 247 Teleologisch begründet das BAG seine Entscheidung im Kern damit, dass der Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit entscheidend dagegen spreche, die geltend gemachten Ansprüche als Masseverbindlichkeiten einzuordnen. Denn das Erfordernis des zumindest teilweise im synallagmatischen Verhältnisses von Arbeit und Entgelt diene dazu, den Zweck des § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO zu verwirklichen. Dieser bestehe darin, dass derjenige, der seine vertragsgemäßen Leistungen nach Insolvenzeröffnung zu Gunsten der Masse weiter erbringe, die vollen Rechte auf die Gegenleistung behalten soll. Die Ausnahme vorweg zu berichtigender Vergütungsforderung als Masseverbindlichkeiten sei folgerichtig lediglich dann gerechtfertigt, wenn die Verbindlichkeiten Gegenleistung für Arbeitsleistung seien, die der Masse nach Insolvenzeröffnung zu Gute gekommen seien. Ansprüche mit Entgeltcharakter entstünden im insolvenzrechtlichen Sinne mit den Zeitabschnitten, nach denen die Vergütung zu bemessen sei. Vorliegend handele es sich aber um Arbeitsleistungen und mit ihnen jedenfalls teilweise synallagmatisch verknüpfte Vergütungsansprüche für die Zeit vor Insolvenzeröffnung (§ 108 Abs. 3 InsO). 248 Es komme deshalb nicht darauf an, ob die Entgeltansprüche aufschiebend bedingt gewesen seien oder aber aufgrund von § 6 Satz 3 Sanierungsvereinbarung ein durch das Wirksamwerden der betriebsbedingten Beendigungskündigung auflösend bedingter Erlass der Forderung zustande gekommen sei. Denn eine andere Einordnung der Forderung benachteilige die Gesamtheit der anderen Gläubiger und verletze den Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit. Die Insolvenzordnung sehe nicht vor, dass Arbeitnehmer generell gegenüber anderen Gläubigern bevorzugt würden. Die Entstehung von Masseverbindlichkeiten solle vielmehr begrenzt werden. Dies werde besonders deutlich bei der Qualifikation von Vergütungsansprüchen in der Block-Altersteilzeit. Denn obwohl der Arbeitnehmer während der Arbeitsphase mit seinem vollen Arbeitsleistungen für die spätere Freistellungsphase vorleiste, seien die in der Fälligkeit ausgeschobenen – zumeist hälftigen- Vergütungsansprüche nur dann Masseverbindlichkeiten i. S. d. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO, wenn die Arbeitsleistung der Masse noch zu Gute komme. Es komme nicht darauf an, wann der Arbeitnehmer die (Gegen-)Leistung der Vergütung verlangen könne. Beim kontinuierlichen Teilzeitmodell der Altersteilzeit, in dem noch nach Insolvenzeröffnung Arbeit geleistet werde, erlange der Ar-
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
beitnehmer dagegen Masseverbindlichkeiten i. S. d. §§ 53, 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO. Die Arbeitsleistung komme der Masse zu Gute. Mit Blick auf die typische Ausgestaltung von Sanierungsvereinbarungen trifft 249 das BAG sodann die wichtige Feststellung, dass es für eine Rückfallklausel für den Fall des Scheiterns von Sanierungsbemühungen, wie sie im entschiedenen Fall in § 6 Satz 3 Sanierungsvereinbarung enthalten war, nichts anderes gelte als für Arbeit, die in der Block-Altersteilzeit vor Insolvenzeröffnung geleistet werde. Da diese Auslegung der Rückfallklausel in § 6 Satz 3 Sanierungsvereinbarung nicht von § 108 Abs. 3 InsO abweiche, finde § 119 InsO keine Anwendung. Vgl. auch BAG, v. 23.2.2005 – 10 AZR 600/03, EzA InsO § 55 Nr. 7. Praxistipp: Dass vorinsolvenzliche Sanierungsstunden bei entsprechender Ausgestaltung als Insolvenzforderung zu qualifizieren sind, ist für die Sanierungspraxis eine wichtige Erleichterung. Wird die Sanierungsvereinbarung allerdings durch den Insolvenzverwalter fortgesetzt, z. B. weil sie keine auslösende Bedingung für den Insolvenzfall enthält oder im Insolvenzfall nicht gekündigt wird, sind die für die Zeit nach Insolvenzeröffnung geleisteten Sanierungsstunden als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren. Insoweit bestätigt das BAG seine bereits im Urteil vom 19.1.2006 (6 AZR 529/04, BAGE 117, 1 = ZIP 2006, 1366) entwickelte Rechtsprechung.
5. Betriebsvereinbarungsoffenheit von Arbeitsverträgen In seinem Urteil vom 5.3.2013
250
– 1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542, dazu EWiR 2013, 635 (A. Klasen); vgl. dazu (insbesondere zum Sachverhalt) auch Rn. 546 ff.
hat das BAG nicht nur wichtige Klarstellungen zur Zulässigkeit von Altersgrenzen in Betriebsvereinbarungen getroffen. Mindestens ebenso bedeutsam für die betriebliche Praxis ist, dass der 1. Senat darin von einer grundsätzlichen Betriebsvereinbarungsoffenheit von als AGB verfassten Arbeitsverträgen ausgegangen ist. Dies ist eine unerwartete Trendwende, die den Betriebsparteien große Gestaltungsspielräume zur (nachteiligen) Veränderung von Arbeitsbedingungen in Krise und Insolvenz eröffnen würde. Entscheidend für diese Möglichkeit ist, ob das Günstigkeitsprinzip einer ver- 251 schlechternden Betriebsvereinbarung entgegensteht. Nach § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG gelten Betriebsvereinbarungen zwar unmit- 252 telbar und zwingend. Diese gesetzliche Regelung ist jedoch unvollständig. Sie wird durch das Günstigkeitsprinzip ergänzt. Das in § 4 Abs. 3 TVG nur unvollkommen geregelte Günstigkeitsprinzip ist Ausdruck eines umfassenden Grundsatzes, der unabhängig von der Art der Rechtsquelle und auch außerhalb des Tarifvertragsgesetzes Geltung beansprucht. Es gilt auch für das 61
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Verhältnis von vertraglichen Ansprüchen zu den Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung. BAG, GS v. 16.9.1986 – GS 1/82, BAGE 53, 42.
253 Günstigere einzelvertragliche Vereinbarungen gehen daher den belastenden Regelungen einer Betriebsvereinbarung vor. 254 Von diesen Grundsätzen ausgehend entwickelt der 1. Senat aber Auslegungsregeln für als AGB ausgestaltete Arbeitsverträge, welche die vorstehenden Grundsätze weitgehend aufheben: 255 Die Arbeitsvertragsparteien könnten ihre vertraglichen Absprachen dahingehend gestalten, dass sie einer Abänderung durch betriebliche Normen unterliegen. Das könne ausdrücklich oder bei entsprechenden Begleitumständen konkludent erfolgen und sei nicht nur bei betrieblichen Einheitsregelungen und Gesamtzusagen möglich, sondern auch bei einzelvertraglichen Abreden. 256 Eine solche konkludente Vereinbarung sei – so der 1. Senat des BAG – regelmäßig anzunehmen, wenn der Vertragsgegenstand in AGB enthalten sei und einen kollektiven Bezug habe. Denn mit der Verwendung von AGB mache der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollen. Eine betriebsvereinbarungsfeste Gestaltung der Arbeitsbedingungen stünde dem entgegen. Die Änderung und Umgestaltung von betriebseinheitlich gewährten Leistungen wäre nur durch den Ausspruch von Änderungskündigungen möglich. Der Abschluss von betriebsvereinbarungsfesten Abreden würde zudem den Gestaltungsraum der Betriebsparteien für zukünftige Anpassungen von Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug einschränken. 257 Da AGB ebenso wie Bestimmungen in einer Betriebsvereinbarung auf eine Vereinheitlichung der Regelungsgegenstände gerichtet seien, könne aus Sicht eines verständigen und redlichen Arbeitnehmers nicht zweifelhaft sein, dass es sich bei den vom Arbeitgeber gestellten Arbeitsbedingungen um solche handele, die einer Änderung durch Betriebsvereinbarung zugänglich seien. 258 Etwas anderes gelte nur dann, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausdrücklich Vertragsbedingungen vereinbaren, die unabhängig von einer für den Betrieb geltenden normativen Regelung Anwendung finden sollten. 259 Für die Sanierungspraxis ist diese Entscheidung ein Glücksfall. Sie eröffnet den Betriebsparteien weite Spielräume zur Anpassung der Arbeitsbedingungen an die wirtschaftliche Situation des Arbeitgebers und wirkt mit Blick auf die immer strenger werdenden Anforderungen an individualvertragliche Flexibilisierungsinstrumente ausgleichend. Im Einklang steht sie mit dem in § 613a Abs. 1 Satz 2 und 3 BGB zum Ausdruck gekommenen Rechtsgedanken. Mit Blick auf die Feststellungen des EuGH in der Rs. „Scattolon“ (dazu Rn. 670) sollten entsprechende Anpassungen mit dem Betriebsrat für den Fall, dass eine übertragende Sanierung geplant ist, allerdings bereits im Vor-
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III. Flexibilisierung von Vergütung und Arbeitszeit
feld des Betriebsübergangs umgesetzt werden. Zu hoffen ist, dass die Instanzgerichte diese Tendenz aufgreifen, um damit die immer strenger werdenden Anforderungen an vertragliche Flexibilisierungen weiter auszugleichen. Praxistipp: Ein Ansatzpunkt hierfür kann insbesondere eine genauere Bestimmung der Art der Zusage sein. So hatte das LAG Hamburg z. B. in seinem Urteil vom 28.11.2006 (2 Sa 33/06, n. v. unter Berufung auf das Urteil des BAG vom 14.1.1988 – 6 AZR 494/86, n. v.) angenommen, dass, wenn der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer in einem Einstellungsgespräch bestimmte Leistungen zusage, darin regelmäßig keine Aussage über die Rechtsgrundlage liege. Der Arbeitnehmer könne aus dem Umstand, dass nicht ausdrücklich auf eine bestimmte kollektivrechtliche Anspruchsgrundlage hingewiesen wird, redlicherweise nicht den Schluss ziehen, die Leistung solle mit ihm einzelvertraglich vereinbart werden. Eine entsprechende Zweifelsregelung, wie sie die Berufung dem Empfängerhorizont des Arbeitnehmers zuschreibe, gebe es nicht.
6. Konkludenter Tantiemeanspruch auch bei jährlich unterschiedlichen Zahlungen In der betrieblichen Praxis besteht bisweilen die Vorstellung, die nach „Guts- 260 herrenart“ erfolgende Gewährung von Prämien, Tantiemen etc. schließe einen Anspruch des Arbeitnehmers deshalb aus, weil jährlich unterschiedliche Beträge gezahlt werden. Dies ist wie das BAG in seinem Urteil vom 17.4.2013 – 10 AZR 251/12, DB 2013, 2568
klargestellt hat, nicht der Fall. Im entschiedenen Fall war der Kläger langjähriger IT-Leiter der Beklagten. Sein Arbeitsvertrag sah neben einer Bruttofixvergütung im ersten Jahr auch die Zahlung einer Tantieme in Höhe von 10.000,00 DM vor. Dessen ungeachtet zahlte die Beklagte dem Kläger bis zum Jahr 2007 jährlich eine „Tantieme“ sowie monatliche Vorauszahlungen auf diese, ohne dass es zu einer späteren Verrechnung dieser Vorauszahlungen kam. So erhielt der Kläger in den Jahren 2004 bis 2006 jeweils 34.103,00 € brutto. Nach Vergütungsverhandlungen im Jahr 2007 zahlte die Beklagte eine höhere Bruttofixvergütung sowie weiterhin eine Tantiemevorauszahlung. Zuletzt erhielt der Kläger im Jahr 2008 für das Jahr 2007 eine „Einmalsonderzahlung“. Ferner forderte der Geschäftsführer der Beklagten den Kläger im Jahr 2009 auf, einen Vorschlag für die Tantieme für das Jahr 2008 zu unterbreiten. Weitere Sonderzahlungen, Tantiemen oder sonstige varibale Vergütungen wurden seitdem bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Jahr 2011 nicht mehr geleistet. Der Kläger verlangte für diesen Zeitraum eine jährliche Tantieme in Höhe von 34.103,00 €. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Das BAG hob sie im Wesentlichen mit folgender Begründung auf: Das Landesarbeitsgericht sei zunächst noch zutreffend davon ausgegangen, 261 dass der Kläger aus betrieblicher Übung keinen Anspruch auf eine Tantieme in einer bestimmten Höhe erworben habe. Denn eine betriebliche Übung
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beziehe sich auf eine Vielzahl oder zumindest auf eine abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern, ohne dass individuelle Besonderheiten die vertraglichen Beziehungen gestalten; das Rechtsinstitut der betrieblichen Übung enthalte ein kollektives Element. Das war im konkreten Fall nicht dargelegt. Praxistipp: Die Feststellung des BAG hierzu macht aber deutlich, wie gefährlich mit Blick auf die Begründung einer betrieblichen Übung selbst die Gewährung von Leistungen in unterschiedlicher Höhe an eine Mehrzahl von Arbeitnehmern ist. Beachtet werden muss in diesem Zusammenhang auch stets die weitere „Gefahr“, dass mit Blick auf §§ 87 Abs. 1 Nr. 10, 75 BetrVG ein mitbestimmtes Recht auf Gleichbehandlung besteht. Das kann zu einer wesentlich weitreichenderen Verpflichtung als beabsichtigt führen (vgl. BAG v. 3.7.2003 – 2 AZR 617/02, BAGE 107, 56).
262 Das Landesarbeitsgericht habe aber verkannt, dass der Kläger zumindest aufgrund konkludenter Abrede einen vertraglichen Anspruch auf eine Tantieme dem Grunde nach erworben haben könne, über deren Höhe die Beklagte gem. § 315 BGB nach billigem Ermessen zu entscheiden habe. Die Parteien hätten in § 3 Ziff. 1 des Arbeitsvertrags die Zahlung einer festen Tantieme bei erfolgreicher Zusammenarbeit im ersten Jahr vereinbart. Dies lasse für sich genommen eine Auslegung als denkbar erscheinen, dass für die Folgejahre kein Anspruch begründet werden sollte. Im Zusammenhang mit dem nachfolgenden langjährigen Leistungsverhalten der Beklagten sei es aber naheliegend, dass dem Grunde nach ein vertraglicher Anspruch des Klägers auf eine jährliche Tantieme begründet und im Arbeitsvertrag lediglich für das erste Jahr ein bestimmter Betrag festgelegt worden sei. 263 Das Landesarbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger bis einschließlich 2007 eine jährliche Tantieme und diese in drei Jahren sogar in gleicher Höhe erhalten hat. Es habe auch nicht gewürdigt, dass die Beklagte jedenfalls seit 2001 später nicht verrechnete monatliche Vorauszahlungen geleistet und bei keiner Zahlung einen Unverbindlichkeitsvorbehalt erklärt hat. Es greife deshalb zu kurz und verstoße gegen die §§ 133, 157 BGB, einen Anspruch bereits deshalb zu verneinen, weil eine Tantieme nicht in einer bestimmten Höhe zugesagt wurde. 264 Naheliegend (und wahrscheinlich) sei vielmehr, dass nach §§ 133, 157 BGB die Annahme gerechtfertigt ist, die Beklagte habe sich zumindest kraft konkludenter Abrede dem Grunde nach zur Zahlung einer Tantieme verpflichtet und lediglich vorbehalten, nach § 315 BGB jährlich über deren Höhe zu bestimmen. Zu einer ähnlichen Auslegung von Leistungsverhalten vgl. bereits BAG v. 21.4.2010 – 10 AZR 163/09, NZA 2010, 808.
265 Abschließend entscheiden konnte das BAG dies im konkreten Fall aufgrund weiterer Umstände nicht. Die Entscheidung macht aber deutlich, dass die
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unreflektierte und unkoordinierte, vertraglich nicht klar geregelte Gewährung von Boni, Tantiemen u. Ä. schnell zu ungewünschten Bindungen führt. Praxistipp: Mit Blick auf die vom BAG abgelehnte Unwirksamkeit eines allgemeinen Freiwilligkeitsvorbehalts (vgl. Rn. 209 ff.) sollte die einzelne Leistung mit einem konkreten Freiwilligkeitsvorbehalt verbunden werden, um eine Bindung auszuschließen (vgl. Rn. 222).
7. Einseitiges Leistungsbestimmungsrecht bei Weihnachtsgratifikation Eine in der betrieblichen Praxis häufig übersehene, aber effektive Gestal- 266 tungsmöglichkeit zur Flexibilisierung von Entgeltbestandteilen bestätigt der 10. Senat demgegenüber in seinem Urteil vom 16.1.2013. BAG, v. 16.1.2013 – 10 AZR 26/12, NZA 2013, 1013.
Im entschiedenen Fall hatte der Kläger die Zahlung restlicher Weihnachts- 267 gratifikationen für die Jahre 2007 bis 2010 geltend gemacht. Der zuletzt geltende Arbeitsvertrag vom 5.12.2005 regelte unter „Vergütung“ den Anspruch des Klägers auf eine Weihnachtsgratifikation in einer „vom Arbeitgeber jeweils pro Jahr festgelegten Höhe“, die gemeinsam mit dem Novembergehalt im jeweiligen Jahr ausbezahlt und bei einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers vor dem 31.3. des Folgejahres zurückgezahlt werden sollte. 2001 bis 2010 erhielt der Kläger Weihnachtsgratifikationen unterschiedlicher Höhe. Der Kläger verlangt Zahlung von Weihnachtsgeld in Anlehnung an tarifliche Vorschriften der Metallbranche, da die arbeitsvertragliche Regelung unwirksam sei. Die Instanzgerichte hatten die Klage bereits abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte ebenfalls keinen Erfolg. Entgegen seiner Be- 268 wertung könne sich der Kläger – so das BAG – nicht auf tarifliche Vorschriften stützen, da die arbeitsvertragliche Regelung zur Weihnachtsgratifikation wirksam sei. Die Regelung enthalte keinen Freiwilligkeitsvorbehalt, sondern begründe einen Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Weihnachtsgratifikation von vornherein (lediglich) in der vom Arbeitgeber nach billigem Ermessen gem. § 315 Abs. 1 BGB festzulegenden Höhe. Bei unterlassener oder verzögerter Leistungsbestimmung könne eine Festsetzung durch das Gericht nach § 315 Abs. 3 BGB vorgenommen werden. Auch im Übrigen ist vor diesem Hintergrund eine derartige Gestaltung nach 269 der Bewertung des BAG nicht zu beanstanden. Sie enthalte zunächst keinen unzulässigen Änderungsvorbehalt i. S. d. § 308 270 Nr. 4 BGB. Denn einseitige Leistungsbestimmungsrechte fielen nicht unter diese Vorschrift, wenn sie sich darauf beschränkten, dem Verwender – wie hier – die erstmalige Festlegung seiner Leistung zu ermöglichen. Auch ein Verstoß gegen das Transparenzgebot (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) 271 liege nicht vor. Zwar enthalte die Regelung keine Maßstäbe, nach denen die
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Beklagte ihre Entscheidung zu treffen habe. Das Leistungsbestimmungsrecht betreffe jedoch lediglich eine – der Höhe nach unbestimmte – Zusatzleistung. Da der Arbeitgeber auch berechtigt gewesen wäre, eine solche Leistung jeweils mit einem Freiwilligkeitsvorbehalt zu verbinden und dadurch einen Rechtsanspruch für die Zukunft auszuschließen – dies hält das BAG explizit für zulässig –, ist hier nach Ansicht des BAG keine andere Bewertung gerechtfertigt. 272 Die vertragliche Vereinbarung sei auch nicht nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam, weil sie den Kläger unangemessen benachteilige. Das Gesetz selbst lasse in § 315 BGB einseitige Leistungsbestimmungsrechte zu. Da die konkret in Rede stehende Regelung lediglich den Bestand des Arbeitsverhältnisses am 31.3. des Folgejahres voraussetze, löse sie auch nicht die Gefahr aus, dass der Arbeitgeber einerseits die leistungssteuernde Wirkung eines vertraglichen Versprechens für die Zukunft in Anspruch nehme, andererseits aber die Entscheidung über den Eintritt der Bedingung allein von seinem Willen abhängig mache. Praxistipp: Die Entscheidung überzeugt. Mit Blick auf die Unsicherheiten der Zulässigkeit und zulässigen Reichweite von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalten sollte ggf. darüber nachgedacht werden, alternativ – wie hier – eine betragslose Zusage nach billigem Ermessen zu verwenden. Anders als beim (wirksamen) Freiwilligkeitsvorbehalt, bei dem keine Bindung für die Zukunft entsteht, muss hier aber stets begründet werden, warum die konkret gewährte Weihnachtsgratifikation billigem Ermessen entspricht. Gerade in Krise und Insolvenz kann sich diese Gestaltung aber als sinnvoll erweisen, weil dann in aller Regel eine erhebliche Reduzierung (bis auf Null) der Billigkeit entsprechen kann.
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung 1. Maßnahmen zur Absicherung von Ansprüchen auf Leistungen aus betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen für den Fall der Arbeitgeberinsolvenz 273 Die Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (RL 2008/94/EG) soll die Zahlung der Löhne an Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers gewährleisten. Daher verpflichtet sie die Mitgliedstaaten zur Schaffung von Garantieeinrichtungen und regelt die Modalitäten für den Fall der Zahlungsunfähigkeit von grenzübergreifend tätigen Arbeitgebern. In seinem Urteil vom 25.4.2013 – C-398/11, BetrAV 2013, 357
hat der EuGH den Umfang dieser Verpflichtung konkretisiert.
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IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung
a) Vorgaben der Richtlinie Die Entscheidung erging in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 274 AEUV des High Court (Irland) und betraf die Auslegung der Art. 1 und 8 der RL 2008/94/EG. Nach Art. 1 Abs. 1 RL 2008/94/EG gilt diese für Ansprüche von Arbeitnehmern aus Arbeitsverträgen oder Arbeitsverhältnissen gegen Arbeitgeber, die zahlungsunfähig i. S. d. Art. 2 Abs. 1 RL 2008/94/EG sind. Nach dem Wortlaut von Art. 8 RL 2008/94/EG vergewissern sich die Mitgliedstaaten, dass die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Arbeitnehmer sowie der Personen, die zum Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aus dessen Unternehmen oder Betrieb bereits ausgeschieden sind, hinsichtlich ihrer erworbenen Rechte oder Anwartschaftsrechte auf Leistungen bei Alter, einschließlich Leistungen für Hinterbliebene, aus betrieblichen oder überbetrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen außerhalb der einzelstaatlichen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit getroffen werden. b) Gesetzliche und betriebliche Altersversorgung in Irland In Irland werden die Pay Related Social Insurance (entgeltbezogene Sozial- 275 versicherung) genannten Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zur gesetzlichen Rente durch den Staat in Form eines Sozialversicherungsfonds angelegt. Die gesetzliche Rente ist unabhängig von der Höhe des Arbeitsentgelts des Arbeitnehmers während seines Erwerbslebens. Neben der staatlichen Rente existieren – wie in Deutschland – häufig be- 276 triebliche Zusatzversorgungseinrichtungen (Pensionsfonds). Insolvenzgesichert sind sie zumeist durch Trusts, welche die durch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanzierten Aktiva treuhänderisch ausschließlich zu Gunsten der Mitglieder der betreffenden Einrichtung halten. Die Aktiva gehören dann nach irischem Recht nicht zum Vermögen des Arbeitgebers und dürfen nicht zur Befriedigung der Gläubiger im Fall von dessen Zahlungsunfähigkeit verwendet werden. Im Rahmen einer derart ausgestalteten Versorgungseinrichtung haben die Arbeitnehmer allerdings nur dann Anspruch auf eine Rente, wenn diese ausreichende Aktiva hält. Als Arbeitnehmerbeitrag wird ein fester Prozentsatz des Arbeitsentgelts an 277 den Pensionsfonds abgeführt, während die Arbeitgeber einen jährlichen Beitrag zahlen, um sicherzustellen, dass die Zusatzversorgungseinrichtung langfristig über genügend Aktiva zur Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten verfügt. Die Statuten der Pensionsfonds erlauben dem Arbeitgeber allerdings regelmäßig, die Zusatzversorgungseinrichtungen jederzeit zu schließen und liquidieren und dadurch seine Beitragspflicht zu beenden. Im Fall der Liquidation des Fonds, z. B. aufgrund einer entsprechenden Entscheidung des Arbeitgebers, aber auch bei Zahlungsunfähigkeit oder einem anderen Grund, erhalten die Arbeitnehmer einen Teil der Aktiva des Fonds.
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c) Sachverhalt des Ausgangsverfahrens 278 Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind zehn ehemalige Arbeitnehmer von Waterford Crystal mit Sitz in Irland. Für acht der Kläger des Ausgangsverfahrens war der Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand zwischen 2011 und 2013 vorgesehen, für zwei weitere 2019 und 2022. Sie waren im Rahmen ihres Beschäftigungsverhältnisses verpflichtet, einer der von ihrem Arbeitgeber gegründeten leistungsorientierten betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtungen (Waterford Crystal Limited Contributory Pension Scheme for Factory Employees bzw. Waterford Crystal Limited Contributory Pension Scheme for Staff) beizutreten. 279 Anfang 2009 wurde Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers festgestellt und ein Insolvenzverwalter bestellt. Die zugehörigen Zusatzversorgungseinrichtungen wurden am 31.3.2009 liquidiert, wobei sich die Gesamthöhe der Aktiva auf 130 Mio. Euro belief, die Passiva allerdings auf 240 Mio. Euro, sodass das Defizit ca. 110 Mio. Euro betrug. Der von den Klägern des Ausgangsverfahrens engagierte Aktuar berechnete, dass sie 18 bis 28 % der Beträge erhielten, auf die sie Anspruch gehabt hätten, wenn sie den aktuellen Wert ihrer Anwartschaftsrechte auf eine Altersversorgung erhalten hätten. Sie erhoben daher Klage und machten geltend, Irland habe in Anbetracht des Urteils des EuGH in der Rs. „Robins“, EuGH, v. 25.1.2007 – C-278/05, NZA 2007, 499.
280 Art. 8 RL 2008/94/EG nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Irland war aufgrund eigener aktuarischer Berechnungen der Ansicht, dass der Prozentsatz zwischen 16 und 41 % betrage und damit die vom EuGH in der Rs. „Robins“ für maßgeblich erklärte Grenze, nach der die Mitarbeiter mehr als 49 % erhalten müssen, nicht erreicht sei. Irland habe zudem sowohl vor als auch nach dem Urteil in der Rs. „Robins“ zahlreiche wichtige Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Mitglieder der beruflichen Zusatzversorgungseinrichtungen erlassen. d) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs 281 Die Art. 1, 8 RL 2008/94/EG betreffenden Vorlagefragen entschied der EuGH dahin, dass die RL 2008/94/EG dahin auszulegen sei, dass sie auf die Ansprüche ehemaliger Arbeitnehmer auf Leistungen bei Alter einer von ihrem Arbeitgeber eingerichteten betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtung Anwendung finde. Art. 8 RL 2008/94/EG sei dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob ein Mitgliedstaat die in diesem Artikel vorgesehene Verpflichtung erfüllt habe, die gesetzlichen Rentenleistungen nicht berücksichtigt werden dürften. Art. 8 RL 2008/94/EG sei ferner dahin auszulegen, dass es für seine Anwendung ausreiche, dass die betriebliche Zusatzversorgungseinrichtung seit dem Zeitpunkt des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers mit unzureichenden finanziellen Mitteln ausgestattet sei und dass der Arbeitgeber wegen seiner Zahlungsunfähigkeit nicht über die not68
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung
wendigen Mittel verfüge, um ausreichende Kapitalbeiträge an diese Versorgungseinrichtung mit dem Ziel zu entrichten, die den Mitgliedern geschuldeten Leistungen vollständig zu erfüllen. Es sei nicht erforderlich, dass die Mitglieder das Vorliegen anderer Faktoren darlegten, auf denen der Verlust ihrer Ansprüche auf Versorgungsleistungen im Alter beruhe. Die von Irland im Anschluss an das Urteil in der Rs. „Robins“ u. a. erlasse- 282 nen Maßnahmen genügten den Vorgaben der Richtlinie nicht. Dabei rechtfertige die Wirtschaftslage des betroffenen Mitgliedstaats kein geringeres Schutzniveau. Letztlich sei die Richtlinie 2008/94 dahin auszulegen, dass die Tatsache, dass die von Irland im Anschluss an das Urteil Robins u. a. erlassenen Maßnahmen nicht zu dem Ergebnis geführt hätten, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens mehr als 49 % des Werts ihrer erworbenen Rechte auf Leistungen bei Alter aus der betrieblichen Zusatzversorgungseinrichtung erhalten konnten. Dies sei als qualifizierter Verstoß gegen die Verpflichtungen des Mitgliedsstaats aus der Richtlinie zu bewerten. Praxistipp: Die Entscheidung ist lediglich unter dem Gesichtspunkt des europäischen Staatshaftungsrechts für die betriebliche Praxis wichtig. Ein entsprechender Anspruch setzt u. a. einen qualifizierten Verstoß gegen europäisches Recht voraus (Überblick über die Rechtsprechung bei Dörr, EuZW 2012, 86 ff.).
2. Garantien für Arbeitnehmeransprüche nicht in jeder Phase des Insolvenzverfahrens Ebenfalls mit dem Schutz des Arbeitnehmers im Falle der Insolvenz des Ar- 283 beitgebers hat sich der EuGH in seinem Urteil vom 18.4.2013 – C-247/12, NZA 2013, 609
beschäftigt, dem ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV des Varhoven administrativen sad (Bulgarien) zugrunde lag. Es betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers in der durch die Richtlinie 2002/74/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 (ABl. L 270, S. 10) geänderten Fassung. Im Ausgangsrechtsstreit hatte sich der Direktor na fond „Garantirani vzemania 284 na rabotnitsite i sluzhitelite“ kam Natsionalnia osiguritelen institut (Direktor des Fonds „Garantierte Ansprüche der Arbeitnehmer“ beim Nationalen Versicherungsinstitut) geweigert, Ansprüche der Kläger des Ausgangsverfahrens (u. a. Frau Meliha Veli Mustafa) gegen ihren insolventen Arbeitgeber zu befriedigen. Die Kläger des Ausgangsverfahrens war von Juni 2006 bis April 2011 unun- 285 terbrochen arbeitsvertraglich bei der Orfey – Kardzhali EOOD (Orfey) beschäftigt. Mit Urteil vom 25.2.2010 erklärte der Okrazhen sad Kardzhali (AG 69
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Kardschali) Orfey mit Wirkung vom 22.7.2009 für zahlungsunfähig, eröffnete ein Insolvenzverfahren, ordnete die Fortsetzung ihrer Tätigkeit an, bestellte einen vorläufigen Insolvenzverwalter und bestimmte den Termin der ersten Gläubigerversammlung. Das Urteil wurde am 2.3.2010 in das Handelsregister eingetragen. Mit Urteil vom 13.5.2011 erklärte das AG Kardschali Orfey schließlich für insolvent; es ordnete die Beendigung der geschäftlichen Tätigkeit und die Verwertung sowie Verteilung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens an. Dieses Urteil wurde am 20.5.2011 in das Handelsregister eingetragen. 286 Die Klägerin hatte unstreitig einen nicht befriedigten Anspruch auf Bruttoarbeitsentgelt für April 2011 sowie einen ebenfalls nach dem 2.3.2010 entstandenen, nicht befriedigten Urlaubsabgeltungsanspruch gegen Orfey. Ihrem am 16.6.2011 gestellten Antrag auf Befriedigung dieser Ansprüche beim Garantiefonds lehnte dessen Direktor mit der Begründung ab, dass er nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von 30 Tagen ab dem Tag der Eintragung des Urteils über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in das Handelsregister gestellt worden und der geltend gemachte Anspruch nach dieser Eintragung entstanden sei. Der Garantiefonds decke aber nur die nicht gezahlten Arbeitsentgelte und Urlaubsabgeltungsansprüche ab, die in den letzten sechs Kalendermonaten vor dem Monat entstanden seien, in dem das Urteil über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in das Handelsregister eingetragen worden sei. Die hiergegen gerichtete Klage hatte erstinstanzlich mit der vom Direktor gegebenen Begründung keinen Erfolg. 287 Das Berufungsgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob die Garantie diejenigen Ansprüche eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber erfassen müsse, die nach Eintragung des Urteils über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen Zahlungsunfähigkeit in das Handelsregister entstehen, aber bevor Eintragung des Urteils, mit dem die Insolvenz festgestellt und die Verwertung angeordnet wird, in das Handelsregister. Unter Hinweis darauf, dass das bulgarische Recht eine Garantie nur für die Ansprüche der Arbeitnehmer vorsehe, die vor dem Tag der Eintragung des erstgenannten dieser beiden Urteile in das Handelsregister entstanden seien, äußert das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen nationalen Regelung mit der Richtlinie 80/987/EWG, da mit diesem Urteil noch nicht die „Insolvenz“ erklärt und die Beendigung der Tätigkeit des Arbeitgebers herbeigeführt werde. 288 Der EuGH teilte diese Zweifel nicht und entschied, dass die Richtlinie dahin auszulegen sei, dass sie die Mitgliedstaaten nicht verpflichte, Garantien für die Ansprüche der Arbeitnehmer in jedem Abschnitt des Insolvenzverfahrens über ihren Arbeitgeber vorzusehen. Die Mitgliedstaaten könnten eine Garantie nur für diejenigen Ansprüche der Arbeitnehmer vorsehen, die vor der Eintragung des Urteils über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in das Handelsregister entstanden seien, auch wenn mit diesem Urteil nicht die Beendigung der Tätigkeit des Arbeitgebers angeordnet werde. 70
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung Praxistipp: Diese Feststellungen wird man bei der Auslegung der Vorgaben zur Insolvenzsicherung nach § 8a AltTZG und § 7e SGB IV berücksichtigen müssen.
3. Insolvenzsicherung bei Altersteilzeit im Blockmodell Das Altersteilzeitgesetz (AltTZG) bezweckt einen vereinfachten, vorzeitigen, 289 gleitenden Übergang in den Ruhestand, den es ursprünglich für beide Vertragsparteien durch Subventionierung seitens der Bundesagentur für Arbeit (Erstattung der Aufstockungsbeträge und höheren Rentenversicherungsbeiträgen) attraktiv machen wollte. a) Ablauf der Förderungsdauer Zum 31.12.2009 ist diese Förderung allerdings ausgelaufen, d. h. seit dem 290 1.1.2010 kommt eine Subventionierung nur noch in Betracht, wenn es sich um Altfälle handelt, die mit der Altersteilzeit noch unter Geltung des AltTZG begonnen haben (§ 16 AltTZG). Auch über 2009 hinaus ist es zwar bei der steuerlichen Begünstigung der Aufstockungsbeträge und höheren Rentenversicherungsbeiträgen geblieben. Dennoch gewinnen vor dem Hintergrund des Förderungsendes mittlerweile andere Arbeitszeitmodelle (insbesondere Langzeitkonten) in der betrieblichen Praxis an Bedeutung. Vgl. dazu z. B. Hanau, NZA 2009, 225.
b) Bedeutung einer Insolvenz für das Blockmodell Gesetzliches Leitbild des AltTZG ist eine kontinuierliche Reduzierung der 291 Arbeitszeit, d. h. der Arbeitnehmer arbeitet zwar weiterhin bis zum Rentenbeginn, reduziert aber ab einem bestimmten Zeitpunkt seine Arbeitszeit. In der Praxis durchgesetzt hat sich indessen das sog. Blockmodell. Dabei wird eine ungleichmäßige Arbeitszeitverteilung vereinbart, die aus Arbeitsphase und Freistellungsphase besteht. Da der Arbeitnehmer in der Arbeitsphase voll arbeitet, d. h. vorleistet, aber nur eine entsprechend seiner Gesamtarbeitsleistung (Arbeits- und Freistellungsphase) reduzierte Vergütung erhält, stellt sich für Arbeitnehmer bei dem Abschluss einer entsprechenden Altersteilzeitvereinbarung auch die Frage, wie das durch Vorleistung erdiente Guthaben gegen eine Insolvenz abgesichert werden kann. Denn das während der Freistellungsphase zu zahlende Entgelt stellt die Gegenleistung für die während der Arbeitsphase über die verringerte Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeit dar. BAG, v. 4.10.2005 – 9 AZR 449/04, NZA 2006, 506; zur entsprechenden Bildung von Rückstellungen BFH, v. 30.11.2005 – I R 110/04, BB 2006, 765.
Für die insolvenzrechtliche Behandlung seiner Vergütungsansprüche kommt 292 es nach der Rechtsprechung des BAG daher darauf an, wann er die Arbeits-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
leistung erbracht hat: War dies vor der Insolvenzeröffnung der Fall und hat er nach diesem Zeitpunkt keine Arbeitsleistungen mehr zu erbringen, ist sein (zeitlich verlagerter) Entgeltanspruch einfache Insolvenzforderung. BAG, 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408; BAG, v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; BAG, v. 23.2.2005 – 10 AZR 600/03, AP Nr 1 zu § 108 InsO; Zwanziger, § 108 InsO Rn. 33; a. A. Oberhofer/Wroblewski, ZInsO 2005, 695. Praxistipp: Dies gilt auch, wenn das Altersteilzeitarbeitsverhältnis nach Insolvenzeröffnung einvernehmlich beendet und rückabgewickelt wird (BAG, v. 23.2.2005 – 10 AZR 672/03, DB 2005, 1227).
293 Wird die Insolvenz während die Arbeitsphase eröffnet und setzt der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung fort, ist die in der anschließenden Freistellungsphase zu leistende Vergütung spiegelbildlich zu der nach der Insolvenzeröffnung erbrachten Arbeitsleistung Masseforderung BAG, v. 23.2.2005 – 10 AZR 602/03, ZIP 2005, 873 = NZA 2005, 694, dazu EWiR 2005, 473 (Lindemann).
294 Entsprechendes gilt für die Einordnung als Neumasseverbindlichkeit nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit BAG v. 23.2.2005 – 10 AZR 602/03, ZIP 2005, 873 = NZA 2005, 694.
295 Diese Differenzierung gilt auch für etwaige Aufstockungsbeträge, da sie ebenfalls Gegenleistung für die frühere Arbeitsleistung sind BAG, v. 19.10.2004 – 9 AZR 645/03, NZA 2005, 527; a. A. Hanau, ZIP 2002, 2028, 2031.
aa) Insolvenzsicherungspflicht nach § 8a AltTZG 296 Zur Absicherung gegen das Insolvenzrisiko für das erarbeitete Wertguthaben greift seit dem 1.7.2004 die Insolvenzsicherungspflicht nach § 8a AltTZG. § 7e SGB IV gilt insoweit nicht. Voraussetzung ist nach § 8a AltTZG, dass eine Altersteilzeitvereinbarung nach § 2 Abs. 2 AltTZG zu einem Wertguthaben führt, das den Betrag des Dreifachen des Regelarbeitsentgelts nach § 6 Abs. 1 AltTZG einschließlich des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag übersteigt. Dieses Wertguthaben darf nicht mit bereits gezahlten Aufstockungsbeiträgen verrechnet werden. Anderes gilt nur bei der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Vgl. LAG Hamm, v. 12.12.2007 – 3 Sa 1468/07, NZA-RR 2008, 462.
297 Statt geeignete Sicherungsmittel abschließend zu benennen, werden in § 8a Abs. 1 Satz 2 AltTZG lediglich bestimmte, als untauglich qualifizierte Mittel 72
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung
(bilanzierte Rückstellungen und Einstandspflichten zwischen Konzernunternehmen) ausgeschlossen. Zum Sonderfall der Besicherung nach § 303 AktG vgl. OLG Zweibrücken, v. 8.1.2004 – 4 U 70/03, NZA-RR 2004, 428.
Die Insolvenzsicherung beginnt mit der ersten Gutschrift, also am Ende des 298 ersten Monats der Arbeitsphase. Sie umfasst nur das Wertguthaben einschließlich des Sozialversicherungsanteils, nicht jedoch die Aufstockungsbeträge sowie den zusätzlichen Rentenversicherungsbeitrag auf das Wertguthaben. Bei einer Sicherung des Wertguthabens in Form der sog doppelseitigen Treu- 299 hand fallen die hinterlegten Beträge bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens in die Insolvenzmasse und es besteht für den Arbeitnehmer ein Absonderungsrecht nach § 51 InsO. a. A. LAG Berlin-Brandenburg, v. 27.10.2011 – 5 Sa 1310/11, NZA-RR 2012, 311; dazu näher Rn. 316 ff.
Nach § 8a Abs. 3 AltTZG muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer begin- 300 nend mit der ersten Gutschrift in halbjährlichem Abstand die von ihm zur Sicherung des Wertguthabens ergriffenen Maßnahmen in Textform (§ 126b BGB) nachweisen. Praxistipp: Um den Arbeitgeber verwaltungsmäßig zu entlasten, können die Betriebsparteien eine andere gleichwertige Nachweisform vereinbaren.
bb) Verstoß des Arbeitgebers gegen die Insolvenzsicherungspflicht Sanktioniert wird ein Verstoß des Arbeitgebers nach § 8a Abs. 4 AltTZG 301 durch den dann eingreifenden Anspruch des Arbeitnehmers auf Sicherheitsleistung durch Stellung eines tauglichen Bürgen oder Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren nach Wahl des Arbeitnehmers. Praxistipp: Eine weitergehende persönliche deliktische Haftung der GmbH-Geschäftsführer scheitert daran, dass § 8a AltTZG insoweit nicht als Schutzgesetz wirkt (BAG, v. 23.2.2010 – 9 AZR 44/09, ZIP 2010, 1361 = NZA 2010, 1418, dazu EWiR 2010, 595 (Matthießen); a. A. Zwanziger, § 108 InsO Rn. 271).
Die Verpflichtung zur Insolvenzsicherung ist gem. § 8a Abs. 5 AltTZG zwin- 302 gend. Abweichende Vereinbarungen sind zum Nachteil des Arbeitnehmers nicht möglich. Praxistipp: Das gilt auch für Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
303 Ausgenommen hiervon sind Bund, Länder, Gemeinden und die übrigen öffentlichen Arbeitgeber, über deren Vermögen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht zulässig ist. cc) Anspruch auf Sicherheitsleistung gegen die Insolvenzmasse bei unterbliebener Insolvenzsicherung? 304 Unterlässt der Arbeitgeber die Insolvenzsicherung pflichtwidrig und wirkt der Arbeitnehmer nicht durch Nachweisverlangen etc. rechtzeitig vor Insolvenzeröffnung auf eine Sicherung hin, ist der Insolvenzverwalter, wie das BAG in seinem Urteil vom 15.1.2013 – 9 AZR 448/11, ZIP 2013, 900 = ZInsO 2013, 680
zu Recht klargestellt hat, jedenfalls dann nicht verpflichtet, bezüglich des während der Arbeitsphase der Altersteilzeit aufgebauten Wertguthabens des Arbeitnehmers und des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag Sicherheit zu leisten, wenn der Arbeitnehmer nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Arbeitsleistungen mehr erbringt. 305 Ein derartiger Anspruch des Arbeitnehmers folge nicht aus § 8a Abs. 4 Satz 1 AltTZG. Denn danach könne der Arbeitnehmer nur verlangen, dass Sicherheit in Höhe des bestehenden Wertguthabens geleistet wird, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die zur Sicherung des Wertguthabens ergriffenen Maßnahmen nicht gem. § 8a Abs. 3 Satz 1 AltTZG nachweist oder die nachgewiesenen Maßnahmen nicht geeignet sind und der Arbeitgeber auf schriftliche Aufforderung des Arbeitnehmers nicht innerhalb eines Monats eine geeignete Insolvenzsicherung des bestehenden Wertguthabens nachweist. Damit beschränke § 8a Abs. 4 Satz 1 AltTZG den Sicherungsanspruch jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Arbeitsleistungen mehr erbringe, auf die Zeit vor der Insolvenzeröffnung. 306 Diese zeitliche Beschränkung des Anspruchs auf Insolvenzsicherung ergibt sich nach den Feststellungen des BAG schon aus dem Wortlaut des § 8a Abs. 4 Satz 1 AltTZG. Die Vorschrift spricht vom „Arbeitgeber" und seiner Verpflichtung zum Nachweis einer geeigneten „Insolvenzsicherung". Der Umstand, dass der Insolvenzverwalter mit der Insolvenzeröffnung aufgrund des Übergangs der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 80 Abs. 1 InsO) grundsätzlich in die Arbeitgeberstellung der nach § 108 Abs. 1 Satz 1 InsO fortbestehenden Arbeitsverhältnisse einrücke, vgl. BAG, v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, BAGE 129, 257 = ZIP 2009, 984 m. w. N., dazu EWiR 2009, 615 (Hertzfeld/Höher),
zwinge aber nicht zur Annahme, dass er ebenso wie der Arbeitgeber auch gem. § 8a Abs. 1 Satz 1 AltTZG verpflichtet sei, das Wertguthaben einschließ-
74
IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung
lich des darauf entfallenden Arbeitgeberanteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag gegen das Risiko „seiner" Zahlungsunfähigkeit abzusichern. Der 9. Senat begründet dies unter Hinweis auf den Wortlaut, praktische Über- 307 legungen sowie den Sinn und Zweck des § 8 AltTZG und ergänzt das so gefundene Ergebnis durch insolvenzrechtliche Kontrollüberlegungen: Die Absicherung gegen ein Risiko, das sich bereits verwirklicht hat, wider- 308 spreche zunächst einmal bereits allgemeinem Sprachverständnis. Hinzu komme (entscheidend), dass eine Absicherung mit Insolvenzeröffnung praktisch unmöglich werde (§ 275 BGB): Es bestehe kein bloßes Risiko mehr; die Gefahr habe sich vielmehr bereits verwirklicht. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens stelle insofern eine Zäsur dar. Der Normzweck bestätige dieses Auslegungsergebnis. Die Regelungen in § 8a AltTZG dienten ausschließlich dazu, dass die Entgeltansprüche des Arbeitnehmers für die von ihm im Blockmodell der Altersteilzeit erbrachten Vorleistungen auch im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers gesichert seien. Dieses Ergebnis wird durch folgende vom 9. Senat vorgenommene insol- 309 venzrechtliche Kontrollüberlegung bestätigt: Bei einer unterbliebenen Absicherung oder einer inkongruenten Sicherung i. S. d. § 131 Abs. 1 InsO fehle für eine Besserstellung von Arbeitnehmern mit Wertguthaben aus der Arbeitsphase der Altersteilzeit gegenüber anderen Insolvenzgläubigern eine gesetzliche Grundlage. Denn der Gesetzgeber der InsO habe davon abgesehen, diese Arbeitnehmer insolvenzrechtlich anders als die übrigen Gläubiger zu behandeln. Er habe die InsO weder um ein entsprechendes Arbeitnehmerprivileg ergänzt noch auf Arbeitnehmer mit Wertguthaben bezogene Anfechtungsschranken in §§ 129 ff. InsO normiert. Entsprechende Sonderregeln will der Senat – zutreffend und abweichend von 310 einer in der Literatur vertretenen Auffassung, Zwanziger, § 108 InsO Rn. 273 –
auch nicht aufgrund von wertenden Überlegungen in die InsO hineinlesen: Dass Arbeitnehmer mit dem Unternehmen nicht selten besonders verbunden sind und am Wert des Unternehmens möglicherweise anders teilhaben als andere Gläubiger, rechtfertige es – wie der Senat explizit klarstellt – noch nicht, den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung (§ 1 InsO), dessen Vorverlagerung die Anfechtungsvorschriften bezwecken, außer Acht zu lassen. Die Erwägung, „es entspreche der gesetzgeberischen Intention, den Arbeitnehmer, der durch die Arbeitszeitgestaltung Arbeitsentgelt kreditiere, gegenüber anderen Insolvenzgläubigern besserzustellen“, trage nicht. Bei Anwendung der damit unmodifiziert anwendbaren, allgemeinen Anfech- 311 tungsregeln hätte der Insolvenzverwalter damit eine vom Arbeitgeber im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens von sich aus gem. § 8a Abs. 1 Satz 1 AltTZG vorgenommene Insolvenzsicherung gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO aufgrund inkongruenter Deckung anfechten 75
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
können. Denn eine inkongruente Deckung liegt u. a. dann vor, wenn der Anspruch auf Sicherung nicht ausreichend bestimmt ist. vgl. Kirchhof, in: MünchKommInsO, § 131 Rn. 39; Nerlich/Römermann-Nerlich, InsO, 08/2012, § 131 Rn. 39, beide m. w. N.
312 Dass gem. § 8a AltTZG eine Pflicht zur Insolvenzsicherung besteht, ändert daran nach den Feststellungen des BAG nichts. Denn die Art und Weise der Sicherung sei in § 8a Abs. 1 AltTZG – wie der Senat unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien klarstellt, vgl. BT-Drucks. 15/1515, S. 134,
bewusst weitgehend offengelassen worden. 313 Verletzt der Arbeitnehmer – wie der Kläger im entschiedenen Fall – seine Obliegenheit, vom Arbeitgeber einen Nachweis der Insolvenzsicherung zu verlangen, und erfüllt der Arbeitgeber (auch deshalb) seine Verpflichtung zur Insolvenzsicherung nicht, führt dies nicht dazu, dass der Arbeitnehmer insolvenzrechtlich besserzustellen ist, als er stünde, wenn der Arbeitgeber im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch eine Insolvenzsicherung eingerichtet hätte. Dies wäre – so das BAG – „mit dem das Insolvenzrecht beherrschenden Grundsatz, dass im Insolvenzverfahren alle Gläubiger gleichmäßig befriedigt werden sollen […], nicht vereinbar“. 314 Die nach § 8a Abs. 1 i. V. m. Abs. 4 AltTZG zu sichernden Entgeltansprüche aus der Arbeitsphase der Altersteilzeit sind daher – in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des 9. Senats –, vgl. bereits BAG, v. 19.10.2004 – 9 AZR 647/03, ZIP 2005, 457 = NZA 2005, 408 m. w. N.,
nur Insolvenzforderungen, wenn – wie im entschiedenen Fall – das Insolvenzverfahren während der Freistellungsphase eröffnet wurde. Denn würde dem Arbeitnehmer für diese Entgeltansprüche nach der Insolvenzeröffnung eine Sicherheitsleistung zugesprochen, die aus der Insolvenzmasse finanziert werden müsste, würde die insolvenzrechtliche Einordnung der Ansprüche ohne jede gesetzliche Grundlage faktisch aufgehoben. 315 Die Entscheidung des BAG überzeugt im Ergebnis und in der Begründung. 4. Sicherung von Altersteilzeitansprüchen durch doppelstöckige Treuhand 316 Wichtige Klarstellungen zur Absicherung eines Altersteilzeitguthabens durch Vereinbarung einer sog. Doppeltreuhand hat das BAG in seinem Urteil vom 18.7.2013 getroffen. BAG, v. 18.7.2013 – 6 AZR 47/12, ZIP 2013, 2025.
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IV. Pflicht zur Insolvenzsicherung
a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Die Parteien stritten im entschiedenen Fall über die Massezugehörigkeit und 317 eine gesonderte Befriedigung von Ansprüchen auf Vermögen zur Insolvenzsicherung von Altersteilzeitguthaben. Die Muttergesellschaft der späteren Schuldnerin hatte mit einem Treuhänder 2003 zunächst eine Rahmenvereinbarung abgeschlossen, auf deren Basis die Rückdeckung der Zahlungsverpflichtung durch Investmentkonten erfolgte. Zur Umsetzung wurde ein Treuhandvertrag abgeschlossen, nach dem im Insolvenzfall der jeweilige Mitarbeiter wirtschaftlich Berechtigter der vom Treuhänder verwahrten Gelder ist. Ende 2005 vereinbarte die Klägerin mit ihrem Arbeitgeber, der späteren Insolvenzschuldnerin, ein Altersteilzeitverhältnis im Blockmodell. Der Beklagte wurde 2010 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin bestellt. Die Klägerin verlangte die Feststellung, der beim Treuhänder hinterlegte Be- 318 trag gehöre nicht zur Masse. Ergänzend stellte sie den Hilfsantrag, den Beklagten zu verurteilen, es zu unterlassen, hinsichtlich des beim Treuhänder bestehenden Investmentkontos eine nicht durch Absonderungsrecht belastete Massezugehörigkeit zu reklamieren oder sich eines Verwertungsrechtes nach § 166 Abs. 2 InsO zu berühmen, soweit das Kontoguthaben zur Sicherung des Altersteilzeitguthabens der Klägerin benötigt wird. b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts und wesentliche Überlegungen Das BAG hält die Revision des Insolvenzverwalters zwar für begründet, ver- 319 urteilt ihm aber im Hilfsantrag. Der Hauptantrag sei zwar unbegründet. Das bei dem Treuhänder geführte 320 Konto gehöre zur Insolvenzmasse. Dem Treuhänder stehe insoweit aber ein Absonderungsrecht nach § 51 Nr. 1 InsO zu. Da der Beklagte dennoch eine unbelastete Massezugehörigkeit reklamiere und ein Verwertungsrecht nach § 166 Abs. 2 InsO beanspruche, sei der Hilfsantrag begründet. Dabei stellt der Senat zunächst klar, dass dem Treuhänder ein Aussonde- 321 rungsrecht bzgl. der Investmentkonten nicht zusteht. Die echte Treuhand sei durch eine schuldrechtliche Komponente, die Treuhandabrede, und eine „quasidingliche“ Komponente, die Verlagerung der Rechte an einem Gegenstand auf den Treuhänder und dem Anvertrauen dieses Gegenstandes unter gleichzeitiger Separierung vom Vermögen des Treuhänders, gekennzeichnet. Aufgrund der Treuhandabrede sei dem Treuhänder ein Vermögenswert rechtlich zugeordnet, der wirtschaftlich und sachlich aufgrund der im Treuhandvertrag geregelten Beschränkung der Rechtsmacht des Treuhänders dem Treugeber zuzuordnen sei (Verwaltungstreuhand). Bei Insolvenz des Treugebers falle das Treugut daher auch im Fall einer ergänzenden echten Sicherungstreuhand in die Masse.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
322 Zur Absicherung Dritter (der Arbeitnehmer) könne aber eine sog. Doppeltreuhand begründet werden, die aus einer Kombination von Verwaltungsund Sicherungstreuhand bestehe. Es entstehe ein Drei-Personen-Verhältnis, bei dem der Drittbegünstigte (Arbeitnehmer) eine Forderung gegen den Sicherungsgeber habe, sodass der Treuhänder auch Sicherungsgeber im Drittinteresse sei. Dies sei mit der Sicherungsabrede im Rahmen der Sicherungsübereignung vergleichbar, bei der bei Insolvenz des Treugebers kein Aussonderungs-, sondern nur ein Absonderungsrecht i. S. d. § 51 Nr. 1 InsO bestehe. Damit stehe der Klägerin kein Aussonderungsrecht zu. Der Hauptantrag sei unbegründet. 323 Aber der Hilfsantrag sei nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB begründet. Dem Treuhänder stehe in Höhe der Sicherung des Altersteilzeitguthabens der Klägerin ein Absonderungsrecht gem. § 51 Nr. 1 InsO an dem Guthaben auf dem Investmentkonto zu. Denn die Sicherungstreuhand sei nicht nach §§ 115, 116 InsO erloschen. Verwaltungs- und Sicherungstreuhand seien selbständige Rechtsgeschäfte. Die Sicherungstreuhand sei nicht als Auftrag oder Geschäftsbesorgungsvertrag zu qualifizieren, sondern als Vertrag sui generis, der nicht unter §§ 115 f. InsO falle und vom Erlöschen der Verwaltungstreuhand unberührt bleibe. 324 Die vereinbarte Sicherung binde auch den Insolvenzverwalter und könne von ihm nur durch eine Insolvenzanfechtung rückgängig gemacht werden, deren Voraussetzungen vorliegend aber nicht erfüllt seien. 325 Auch ein Verwertungsrecht nach § 166 Abs. 2 InsO bestehe nicht. Dies folge im Umkehrschluss aus § 173 Abs. 1 InsO und dem Umstand, dass das Verwertungsrecht des Verwalters gem. § 166 Abs. 2 InsO aus Zweckmäßigkeitsgründen geschaffen worden sei, die auf die vorliegende treuhänderische Verwaltung von Fondsanteilen nicht zuträfen. c) Bewertung und Bedeutung für die Praxis 326 Treuhandkonstruktionen (sog. Contractual Trust Arrangements – CTA) zur privatrechtlichen Insolvenzsicherung von Versorgungs- oder Altersteilzeitguthabenansprüchen werden häufig gewählt, da aufgrund der mit ihnen verbundenen bilanziellen Auslagerung einerseits die Bilanz verkürzt werden kann und andererseits eine weitgehende Kapitalanlagefreiheit besteht. Für die Praxis beseitigt das Urteil in Übereinstimmung mit der Intention des Gesetzgebers, der eine Doppeltreuhand ausdrücklich als Insolvenzsicherungsmodell befürwortet hatte, die bislang bestehenden Restunsicherheiten bezüglich der Insolvenzfestigkeit. 327 Die Praxis muss bei der Implementierung von CTA-Modellen zur Insolvenzsicherung unter Berücksichtigung der Feststellung des BAG besondere Sorgfalt auf die klare vertragstechnische Trennung von Verwaltungs- und Sicherungstreuhand verwenden. Ferner sollte die Drittbegünstigung der Arbeitnehmer unmittelbar im Vertrag festgelegt werden. Sinnvoll erscheint, die 78
V. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern
von der Verwaltungstreuhand klar abzugrenzende Sicherungstreuhand ausdrücklich als echten Vertrag zugunsten Dritter i. S. d. § 328 BGB zu bezeichnen. Auch insoweit bringt die Entscheidung für die Gestaltungspraxis wichtige Klarstellungen. Denn es hätte die Praxistauglichkeit von CTAModellen nicht unerheblich eingeschränkt, wenn das BAG für deren Wirksamkeit eine Beteiligung der begünstigten Arbeitnehmer gefordert hätte. V. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern 1. Gleiches Arbeitsentgelt für Leiharbeitnehmer Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) verpflichtet den Verleiher in 328 § 10 Abs. 4 Satz 1, dem Leiharbeitnehmer das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, das der Entleiher vergleichbaren Stammarbeitnehmern gewährt („Equal Pay“). Von diesem Gebot der Gleichbehandlung erlaubt das AÜG in §§ 3 Abs. 1 Nr. 3, 9 Nr. 2, 10 Abs. 4 Satz 2, 3 ein Abweichen durch Tarifvertrag, wobei nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen arbeitsvertraglich vereinbaren können. a) Klarstellungen des Bundesarbeitsgerichts zum Equal-Pay-Anspruch Tarifverträge, die für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt vorse- 329 hen, als es vergleichbare Stammarbeitnehmer des Entleihers erhalten, hat u. a. die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) mit Arbeitgeberverbänden der Leiharbeitsbranche geschlossen. Nachdem der 1. Senat des BAG in seinem Beschluss vom 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289.
festgestellt hatte, dass die CGZP nicht tariffähig ist, haben bundesweit zahlreiche Leiharbeitnehmer auf Nachzahlung der Differenz zwischen der von ihren Arbeitgebern gewährten Vergütung und der eines vergleichbaren Stammarbeitnehmers geklagt. In fünf dieser Verfahren hat der 5. Senat des in seinen Urteilen vom 13.3.2013 – 5 AZR 954/11, ZIP 2013, 1243 = NZA 2013, 680, dazu EWiR 2013, 401 (Rolfs); – 5 AZR 146/12, NZA 2013, 782; – 5 AZR 242/12, BB 2013, 755 (Kurzwiedergabe); – 5 AZR 294/12, NZA 2013, 1226; – 5 AZR 424/12, ZIP 2013, 1392 = NZA 2013, 785, dazu EWiR 2013, 571 (Greiner/Strippelmann)
wichtige Klarstellungen getroffen. Dabei ist er von folgenden Grundsätzen ausgegangen: x
Die CGZP konnte keine wirksamen Tarifverträge schließen. Leiharbeitnehmer, in deren Arbeitsverträgen auf die von der CGZP abgeschlossenen „Tarifverträge“ Bezug genommen ist, haben nach § 10 Abs. 4 AÜG
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Anspruch auf das Arbeitsentgelt, das ein vergleichbarer Stammarbeitnehmer des Entleihers erhalten hat. x
Etwaiges Vertrauen der Verleiher in die Tariffähigkeit der CGZP ist nicht geschützt.
x
Soweit in neueren Arbeitsverträgen neben oder anstelle einer Verweisung auf CGZP-Tarifverträge auf den mehrgliedrigen Tarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP), der CGZP und einer Reihe von christlichen Arbeitnehmervereinigungen vom 15.3.2010 Bezug genommen wird, ist eine solche Klausel intransparent und nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB unwirksam, wenn sich nicht ersehen lässt, welches der tariflichen Regelwerke bei sich widersprechenden Regelungen den Vorrang haben soll.
x
Der gesetzliche Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt nach § 10 Abs. 4 AÜG wird zu dem arbeitsvertraglich für die Vergütung vereinbarten Zeitpunkt fällig. Er unterliegt wirksam vereinbarten Ausschlussfristen. Insbesondere darf die Verfallfrist drei Monate nicht unterschreiten. Zur Verhinderung des Verfalls genügt eine Geltendmachung des gesetzlichen Anspruchs dem Grunde nach.
x
Der gesetzliche Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt nach § 10 Abs. 4 AÜG unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Leiharbeitnehmer Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen hat (§ 199 Abs. 1 BGB). Dafür reicht die Kenntnis des Leiharbeitnehmers von den Tatsachen. Auf seine rechtliche Beurteilung der Tariffähigkeit der CGZP kommt es nicht an.
x
Der Entgeltanspruch nach § 10 Abs. 4 AÜG besteht während der Dauer der Überlassung an ein entleihendes Unternehmen. Zu seiner Berechnung ist ein Gesamtvergleich aller Entgelte im Überlassungszeitraum anzustellen. Dabei bleibt Aufwendungsersatz außer Betracht, es sei denn, es handelt sich um „verschleiertes“ und damit steuerpflichtiges Arbeitsentgelt.
b) Begründung des Bundesarbeitsgerichts 330 Begründet hat das BAG seine Entscheidungen im Kern wie nachfolgend beispielhaft anhand der Entscheidung mit dem Az. 5 AZR 954/11 geschildert: 331 Die Klägerin begehrte darin mit am 11.3.2011 zugestellter Klage von der Beklagten, einem Zeitarbeitsunternehmen, gestützt auf den Equal-Pay-Grundsatz des § 10 Abs. 4 AÜG eine Differenzvergütung für den Zeitraum vom 15.6.2009 bis einschließlich Juni 2010. Nach dem Arbeitsvertrag bestimmen sich ihre Rechte und Pflichten nach den Tarifverträgen, die zwischen dem Arbeitgeberverband AMP und der Tarifgemeinschaft CGZP sowie fünf wei-
80
V. Besonderheiten bei Leiharbeitnehmern
teren dem CGB angehörenden Einzelgewerkschaften geschlossen worden sind. Der Arbeitsvertrag enthielt eine Klausel, nach der Ansprüche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, ausgeschlossen sind, wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegenüber der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. Die Klage war zunächst erfolgreich. Die Beklagte drang erst mit der Revision durch. Die Beklagte sei zwar – so das BAG – nach dem (grund- und unionsrechts- 332 konformen) § 10 Abs. 4 AÜG verpflichtet, der Klägerin für die Zeit der Überlassung das gleiche Arbeitsentgelt zu zahlen, wie es die Entleiherin ihren Stammarbeitnehmern gewähre. Das Gleichbehandlungsgebot (§ 10 Abs. 4 Satz 1, 4 AÜG) sei auch nicht nach § 10 Abs. 4 Satz 2 AÜG durch die in Bezug genommenen „Tarifverträge“ ausgeschlossen. Denn die von einer Gewerkschaft wie im Fall der CGZP trotz fehlender Tariffähigkeit abgeschlossenen „Tarifverträge“ seien von Anfang an unwirksam. Dies folge auch aus § 97 Abs. 5 ArbGG. Der Lehre vom fehlerhaften Tarifvertrag, begründet von HWK/Henssler, § 1 TVG Rn. 21a,
die eine ex-nunc-Unwirksamkeit annimmt, erteilte das BAG eine Absage. Es gehe in den Equal-Pay-Fällen nicht um die Rückabwicklung vollzogener Tarifverträge. Auch auf Vertrauensschutz könnten sich Arbeitgeber nicht berufen. Denn mit dem CGZP-Beschluss BAG, v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289,
sei keine Änderung der bisherigen Rechtsprechung erfolgt; zudem habe sich angesichts der andauernden Diskussion um die Tariffähigkeit kein schutzwürdiges Vertrauen bilden können. Ferner sei die Bezugnahme auf den mehrgliedrigen Tarifvertrag der CGZP intransparent, weil sie keine Kollisionsregelung für künftige Entwicklungen enthalte. Dies sei aber erforderlich. Der Arbeitnehmer müsse bei Vertragsschluss wissen, was auf ihn zukommt. 2. Folgen für die betriebliche Praxis Der 5. Senat schafft mit seinem Urteil klare Vorgaben für die Entscheidung 333 der Vielzahl von im Nachgang zum sog. „CGZP“-Beschluss des 1. Senats (BAG, v. 14.12.2010 – 1 ABR 19/10, NZA 2011, 289) erhobenen Equal-PayKlagen. Für die betriebliche Praxis besteht nun Gewissheit, dass Equal-PayKlagen – neben einer etwaig eingetretenen Verjährung – arbeitsvertragliche Ausschlussfristen entgegen gehalten werden können, sofern sie der AGBKontrolle standhalten. Die Ablehnung der Lehre vom fehlerhaften Tarifvertrag und der Gewährung 334 von Vertrauensschutz dürfte auch für sozialgerichtliche Verfahren betreffend die Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen zumindest richtungsweisend sein. Zwingend ist eine gleiche Beurteilung insoweit aber nicht. Argumentationskatalog bei Faust/Rehner, DB 2013, 874.
81
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Denn bei Vorliegen eines nicht zurückgenommenen Vorbescheids spricht im Hinblick auf Ansprüche der Sozialversicherungsträger mehr dafür, Vertrauensschutz zu gewähren, sofern – wie zumeist – in der Vergangenheit trotz Prüfung keine Beanstandungen der CGZP-Tarifverträge erfolgt sind. 335 Für die betriebliche Praxis wichtig sind ferner die Feststellungen des BAG zur Transparenz von arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln im Zusammenhang mit mehrgliedrigen Tarifverträgen. Denn dies ist keine auf Arbeitsverträge der Verleiher, die auf Tarifverträge mit den Christlichen Gewerkschaften verweisen, beschränkte Problematik. Diese Regelungstechnik wird nämlich ganz überwiegend auch angewendet, wenn auf die mit den DGBGewerkschaften abgeschlossenen Tarifverträge verwiesen wird. Wenn man die oben in Rn. 329 zusammengefassten Überlegungen auf diese Bezugnahmeklauseln überträgt, spricht viel dafür, dass auch sie intransparent sind. Offengelassen von BAG, v. 21.8.2013 – 5 AZR 581/11, juris.
Dies gilt erst recht angesichts von Branchenzuschlägen in verschiedenen Branchen und zu verschiedenen Zeitpunkten, die das Vergütungsniveau ändern und es für den Leiharbeitnehmer relevant erscheinen lassen, welcher dieser Tarifverträge ab wann für ihn gilt. Praxistipp: Jedenfalls wenn arbeitsvertraglich auf das gesamte (mehrgliedrige) Tarifwerk verwiesen wird, sollte anlässlich des konkreten Arbeitseinsatzes beim Entleiher eine Konkretisierung durch Abschluss einer ergänzenden Vereinbarung erfolgen, welche die dort konkret maßgeblichen Tarifverträge benennt. Darauf sollten mit Blick auf ihre Subsidiärhaftung auch Entleiher achten.
VI. Haftung des Insolvenzverwalters 1. Freistellung zur Erzielung von Arbeitslosengeld 336 Insolvenzbedingte Betriebsstilllegungen gehen in der Regel mit einer Vielzahl an Freistellungen einher. Diskussionen um die Zulässigkeit entsprechender Freistellungen entstehen vor allem im Zusammenhang mit einer (drohenden) Masseunzulänglichkeit, weil der Insolvenzverwalter durch Freistellungen einer Haftung wegen durch Betriebsfortführung verursachter Schäden zu entgehen BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 172/10, ZIP 2012, 38 = NZA 2012, 94, dazu EWiR 2012, 211 (S. Schumacher); LAG Rostock, v. 4.1.2011 – 5 Sa 138/10, ZIP 2011, 1069 = ZInsO 2011, 688, dazu EWiR 2011, 675 (Weitzmann)
und Neumasseverbindlichkeiten (§ 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO) zu verhindern versucht. Mit einer anderen Facette hat sich das BAG in seiner Entscheidung vom 15.11.2012 – 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638
beschäftigt. 82
VI. Haftung des Insolvenzverwalters
a) Sachverhalt Im entschiedenen Fall stritten die Parteien über Schadensersatz wegen ent- 337 gangenen Arbeitslosengeldes. Der Kläger war seit Juli 2008 bei der späteren Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Im November 2008 wurde der Beklagte zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. Von Oktober bis Dezember 2008 bezogen die Arbeitnehmer der Schuldnerin 338 Insolvenzgeld. Mit Schreiben vom 18.12.2008 teilte der Beklagte ihnen mit, er plane, im Januar 2009 kostendeckend weiterzuarbeiten, da knapp genügend Aufträge vorhanden seien, um die Gehälter zu finanzieren. Am 1.1.2009 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Aufgrund von Lizenzstreitigkeiten konnten eingeplante größere Aufträge 339 nicht ausgeführt werden. Am 27.1.2009 teilte der Beklagte der Belegschaft daher mit, der Betrieb werde wegen drohender Masseunzulänglichkeit eingestellt. Mit Ausnahme der mit Abwicklungsarbeiten Beschäftigten – u. a. des Klägers – wurden alle Arbeitnehmer sofort und unwiderruflich von der Arbeitspflicht freigestellt. Wegen Masseunzulänglichkeit zahlte der Beklagte dem Kläger für Januar 2009 kein Gehalt. Der Kläger ist der Ansicht, eine unwiderrufliche Freistellung sei bereits zum 1.1.2009 geboten gewesen. Er hätte dann in der Zeit vom 1. bis 27.1.2009 Arbeitslosengeld beziehen können. Er fordert daher Schadensersatz in Höhe des entgangenen Arbeitslosengeldes. Die Klage hatte in der 1. und 2. Instanz Erfolg. b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts Das BAG hält die Klage demgegenüber in seinem Urteil vom 15.11.2012
340
– 6 AZR 321/11, ZIP 2013, 638
für unbegründet. Eine Haftung folge indes auch nicht aus § 60 InsO, der nur die Verletzung 341 insolvenzspezifischer Insolvenzverwalterpflichten sanktioniere. Eine insolvenzspezifische Pflicht, Arbeitnehmer zu einem bestimmten Zeitpunkt freizustellen, um ihnen den Bezug von Arbeitslosengeld zu ermöglichen, bestehe aber nicht. Schließlich scheide auch eine Haftung aus sonstigen Gründen aus. Denn ne- 342 ben den §§ 60, 61 InsO komme eine persönliche Haftung des Verwalters nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn er eigene vertragliche Pflichten über- oder in besonderem Maße persönliches Vertrauen in Anspruch nimmt. Dies sei hier nicht der Fall. Insbesondere das Schreiben vom 18.12.2008 könne nicht als selbstständige Garantieerklärung gewertet werden. Im Übrigen sei dem Kläger auch kein Schaden entstanden, da sein Arbeitslo- 343 sengeldanspruch hinsichtlich der Anspruchsdauer durch die erst später er-
83
B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
folgte Freistellung nicht geschmälert worden sei, sodass er keine Vermögenseinbußen erlitten habe. c) Folgen für die Insolvenzpraxis 344 Die überzeugende Entscheidung trifft – tragend und obiter – wichtige Klarstellungen zur Freistellung in der Insolvenz: 1. durch die Beschäftigung keinerlei Wertschöpfung zugunsten der Masse eintritt, sie aber 2. zu einer erheblichen Masseminderung führt und 3. eine künftige Wertschöpfung nicht zu erwarten ist. 345 Bei der Beurteilung des Vorliegens dieser Umstände räumt der Senat dem Verwalter im Interesse der Gläubigergesamtheit zudem einen Beurteilungsspielraum ein. 346 Spiegelbildlich tragen diese Feststellungen zur Klärung der Frage eines insolvenzspezifischen Freistellungsrechts vgl. ErfK/Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 38
bei. Denn jedenfalls, wenn den Verwalter eine Pflicht zur Freistellung trifft, muss er auch ein Recht hierzu besitzen. Der 8. Senat war hiervon in seinem Urteil vom 9.12.2010 – 8 AZR 592/08, AP Nr. 393 zu § 613a BGB
ohne ausdrückliche Einschränkung ausgegangen. Auch der 9. Senat, BAG, v. 15.6.2004 – 9 AZR 431/03, ZIP 2004, 1660, dazu EWiR 2004, 1139 (V. Schneider),
nimmt an, dass Arbeitnehmer „von ihrer Arbeitspflicht freizustellen [sind], sobald auf ihre Arbeitsleistung verzichtet werden kann“. Diese etwas allgemein gehaltenen Feststellungen hat der 6. Senat nun – obiter – konkretisiert und der Verwalterpraxis dadurch die Vermeidung insolvenzspezifischer Haftung erleichtert. 347 Relevant wird die Frage des Freistellungsrechts aus Arbeitnehmersicht vor allem ab drohender Massearmut. Ab diesem Zeitpunkt sind die weiterbeschäftigten Arbeitnehmer vorrangig vor den freigestellten zu befriedigen (§§ 208 Abs. 1 Satz 2, 209 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 1 Nr. 2 InsO). Näher OLG Düsseldorf, v. 27.1.2012 – I-22 U 49/11, 22 U 49/11, ZIP 2012, 2115; i. E. allerdings mit unzutreffender Begründung LAG Sachsen-Anhalt, v. 14.7.2007 – 3 Sa 477/04, ZInsO 2007, 1007.
348 Die Kriterien der Auswahl der weiterzubeschäftigenden Arbeitnehmer sind gerichtlich noch nicht abschließend geklärt.
84
VI. Haftung des Insolvenzverwalters Für einen weiten Ermessenspielraum im Rahmen des § 315 BGB z. B. Nerlich/Römermann/Mönning, InsO, (24. Erg.-Lfg. 2012), § 22 Rn. 109.
Nach den Feststellungen des LAG Hamm im Urteil vom 27.9.2000
349
– 2 Sa 1178/00, ZIP 2001, 435, dazu EWiR 2001, 487 (Moll)
ist der Insolvenzverwalter bei seiner Freistellungsentscheidung nicht frei von rechtlichen Schranken, sondern muss sich an die Grenzen des billigen Ermessens gem. § 315 Abs. 1 und 3 BGB halten. Dabei seien – so das LAG Hamm – insolvenzspezifische Besonderheiten, insbesondere die Bindung des Insolvenzverwalters an die in § 1 InsO formulierten Ziele des Insolvenzverfahrens zu berücksichtigen. Bei der Ausübung des billigen Ermessens könnten ferner soziale Gesichtspunkte wie Alter, Betriebszugehörigkeit, Familienstand und finanzielle Interessen eine Rolle spielen. Eine direkte Anwendung des § 1 Abs. 3 KSchG scheide allerdings wegen des unterschiedlichen Anwendungsbereichs und des anders gelagerten Normzwecks aus. In die Abwägung einzubeziehen seien dennoch insolvenzspezifische, betriebliche und soziale Gesichtspunkte. Raum für eine persönliche Haftung wird vor diesem Hintergrund nur in absoluten Ausnahmefällen bestehen. 2. Haftung bei Abkürzung der Kündigungsfrist nach § 113 InsO § 113 Satz 1 und 2 InsO beseitigt in der Insolvenz Hindernisse, die der Kün- 350 digung von Arbeitsverhältnissen (und Dienstverhältnissen) entgegenstehen und reduziert die Kündigungsfrist auf eine Höchstfrist von maximal drei Monaten. Kündigt der Verwalter, kann der Arbeitnehmer (bzw. der zur Dienstleistung Verpflichtete) wegen der vorzeitigen Beendigung nach § 113 Satz 3 InsO Schadensersatz als Insolvenzgläubiger verlangen. Der entsprechende Schadensersatzanspruch aus § 113 Satz 3 InsO ist auf die 351 Höhe des Verdienstausfalls begrenzt, der durch eine Verkürzung der sonst anwendbaren Kündigungsfrist im Insolvenzfall entsteht. Andere Nachteile wegen der Kündigung in der Insolvenz sind nicht ersetzbar, insbesondere nicht der Nachteil durch den eventuell früher endenden Bezugszeitraum für Arbeitslosengeld I. Das hat das Hessische LAG zu Recht in seinem Urteil vom 22.1.2013 klargestellt. LAG Frankfurt/M., v. 22.1.2013 – 13 Sa 1108/12, ZIP 2013, 1137, dazu EWiR 2013, 451 (Mückl).
a) Sachverhalt des Hessischen Landesarbeitsgerichts Im entschiedenen Fall wurde das Arbeitsverhältnis des seit 1983 zuletzt für 352 monatlich 6.085 € brutto und ein Urlaubsgeld von 608,53 € brutto bei der Schuldnerin beschäftigten Klägers nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens (1.7.2010) und der Bestellung des Beklagten zum Insolvenzverwalter von diesem am 15.7.2010 mit der dreimonatigen Kündigungsfrist des § 113 Satz 1
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
InsO zum 31.10.2010 gekündigt. Der Kläger wurde „ab sofort unter Anrechnung [ggf.] noch vorhandener Urlaubs- und Überstundenansprüche“ von der Arbeit freigestellt. Außerhalb des Insolvenzverfahrens hätte das Arbeitsverhältnis nach § 622 BGB lediglich mit 7-monatiger Kündigungsfrist zum 28.2.2011 beendet werden können. 353 Der Kläger bezog seit Beginn der nach Ablauf der Kündigungsfrist eingetretenen Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld (ALG) i. H. v. täglich 67,01 €; befristet bis maximal 31.7.2012. Im August 2010 ließ er eine Forderung von ca. 28.000 € als „Verfrühungsschaden“ zur Tabelle anmelden, die sich aus der Bruttovergütung für vier Monate, Urlaubsvergütung und Urlaubsgeld zusammensetzte. In der Folge wurden ca. 18.000 € zur Tabelle festgestellt, im Wesentlichen die Bruttovergütung von November 2010 bis Februar 2011, abzüglich erhaltenen Arbeitslosengeld. 354 Der Kläger hielt diesen Abzug für rechtsfehlerhaft. Er habe seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld vier Monate früher in Anspruch nehmen müssen, sodass dieser auch vier Monate früher ende. Es sei wegen seines Alters nicht zu erwarten, dass er noch einen anderen Arbeitsplatz erhalte. Außerdem machte er einen Urlaubsanspruch von zehn Tagen geltend, der in dem Verfrühungszeitraum entstanden sei, den er nicht habe antreten können und der sich in einen Urlaubsabgeltungsanspruch umgewandelt habe. Hieraus machte er einen Schadensersatz von rund 2.800 € geltend sowie den anteiligen Urlaubsgeldanspruch. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab. b) Wesentliche Erwägungen des Gerichts 355 Das Hessische LAG wies die Berufung zunächst insoweit zurück, wie der Kläger die Feststellung eines Urlaubsabgeltungsanspruchs in Bezug auf den Urlaub für die vier Monate zur Tabelle begehrte, die das Arbeitsverhältnis aufgrund der Kündigungsfrist des § 113 Satz 1 InsO früher geendet hatte (Verfrühungszeitraum). Der Urlaubsanspruch sei durch die wirksame Freistellung des Klägers nach Ausspruch der Kündigung verbraucht. Erfolg habe die Berufung lediglich hinsichtlich des Urlaubsgelds. Denn dieser Anspruch des Klägers sei mit der Freistellung nicht verbraucht, so dass der entsprechende Betrag zusätzlich zur Insolvenztabelle anzumelden sei. 356 Das auf den Verfrühungszeitraum entfallende Arbeitslosengeld sei hingegen nicht zur Tabelle festzustellen. Denn Gegenstand des Ersatzanspruchs aus § 113 Satz 3 InsO sei die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Zeitspanne, um die sich die Dauer des Arbeitsverhältnisses durch die insolvenzbedingt kürzere Kündigungsfrist verringert habe. Auf diesen Ersatzanspruch sei im Rahmen eines Vorteilsausgleichs nach dem Rechtsgedanken der §§ 615 Satz 2, 254 Abs. 2 Satz 1 BGB das anzurechnen, was der Arbeitnehmer in einem neuen Arbeitsverhältnis erwerbe bzw. böswillig zu erwerben unterlasse. Gleiches gelte für im fraglichen Zeitraum ersatzweise erlangte Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld. Denn nach Sinn und Zweck des § 113 Satz 3
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VI. Haftung des Insolvenzverwalters
InsO sei nur der Verdienstausfall wegen der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ersatzfähig, nicht aber der Schaden, den der Arbeitnehmer aufgrund der Kündigung mittelbar oder wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes an sich erleide. Andernfalls werde das Insolvenzverfahren mit nicht mehr kalkulierbaren Risiken behaftet. Bei dem Schaden, der dem Kläger durch die sozialrechtlich bedingte begrenz- 357 te Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I entstehe, handele es sich um aber um einen „mittelbaren“ Schaden, der zudem zeitlich erst außerhalb der „Verfrühung“ eintrete. Dieser Nachteil sei nicht mehr adäquat kausal auf das Handeln des Insolvenzverwalters zurückzuführen, sondern auf die Wirkung (sozial-)rechtlicher Regelungen, auf die der Verwalter keinen Einfluss habe. Daher sei der ersatzfähige Schaden auf die Höhe des Verdienstaufalls begrenzt, der in den Monaten November 2010 bis Februar 2011 angefallen sei. c) Bedeutung für die Praxis Die mit Blick auf den Schutzzweck des § 113 Satz 3 InsO überzeugend be- 358 gründete Entscheidung bestätigt und ergänzt die Rechtsprechung des 8. Senats des BAG. BAG, v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829, dazu EWiR 2007, 755 (Brose).
Sie schafft (trotz einer Adäquanztheorie und Schutzzweck der Norm vermi- 359 schenden Argumentation) für die Praxis Klarheit, indem sie den Anspruch allein auf den Verdienstausfallschaden beschränkt und alle mittelbaren Schäden ausschließt. Obiter stellt das LAG Hessen dies für eine Vielzahl an denkbaren mittelbaren Schäden beispielhaft explizit klar. Der Charakter des Schadensersatzanspruchs als Insolvenzforderung steht dieser Bestimmung des Schutzzwecks nicht entgegen. a. A. z. B. Nerlich/Römermann/Hamacher, InsO, (24. Erg.-Lg. 08/2012) § 113 Rn. 251 m. w. N.
Denn da der Schadensersatzanspruch nach § 113 Satz 3 InsO verschuldens- 360 unabhängig ist, handelt es sich letztlich um eine gesetzliche „Garantiehaftung“, die einen privatautonomen Schutz der übrigen Insolvenzgläubiger vor Insolvenzforderungen der Arbeitnehmer in unkalkulierbarem Umfang durch den Verwalter ausschließt. Das spricht bereits für eine enge Auslegung, die zudem eine Privilegierung der Arbeitnehmerforderungen bei der Schlussverteilung (§ 196 InsO) in gleicher Weise verhindert, wie sie der Gesetzgeber mit § 113 InsO hinsichtlich Masseverbindlichkeiten verhindern wollte. Dazu BAG, v. 16.5.2007 – 8 AZR 772/06, ZIP 2007, 1829.
Das in § 113 InsO angelegte Regelungsziel wird so konsequent umgesetzt. 361 Der 6. Senat des BAG, BAG, v. 19.7.2007 – 6 AZR 1087/06, ZIP 2007, 2173,
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
der von „dem Arbeitnehmer für solche Zeiträume [d. h. solche der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses] zustehenden Schadenersatzansprüche[n]“ spricht, dürfte dieses Ergebnis teilen. VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz 1. Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers im Verbraucherinsolvenzverfahren 362 Die zunehmende Zahl der Verbraucherinsolvenzen bringt regelmäßig die Frage mit sich, inwieweit der im Verbraucherinsolvenzverfahren befindliche Arbeitnehmer vergütungswirksam über seine Arbeitskraft mit der Folge disponieren kann, dass sich sein pfändbares Arbeitseinkommen reduziert. In seinem Urteil vom 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, ZInsO 2013, 1806,
hat das BAG hierzu wichtige Klarstellungen getroffen. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 363 In dem zugrunde liegenden Fall hatte ein Arbeitnehmer als Schuldner Verbraucherinsolvenz beantragt. Der Kläger war zu seinem Treuhänder nach § 313 InsO ernannt worden. Der Schuldner hatte die Restschuldbefreiung beantragt. Die Beklagte des Rechtsstreits war der Arbeitgeber des Schuldners. Der Schuldner nahm nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Änderungskündigung der Beklagten an, nach der sich seine Vergütung ab dem 7.1.2010 bei entsprechend reduzierter Stundenzahl von ursprünglich 3.000,00 € auf 2.000,00 € reduzierte. Infolge dessen reduzierte sich auch das pfändbare Arbeitseinkommen auf 87,01 €. Dieser Betrag wurde an den Treuhänder ausgekehrt. Mit der Klage machte der Treuhänder die Differenz der Vergütungsansprüche zwischen dem neuen und dem bisherigen Arbeitseinkommen geltend. 364 Die Klage blieb in allen Instanzen erfolglos. Das BAG stellt insoweit klar, dass die Arbeitskraft des Schuldners und dessen Arbeitsverhältnis als solches nicht zur Insolvenzmasse gehören und daher nicht dem Verfügungsverbot des § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO unterfallen. Zwar falle das pfändbare Arbeitseinkommen in die Insolvenzmasse, nicht aber die Arbeitskraft des Schuldners oder dessen Arbeitsverhältnis als solches. b) Umfang der Dispositionsfreiheit des Arbeitnehmers 365 Dass das Arbeitsverhältnis nicht in die Insolvenzmasse fällt, schlussfolgert das BAG dabei aus dem Umstand, dass die Arbeitskraft als solche nicht Teil der Insolvenzmasse ist. Denn das Insolvenzverfahren erfasste das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehöre und das er während des Verfahrens erlange (§ 35 Abs. 1 InsO). Einschrän-
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VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz
kend sei aber zu berücksichtigen, das Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterlägen, nicht zur Insolvenzmasse gehörten (§ 36 Abs. 1 Satz 1 InsO). Diese kennzeichnet das BAG mit Blick auf das Arbeitseinkommen wie folgt: Bezüglich Arbeitseinkommen gelte insoweit nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO 366 u. a. § 850h ZPO entsprechend. Gem. § 292 Abs. 1 Satz 3 InsO gelte § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechend, wenn ein Schuldner die Restschuldbefreiung beantragt und seine pfändbaren Forderungen auf Bezüge aus seinem Dienstverhältnis gem. § 278 Abs. 2 Satz 1 InsO an den Treuhänder abgetreten habe. Damit kämen die sozialpolitischen Erwägungen, durch welche die Pfändungsschutzbestimmungen der Zivilprozessordnung motiviert sind, auch im Insolvenzverfahren zur Geltung. Zur Insolvenzmasse gehöre nach diese Vorgaben das pfändbare Arbeitseinkommen einschließlich des verschleierten Einkommens i. S. d. § 850h Abs. 2 ZPO. BAG, v. 16.5.2013 – 6 AZR 556/11, ZIP 2013, 1433 = ZInsO 2013, 1806, dazu EWiR 2013, 723 (H. Schröder).
aa) Insolvenzfreiheit der Arbeitskraft Die Arbeitskraft des Schuldners als solche sei aber – wie das BAG in Über- 367 einstimmung mit seiner vorhergehenden Rechtsprechung und der Rechtsprechung des BGH sowie des BFH feststellt – nicht Teil der Insolvenzmasse. Denn Rechte, die keine Vermögensrechte sind, gehörten nicht zur Masse. Hierunter fielen Persönlichkeitsrechte und höchstpersönliche Rechtsbeziehungen. Die Arbeitskraft des Schuldners sei Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, also kein Vermögensobjekt, und falle damit nicht in die Insolvenzmasse. Vgl. bereits BAG, v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, BAGE 129, 257 = ZIP 2009, 984, dazu EWiR 2009, 615 (Hertzfeld/Höher); BGH, v. 18.12.2008 – IX ZB 249/07, ZInsO 2009, 299; BFH, v. 8.9.2011 – V R 38/10, BFHE 235, 488 = ZIP 2012, 88, dazu EWiR 2012, 209 (Berger).
Der Schuldner könne zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht gezwungen 368 werden. Vgl. BGH, v. 11.5.2006 – IX ZR 247/03, BGHZ 167, 363 = ZIP 2006, 1254.
Der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder habe dementsprechend keine Mög- 369 lichkeit, die Tätigkeit des Schuldners zu beeinflussen. Vgl. BFH, v. 8.9.2011 – V R 38/10, BFHE 235, 488 = ZIP 2012, 88.
Mit diesen Feststellungen befindet sich der Senat nicht nur in Übereinstim- 370 mung mit der Rechtsprechung der ordentlichen und der Finanzgerichte, sondern auch mit der in der Literatur herrschenden Meinung.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
371 Losgelöst davon stützt er sein Ergebnis allerdings zutreffend ergänzend auf ein zweites Argument. Dass die Arbeitskraft nicht dem Insolvenzbeschlag unterliegt, folge auch aus § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO i. V. m. § 888 Abs. 3 ZPO. Der Insolvenzmasse werde aufgrund dieser Normen nur zugewiesen, was Zugriffsobjekt in der Zwangsvollstreckung sein könne. Die Erbringung von Arbeitsleistungen könne aber gem. § 888 Abs. 3 ZPO nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Dieses Vollstreckungsverbot diene dem Schutz der Menschenwürde. bb) „Insolvenzfreiheit“ des Arbeitsverhältnisses 372 Ausgehend davon, dass die Arbeitskraft des Schuldners nicht Teil der Insolvenzmasse sei, gelte dies auch für das Arbeitsverhältnis als solches. In diesem Zusammenhang trifft das BAG sodann wichtige Klarstellungen zur Abwicklung des Arbeitsverhältnisses in der Verbraucherinsolvenz: 373 Ausgehend davon, dass der Abschluss eines Arbeitsvertrages grundsätzlich zur persönlichen Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung verpflichtet (§§ 611, 613 Satz 1 BGB), könne der Schuldner über eine Arbeitskraft frei verfügen, so dass ihm auch die entsprechende Verfügungsbefugnis bzgl. vertraglicher Beziehungen verbleibe, die seine Arbeitskraft betreffen. Das Arbeitsverhältnis als solches sei damit in Bezug auf die Handlungsmöglichkeiten des Schuldners vom Insolvenzverfahren nicht betroffen. Praxistipp: Allein der Schuldner ist danach berechtigt, dass Arbeitsverhältnis zu kündigen, einen Aufhebungsvertrag zu schließen oder es in seinem Inhalt zu verändern.
374 Vor diesem Hintergrund kann der Schuldner letztlich allein entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen er die Insolvenzmasse durch das Entstehen lassen von vertraglichen Entgeltansprüchen mehrt. Praxistipp: Damit korrespondiert, dass eine Arbeitgeberkündigung zu ihrer Wirksamkeit auch im eröffneten Insolvenzverfahren den Schuldner als Arbeitnehmer zuzugehen hat. Darüber hinaus kann auch nur er eine Kündigungsschutzklage erheben. Denn das Klagerecht nach § 4 KSchG ist höchstpersönlicher Natur. Die Entscheidung über eine Klageerhebung und die Prozessführungsbefugnis verbleibt nach der Rechtsprechung des BAG beim Schuldner. Die mittelbare Wirkung auf die Insolvenzmasse sei hinzunehmen. Denn andernfalls könne das Recht des Schuldners, über eine Arbeitskraft selbst zu verfügen, durch den Treuhänder eingeschränkt werden.
375 Etwas anderes folgt nach den Feststellungen des BAG auch nicht aus anderen insolvenzrechtlichen Vorschriften, insbesondere nicht aus § 97 Abs. 2 InsO oder § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO. § 97 Abs. 2 InsO könne seinem Wortlaut nach keine Arbeitspflicht zu Gunsten der Masse bzw. eine Einschrän-
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VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz
kung der arbeitsvertraglichen Dispositionsbefugnis des Schuldners entnommen werden. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Vorschrift auf die Unterstützung des Insolvenzverwalters gerichtet sei und die Mehrung der Masse zu dessen primären Aufgaben gehöre. Vgl. BGH, v. 21.3.2013 – III ZR 260/11, ZIP 2013, 781 = ZInsO 2013, 929, dazu EWiR 2013, 367 (H.-F. Müller).
Etwas anderes folge auch nicht aus den Vorstellungen des historischen Ge- 376 setzgebers. Vgl. BT-Drucks. 12/2443, S. 142 zu § 110.
In Übereinstimmung mit der in der Literatur herrschenden Meinung folge 377 daher aus der in § 97 Abs. 2 InsO geregelten Verpflichtung, den Verwalter bei der Erfüllung von dessen Aufgaben zu unterstützen, keine Pflicht des Schuldners zum wertschöpfenden Einsatz seiner Arbeitskraft für die Masse. Etwas anderes folge auch nicht aus § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Soweit dort in 378 der sog. Wohlverhaltensperiode eine Erwerbsobliegenheit vorgesehen sei, folge daraus keine Arbeitspflicht des Schuldners. Gehe der Schuldner in dieser Zeit keiner angemessenen Erwerbstätigkeit nach, könne ihm die Restschuldbefreiung versagt werden. Eine Arbeitspflicht während des Insolvenzverfahrens folge daraus aber nicht. Denn die Obliegenheiten nach § 295 InsO treffen den Schuldner nicht schon während des eröffneten Verfahrens, sondern erst ab Aufhebung des Insolvenzverfahrens und Ankündigung der Restschuldbefreiung. Vgl. BGH, v. 14.1.2010 – IX ZB 78/09, ZInsO 2010, 345.
Durch diese Beschränkung auf eine Erwerbsobliegenheit zeige sich, dass der 379 Schuldner grundsätzlich autonom über den Einsatz seiner Arbeitskraft entscheiden und über den Bestand und Inhalt des Arbeitsverhältnisses frei verfügen könne. Sogar eine gänzliche Arbeitsunwilligkeit könne lediglich zur Versagung der Restschuldbefreiung führen. c) Grenzen der Dispositionsfreiheit? Ausgehend von diesen Feststellungen, welche die Verfügungshoheit über das 380 Arbeitsverhältnis insgesamt dem Schuldner zuweisen, wird man nicht annehmen können, der in der Verbraucherinsolvenz befindliche Arbeitnehmer könne eine Absenkung seiner Vergütung nur bei entsprechender Reduktion seiner Arbeitszeit vereinbaren. Dagegen spricht nicht nur, dass das BAG keinerlei Andeutungen in diese 381 Richtung vornimmt, sondern explizit von einer uneingeschränkten Verfügungsbefugnis ausgeht. Im Gegenteil: Sein Hinweis auf das Nichteingreifen von § 850h ZPO, der eine Sonderform der missbräuchlichen Nutzung regelt, im vorliegenden Fall macht deutlich, dass das BAG Grenzen der Dispositi-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
onsbefugnis nur im Rahmen der allgemeinen gesetzlichen Vorgaben (z. B. § 850h ZPO) anerkennen wird. 382 Die damit vor allem systematisch überzeugend begründete Entscheidung entspricht in allen wesentlichen Punkten der herrschenden Meinung in der Literatur. Sie bewirkt wichtige Klarstellungen und Erleichterungen für den Schuldner, die unter Gemeinwohlaspekten – außer für kriselnde Unternehmen, die auf Sanierungsbeiträge angewiesen sind – nicht unbedingt wünschenswert sein mögen, aber letztlich der Menschenwürde geschuldet sind und zudem auf einer Linie mit den derzeitigen gesetzgeberischen Entwicklungen liegen, die an anderer Stelle nachgezeichnet werden. Vgl. zu den Neuerungen im Verbraucherinsolvenzverfahren oben Rn. 3 ff.
383 Hinzu kommt, dass auf diesem Wege ein Gleichlauf zwischen Kollektiv- und Individualrecht herbeigeführt wird. Denn die wirksame Absenkung der Tarifvergütung hängt allein von den Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien ab, nicht aber von der Zustimmung des Treuhänders eines verbraucherinsolventen Gewerkschaftsmitglieds. Gleiches würde gelten, wenn der Arbeitsvertrag – wie häufig – eine dynamische Bezugnahme auf das Kollektivrecht enthält, die insoweit als „Öffnungsklausel“ das Günstigkeitsprinzip ausschließt. 384 Eine andere Bewertung wäre aus Sanierungssicht im Übrigen dann misslich, wenn das (wenige Mitarbeiter beschäftigende) Arbeitgeberunternehmen sich ebenfalls in der Krise befindet und der verbraucherinsolvente Arbeitnehmer dann gehindert wäre, autonom an Sanierungsvereinbarungen teilzunehmen, die typischerweise u. a. eine Absenkung der Vergütung bei gleichbleibender Arbeitszeit vorsehen. Der volkswirtschaftliche Schaden wäre bei einer Unternehmensinsolvenz typischerweise höher, sodass jedenfalls in Bezug auf die vorgenannten Unternehmen entsprechende Vereinbarungen nicht von der Zustimmung des Treuhänders abhängen sollten. Für die betriebliche Praxis sind Vergütungsabsenkungen losgelöst davon dann mit deutlich weniger Aufwand umsetzbar, wenn die Verfügungsbefugnis insoweit beim Arbeitnehmer verbleibt. 2. Behandlung von abgetretenen Vergütungsansprüchen in der Verbraucherinsolvenz 385 Die Abtretung von Vergütungsansprüchen durch Arbeitnehmer kann für Arbeitgeber mit erheblichen Belastungen verbunden sein. Dies gilt nicht nur mit Blick auf den hierdurch verursachten Verwaltungsaufwand, sondern auch mit Blick auf das Risiko von sog. „Doppelzahlungen“. Denn Arbeitnehmer können auch zukünftige Entgeltansprüche mit der Folge abtreten, dass in diesem Fall der Arbeitgeber gem. § 407 Abs. 1 BGB nicht mit befreiender Wirkung an den Arbeitnehmer und ursprünglichen Gläubiger des Entgeltanspruchs oder Dritte leisten kann. Dies gilt ab Kenntnisnahme der Abtre-
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VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz
tungserklärung. Ab diesem Zeitpunkt droht für Arbeitgeber das Risiko von „Doppelzahlungen“ an den Abtretungsempfänger. Die Wirksamkeit derartiger Abtretungen richtet sich nach § 400 BGB. Nach 386 dieser Norm kann eine Forderung nicht abgetreten werden, soweit sie nicht der Pfändung unterworfen ist. Mit diesem Abtretungsverbot soll der Arbeitnehmer davor geschützt werden, dass er durch eine Abtretung seiner Vergütungsansprüche das Vermögen verliert, das er für seinen Lebensunterhalt und den seiner Angehörigen braucht. § 400 BGB ist aber dann einschränkend auszulegen und unanwendbar, wenn der mit dem Abtretungsverbot bezweckte Schuldnerschutz gewährleistet ist, weil der Abtretungsempfänger dem Arbeitnehmer einen Geldbetrag in Höhe der abgetretenen Forderung zur Verfügung gestellt hat. Denn damit wird dem Schutzzweck der Pfändungsvorschriften genügt. Dies hat das BAG in seinem Urteil vom 21.2.2013 – 6 AZR 553/11, ZInsO 2013, 1214
noch einmal bestätigt und dabei auch Klarstellungen zur Bedeutung einer Verbraucherinsolvenz des Arbeitnehmers getroffen. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Im entschiedenen Fall nahm der klagende Landkreis die Beklagte auf Zah- 387 lung von Arbeitsentgelt aus abgetretenem Recht in Anspruch. Die Beklagte war die Arbeitgeberin des Schuldners, der verurteilt worden war, an den klagenden Landkreis 3.570,00 € zu zahlen. Hintergrund hierfür war, dass der Landkreis gegenüber der früheren Ehefrau des Schuldners Unterhaltsleistungen nach dem SGB II erbracht hatte. Der Schuldner hatte am 26.1.2007 gegenüber dem Landkreis anerkannt, einen Betrag in Höhe von 3.570,00 € zu schulden. Die Forderung sollte in monatlichen Raten getilgt werden. Für den Fall des Verzugs mit einer Rate sollte die gesamte Restforderung fällig werden. Für diesen Fall hat der Schuldner seine Lohn- und Gehaltsansprüche gegen seine jeweiligen Arbeitgeber abgetreten. Der Arbeitgeber wurde ermächtigt, die nach § 850d ZPO pfändbaren Beträge einzubehalten und an den Landkreis zu überweisen. Am 11.9.2008 war über das Vermögen des Schuldners das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet und eine Treuhänderin ernannt worden. Diese teilte der Beklagten mit, der Schuldner habe die pfändbaren Gehaltsanteile an sie abgetreten, sie seien künftig auf ein Treuhandkonto einzuzahlen. Die Beklagte stellte daraufhin die Zahlungen an den Landkreis ein. Dieser verlangte nun die Zahlung eines Restbetrags und meldete die Forderung im Insolvenzverfahren an. Er berief sich insoweit darauf, dass der zu zahlende Betrag dem Vorrechtsbereich des § 850d ZPO zuzuordnen sei, der nicht Bestandteil der Insolvenzmasse sei. Jedenfalls behalte die Vorausabtretung nach § 140 Abs. 1 InsO für zwei Jahre ihre Wirkung. Der Beklagte berief sich demgegenüber darauf, dass der Landkreis nur im Rahmen des Insolvenzverfahrens Befriedigung erlangen könne. Dem Erwerb der Forderung stehe § 91 Abs. 1 InsO entgegen.
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b) Wirksamkeit der Abtretung nach § 400 BGB 388 Das BAG gab der Klage statt. Die Abtretung sei nicht nach § 400 BGB unwirksam. Der Schuldner habe das nach § 850d ZPO erweitert pfändbare Arbeitseinkommen an den bevorrechtigten Kläger abtreten können, wobei das Vollstreckungsverbot des § 89 InsO kein Pfändungsverbot i. S. d. § 400 BGB sei. 389 In diesem Zusammenhang bestätigt das BAG zunächst, dass § 400 BGB seinem Zweck nach immer dann einschränkend auszulegen und unanwendbar ist, wenn der mit dem Abtretungsverbot bezweckte Schuldnerschutz gewährleistet ist, weil der Abtretungsempfänger dem Arbeitnehmer einen Betrag in Höhe der abgetretenen Forderung zur Verfügung stellt, denn der Arbeitnehmer stehe dann wirtschaftlich nicht anders, als hätte der Arbeitgeber und nicht der Abtretungsempfänger das Entgelt geleistet. 390 Das Verbraucherinsolvenzverfahren hatte auf den Rechtserwerb des Landkreises – wie das BAG zu Recht feststellt – ebenfalls keinen Einfluss. Denn entgegen der von der Beklagten angedeuteten Ansicht enthalte das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO kein Pfändungsverbot i. S. d. § 400 BGB für Ansprüche, die vor Insolvenzeröffnung abgetreten wurden. aa) Systematischer Zusammenhang mit § 114 InsO 391 Nach § 89 Abs. 1 InsO seien Zwangsvollstreckungen für einzelne Gläubiger zwar während der Dauer des Insolvenzverfahrens weder in die Insolvenzmasse noch in das sonstige Vermögen des Schuldners zulässig. Aus §§ 91 Abs. 1, 114 Abs. 1 InsO ergebe sich aber, dass § 89 Abs. 1 InsO eine Abtretung künftiger Ansprüche vor Insolvenzeröffnung nicht entgegenstehe. Denn § 114 Abs. 1 InsO begründe abweichend von § 91 Abs. 1 InsO die Wirksamkeit von Vorausverfügungen, die vor Insolvenzeröffnung vorgenommen wurden, und privilegiere diese Verfügung in bestimmtem Umfang. Bereits daraus folge, dass § 89 Abs. 1 InsO Abtretungen künftiger Ansprüche auf Arbeitseinkommen vor Insolvenzeröffnung nicht entgegenstehen könne. bb) Systematischer Zusammenhang mit § 91 InsO 392 Losgelöst davon stützt sich das BAG darauf, dass § 91 Abs. 1 InsO dem Übergang des nach § 850d ZPO pfändbaren Teils der Vergütungsansprüche des Schuldners auf den Kläger für sich genommen nicht entgegenstehe, weshalb es auf eine Durchbrechung des dort geregelten Erwerbsverbots durch § 114 Abs. 1 InsO nicht mehr ankomme, denn § 91 Abs. 1 InsO ordne an, dass Rechte an den Gegenständen den Insolvenzmasse nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr erworben werden könnten. Der Umfang der Insolvenzmasse werde aber durch §§ 35, 36 InsO bestimmt. Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO gehörten Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterlägen, aber nicht zur Insolvenzmasse. Diese Vorschrift wolle den Schuld-
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VII. Besonderheiten der Verbraucherinsolvenz
ner vor einem Verlust sämtlicher Vermögensgegenstände schützen und ihm einen unantastbaren Bereich persönlicher und lebensnotwendiger Güter bewahren. Für Arbeitseinkommen gelten nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO die §§ 850, 850a, 850c, 850e, 850f Abs. 1, 850g bis 850k, 851c und 851d ZPO entsprechend. Diese Regelung, die unter dem Gesichtspunkt des im Insolvenzverfahren herrschenden Prinzips der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zwischen Vorschriften differenziere, die die Pfändbarkeit für alle Gläubigergruppen erweitern oder beschränken (§§ 850c, 850e Nr. 2, Nr. 2a, 850f Abs. 1 ZPO) und denen, die die Pfändbarkeit für bestimmte Gläubiger und Gläubigergruppen modifizierten (§§ 850d, 850f Abs. 2 ZPO) diene dazu, durch die Anwendung oder den Anwendungsausschluss der jeweiligen zwangsvollstreckungsrechtlichen Regelung solche Erweiterungen oder Einschränkungen des Insolvenzbeschlags zu ermöglichen, die mit dem Ziel der Gesamtvollstreckung im Einklang stünden. Sei ein Gegenstand danach nur für bestimmte Gläubiger pfändbar, gehöre er 393 kraft gesetzlicher Anordnung nicht zur Insolvenzmasse. Das sei bei Arbeitseinkommen i. S. d. § 850g ZPO der Fall. Der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung gelte daher nicht. Der Schuldner könne mit diesen Mitteln, die nicht zur Insolvenzmasse gehörten, während des Insolvenzverfahrens freiwillige Zahlungen an einen einzelnen Insolvenzgläubiger leisten. Auch die Abtretung derartiger nicht zur Insolvenzmasse gehörender Forderungen sei möglich. Im Fall des § 850d ZPO könnten Ansprüche auf Arbeitsentgelt an den Unterhaltsgläubiger oder an den Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, der – wie hier der Landkreis – nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II an die Stelle des Unterhaltsgläubigers trete, abgetreten werden. Der Wechsel in der Rechtsinhaberschaft beeinträchtige nämlich die Insolvenzmasse in diesem Fall nicht. c) Bewertung im Lichte der Streichung von § 114 InsO Die Begründung des BAG überzeugt. Das BAG wird seine Rechtsprechung 394 ohne Rücksicht auf die künftige Streichung von § 114 InsO im Rahmen der zweiten Stufe der Insolvenzrechtsreform fortführen, da die Entscheidung letztlich auf die §§ 91 Abs. 1, 35, 36 InsO i. V. m. den entsprechenden Vorgaben der ZPO gestützt wird und daher unabhängig von § 114 InsO erfolgt. Praxistipp: Mit Blick auf die weitreichenden Folgen einer möglichen Abtretung dürfte dem Arbeitgeber ein Auskunftsanspruch gegenüber dem Arbeitnehmer darauf zustehen, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber Sachzusammenhänge einer erfolgten Abtretung künftiger Lohnansprüche erklärt, damit der Arbeitgeber das Risiko von Zahlungen, die keine befreiende Wirkung haben abschätzen und dadurch Doppelzahlungen vermeiden kann (ebenso Müller, ArbRAktuell 2013, 292). Arbeitgeber, die Kenntnis von Abtretungsvorgängen haben, sollten daher zunächst ihren Auskunftsanspruch geltend machen, bevor Zahlungen an Arbeitnehmer auch in Höhe der unpfändbaren Gehaltsbestandteile ge-
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung leistet werden. So kann das Risiko, das mit der eingeschränkten Anwendbarkeit von § 400 BGB verbunden ist, minimiert werden.
VIII. Urlaubsrecht 395 Offene Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche sind nach der Rechtsprechung des BAG in der Insolvenz häufig Masseverbindlichkeiten, schmälern also die Masse und sind – weil keine Gegenleistung mehr erfolgt – letztlich lediglich Lasten. Vgl. zur insolvenzrechtlichen Qualifikation Rn. 129 ff.
396 Losgelöst davon sind gerade in der Krise befindliche Unternehmen häufig mit „aufgestauten“ Urlaubsansprüchen in großem Umfang belastet, denen wiederum kein in der Krise nutzbarer Gegenwert gegenübersteht. Wichtig ist deshalb, in Krise und Insolvenz den Gestaltungsspielraum zu kennen, innerhalb dessen die Rechtsprechung eine Reduzierung dieser Belastungen für zulässig hält. Insbesondere zur Urlaubsabgeltung hat das BAG im Jahr 2013 wichtige Klarstellungen getroffen. In der Insolvenz erfolgen Urlaubsgewährungen zur Verhinderung der Entstehung von Urlausabgeltungsansprüchen sehr häufig durch Freistellungen, wobei streitig ist, ob dem Insolvenzverwalter ein „insolvenzspezifisches“ Freistellungsrecht zusteht und ob er bei der Entscheidung, welche Mitarbeiter er freistellt, an bestimmte Kriterien gebunden ist. Vgl. unter Rn. 336 ff.
397 Bedeutsam ist dies in erster Linie in Fällen der Masseunzulänglichkeit. 1. Urlaubsgewährung durch (rechtswidrige) unwiderrufliche Freistellung 398 In seinem Urteil vom 16.7.2013 – 9 AZR 50/12, NJW-Spezial 2013, 659
hat das BAG die für eine Urlaubsgewährung durch Freistellung maßgeblichen Kriterien präzisiert und dabei klargestellt, dass auch eine rechtswidrige, unwiderrufliche Freistellung geeignet ist, den Urlaubsanspruch zu erfüllen. 399 Im entschiedenen Fall hatten die Parteien in einem gerichtlichen Vergleich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu einem späteren Zeitpunkt vereinbart. Bis dahin sollte der Kläger seine Tätigkeit wieder aufnehmen. Für die letzten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses stellte die Beklagte den Kläger dann allerdings mit folgendem Schreiben frei: „Hiermit stelle ich Sie ab 1.7.2009 unwiderruflich von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei. Noch bestehende Resturlaubsansprüche werden von Ihnen in der Zeit der unwiderruflichen Freistellung in Natur eingebracht.“
400 Der Kläger hielt die Freistellung für unwirksam und verlangte Urlaubsabgeltung, da und soweit er seinen Urlaub während der Dauer des Arbeitsverhältnissen nicht habe nehmen können.
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VIII. Urlaubsrecht
Das BAG hat die Klage ebenso wie die Vorinstanzen abgewiesen. Der Ur- 401 laubsanspruch sei durch die unwiderrufliche Freistellung erfüllt worden. Praxistipp: Das Urteil entspricht insoweit der ständigen Rechtsprechung des BAG, nach der eine Freistellung unter Anrechnung des Resturlaubs unwiderruflich sein muss, um den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers zu erfüllen (vgl. BAG, v. 19.5.2009 – 9 AZR 433/08, NZA 2009, 1211; BAG, v. 14.3.2006 – 9 AZR 11/05, NZA 2006, 1008).
Dabei sei es zunächst – abweichend von den ohne Freistellung durch den Ar- 402 beitgeber geltenden Grundsätzen – unerheblich, dass die Beklagte nicht im Einzelnen klargestellt habe, an welchen Tagen Erholungsurlaub gewährt und an welchen Tagen Freistellung zu anderen Zwecken erfolgt sei. Die Festlegung der zeitlichen Lage des Urlaubs innerhalb des Freistellungszeitraums sei vielmehr dem Kläger überlassen worden. Dies sei auch zulässig. Einer nicht näher bestimmten Urlaubsfestlegung könne 403 der Arbeitnehmer regelmäßig entnehmen, dass der Arbeitgeber es ihm überlässt, die zeitliche Lage seines Urlaubs innerhalb des Freistellungszeitraums festzulegen Vgl. schon BAG, v. 19.3.2002 – 9 AZR 16/01, ZIP 2002, 2186.
Eine zeitliche Festlegung des – im Voraus erteilten – Urlaubszeitraums sei 404 deshalb regelmäßig nicht notwendig. Nur in Ausnahmefällen, insbesondere aufgrund wirtschaftlicher Interessen, könne eine eindeutige zeitliche Festlegung nötig sein. Dies sei etwa denkbar, wenn der Arbeitgeber die Möglichkeit habe, einen Zwischenverdienst außerhalb des Urlaubszeitraums auf die Vergütung für den Freistellungszeitraum anzurechnen. Mangels entsprechenden Vorbehalts sei eine solche Anrechnung hier aber nicht möglich gewesen. Die Freistellungserklärung stelle vielmehr einen Verzicht auf eine solche Anrechnung dar. Praxistipp: Eine weitere für die betriebliche Praxis nicht ganz unwichtige Ausnahme hiervon liegt vor, wenn der Arbeitgeber den Vorbehalt der Anrechnung anderweitiger Vergütung nutzen will. Denn dann muss er den Urlaubszeitraum spezifizieren. Er kann etwaigen Zwischenverdienst also nicht bei einer pauschalen Erklärung verrechnen, sondern nur, wenn er die einzelnen Urlaubsabschnitte genau benennt (Lingemann, ArbRAktuell 2013, 520). Dies gilt jedenfalls bei der einseitigen Freistellung. Einigen sich die Parteien auf eine Freistellung unter Urlaubsanrechnung und Anrechnung anderweitiger Vergütung, dürfte eine Festlegung der Lage des Urlaubs demgegenüber entbehrlich sein.
Ganz wichtig für die betriebliche und insbesondere die Sanierungspraxis ist 405 die daran anschließende Feststellung des BAG, dass es darüber hinaus unerheblich sei, ob die Beklagte den Kläger überhaupt habe freistellen dürfen, da auch eine rechtswidrige Freistellung den Urlaubsanspruch erfüllt hätte.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
Rechtsfolge einer rechtswidrigen Freistellung sei insofern nur die Möglichkeit des Arbeitnehmers, einen Beschäftigungsanspruch geltend zu machen. 406 Diese Bewertung ist konsequent, da der Arbeitgeber – unabhängig von der Zulässigkeit einer unwiderruflichen Freistellung – in jedem Fall die Möglichkeit haben muss, den Anspruch des Arbeitnehmers auf Urlaubsgewährung zu erfüllen. Dem Arbeitnehmer ist eine privatautonome „Verteidigung“ gegen ungewünschte Urlaubsgewährung dadurch zumutbar, dass er seinen Beschäftigungsanspruch gerichtlich verfolgt. Praxistipp: Krisengeschüttelte Unternehmen mit entsprechend geringem Beschäftigungsbedarf können daher – insbesondere im Rahmen von Kündigungsschutzklagen vor dem Hintergrund einer umgesetzten Betriebsänderung – mithilfe (ggf. rechtswidriger) einseitiger unwiderruflicher Freistellungen das Entstehen unproduktiver Urlaubsabgeltungsansprüche verhindern.
2. Untergang des Urlaubsanspruchs trotz Arbeitsunfähigkeit 407 § 7 Abs. 3 BurlG ist aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/ 88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung („Arbeitszeitrichtlinie“) unionsrechtskonform so auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig ist. Das führt aber zu keinem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen bei Krankheit. Der EuGH hatte bereits in der sog. „KHS“-Entscheidung vom 22.11.2011 – C-214/20, NZA 2011, 1333
festgestellt, dass tarifliche Vorschriften zur Übertragung von Urlaubsansprüchen nicht gegen Unionsrecht verstoßen, wenn sie einen generellen Übertragungszeitraum von 15 Monaten für sämtliche Urlaubsansprüche vorsehen. Mit Urteil vom 7.8.2012 – 9 AZR 353/10, ZIP 2013, 239 = NZA 2012, 1216, dazu EWiR 2013, 45 (Matthias Köhler)
hatte das BAG diese Rechtsprechung aufgegriffen und entschieden, dass nach unionskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG gesetzliche Urlaubsansprüche, die der Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen nicht in natura nehmen kann, 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfallen. 408 In seinem Urteil vom 16.10.2012 – 9 AZR 63/11, NZA 2013, 326
hatte der Senat ergänzend klargestellt, dass weder Art. 31 Abs. 2 EU-GRCharta noch die Grundsätze über die unmittelbare Geltung von Richtlinien gegenüber dem Staat und seinen Einrichtungen einer derartigen unionsrechtskon-
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VIII. Urlaubsrecht
formen Auslegung des BUrlG entgegenstehen. Diese Grundsätze hat das BAG in seinem Urteil vom 11.6.2013 – 9 AZR 855/11, n. v.
in einem Fall bestätigt, in dem die Parteien über die Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs und des Schwerbehindertenzusatzurlaubs aus dem Jahr 2006 stritten. Der als schwerbehindert anerkannte Kläger war seit 1982 bei der Beklagten im Wasser- und Schifffahrtsamt beschäftigt. Ab dem 20.2.2006 bis zur Beendigung seines Arbeitsverhältnisses am 31.12.2009 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig krank. Er verlangte im März 2010 Abgeltung der in den Jahren 2006 bis 2009 entstandenen Urlaubsansprüche nach dem BUrlG und dem SGB IX (Schwerbehindertenzusatzurlaub), woraufhin die Beklagte für die in den Jahren 2007 bis 2009 entstandenen Urlaubsansprüche des Klägers einen entsprechenden Betrag auszahlte. Bezüglich der 24 Urlaubstage aus dem Jahr 2006 verweigerte die Beklagte eine Abgeltung mit der Begründung, nach Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation über den bezahlten Jahresurlaub vom 24.6.1970 („IAOÜbereinkommen“) sei der Urlaub des Klägers aus dem Jahr 2006 am 30.6.2008 verfallen und daher nicht abzugelten. Der Kläger vertrat die Ansicht, aufgrund seiner fortbestehenden Erkrankung habe weder sein gesetzlicher Mindesturlaub noch sein Schwerbehindertenzusatzurlaub untergehen können. Während der Kläger in den Vorinstanzen erfolgreich war, hielt das BAG die 409 Revision der Beklagten für zulässig und begründet. Dabei bestätigte der 9. Senat die in seiner jüngeren Rechtsprechung entwickelten Grundsätze: Dem Kläger stehe keine Abgeltung für den gesetzlichen Mindesturlaub nach dem BUrlG sowie für den Schwerbehindertenzusatzurlaub nach dem SGB IX aus dem Jahr 2006 zu. Diese Urlaubsansprüche seien bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG bereits vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses verfallen. Zwar sei § 7 Abs. 3 BUrlG aufgrund der Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung („Arbeitszeitrichtlinie“) unionsrechtskonform so auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht erlösche, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums erkrankt und deshalb arbeitsunfähig sei. Dies habe aber nur zur Folge, dass der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzutrete und damit erneut der Fristenregelung in § 7 Abs. 3 BUrlG unterfalle. Bestehe aber, wie im vorliegenden Fall, die Arbeitsunfähigkeit über den 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres fort, gebiete das Unionsrecht keine Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs mehr. Der zunächst aufrecht erhaltene Urlaubsanspruch erlösche daher zu diesem Zeitpunkt. Dies gelte sogar dann, wenn die Arbeitszeitrichtlinie – wie im entschiedenen Fall – unmittelbar zwischen Arbeitnehmer und dem Staat als Arbeitgeber zur Anwendung kommen könnte.
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
3. Verzicht des Arbeitnehmers auf Urlaubsabgeltung 410 In seinem Urteil vom 14.5.2013 – 9 AZR 844/11, NZA 2013, 1098
hat der 9. Senat demgegenüber klargestellt, in welchem Umfang ein Arbeitnehmer auf die Abgeltung seines Urlaubsanspruchs verzichten kann und damit den Gestaltungspielraum für individualvertragliche Regelungen über die Abgeltung des gesetzlichen bzw. individualrechtlichen Urlaubs konkretisiert. 411 Ausgangspunkt dafür, dass insoweit überhaupt ein Gestaltungsspielraum besteht, ist, dass das BAG – im Gegensatz zu seiner früheren Rechtsprechung, BAG, v. 21.7.1978 – 6 AZR 1/77, AP Nr. 5 zu § 13 BUrlG; BAG, v. 31.5.1990 – 8 AZR 132/89, NZA 1990, 935,
nicht mehr annimmt, dass aufgrund der Unabdingbarkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs (§§ 7 Abs. 4, 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG) über diesen auch nicht wirksam durch Rechtsgeschäft verfügt werden könne. Nach der vorhergehenden Rechtsprechung war aufgrund dieser Annahme ausgeschlossen, diesen Anspruch in einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich zum Gegenstand eines negativen Schuldanerkenntnisses zu machen. 412 Aufgrund der Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 20.1.2009 – C-350/06 und C-520/06, NZA 2009, 135 – Schultz-Hoff
hatte das BAG dann jedoch zunächst nur partiell und später vollständig die Surrogatstheorie aufgegeben. Nach aktueller Rechtsprechung des BAG ist der Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers ein reiner Geldanspruch, der sich nicht mehr von sonstigen Entgeltansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis unterscheidet und deshalb nicht mehr dem Fristenregime des BUrlG unterfällt BAG, v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, ZIP 2012, 2227 = NZA 2012, 1087, dazu EWiR 2012, 759 (Stoffels/Sprink). Praxistipp: Die Surrogatstheorie gilt aber auch für den Fall der Arbeitsfähigkeit des aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidenden Arbeitnehmers nicht mehr (BAG, v. 19.6.2012 – 9 AZR 652/10, ZIP 2012, 2227 = NZA 2012, 1087).
413 In seinem Urteil vom 14.5.2013 – 9 AZR 844/11, NZA 2013, 1098
hat der 9. Senat nun die Bedeutung der Unabdingbarkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs neu justiert. Aus der gesetzlich geregelten Unabdingbarkeit folgt danach weiterhin, dass das Entstehen des Abgeltungsanspruchs nicht zu Ungunsten von Arbeitnehmern in Frage gestellt werden kann. Abreden über den entstandenen Anspruch sind demgegenüber zulässig.
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VIII. Urlaubsrecht
Im entschiedenen Fall hatte die Beklagte am 26.11.2008 das Arbeitsverhältnis 414 mit dem seit Januar 2006 arbeitsunfähigen Kläger ordentlich zum 30.6.2009 gekündigt. In einem gerichtlichen Vergleich regelten die Parteien am 29.6.2010 u. a., dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten zum 30.6.2009 aufgelöst worden sei und die Beklagte an den Kläger eine Abfindung i. H. v. 11.500,00 € zahle. Außerdem sah der Vergleich folgende Klausel vor: „Mit Erfüllung des vorliegenden gerichtlichen Vergleichs sind wechselseitig alle finanziellen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, gleich ob bekannt oder unbekannt, gleich aus welchem Rechtsgrund, erledigt.“
Mit einem Schreiben vom 29.7.2010 hatte der Kläger von der Beklagten ohne 415 Erfolg gefordert, Urlaub aus den Jahren 2006 bis 2008 mit 10.656,72 € abzugelten. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgericht teilweise abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von Urlaubsabgeltung i. H. v. 6.543,60 € verurteilt. Die Revision der Beklagten hatte Erfolg und führte zur Wiederherstellung 416 des erstinstanzlichen Urteils. Danach kann der Arbeitnehmer, wenn das Arbeitsverhältnis beendet und der Urlaubsabgeltungsanspruch gem. § 7 Abs. 4 BUrlG entstanden ist, auf ihn grundsätzlich verzichten. Denn gem. § 13 Abs. 1 Satz 3 BUrlG könne zwar von der Regelung in § 7 Abs. 4 BUrlG, wonach der Urlaub abzugelten ist, wenn er wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden könne, nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden. Jedoch hindere diese Regelung nur einzelvertragliche Abreden, die das Entstehen von Urlaubsabgeltungsansprüchen ausschließen. Habe der Arbeitnehmer dagegen die Möglichkeit, Urlaubsabgeltung in Anspruch zu nehmen und sehe er davon ab, stehe weder nationales noch Unionsrecht einem Verzicht des Arbeitnehmers entgegen. Mit dieser Entscheidung setzt das BAG seine neuere Rechtsprechung zu Ur- 417 laubs- und Urlaubsabgeltungsansprüchen konsequent fort. Praxistipp: Sie ist allerdings auf tarifvertragliche Abgeltungsansprüche nicht anwendbar. Denn nach § 4 Abs. 4 Satz 1 TVG ist ein Verzicht auf entstandene tarifliche Rechte nur in einem von den Tarifvertragsparteien gebilligten Vergleich zulässig (zum Untergang von tarifvertraglichen Mehrurlaubsansprüchen vgl. BAG, v. 16.7.2013 – 9 AZR 914/11, EzA-SD 2013, Nr. 23, 13). Vor einer Bestätigung dieser Rechtsprechung des EuGH sollte in Aufhebungsverträgen und (außer-)gerichtlichen Vergleichen – soweit gleichzeitig eine Abfindung vorgesehen ist, auf die ergänzende Zahlungen angerechnet werden können – sinngemäß folgende Klausel aufgenommen werden: „Sollte dennoch ein Urlaubsabgeltungsanspruch bestehen, so mindert sich die in Ziff. … vereinbarte Abfindung um den Bruttobetrag der Urlaubsabgeltung zuzüglich hierauf entfallender Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung.“ (Formulierungsvorschlag nach Bauer, ArbRAktuell 2013, 289.)
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B. Vergütung, Arbeitszeit und Fehlzeiten, Differenzlohn und Freistellung, Haftung
4. Ersatzurlaub bei Verzug des Arbeitgebers mit der Urlaubsgewährung 418 Während die unwiderrufliche Freistellung zur Erfüllung von Urlaubsansprüchen führt und eine Ausgleichsklausel Abgeltungsansprüche erfassen kann, ist die bloße Nichtgewährung von Urlaub ohne ergänzende Ausgleichsklausel am Ende des Arbeitsverhältnisses selbstverständlich kein Mittel zur Reduzierung der mit Urlaubs(abgeltungs)ansprüchen verbundenen Belastungen. Dies gilt insbesondere für die Nichtgewährung im laufenden Arbeitsverhältnis. Völlig zu Recht hat das BAG dies noch einmal in seinem Urteil vom 14.5.2013 – 9 AZR 760/11, DB 2013, 2155
klargestellt. Daran hat auch die Aufgabe der Surrogatstheorie nichts geändert. Unter Bezugnahme auf seine frühere Rechtsprechung weist der 9. Senat insoweit darauf hin, dass, wenn der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer rechtzeitig verlangten Urlaub nicht gewähre, sich der im Verzugszeitraum verfallene Urlaubsanspruch in einen auf Gewährung von Ersatzurlaub als Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch umwandele. Der Urlaub des Klägers sei nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG). Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Beklagte im entschiedenen Fall mit der Urlaubsgewährung im Verzug befunden. 419 Ohne dass es einer Mahnung bedurft hätte, sei der Verzug nach § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB eingetreten, weil die Beklagte die Erfüllung des vom Kläger in seiner Klageschrift geltend gemachten Urlaubsanspruchs ernsthaft und endgültig verweigert habe. Zwar seien an die Annahme einer ernsthaften und endgültigen Verweigerung einer ihm obliegenden Leistung durch den Schuldner in der Regel strenge Anforderungen zu stellen. Deshalb könne der Kündigungserklärung eines Arbeitgebers nicht ohne Weiteres der Inhalt beigemessen werden, dieser werde die für die Erfüllung des Urlaubsanspruchs nötige Freistellung von der Arbeitspflicht verweigern, wenn der Arbeitnehmer den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geltend macht. Anders verhalte es sich jedoch, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses streiten und der Arbeitnehmer den Arbeitgeber erfolglos aufgefordert hat, ihm während des Kündigungsrechtsstreits Urlaub zu gewähren. In diesem Fall entbehre eine Mahnung des Arbeitnehmers regelmäßig ihres Sinnes. Eine Mahnung erwiese sich in diesem Falle als eine bloße Förmelei. 5. Keine Urlaubsabgeltung bei Tod des Arbeitnehmers 420 In seinem Urteil vom 12.3.2013 – 9 AZR 532/11, NZA 2013, 678,
hat der 9. Senat schließlich noch einmal bestätigt, dass Urlaubsabgeltungsansprüche nicht vererblich sind. Im entschiedenen Fall hatten die Klägerinnen, die Erbinnen ihrer am 20.1.2010 verstorbenen Mutter, die Abgeltung von nicht genommenem Urlaub ihrer Mutter begehrt. Die Beklagte beschäftigte 102
VIII. Urlaubsrecht
die Erblasserin seit 4.10.2006 bis zu ihrem Tod als Promotionsmitarbeiterin. Die seit 14.8.2008 als schwerbehindert anerkannte Erblasserin hatte einen Anspruch auf jährlich 28 Werktage Urlaub. Vom 10.2.2007 bis zu ihrem Tod war sie durchgehend arbeitsunfähig krank. Mit Schreiben vom 22.10.2009 erklärte die Beklagte die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2009. Die spätere Erblasserin erhob Kündigungsschutzklage und verlangte im Weiteren ohne Erfolg von der Beklagten, ihr für das Jahr 2006 einen Arbeitstag, für das Jahr 2007 28 Arbeitstage, für das Jahr 2008 33 Arbeitstage und für das Jahr 2009 35 Arbeitstage Urlaub zu gewähren. Hilfsweise beantragte sie, den Urlaub abzugelten. Mit rechtskräftigem Teilanerkenntnisurteil vom 2.2.2010 stellte das Arbeits- 421 gericht fest, das Arbeitsverhältnis zwischen der Erblasserin und der Beklagten sei nicht durch die Kündigung vom 20.10.2009 aufgelöst worden, sondern habe erst mit dem Tod der Erblasserin am 20.1.2010 sein Ende gefunden. Die Klägerinnen vertraten die Auffassung, der Anspruch auf Urlaubsabgeltung i. H. v. insgesamt 7.430,79 € falle als bloße Geldforderung in den Nachlass der Erblasserin. Die Klage hatte in keiner Instanz Erfolg. Der 9. Senat stellte insoweit noch einmal klar, der Urlaubsanspruch der Erb- 422 lasserin sei mit deren Tod untergegangen und habe sich nicht in einen Abgeltungsanspruch i. S. v. § 7 Abs. 4 BUrlG umwandeln können. Dabei sei unerheblich, ob der Erblasser bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krank gewesen sei. Auch der EuGH gehe davon aus, dass Urlaubsund Urlaubsgeltungsansprüche zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs seien. Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) stelle sicher, dass der Arbeitnehmer sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben erholen könne und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit verfüge. Diese Zwecke ließen sich – so der 9. Senat – durch den Tod des Arbeitnehmers nicht mehr erreichen. Es bestehe auch keine Verpflichtung, ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten (Art. 267 AEUV). Diese Rechtsprechung überzeugt, da einem Toten kein Urlaub gewährt wer- 423 den kann und dementsprechend auch kein Abgeltungsanspruch entstehen kann. Losgelöst davon hat das BAG die Sache zu Recht nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Denn Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie sichert den Urlaubsabgeltungsanspruch eines Arbeitnehmers, der aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Endet das Arbeitsverhältnis in Folge des Todes des Arbeitnehmers, könnten allenfalls seine Erben in den Genuss der Abgeltung gelangen. Auf die Erben ist in ihrer Funktion als Erben die Arbeitszeitrichtlinie aber nicht anwendbar. Praxistipp: Für die Praxis geklärt werden wird dies allerdings erst aufgrund der (überflüssigen) Vorlage des LAG Hamm v. 14.2.2013 – 16 Sa 1511/12, ArbuR 2013, 362; EuGH, v. 22.11.2013 – C-188/13 – Bollacke.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen I. Betriebsbedingte Kündigung 1. Bestimmtheit einer ordentlichen Kündigung Aussichtsreiche Sanierungen scheitern häufig an scheinbar „kleinen“ Dingen. 424 Denn während auf die großen Themen (insbesondere die Beteiligung des zutreffenden Betriebsrats im richtigen Umfang) zumeist besonderes Augenmerk gerichtet wird, werden scheinbar „kleine“ Themen häufig vernachlässigt. Zu diesen kleinen Themen gehört der Ausspruch einer wirksamen, insbesondere bestimmt genug formulierten Kündigungserklärung. Dies bezüglich hat das BAG mit seinem Urteil vom 20.6.2013 – 6 AZR 805/11, ZIP 2013, 1835, dazu EWiR 2013, 687 (Grau/Flockenhaus)
die maßgeblichen Vorgaben noch einmal klarstellend zusammengefasst und damit insbesondere die Zweifel beseitigt, die das Urteil des BAG vom 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, BAGE 135, 255 = ZIP 2011, 140, dazu EWiR 2011, 61 (Fuhlrott)
für Teile der betrieblichen Praxis mit sich gebracht hatte. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts In dem entschiedenen Fall hatte die Insolvenzverwalterin das Arbeitsverhält- 425 nis der Klägerin auf der Grundlage eines Musterkündigungsschreibens gekündigt, das auszugsweise wie folgt lautete: „Als Insolvenzverwalter spreche ich hiermit die ordentliche Kündigung des Arbeitsvertrages zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus. Der Kündigungszeitpunkt richtet sich nach der Dauer des Arbeitsverhältnisses gemäß § 622 BGB. Wenn das Arbeitsverhältnis keine 2 Jahre bestanden hat, wirkt die Kündigung mit einer Frist von vier Wochen zum Fünfzehnten oder zum Ende des Kalendermonats. Bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als 2 Jahren endet das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von einem Monat zum Ende des Kalendermonats und bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als 5 Jahren mit einer Frist von zwei Monaten zum Ende des Kalendermonats. Besteht das Arbeitsverhältnis mehr als 8 Jahre, so endet das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von drei Monaten zum Ende des Kalendermonats. Bei noch älteren Arbeitsverhältnissen greift gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO die Kündigung ebenfalls regelmäßig mit einer Frist von drei Monaten zum Ende eines Kalendermonats. Die noch längeren Fristen gemäß § 622 Abs. II BGB werden auf die Dreimonatsfrist des § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO reduziert. Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt. Für ein Arbeitsverhältnis, bei dem sich zwar aus § 622 Abs. 2 BGB eine kürzere als eine dreimonatige Kündigungsfrist ergeben würde, bei dem jedoch einzelvertraglich oder tarifvertraglich eine längere Kündigungsfrist vereinbart ist, wirkt sich § 113 Abs. 1 Satz 2 InsO dahingehend aus, dass die vereinbarte
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen Frist insoweit maßgeblich ist, als sie die Dreimonatsfrist nicht überschreitet. Ist sie länger als diese, so gilt die reduzierte Dreimonatsfrist, so dass solche Arbeitsverhältnisse ebenfalls mit einer Frist von drei Monaten zum Ende eines Kalendermonats enden. Bei einem befristeten Arbeitsverhältnis wirkt sich § 113 Abs. 1 InsO so aus, dass mit der Dreimonatsfrist gekündigt werden kann, sofern der Befristungszeitpunkt später liegt. Läuft die Frist vorher ab, so erlischt das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt, ohne dass es dieser Kündigung bedarf“.
426 Das Landesarbeitsgericht hatte vor diesem Hintergrund angenommen, die Kündigungserklärung sei bereits deswegen unwirksam, weil sie nicht ausreichend bestimmt sei und sich hierzu auf das Urteil des BAG vom 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, BAGE 135, 255 = ZIP 2011, 140,
gestützt. Dem ist der 6. Senat mit der vorliegenden Entscheidung zu Recht entgegen getreten und hat insoweit klargestellt, dass die „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ erklärte Kündigung das Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt beendet hat. b) Auslegung einer Kündigungserklärung 427 Im diesem Zusammenhang stellte das BAG zunächst klar, dass bei der Auslegung einer Kündigung nicht allein auf ihren Wortlaut abzustellen sei. Zu würdigen sein auch alle Begleitumstände, die dem Erklärungsempfänger bekannt waren oder die für die Frage erheblich sein können, welchen Willen der Erklärende bei Abgabe der Erklärung habe. Der Erklärungsempfänger müsse aus dem Wortlaut und den Begleitumständen unter anderem erkennen können, wann das Arbeitsverhältnis enden solle. Bei Zugang der Kündigung müsse für ihn bestimmbar sein, ob eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung gewollt sei und zu welchem Termin das Arbeitsverhältnis enden solle. aa) Angabe des Beendigungszeitpunkts 428 Hierfür genüge im Fall einer ordentlichen Kündigung regelmäßig die Angabe des Kündigungstermins oder der Kündigungsfrist. Ein Hinweis auf die maßgeblichen gesetzlichen oder tariflichen Regelungen reiche aus, wenn der Erklärungsempfänger dadurch unschwer ermitteln könne, zu welchem Termin das Arbeitsverhältnis enden solle. Vgl. Staudinger/Oetker, BGB, Vorbem. zu §§ 620 ff. Rn. 125 (Neubearbeitung 2011); ähnlich Eisemann, NZA 2011, 601, 602.
429 Auch eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt sei möglich, wenn dem Erklärungsempfänger die Dauer der Kündigungsfrist bekannt oder für sie/ihn bestimmbar sei.
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I. Betriebsbedingte Kündigung Praxistipp: Von Musterkündigungsschreiben, die alle für alle von Kündigung betroffenen Arbeitsverhältnisse potentiell maßgeblichen Kündigungsfristen enthalten, ist dennoch abzuraten. Denn eine Kündigung ist nicht auslegungsfähig und damit nicht hinreichend bestimmt, wenn in der Erklärung mehrere Termine für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses genannt werden und für den Erklärungsempfänger nicht erkennbar ist, welcher Termin gelten soll (BAG, v. 20.6.2013 – 6 AZR 805/11, ZIP 2013, 183).
In diesem Zusammenhang beseitigt der 6. Senat sodann die Zweifel, die sich 430 in der Praxis teilweise aufgrund der Entscheidung des 5. Senats vom 1.9.2010 – 5 AZR 700/09, BAGE 135, 255 = ZIP 2011, 140
ergeben hatten. In dem vom 5. Senat entschiedenen Fall ging es nämlich um die Frage, ob sich bei einer Kündigung, die einen bestimmten Kündigungstermin nennt, durch Auslegung ein anderer Kündigungstermin ermitteln lässt, wenn die Kündigung keine weiteren Angaben enthält. In diesem Zusammenhang hat der 5. Senat ausgeführt, auch das Bestimmtheitsgebot stehe der Auslegung der Kündigungserklärung zu einem anderen Termin entgegen. Es sei nicht Aufgabe des Arbeitnehmers, darüber zu rätseln, zu welchem anderen als dem in der Kündigungserklärung angegebenen Termin der Arbeitgeber die Kündigung gewollt haben könne. Dem ist aber – wie der 6. Senat zu Recht feststellt – nicht zu entnehmen, ohne Angabe eines datierten Kündigungstermins handele es sich nicht um eine ausreichend bestimmte Kündigungserklärung. Auch der 5. Senat gehe schließlich nicht davon aus, dass eine Kündigungserklärung in der Regel auslegungsfähig sei. bb) Regelmäßig keine weiteren inhaltlichen Anforderungen Im Anschluss tritt der Senat Versuchen des Landesarbeitsgerichts, die An- 431 forderungen an Kündigungserklärungen erheblich zu verschärfen völlig zu Recht entgegen. Er stellt klar, dass eine Kündigungserklärung „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“ – entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts – nicht deshalb unbestimmt ist, weil der Klägerin nicht das maßgebliche „Rechenprogramm (gesetzliche, tarif- oder arbeitsvertragliche Regelung)“ und die maßgeblichen Tatsachen (insbesondere die Dauer der Betriebszugehörigkeit) mitgeteilt worden seien. Hierzu stellt das BAG zunächst klar, dass der Arbeitgeber in der Regel da- 432 von ausgehen könne, dass der Arbeitnehmer seine Betriebszugehörigkeit kenne. Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis sind in diesem Zusammenhang zweifelhafte Betriebsübergänge in der Vergangenheit. Denn für derartige Sachverhalte könne ausnahmsweise anderes gelten. In diesen Fällen hält der 6. Senat eine Aufklärung über die maßgebliche Betriebszugehörigkeit ggf. für erforderlich.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
433 Für den Regelfall der dem Arbeitnehmer bekannten Betriebszugehörigkeit sei die Kündigungserklärung – so das BAG – allerdings hinreichend bestimmt, wenn das Kündigungsschreiben die maßgebliche Kündigungsfrist nenne. Der Arbeitnehmer sei dann unschwer in der Lage zu bestimmen, zu welchem „nächstmöglichen Zeitpunkt“ der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis beenden wolle. Praxistipp: Mit Blick auf diese Vorgaben sollte in der betrieblichen Praxis im Kündigungsschreiben idealerweise die Angabe der Kündigungsfrist verbunden mit dem geplanten Kündigungstermin sowie dem Zusatz „hilfsweise zum nächstmöglichen Termin“ erfolgen.
c) Anforderungen an die Mitteilung des Beendigungszeitpunkts in der Betriebsratsanhörung 434 Beachten sollte die betriebliche Praxis auch die Feststellungen des BAG zur Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG: 435 Insoweit stellt das BAG zunächst noch einmal klar, dass die Anhörung in der Insolvenz keinen erleichterten Anforderungen unterliegt. Der Insolvenzverwalter könne das Verfahren nach § 102 BetrVG allerdings mit den Verhandlungen über den Interessenausgleich verbinden. Praxistipp: Diese Verbindung ist nach den Feststellungen des BAG schon bei Einleitung des Beteiligungsverfahrens klarzustellen und ggf. im Wortlaut des Interessenausgleichs zum Ausdruck zu bringen. In der betrieblichen Praxis ist ein derartiges Vorgehen in der Regel zu empfehlen, weil eine Verbindung dieses Verfahrens Widersprüche des Betriebsrats gem. § 102 Abs. 5 BetrVG ausschließt und damit verhindert, dass infolge qualifizierter Widersprüche betriebsverfassungsrechtliche Weiterbeschäftigungsansprüche der von Kündigung betroffenen Arbeitnehmern entstehen. Allerdings steht zu Beginn der Verhandlungen typischerweise nicht fest, ob ein Interessenausgleich zustande kommen wird und der Betriebsrat darüber hinaus mit der Einbindung des Verfahrens nach § 102 BetrVG in den Interessenausgleich einverstanden ist. Insofern sollte der Arbeitgeber/Insolvenzverwalter jedenfalls zu Beginn der Interessenausgleichsverhandlung klarstellen, dass diese Verbindung seinerseits beabsichtigt ist. Dass sie nicht zu Beginn vereinbart wird, dürfte deshalb unproblematisch sein, weil sich zumeist ja erst im Rahmen der Verhandlung ergibt, welcher Arbeitnehmer aus welchen Gründen von Kündigung betroffen sind. Dies ist gerade Sinn und Zweck des Interessenausgleichsverfahrens.
436 Erleichterte Anforderungen gelten nach den Feststellungen des BAG im Vergleich zu den Anforderungen an die Erklärungen im Kündigungsschreiben für die Information des Betriebsrats über den Zeitpunkt der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Denn nach den Feststellungen des BAG ist der Betriebsrat regelmäßig ausreichend über diesen Zeitpunkt informiert,
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I. Betriebsbedingte Kündigung
wenn die geltende Kündigungsfrist feststeht und der Arbeitgeber klarstellt, dass die Kündigung in naher Zukunft ausgesprochen werden soll. Diese geringeren Anforderungen rechtfertigt das BAG zu Recht damit, dass der Arbeitgeber bei Einleitung des Anhörungsverfahrens häufig nicht sicher beurteilen kann, zu welchem Zeitpunkt dem Arbeitnehmer die beabsichtigte Kündigung zugehen wird. Etwas anderes gelte nur, wenn der Arbeitgeber gänzlich offenlasse, mit welcher Frist und zu welchem Termin die geplante Kündigung erklärt werden werde. Kennt der Betriebsrat umgekehrt die Sozialdaten des Arbeitnehmers und ist die gesetzliche oder tarifliche Kündigungsfrist anzuwenden, müsse der Arbeitgeber dem Betriebsrat regelmäßig nicht die Berechnung der Kündigungsfrist und den konkreten Endtermin mitteilen. Es reiche aus, wenn sich aus der Unterrichtung des Arbeitgebers ergebe, dass es sich um eine ordentliche Kündigung – im Zweifel zum nächsten Kündigungstermin – handele. Praxistipp: Um Diskussionen zu diesem Thema zu vermeiden, empfiehlt es sich in der betrieblichen Praxis gleichwohl die gesetzliche und eine etwaige (tarif-)vertragliche Kündigungsfrist anzugeben und dabei klarzustellen, von welchem Kündigungstermin der Arbeitgeber ausgeht. Dann ist für den Betriebsrat ebenfalls klar, welche Kündigungsfrist der Arbeitgeber zugrunde legt. Auch im Rahmen der Betriebsratsanhörung sollte ferner darauf hingewiesen werden, dass eine Kündigung „hilfsweise zum nächstmöglichen Termin“ erfolgen soll.
2. Betriebsbedingte Kündigung trotz Leiharbeitnehmereinsatz? Im Anschluss an das Wirksamwerden einer Betriebsänderung ist nicht selten 437 der Einsatz von Fremdpersonal erforderlich, um z. B. im Unternehmen nicht vorhandenes Know-how vorübergehend „einzukaufen“ oder – und das ist besonders häufig der Fall – um mit Leiharbeitnehmern Ausfallzeiten zu überbrücken, die durch die Unruhen und Unwägbarkeiten verursacht werden, die häufig mit einer Umsetzung von Restrukturierungsmaßnahmen verbunden sind. Da eine betriebsbedingte Kündigung gem. § 1 Abs. 2 KSchG voraussetzt, 438 dass keine Möglichkeit der weiteren Beschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen (freien, gleich- oder geringerwertigen) Arbeitsplatz im Unternehmen möglich ist, führt der Einsatz von Leiharbeitnehmern häufig zu Diskussionen um die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Darauf, dass ein Leiharbeitnehmereinsatz zur Unwirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung führen kann, hatte das BAG bereits in seinem Urteil vom 15.12.2011 – 2 AZR 42/10, ZIP 2012, 1629 = NZA 2012, 1044, dazu EWiR 2012, 535 (Wank)
hingewiesen. In seinem Urteil vom 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, ZIP 2013, 184 = NZA-RR 2013, 68, dazu EWiR 2013, 179 (Grimm/Linden)
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
hat der 6. Senat des BAG aber klargestellt, dass die (weitere) Beschäftigung von Leiharbeitnehmern einer betriebsbedingten Kündigung von eigenen Arbeitnehmern nicht generell entgegensteht. Maßgeblich sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 439 In dem zugrunde liegenden Fall hatte sich der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat im Zusammenhang mit dem geplanten Abbau von 153 Arbeitsplätzen auf einen Interessenausgleich mit Namensliste geeinigt. Darin war u. a. Folgendes festgelegt worden: „Sollte sich zukünftig zeitweise ein Personalmehrbedarf vorübergehend ergeben, so vereinbaren die Parteien bereits jetzt, dass der Arbeitgeber diesen zunächst mit Leiharbeitskräften bis zu einer Gesamtzahl von bis zu 10 %, gemessen an der Belegschaft des Werkes A (Produktionsbetrieb) abdecken kann. Dies ist beschränkt auf einen Personalmehrbedarf, der aufgrund von Urlaubsund Krankenfehlzeiten entsteht. Sollte sich auftragsbezogen ein vorübergehender Mehrbedarf ergeben, so werden die Betriebsparteien eine gesonderte Regelung treffen, wie diesem Mehrbedarf begegnet werden soll“.
440 Der Kläger, der 1994 als Maschinenbediener eingestellt worden war, wurde auf der Namensliste als ein von einer betriebsbedingten Kündigung betroffener Arbeitnehmer genannt. Im Rahmen der Kündigungsschutzklage machte er u. a. geltend, die beabsichtigte Beschäftigung von Leiharbeitnehmern führe dazu, dass die betriebsbedingte Kündigung sozial ungerechtfertigt sei. Die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO sei aufgrund der umfangreichen Gestattung des Einsatzes von Leiharbeitnehmern widerlegt. Weiter meinte der Kläger, aufgrund der Diskrepanz zwischen einem im Interessenausgleich vorgesehenen Personalabbau von 153 Arbeitnehmern und nur 134 auf der Namensliste verzeichneten Arbeitnehmern, sei der Interessenausgleich fehlerhaft durchgeführt worden. b) Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 441 Das BAG folgte dem zu Recht nicht. Die Vermutung des § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO sei nicht widerlegt. Ob die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern freie Arbeitsplätze im Betrieb indiziere, hänge von den Umständen des Einzelfalls – konkret von dem Zweck der Beschäftigung von Leiharbeitnehmern – ab: x
Keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit i. S. v. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG bestehe, wenn Leiharbeitnehmer lediglich eingesetzt würden, um Auftragsspitzen aufzufangen.
x
An einem freien Arbeitsplatz fehle es in der Regel auch, wenn der Arbeitgeber Leiharbeitnehmer als Personalreserve vorhalte, um den Bedarf zur Vertretung abwesender Stammarbeitnehmer zu decken. Das gelte unabhängig davon, ob der Vertretungsbedarf vorhersehbar sei und regelmäßig anfalle.
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I. Betriebsbedingte Kündigung
Beschäftige der Arbeitgeber Leiharbeitnehmer dagegen, um mit ihnen ein 442 nicht schwankendes, ständig vorhandenes (Sockel-)Arbeitsvolumen zu decken, könne von einer alternativen Beschäftigungsmöglichkeit i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG auszugehen sein, die vorrangig für sonst zur Kündigung anstehende Stammarbeitnehmer genutzt werden müsse. Ausgehend von diesen Grundsätzen lägen – so das BAG – zunächst keine 443 unzulässigen Austauschkündigungen vor, da die Leiharbeitnehmer die Arbeit gekündigter Stammarbeitnehmer nicht dauerhaft übernommen hätten. Vorliegend seien die Leiharbeitnehmer nicht dauerhaft, sondern nur zur Vertretung eingesetzt worden. Die Übernahme von Tätigkeiten, die ggf. auch der gekündigte Arbeitnehmer verrichten könnte, stehe dem Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit für diesen Arbeitnehmer nicht entgegen. Die Arbeitgeberentscheidung, keine Personalreserve mehr vorzuhalten, führe zu „Reibungsverlusten“ und infolgedessen zu einem Personalmehrbedarf. Der Einsatz von Leiharbeitnehmern als „externe Personalreserve“ zum Ausgleich dieses Mehrbedarfs diene noch der Abdeckung des Vertretungsbedarfs. Ob der durch Reibungsverluste entstandene Personalmehrbedarf mit dem 444 Interessenausgleich vereinbar war, der nur auf einen durch Urlaubs- und Krankheitsfehlzeiten entstandenen Personalmehrbedarf abstellte, ließ das BAG mit folgender Überlegung offen: Selbst wenn der in Folge der Reibungsverluste erforderliche Einsatz von Leiharbeitnehmern von der Klausel nicht gedeckt wäre, stelle dies nur eine Verletzung des Interessenausgleichs dar, nicht aber eine Widerlegung der Vermutungswirkung nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO. Auch mit seinem weiteren Einwand drang der Kläger nicht durch: Personal- 445 abbau und betriebsbedingte Kündigungen seien – wie das BAG zu Recht feststellt – nicht identisch, weshalb die geringere Anzahl an Arbeitnehmern auf der Namensliste im Vergleich zu der Zahl im Interessenausgleich keine wesentliche Änderung der Sachlage nach § 125 Abs. 1 Satz 2 InsO darstelle. Die Arbeitsverhältnisse von 19 Arbeitnehmern seien durch Eigenkündigungen oder Aufhebungsverträge beendet worden. c) Bewertung für die Praxis Mit seiner überzeugend begründeten Entscheidung erleichtert das BAG die 446 Bewältigung größerer Personalabbau- und Restrukturierungsmaßnahmen durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern, indem es die im Zusammenhang mit Re- und Umstrukturierungen auftretenden Reibungsverluste als kündigungsrechtlichen „Rechtfertigungsgrund“ für den Einsatz von Leiharbeitnehmern anerkennt. Praxistipp: Mögliche oder gar absehbare Reibungsverluste und deren Bewältigung durch Leiharbeitnehmer sollten – anders als im entschiedenen Fall – allerdings bereits bei der Formulierung des Interessenausgleichs berücksichtigt werden.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
3. Kündigungsschutz: Leiharbeitnehmer und Größe des Betriebs 447 Die Mehrzahl der Insolvenzverfahren wird nach wie vor von eher kleinen (bzw. sehr kleinen), zumeist inhabergeführten Unternehmen beantragt. Sehr kleine Unternehmen profitieren grundsätzlich von einer Privilegierung durch Einschränkung des Kündigungsschutzes ihrer Mitarbeiter. Denn nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gilt das Kündigungsschutzgesetz für nach dem 31.12.2003 eingestellte Arbeitnehmer nur in Betrieben, in denen in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden. Dabei darf seit der Entscheidung des BAG vom 24.1.2013 – 2 AZR 140/12, ZIP 2013, 1442, dazu EWiR 2013, 493 (Fuhlrott)
aber nicht allein auf Vertragsarbeitnehmer des Unternehmens abgestellt werden. Denn in dieser Entscheidung hat der 2. Senat – entgegen der bislang herrschenden Meinung – entschieden, dass Leiharbeitnehmer bei der Bestimmung der Betriebsgröße im kündigungsrechtlichen Sinne zu berücksichtigen sind, wenn ihr Einsatz auf einem „in der Regel“ vorhandenen Personalbedarf beruht. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 448 In dem entschiedenen Fall war der Kläger seit Juli 2007 bei der Beklagten beschäftigt. Diese beschäftigte einschließlich des Klägers zehn eigene Arbeitnehmer. Im November 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien fristgerecht. Mit seiner Kündigungsschutzklage hat der Kläger geltend gemacht, bei der Anzahl der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer seien auch die von der Beklagten eingesetzten Leiharbeitnehmer zu berücksichtigen. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen, weil das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung finde. Die Revision des Klägers hatte vor dem 2. Senat des BAG Erfolg, weil nicht auszuschließen war, dass die Beklagte – unter Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern – in der Regel mehr als 10 Arbeitnehmer i. S. d. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG beschäftigte. b) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts 449 Der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern steht nicht schon entgegen, dass sie kein Arbeitsverhältnis zum Betriebsinhaber begründet haben. Der Gesetzeswortlaut sei insoweit nicht eindeutig. Gleiches gelte für Gesetzessystematik und Regelungszusammenhang ebenso wie für den Willen des historischen Gesetzgebers, der angesichts einer im Übrigen veränderten Regelung von Leiharbeitsverhältnissen durch zwischenzeitliche gesetzgeberische Eingriffe ohnehin nicht mehr unter allen Umständen tragfähig sei, ohne dass dies einen Umkehrschluss ermögliche. 450 Die zutreffende Lesart von § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG folge vor diesem Hintergrund aus dem Regelungszweck: Denn Sinn und Zweck der Herausnahme von Kleinbetrieben aus dem allgemeinen Kündigungsschutz nach § 23 Abs. 1
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I. Betriebsbedingte Kündigung
Satz 3 KSchG geböten unter Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 GG ein Verständnis, wonach Leiharbeitnehmer im Entleiherbetrieb bei der Bestimmung der Betriebsgröße insoweit mitzuzählen sind, wie ihr Einsatz einem „in der Regel“ vorhandenen Beschäftigungsbedarf entspricht. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG benachteilige die Arbeitnehmer in Kleinbetrieben 451 im Vergleich zu Arbeitnehmern in größeren Betrieben, weil diese zwar gegen willkürliche Kündigungen aus sachfremden Motiven geschützt seien, dieser Schutz aber nicht das Niveau des KSchG erreiche. Diese Benachteiligung bedürfe wegen Art. 3 Abs. 1 GG der verfassungsrechtlichen Legitimation, die darin liege, x
dass in Kleinbetrieben häufig eine enge persönliche Zusammenarbeit stattfinde,
x
dass Kleinbetriebe regelmäßig eine geringere Finanzausstattung aufwiesen, die sie häufig außerstande setze, Abfindungen bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu zahlen oder weniger leistungsfähiges, weniger benötigtes oder auch nur weniger genehmes Personal mitzutragen, und
x
dass der Verwaltungsaufwand, den ein Kündigungsschutzprozess mit sich bringt, den Kleinbetrieb stärker als ein größeres Unternehmen belaste. Vgl. dazu bereits BVerfG, v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, 169 = ZIP 1998, 705; BAG, v. 28.10.2010 – 2 AZR 392/08, ZIP 2011, 241, dazu EWiR 2011, 127 (Reichold); BAG, v. 19.4.1990 – 2 AZR 487/89, BAGE 64, 315.
Ggf. sei daher durch eine verfassungskonforme Auslegung des Betriebsbeg- 452 riffs sicherzustellen, dass nicht auch solchen Arbeitnehmern der allgemeine Kündigungsschutz entzogen werde, deren Beschäftigungsbetrieb bei objektiver Betrachtung gerade nicht die typischen Merkmale eines Kleinbetriebs im dargelegten Sinne aufweise. BVerfG, v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, 169 = ZIP 1998, 705; BAG, v. 28.10.2010 – 2 AZR 392/08, ZIP 2011, 241.
Ausgehend von einer Grenze von zehn Mitarbeitern, die der Gesetzgeber im 453 Rahmen seiner Einschätzungsprärogative festgelegt habe, sei diese – angesichts der vorstehend zusammengefassten Hintergründe für die Privilegierung von Kleinbetrieben – sowohl für den Fall, dass mehr als zehn eigene Arbeitnehmer beschäftigt werden, als auch für den Fall, dass der weitere regelmäßige Beschäftigungsbedarf durch Leiharbeitnehmer abgedeckt wird, überschritten. Denn der Grad der persönlichen Zusammenarbeit, die Finanzausstattung des Betriebs und dessen Belastbarkeit durch erhöhten Verwaltungsaufwand hingen – so das BAG – nicht davon ab, ob der Arbeitgeber regelmäßigen Beschäftigungsbedarf durch eigene Arbeitnehmer oder durch Leiharbeitnehmer abdecke. Es mache für die Bestimmung der finanziellen Leistungsfähigkeit
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
und Belastbarkeit des Entleihers keinen Unterschied, ob die Arbeitsplätze mit eigenen Arbeitnehmern oder mit Leiharbeitnehmern besetzt seien. Leiharbeitnehmer besetzten diese wie eigene Arbeitnehmer und unterlägen dem Weisungsrecht des Entleihers. Vgl. parallel argumentierend zu § 111 BetrVG bereits BAG, v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, ZIP 2012, 540, dazu EWiR 2012, 165 (Unger-Hellmich).
454 Durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern entstünden vergleichbare Personalkosten. Der Entleiher habe zwar den Leiharbeitnehmern kein Arbeitsentgelt, er hat jedoch dem Verleihunternehmen das vereinbarte Entgelt für deren Überlassung zu entrichten. Auch die Erwägung, jenseits der Grenze von zehn Arbeitnehmern sei typischerweise nicht mehr von einer für Kleinbetriebe kennzeichnenden engeren persönlichen Zusammenarbeit auszugehen, gelte unabhängig davon, ob die Beschäftigten eigene Arbeitnehmer oder Leiharbeitnehmer seien. c) Bedeutung für die Praxis 455 Auch wenn diese Feststellungen unberücksichtigt lassen, dass der Einsatz von Leiharbeitnehmern klassischerweise durch den Wunsch, Personalkosten zu senken, motiviert ist, was eine geringe(re) finanzielle Leistungsfähigkeit jedenfalls bei Betrieben mit in der Regel weniger als zehn „eigenen“ Vertragsmitarbeitern indizieren mag, wird die Praxis sich daran orientieren müssen. Dass den „Stammkräften“ mit dieser Stärkung ihres Kündigungsschutzes geholfen ist, kann bezweifelt werden. Denkbar ist, dass Inhaber von Kleinbetrieben zukünftig stärker auf Befristungen „setzen“ oder – dies gilt insbesondere für das produzierende Gewerbe – ihre Zusammenarbeit mit Zulieferern im Wege des Abschlusses von Werkverträgen intensivieren werden. Die derzeit (teilweise völlig überzogen polemische) politische Diskussion um „missbräuchliche“ Werkverträge und die Bemühungen, sie gesetzgeberisch zu untersagen, muss dabei im Blick behalten werden. 456 Relevant werden diese alternativen Gestaltungen natürlich erst dann, wenn der maßgebliche Schwellenwert überschritten wird bzw. überschritten zu werden droht. Insoweit stellt das BAG – diesmal in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung und seiner bisherigen Rechtsprechung – die Geltung der folgenden Grundsätze auch für den Leiharbeitnehmereinsatz klar: 457 Da § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG auf die „in der Regel“ im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer abstelle, komme es für die Betriebsgröße nicht auf die zufällige tatsächliche Anzahl der Beschäftigten [im Zeitpunkt des Kündigungszugangs] an. Maßgebend sei vielmehr die Beschäftigungslage, die im Allgemeinen für den Betrieb kennzeichnend sei. Zur Feststellung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl bedürfe es deshalb eines Rückblicks auf die bisherige personelle Stärke des Betriebs und einer Einschätzung seiner zukünftigen Entwicklung; Zeiten außergewöhnlich hohen oder niedrigen Geschäftsanfalls sind dabei
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nicht zu berücksichtigen. Dies gelte auch mit Blick auf Leiharbeitnehmer. Würden diese zur Vertretung von Stammarbeitnehmern beschäftigt, zählten sie grundsätzlich nicht mit. Ferner zählten sie – ebenso wenig wie vorübergehend beschäftigte eigene Arbeitnehmer – auch dann nicht mit, wenn sie nur zur Bewältigung von Auftragsspitzen eingesetzt würden, die den allgemeinen Geschäftsbetrieb nicht kennzeichneten. Dagegen seien sie mitzuzählen, soweit ihre Beschäftigung dem „Regelzustand“ des Betriebs entspreche, soweit also bestimmte Arbeitsplätze im fraglichen Referenzzeitraum stets mit Arbeitnehmern besetzt waren bzw. sein werden, sei es mit eigenen Arbeitnehmern des Betriebsinhabers, sei es, etwa nach deren Ausscheiden oder „immer schon“ mit (wechselnden) Leiharbeitnehmern. 4. Kündigung Schwerbehinderter in der Insolvenz: Integrationsamt darf Zustimmung nicht allein auf Namensliste stützen § 125 InsO, der in der Insolvenz im Vergleich zu § 1 Abs. 5 KSchG noch 458 weiterreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, soll als Teil der Reform des Insolvenzrechts marktwirtschaftlich sinnvolle Sanierungen ermöglichen. BT-Drucks. 12/2443 S. 77.
Soweit durch eine übertragende Sanierung aus der Insolvenz heraus – und sei 459 es auch nur vorübergehend – Arbeitsplätze erhalten werden, dient dies nicht nur dem Interesse des Arbeitgebers, sondern auch dem der Gesamtbelegschaft und der Allgemeinheit. Die Leistungsfähigkeit von Betrieben und Unternehmen in ihrer Gesamtheit gehört zu den Grundlagen eines funktionierenden Wirtschaftssystems. BAG, v. 28.6.2012 – 6 AZR 682/10, ZIP 2012, 1927, dazu EWiR 2012, 673 (Oetker).
Ein „Rund-um-sorglos-Paket“ bildet der Interessenausgleich mit Namenslis- 460 te aber auch in der Insolvenz nicht unbedingt, wie eine Entscheidung des VG Stuttgart vom 4.3.2013 – 11 K 3968/12, ZIP 2013, 1296 (Leitsatz)
jedenfalls für die Kündigung von schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeitern deutlich macht. a) Sachverhalt des VG Stuttgart In dem entschiedenen Fall war die mit einem Grad der Behinderung von 461 mindestens 50 schwerbehinderte Klägerin bei der Firma Anton Schlecker e. K. als Bezirksleiterin beschäftigt. Über das Vermögen der Firma wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insolvenzverwalter vereinbarte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste, der u. a. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin vorsah.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
462 Der Insolvenzverwalter beantragte beim beklagten Integrationsamt unter Verweis auf den Interessenausgleich mit Namensliste die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung der Klägerin, die auch erteilt wurde. Daraufhin kündigte er das Arbeitsverhältnis am 6.6.2012 ordentlich. Die hiergegen gerichtete Kündigungsschutzklage der Klägerin vor dem Arbeitsgericht ruht. Gleichzeitig ging die Klägerin vor dem Verwaltungsgericht gegen die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamts vor. Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt. b) Bewertung durch das VG Stuttgart 463 Das Integrationsamt hat der Kündigung der Klägerin nach der Bewertung des VG Stuttgart zu Unrecht zugestimmt. aa) Auslegung von § 85 SGB IX 464 Das Zustimmungserfordernis ergibt sich aus § 85 SGB IX. Die Zustimmung steht grundsätzlich im Ermessen des Integrationsamts. Dabei muss – so das VG Stuttgart – allerdings der Zweck des § 85 SGB IX beachtet werden, der dahin gehe, die Schwerbehinderten vor den besonderen Gefahren, denen sie wegen der Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt sind, zu bewahren und sicherzustellen, dass sie gegenüber den gesunden Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen geraten. Dieser Aspekt habe auch die Leitlinie bei der Ermessensentscheidung zu sein, ob der Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten zuzustimmen ist. Diese Entscheidung erfordere deshalb eine Abwägung des Interesses des Arbeitgebers an der Erhaltung seiner Gestaltungsmöglichkeiten gegen das Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes. bb) Ermesseneinschränkung in der Insolvenz 465 Das Ermessen ist bei Insolvenz des Arbeitgebers allerdings eingeschränkt. In diesem Fall gilt gem. § 89 Abs. 3 SGB IX, dass das Integrationsamt die Zustimmung erteilen soll, wenn x
der schwerbehinderte Mensch in einem Interessenausgleich namentlich als einer der zu entlassenden Arbeitnehmer bezeichnet ist (§ 125 InsO),
x
die Schwerbehindertenvertretung beim Zustandekommen des Interessenausgleichs gem. § 95 Abs. 2 SGB IX beteiligt worden ist,
x
der Anteil der nach dem Interessenausgleich zu entlassenden schwerbehinderten Menschen im Betrieb nicht größer ist als der Anteil der zu entlassenden übrigen Arbeitnehmer und
x
die Gesamtzahl der schwerbehinderten Menschen, die nach dem Interessenausgleich bei dem Arbeitgeber verbleiben sollen, zur Erfüllung der Beschäftigungspflicht nach § 71 SGB IX ausreicht.
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c) Anforderungen an die Ausgestaltung von Interessenausgleichen Im entschiedenen Fall waren die Vorgaben von § 89 Abs. 3 SGB IX nach der 466 Bewertung des VG Stuttgart nicht erfüllt. Eine Einschränkung des Ermessens nach § 89 SGB IX kam danach nicht in Betracht, weil die Beigeladene die für diese Ermessensreduktion erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt hatte. Im Rahmen der daher nicht nach § 89 SGB IX eingeschränkten Ermessensentscheidung hätte das Integrationsamt – so das VG Stuttgart – bei der Erteilung der Zustimmung zur Kündigung der Klägerin nicht allein auf den Interessenausgleich mit Namensliste, die auch den Namen der Klägerin enthielt, abstellen dürfen. Vielmehr hätte es sich vergewissern müssen, dass der Interessensausgleich der besonderen Situation von schwerbehinderten Beschäftigten und insbesondere der Situation der Klägerin überhaupt Rechnung getragen habe. Insoweit fehle eine ausreichende Entscheidungsgrundlage. Denn der Interessenausgleich lasse nicht erkennen, nach welchen Kriterien die Sozialauswahl erfolgt sei. Insbesondere bleibe völlig unklar, ob die Gruppe der schwerbehinderten Be- 467 schäftigten bei der Auswahl gem. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG und unter Berücksichtigung ihres Teilhabeanspruchs nach dem SGB IX besonders gewichtet worden ist und ggf. nach welchen Gesichtspunkten. Ein Punkte-Schema oder Vergleichbares enthalte weder der Interessenausgleich noch seine Anlagen. Der Insolvenzverwalter der Fa. Schlecker habe in dem Zustimmungsverfahren die Auswahlkriterien auch nicht dargelegt, wozu er indes vom Integrationsamt auch nicht aufgefordert worden sei. Das beklagte Integrationsamt habe damit die maßgebliche Rechtslage nicht 468 in seine Ermessenserwägungen eingestellt, und es bestehen nach den Feststellungen des VG Stuttgart auch keine Hinweise darauf, dass es sich deren überhaupt bewusst war. Es hätte sich vergewissern müssen, dass der „Interessensausgleich“ vom 28.3.2012 der besonderen Situation von schwerbehinderten Beschäftigten, insbesondere die der Klägerin, überhaupt Rechnung getragen habe. Die Ermessensentscheidung sei daher fehlerhaft, weil der Beklagte es unterlassen hat, den maßgeblichen Sachverhalt hinreichend aufzuklären. d) Bewertung für die Praxis Soweit sich die Auffassung des VG Stuttgart durchsetzt, ist selbst bei einer 469 Betriebsstilllegung auf der Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO) im Rahmen des Zustimmungsverfahrens nach § 85 SGB IX ein konkreter Vortrag dazu erforderlich, dass und auf welche Weise den Interessen schwerbehinderter (und gleichgestellter) Mitarbeiter im Rahmen der Sozialauswahl angemessen Rechnung getragen worden ist. Dies dürfte nur dann nicht gelten, wenn der einzige Betrieb des Unternehmens stillgelegt wird.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen Praxistipp: Wichtig für die betriebliche Praxis ist, die Kriterien hierfür im Interessenausgleich selbst deutlich zu machen. Dann kann nämlich – auf der Grundlage eines Umkehrschlusses aus den Feststellungen des VG Stuttgart – ein entsprechender Vortrag unter Bezugnahme auf den vorgelegten Interessenausgleich erfolgen. Soweit dies betriebsratsseitig nicht gewünscht und deshalb arbeitgeberseitig nicht durchsetzbar ist, sollten Arbeitgeber darauf achten, die im Rahmen der Sozialauswahl zu diesem Themenkreis geführten Diskussionen sorgfältig zu dokumentieren.
5. Betriebsbedingte Kündigung eines Leiharbeitnehmers – Anforderung an eine Sozialauswahl 470 Ein Auftragsverlust führt auch bei Arbeitnehmerüberlassungsunternehmen – entgegen einer verbreiteten Ansicht – nicht notwendig zur Zulässigkeit einer betriebsbedingten Kündigung. Dies hat das BAG noch einmal in seinem Urteil vom 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674
klargestellt. Darüber hinaus hat es noch einmal die für die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern im Rahmen einer Sozialauswahl maßgeblichen Grundsätze erläutert. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 471 Im entschiedenen Fall betrieb die Beklagte gewerbliche Arbeitnehmerüberlassung. In ihrer Niederlassung Frankfurt beschäftigte sie mehr als 100 Arbeitnehmer. Die Niederlassung hatte zwei Kunden, K und L. Der Kläger war als Leiharbeitnehmer bei K eingesetzt. Ende September 2010 erklärte K, man benötige den Kläger nicht mehr und melde ihn ab. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zum 31.12.2010. Der Kläger macht u. a eine fehlerhafte Sozialauswahl geltend. Zumindest drei weiterhin bei K eingesetzte Arbeitnehmer waren sozial deutlich weniger schutzbedürftig als der Kläger. Die Beklagte machte geltend, sie sei an die Wünsche von K gebunden, bei Nichtbefolgung drohe Auftragsverlust. 472 Die Kündigung hat das Arbeitsverhältnis nach der Bewertung des BAG nicht aufgelöst. Sie sie – so das BAG – jedenfalls wegen fehlerhafter Sozialauswahl sozial ungerechtfertigt i. S. d. § 1 Abs. 2, Abs. 3 KSchG. Ob die Beklagte hinreichend dargelegt habe, dass im Zeitpunkt der Kündigung eine Einsatzmöglichkeit für den Kläger auf Dauer nicht mehr bestand, zu den Anforderungen an die Darlegung des Kündigungsgrundes bei Wegfall der Einsatzmöglichkeit eines Leiharbeitnehmers, vgl. BAG, v. 18.5.2006 – 2 AZR 412/05, DB 2006, 1962,
ließ das BAG offen.
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b) Anforderungen an die Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern Der 2. Senat bestätigt aber im Anschluss daran seine ständige Rechtspre- 473 chung zur Vergleichbarkeit von Arbeitnehmern im Rahmen der Sozialauswahl. Danach hat der Arbeitgeber in die Sozialauswahl diejenigen Arbeitnehmer einzubeziehen, die objektiv miteinander vergleichbar sind. Vergleichbar sind Arbeitnehmer, die – bezogen auf die Merkmale des Arbeitsplatzes – sowohl aufgrund ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse als auch nach dem Inhalt der von ihnen vertraglich geschuldeten Aufgaben austauschbar sind. Dies ist nicht nur bei identischen Arbeitsplätzen der Fall, sondern auch dann, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner Tätigkeit und Ausbildung die zwar andere, aber gleichwertige Tätigkeit ausüben kann. An einer Vergleichbarkeit fehlt es, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer aus Rechtsgründen nicht einseitig auf den fraglichen anderen Arbeitsplatz um- oder versetzen kann. Die Sozialauswahl ist – wie das BAG im Urteil vom 20.6.2013 noch einmal bestätigt hat – auf Arbeitnehmer desselben Betriebs beschränkt. Praxistipp: Dies gilt auch bei unternehmensübergreifendem Versetzungsrecht (BAG v. 15.12.2005 – 6 AZR 199/05, ZIP 2006, 2008 = NJW 2006, 1757).
Ein Betrieb ist die organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber 474 allein oder mit seinen Arbeitnehmern durch Einsatz technischer und immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen. Da mit und in einem Betrieb mehrere Zwecke verfolgt werden können, ist nach der Bewertung des BAG in erster Linie auf die Einheit der Organisation, nicht auf die Einheit der arbeitstechnischen Zweckbestimmung abzustellen. BAG, v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674. Praxistipp: Erforderlich ist damit ein Leitungsapparat, um insbesondere in personellen und sozialen Angelegenheiten wesentliche Entscheidungen selbständig treffen zu können.
c) Besonderheiten bei Leiharbeitsunternehmen Daraus folgt für Leiharbeitsunternehmen, dass zum Betrieb des Verleihers alle 475 unter einer einheitlichen Leitung zusammengefassten, zu dem Zweck ihrer Überlassung an Dritte beschäftigten Arbeitnehmer gehören. Der Betrieb umfasst nicht nur die einsatzfreien, sondern auch die im Einsatz befindlichen Arbeitnehmer. Sie sind also – soweit die übrigen Kriterien der Vergleichbarkeit vorliegen – in eine Sozialauswahl einzubeziehen. BAG, v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674.
Zu den in Bezug auf Leiharbeitnehmer möglicherweise bestehenden Beson- 476 derheiten hat das BAG in seinem Urteil vom 20.6.2013 in Übereinstimmung 119
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
mit der in der Literatur herrschenden Meinung weitergehende Klarstellungen getroffen. Danach sind, soweit das typischerweise gegenüber dem Entleiher bestehende Recht des Verleihers zum Austausch der überlassenen Arbeitnehmer nicht ausnahmsweise ausgeschlossen ist, in die Sozialauswahl im Verleiherbetrieb grundsätzlich auch diejenigen Arbeitnehmer einzubeziehen, die Unternehmen zur Arbeitsleistung auf vergleichbaren Arbeitsplätzen überlassen sind. Dies schlussfolgert das BAG zutreffend aus den einer Arbeitnehmerüberlassung typischerweise zugrunde liegenden Vereinbarungen zwischen Ent- und Verleiher: 477 Die Hauptleistungspflicht des Verleihers gegenüber dem Entleiher bestehe darin, einen arbeitsbereiten, den vertraglich festgelegten Anforderungen entsprechenden Arbeitnehmer für die vereinbarte Dauer zur Verfügung zu stellen. Diese Verpflichtung entspreche regelmäßig einer – wenn auch auf die Auswahl einer Person, nicht einer Sache, gerichteten – „Gattungsschuld“, auf die § 243 BGB entsprechende Anwendung finde. Ohne besondere Abrede sei der Verleiher lediglich verpflichtet, einen i. S. d. § 243 Abs. 1 BGB fachlich geeigneten, nicht aber einen bestimmten Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Aus dem Charakter der Arbeitnehmerüberlassung als Dauerschuldverhältnis folge dabei zwar, dass dem Entleiher für die gesamte Laufzeit des Vertrags ein geeigneter Leiharbeitnehmer zur Verfügung stehen muss. Der Verleiher habe aber grundsätzlich das Recht zum Austausch, sofern dem nicht eine Vereinbarung mit dem Entleiher oder sonstige berechtigte Belange des Entleihers – wie etwa eine lange Einarbeitungszeit für unternehmensspezifische Aufgaben – entgegenstehe. 478 Offengelassen hat das BAG insoweit aber, ob die Ersetzungsbefugnis des Verleihers vertraglich oder nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgeschlossen sein kann, wie in der Literatur vielfach angenommen wird. Für viele Ulber/D. Ulber, AÜG, § 12 Rn. 23; vgl. auch Thüsing/Thüsing, AÜG, § 12 Rn. 27: zwar vertragliche Konkretisierung, nicht aber vertraglicher Ausschluss möglich, allenfalls Ausschluss nach § 242 BGB.
479 Ohne Zustimmung des Entleihers sei der Verleiher in einem solchen Fall nicht zum Austausch eines überlassenen Leiharbeitnehmers berechtigt Boemke, BB 2006, 997, 998; Schüren/Hamann/Schüren, AÜG, Einl. Rn. 329; Thüsing/Thüsing, AÜG, § 12 Rn. 26.
480 Die Überlassung eines anderen Leiharbeitnehmers stelle in diesem Fall keine Vertragserfüllung dar. Boemke, BB 2006, 997, 998.
481 Sei wiederum der Verleiher im Verhältnis zum Entleiher nicht zum Austausch eines überlassenen Arbeitnehmers berechtigt, stehe dies dessen Einbeziehung in eine Sozialauswahl im Verleiherbetrieb entgegen. Ein vertrag-
120
I. Betriebsbedingte Kündigung
licher Ausschluss der Austauschbarkeit wird zum Teil schon dann angenommen, wenn der Entleihvertrag die Überlassung eines bestimmten, namentlich benannten Arbeitnehmers vorsieht. Dahl, DB 2003, 1626, 1629.
Ob dem zu folgen ist, konnte das BAG im Streitfall offenlassen. Denn die 482 Beklagte musste die von ihr benannten, weiterhin beim Entleiher eingesetzten und objektiv vergleichbaren Arbeitnehmer im entschiedenen Fall jedenfalls deshalb in die Sozialauswahl mit dem Kläger einbeziehen, weil ihre Austauschbarkeit weder vertraglich noch nach Treu und Glauben ausgeschlossen war. Auf die Befugnis, sie zu ersetzen, hatte die Beklagte nach dem Überlassungsvertrag nicht verzichtet. Die Arbeitnehmer waren dort auch nicht namentlich genannt. Praxistipp: Für Verleihunternehmen folgt aus diesen Feststellungen, dass die Möglichkeit, eine Sozialauswahl vorausschauend durch entsprechende Vereinbarungen mit dem Entleiher im Ergebnis zu steuern, nicht von vorneherein ausgeschlossen ist. In Bezug auf besonders wichtige Arbeitnehmer können entsprechende Vereinbarungen bereits dann getroffen werden, wenn erste Krisenanzeichen erkennbar werden, aber noch kein konkreter Personalabbau in Rede steht. Denn dann kann auch von einer Umgehung der Sozialauswahl unter Verstoß gegen die Vorgaben des § 1 KSchG nicht ausgegangen werden.
Nicht entscheiden musste das BAG im konkreten Fall die für die Praxis 483 ebenfalls wichtige Frage, ob im Einsatz befindliche Arbeitnehmer wegen § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG schon dann nicht in eine Sozialauswahl beim Verleiher einzubeziehen sind, wenn ihr Austausch zwar nicht ausgeschlossen ist, der Entleiher für diesen Fall aber mit einem Auftragsentzug droht. Praxistipp: Dies wird man letztlich anhand der Bedeutung des Auftrags nach Maßgabe der allgemeinen zu § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG entwickelten Kriterien entscheiden müssen. Handelt es sich um den Hauptauftraggeber, dürften diese Kriterien in aller Regel erfüllt sein.
d) Auswirkung von Fehlern bei der Sozialauswahl Dem Arbeitgeber steht bei der Gewichtung der in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG 484 angeführten sozialen Grunddaten nach der Rechtsprechung des BAG ein Wertungsspielraum zu. Praxistipp: Dieser ist auch dann zu beachten, wenn er eine Sozialauswahl zunächst für entbehrlich gehalten hat (BAG, v. 7.7.2011 – 2 AZR 476/10, AP Nr. 26 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit [red. Leitsatz]).
Auch wenn eine Sozialauswahl gar nicht oder methodisch fehlerhaft durch- 485 geführt wurde, ist die Kündigung nach der Rechtsprechung des BAG aber 121
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
nicht aus diesem Grund unwirksam, wenn mit der Person des Gekündigten gleichwohl – und sei es zufällig – eine objektiv vertretbare Auswahl getroffen wurde. Vgl. zur Aufgabe der sog. Dominotheorie bei Sozialauswahl nach einem Punktesystem, BAG, v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, BAGE 120, 137.
486 Der Arbeitgeber braucht nicht die „bestmögliche" Sozialauswahl vorgenommen zu haben. Der ihm einzuräumende Wertungsspielraum führt dazu, dass sich nur deutlich schutzwürdigere Arbeitnehmer mit Erfolg auf einen Auswahlfehler berufen können. BAG, v. 20.6.2013 – 2 AZR 271/12, DB 2013, 1674.
e) Unabdingbarkeit und Gestaltungsspielraum durch Vereinbarung 487 Die Regelungen zur Sozialauswahl können – wie das BAG in seinem Urteil vom 20.6.2013 noch einmal ausdrücklich bestätigt – weder durch einzelvertragliche noch durch kollektivrechtliche Vereinbarung abbedungen werden, auch nicht zugunsten einzelner Arbeitnehmer. Denn eine solche Regelung würde sich zu Lasten anderer Arbeitnehmer auswirken. § 1 Abs. 3 KSchG steht nach den Feststellungen des BAG aber solchen Verschlechterungen der kündigungsrechtlichen Position eines Arbeitnehmers nicht entgegen, die sich aus einer zulässigen vertraglichen Gestaltung von Arbeitsbedingungen mit anderen Arbeitnehmern ergeben. Allerdings darf die betreffende Vertragsgestaltung nicht rechtsmissbräuchlich sein und allein Vorteile bei der Sozialauswahl bezwecken Praxistipp: Vgl. zur Anrechnung einer an sich nicht anrechnungsfähigen früheren Beschäftigungszeit durch einzelvertragliche Vereinbarung (BAG, v. 2.6.2005 – 2 AZR 480/04, DB 2006, 110).
f) Darlegungs- und Beweislast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl 488 Die Darlegungs- und Beweislast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl trägt gem. § 1 Abs. 3 Satz 3 KSchG der Arbeitnehmer. 489 Entgegen den entsprechenden Feststellungen der Vorinstanz, die in diesem Zusammenhang angenommen hatte, es bestehe dann bereits eine Vermutung dafür, dass der Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte bei der Auswahl des Arbeitnehmers nicht ausreichend berücksichtigt habe, wenn der Arbeitgeber den überwiegenden Teil der Belegschaft aus betriebstechnischen Gründen generell von der Auswahl ausgenommen habe, hat das BAG eine solche Vermutung abgelehnt. Dies folge insbesondere nicht aus der Entscheidung des 2. Senats vom 5.12.2002 – 2 AZR 697/01, BAGE 104, 138 = ZIP 2003, 1766, dazu EWiR 2004, 505 (Balle).
122
I. Betriebsbedingte Kündigung
Denn diese Entscheidung betreffe nicht die Regelung des § 1 Abs. 3 Satz 1 490 KSchG, sondern die Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG. Für § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG gelte eine solche Vermutung nicht. 6. Freier Arbeitsplatz im Ausland Kommt es zur Restrukturierung grenzüberschreitend tätiger Unternehmen, 491 stellt sich im Zusammenhang mit der Frage des „richtigen“ Betriebs als Restrukturierungsgegenstand regelmäßig auch die Frage, ob im Ausland tätige Arbeitnehmer in eine Sozialauswahl einzubeziehen sind. Näher BAG, v. 7.7.2011 – 2 AZR 12/10, NZA 2012, 148; Otto/Mückl, BB 2009, 1926 f. m. w. N.
Neben dieser sich auf die betriebliche Ebene beziehenden Frage, war zuletzt 492 umstritten, ob freie Arbeitsplätze im Ausland gem. § 1 Abs. 2 KSchG einer betriebsbedingten Kündigung entgegenstehen. Das BAG hat hierzu in seinem Urteil vom 29.8.2013 – 2 AZR 809/12, n. v. (Pressemitteilung)
klargestellt, dass sich ein gekündigter Arbeitnehmer nicht auf eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit in einem im Ausland gelegenen Betrieb des Arbeitgebers berufen kann. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Die Beklagte, ein Unternehmen der Textilindustrie mit Sitz in Nordrhein- 493 Westfalen, unterhielt seit geraumer Zeit in der Tschechischen Republik eine Betriebsstätte, in der sie Verbandsstoffe herstellte. Die „Endfertigung“ der Stoffe erfolgte in einem am Sitz der Beklagten gelegenen Betrieb. In diesem war die Klägerin seit 1984 als Textilarbeiterin tätig. Im Juni 2011 beschloss die Beklagte, ihre gesamte Produktion in der tschechischen Betriebsstätte zu konzentrieren. In Deutschland sollte lediglich die Verwaltung nebst „kaufmännischem Bereich“ bestehen bleiben. Mit Blick hierauf erklärte die Beklagte gegenüber den an ihrem Sitz beschäftigten Produktionsmitarbeitern eine ordentliche Beendigungskündigung. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die Beklagte habe ihr durch den Ausspruch einer Änderungskündigung die Möglichkeit geben müssen, über einen Umzug zumindest nachzudenken. b) Irrelevanz im Ausland belegener Arbeitsplätze Die Kündigungsschutzklage blieb – wie in den Vorinstanzen – vor dem BAG 494 erfolglos. Die aus § 1 Abs. 2 KSchG folgende Verpflichtung des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer zur Vermeidung einer Beendigungskündigung – ggf. im Wege der Änderungskündigung – eine Weiterbeschäftigung zu geänderten, möglicherweise auch zu erheblich verschlechterten Arbeitsbedingungen anzubieten, bezieht sich nach zutreffender Auffassung des BAG grundsätz123
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
lich nicht auf freie Arbeitsplätze in einem im Ausland gelegenen Betrieb des Arbeitgebers. Der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes sei gem. § 23 Abs. 1 KSchG nur auf Betriebe anzuwenden, die in der Bundesrepublik Deutschland liegen. In diesem Sinne müsse auch der Betriebsbegriff in § 1 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 KSchG verstanden werden. Ob dies der Berücksichtigung von Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland entgegensteht, falls der Arbeitgeber seinen Betrieb als Ganzen oder einen Betriebsteil unter Wahrung der Identität verlagert, konnte das BAG offenlassen. 495 Aufgrund der Verlagerung der „Endfertigung“ in die – mehrere hundert Kilometer von ihrem Sitz entfernte – tschechische Betriebsstätte hatte die Beklagte im vorliegenden Fall keine Möglichkeit mehr, die Klägerin in einem inländischen Betrieb weiter zu beschäftigen. Umstände, unter denen ausnahmsweise eine Verpflichtung des Arbeitgebers zu erwägen wäre, Arbeitnehmer im Ausland weiter zu beschäftigen, lagen nicht vor. 7. „Virtueller“ Alt-Betrieb bewirkt auch bei unerheblichen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses Kündigungsschutz 496 Nach den Feststellungen des BAG im Urteil vom 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, ZIP 2013, 2230
knüpft § 23 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 KSchG für die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zum „virtuellen Altbetrieb“ und damit für die Maßgeblichkeit des abgesenkten Schwellenwerts in § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG daran an, dass das Arbeitsverhältnis vor dem 1.1.2004 „begonnen hat“. 497 Das schließt es nach der Bewertung des BAG nicht aus, rechtliche Unterbrechungen dann außer Acht zu lassen, wenn der Arbeitnehmer durchgängig im Betrieb beschäftigt war. Selbst in Fällen, in denen es an einer nahtlosen Beschäftigung des Arbeitnehmers fehlt, könne – so das BAG – die rechtliche Unterbrechung unschädlich sein, wenn sie verhältnismäßig kurz gewesen sei und die fraglichen Arbeitsverhältnisse in einem engen sachlichen Zusammenhang stehe. Der Beginn des aktuellen Arbeitsverhältnisses i. S. d. § 23 Abs. 1 Satz 3 Halbs. 1 KSchG liege in solchen Fällen am Beginn des vor der Unterbrechung begründeten Vertragsverhältnisses. Das gelte auch dann, wenn die Unterbrechung mit einem Wechsel des Arbeitgebers verbunden war, sofern die Identität des „virtuellen Altbetriebs“ und die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zu diesem Betrieb gewahrt geblieben seien. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 498 Im entschiedenen Fall war die Klägerin bei der Beklagten zunächst zwischen 1966 und 2000 beschäftigt. Im Nachgang folgten mehrere Arbeitsverhältnisse mit anderen Vertragsarbeitgebern, von denen das letzte durch rechtswirksame Kündigung zum 30.11.2005 endete. Die Klägerin war im Anschluss wieder ab 1.12.2005 Arbeitnehmerin der Beklagten. Bei den „anderen“ Vertragsarbeit-
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I. Betriebsbedingte Kündigung
gebern entschieden allerdings teilweise identische Personen wie bei der Beklagten und auch Tätigkeit und Arbeitsort blieben unverändert. Der Geschäftsführer der Beklagten übte stets das Direktionsrecht aus, die Betriebsmittel waren stets diejenigen der Beklagten. Die Beklagte kündigte der Klägerin dann 2010. Nicht geklärt wurde, wie viele „Alt-Arbeitnehmer“ zum Kündigungszeitpunkt bei der Beklagten beschäftigt waren. Fest stand jedoch, dass es sich mindestens um drei handelte. Unstreitig beschäftigte die Beklagte zum Kündigungszeitpunkt inklusive der Klägerin insgesamt lediglich neun Arbeitnehmer. Daher war die Gewährung von Kündigungsschutz nach § 23 KSchG mit Blick auf die dort vorgesehenen Schwellenwerte abhängig von der Anrechnung der Vorbeschäftigungszeiten. b) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts Das BAG verwies die Sache zurück ans Landesarbeitsgericht, da die recht- 499 lichen Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses für die Frage nach dem „Beginn“ des Arbeitsverhältnisses i. S. v. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG unerheblich seien und es daher auf die Anzahl der „Alt-Arbeitnehmer“ im Kündigungszeitpunkt ankomme. Entscheidend sei, dass in Anbetracht der Umstände eine ununterbrochene Eingliederung der Klägerin in den Betrieb der Beklagten vorgelegen habe. Begründet wird dies im Wesentlichen mit einer Parallele zur Berechnung der Wartezeit in § 1 Abs. 1 KSchG, bei der im Rahmen aneinandergereihter Arbeitsverhältnisse ebenfalls irrelevant sein können. Insoweit gälten die gleichen Grundsätze Der für die „Alt-Arbeitnehmer“ in § 23 Abs. 1 KSchG bezweckte Schutz würde nach der Bewertung des BAG vereitelt, wenn man rechtliche Unterbrechungen trotz fortbestehender Eingliederung in den Betrieb für geeignet erachten würde, die Zugehörigkeit zum „virtuellen Altbetrieb“ aufzuheben. Auch der Wechsel der Vertragsarbeitgeber stehe dem nicht entgegen. Denn 500 auch insoweit müsse eine Übertragung der Grundsätze der Wartezeitberechnung aus § 1 Abs. 1 KSchG im Falle eines Betriebsübergangs erfolgen, wenn es um die Frage nach dem „Beginn“ des Arbeitsverhältnisses i. S. v. § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG gehe. Auch im Falle eines Gemeinschaftsbetriebes berühre der Wechsel des Vertragsarbeitgebers nach dem 31.12.2003 nicht die Zugehörigkeit des Arbeitnehmers zum „virtuellen Altbetrieb“. Das Landesarbeitsgericht müsse daher aufklären, ob ein Betriebsübergang oder ein Gemeinschaftsbetrieb vorgelegen habe und wie viele „Alt-Arbeitnehmer“ zum Kündigungszeitpunkt bei der Beklagten noch beschäftigt waren. Praxistipp: Diese Sichtweise wird die Sanierungspraxis in den wohl wenigen Fällen, die gleichgelagert sind, berücksichtigten müssen.
125
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen 501 In Krise und Insolvenz kommt es regelmäßig zu Massenentlassungen i. S. d. § 17 KSchG. Das BAG hatte in den vergangenen zwei Jahren, insbesondere in seinen Urteilen vom 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1622 = NZA 2012, 1029, dazu EWiR 2012, 707 (Hützen)
und vom 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32, dazu EWiR 2013, 85 (Wank)
wichtige Klarstellungen zur Bestimmung des Schwellenwerts, zu den Rechtsfolgen von Fehlern der Massenentlassungsanzeige, zu den Anforderungen an die Stellungnahme des Betriebsrats und zur Unmöglichkeit einer Heilung von Fehlern durch einen Bescheid der Agentur für Arbeit nach §§ 18, 20 KSchG getroffen. Mit der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Berechnung von Schwellenwerten nach § 23 KSchG durch sein Urteil vom 30.1.2013 – 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726
wird man dies auch in Bezug auf § 17 KSchG diskutierten müssen. Nachdem das BAG in seinem Urteil vom 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029,
zudem ausdrücklich – nicht unbedingt überzeugend – vgl. Mückl, BB 2012, 2570 ff.
eine individualschützende Komponente der bei einer Massenentlassung einzuhaltenden Formalien erkannt hat, deren Nichteinhaltung grundsätzlich zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung führt, muss die Praxis ihre Pflichten in diesem Zusammenhang noch ernster nehmen. 1. Zuständiger Betriebsrat 502 Das beginnt mit der Beteiligung des zuständigen Betriebsrats. Der Wortlaut des § 17 Abs. 2 KSchG differenziert dabei nicht nach Betriebsratsarten, sondern spricht nur davon, dass der Betriebsrat zu beteiligen ist. Zur Zuständigkeit von Gesamt- oder Konzernbetriebsrat schweigt das Gesetz ebenso wie zu Arbeitnehmervertretungsstrukturen nach § 3 BetrVG. Da die Beteiligung des falschen Betriebsrats aber wie eine Nichtbeteiligung zur Unwirksamkeit der Kündigung führt, sind für die Praxis die Hinweise des 6. Senats des BAG in seinem Urteil vom 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447,
besonders wichtig.
126
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
a) Abgrenzung zwischen Betriebsrat, Gesamt- und Konzernbetriebsrat Zunächst einmal ist danach der örtliche Betriebsrat im Rahmen von Massen- 503 entlassungen nicht generell zuständig. Vielmehr bestimmt sich die Zuständigkeit auch im Rahmen von § 17 Abs. 2, 3 KSchG nach den allgemeinen Grundsätzen, d. h. nach den §§ 50, 58 BertrVG. Vgl. bereits BAG, v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786 = NZA 2011, 1108, dazu EWiR 2011, 677; Mückl, ArbRAktuell 2011, 238.
Dies hat das BAG nun in seinem Urteil vom 13.12.2012
504
– 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447,
erstmals explizit klargestellt und für den Fall einer unternehmensinternen, aber betriebsübergreifenden Betriebsänderung die Zuständigkeit des Gesamtbetriebsrats nach § 50 BetrVG bejaht. Dass dies auch den Vorstellungen des Gesetzgebers entsprechen dürfte, zeigen die §§ 125 Abs. 2 InsO, 1 Abs. 5 Satz 4 KSchG. Denn in Fällen, in denen die Arbeitnehmer, denen aufgrund einer Betriebsänderung gekündigt werden soll, im Interessenausgleich namentlich bezeichnet sind, ersetzt der Interessenausgleich die Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Da dieser Interessenausgleich mit dem nach den Regelungen des BetrVG – insbesondere den §§ 50, 58 BetrVG – zuständigen Betriebsrat, Gesamt- oder Konzernbetriebsrat verhandelt und abschlossen werden muss, muss auch seine Stellungnahme der Agentur für Arbeit nach Abschluss der Konsultationen zugeleitet werden. Basis dieser Stellungnahme nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG sind die Unterrichtung und Beratung nach § 17 Abs. 2 KSchG ist, sodass insoweit dieselben Grundsätze gelten. Ausgehend von den in §§ 50, 58 BetrVG zum Ausdruck gekommenen Wer- 505 tungen ist damit örtliche Betriebsrat für die Beteiligung nach § 17 Abs. 2, 3 KSchG nur dann zuständig, wenn der geplante Personalabbau nicht auf der Grundlage eines unternehmenseinheitlichen Konzepts durchgeführt werden soll und nicht mehrere Betriebe übergreifend von der Betriebsänderung betroffen sind. Denn dann ist nach § 50 Abs. 1 BetrVG der Gesamtbetriebsrat zuständig. BAG, v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447.
Das entspricht auch den Sinn und Zweck der Unterrichtung des Betriebsrats, 506 die es ihm ermöglichen soll, konstruktive Vorschläge zur Vermeidung oder Einschränkung der Massenentlassungen zu unterbreiten. Sind mehrere Betriebe von einer nach einem einheitlichen Unternehmenskonzept durchgeführten Betriebsänderung betroffen, kann dies aber nur der Gesamtbetriebsrat. BAG, v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447; APS/Moll, Kündigungsrecht, § 17 KSchG Rn. 74c.
127
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
507 Erforderliche Kenntnisse des Gesamtbetriebsrats über die betrieblichen und regionalen Verhältnisse sind dadurch gewährleistet, dass jeder örtliche Betriebsrat mindestens ein Mitglied in den Gesamtbetriebsrat entsendet. BAG, v. 13.12.2012 – 6 AZR 5/12, NZI 2013, 447.
508 Daraus folgt die gleichzeitige Zuständigkeit für die Beteiligung nach § 17 Abs. 2, 3 KSchG. Grau/Sittard, BB 2011, 1845 ff.
509 Das Ergebnis dieser Konsultationen mit dem Gesamtbetriebsrat ist im Anschluss der Agentur für Arbeit mitzuteilen. Eine Zuständigkeit der örtlichen Betriebsräte scheidet schon deshalb aus, weil sie sich auf einen Vorgang beziehen müsste, an dessen Beratung sie nicht beteiligt waren. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32, dazu EWiR 2013, 85 (Wank); BAG, v. 7.7.2011 – 6 AZR 248/10, ZIP 2011, 1786 = NZA 2011, 1108, dazu EWiR 2011, 677 (Mückl).
510 Wird ein geplanter Personalabbau auf der Grundlage eines unternehmensübergreifenden Konzepts durchgeführt und sind mehrere Unternehmen mit ihren Betrieben von der Betriebsänderung betroffen, ist folgerichtig der Konzernbetriebsrat nach § 58 Abs. 1 BetrVG originär zuständig. Dies hat das LAG Düsseldorf in seinem Urteil vom 25.4.2013 – 15 Sa 1892/12, BeckRS 2013, 70903
mit Blick auf das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG zu Unrecht abgelehnt. Die Konsultationspflicht obliege nicht der Muttergesellschaft, sondern der Vertragsarbeitgeberin, also der Tochtergesellschaft. Diese müsse entweder den örtlichen Betriebsrat oder den Gesamtbetriebsrat konsultieren. Der Konzernbetriebsrat sei – wie die Muttergesellschaft auf Arbeitgeberseite – für die Konsultation über die geplante Massenentlassung unzuständig. Bei dem Interessenausgleich und dem Konsultationsverfahren handele es sich nicht um ein einheitliches Verfahren. Dies überzeugt mit Blick auf den Wertungsgleichlauf in §§ 50, 58 BetrVG nicht. Praxistipp: Sehr strenge Anforderungen stellt das LAG Düsseldorf auch an das Vorliegen einer Stellungnahme i. S. d. § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Der Konzernbetriebsrat habe sich mit den konkreten Kündigungen im Interessenausgleich überhaupt nicht befasst, sondern allenfalls mit den Betriebsänderungen als solchen. Dies reiche für eine Stellungnahme nach § 17 Abs. 3 KSchG nicht aus. Sollte das BAG diese Bewertung teilen, würden sich die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige weiter verschärfen. Nicht erwarten können wird man aber eine mit § 102 BetrVG vergleichbare Beschäftigung im Rahmen des § 17 KSchG. Das hätte eine weitere (überflüssige) Potenzierung von Beteiligungsrechten zur Folge.
128
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
Denkbar ist trotz der Zuständigkeit des Konzernbetriebsrats für den Interessen- 511 ausgleich allerdings, dass mit Blick auf den Sozialplan der Gesamtbetriebsrat bzw. der örtlichen Betriebsrat zuständig ist. Denn für Interessenausgleich und Sozialplan ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG nicht notwendig derselbe Betriebsrat zuständig. Vgl. BAG, v. 23.10.2002 – 7 ABR 55/01, ZIP 2003, 1514 = AP BetrVG 1972 § 50 Nr. 26; BAG, v. 11.12.2001 – 1 AZR 193/01, ZIP 2002, 1498 = BB 2002, 1487, dazu EWiR 2002, 743 (Ehrich); a. A. z. B. Richardi/Annuß, BetrVG, 14. Aufl., § 50 Rn. 37a.
Eine „Rückdelegation“ an den Gesamtbetriebsrat bzw. die örtlichen Betriebs- 512 räte, die das BetrVG auch in anderem Kontext nicht kennt, scheidet im Zusammenhang mit § 17 KSchG ebenfalls aus. Vgl. HWK/Hohenstatt/Willemsen, § 112 BetrVG Rn. 32a.
Denkbar ist lediglich umgekehrt, dass bei einer originären Zuständigkeit der 513 örtlichen Betriebsräte bzw. des Gesamtbetriebsrats eine Delegation an den Gesamt- bzw. Konzernbetriebsrat gem. der §§ 50 Abs. 2, 58 Abs. 2 BetrVG erfolgt. Praxistipp: Dies sollte in abgeschlossenen Vereinbarung und in den Erklärungen der Arbeitnehmervertreter gegenüber der Agentur für Arbeit klargestellt und ggf. vorsorglich der Agentur für Arbeit der Delegationsbeschluss (in Kopie) vorgelegt werden. Ist die Sach- und Rechtslage tatsächlich unklar oder schwierig feststellbar, wird man auf § 17 Abs. 2, 3 KSchG die Überlegungen des BAG im Urteil vom 24.1.1996 (1 AZR 542/95, ZIP 1996, 1391 = NZA 1996, 1107) und im Urteil vom 30.3.2004 (1 AZR 7/03, ZIP 2004, 1823, dazu EWiR 2005, 197 (Pomberg)) übertragen können.
b) Zuständigkeit bei Betriebsratsstrukturen nach § 3 BetrVG Die weitere Frage, welcher Betrieb der Berechnung der Schwellenwerte des 514 § 17 KSchG zugrunde zu legen ist (und damit ggf. auch welcher Betriebsrat zu beteiligen ist), ist umstritten und noch nicht höchstrichterlich geklärt. In der Literatur wird teilweise vertreten, lediglich die §§ 1, 4 BetrVG seien maßgeblich, während § 3 BetrVG, d. h. die Bildung von Betrieben durch Strukturvereinbarungen, keine Rolle spielen soll. KR/Weigand, § 17 KSchG Rn. 17; APS/Moll, Kündigungsrecht, § 17 KSchG Rn. 7.
Das BAG dürfte indes eher der zutreffenden Gegenansicht
515
Mückl, DB 2010, 2615, 2618; HWK/Molkenbur, § 17 KSchG Rn. 7,
129
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
zuneigen. Es stellt auch bei § 17 KSchG zwar grundsätzlich – zutreffend – auf den allgemeinen (betriebsverfassungsrechtlichen) Betriebsbegriff ab, löst sich davon aber, wenn eine gesetzliche Fiktion bezüglich des betriebsverfassungsrechtlich maßgeblichen Betriebsbegriffs Anwendung findet. Denn dann soll nach der Rechtsprechung des BAG die Fiktion des BetrVG maßgeblich sein, wie der 8. Senat in seinem Urteil vom 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, ZIP 2012, 2080 = DB 2012, 1690, dazu EWiR 2012, 655 (Grau/Sittard)
wie folgt klargestellt hat: „Gilt nach § 4 Abs. 1 BetrVG ein Betriebsteil als selbständig, so müssen die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG in diesem Betriebsteil überschritten sein, um die Anzeigepflicht auszulösen“.
516 Diese Bewertung hat das BAG in seinem Urteil vom 14.3.2013 bestätigt. BAG, v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687.
Da auch Vereinbarungen nach § 3 BetrVG – wie § 4 Abs. 1 BetrVG – einen fiktiven Betrieb (§ 3 Abs. 5 BetrVG) begründen, kann insoweit nichts anderes gelten. Näher Mückl, DB 2010, 2615, 2618 m. w. N.
2. Inhalt der Unterrichtung des Betriebsrats 517 Ist eine Massenentlassung gem. § 17 Abs. 1 KSchG beabsichtigt, sind dem Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen. Darüber hinaus ist er schriftlich insbesondere zu unterrichten über x
die Gründe für die geplanten Entlassungen,
x
die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenen Arbeitnehmer,
x
die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
x
den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
x
die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenen Arbeitnehmer,
x
die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.
518 Arbeitgeber und Betriebsrat haben sodann insbesondere die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern (§ 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG). Eine Abschrift dieser Mitteilung an den Betriebsrat ist durch den Arbeitgeber gleichzeitig der Agentur für Arbeit zuzuleiten. Sie muss zumindest die in § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 KSchG vorgeschriebenen Angaben enthalten (§ 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG).
130
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
In der betrieblichen Praxis entspricht der Inhalt der den Betriebsräten bei 519 Aufnahme von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen überlassenen Informationen über das Ob, Was, Wann und Warum der geplanten Maßnahme(n) häufig diesen Anforderungen nicht. Praxistipp: Für die §§ 111, 112 BetrVG ist das unerheblich. Denn für die betriebsverfassungsrechtliche Beteiligung des Betriebsrats bestehen (ebenso wie für die Unterrichtung des Wirtschaftsausschusses nach § 106 BetrVG) inhaltlich keine konkreten gesetzlichen Vorgaben. Vielmehr ist einzelfallbezogen so zu informieren, dass die Arbeitnehmervertreter die beabsichtigten Maßnahmen verstehen und beurteilen können.
Nach den §§ 80 Abs. 2 Satz 2, 106 Abs. 2 Satz 1 BetrVG sind die zur Durch- 520 führung der Aufgaben des Betriebsrats erforderlichen Unterlagen erst auf Verlangen zur Verfügung zu stellen. Doch genügt der Arbeitgeber durch die dementsprechende Unterrichtung und Beratung des Betriebsrats im Rahmen von §§ 111, 112 BetrVG in der Regel nicht seiner Unterrichtungs- und Beratungspflicht aus § 17 Abs. 2 KSchG. Dies gilt – wie das BAG mit Urteil vom 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32, dazu EWiR 2013, 85 (Wank)
klargestellt hat – sogar, wenn durch den Betriebsrat im Rahmen des Interessenausgleichs erklärt wird, dass er rechtzeitig und umfassend über die anzeigepflichtigen Entlassungen unterrichtet worden sei. Denn die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG ist eigenständig. Sie muss deshalb ergänzend zur Erfüllung der Pflichten aus §§ 111, 112 BetrVG erfolgen. Allerdings ist eine Verbindung des Interessenausgleichsverfahrens mit der Erfüllung der Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG nach der Rechtsprechung des BAG zulässig. Soweit die gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Pflichten aus § 111 BetrVG mit denen aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und § 102 Abs. 1 BetrVG übereinstimmten, könne der Arbeitgeber sie gleichzeitig erfüllen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32.
Er müsse aber klarstellen, dass und welche Verfahren gleichzeitig durchge- 521 führt werden sollen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 1412 = NZA 2013, 32.
131
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen Praxistipp: Das kann nicht nur auf den jeweils überlassenen Unterlagen geschehen. Denkbar ist auch, dass beide Parteien im Interessenausgleich ausdrücklich bestätigen, dass nicht nur das Verfahren nach § 111 f. BetrVG, sondern auch die das Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG erfüllt wurde. Damit kann und sollte zudem die Erklärung verbunden werden, dass der Interessenausgleich zugleich als Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG gilt (Musterformulierung bei Mückl, ArbRAktuell 2011, 238). Eine derartige Verbindung von Interessenausgleich und Stellungnahme des Betriebsrats nach § 17 KSchG ist zulässig (BAG, v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029, dazu EWiR 2012, 707 (Hützen)).
522 Im Urteil vom 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32
hat das BAG festgestellt, dass hierdurch nicht gegen die Massenentlassungsrichtlinie verstoßen wird. Denn die Ausgestaltung des bei Massenentlassungen anzuwendenden Verfahrens ist Sache der Mitgliedstaaten. Voraussetzung ist lediglich, dass die Effektivität und Äquivalenz gewahrt wird. EuGH, v. 16.7.2009 – C-12/08, AP zu Richtlinie 98/59/EG Nr. 5 – Mono Car-Styling.
3. Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrats 523 Wie im Rahmen von § 111 BetrVG auch muss die Unterrichtung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG „rechtzeitig“ erfolgen. Das ist nur der Fall, wenn der Arbeitgeber dem zuständigen Betriebsrat die erforderlichen Informationen so früh mitteilt, dass er noch konstruktive Vorschläge zu denkbaren Änderungen der Pläne (Ob, Was, Wann und Wie der geplanten Maßnahme(n)) machen kann. Es muss eine realistische Chance bestehen, dass der Betriebsrat – soweit Alternativen denkbar sind – noch eine Änderung der Maßnahme in Bezug auf die geplanten Entlassungen erreichen kann. EuGH, v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto.
524 Daraus folgt, dass jedenfalls vor einer strategischen oder betriebswirtschaftlichen Entscheidung informiert werden muss, um eine konstruktive Beratung zu ermöglichen. Praxistipp: Liegen dem Arbeitgeber die nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG erforderlichen Informationen bei Einleitung des Konsultationsverfahrens noch nicht vollständig vor, müssen sie folgerichtig, sobald sie vorliegen, – ggf. auch während der laufenden Beratungen – ergänzt werden.
525 Nach den Feststellungen des BAG ist dabei schon deshalb ein flexibler (proaktiver und reaktiver) Umgang notwendig, weil die Auskünfte zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Konsultationsprozesses zur Verfügung stehen können. 132
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
Der Arbeitgeber habe deshalb die Möglichkeit und zugleich auch die Pflicht, seine Auskünfte im Laufe des Verfahrens zu vervollständigen. EuGH, v. 10.9.2009 – C-44/08, NZA 2009, 1083 – Akavan Erityisalojen Keskusliitto; BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32. Praxistipp: Wichtig für den Arbeitgeber, nämlich für die Wirksamkeit von Kündigungen, ist, dass er nachweisen kann, dass er den zuständigen Betriebsrat bis zum Abschluss der Beratungen vollständig informiert hat. Dies sollte deshalb formell dokumentiert werden. Das kann auch bei einer Information in PowerPoint durch Ausdruck, Unterzeichnung und Übergabe der Folien geschehen. Im Anschluss muss die nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG notwendige Abschrift der (vervollständigten) Information der Agentur für Arbeit zugeleitet werden.
4. Form der Unterrichtung Offengelassen hat das BAG bislang, ob die Unterrichtung des Betriebsrats 526 nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG in der gesetzlichen Schriftform des § 126 Abs. 1 BGB erfolgen muss. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32.
Hiervon geht ein großer Teil der Literatur aus.
527
So ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn. 20, 28; APS/Moll, Kündigungsrecht, § 17 KSchG Rn. 70; v. Hoyningen-Huene/Linck, KSchG, § 17 Rn. 56.
Ein anderer Teil der Literatur hält eine – in welcher Papierform auch immer 528 erfolgende – Verkörperung der Unterrichtung für ausreichend, was – analog zu Überlegungen in Bezug auf § 99 BetrVG HWK/Ricken, § 99 BetrVG Rn. 56 f.
– eine Unterrichtung auch per Telefax, E-Mail oder sonstige schriftliche Unterlagen möglich macht, weil keine eigenhändige Unterschrift erforderlich ist. Das BAG hat in einer Vielzahl an Fällen, so z. B. für die Zustimmungsver- 529 weigerung des Betriebsrates zu personellen Einzelmaßnahmen oder zur Kündigung nach §§ 99 oder 102 BetrVG, für die das Gesetz eine „schriftliche“ Mitteilung verlangt, auch ein Telefax oder eine E-Mail, d. h. bloße Textform i. S. d. § 126b BGB genügen lassen. BAG, v. 9.12.2008 – 1 ABR 79/07, ZIP 2009, 2216 = DB 2009, 1357; BAG, v. 10.3.2009 – 1 ABR 93/07, NZA 2009, 622.
Ebenso ließ das BAG bei verschiedenen tarifvertraglich festgelegten Schrift- 530 formerfordernissen für die Geltendmachung von Ansprüchen o. ä. Erklärun133
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
gen in Textform i. S. d § 126b BGB genügen BAG, v. 11.10.2000 – 5 AZR 313/99, NZA 2001, 231 – zu § 16 BauRTV, Telefax; BAG, v. 16.12.2009 – 5 AZR 888/08, NZA 2010, 401 – zum TVL, E-Mail; BAG, v. 7.7.2010 – 4 AZR 549/08, ZIP 2010, 1618 = NZA 2010, 1068 – zu § 70 BAT, E-Mail.
531 Art. 2 Abs. 3 Richtlinie 98/59/EG lässt sich hierzu zwar keine abschließende Aussage entnehmen. Auch in seinem Licht sprechen aber die besseren Gründe gegen die gesetzliche Schriftform nach § 126 BGB. Denn § 126 BGB dient insbesondere dem Schutz vor Übereilung sowie den Klarheits- und Beweissicherungsinteressen der beteiligten Parteien bzw. Dritter. Einsele, in: MünchKomm-BGB, § 126 Rn. 1 f.
532 Bereits der Teilzweck Übereilungsschutz greift vorliegend aber nicht ein. Schließlich ist der Zweck des Schriftformerfordernisses in Art. 2 Abs. 3 Richtlinie 98/59/EG und in § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG nicht, den Arbeitgeber vor der übereilten Abgabe einer Willenserklärung zu schützen, sondern die Dokumentation einer ordnungsgemäßen Unterrichtung sicherzustellen. Hierfür genügt aber, wenn der Arbeitgeber in einem etwaigen Prozess nachweisen kann, dass die – wie auch immer – in Papierform dokumentierten Unterlagen dem zuständigen Betriebsrat auch vor und während einer Durchführung der Konsultationen zugegangen sind. 533 Wenn immerhin die vorstehend skizzierte Form gewahrt ist, kommt nach der Rechtsprechung des BAG im Übrigen jedenfalls die Heilung eines möglichen Schriftformverstoßes in Betracht. Dies gelte – so das BAG – zumindest dann, wenn die nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG verlangten Angaben gegenüber dem zuständigen Betriebsrat in einem schriftlichen, wenn auch nicht unterzeichneten Text dokumentiert wurden. Denn erkläre der Betriebsrat unter diesen Bedingungen im Rahmen seiner abschließenden Stellungnahme bei Unterzeichnung des Interessenausgleichs, dass er während der Interessenausgleichsverhandlungen umfassend gem. § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet und beteiligt worden sei, dass insbesondere auch die Möglichkeiten beraten wurden, Entlassungen zu vermeiden oder zumindest einzuschränken und ihre Folgen zu mildern, und dass das Konsultationsverfahren damit zum Abschluss gekommen sei, genüge dies, um die Verpflichtung aus § 17 Abs. 2 KSchG als gewahrt anzusehen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32; LAG Hamm, v. 6.6.1986 – 16 Sa 2188/86, LAGE KSchG § 17 Nr. 2.
534 Begründet hat der 6. Senat des BAG das zu Recht mit dem Zweck der Unterrichtungspflicht: Der Betriebsrat solle konstruktive Vorschläge unterbreiten können, um die Massenentlassung zu verhindern oder einzuschränken. Bringe er aber, nachdem ihm die Angaben nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG in einem 134
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
schriftlich abgefassten Text übermittelt wurden, selbst zum Ausdruck, dass er sich für ausreichend unterrichtet halte, drücke er damit aus, keine weiteren Vorschläge unterbreiten zu können oder zu wollen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, ZIP 2012, 2412 = NZA 2013, 32; BAG, v. 21.3.2012 – 6 AZR 596/10, ZIP 2012, 1259 = NZA 2012, 1058, dazu EWiR 2012, 429 (Fuhlrott).
5. Einbeziehung von Leiharbeitnehmern Im Urteil vom 24.1.2013
535
– 2 AZR 140/12, NZA 2013, 726
hat das BAG entschieden, dass Leiharbeitnehmer, deren Einsatz beim Entleiher auf einem „in der Regel“ vorhandenen Personalbedarf beruht, bei der Berechnung der Betriebsgröße des Entleihers nach § 23 Abs. 1 KSchG mitzuzählen sind. Vgl. dazu unter C. I. 3, Rn. 447 ff.
Die Begründungstruktur dieser Entscheidung entspricht der vom BAG bei 536 der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten des § 111 BetrVG entwickelten Argumentation. BAG, v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, ZIP 2012, 540 = NZA 2012, 221, dazu EWiR 2012, 165 (Unger-Hellmich).
Ob sie sich auf § 17 KSchG übertragen lässt, ist fraglich, zumal die Vorgaben 537 in § 17 KSchG durch die Massenentlassungsrichtlinie bestimmt werden, sodass die Frage, welcher Arbeitnehmerbegriff für § 17 KSchG maßgeblich ist, letztlich nur durch den EuGH beantwortet werden kann. Relevant werden kann er im Rahmen von § 17 KSchG unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten: bei der Berechnung der Betriebsgröße des Entleihers und bei der Zahl der Entlassungen im Entleiherbetrieb. a) Berücksichtigung bei der Betriebsgröße Mit Blick auf die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern, die länger als 538 sechs Monate im Betrieb eingesetzt sind, bei der Berechnung der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer im Rahmen von § 111 BetrVG im Urteil des BAG zu § 111 BetrVG vom 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, ZIP 2012, 540 = NZA 2012, 221
ist zwar denkbar, sie auch bei der Berechnung der Betriebsgröße im Rahmen von § 17 KSchG zu berücksichtigen. Mit Blick auf den arbeitsmarktpolitischen Schutzzweck der Massenentlassungsanzeige, der richtigerweise auch eher gegen einen individualschützenden Charakter spricht, vgl. Mückl, BB 2012, 2570 ff.
135
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
ist dies allerdings nicht zwingend. Denn die Beendigung des Arbeitseinsatzes bei dem Entleiher führt nicht automatisch zur Entlassung durch den Verleiher. Vgl. zur Sozialauswahl beim Entleiher in diesem Fall unter C. I. 5, Rn. 470 ff.
539 Selbst in diesem Fall würde diese Entlassung – jedenfalls wenn man den bisherigen Entlassungsbegriff beibehält – nicht als Entlassung des Entleihers verstanden, weil mit ihm kein Arbeitsvertrag besteht. Lediglich im Verleiherbetrieb wäre der Leiharbeitnehmer als „normaler“ Arbeitnehmer nach dem bisherigen Verständnis des BAG durch § 17 KSchG geschützt. 540 Die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei der Berechnung der Schwellenwerte führt im Übrigen zu größeren Betrieben, sodass trotz der Entlassung einer verhältnismäßig großen Zahl von Vertragsarbeitnehmern des Entleihers die Schwellenwerte des § 17 KSchG ggf. gerade durch den Einbezug der Leiharbeitnehmer nicht erreicht werden. Konsequenz daraus wäre, dass – anders als ohne Einbezug der Leiharbeitnehmer – keine Massenentlassungsanzeige erfolgen muss. Durch den Einbezug der Leiharbeitnehmer bei den Schwellenwerten würden die Vertragsarbeitnehmer des Entleihers also ggf. „Steine statt Brot“ erhalten. Denn der Einbezug der Leiharbeit würde den Schutz der Vertragsarbeitnehmer des Entleihers aufheben. Das erscheint auch mit Blick auf den arbeitsmarktpolitischen Schutzzweck des § 17 KSchG nicht sinnvoll. 541 Für die Einbeziehung der Leiharbeitnehmer könnte allerdings mit Blick auf sie selbst der Schutzzweck des § 17 Abs. 2 KSchG sprechen. Denn § 17 Abs. 2 KSchG will sicherstellen, dass über die Vermeidung von Entlassungen und die Milderung etwaiger Nachteile konstruktiv beraten wird. Damit ergibt sich eine Parallele zu §§ 111, 112 BetrVG, sodass es denkbar erscheint, die Überlegungen des BAG zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern im Rahmen des Schwellenwerts des § 111 Satz 1 BetrVG auf § 17 KSchG zu übertragen. Dagegen spricht m. E. aber entscheidend die bereits vorstehend angestellte Überlegung, dass die Leiharbeitnehmer Nachteile erst durch die Entlassung des Verleihers erleiden können und daher nach dem Sinn und Zweck des § 17 KSchG nicht zum Nachteil der Stammmitarbeiter des Entleihers bei den Schwellenwerten des § 17 KSchG berücksichtigt werden dürfen. 542 Keine Rolle spielt angesichts des beim Verleiher gewährleisteten Schutzes, ob sie selbst von geplanten Maßnahmen betroffen sein können. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn ihre Beschäftigung auf die Dauer eines Einsatzes beim Entleiher begrenzt ist. Mit Blick auf den beim Verleiher bestehenden Schutz sprechen die besseren Gründe aber dafür, dass es nicht zulässig ist, die Leiharbeitnehmer zu ihrem Schutz im Rahmen der Schwellenwertbestimmung beim Entleiher zu berücksichtigen und damit reflexartig der Stammbelegschaft des Entleihers den Schutz nach § 17 KSchG zu entziehen. Dass die EG-Richtlinie zur Massenentlassung Leiharbeitnehmer nicht aus-
136
II. Beteiligung des Betriebsrats bei Massenentlassungen
drücklich nennt, dürfte daran auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der EuGH im Urteil vom 21.10.2010 – C-242/09, NZA 2010, 1225 – Albron Catering; näher dazu Mückl, GWR 2011, 45; Forst, RdA 2011, 228.
Leiharbeitnehmer auch in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2001/23/ EG zum Betriebsübergang einbezogen hat, nichts ändern. Denn dort gebot der Wortlaut der Richtlinie, der zwischen Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis differenzierte, nach der Bewertung des EuGH diese Auslegung. Ein entsprechendes Bedürfnis löst der Wortlaut der Massenentlassungsrichtlinie aber nicht aus. b) Berücksichtigung bei der Anzahl der Entlassungen Vor dem gerade skizzierten Hintergrund überzeugt es grundsätzlich auch 543 nicht, die „zu entlassenden“ Leiharbeitnehmer bei der Ermittlung der Zahl der beim Entleiher „zu entlassenden Arbeitnehmer“ i. S. d. § 17 KSchG zu berücksichtigen. Denn durch den „Abbau“ von Leiharbeitsplätzen beim Entleiher bleibt ihr Arbeitsvertrag zum Verleiher unberührt. Hält man am bisherigen Verständnis des Begriffs „Entlassung“ fest, kann es sich dabei erst um eine Kündigung durch den Verleiher bzw. einen mit ihm abgeschlossenen Aufhebungsvertrag handeln. Die bisherige Rechtsprechung weist dementsprechend zutreffend eher in die 544 Gegenrichtung. Beide eingangs genannten Urteile BAG, v. 24.1.2013 – 2 AZR 140/12, ZIP 2013, 1442 = NZA 2013, 726, dazu EWiR 2013, 493 (Fuhlrott); BAG, v. 18.10.2011 – 1 AZR 335/10, ZIP 2012, 540 = NZA 2012, 221, dazu EWiR 2012, 165 (Unger-Hellmich)
berücksichtigen Leiharbeitnehmer lediglich bei der Berechnung der Betriebsgröße bzw. der Bestimmung des Anwendungsbereichs von § 23 KSchG und §§ 111, 112 BetrVG, nicht aber auf der Rechtsfolgenseite. Folgt man dem richtigerweise, führt die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern im Rahmen der Betriebsgröße bzw. des weder zu ihrem Schutz nach § 17 KSchG vor einer „Entlassung“ des Entleihers, d. h. einem Ausscheiden aus seinem Betrieb, noch zu einer Berücksichtigung ihrer Interessen im Rahmen von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen beim Entleiher. Das macht auch unter einem anderen Gesichtspunkt rein praktisch wenig Sinn: Denn der Betriebsrat des Entleihers wird schon wegen der Qualifizierung von dauerhaft mit Leiharbeitnehmern besetzten Arbeitsplätzen als „freie“ Arbeitsplätze i. S. d. § 1 Abs. 2 KSchG im Rahmen der Verhandlungen das Interesse haben, die Beschäftigung der eigenen Arbeitnehmer auf diesen Arbeitsplätzen durchzusetzen. Vgl. BAG, v. 18.10.2012 – 6 AZR 289/11, ZIP 2013, 184 = NZA-RR 2013, 68, dazu EWiR 2013, 179 (Grimm/Linden).
137
C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
545 Hiervon ausgehend sind auch Nachteilsausgleichsansprüche der Leiharbeitnehmer nach § 113 BetrVG ausgeschlossen. Diese Überlegungen wird man im Rahmen einer systematischen Auslegung von § 17 KSchG berücksichtigen müssen. Für den EuGH sind sie aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts natürlich nicht zwingend. Bis zu einer abweichenden Entscheidung des EuGH erscheint die hier vertretene Ansicht allerdings auch europarechtlich vertretbar. Praxistipp: Im Ergebnis ist derzeit leider keine klare Aussage zur Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern im Rahmen von § 17 KSchG möglich. Die Praxis wird bis zu einer klärenden Entscheidung alle drei denkbaren Gestaltungen durchspielen müssen. Es müssen dann letztlich drei Berechnungen erfolgen: 1. keine Berücksichtigung; 2. Berücksichtigung bei der Betriebsgröße, aber nicht bei der Zahl der Entlassungen; 3. Berücksichtigung bei der Betriebsgröße und der Zahl der Entlassungen Sicherheit besteht letztlich nur, wenn nach allen Berechnungen (k)eine Anzeige erforderlich ist. Im Übrigen sollten sich Arbeitgeber eng mit den zuständigen Agenturen für Arbeit abstimmen. Das schließt nach der Rechtsprechung des BAG zwar die Unwirksamkeit der Kündigung nicht aus, weil die Entscheidung der Agentur für Arbeit für die Arbeitsgerichte nicht bindend ist (BAG, v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, ZIP 2012, 1822 = NZA 2012, 1029, dazu EWiR 2012, 707 (Hützen)). Jedenfalls dürfte sich dadurch aber das praktische Risiko einer abweichenden arbeitsgerichtlichen Entscheidung reduzieren.
III. Befristung von Arbeitsverhältnissen 1. Wirksamkeit von Altersgrenzenregelungen in Kollektivvereinbarungen 546 Mit Blick auf das Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vor dem Hintergrund einer Umsetzung der EG-Antidiskriminierungsrichtlinien war in der Praxis mit Blick auf die Diskriminierungsverbote in § 75 Abs. 1 BetrVG zweifelhaft geworden, ob Altersgrenzen in Betriebsvereinbarungen, nach denen das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Kalendermonats endet, in dem der Arbeitnehmer die Regelaltersgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht, wirksam sind. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 547 Dies hat das BAG in seinem Urteil vom 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542, dazu EWiR 2013, 635 (A. Klasen)
in einem Fall bejaht, in dem der im Jahr 1942 geborene Kläger seit 1980 bei der Beklagten beschäftigt war. Nach der von beiden Parteien unterzeichneten „Einstellungsmitteilung“ war das Arbeitsverhältnis auf unbestimmte Zeit ge-
138
III. Befristung von Arbeitsverhältnissen
schlossen. Eine bei der Beklagten bestehende Gesamtbetriebsvereinbarung aus dem Jahr 1976 (GBV 6/76) sah die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen des 65. Lebensjahres vor. Dieses vollendete der Kläger im August 2007. Mit seiner Klage hat er sich gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses gewandt. b) Zulässigkeit von Altersgrenzen in Betriebsvereinbarungen Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auch die Revision des Klä- 548 gers blieb zu recht erfolglos. Nach den Feststellungen des BAG können Gesamtbetriebsrat und Arbeitgeber in einer freiwilligen Gesamtbetriebsvereinbarung eine Altersgrenze für die Beendigung von Arbeitsverhältnissen regeln. Dabei haben sie die Grundsätze von Recht und Billigkeit (§ 75 Abs. 1 BetrVG) zu beachten. Diese sind gewahrt, wenn die Altersgrenze an den Zeitpunkt anknüpft, zu dem der Arbeitnehmer die Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen kann. Eine solche Regelung verstößt nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung. Die Vereinbarung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses ist auch keine, die Altersgrenzenregelung der Gesamtbetriebsvereinbarung verdrängende einzelvertragliche Abmachung. Zur Begründung weist das BAG zunächst darauf hin, dass nach der ständigen 549 Rechtsprechung die Betriebsparteien durch Betriebsvereinbarungen Regelungen über den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen treffen können. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats sind die Betriebsparteien beim 550 Abschluss von Betriebsvereinbarungen gem. § 75 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BetrVG zur Wahrung der grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte verpflichtet. BAG, v. 17.7.2012 – 1 AZR 476/11, ZIP 2013, 539 = DB 2012, 2873.
Dazu gehört die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Ar- 551 beitnehmer. Daher bedürften auch Befristungsregelungen in Betriebsvereinbarungen zu ihrer Wirksamkeit eines sie rechtfertigenden Sachgrunds i. S. v. § 14 Abs. 1 Satz 1 TzBfG. BAG, v. 5.3.2013 – 1 AZR 417/12, ZIP 2013, 1542.
c) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts Zwar verfolge der Arbeitnehmer mit seinem Wunsch nach einer dauerhaften 552 Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses über das Regelrentenalter hinaus legitime wirtschaftliche und ideelle Anliegen. Jedoch habe der Arbeitnehmer bei Erreichen der Regelaltersgrenze regelmäßig ein langes Berufsleben hinter sich. Daneben war er typischerweise von der Anwendung der Altersgrenzenregelung durch seinen Arbeitgeber selbst begünstigt, weil sich seine Einstel-
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
lungs- und Aufstiegschancen durch das altersbedingte Ausscheiden anderer Arbeitnehmer verbessert haben. 553 Dem stehe das Bedürfnis des Arbeitgebers nach einer sachgerechten und berechenbaren Personal- und Nachwuchsplanung gegenüber. Dem Interesse des Arbeitgebers, beizeiten geeigneten Nachwuchs einzustellen oder bereits beschäftigte Arbeitnehmer fördern zu können, sei Vorrang vor dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer durch den Bezug der Regelaltersrente wirtschaftlich abgesichert sei. 554 Ende das Arbeitsverhältnis durch die vereinbarte Altersgrenze, verliere der Arbeitnehmer zwar den Anspruch auf die Arbeitsvergütung, die ihm bisher zum Bestreiten seines Lebensunterhalts zur Verfügung gestanden hat. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund einer Altersgrenzenregelung sei verfassungsrechtlich aber auch nur zu rechtfertigen, wenn an die Stelle der Arbeitsvergütung der dauerhafte Bezug von Leistungen aus einer Altersversorgung tritt. Die Anbindung an eine rentenrechtliche Versorgung bei Ausscheiden durch eine Altersgrenze sei damit Bestandteil des Sachgrunds. Die Wirksamkeit der Befristung sei allerdings nicht von der konkreten wirtschaftlichen Absicherung des Arbeitnehmers bei Erreichen der Altersgrenze abhängig. 555 Der durch § 4 Abs. 1 GBV 6/76 bewirkten Beendigung von Arbeitsverhältnissen bei Erreichen der Regelaltersgrenze stand im entschiedenen Fall das Verbot der Altersdiskriminierung aus § 75 Abs. 1 BetrVG, § 7 Abs. 1, § 1 AGG nicht entgegen. Die Altersgrenze führte zwar zu einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des Alters. Diese sei aber so das BAG – nach § 10 Satz 3 Nr. 5, Satz 1 und Satz 2 AGG zulässig. Weder diese gesetzliche Bestimmung noch die sie ausgestaltende Betriebsvereinbarung seien unionsrechtlich zu beanstanden. Praxistipp: Mit dem vorliegenden Urteil stellt das BAG Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen im Hinblick auf die Voraussetzungen und Wirksamkeit von Altersgrenzenregelungen gleich. Damit ist ein Rechtszustand erreicht, der bereits vor Inkrafttreten des AGG einmal gegolten hatte. Schon der Große Senat hat in seiner Entscheidung vom 7.11.1989 (GS 3/85, NZA 1990, 817) festgestellt, dass die Betriebsparteien befugt sind, Altersgrenzen zu regeln. Diese Regelungsbefugnis besteht allerdings nur – worauf auch in der vorliegenden Entscheidung zu Recht hingewiesen wird – in den Grenzen von Recht und Billigkeit (§ 75 Abs. 1 BetrVG). Höherrangiges und zwingende Recht darf nicht verletzt werden.
2. Verlängerung befristeter Leiharbeitnehmerverträge 556 Dass sich Leiharbeitnehmer nicht auf die Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28.6.1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge und die am 18.3.1999 geschlossene Rahmenvereinba-
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III. Befristung von Arbeitsverhältnissen
rung über befristete Arbeitsverträge im Anhang dieser Richtlinie (Rahmenvereinbarung) berufen können, hat der EuGH in seinem Urteil vom 11.4.2013 – C-290/12, NZA 2013, 495 – Oreste Della Rocca/Poste Italiane SpA
klargestellt. Denn diese sind dahin auszulegen, dass sie weder auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Leiharbeitsunternehmen noch auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem entleihenden Unternehmen anwendbar sind. Das Vorabentscheidungsersuchen betraf die Auslegung der §§ 2 und 5 Rahmen- 557 vereinbarung im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Della Rocca und der Poste Italiane SpA (im Folgenden: Poste Italiane) über das mit diesem Unternehmen begründete Arbeitsverhältnis. a) Sachverhalt des Europäischen Gerichtshofs Herr Della Rocca schloss mit der Obiettivo Lavoro SpA (im Folgenden: 558 Obiettivo Lavoro), einer Leiharbeitsgesellschaft, drei aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge, auf Grund deren er Poste Italiane als Postbote zur Verfügung gestellt wurde. Diese Verträge liefen vom 2.11.2005 – 31.1.2006, vom 2.2. – 30.9.2006 und vom 2.10.2006 – 31.1.2007. Geschlossen wurden sie auf der Grundlage eines befristeten Arbeitnehmerüberlassungsvertrags, den Poste Italiane mit Obiettivo Lavoro geschlossen hatte, um fehlendes Personal des Postzustelldiensts in der Region Kampanien zu ersetzen. Nur der Arbeitnehmerüberlassungsvertrag enthielt die objektiven Gründe zur Rechtfertigung des Abschlusses und der Verlängerung der befristeten Arbeitsverträge, nicht aber diese Verträge selbst. Herr Della Rocca, der die Ansicht vertrat, dass die Gründe für den Rückgriff auf die befristete Arbeitnehmerüberlassung „allgemein und haltlos“ seien und die Verlängerung der Überlassung nicht begründet worden sei, begehrte beim Tribunale di Napoli die Feststellung, dass zwischen ihm und Poste Italiane ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bestehe, weil die Überlassung in Ansehung der nach italienischem Recht anwendbaren Vorschriften unrechtmäßig gewesen sei. Das Tribunale di Napoli äußert Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen 559 Regelung mit § 5 der Rahmenvereinbarung. Seiner Ansicht nach stellt sich insoweit zunächst die Frage, ob das Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer oder dasjenige zwischen dem Leiharbeitnehmer und dem entleihenden Unternehmen in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fällt. Das Tribunale di Napoli beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH u. a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: „1. Bezieht sich die Richtlinie 1999/70/EG, vor allem § 2 der Rahmenvereinbarung, auch unter Berücksichtigung der Nebenbemerkung in RdNr. 36 des Beschlusses Briot, auch auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen dem überlassenen Arbeitnehmer und der Leiharbeitsagentur oder zwischen dem über-
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen lassenen Arbeitnehmer und dem Entleiher, und regelt die Richtlinie 1999/ 70/EG somit diese Verhältnisse?“
Der EuGH verneinte dies aus folgenden Gründen: b) Wesentliche Überlegungen des Europäischen Gerichtshofs 560 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 1999/70/EG und die Rahmenvereinbarung dahin auszulegen sind, dass sie auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem Leiharbeitsunternehmen oder auf das befristete Arbeitsverhältnis zwischen einem Leiharbeitnehmer und einem entleihenden Unternehmen anwendbar sind. Dafür spreche zwar der Wortlaut, wie der EuGH bereits an anderer Stelle entschieden habe. EuGH, v. 4.7.2006 – C-212/04, NJW 2006, 2465 – Adeneler u. a.
561 Allerdings sei der Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung nicht unbegrenzt. So gehe aus dem Wortlaut von § 2 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung auch hervor, dass sich die Definition der Arbeitsverträge und -verhältnisse, für die diese Rahmenvereinbarung gilt, nicht nach der Vereinbarung selbst oder dem Unionsrecht, sondern nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten richte. Außerdem verleihe § 2 Nr. 2 der Rahmenvereinbarung den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich der Anwendung der Rahmenvereinbarung auf bestimmte Kategorien von Arbeitsverträgen oder verhältnissen. Er eröffne den Mitgliedstaaten und/oder den Sozialpartnern nämlich die Möglichkeit, die „Berufsausbildungsverhältnisse und Auszubildendensysteme/Lehrlingsausbildungssysteme“ sowie die „Arbeitsverträge und -verhältnisse, die im Rahmen eines besonderen öffentlichen oder von der öffentlichen Hand unterstützten beruflichen Ausbildungs-, Eingliederungsoder Umschulungsprogramms abgeschlossen wurden“, vom Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung auszunehmen. Vgl. EuGH, v. 15.3.2012 – C-157/11, n. v. – Sibilio.
562 In gleicher Weise ergebe sich aber aus dem vierten Absatz der Präambel der Rahmenvereinbarung ausdrücklich, dass diese nicht für Arbeitnehmer in befristeten Arbeitsverhältnissen gilt, die einem entleihenden Unternehmen von einem Leiharbeitsunternehmen zur Verfügung gestellt werden, da es die Absicht der Parteien der Rahmenvereinbarung gewesen sei, eine ähnliche Vereinbarung über Leiharbeit zu schließen. Die Regelung genau Letzterer sei Gegenstand der Richtlinie 2008/104/EG, die, wie ihren Erwägungsgründen 5 und 7 zu entnehmen sei, vom Unionsgesetzgeber erlassen wurde, nachdem die Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern über den Abschluss einer solchen Vereinbarung gescheitert waren. 563 Die in der Präambel der Rahmenvereinbarung vorgesehene Ausnahme bezieh sich zudem auf die Leiharbeitnehmer als solche und nicht auf das eine oder 142
III. Befristung von Arbeitsverhältnissen
das andere ihrer Arbeitsverhältnisse, so dass weder ihr Arbeitsverhältnis mit dem Leiharbeitsunternehmen noch das mit dem entleihenden Unternehmen in den Anwendungsbereich der Rahmenvereinbarung fallen. Dies bestätige ein Umkehrschluss aus Art. 1 Abs. 3 lit. c der Richtlinie 96/ 564 71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen uns Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 91/383/EWG des Rates vom 25.6.1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis, die ausdrücklich klarstellten, dass diese Richtlinien für Leiharbeitsverhältnisse zwischen einem Leiharbeitsunternehmen und dem Leiharbeitnehmer gelten. Zur Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG in deutsches Recht vgl. z. B. Zimmer, NZA 2013, 289.
3. Rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots hindert Berufung auf Befristung Im Lichte der vorstehend widergegebenen Feststellungen des EuGH hat das 565 BAG in seinem Urteil vom 15.5.2013 – 7 AZR 525/11, ZIP 2013, 1977 = NZA 2013, 1214, dazu EWiR 2013, 789 (Grimm/Linden)
an seiner bisherigen Auslegung zum Arbeitgeberbegriff in § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG festgehalten. Danach ist Arbeitgeber i. d. S. der Vertragsarbeitgeber. a) Vermeidung vs. Umgehung des Verbots der Zuvor-Beschäftigung Das BAG hat daher – unter Aufhebung der Vorinstanz – noch einmal bestä- 566 tigt, dass das Verbot der Zuvor-Beschäftigung arbeitgeberbezogen und nicht betriebsbezogen ist. Zur Rechtfertigung einer sachgrundlosen Befristung kann sich ein Vertragsarbeitgeber aber – wie das BAG weiter klarstellt – dann nicht auf § 14 Abs. 2 Satz 1 TzBfG berufen, wenn er den Vertrag in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit dem letzten Vertragsarbeitgeber des Arbeitnehmers ausschließlich deshalb vereinbart hat, um das Anschlussverbot des § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG zu umgehen. Bei einer solchen rechtsmissbräuchlichen Vertragsgestaltung kommt aber kein – unbefristeter – Arbeitsvertrag mit dem letzten Vertragsarbeitgeber zustande, sondern mit dem aktuellen Vertragsarbeitgeber. b) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Im entschiedenen Fall war die Klägerin zunächst befristet bei der D beschäf- 567 tigt. Unmittelbar nach Auslaufen der Befristung wurde sie von dem Zeitarbeitsunternehmen R befristet eingestellt und an die Beklagte für bestimmte Dauer überlassen. Die Beklagte war eine Rechtsnachfolgerin der D. Entspre-
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
chend einer Vereinbarung zwischen der Beklagten und R wurde die Klägerin bei der Beklagten auf ihrem bisherigen Arbeitsplatz unter im Ergebnis unveränderten Arbeitsbedingungen eingesetzt. Als die Befristung des Arbeitsverhältnisses mit R auslief, klagte die Arbeitnehmerin auf Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses zur Beklagten. c) Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts 568 Das BAG nahm – insoweit in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht – eine rechtsmissbräuchliche Gestaltung zur Umgehung des Anschlussverbots gem. § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts begründe dies aber kein Arbeitsverhältnis zum vorherigen Vertragsarbeitgeber, sondern hindere den neuen Vertragsarbeitgeber, sich auf die Befristung zu berufen. Denn schlössen mehrere rechtlich und tatsächlich verbundene Vertragsarbeitgeber in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken mit einem Arbeitnehmer aufeinander folgende befristete Arbeitsverträge ausschließlich deshalb, um auf diese Weise über die nach § 14 Abs. 2 TzBfG vorgesehenen Befristungsmöglichkeiten hinaus sachgrundlose Befristungen aneinanderreihen zu können, könne dies rechtsmissbräuchlich sein. Zwar verbiete § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG Anschlussbefristungen nur mit demselben Arbeitgeber. Dies sei der Vertragsarbeitgeber, also die den Vertrag schließende natürliche oder juristische Person, weshalb grundsätzlich kein Verstoß gegen § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG vorgelegen habe. 569 Der „Wechsel“ der Klägerin sei aber ausschließlich deshalb erfolgt, um eine erneute sachgrundlose Befristung des Arbeitsvertrags zu ermöglichen. Hierfür habe im vorliegenden Fall gesprochen, dass die Arbeitsbedingungen der Klägerin im Ergebnis unverändert blieben, R gegenüber der Beklagten zum Einsatz und Übernahme der Klägerin verpflichtet gewesen sei und die Beklagte das Arbeitsvertragsangebot von R der Klägerin zugeleitet habe. Die rechtsmissbräuchliche Vertragsgestaltung bewirke, dass der neue Vertragsarbeitgeber sich gem. § 242 BGB nicht auf die Befristung berufen könne. Damit sei dem Schutzzweck der umgangenen Norm – hier: § 14 Abs. 2 Satz 2 TzBfG – genügt. Praxistipp: Für die betriebliche Praxis wichtig ist auch die ergänzende Feststellung des BAG, wonach eine rechtsmissbräuchliche Umgehung des Anschlussverbots – abweichend von seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BAG, v. 18.10.2006 – 7 AZR 145/06, NZA 2007, 443) – auch dann angenommen werden kann, wenn die in § 14 Abs. 2a TzBfG genannte Grenze von vier Jahren unter Ausnutzung der rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten nicht überschritten wird.
4. Voraussetzung der Sachgrundbefristung bei Abordnungsvertretung 570 Bei vorübergehender, längerfristiger Verhinderung eines Arbeitnehmers kommt zur Vermeidung eines Personalüberhangs durch unbefristete Einstellung einer
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III. Befristung von Arbeitsverhältnissen
Ersatzkraft – neben einem Leiharbeitnehmereinsatz – die Befristung des Arbeitsverhältnisses der Ersatzkraft in Betracht. Denn die Vertretung einer Stammkraft ist als Sachgrund i. S. d. § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG geeignet, die Befristung zu rechtfertigen. Auch insoweit sind aber nicht alle Gestaltungen möglich. Dass beim Einsatz von Vertretungsketten zur Vertretung einer Stammkraft aus Arbeitgebersicht befristungsrechtlich Vorsicht geboten ist, hat ein Urteil des BAG vom 16.1.2013 – 7 AZR 662/11, ZIP 2013, 1352 = NZA 2013, 611
deutlich gemacht. Denn der Sachgrund der Vertretung greift zwar auch dann, wenn ein befristet beschäftigter Arbeitnehmer für eine anderweitig eingesetzte Stammkraft beschäftigt wird oder die Verbindung durch eine Vertretungskette vermittelt wird. Es reicht aber nach den Feststellungen des BAG nicht aus, wenn die Einstellung des befristet beschäftigten Arbeitnehmers lediglich „gedanklich“ dem vorübergehend im Unternehmen anderweitig eingesetzten Beschäftigten zugeordnet werden kann. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Im entschiedenen Fall war der Kläger bei der Beklagten zunächst vom 571 19.11.2008 bis 31.1.2009, vom 1.2. bis 30.6.2009 und vom 1.7. bis zum 31.12.2009 befristet als Assistent im regionalen IT-Service beschäftigt. Er wurde der Tätigkeitsebene VI des maßgeblichen Haustarifvertrags zugeordnet. Am 22.12.2009 schlossen die Parteien einen weiteren befristeten Arbeitsvertrag für die Zeit vom 1.1. bis zum 30.6.2010, nach dem der Kläger mit veränderten Aufgaben als Fachassistent in Tätigkeitsebene V tätig war. Gleichzeitig unterzeichnete der Kläger einen „Vermerk“, in dem es u. a. hieß: „Befristungsgrund: § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG (Vertretung des anderweitig beauftragten Stelleninhabers Herrn S.).“
Der in dem Vermerk genannten Stammkraft S. war ab 8.9.2009 „vorüberge- 572 hend“ eine Tätigkeit als IT-Techniker im regionalen IT-Service übertragen worden. Diese Tätigkeit war der Tätigkeitsebene IV zugeordnet. In seiner regulären Tätigkeit war S., ebenso wie der Kläger im Rahmen seines zuletzt abgeschlossenen befristeten Arbeitsvertrags, mit Arbeiten der Tätigkeitsebene V betraut. Sowohl hinsichtlich seiner regulären Tätigkeit als auch für die Dauer seiner vorübergehenden Abordnung war S. in A. tätig. Die „vorübergehende“ Zuweisung beruhte darauf, dass der an sich mit Aufgaben der Tätigkeitsebene IV beschäftigte „IT-Techniker“ P. ab dem 8.9.2009 mit Tätigkeiten der Tätigkeitsebene III („IT-Ingenieur“) anderweitig beauftragt wurde. Dies erfolgte bis zur Nachbesetzung der Stelle des Mitarbeiters B. bzw. alternativ bis zu dessen Rückkehr. B. wiederum wurde im Rahmen einer Personalentwicklungsmaßnahme ab dem 3.8.2009 von der Tätigkeitsgruppe III „IT-Ingenieur“ auf die Tätigkeitsgruppe II „IT-Ingenieur mit Leitungsaufgaben“ probeweise befördert.
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C. Beendigung von Arbeitsverhältnissen
573 Die Stelle, die B. vor seiner Beförderung inne gehabt hatte, wurde vorzeitig mit dem Mitarbeiter K. nachbesetzt. Aufgrund der Stellennachbesetzung war die befristete höherwertige Tätigkeit von P. zum 30.4.2010 und die von S. zum 30.6.2010 beendet worden. Seit diesem Zeitpunkt war S. wieder wie zuvor tätig. Der Kläger hielt die letzte Befristung für unwirksam und hatte am 25.6.2010 Befristungskontrollklage erhoben. b) Grenzen des Sachgrunds der Vertretung bei Beschäftigung des Vertretenen im Unternehmen 574 Das BAG stellte in seiner Entscheidung zunächst klar, dass durch die vorübergehende Abordnung einer Stammkraft ein Vertretungsbedarf i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG entstehen kann. Ein sachlicher Grund für die Befristung eines Arbeitsvertrags liege vor, wenn eine Stammkraft vorübergehend höherwertige Aufgaben wahrzunehmen habe und der Arbeitgeber deren eigentliche Tätigkeit dem Vertreter zuweise. In Fällen der unmittelbaren und mittelbaren Vertretung erfordere der Sachgrund der Vertretung zwar auch nicht, dass der zu vertretende Arbeitnehmer an der Erbringung der Arbeitsleistung insgesamt verhindert sei. Bei anderweitigem Einsatz komme der Sachgrund aber nicht in Betracht, wenn die Einstellung des befristet beschäftigten Arbeitnehmers – wie hier – lediglich „gedanklich“ dem vorübergehend im Unternehmen anderweitig eingesetzten Beschäftigten zugeordnet werden könne. 575 Der Vertreter muss nach den Feststellungen des BAG dementsprechend entweder unmittelbar für die anderweitig eingesetzte Stammkraft beschäftigt werden. Alternativ muss die Verbindung zu der Stammkraft mittelbar durch eine tatsächliche Vertretungskette erfolgen. Das BAG begründet dies damit, dass eine objektive Beschäftigung mit der Tätigkeit des befristet eingestellten Vertreters nicht mehr gegeben sei, sofern der Arbeitgeber bereits von seinem Direktionsrecht dahingehend Gebrauch gemacht habe, dass er die vorübergehend eingesetzte Stammkraft tatsächlich anderweitig beschäftige. Praxistipp: Ausgehend davon, dass eine „gedankliche“ Zuordnung nicht ausreicht, wenn die vorübergehende Abwesenheit der Stammkraft aufgrund eines anderweitigen Einsatzes im Unternehmen ausgelöst wird, kann durch dieselbe organisatorische Entscheidung mithin kein Grund für die befristete Einstellung eines Arbeitnehmers dadurch geschaffen werden, dass der Arbeitgeber die Stammkraft auch mit der Tätigkeit des befristet eingestellten Arbeitnehmers hätte betrauen, d. h. sein Direktionsrecht theoretisch auch anders hätte ausüben können. Der Arbeitgeber kann von seiner Versetzungsbefugnis – bei identischem Anlass – nach der Bewertung des BAG nur einmal Gebrauch machen. Das muss bei der Einsatzplanung berücksichtigt werden. Dies gilt aber nur dann, wenn der Arbeitgeber sein Direktionsrecht auch ausüben kann, also nicht in Urlaubs- oder Krankheitsfällen, wie das BAG explizit klarstellt.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/ Betriebsänderung Ungeachtet der Stärkung des Planverfahrens durch das ESUG ist das für die 576 Praxis zurzeit wichtigste Instrument zur Rettung eines insolventen Unternehmens die übertragende Sanierung. Mit ihrer Hilfe werden alle oder wesentliche Unternehmensgegenstände auf einen anderen Rechtsträger übertragen und so die Vermögensgegenstände (Aktiva) von den an der Insolvenzschuldnerin haftenden Verbindlichkeiten (Passiva) getrennt. Damit verbunden ist die Chance eines wirtschaftlichen Neustarts. Der Erwerber kann das auf diesem Wege von Verbindlichkeiten befreite Unternehmen fortführen und ggf. weiter sanieren. Arbeitsrechtlich ist die übertragende Sanierung zumeist mit einem Betriebsübergang i. S. d. § 613a BGB bzw. mit dem Ziel seiner Vermeidung verbunden. Exakte Kenntnisse der Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs sind daher zur Sanierung von Unternehmen innerhalb und außerhalb der Insolvenz unvermeidlich. I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs 1. Kennzeichnung des Tatbestands eines Betriebsübergangs Tatbestandlich setzt ein Betriebs(teil)übergang nach § 613a BGB zunächst 577 einmal voraus, dass ein neuer Rechtsträger die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.; BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
Zur Herbeiführung eines Betriebs(teil)übergangs bedarf es also zunächst einer 578 wirtschaftlichen Einheit, d. h. einer organisatorischen Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung. Diese Einheit muss auf den Erwerber übergehen und bei ihm im Wesentlichen unverändert fortbestehen. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
Als Teilaspekte der insoweit maßgeblichen Gesamtwürdigung nennt das 579 BAG unter Übernahme der entsprechenden Rechtsprechung des EuGH insbesondere: die Art des betreffenden Betriebs, den Übergang materieller Betriebsmittel wie beweglicher Güter und Gebäude, den Wert immaterieller Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber, den Übergang von Kundschaft- und Lieferantenbeziehungen, den Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer Unterbrechung dieser Tätigkeit. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
580 Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgeblichen Kriterien kommt je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden ein unterschiedliches Gewicht zu. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
581 Für die Praxis leichter greifbar zusammengefasst, liegt ein Betriebs(teil-) übergang vor, wenn im Wesentlichen folgende Voraussetzungen erfüllt sind: x
Vorliegen einer organisatorischen Einheit auf Seiten des potenziellen Veräußerers;
x
rechtsgeschäftliche Übernahme der für diese Einheit wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer durch den potenziellen Erwerber;
x
keine wesentliche Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit;
x
tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder gleichartigen Tätigkeit durch den potenziellen Erwerber im Wesentlichen unter Wahrung der organisatorischen Einheit bzw. des funktionalen Zusammenhangs der wesentlichen Ressourcen (Arbeitnehmer und/oder Betriebsmittel), wie sie/er bis zum Übertragungsvorgang bestanden hat. Vgl. Gaul/Strauf, DStR 2013, 595; zum grenzüberschreitenden Betriebsübergang Gaul/Mückl, DB 2011, 2318. Praxistipp: Wichtig ist, dass diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen, um die Anwendbarkeit von § 613a BGB auszulösen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass jedes Kriterium für sich genommen geeignet ist, durch Nichterfüllung einen Betriebsübergang i. S. d. § 613a BGB zu vermeiden. Dies ist insbesondere im Kontext übertragender Sanierungen zu beachten, in deren Rahmen die Rechtsfolgen des § 613a BGB zumeist zulässig vermieden (anstatt unzulässig umgangen) werden sollen. Dies ist auf Rechtsfolgenseite insbesondere tarifvertraglich zunehmend schwierig, sodass die Sanierungspraxis besonderes Augenmerk auf die Tatbestandsseite richten sollte.
a) Bestehende organisatorische Einheit beim übertragenden Rechtsträger 582 Voraussetzung eines Betriebs(teil)übergangs nach § 613a BGB ist nach alledem zunächst das Vorliegen einer organisatorischen (wirtschaftlichen) Einheit beim Veräußerer. Sollen Betriebsteile übergehen, müsse sie beim Veräußerer bereits als solche vorhanden sein. Denn nur eine existente, selbständig abtrennbare organisatorische Einheit kann im Wege eines Betriebsteilübergangs übergehen. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Nicht ausreichend für die Qualifikation als Betriebsteil ist – jedenfalls nach 583 der Rechtsprechung des BAG – ein bloß funktionaler Zusammenhang der wesentlichen Produktionsfaktoren beim übertragenden Rechtsträger. BAG, v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, ZIP 2012, 488 = NZA 2012, 504, dazu EWiR 2012, 2012, 235 (Oetker). Praxistipp: Mit den Überlegungen des EuGH (Urt. v. 12.2.2009 – C-466/07, AP Richtlinie 2001/21/EG Nr. 4) zur Kennzeichnung der Identität der von einem Übergang betroffenen Einheit beim übernehmenden Rechtsträger ist dies aber nicht unbedingt vereinbar. Die Rechtsprechung des BAG hat nämlich zur Folge, dass die Identität einer wirtschaftlichen Einheit beim Erwerber nach anderen Kriterien als beim Veräußerer bestimmt wird. Ein gewisses Risiko, dass auch in solchen Fällen insbesondere Betriebsteilübergänge möglich sind, besteht daher. Dies gilt umso mehr, als der EuGH zumeist keinen Vertrauensschutz in ein von seiner Rechtsprechung abweichendes Verständnis gewährt. Die Sanierungspraxis kann dieses Risiko allerdings auch als Chance begreifen. Denn vorhergehende, verkannte Betriebsübergänge, über die dann typischerweise auch nicht den Vorgaben des § 613a Abs. 5 BGB entsprechend unterrichtet wurde, sind – gerade für insolvente Unternehmen – eine Chance zum Personalabbau ohne Kündigung durch Anregung der Arbeitnehmer zum Widerspruch (§ 613a Abs. 6 BGB) gegen den – verkannten – Übergang ihres Arbeitsverhältnisses gem. § 613a Abs. 1 BGB.
b) Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder wesentlichen Arbeitnehmer Bei der Frage der Übernahme der wesentlichen Betriebsmittel und/oder we- 584 sentlichen Arbeitnehmer wird man (auch zur Vereinfachung der Handhabung in der betrieblichen Praxis) jedenfalls im Ausgangspunkt zwischen betriebsmittelgeprägten und betriebsmittelarmen Tätigkeiten differenzieren können. Vgl. z. B. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
aa) Übergang bei betriebsmittelintensiver Tätigkeit In betriebsmittelintensiven Betrieben kann ein Betriebsübergang auch ohne 585 Übernahme von Personal vorliegen, EuGH, v. 20.11.2003 – C-340/01, ZIP 2003, 2315 = NZA 2003, 1385 – Abler dazu EWiR 2004, 85 (Diller/Grzyb) und; BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.
Sächliche Betriebsmittel sind dann maßgeblich (prägend), wenn bei werten- 586 der Betrachtung ihr Einsatz den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs ausmacht.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung Praxistipp: Das gilt z. B. auch bei der Auftragsnachfolge, die – anders als die „bloße“ Auftragsnachfolge – unter Übernahme der im vorgenannten Sinne zu qualifizierenden Betriebsmittel durchgeführt wird. Entsprechendes gilt für die Überlassung im Rahmen sonstiger Übertragungswege (z. B. Verpachtung, Verkauf, Dienst- oder Werkvertrag).
587 Zu dieser Bewertung kann führen, dass die Betriebsmittel unverzichtbar zur ordnungsgemäßen Verrichtung der Tätigkeit bzw. auf dem freien Markt nicht erhältlich sind oder ihr Gebrauch vom Auftraggeber zwingend vorgeschrieben wird. BAG, v. 23.5.2013 – 8 AZR 236/12, n. v.; BAG, v. 10.5.2012 – 8 AZR 434/11, NZA 2012, 1161 = AP BGB § 613a Nr. 426.
588 Entscheidend sind auch insoweit die Umstände des Einzelfalls. Dass die auch im Fall von im Ansatz durchaus vergleichbaren Tätigkeiten der Fall sein kann, hat zuletzt die Rechtsprechung des BAG zur Übernahme von Bewachungsaufträgen noch einmal deutlich gemacht: 589 In einem Fall der Neuvergabe eines Bewachungsauftrags hat das BAG die Qualifikation der Betriebsmittel als wesentlich z. B. aus folgenden Gründen abgelehnt: BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
590 Es genüge nicht, dass sie zur Erbringung einer Dienstleistung erforderlich seien, was z. B. für die Nutzung eines Wachlokals bei Bewachung eines Objekts im Schichtbetrieb der Fall sein möge. Das Wachlokal selbst diene aber nicht unmittelbar der Sicherung und Bewachung des zu überwachenden Objekts. Vielmehr habe es als Hilfsmittel allein dienende Funktion. Dies gelte – so das BAG – auch für die im Wachlokal vorgehaltene Ausrüstung, jedenfalls dann, wenn die ein- bzw. ausfahrenden Fahrzeuge letztlich durch die Wachleute selbst kontrolliert würden und diese im Objekt Streife liefen. Prägend sei vielmehr letztlich die Achtsamkeit der Wachleute an der Pforte, im Objekt bzw. auf Streifengängen und deren Bereitschaft bzw. Fähigkeit, im Bedarfsfall einzugreifen. Dass die Erkenntnisse solcher Streifengänge durch Ausnutzung technischer Hilfsmittel (Computer, Drucker) dokumentiert würden, mache bei wertender Betrachtungsweise nicht den eigentlichen Kern dieser Tätigkeit aus. 591 Demgegenüber hat das BAG in seinem Urteil vom 23.5.2013 – 8 AZR 207/12, n. v.
angenommen, dass ein Alarmanlagesystem für einen Bewachungsauftrag prägend sein kann. Im entschiedenen Fall war streitig, ob das zwischen der Streithelferin und dem Kläger bestehende Arbeitsverhältnis auf die Beklagte übergangen ist. Das Unternehmen A hatte die Streithelferin mit der Erbringung 150
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
von Bewachungs- und Sicherheitsdienstleistungen beauftragt. Zur Durchführung des Auftrags setzte diese 25 Arbeitnehmer sowie verschiedene Geräte und IT-Systeme ein. Dazu gehörte u. a. auch das im Eigentum der A stehende zentrale Alarmmanagementsystem BIS. Dabei handelte es sich um ein speziell auf die Bedürfnisse des Bewachungsobjekts von A angepasstes System, das in einem von A zur Verfügung gestellten Raum auf dem Betriebsgelände installiert war, den die Streithelferin als Leitstelle nutzte. Zum 1.1.2011 schrieb A den Dienstleistungsauftrag neu aus und schloss dazu mit der Beklagten einen Dienstleistungsvertrag, dessen Leistungsbeschreibungen im Wesentlichen mit denen übereinstimmten, die zuvor zwischen der Streithelferin und A gegolten hatten. Arbeitnehmer der Streithelferin übernahm die Beklagte nicht. Das BAG nahm dennoch an, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers im Wege 592 eines Betriebsteilübergangs auf die Beklagte übergegangen sei. Der bei der Streithelferin vorhandene Betriebsteil sei durch die zum Einsatz kommenden Betriebsmittel geprägt gewesen. Entscheidende Bedeutung komme dabei dem zur Durchführung des Bewachungsauftrags eingesetzten Alarmmanagementsystem BIS zu. Denn es diene zur Überwachung und Meldungsbearbeitung von ca. 7.500 aufgeschalteten Adressen sowie zur Steuerung von Türen, Toren, Schranken, Drehkreuzen und Videosprechstellen. Es sei darüber hinaus nicht nur für die in der Leitstelle tätigen Mitarbeiter von Bedeutung, sondern steuere auch die in den Bereichen des vorbeugenden Brandschutzes, im Streifen- oder Schlüsseldienst, in der Ausweisbetreuung, Parkplatzverwaltung oder Rezeption anfallenden Tätigkeiten. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung sprächen zudem weitere Gesichtspunkte für das Vorliegen eines Betriebsteilübergangs. So seien der verfolgte Betriebszweck und der „Kunde“, nämlich der Auftraggeber A, identisch geblieben und es habe auch keine zeitliche Unterbrechung stattgefunden. Außerdem sei in Gestalt des Handbuchs für die Benutzung des BIS-Systems sowie verschiedener Arbeitsanweisungen Know-how auf die Beklagte übertragen worden. Vor diesem Hintergrund sei der Umstand, dass die Beklagte keine Arbeitnehmer der Streithelferin übernommen habe, unerheblich, da es sich bei dem übernommenen Betriebsteil nicht um einen handelte, bei dem die menschliche Arbeitskraft im Vordergrund steht. Praxistipp: Dass vorliegend dem zur Erledigung des Überwachungsauftrags eingesetzten zentralen Alarmmanagementsystem entscheidende Bedeutung zukommt, wird man aber als Besonderheit des Falles qualifizieren müssen, die eine Übertragung der Entscheidung auf die „klassischen“ Fälle der Neuvergabe eines Bewachungsauftrages nicht zulässt. So stellt das BAG selbst klar, dass allein die zur Verfügungstellung des Raums für die Leitstelle oder von „einfachen PCs bzw. Videokameras“ noch nicht zur Einstufung als betriebsmittelgeprägte Tätigkeit führen würde.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
593 Entgegen einem – auch und gerade in der Sanierungspraxis – verbreiteten Irrtum spielen die Eigentumsverhältnisse an den Betriebsmitteln keine Rolle. Dass die von dem übernehmenden Rechtsträger übernommenen Betriebsmittel nicht dem übertragenden Rechtsträger gehörten, sondern durch einen Auftraggeber zur Verfügung gestellt wurden, schließt dementsprechend einen Betriebsübergang nicht aus. Maßgeblich ist im Rahmen des § 613a BGB allein die Berechtigung zur Nutzung der Betriebsmittel im Rahmen einer eigengesteuerten Betriebsorganisation. Folgerichtig ist bei einer Auftragsneuvergabe die Überlassung der Betriebsmittel zur eigenwirtschaftlichen Nutzung für das Vorliegen eines Betriebsübergangs vom ursprünglichen Auftragnehmer auf den neuen Auftragnehmer nicht erforderlich. Anknüpfend an die Rechtsprechung des EuGH, vgl. EuGH, v. 15.12.2005 – C-232/04 und C- 233/04, ZIP 2006, 95 = NZA 2006, 29 – Güney Görres, dazu EWiR 2006, 55 (Thüsing/Fuhlrott),
hat das BAG hierauf noch einmal in seinem Urteil vom 23.5.2013 – 8 AZR 236/12 und 8 AZR 207/12, n. v.
ausdrücklich hingewiesen. 594 Wichtig – aber häufig verkannt – ist auch, welche Gegenstände eigentlich als Betriebsmittel i. S. d. § 613a BGB zu qualifizieren sind. Das von einer Hausverwaltung betreute Grundstück stellt z. B. kein Betriebsmittel dar, sondern ist das Objekt der Verwaltungstätigkeit. Die Arbeitsverhältnisse der mit der Grundstücksverwaltung betrauten Arbeitnehmer der Hausverwaltungsgesellschaft gehen deshalb nicht auf den Erwerber der verwalteten Immobilie über. Diese Feststellungen, die immer dann zu berücksichtigen sind, wenn Gebäude übertragen werden, hat das BAG in seinem Urteil vom 15.11.2012 – 8 AZR 683/11, DB 2013, 1419
bestätigt, in dem der Kläger bei der A KG als technisch-kaufmännischer Sachbearbeiter beschäftigt war. Einziges Betätigungsfeld der KG war die Verwaltung eines ihr gehörenden Büro- und Geschäftshauses in M. Die beklagte Stadt M war Hauptmieterin des Gebäudes. Im Jahr 2010 erwarb sie diese Immobilie, welche den einzigen Grundbesitz der A KG darstellte. Nach dieser Grundstücksveräußerung wurde die A KG liquidiert. Der Kläger macht geltend, sein Arbeitsverhältnis sei im Wege eines Betriebsübergangs auf die Stadt M übergegangen. Der Klage auf Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis mit dieser fortbesteht, hat das Arbeitsgericht stattgegeben. Die Berufung der beklagten Stadt hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten hatte vor dem 8. Senat des BAG Erfolg: Betriebszweck der A KG war einzig die Verwaltung der in ihrem Eigentum stehenden Immobilie in M. Sie war demnach ein Dienstleistungsbetrieb. Diesen hat die beklagte Stadt M nicht dadurch übernommen, dass sie lediglich das von der A KG verwaltete Grundstück erworben hat.
152
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Selbst wenn ein betriebsmittelgeprägten Betrieb vorliegt, muss – ohne we- 595 sentliche Unterbrechung (dazu Rn. 609 ff.) – auch eine tatsächliche Nutzung der übernommenen Betriebsmittel erfolgen. Der bloße Übergang der Nutzungsmöglichkeit genügt nicht. Der Betriebsmittelübernehmer muss die Betriebsmittel tatsächlich weiter oder wieder nutzen. Umgekehrt muss der bisherige Betriebsinhaber die Nutzung der Betriebsmittel im Betrieb oder Betriebsteil einstellen. BAG, v. 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, ZIP 2013, 1186, dazu EWiR 2013, 369 (Bross).
Der Abschluss eines Kooperationsvertrags zwischen bisherigem Inhaber und 596 späterem Betriebserwerber stellt nicht notwendig einen solchen Betriebsinhaberwechsel dar, wie das BAG im Urteil vom 27.9.2012 – 8 AZR 826/11, ZIP 2013, 1186
klargestellt hat. Im entschiedenen Fall stritten die Parteien um Entgeltansprüche aus übergegangenem Recht. Die klagende Bundesagentur für Arbeit hatte Insolvenzgeld an die Arbeitnehmer der früheren Betriebsinhaberin gezahlt und ging nun gegen die Beklagte als angebliche Betriebserwerberin vor. Die frühere Betriebsinhaberin und spätere Insolvenzschuldnerin hatte im März 2007 mit der Beklagten einen Alleinvertriebs- und Kooperationsvertrag vereinbart, demzufolge die Beklagte den Vertrieb der im fraglichen Betrieb hergestellten Produkte übernahm. Die frühere Betriebsinhaberin zahlte für die Zeit von März bis Mai 2007 keine Löhne und Gehälter mehr an ihre Arbeitnehmer aus. Für sie wurde am 29.5.2007 ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Am 31.5.2007 wurden die 29 Arbeitnehmer des Betriebes zu fristlosen Kündigungserklärungen veranlasst. Die Klägerin zahlte dann rückwirkend bis März 2007 Insolvenzgeld. Im Verlauf des Monats Juni 2007 nahm die Beklagte die Produktion im Betrieb der Insolvenzschuldnerin wieder auf, wobei sie sukzessive bis Mitte Juni 2007 18 Arbeitnehmer, die früher bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt worden waren, einstellte. Wie schon in der Vorinstanz blieb die Klage auch vor dem 8. Senat des BAG ohne Erfolg. Da vorliegend keine durchgreifenden Bedenken gegen die Wirksamkeit der von den Arbeitnehmern des Betriebes selbst ausgesprochenen Kündigungen bestanden, kam es darauf an, ob schon vor dem 31.5.2007 ein Betriebsübergang stattgefunden hatte und somit die gegenüber der bisherigen Betriebsinhaberin ausgesprochenen Eigenkündigungen ins Leere gingen. Ein Betriebsinhaberwechsel hat jedoch nicht vor Juni 2007 stattgefunden. Der mit der früheren Betriebsinhaberin und nachmaligen Insolvenzschuldnerin abgeschlossene Kooperationsvertrag stellte keinen Betriebsinhaberwechsel dar. bb) Übergang bei betriebsmittelarmer Tätigkeit In Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft 597 ankommt, kann auch eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die durch eine
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden ist, eine wirtschaftliche Einheit darstellen. BAG, v. 24.1.2013 – 8 AZR 706/11, DB 2013, 1556.
598 Die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit sei in diesem Fall – so das BAG – anzunehmen, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführe, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernehme, das sein Vorgänger gezielt bei dieser Tätigkeit eingesetzt hatte. BAG, v. 24.1.2013 – 8 AZR 706/11, DB 2013, 1556.
599 Welcher nach Zahl und Sachkunde zu bestimmende Teil der Belegschaft übernommen werden müsse, um die Rechtsfolgen des § 613a BGB auszulösen, hänge – so das BAG weiter – von der Struktur des Betriebs oder Betriebsteils und der ausgeübten Tätigkeit ab. Würden Arbeitnehmer mit einer geringeren Qualifikation beschäftigt, müsse eine größere Anzahl von ihnen weiterbeschäftigt werden, um auf einen Fortbestand der vom Konkurrenten geschaffenen Arbeitsorganisation schließen zu können, als wenn der Betrieb stärker durch Spezialwissen und Qualifikation der Arbeitnehmer geprägt sei. Denn hier könne neben anderen Kriterien ausreichen, dass wegen ihrer Sachkunde wesentliche Teile der Belegschaft übernommen würden. So sei letztlich entscheidend, ob der weiter beschäftigte Belegschaftsteil insbesondere aufgrund seiner Sachkunde, seiner Organisationsstruktur und nicht zuletzt seiner relativen Größe im Grundsatz funktionsfähig geblieben sei. BAG, v. 21.6.2011 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144.
600 Diese Voraussetzungen lagen für das BAG z. B. in seinem Urteil vom 24.1.2013 – 8 AZR 706/11, DB 2013, 1556
vor. Dort handelte es sich bei dem von der Insolvenzschuldnerin betriebenen IT-Service um eine wirtschaftliche Einheit, deren Zweck darauf gerichtet war, Kunden im vertraglich vereinbarten Umfang als Ansprechpartner zur EDV-Wartung bzw. zur Erbringung von Serviceleistungen zur Verfügung zu stehen. Damit die Insolvenzschuldnerin diese Tätigkeiten erbringen konnte, unterhielt sie eine Organisation, die diesem Betriebszweck diente. Erforderlich waren dazu vor allem die IT-Servicemitarbeiter, welche ihre Serviceleistungen gegenüber den Kunden am Telefon beratend, mittels Computern oder vor Ort erbrachten. Weiter gehörten dazu die zur Durchführung dieser Aufgaben erforderlichen Betriebsmittel, wie z. B Räumlichkeiten, Telefonanlagen, PCs und Fahrzeuge. Diese materiellen Betriebsmittel, insbesondere die Telefonanlagen, PCs und Fahrzeuge dienten – so das BAG – allerdings nur dazu, es den IT-Servicemitarbeitern zu ermöglichen, als Ansprechpartner für Service- und Wartungsfragen zur Verfügung zu stehen und eine Kontaktaufnahme bzw. ein Erscheinen beim Kunden zu gewährleisten. Im Mittelpunkt stünden die kompetente Beratung und Kundenbetreuung durch die Mitarbei154
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
ter, was sich schon daran zeige, dass die Mitarbeiter umfassend durch die Insolvenzschuldnerin geschult worden seien, um ihre Serviceleistungen auf dem Stand der aktuellen Technik erbringen zu können. Soweit es für die Wartung von EDV-Anlagen notwendig gewesen sei, Komponenten auszutauschen bzw. zu erneuern, hätten die bei der Insolvenzschuldnerin vorgehaltenen Ersatzteile dazu gedient, den Wartungsauftrag ordnungsgemäß erledigen zu können. Allerdings ändere dies nichts daran, dass auch die Ersatzteile nur Hilfsmittel gewesen seien, damit die Servicemitarbeiter ihren Wartungsauftrag ordnungsgemäß erfüllen konnten. Mit der Einräumung der Option zum Eintritt in Vertragsbeziehungen, dem 601 Erwerb des Warenlagers der Insolvenzschuldnerin und der Aufnahme der im Wesentlichen unveränderten IT-Servicetätigkeit durch Beschäftigung von mindestens 50 der zuvor von der Insolvenzschuldnerin eingesetzten Mitarbeiter und deren Führungskräften, sei die wirtschaftliche Einheit „IT-Servicebetrieb“ auf die Beklagte unter Wahrung ihrer Identität übergegangen. Einem Betriebsübergang stehe nicht entgegen, dass die Beklagte sächliche Betriebsmittel wie PCs, Mobiltelefone, die Telefonanlage, die Fahrzeuge oder einzelne Räumlichkeiten der Insolvenzschuldnerin nicht übernommen habe. Denn diese sächlichen Betriebsmittel seien für den IT-Servicebetrieb nicht identitätsprägend gewesen. Die von der Beklagten nicht übernommenen sächlichen Betriebsmittel hätten 602 ausschließlich als Hilfsmittel dazu gedient, den IT-Servicemitarbeitern ihre Beratungs-, Service- und Wartungstätigkeit zu ermöglichen bzw. sie darin zu unterstützen, ohne dass diese im Vordergrund der betrieblichen Betätigung gestanden hätten. Für die wirtschaftliche Wertschöpfung in dem IT-Serviceunternehmen spiele die menschliche Arbeitskraft die entscheidende Rolle. Im Vordergrund der betrieblichen Tätigkeit stehe einerseits die Kommunikation zwischen den Servicemitarbeitern und den Kunden und andererseits die auftragsgemäße Verrichtung von Service- und Wartungstätigkeiten durch die Servicemitarbeiter. Diese hatten die Kunden und deren EDV-Anlagen individuell zu betreuen, auftretende Probleme zu analysieren, Lösungen zu erarbeiten und diese umzusetzen. Soweit bei dieser Tätigkeit Computer zum Einsatz kamen und bspw. der Problemanalyse dienten, war es weiter Sache der Servicemitarbeiter, aus den gewonnenen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen und Lösungen zur Problembewältigung zu erarbeiten. Dabei kam einem dem Stand der Technik entsprechendes Fachwissen der Mitarbeiter entscheidende Bedeutung zu. Daran zeigt sich, dass die Kenntnisse und Fertigkeiten der Servicemitarbeiter im sich ständig verändernden EDV-TechnikUmfeld das eigentliche „Betriebskapital" eines IT-Serviceunternehmens darstellen. Hier beschäftigte die Beklagte 50 der 87 bzw. der zuletzt noch 80 zuvor beim 603 bisherigen Betriebsinhaber beschäftigten Arbeitnehmer (IT-Servicetechniker, EDV-Service-Mitarbeiter und Führungskräfte). Damit habe die Beklagte einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil der beim bisherigen Betriebsin155
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
haber beschäftigten Arbeitnehmer übernommen, unabhängig davon, ob man von 62,5 % oder 57,5 % ausginge. Die Beklagte nutze die Fachkenntnisse von weit mehr als der Hälfte der bislang in der Einheit eingesetzten Arbeitnehmer. Dies genüge, weil der IT-Servicebetrieb in besonderer Weise durch die Spezialkenntnisse und Qualifikationen seiner Mitarbeiter geprägt sei, zumal die Tätigkeiten nur nach einem Studium oder einer Ausbildung im IT-Bereich und nach Schulungen in Bezug auf einzelne EDV-Produkte ausgeführt werden könnten. Dabei müssten die Kenntnisse im Hinblick auf die sich ständig verändernde Technik auf dem Laufenden gehalten werden. Hinzu kam, dass die Beklagte neben dem Geschäftsführer acht Mitarbeiter, die leitende Funktionen innehatten, in vergleichbarer Funktion weiterbeschäftigte. Sie habe nicht nur das Know-how, sondern das spezifische Fachwissen, die Kontakte und die Marktkenntnisse der Führungskräfte genutzt, welche notwendig sind, um ein IT-Serviceunternehmen zu führen. Diesem Umstand komme bei § 613a BGB ganz erhebliche Bedeutung zu. Folgerichtig hatte die Beklagte im Internet auch von einem „eingespielten Team” gesprochen, was den Funktionszusammenhang auch nach dem Übertragungsvorgang bestätigte. Wegen dieser Umstände konnte dann auch die Übernahme der Kundendatei als ein weiteres Indiz berücksichtigt werden. c) Abgrenzung zur Auftrags- und Funktionsnachfolge 604 Die bloße Fortführung der bisherigen betrieblichen Tätigkeit durch einen anderen Rechtsträger (Funktionsnachfolge) führt demgegenüber ebenso wenig zu einem Betriebsübergang wie die reine Auftragsnachfolge. BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
605 Denn der bloße Verlust eines Auftrags an einen Mitbewerber stellt für sich genommen noch keinen Übergang i. S. d. Richtlinie 2001/23/EG dar. EuGH, v. 11.3.1997 – C-13/95, ZIP 1997, 516 = NZA 1997, 433 – Ayse Süzen; BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
606 Hiervon ausgehend kann z. B. auch der Abschluss eines (neuen) Bewachungsvertrags selbst dann nicht zur Anwendbarkeit von § 613a BGB führen, wenn der dem Nachfolger erteilte Auftrag inhaltlich identisch mit dem zuvor erteilten Auftrag sein sollte. Zwar kann nach ständiger Rechtsprechung des BAG auch die Übernahme von Kunden- und Lieferantenbeziehungen einen Betriebs- oder Betriebsteilübergang begründen. Die bloße Auftragsnachfolge selbst stellt aber weder einen Betriebsübergang i. S. d. § 613a BGB noch den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit i. S. d. Richtlinie 2001/23/EG dar. BAG, v. 21.6.2011 – 8 AZR 181/11, NZA 2013, 344.
607 Der Übergang einer wirtschaftlichen Einheit setzt folgerichtig neben einer etwaigen Auftragsnachfolge das Vorliegen zusätzlicher Umstände voraus, die 156
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die Annahme des Fortbestands der wirtschaftlichen Einheit rechtfertigen. Im Kern geht es dabei um die Übernahme wesentlicher Ressourcen (Arbeitnehmer und/oder Betriebsmittel). Eine Tätigkeit ist für sich genommen noch keine wirtschaftliche Einheit. Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH und des BAG selbst dann, wenn es sich um den für die Existenz des Betriebs unentbehrlichen, einzigen Auftrag handelt. EuGH, v. 20.1.2011 – C-463/09, ZIP 2011, 488 = NZA 2011, 148 – CLECE; BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
Folgerichtig führt auch das klassische Outsourcing von Tätigkeiten und 608 Aufgaben als solches noch keinen Betriebs(teil)übergang herbei. Es müssen weitere Umstände hinzutreten. ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 37.
d) Keine wesentliche Unterbrechung Mit Blick auf das Vorliegen eines Betriebsübergangs spielt das Merkmal der 609 fehlenden Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit bislang zumeist eine eher untergeordnete Rolle. Es dient aber regelmäßig der Abgrenzung zu einer Betriebsstilllegung, denn ein Betriebsübergang und eine Betriebsstilllegung schließen sich aus. St. Rspr., BAG, v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687.
aa) Vorliegen einer Unterbrechung Eine bloß vorübergehende Schließung des Betriebs und das daraus folgende 610 Fehlen von Beschäftigungsmöglichkeiten zum Zeitpunkt des Übergangs schließt einen Betriebsübergang für sich genommen nicht aus. Entscheidend ist vielmehr, ob die Unterbrechung der Geschäftstätigkeit mit dazu beiträgt, eine bestehende, funktionsfähige wirtschaftliche Einheit zu zerschlagen. Dazu müssen alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Deshalb ist auch die Dauer der Unterbrechung nicht allein maßgeblich. ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 35; APS/Steffan, Kündigungsrecht, § 613a BGB Rn. 43.
Wichtig ist vielmehr auch, um welche Art Geschäftsbetrieb es sich jeweils 611 handelt. So hat das BAG z. B. eine neunmonatige Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit bei einem Modefachgeschäft als übergangsschädlich angesehen. BAG, v. 22.5.1997 – 8 AZR 101/96, BAGE 86, 20 = ZIP 1997, 1555 = NZA 1997, 1050.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
612 Bei einer Kindertagesstätte kann hingegen bereits eine dreimonatige Unterbrechung gegen einen Betriebsübergang sprechen. LAG Köln, v. 2.10.1997 – 10 Sa 643/97, NZA-RR 1998, 290. Praxistipp: Als „Faustregel“ muss die Tätigkeit jedenfalls um mehr als drei bis sechs Monate eingestellt werden. Das folgt schon im Umkehrschluss aus dem Fehlen einer Betriebsstilllegung bei Kurzarbeit Null.
bb) Abgrenzung zur Stilllegung 613 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG gehört die Stilllegung des gesamten Betriebs durch den Arbeitgeber zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Vgl. nur BAG, v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687.
614 Wie das BAG im Urteil vom 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687
insoweit noch einmal bestätigt hat, ist unter einer Stilllegung die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und ihren unmittelbaren Ausdruck darin finde, dass das Unternehmen die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstelle, die Fortführung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiterzuverfolgen. Allerdings sei der Arbeitgeber nicht gehalten, eine Kündigung erst nach Durchführung der Stilllegung auszusprechen. Neben der Kündigung wegen erfolgter Stilllegung komme auch eine Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung in Betracht. Erforderlich dafür sei aber, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst habe, den Betrieb endgültig und nicht nur vorübergehend stillzulegen. Diese Absicht könne insbesondere daran erkennbar werden, dass allen Arbeitnehmern gekündigt, etwaige Miet- oder Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt aufgelöst, die Betriebsmittel, über die er verfügen dürfe, veräußert und die Betriebstätigkeit vollständig eingestellt werde. 615 An einem endgültigen Entschluss zur Betriebsstilllegung fehle es aber, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung noch in ernsthaften Verhandlungen über eine Veräußerung des Betriebs stehe oder sich noch um neue Aufträge bemühe. BAG, v. 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687.
616 Wenn im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Betriebsstilllegung andererseits endgültig geplant und bereits eingeleitet worden sei, bleibe es bei
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
der sozialen Rechtfertigung der Kündigung, wenn sich der Arbeitgeber eine Betriebsveräußerung vorbehält, falls sich hierfür – unerwartet – noch eine Chance in der Zukunft bieten sollte. Die betriebsbedingte Kündigung wird in ihrer Wirksamkeit bei einer derartigen Sachlage durch die spätere Betriebsoder Betriebsteilveräußerung nicht berührt. BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.
Problematisch im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses sind natürlich 617 die Fallgestaltungen, in denen ein Betrieb im Anschluss an eine betriebsbedingte Kündigung noch vor Ablauf der Kündigungsfrist als Konsequenz eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs auf einen anderen Rechtsträger übertragen wird. Ähnliches gilt in solchen Fällen, in denen die Veräußerung kurze Zeit nach Ablauf der Kündigungsfrist bewirkt wird. Da ein rechtsgeschäftlicher Betriebs- oder Betriebsteilübergang auch dann vorliegen kann, wenn ein Betrieb oder Betriebsteil eine nur unerhebliche Zeitspanne tatsächlich stillgelegt wird, hängt die Wirksamkeit der Kündigung maßgeblich davon ab, welche Absicht auf Seiten des Arbeitgebers zum Zeitpunkt dieser Kündigung in Bezug auf die Fortsetzung des Betriebs oder Betriebsteils verfolgt wurde. 618
Mit eben dieser Frage hat sich das BAG im Urteil vom 14.3.2013 – 8 AZR 154/12, DB 2013, 2687
noch einmal auseinandergesetzt. Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Kündigung sei – so das BAG – der des Kündigungszugangs. Praxistipp: Ob insoweit ein wirksamer Gesellschafterbeschluss vorliegt ist, wie das BAG in seinem Urteil vom 14.3.2013 (8 AZR 154/12, DB 2013, 2687) noch einmal klargestellt hat, unerheblich.
Das schließt – insbesondere, wenn dem Kündigungsgrund ein prognosti- 619 sches Element innewohnt – nicht aus, dass der tatsächliche Eintritt der prognostizierten Entwicklung Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit und Plausibilität der Prognose zulässt. Verläuft die Umsetzung der unternehmerischen Entscheidung planmäßig, ist es nach der Rechtsprechung des BAG gerechtfertigt, von einem tragfähigen Konzept im Zeitpunkt der Kündigung auszugehen. Umgekehrt spricht bei alsbaldiger Wiedereröffnung des Betriebs bzw. bei alsbaldiger Wiederaufnahme der Produktion durch einen Betriebserwerber eine tatsächliche Vermutung gegen eine ernsthafte Absicht, den Betrieb stillzulegen. BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.
Der Arbeitgeber – so das BAG – trage im Kündigungsschutzprozess die Dar- 620 legungs- und Beweislast dafür, dass dringende betriebliche Erfordernisse die Kündigung bedingten (§ 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG). Berufe sich der Arbeitge-
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
ber auf den betriebsbedingten Kündigungsgrund der Stilllegung, so sei, wenn das Vorliegen eines Stilllegungsentschlusses im Kündigungszeitpunkt bestritten werde, der Arbeitgeber verpflichtet, substantiiert darzulegen, dass und zu welchem Zeitpunkt er diejenigen organisatorischen Maßnahmen, die sich rechtlich als Betriebsstilllegung darstellten, geplant und beschlossen habe. Über diese Entschlussfassung hinaus müsse der Arbeitgeber substantiiert vortragen, dass auch die geplanten Maßnahmen selbst im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen hätten. BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.
621 Der Umfang der Darlegungslast hänge dabei auch davon ab, wie sich der gekündigte Arbeitnehmer auf die vom Arbeitgeber gegebene Begründung der Kündigung einlasse. Trage der gekündigte Arbeitnehmer beispielsweise Anhaltspunkte dafür vor, dass im Zeitpunkt der Kündigung eine Stilllegungsentscheidung nicht ernsthaft getroffen gewesen sei, weil es Veräußerungsverhandlungen gegeben habe, und komme es zu einer alsbaldigen Wiedereröffnung bzw. nahtlosen Fortsetzung durch einen Betriebserwerber, so trage der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Wiedereröffnung bzw. Veräußerung nicht bereits voraussehbar oder gar geplant gewesen sei. BAG, v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465.
e) Tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder gleichartigen Tätigkeit 622 Eine weitere Voraussetzung für das Vorliegen eines Betriebsübergangs ist die tatsächliche Fortsetzung der gleichen oder einer gleichartigen Tätigkeit durch den Erwerber im Wesentlichen unter Wahrung der organisatorischen Einheit bzw. des funktionalen Zusammenhangs der wesentlichen Ressourcen, wie sie/er bis zum Übertragungsvorgang bestanden hat. Dies bedeutet im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH, EuGH, v. 12.2.2009 – C-466/07, ZIP 2009, 433 = NZA 2009, 251 – Klarenberg,
der sich auch das BAG, BAG, v. 22.1.2009 – 8 AZR 158/07, ZIP 2009, 1976 = NZA 2009, 905,
angeschlossen hat, dass es keiner Fortführung der Betriebsorganisation mehr bedarf. Ausreichend ist vielmehr, dass die funktionelle Verknüpfung zwischen den übertragenen Produktionsfaktoren erhalten bleibt. BAG, v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12, NZI 2013, 758.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
aa) Änderung des Betriebszwecks oder der Betriebsorganisation Wesentliche Änderungen in der Organisation, der Struktur oder im Konzept 623 der betrieblichen Tätigkeit können einer Identitätswahrung entgegenstehen. Das hat das BAG im Urteil vom 21.6.2012 – 8 AZR 181/11, BB 2012, 3144
noch einmal ausdrücklich klargestellt. So spreche eine Änderung des Betriebszwecks gegen eine im Wesentlichen unveränderte Fortführung des Betriebs und damit gegen die für einen Betriebsübergang erforderliche Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit. Ein Betriebsübergang scheide auch aus, wenn die funktionelle Verknüpfung 624 der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen den Produktionsfaktoren beim anderen Unternehmen verlorengehe. Bei einer Eingliederung der übertragenen Einheit in die Struktur des Erwerbers falle – so das BAG – der Zusammenhang dieser funktionellen Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen den für einen Betriebsübergang maßgeblichen Faktoren aber nicht zwangsläufig weg. Die Beibehaltung der „organisatorischen Selbständigkeit” sei nicht erforderlich, wohl aber die Beibehaltung des Funktions- und Zweckzusammenhangs zwischen den verschiedenen übertragenen Faktoren, die es dem Erwerber erlaube, diese Faktoren, auch wenn sie in eine andere Organisationsstruktur eingegliedert würden, zur Verfolgung einer bestimmten – der gleichen oder einer gleichartigen – wirtschaftlichen Tätigkeit zu nutzen. bb) Keine Betriebsidentität bei Ablehnung von Angeboten des potenziellen Erwerbers Voraussetzung für die Übernahme eines Betriebs- oder Betriebsteils mit einer 625 betriebsmittelarmen Tätigkeit ist die tatsächliche Übernahme des wesentlichen Personals durch den potenziellen Erwerber. Wie das BAG in seinem Urteil vom 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130
deutlich gemacht hat, reicht es insoweit nicht aus, dass die Arbeitnehmer des bisherigen Betriebsinhabers durch den potenziellen Erwerber ein Angebot erhalten, ihre Tätigkeit bei dem Erwerber in den streitgegenständlichen Objekten fortzusetzen. Vielmehr ist für das Vorliegen eines Betriebs- oder Betriebsteilübergangs maßgeblich, dass das wesentliche Personal auch wirklich eingestellt und unter Wahrung des bisherigen Funktionszusammenhangs mit der im Wesentlichen gleichen Tätigkeit beschäftigt wird. Die bloße Möglichkeit einer solchen Fortführung genügt nicht. Komme es 626 nicht zur Weiterbeschäftigung des für die Identitätswahrung relevanten Anteils der Arbeitnehmer, nutze – so das BAG – der Auftragsnachfolger nicht die vom alten Auftragnehmer in der personellen Verbundenheit geschaffene
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
Organisationsstruktur. Hier sei die Identitätswahrung zwar beabsichtigt, in der Praxis aber misslungen. Werde das Angebot, mit derselben Tätigkeit wie zuvor zum Nachfolger zu wechseln, von den Beschäftigten des Vorgängers – oder einer identitätswahrenden Anzahl von ihnen – abgelehnt, liege deshalb kein Betriebsübergang vor. BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130.
627 Wichtig an dieser Bewertung ist, dass die fehlende Bereitschaft des relevanten Anteils der Beschäftigten, die Arbeitsbedingungen beim Nachfolger zu akzeptieren, auch die verbliebenen, ggf. selbst wechselbereiten Arbeitnehmer um die Chance bringt, sich auf die Anwendbarkeit von § 613a BGB zu berufen. Diese Folge ist nach den Feststellungen des BAG aber eine Konsequenz des Erfordernisses der Identitätswahrung. Eine richterliche Kontrolle, die die Entscheidung der wechselunwilligen Belegschaftsmitglieder im Interesse ihrer Kollegen an das Vorliegen „sachlicher Gründe” binde, finde ebenso wenig statt, wie eine richterliche Kontrolle der vom Nachfolger angebotenen Arbeitsbedingungen. Praxistipp: Dies dürfte nach den Feststellungen des BAG sogar dann gelten, wenn die Arbeitsbedingungen, falls ein Betriebsübergang vorläge, nicht dem Inhaltsund Bestandsschutz des § 613a Abs. 1 BGB entsprächen, also insbesondere eine Verschlechterung enthalten (ebenso Gaul/Strauf, DStR 2013, 595, 599 f.). Der Nachfolger bzw. der relevante Anteil der Beschäftigten hätte es insoweit „in der Hand”, einen Betriebsübergang herbeizuführen oder nicht. Auch mit einem solchen (abschreckenden) Angebot werde – so das BAG – § 613a BGB nicht umgangen. Vielmehr träten seine Voraussetzungen auf der Tatbestandsseite nicht ein. Ebenso wie es dem Übernehmer frei stehe, ob er materielle und/ oder immaterielle Betriebsmittel des Veräußerers übernehme und damit einen Betriebsübergang auslöse, stehe es dem Auftragsnachfolger frei, ob er die nach Zahl und Sachkunde für eine Identitätswahrung „kritische Masse” der Belegschaft des früheren Auftragnehmers durch Abschluss von Arbeitsverträgen willentlich weiter beschäftige oder nicht. Es sei dann Sache der einzelnen Arbeitnehmer, ob sie mit dem Auftrags- oder Funktionsnachfolger Arbeitsverträge schlössen.
628 Eine Verpflichtung des potenziellen Erwerbers zur Weiterbeschäftigung des bisherigen Personals bestehe nicht. Vielmehr könne sich der neue Auftragnehmer gerade entscheiden, ob er unter Inkaufnahme der Rechtsfolgen des § 613a BGB eine mit der Person verknüpfte Betriebsorganisation weiternutze und hieraus Vorteile ziehe oder hierauf verzichte. BAG, v. 15.12.2011 – 8 AZR 197/11, DB 2012, 696 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 130. Praxistipp: Das BAG bestätigt damit, dass gerade in betriebsmittelarmen Betrieben oder Betriebsteilen die Anwendbarkeit von § 613a BGB durch den Erwerber durch die Zahl und den Inhalt etwaiger Beschäftigungsangebote an die Arbeitnehmer
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs des bisherigen Betriebsinhabers gesteuert werden kann. Darin liegt keine Umgehung, sondern eine Strategie zur Vermeidung der aus § 613a BGB resultierenden Folgen.
2. Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs a) Übergang von Arbeitsverhältnissen Damit ein Arbeitsverhältnis von einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang 629 erfasst ist, muss es dem übertragenen Betrieb bzw. Betriebsteil zugeordnet sein. Für die Zuordnung des Arbeitnehmers ist nach ständiger Rechtsprechung darauf abzustellen, ob er in den (nicht) übergegangenen Betrieb oder Betriebsteil tatsächlich eingegliedert war, sodass es insbesondere nicht ausreicht, dass er Tätigkeiten für den übertragenen Teil verrichtet hat, ohne in dessen Struktur eingebunden gewesen zu sein. BAG, v. 24.1.2013 – 8 AZR 706/11, DB 2013, 1556.
In der Praxis schwierig zu beurteilen sind vornehmlich Arbeitsverhältnisse, 630 die mehreren Betrieben oder Betriebsteilen zuzuordnen sind. Praxistipp: Vorrangig zu beachten sind insoweit vertraglichen Vereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien oder eine entsprechende Ausübung des Direktionsrechts (§ 106 GewO) durch den übertragenden Rechtsträger. Auf diesem Wege kann bereits der Veräußerer Betriebe oder Betriebsteile anforderungsgerecht „ausstatten“. Denkbar ist dies auch nach einem Erwerberkonzept. Vermieden werden muss, wenn dies im Zusammenhang mit geplanten Kündigungen geschieht, lediglich, dass die dem Erwerberkonzept entsprechende Ausstattung nicht mit dem Ziel oder der Folge einer unzulässigen Umgehung der Sozialauswahl nach § 1 KSchG erfolgt.
Dabei ist zunächst der Wille der Beteiligten beachtlich. Liegt ein solcher we- 631 der in ausdrücklicher noch in konkludenter Form vor, so erfolgt die Zuordnung grundsätzlich – ebenfalls ausdrücklich oder konkludent – durch den Arbeitgeber aufgrund seines Direktionsrechts. BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178. Praxistipp: Für die Darlegungs- und Beweislast gilt insoweit Folgendes: Nachdem es grundsätzlich dem Arbeitgeber freisteht, mit welchen vertraglich geschuldeten Tätigkeiten er den Arbeitnehmer betraut, obliegt es dem Arbeitnehmer, konkret darzutun, warum es billigem Ermessen widersprochen haben soll, dass ihm der Arbeitgeber Aufgaben in einem Bereich zugewiesen hat, der nicht von einem Betriebs- oder Betriebsteilübergang erfasst ist. Nur wenn ein solches substantiiertes Bestreiten erfolgt, muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen, dass und aus welchen Gründen seine Zuordnungsentscheidung durch § 106 GewO gedeckt war (BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178).
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung Praxistipp: Vertragliche Vereinbarungen zwischen Veräußerer und Erwerber sind demgegenüber, wie das BAG im Urteil vom 24.1.2013 (8 AZR 706/11, DB 2013, 1556) klargestellt hat, unerheblich. Sie können für sich genommen keine von den Kriterien des BAG abweichende Zuordnung bewirken. Gleiches gilt für eine Zuordnung durch die Betriebsparteien im Rahmen eines Interessenausgleichs (BAG, v. 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178).
632 Abgestellt werden kann hingegen im Rahmen einer Gesamtschau sowohl auf eine übereinstimmende Zuordnungsentscheidung zwischen dem Arbeitnehmer und dem bisherigen Arbeitgeber als auch auf objektive Kriterien, also den Schwerpunkt der Tätigkeit des Arbeitnehmers. b) Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers 633 Ist der Arbeitnehmer mit dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses nicht einverstanden, kann er dem Übergang gem. § 613a Abs. 6 BGB widersprechen. Wird das Widerspruchsrecht nach dem Betriebsübergang vom Arbeitnehmer ausgeübt, wirkt es auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs zurück (sog. ex-tunc-Wirkung). Der Widerspruch führt dazu, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien ununterbrochen fortbestand. BAG, v. 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, ZIP 2013, 1783, dazu EWiR 2013, 767 (Haußmann).
634 Daraus wird teilweise die Schlussfolgerung gezogen, auch Ausschlussfristen fänden bei einem später erklärten Widerspruch so Anwendung, als habe das Arbeitsverhältnis ununterbrochen fortbestanden. LAG München, v. 19.8.2010 – 4 Sa 311/10, LAGE BGB 2002 § 613a Nr. 31.
635 Dies soll dazu führen können, dass Ansprüche im Zeitpunkt der Ausübung des Widerspruchsrechts bereits verfallen seien. 636 Ein solches Verständnis widerspricht jedoch – worauf das BAG in seinem Urteil vom 16.4.2013 – 9 AZR 731/11, ZIP 2013, 1783; zu tariflichen Ausschlussfristen auch nachfolgend unter Rn. 888 ff.,
zu Recht hingewiesen hat – dem Zweck tariflicher Ausschlussfristen. Tarifvertragsparteien wollen durch die Normierung der Verpflichtung zur gerichtlichen Geltendmachung alsbaldige Klarheit über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs schaffen. Ein Zwang zur Anrufung des Arbeitsgerichts ist jedoch nur sinnvoll, wenn der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auch durchsetzbar ist. So läuft die Frist für die gerichtliche Geltendmachung grundsätzlich nicht vor der Fälligkeit des Anspruchs.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Im Übrigen dürfe – so das BAG – das Widerspruchsrecht ebenso wie andere 637 Gestaltungsrechte nicht mechanisch gehandhabt werden, wenn sich Einschränkungen der Rückwirkung aus dem Gesetzeszweck ergeben. So ordne das Gesetz in § 184 BGB an, dass die nachträgliche Zustimmung (Genehmigung) auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts zurückwirkt. Dennoch entspreche es allgemeiner Auffassung, dass die Verjährung durch die Genehmigung nicht rückwirkend, sondern ex nunc in Gang gesetzt wird. Nach ihrem Sinn und Zweck sei daher auch eine einschränkende Auslegung 638 tariflicher Ausschlussfristen geboten, wenn der Widerspruch vom Arbeitnehmer nach dem Betriebsübergang wirksam erklärt werde. Denn dafür, dass Tarifvertragsparteien mit der Normierung von Ausschlussfristen Ansprüche auch dann untergehen lassen wollten, wenn der Anspruchsberechtigte vor Ablauf der Ausschlussfristen nicht in der Lage war, seinen Anspruch mit Aussicht auf Erfolg gerichtlich geltend zu machen, fehle jeder Anhaltspunkt. Tarifliche Ausschlussfristen bezweckten nur, über das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis alsbald Klarheit zu schaffen. Praxistipp: Die Entscheidung macht vor diesem Hintergrund zunächst noch einmal deutlich, wie wichtig eine richtige Unterrichtung gem. § 613a Abs. 5 BGB ist. Denn nur sie löst die einmonatige Widerspruchsfrist aus. Erfolgt keine wirksame Unterrichtung kann sich mithin durch zeitlich weit nachfolgende Widersprüche eine umfängliche Haftung des übertragenden Rechtsträgers ergeben, die weit über die Haftung nach § 613a Abs. 2 BGB hinausgeht. Etwaige Ausschlussfristen schützen insoweit nicht. Die Feststellungen des BAG zur tariflichen Ausschlussfrist wird man auf entsprechende Ausschlussfristen in Betriebs- oder Individualvereinbarungen übertragen können, sodass Ausschlussfristen generell erst mit Zugang des Widerspruchs gegenüber dem (vermeintlich) übertragenden Rechtsträger zu laufen beginnen.
Für den Arbeitnehmer ist der Widerspruch allerdings in der Regel in anderer 639 Hinsicht ein „Risikogeschäft“, wie das BAG in seinem Urteil vom 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178
noch einmal deutlich gemacht hat. Denn regelmäßig fehlt es infolge des Betriebs(teil)übergangs an einem Arbeitsplatz beim Veräußerer, sodass typischerweise eine betriebsbedingte Kündigung in Rede steht. Vermieden werden muss sie nur bei freien, gleich- oder geringerwertigen Arbeitsplätzen im Unternehmen oder infolge einer Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 KSchG). Denn aus dem gesetzlichen Schutz des Arbeitnehmers vor betriebsbedingten Arbeitgeberkündigungen gem. § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 lit. b) KSchG ist nicht die Verpflichtung des Arbeitgebers abzuleiten, einen Arbeitnehmer, der einem gem. § 613a Abs. 1 BGB auf einen Erwerber übergegangen Betrieb zugeordnet war, einem anderen Betrieb zuzuordnen, wenn er dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber widersprochen hat. Dies gilt insbesondere für Fallgestaltungen, in denen eine analoge Anwendung des Rechts-
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
gedankens des § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 lit. b) KSchG dazu führen, dass der Arbeitnehmer ein Wahlrecht hätte, von welchem der Betriebserwerber er gem. § 613a BGB „übernommen“ werden möchte. Ein derartiges Wahlrecht besteht – wie das BAG in seinem Urteil vom 21.2.2013 – 8 AZR 877/11, DB 2013, 1178
explizit klargestellt hat – aber nicht. Aus ähnlichen Überlegungen heraus lehnt das BAG auch einen „Versetzungsanspruch“ des Arbeitnehmers aus § 241 Abs. 2 BGB oder § 315 Abs. 3 BGB zu Recht explizit ab. 640 Ist der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber – wie in der Praxis sehr häufig – nicht ordnungsgemäß nach den Vorgaben des § 613a Abs. 5 BGB informiert worden, fängt die Widerspruchsfrist des § 613a Abs. 6 BGB nicht an zu laufen. Seine Grenzen findet das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers dann vor allem in den Grundsätzen der Verwirkung. 641 Dass sich eine Verwirkung auch aus dem Prozessverhalten des Arbeitnehmers gegenüber dem Betriebserwerber ergeben kann, hat das BAG in seinem Urteil vom 17.10.2013 – 8 AZR 974/12, n. v.
deutlich gemacht. Verklagt ein Arbeitnehmer nach einem Betriebsübergang den Betriebserwerber auf Feststellung, dass zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis besteht, so kann er nach den Feststellungen des BAG nämlich durch die Art und Weise der Prozessführung und Prozessbeendigung sein Recht zum Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Betriebsveräußerer verwirken. 642 Im entschiedenen Fall war die Beklagte eine Catering-Firma, die 1996 den Betrieb einer Kantine übernommen hatte, in der der Kläger schon seit 1985 tätig war. Die Beklagte verlor den Catering-Auftrag zum 31.12.2010 und informierte den Kläger darüber, dass sein Arbeitsverhältnis im Wege eines Betriebsübergangs nach § 613a Abs. 1 BGB auf einen anderen Caterer übergehen werde. Der Betriebserwerber bestritt jedoch einen Betriebsübergang, woraufhin ihn der Kläger auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses verklagte. In diesem Prozess einigte sich der Kläger mit dem Betriebserwerber darauf, ein Betriebsübergang habe niemals stattgefunden, ein Arbeitsverhältnis zwischen ihnen habe nie bestanden. Der Betriebserwerber verpflichtete sich zur Zahlung von 45.000,00 € an den Kläger. Anschließend erklärte der Kläger gegenüber der Beklagten den Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB. Er verlangt nunmehr von der Beklagten als Betriebsveräußerin die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses und Annahmeverzugslohn. 643 Anders als das Arbeitsgericht hatte das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen, weil der Kläger gegenüber der Beklagten sein Recht zum Widerspruch verwirkt habe. Die Revision des Klägers blieb vor dem 8. Senat des BAG ohne Erfolg. Es stellt nach den Feststellungen des BAG einen die Ver-
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
wirkung des Rechts zum Widerspruch begründenden Umstand dar, wenn ein Arbeitnehmer zunächst das Bestehen seines Arbeitsverhältnisses mit dem Betriebserwerber geltend macht und dann über diesen Streitgegenstand eine vergleichsweise Regelung trifft. Das gelte – so das BAG – jedenfalls dann, wenn ein Betriebsübergang stattgefunden habe und das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers tatsächlich auf den zunächst verklagten Betriebserwerber übergegangen sei. Nach einer vergleichsweisen Einigung mit dem Betriebserwerber, durch welche der Bestand des Arbeitsverhältnisses geregelt werde, gehe ein rechtsgestaltender Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines „bereinigten“ Arbeitsverhältnisses ins Leere. c) Konsequenzen des Betriebsübergangs für arbeitsvertragliche Rechte und Pflichten aa) Umfang des Eintritts in individualrechtliche Positionen Der Eintritt in bestehende Arbeitsverhältnisse gem. § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB 644 betrifft alle individualrechtlichen Rechte und Pflichten. Der Begriff des Arbeitsverhältnisses geht schließlich über den des Arbeitsvertrags hinaus. Erfasst werden also der Arbeitsvertrag und ergänzende Vereinbarungen, d. h. auch arbeitsvertragliche Einheitsregelungen, Gesamtzusagen und Ansprüche aufgrund betrieblicher Übung. Vgl. BAG, v. 19.6.1980 – 3 AZR 958/79, AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Wartezeit
Ob derartige Regelungen einbezogen werden, hängt vom Zeitpunkt des 645 Wirksamwerdens des Übergangs des Arbeitsverhältnisses ab. Im Nachgang können Änderungen nur noch vom übernehmendem Rechtsträger (- soweit erforderlich – gemeinsam mit dem Arbeitnehmer) herbeigeführt werden. bb) Anrechnung der Betriebszugehörigkeit Obwohl die Dauer der Betriebszugehörigkeit kein Recht ist, das gegenüber 646 dem übernehmenden Rechtsträger geltend gemacht werden kann, erfolgt eine gesetzliche Anrechnung der bisherigen Betriebszugehörigkeit beim übertragenden Rechtsträger. Denn soweit die Dauer der Betriebszugehörigkeit für die Ausübung von Rechten und Pflichten Bedeutung hat (insbesondere für den Kündigungsschutz, das Urlaubsrecht, aber auch etwaige Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung (Unverfallbarkeitsfristen) und andere Sonderleistungen), wird die bis zum Übergang des Arbeitsverhältnisses beim übertragenden Rechtsträger verbrachte Betriebszugehörigkeit auch beim übernehmenden Rechtsträger anerkannt. BAG, v. 23.5.2013 – 2 AZR 54/12, NZA 2013, 1197.
Der übernehmende Rechtsträger ist aber berechtigt, neue Zusagen, die erst 647 nach dem Übergang für die hiervon betroffenen Arbeitnehmer wirksam werden, die beim übertragenden Rechtsträger verbrachte Betriebszugehörigkeit
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
nicht anzurechnen, soweit dies nach deutschem Recht auch ohne Rücksicht auf den Betriebsübergang zulässig wäre. EuGH, v. 14.9.2000 – C-343/98, ZIP 2000, 1996 = NZA 2000, 1279, 1282 m. w. N. – Collino und Chiappero, dazu EWiR 2000, 1121 (Plander)
cc) Übernahme arbeitsvertraglicher Rechte und Pflichten 648 Sind individualrechtlich begründete Rechtspositionen Bestandteil des Arbeitsverhältnisses, tritt der übernehmende Rechtsträger in sie ein. Dies gilt z. B. für die vertraglich vereinbarte Tätigkeit und den Beschäftigungsanspruch, umgekehrt aber auch für das arbeitgeberseitige Direktionsrecht. Gleiches gilt für einzelvertragliche Vereinbarungen über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen, z. B. Aufhebungsverträge, Altersteilzeitvereinbarungen, Kündigungsfristen, Kündigungstermine, Unkündbarkeit und einen etwaigen Sonderkündigungsschutz, wenn dieser wirksam vereinbart wurde. 649 Lohn- und Gehaltsansprüche werden wie einzelvertragliche Ansprüche auf Sonderleistungen zur insolvenzrechtlichen Qualifikation vgl. oben Rn. 69 ff.,
durch den Übergang des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich nicht berührt. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn leistungs- und erfolgsabhängige Zahlungen wegen Veränderung der Bezugsgrößen (z. B. Umsatz, EBITDA) angepasst werden müssen. 650 Auch die zugesagte Privatnutzung des Dienstwagens muss dem Arbeitnehmer weiterhin gewährt werden. Entsprechendes gilt für Urlaubsansprüche. Endet das Arbeitsverhältnis erst nach Übergang, kann der neue Arbeitgeber zur Urlaubsabgeltung verpflichtet sein. Zu den Grenzen des Abgeltungsanspruchs vgl. ab Rn. 407 ff.
651 Rechte und Pflichten gehen mit dem Arbeitsverhältnis aber ebenso über wie Ausschlussfristen, die – wie vorstehend gezeigt – im Fall eines Widerspruchs aber erst mit Ausübung des Widerspruchsrechts gegenüber dem übertragenden Rechtsträger zu laufen beginnen. d) Kollektivvertragliche Konsequenzen eines Betriebsübergangs aa) Rechtsfolgen bei gesetzlicher Tarifbindung 652 Gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB werden Rechte und Pflichten, die zum Zeitpunkt des Übergangs durch Rechtsnormen eines Tarifvertrags geregelt sind, Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen dem neuen Inhaber und dem Arbeitnehmer (sog. Transformation) und dürfen vor Ablauf eines Jahres nach dem Zeitpunkt des Übergangs zum Nachteil der Arbeitnehmer nicht geändert werden.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs Eingehend BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, BAGE 130, 237 = ZIP 2009, 2461 = NZA 2010, 41, dazu EWiR 2010, 213 (Haußmann).
Eine derartige Änderung bedarf allerdings unabhängig von der Jahresfrist ei- 653 ner Zustimmung des Betriebsrats, wenn sie Angelegenheiten der Mitbestimmung nach § 87 BetrVG betrifft. Andernfalls ist sie nach der sog. „Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung“ kollektivrechtlich unwirksam. Das kann nach der Rechtsprechung des BAG sogar einer Änderung der bestehenden Arbeitsbedingungen bei Neueinstellungen entgegenstehen und sollte daher verhindert werden. Vgl. BAG, v. 8.12.2009 – 1 ABR 66/08, BAGE 132, 314 = ZIP 2010, 492 = NZA 2010, 404, dazu EWiR 2010, 279 (Mückl).
(1) Übernahme eines Betriebs durch Erwerber ohne Tarifbindung Nach der Rechtsprechung, die der 4. Senat des BAG in seinen Urteilen vom 654 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, BAGE 130, 237 = ZIP 2009, 2461
und vom 26.8.2009 – 4 AZR 280/08, ZIP 2010, 344 = NZA 2010, 238, dazu EWiR 2010, 111 (Schreiner/Parotat)
entwickelt hat, gelten Tarifverträge auch dann als Bestandteil des Arbeitsverhältnisses fort, wenn der Betrieb oder Betriebsteil, für den der (Sanierungs)Tarifvertrag abgeschlossen wurde, durch einen Arbeitgeber ohne Tarifbindung übernommen wird. In den beiden Fällen hatte der Insolvenzverwalter als früherer Betriebsinha- 655 ber mit der jeweils zuständigen Gewerkschaft einen Sanierungstarifvertrag abgeschlossen, der Abweichungen gegenüber dem – ansonsten normativ geltenden – Verbandstarifvertrag enthielt. Jeweils noch während der Laufzeit des befristeten Sanierungstarifvertrags wurde der Betrieb im Rahmen einer Übertragenden Sanierung auf einen anderen Rechtsträger übertragen, der nicht tarifgebunden war. Eine Kündigung des Sanierungstarifvertrags vor dem Betriebsübergang erfolgte nicht. Die zuständige Gewerkschaft kündigte den Sanierungstarifvertrag aber im Anschluss an den Betriebsübergang. Im einen Fall wurde sie gegenüber dem Insolvenzverwalter und in dem anderen Fall gegenüber dem Erwerber ausgesprochen. Die Kündigung gegenüber dem Insolvenzverwalter hatte nach den Feststellungen des BAG eine Beendigung des Sanierungstarifvertrags zur Folge. Im Gegensatz zur Kündigung gegenüber dem Erwerber, die unerheblich gewesen sei, habe die IG Metall durch die Kündigung gegenüber dem Verwalter auf den Fortbestand des Tarifvertrags einwirken können.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
656 Dabei geht das BAG davon aus, dass das beim übertragenden Rechtsträger geltende Tarifrecht ohne Einschränkung in das Arbeitsverhältnis zwischen Erwerber und Arbeitnehmer transformiert wird. Dies gelte – so das BAG – auch, wenn mehrere Tarifverträge gelten würden, deren Regelungsbereiche sich überschnitten, und wenn eine Ablösung für einen Zeitpunkt nach dem Betriebsübergang zeitlich-dynamisch geregelt gewesen sei. 657 Die gem. § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB fortgeltenden Regelungen eines Tarifvertrags seien – so das BAG weiter – unmittelbar arbeitsvertraglich vereinbarten und daher nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB übergehenden Arbeitsbedingungen nicht gleich zu stellen, sondern behielten ihren kollektivrechtlichen Charakter auch nach dem Betriebsübergang. Praxistipp: Das muss auch bei der Ausgestaltung von Unterrichtungsschreiben nach § 613a Abs. 5 BGB beachtet werden.
658 Der nicht tarifgebundene Betriebserwerber sei dementsprechend in den übergegangenen Arbeitsverhältnissen an die transformierten Normen gebunden wie ein aus einem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetretener Arbeitgeber nach § 3 Abs. 3 TVG an den zum Zeitpunkt des Austritts geltenden Verbandstarifvertrag, wobei der Ablauf der Jahresfrist nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB einer Fiktion des Endes der Nachbindung durch Änderung des Tarifvertrags entspreche. BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, BAGE 132, 314 = ZIP 2010, 492 = NZA 2010, 41.
659 Im Gegensatz zur unbefristeten Fortgeltung des Tarifvertrags bei Beendigung der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, die gem. §§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 5 TVG bis zu einer Änderung oder Beendigung des Tarifvertrags dauere, sei die unmittelbare und zwingende Wirkung unter Berücksichtigung des Benachteiligungsverbots im Anschluss an einen Betriebsübergang also auf die Einhaltung der Jahresfrist begrenzt. Praxistipp: Konsequenz daraus ist, dass eine Beendigung des Tarifvertrags, die auch ohne den Übergang des Arbeitsverhältnisses eingetreten wäre, gem. § 613a Abs. 1 Satz 4 Halbs. 1 BGB berücksichtigt werden muss. Dies bedeutet, dass die zwingende Wirkung der Jahresfrist des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB und das damit verbundene Verschlechterungsverbot bereits mit dem Zeitpunkt der Beendigung des Tarifvertrags endet. Welche Rechte und Pflichten für die Arbeitsvertragsparteien im Anschluss an diese Beendigung des Tarifvertrags gelten, hängt vom Einzelfall ab.
660 Tarifnormen, die ohne Rücksicht auf einen Betriebsübergang nach Beendigung ihrer zwingenden Wirkung gem. § 4 Abs. 5 TVG nachwirken, gelten auch dann als Inhalt des Arbeitsverhältnisses fort. Allerdings sind sie in diesem Stadium dispositiv, d. h. sie können jederzeit einzelvertraglich oder –
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
unter Beachtung der in Rn. 670 ff. geschilderten Grenzen sowie des Tarifvorrangs der §§ 77, 87 BetrVG, aber auch des unter Rn. 250 ff. aufgezeigten Gestaltungsspielraums – kollektivrechtlich auch zum Nachteil des Arbeitnehmers abgeändert werden. Tarifnormen, die unter Ausschluss der Nachwirkung transformiert werden, entfallen bei Beendigung des Tarifvertrags im Verhältnis zwischen Erwerber und übergegangenem Arbeitnehmer ersatzlos. BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, BAGE 132, 314 = ZIP 2010, 492 = NZA 2010, 41 Rn. 29.
Im Rahmen einer Due Diligence und bei der Kaufvertragsgestaltung bei einer 661 übertragenden Sanierung wichtig ist, dass eine Beendigung des Tarifvertrags im Anschluss an den Übergang des Arbeitsverhältnisses nach der Rechtsprechung des BAG durch die Parteien des Tarifvertrags auch noch nach dem Übergang des Arbeitsverhältnisses herbeigeführt werden kann. Voraussetzung hierfür ist lediglich, dass die Kündigung (bzw. der Änderungs- oder Aufhebungstarifvertrag) durch die Gewerkschaft bzw. den Arbeitgeber oder Arbeitgeberverband gegenüber dem jeweils anderen Vertragspartner erklärt wird. Zu Strategien zur Beendigung von Tarifverträgen, vgl. Mückl/Krings, BB 2012, 769.
Geschieht das form- und fristgerecht, bewirkt es eine Beendigung der zwingenden Wirkung des Tarifvertrags bereits vor Ablauf der Jahresfrist gem. § 613a Abs. 1 Satz 4 Halbs. 1 BGB. Praxistipp: Die wirtschaftliche Wirkung des Sanierungstarifvertrags, den der Erwerber zur Grundlage der Übernahme und Fortführung des Betriebs gemacht hat, kann damit durch Dritte beseitigt werden. Das muss – neben den unter Rn. 670 ff. dargestellten Grenzen für verschlechternde Tarifverträge bei Betriebsübergang – vor allem bei übertragenden Sanierungen beachtet werden. Die Gewerkschaft sollte bereits im Rahmen der Übernahmeverhandlungen derart eingebunden werden, dass sie die sanierende Wirkung des Tarifvertrags nicht durch Beendigung nach Übergang des Betriebs torpediert. Der Veräußerer kann und sollte hierzu im Kaufvertrag verpflichtet werden. Mit der Gewerkschaft sollte die Sanierungswirkung ggf. durch einen inhaltsgleichen eigenen Tarifvertrag des Erwerbers abgesichert werden.
(2) Ablösung durch Tarifvertrag des Erwerbers Die Fortgeltung der bisherigen Tarifverträge als Bestandteil des Arbeitsver- 662 trags nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB tritt nach § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB dann nicht ein, wenn und soweit Rechte und Pflichten bei dem übernehmenden Rechtsträger durch Rechtsnormen eines anderen Tarifvertrags geregelt werden. Vgl. zu Möglichkeiten der Harmonisierung tariflicher Arbeitsbedingungen ferner Freckmann/Wörz, BB 2013, 2549 ff.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
663 Voraussetzung hierfür ist, dass Arbeitnehmer und übernehmender Rechtsträger kraft Gesetzes (normativ) an den (anderen) Tarifvertrag gebunden sind. BAG, v. 9.4.2008 – 4 AZR 164/07, ZTR 2009, 95.
664 Für die Ablösung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen des Veräußerers durch die des Erwerbers blieb es bislang – ohne „Überkreuzablösung“ von Tarifverträgen durch Betriebsvereinbarungen – jedenfalls außerhalb des Bereichs der erzwingbaren Mitbestimmung, vgl. BAG, v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, BAGE 134, 130 = ZIP 2010, 2068; BAG, v. 13.11.2007 – 3 AZR 191/06, BAGE 125, 1 = ZIP 2008, 890, dazu EWiR 2008, 427 (Bergemann/Möller); BAG, v. 6.11.2007 – 1 AZR 862/06, ZIP 2008, 710, dazu EWiR 2008, 517 (Schreiner)
auch in der Insolvenz bei § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB: Nach Auffassung des BAG ist § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB – wie gerade gezeigt – als bloße „Auffangnorm“, kritisch Sagan, RdA 2011, 163, 164,
die eine kollektive Fortgeltung von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen nicht ausschließt, BAG v. 19.9.2007 – 4 AZR 711/06, ZIP 2008, 378,
nur anzuwenden, wenn der Betriebserwerber nicht ohnehin kollektivrechtlich an die bislang beim Veräußerer geltenden Kollektivnormen gebunden ist. Ist der Erwerber ebenso tarifgebunden wie der Veräußerer, ist eine Transformation nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nach Ansicht des BAG ausgeschlossen. 665 Dem vergleichbar sollen Betriebsvereinbarungen unverändert als solche fortgelten, wenn der übernommene Betrieb nach dem Übergang seine Identität bewahrt. BAG, v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803, dazu EWiR 2004, 1009 (Hertzfeld/Riedemann); BAG, v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, ZIP 2003, 1059.
666 Dies soll auch bei der Übernahme eines Betriebsteils gelten, sofern er als eigenständiger Betrieb fortgeführt wird. BAG, v. 18.11.2003 – 1 AZR 604/02, NZA 2004, 803; BAG, v. 18.9.2002 – 1 ABR 54/01, ZIP 2003, 1059.
667 Greift § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ein, kann ein danach fortgeltender Anspruch gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB dennoch durch eine beim Betriebserwerber abgeschlossene Kollektivvereinbarung (Tarifvertrag bzw. Betriebsvereinbarung) abgelöst werden, weil die nunmehr als Inhalt des Arbeitsverhältnisses geltenden kollektivrechtlichen Regelungen – wie vorstehend berichtet – in-
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
haltlich nicht weiter geschützt sind, als sie es bei einem Fortbestand beim Erwerber gewesen wären. BAG, v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990.
In beiden Fällen ist nach der Rechtsprechung des BAG im Verhältnis zwi- 668 schen (transformiertem) Veräußerer- und (neuem) Erwerberkollektivvertrag das Günstigkeitsprinzip nicht anwendbar. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB enthalte eine Spezialregelung, welche die Anwendung des Günstigkeitsprinzips ausschließe. BAG, v. 11.5.2005 – 4 AZR 315/04, ZIP 2005, 1889, dazu EWiR 2005, 821 (Wißmann); BAG, v. 20.4.1994 – 4 AZR 342/93, ZIP 1994, 1797.
Konsequenz dieser Auffassung war, dass der Erwerber eines Betrieb(steil)s 669 aus der Insolvenzmasse die typischerweise mit erheblichen Kosten verbundenen Kollektivvereinbarungen des Veräußerers durch eigene ablösen konnte, um ihn kostengünstiger fortzuführen. Zur Beendigung von Tarifverträgen in der Insolvenz vgl. Mückl/Krings, BB 2012, 769 ff.
Auf dieser Grundlage fanden bislang Kaufpreisverhandlungen statt. Dem 670 könnte nun aber das Urteil des EuGH vom 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366
in der Sache „Scattolon“ entgegenstehen. Das BAG hat dies bislang offengelassen. BAG, v. 22.2.2012 – 4 AZR 527/10, BB 2012, 1920 (LS); BAG, v. 14.12.2011 – 4 AZR 179/10, juris.
Der EuGH stellte in der vorgenannten Entscheidung zunächst fest, dass der 671 Erwerber gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 77/187/EWG verpflichtet sei, die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrechtzuerhalten, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren. Die Mitgliedstaaten könnten zwar gem. Unterabs. 2 dieser Vorschrift den Zeitraum der Aufrechterhaltung auf mindestens ein Jahr begrenzen. Dies dürfe Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 77/187/EWG aber nicht seine Bedeutung nehmen; danach dürfe der Erwerber die nach dem bei ihm geltenden Kollektivvertrag vorgesehenen Arbeitsbedingungen – einschließlich der über das Arbeitsentgelt – ab dem Zeitpunkt des Übergangs anwenden. Dieses Verständnis entspricht noch § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB und der bis- 672 herigen Rechtsprechung des BAG. Der EuGH schränkt den gerade skizzierten Gestaltungsspielraum dann allerdings scheinbar erheblich ein: Die RL 77/187/EWG lasse dem Erwerber und den anderen Vertragsparteien zwar
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
einen Spielraum, um die Integration der übergegangenen Arbeitnehmer in die Lohn- und Gehaltsstruktur so zu gestalten, dass dabei die Umstände des Übergangs angemessen berücksichtigt würden. Die gewählten Modalitäten müssten aber mit dem Ziel der Richtlinie vereinbar sein, das darin bestehe, zu verhindern, dass sich die Lage der übergegangenen Arbeitnehmer allein aufgrund dieses Übergangs verschlechtere. Die Inanspruchnahme der durch Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 77/187/EWG eröffneten Ablösungsmöglichkeit dürfe „also nicht zum Ziel oder zur Folge haben, dass diesen Arbeitnehmern insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen als die vor dem Übergang geltenden auferlegt werden. Andernfalls könnte die Verwirklichung des mit der Richtlinie 77/187 verfolgten Ziels in jedem durch Kollektivverträge geregelten Bereich leicht in Frage gestellt werden, was die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen würde“. Insofern müsse „die Höhe des von diesen [vom Übergang betroffenen] Arbeitnehmern bezogenen Arbeitsentgelts in etwa bei[zu]behalten“ werden. 673 Denkbar ist, dass sich der EuGH damit dogmatisch wenig überzeugend „aus Schutzzwecküberlegungen vom bislang geltenden Ablöseprinzip abwendet und stattdessen eine Art ‚insgesamt‘ geltenden Günstigkeitsvergleich vornimmt“, von Steinau-Steinrück, NJW-Spezial 2012, 434, 435; ähnlich Steffan, NZA 2012, 473, 475,
obwohl die Betriebsübergangsrichtlinie anders als manch andere arbeitsrechtliche Richtlinie gerade kein ausdrückliches Verschlechterungsverbot statuiert. Krebber, GPR 2012, 131, 134 f. m. w. N.
674 Entscheidend wäre dann, was insgesamt schlechtere bzw. in etwa gleichwertige Arbeitsbedingungen heißt. Denkbar ist zunächst, dass eine generelle Betrachtung erfolgen soll, sodass – abweichend von der Rechtsprechung des BAG, BAG, v. 21.4.2010 – 4 AZR 768/08, ZIP 2010, 2068 = DB 2010, 1998 –
kein konkreter Sachgruppenvergleich, sondern ein kollektiver Günstigkeitsvergleich vorzunehmen ist, auf dessen Grundlage eine Reduktion des Arbeitsentgelts durch eine Verbesserung anderer Arbeitsbedingungen ausgeglichen werden kann. Vgl. auch Sagan, EuZA 2012, 247, 251 f.
675 Im Ergebnis sollen dies offenbar die nationalen Gerichte klären, ebenso Forst, AP Richtlinie 2001/23/EG Nr. 9; Sagan, EuZA 2012, 247, 252,
174
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
an die der EuGH den Rechtsstreit zurückverweist. Klare Grenze des insoweit bestehenden Gestaltungs- bzw. Interpretationsspielraums scheint aber zu sein, in diesem Sinne Felten, ZESAR 2012, 139, 142; Steffan, NZA 2012, 473, 475,
dass „wenn ein Übergang […] zur sofortigen Anwendung des beim Erwerber geltenden Kollektivvertrags auf die übergegangenen Arbeitnehmer führt, [die Betriebsübergangsrichtlinie] es nicht zulässt, dass diese Arbeitnehmer erhebliche Kürzungen ihres Arbeitsentgelts im Vergleich zu ihrer Lage unmittelbar vor dem Übergang hinnehmen müssen“. EuGH, v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366.
Diese Grenze entnehmen der Entscheidung indes nicht alle. Ausgehend von 676 einer grundsätzlichen Kräfteparität der Sozialpartner und damit von der „Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrages“, BAG, v. 4.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007, 343,
meint Forst vielmehr, dass ein bei Kräfteparität geschlossener Tarifvertrag stets angemessene Arbeitsbedingungen vorsieht, die den Anforderungen des EuGH entsprechen. Forst, AP Richtlinie 2001/23/EG Nr. 9.
Denn wenn durch bei Kampfparität abgeschlossenen Tarifvertrag sowohl 677 beim Veräußerer als auch beim Erwerber angemessene Arbeitsbedingungen geregelt werden, seien die Arbeitsbedingungen „in etwa“ vergleichbar. Etwas anderes gelte nur, wenn die „Richtigkeitsgewähr“ des Tarifvertrags im Einzelfall nicht zutreffe. Vor diesem Hintergrund seien die Feststellungen des EuGH zu verstehen. Folgt man der letztgenannten Auffassung, ändert die „Scattolon“-Entschei- 678 dung an der bisherigen deutschen Rechtslage nichts. Dafür, dass der EuGH bei seiner Entscheidungsbegründung Tarifverträge vor Augen hatte, denen ausnahmsweise keine Richtigkeitsgewähr innewohnt, enthält sein Urteil aber keine Anhaltspunkte. Geht man vor diesem Hintergrund – aus Beratersicht geboten – vorsorglich einmal dem Verständnis der derzeit überwiegend vertretenen Gegenauffassung nach, gilt im Insolvenzfall Folgendes: Nimmt man die vorstehend zitierten Feststellungen des EuGH wörtlich, schei- 679 den zunächst insbesondere „sanierende“ Tarifverträge des Betriebserwerbers (für einen begrenzten Zeitraum) aus. Denn derartige Tarifverträge haben ja gerade zum Ziel – jedenfalls vorübergehend –, „insgesamt schlechtere Arbeitsbedingungen“ einzuführen, um die Produktivität zu erhöhen (z. B. Arbeitszeiterhöhung ohne Entgeltausgleich) und die Personalkosten zu senken. Dies lässt die Richtlinie bei wörtlichem Verständnis der Feststellungen des EuGH nicht zu.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
680 Ob Gleiches auch dann gilt, wenn es sich nicht um einen spezifischen „Sanierungstarifvertrag“ handelt, sondern ein „gewöhnlicher“ Erwerbertarifvertrag in Rede steht, der bereits für die Stammbelegschaft des Erwerbers gilt und im Vergleich zum Veräußerertarifvertrag aus Arbeitnehmersicht „insgesamt schlechtere“, aber eine Betriebsfortführung erst ermöglichende Arbeitsbedingungen vorsieht, ist unklar. In diesem Fall fehlt es zwar an einer bewussten Entscheidung der Tarifparteien für die Ablösung. Der EuGH lässt für das Eingreifen des von ihm entwickelten Verschlechterungsverbots aber genügen, dass der ablösende Tarifvertrag die Verschlechterung „zum Ziel oder zur Folge“ hat. EuGH, v. 6.9.2011 – C-108/10, ZIP 2012, 1366.
681 Immerhin Letzteres ist auch bei „gewöhnlichen“ Erwerbertarifverträgen der Fall. Erst recht dürfte das gelten, wenn die Absenkung der Vergütung im Wege der Tarifablösung – wie typischerweise bei Betriebserwerben aus Krise und Insolvenz – „das entscheidende oder zumindest ein wesentliches Motiv der beteiligten Arbeitgeber für den Betriebsübergang gewesen ist“. Sagan, EuZA 2012, 247, 255.
682 Denn dann dürfte i. S. d. EuGH eine unzulässige Entgeltkürzung vorliegen, die „allein aufgrund“ des Betriebsübergangs erfolgt. Dies könnte im Extremfall nicht nur im Rahmen von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB gelten, sondern auch dann, wenn eine arbeitsvertragliche Tarifwechselklausel „allein aufgrund“ des Betriebsübergangs zur Anwendung eines verschlechternden Tarifvertrags führt. Sagan, EuZA 2012, 247, 255; offengelassen von BAG, v. 14.12.2011 – 4 AZR 179/10, juris; BAG, v. 22.2.2012 – 4 AZR 527/10, BB 2012, 1920 (LS). Praxistipp: Für die Sanierungspraxis wichtig ist darüber hinaus, dass das vom EuGH konstituierte Verschlechterungsverbot nicht nur für Tarifverträge, sondern auch für Betriebsvereinbarungen gelten dürfte, da die Richtlinie beides nicht unterscheidet. Insbesondere Sanierungsbetriebsvereinbarungen scheiden damit im Nachgang zu einem Betriebsübergang (für einen begrenzten Zeitraum) aus. Im Übrigen gilt das zu „gewöhnlichen“ Erwerbertarifverträgen Gesagte für Erwerberbetriebsvereinbarungen entsprechend.
683 Das bedeutet im Ergebnis, dass sämtliche verschlechternd ablösenden Kollektivabreden beim Erwerber (vorrübergehend) gesperrt sind. Die meisten Arbeitsbedingungen sind aber kollektivrechtlich geregelt und könnten vom Erwerber (vorübergehend) nicht mehr verschlechternd geändert werden. Gleiches gilt nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB für verschlechternde Individualabreden. 684 Eingeschränkt würde dieses Dilemma europarechtlich durch eine zeitliche Grenze des Verschlechterungsverbots, zu der sich der EuGH aber nicht ein-
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
deutig äußert. Seine weitgehend wirkende Aussage, ein ablösender Kollektivvertrag dürfe keine schlechteren Arbeitsbedingungen vorsehen, wird man aber nicht im Sinne eines dauerhaften Bestandsschutzes interpretieren dürfen. Denn dann hätte Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 2001/23/EG keinen Anwendungsbereich mehr. Da der EuGH sich bei genauerer Betrachtung auf ablösende Kollektivvereinbarungen bezieht, die „mit sofortiger Wirkung“ „allein aufgrund“ eines Betriebsübergangs eintreten, spricht viel dafür, dass das Verschlechterungsverbot nur in Bezug auf Kollektivverträge eingreift, die auf die betroffenen Arbeitnehmer unmittelbar nach Vollzug des Übergangs Anwendung finden. Sagan, EuZA 2012, 247, 252.
Erfasst sind davon auch auf den Übergangszeitpunkt zurückwirkende Tarif- 685 verträge, Sagan, EuZA 2012, 247, 252. Die Entscheidung in der Sache „Scattolon“ betraf gerade einen rückwirkenden Tarifvertrag.
sodass dies keine Gestaltungsmöglichkeit zur Vermeidung des Verschlechterungsverbots bildet. Denkbar ist allein ein zeitlicher Abstand zwischen Betriebsübergang und Eingreifen der Tarifgeltung. Da der EuGH die aus Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 2001/23/EG folgende zeitliche Begrenzung der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der Arbeitsbedingungen des Veräußerers nicht einschränkt, sprechen die besseren Gründe dafür, dass die verschlechternde Ablösung ab dem Zeitpunkt des Übergangs immerhin maximal für ein Jahr ausgeschlossen ist. Im Ergebnis ebenso Sagan, EuZA 2012, 247, 255.
Bereits ein einjähriges Verschlechterungsverbot dürfte aber in vielen (bzw. 686 den meisten) Fällen genügen, um von einem Betriebserwerb aus der Insolvenzmasse – trotz der bestehenden Haftungsprivilegierung – abzusehen. Selbst wenn grundsätzlich eine Erwerbsbereitschaft besteht, dürften Betriebsübergänge weit häufiger an den wechselseitigen Kaufpreisvorstellungen scheitern. Denn potentielle Erwerber werden auf den ersten Blick regelmäßig fordern (müssen), dass die vom EuGH erzwungene einjährige Fortführung aller kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen (und die an sie anknüpfende Verpflichtung zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen) auf dem bisherigen – betriebswirtschaftlich nicht vertretbaren – Niveau jedenfalls durch eine Reduktion des Kaufpreises kompensiert wird. Dann dürfte in deutlich mehr Fällen als bislang fraglich sein, ob eine Veräußerung der Betriebsmittel zu Liquidationswerten nicht gewinnbringender und damit nach § 1 InsO geboten ist. Auch ein Gläubigerausschuss oder die Gläubigerversammlung (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 InsO) dürfte sie dann fordern. Denkbar sind für Verwalter folgende Lösungsstrategien:
687
näher Mückl, ZIP 2012, 2373 ff.:
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
688 Zunächst muss in Sanierungsfällen weit häufiger als bislang schon versucht werden, das Eingreifen von § 613a BGB zulässig zu vermeiden. Vgl. zu Vermeidungsstrategien und Gestaltungsmöglichkeiten allgemein zuletzt Fuhlrott/Salamon, BB 2012, 1793 ff.
689 Ist das (z. B. unter Einbindung einer Transfergesellschaft) nicht möglich (etwa weil für sie keine Mittel zur Verfügung stehen oder für eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Fortführung die Übernahme der funktionalen Einheit als solche erforderlich ist), müssen die möglichen Kaufvertragsparteien eine alternative Lösung finden. Dabei gilt es Folgendes zu berücksichtigen: 690 Die vorstehend skizzierten kollektivrechtlichen Herausforderungen sind durch die neue Rechtsprechung des EuGH veranlasst, ihre „durchschlagende“ Wirkung in der Insolvenz im Rahmen des § 613a BGB ist aber infolge der überschießenden Umsetzung der RL 77/187/EWG (RL 2001/23/EG) „hausgemacht“. Denkbar ist daher, auch im Rahmen des § 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB auf insolvenzbedingte Besonderheiten Rücksicht zu nehmen und deshalb eine „gespaltene“ Auslegung vorzunehmen, die es ohne teleologische Reduktion zulässt, die nach dem Wortlaut der Norm eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten weiterhin zu nutzen. Im Rahmen des § 613a Abs. 2 BGB ist dies ständige Rechtsprechung. Es bleibt abzuwarten, wie das BAG sich hier positionieren wird. Wortlaut, Gesetzesmaterialien und Zweck der §§ 613a Abs. 1 Satz 2, 3 BGB, 128 InsO stehen dem jedenfalls nicht entgegen. Mit Blick auf die anerkannte Zulässigkeit einer Kündigung nach Erwerberkonzept wird man immerhin eine Kollektivvereinbarung des Insolvenzverwalters nach dem Sanierungskonzept des Erwerbers für zulässig halten dürfen. bb) Rechtsfolgen für Arbeitnehmer mit Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag 691 Der Inhalt einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag wird durch einen Betriebsübergang nicht berührt. Der Erwerber tritt in diese Bezugnahmeklausel – wie in den übrigen Inhalt des Arbeitsvertrags – ein (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB). Dass damit eine dauerhafte Bindung an Tarifverträge besteht, die der Erwerber nicht abgeschlossen hat und denen er ggf. auch gar nicht beitreten kann, ist für den 4. Senat zulässig und kein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG, Richtlinie 2001/23/EG oder den europarechtlichen Schutz der Koalitionsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GRCharta). BAG, v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, ZIP 2010, 748 = NZA 2010, 513, dazu EWiR 2010, 483 (Kock); BAG, v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530.
692 Dass an dieser Rechtsprechung festgehalten werden kann, ist allerdings – wie an anderer Stelle gezeigt werden wird (vgl. unter Rn. 704 ff.) – zweifelhaft geworden.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
cc) Inkrafttreten eines Tarifvertrags nach Betriebsübergang Wenn ein Tarifvertrag bis zum Betriebsübergang noch nicht in Kraft getreten 693 ist, kommt er – jedenfalls normativ – für auf den an ihn nicht kollektivrechtlich, auch nicht vermittelt über eine Verbandsmitgliedschaft gebundenen Erwerber übergegangene Arbeitsverhältnisse nicht zur Anwendung. Anderes kann nur aus einer (wirksamen, dynamischen) Bezugnahmeklausel folgen. Selbst dies ist allerdings nach der Rechtsprechung des BAG im Zweifel nicht der Fall und das gilt auch dann, wenn die Regelungen erst „ab Betriebsübergang” gelten. Vgl. auch BAG, v. 20.6.2012 – 4 AZR 657/10, DB 2013, 238.
Das hat das BAG in seinem Urteil vom 16.5.2012 klargestellt.
694
BAG, v. 16.5.2012 – 4 AZR 320/10, ZInsO 2012, 1895.
Dabei kommt es im Zweifel nicht darauf an, ob eine gesetzliche Tarifbindung 695 besteht oder (nur) eine dynamische arbeitsvertragliche Bezugnahme auf die beim übertragenden Rechtsträger jeweils geltenden Tarifvertrag bestand. Denn zu den Rechten und Pflichten eines Tarifvertrags, die nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Inhalt des Arbeitsverhältnisses beim Erwerber werden, gehören nach der Ansicht des BAG nur tarifvertragliche Regelungen, die bis zum Betriebsübergang in Kraft getreten sind. Entsprechendes gilt – jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung des BAG –, wenn die Tarifbindung durch eine dynamische arbeitsvertragliche Bezugnahme erfolgt (§ 613a Abs. 1 Satz 1 BGB). Denn im Zweifel will der Arbeitgeber nach der Bewertung des BAG nur die Tarifverträge anwenden, die normativ gelten. Nur sie sind dementsprechend die „im Zeitpunkt” des Betriebsübergangs geltenden Regelungen i. S. d. § 613a BGB. Das gilt jedenfalls für bis zum 31.12.2001 abgeschlossene Arbeitsverträge. Lediglich bei Verbandstarifverträgen kann nach der bislang überwiegenden Rechtsprechung des BAG anderes gelten, sofern der in Rede stehende Arbeitsvertrag, der seit dem Inkrafttreten der Schuldrechtsmodernisierung (1.1.2002) abgeschlossen wurde, nicht hinreichend ausdrücklich nur die für den Arbeitgeber jeweils normativ geltenden Tarifverträge in Bezug nimmt. Das folgt aus den Vorgaben der §§ 307 ff. BGB. (näher unter Rn. 713 ff.). dd) Ablösung einer Betriebsvereinbarung nach Betriebsübergang durch Betriebsvereinbarung des Erwerbers Soweit eine Betriebsvereinbarung nicht bereits als nach betriebsverfassungs- 696 rechtlichen Grundsätzen kollektivrechtlich als Betriebsvereinbarung weitergilt (vgl. oben unter Rn. 665 f), gelten die Rechte und Pflichten einer Betriebsvereinbarung als Inhalt des Arbeitsverhältnisses fort, zur Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen beim Betriebsteilübergang z. B. Monz, BB 2012, 1923,
179
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
und können für die Dauer eines Jahres nicht individualrechtlich zum Nachteil der vom Übergang ihres Arbeitsverhältnisses betroffenen Arbeitnehmer geändert werden (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB). 697 Kolletktivrechtlich gilt aber etwas anderes. Denn die Rechte und Pflichten einer bis zum Übergang des Arbeitsverhältnisses geltenden Betriebsvereinbarung können gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB durch eine beim Betriebserwerber mit dem kraft Gesetzes zuständigen Gremium abgeschlossene Betriebs-, Gesamtbetriebs- oder Konzernbetriebsvereinbarung abgelöst werden, wenn das Arbeitsverhältnis in den Geltungsbereich fällt. Denn die als Inhalt des Arbeitsverhältnisses kollektivrechtlich weiter geltenden Regelungen seien – so das BAG – inhaltlich nicht weiter geschützt, als sie es bei kollektivrechtlichem Fortbestehen beim Betriebserwerber gewesen wären. BAG, v. 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990.
698 Auf die Günstigkeit der ablösenden Betriebsvereinbarung kommt es nicht an. Entsprechendes würde dann gelten, wenn eine als Betriebsvereinbarung weiter geltende Regelung durch eine neue Betriebs-, Gesamt- oder Konzernbetriebsvereinbarung abgelöst wird. Denn § 613a Abs. 1 Satz 4 BGB enthält keine weitergehenden Begrenzungen. 699 Eine entsprechende Ablösung kann – wie das BAG im Urteil vom 13.3.2012 – 1 AZR 659/10, NZA 2012, 990
klargestellt hat – durch einen Spruch der Einigungsstelle geschehen. Auch insoweit kommt es auf die Günstigkeit der Regelung nicht an. Praxistipp: Die Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs müssen in seinem Vorfeld rechtzeitig analysiert werden, um von vorhandenen Gestaltungsspielräumen Gebrauch machen zu können. Die Erkenntnisse einer Due Diligence müssen im Kaufvertrag und Unterrichtungsschreiben gem. § 613a Abs. 5 BGB umgesetzt werden. Wichtig sind sie auch für die Gestaltung arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln.
e) Haftung des aufnehmenden Rechtsträgers in der Insolvenz 700 Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG, die der 5. Senat in seinem Urteil vom 14.11.2012 – 5 AZR 778/11, n. v.
noch einmal bestätigt hat, ist die Haftung des Erwerbers eines Betriebs in der Insolvenz aufgrund einer teleologischen Reduktion des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB beschränkt. Hintergrund hierfür ist, dass die InsO für die Abwicklung aller Ansprüche, die zur Zeit der Insolvenzeröffnung bereits entstanden sind, ein Verfahren vorsieht, das von dem Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung beherrscht ist. Soweit die Verteilungsgrundsätze des Insolvenzrechts greifen, gehen diese – so das BAG – als Spezialregelungen vor. 180
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Damit wird sichergestellt, dass alle Gläubiger gleichmäßig befriedigt werden. Außerdem werden Betriebsübernahmen in der Insolvenz erleichtert. Die insolvenzrechtliche Beschränkung des Eintritts der Haftung nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB betrifft danach Insolvenz-, nicht jedoch Masseverbindlichkeiten. Vgl. bereits BAG, v. 9.12.2009 – 7 ABR 90/07, BAGE 132, 333 = ZIP 2010, 588, dazu EWiR 2010, 543 (Tintelnot/Graj); BAG, v. 30.10.2008 – 8 AZR 54/07, BAGE 128, 229 = ZIP 2009, 682, dazu EWiR 2009, 403 (Mückl); BAG, v. 11.10.1995 – 10 AZR 984/94, BAGE 81, 132 = ZIP 1996, 239.
Für Masseverbindlichkeiten haftet der Erwerber nach § 613a Abs. 1 Satz 1 701 BGB. Wird ein im Zeitverlauf kontinuierlich entstehender einheitlicher Anspruch erst nach Insolvenzeröffnung fällig, haftet der Erwerber nur zeitanteilig für den nach Insolvenzeröffnung entstehenden Anspruchsteil, was insbesondere für Sonderzahlungen mit echtem Entgeltcharakter Bedeutung erlangt. Ebenso Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierungen in der Insolvenz, Rn. 18.
Diese Haftungsbeschränkung gilt allerdings nur für solche Ansprüche, die 702 von den Arbeitnehmern zur Insolvenztabelle angemeldet werden können, d. h. für Ansprüche, die sich gegen den Insolvenzschuldner richten und bei diesem entstanden sind. Auch Forderungen, die – wie etwa Urlaubsansprüche – nicht auf Geld gerichtet sind, können nach einer Umwandlung gem. § 45 InsO zur Insolvenztabelle angemeldet werden können. Ausgenommen sind lediglich unvertretbare Handlungen, die sich nicht gegen das Vermögen des Schuldners, sondern gegen den Schuldner persönlich richten. Annuß/Lembke, Arbeitsrechtliche Umstrukturierungen in der Insolvenz, Rn. 17.
Maßgeblich für die Abgrenzung sind die oben unter Rn. 69 ff. dargestellten 703 Grundsätze. 3. Alemo-Herron – Ende der Dynamik einer Bezugnahmeklausel bei Betriebsübergang? Nicht wenige mit einem Betriebsübergang verbundene Restrukturierungen 704 erfolgen mit dem Ziel eines Tarifwechsels, d. h. der Ablösung eines normativ geltenden Tarifvertrags durch einen – aus Arbeitgebersicht – günstigeren Tarifvertrag. Hintergrund hierfür ist eine wirtschaftlich nachteilige Tarifentwicklung, an der insbesondere krisengeschüttelte Unternehmen nicht teilnehmen wollen (oder ohne Insolvenzgefahr können). Konterkariert wird das verfolgte Ziel allerdings häufig durch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf den normativ abgeschüttelten Tarifvertrag, die nach der bisherigen Rechtsprechung des BAG aufgrund des Günstigkeitsprinzips (§ 4 Abs. 3 TVG) arbeitsvertraglich zur Teilnahme an der unerwünschten Tarifentwicklung führt. Eine Trennung kann der Arbeitgeber nur im Rahmen einer Änderungskündigung
181
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
„einseitig“ durchsetzen. Mit Blick darauf, dass die Anforderungen des BAG an die Zulässigkeit einer Änderungskündigung sehr hoch sind, ist ihre Umsetzung aber mit erheblichem (wirtschaftlichem) Aufwand und erheblichen Unsicherheiten verbunden. Erleichterung könnte für Unternehmen die Entscheidung des EuGH in der Rs. „Alemo-Herron“ bringen. Vgl. dazu zuletzt auch Schiefer/Hartmann, BB 2013, 2613 ff.
a) Tarifwechsel durch Betriebsübergang aa) Kollektivrechtliche Bewertung 705 Grundsätzlich endet die normative Tarifgeltung, wenn sich der Arbeitgeber aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrags hinausbewegt. § 3 Abs. 3 TVG findet insoweit keine Anwendung. LAG Düsseldorf, v. 7.10.1981 – 5 Sa 566/81, DB 1982, 808 für den Fall der Änderung des Unternehmenszwecks; BAG, 1.4.1987 –4 AZR 77/86, NZA 1987, 593 = AP BGB § 613a Nr. 64 für die Ausgliederung und rechtliche Verselbständigung einer Betriebsabteilung.
706 Nach der Rechtsprechung des BAG bleiben nicht einmal bereits entstandene Rechte, die sich vom Arbeitsverhältnis gelöst haben (z. B. ein Rentenbezugsstammrecht), bestehen. BAG, v. 25.10.1994 – 9 AZR 66/91, BAGE 78, 155 = AP TVG § 1 Vorruhestand Nr. 22 = NZA 1995, 1054; a. A. LAG Frankfurt/M., v. 1.10.1990 – 16 Sa 586/90, DB 1991, 1387.
707 Allerdings wirkt der Tarifvertrag grundsätzlich analog § 4 Abs. 5 TVG nach, wenn er zuvor normativ gegolten hat. BAG, v. 10.12.1997 – 4 AZR 247/96, NZA 1998, 484 = AP TVG § 3 Nr. 20; BAG, v. 10.12.1997 – 4 AZR 193/97, NZA 1998, 488 = AP AP TVG § 3 Nr. 21.
708 Im Fall eines Betriebsübergangs ordnet § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nach der Auffassung des BAG jedoch die „kollektivrechtliche“ Fortgeltung eines Tarifvertrags an. BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = DB 2009, 2607, dazu EWiR 2010, 213 (Haußmann); ErfK/Preis, § 613a BGB Rn. 112; Bauer/von Medem, DB 2010, 2560, 2561 f.; Hohenstatt, NZA 2010, 23; im Grunde auch Sagan, RdA 2011, 163 ff.
709 Diese „kollektivrechtliche“ Fortgeltung soll mit der nach § 3 Abs. 3 TVG vergleichbar sein. BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = DB 2009, 2607.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Für den Zeitraum eines Jahres ab dem Wirksamwerden des Betriebsüber- 710 gangs lege der übergegangene Tarifvertrag einseitig zwingende Arbeitsbedingungen fest. Er gelte dabei statisch fort. Eine in dem Tarifvertrag angelegte Dynamik (auf etwa zeitlich gestaffelte Entgelterhöhungen in der Zukunft) binde aber auch den Erwerber. BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = DB 2009, 2607.
Dies soll auch im Fall eines Verlassens des Geltungsbereichs des Tarifver- 711 trags gelten. Geht also mit dem Betriebsübergang ein Branchenwechsel einher, der aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrags hinausführt, fängt § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB nicht nur den Entfall der Tarifgebundenheit als solche, sondern auch das Herauswachsen aus dem Geltungsbereich auf. BAG, v. 1.4.1987 – 4 AZR 77/86, NZA 1987, 593; BAG, v. 5.10.1993 – 3 AZR 586/92, NZA 1994, 848.
Eine Tarifflucht gelingt also bereits kollektivrechtlich nur, wenn der Betriebs- 712 übergang auf einen anders – aus Sicht des Arbeitgebers: günstiger – tarifgebundenen Rechtsträger erfolgt. Denn in diesem Fall löst der Tarifvertrag, an den der aufnehmende Rechtsträger gebunden ist, den beim übertragenden Rechtsträger geltenden Tarifvertrag nach der Rechtsprechung des BAG ohne Rücksicht auf das Günstigkeitsprinzip gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB ab. Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, zum Streitstand Sittard/Flockenhaus, NZA 2013, 652 ff.,
erscheint mit Blick auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. „Scattolon“ zwar zweifelhaft, kann hier aber nicht vertieft werden. Strategische Überlegungen dazu, wie die Sanierungspraxis mit diesem Problem umgehen soll, bei Mückl, ZIP 2012, 2373 ff. und oben unter Rn. 652. „Alemo-Herron“ macht eine Neuinterpretation von „Scattolon“ nicht unbedingt erforderlich.
bb) Individualrechtliche Bewertung Völlig losgelöst von einer Ablösung des normativ wirkenden Tarifvertrags 713 gem. § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB wird ein erfolgreicher Tarifwechsel nämlich – jedenfalls nach dem bisherigen Verständnis von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB – sehr häufig im Ergebnis dadurch verhindert, dass der bei dem übertragenden Rechtsträger geltende Tarifvertrag derart im Arbeitsvertrag der übergehenden Arbeitnehmer in Bezug genommen wird, dass er bei dem aufnehmenden Rechtsträger nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB als Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis individualvertraglich weitergilt. Vgl. BAG, v. 30.8.2000 – 4 AZR 581/99, ZIP 2001, 626 = NZA 2001, 510, dazu EWiR 2001, 393 (Schaub); BAG, v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271; BAG, v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, NZA 2003, 390; ebenso LAG Düsseldorf, v. 20.7.2006 – 15 (4) Sa 62/06;
183
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung LAG Berlin, v. 31.3.2006 – 6 Sa 2262/05 (ausdrückliche Tarifwechselklausel erforderlich).
714 Die Tarifflucht wird also – losgelöst von „Scattolon“ – durch die noch vom übertragenden Rechtsträger abgeschlossenen Arbeitsverträge verhindert. Der aufnehmende Rechtsträger nimmt individualvertraglich vermittelt an der wirtschaftlich ungünstigen Tarifentwicklung teil. Eine tariflich „sanierende“ Übertragung scheitert, soweit die Entscheidung des EuGH in der Rs. „AlemoHerron“ keine abweichende Bewertung erforderlich macht. 715 Eine Änderungskündigung ist auf der Grundlage der aktuellen Rechtsprechung des BAG zumeist kein Ausweg. Denn das BAG misst sie letztlich an den zur Änderungskündigung zur Entgeltsenkung entwickelten Grundsätzen. Zu ihnen BAG, v. 26.6.2008 – 2 AZR 139/07, DB 2008, 2141.
716 Da nach § 2 KSchG die betrieblichen Erfordernisse „dringend“ sein müssen und die Entgeltsenkung einen nachhaltigen Eingriff in das arbeitsvertraglich vereinbarte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung bedeutet, kann die Änderungskündigung zur Entgeltsenkung laut BAG nur dann begründet sein, wenn bei einer Aufrechterhaltung der bisherigen Personalkostenstruktur weitere, betrieblich nicht mehr auffangbare Verluste entstünden, die absehbar zu einer Reduzierung der Belegschaft oder sogar zu einer Schließung des Betriebs führen. Regelmäßig bedürfe es deshalb – so das BAG – eines umfassenden Sanierungsplans, der alle gegenüber der beabsichtigten Änderungskündigung milderen Mittel ausschöpft. Vom Arbeitgeber sei in diesem Zusammenhang zu verlangen, dass er die Finanzlage des Betriebs, den Anteil der Personalkosten, die Auswirkung der erstrebten Kostensenkungen für den Betrieb und für die Arbeitnehmer darstellt und ferner darlegt, warum andere Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Daran scheitern sehr viele Änderungskündigungen. b) Wann wirkt eine Bezugnahmeklausel tariflich sanierungshindernd? 717 Tariflich sanierungshindernd wirkt allerdings nicht jede arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel. Ihrem Inhalt nach lassen sich vielmehr zunächst sog. „kleine“ („zeitlich dynamische“) Bezugnahmeklauseln und „große“ („zeitlichsachlich dynamische“) Bezugnahmeklauseln unterscheiden. Kleine dynamische Bezugnahmeklauseln ordnen die Anwendung eines bestimmten Tarifvertrags in seiner jeweils gültigen Fassung an, während große dynamische Bezugnahmeklauseln die Anwendung der jeweils im Unternehmen geltenden Tarifverträge in ihrer jeweils gültigen Fassung vorsehen. BAG, v. 16.10.2002 – 4 AZR 467/01, ZIP 2003, 495 = NZA 2003, 390, dazu EwiR 2003, 317 (Thüsing).
718 Sanierungshindernd wirken zunächst nur kleine dynamische Bezugnahmeklauseln, indem und soweit sie arbeitsvertraglich eine Bindung an die ungünstige bisherige Tarifentwicklung bewirken. Dies gilt allerdings nur dann,
184
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
wenn sie nicht mit der Folge als sog. Gleichstellungsabrede auszulegen sind, dass die in ihnen angelegte Dynamik mit der Beendigung der normativen Tarifbindung des Arbeitgebers endet. Maßgeblich ist insoweit, welchen Zweck die Arbeitsvertragsparteien mit der Vereinbarung der Bezugnahmeklausel verfolgen, d. h., ob konstitutiv die Anwendung bestimmter Tarifverträge zugesagt (dann dynamische Wirkung) oder lediglich arbeitsvertraglich wiedergespiegelt werden soll, was tarifrechtlich gilt bzw. bei Tarifgebundenheit des Arbeitnehmers gelten würde (dann sog. Gleichstellungsabrede). aa) Vor dem 1.1.2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln Ob es sich um eine Gleichstellungsabrede oder eine konstitutive Zusage der 719 Anwendung eines bestimmten Tarifvertrags handelt, macht das BAG bei formularmäßig vorformulierten Arbeitsverträgen, die vor dem 1.1.2002 geschlossen wurden, davon abhängig, ob der Arbeitgeber bei Abschluss des Arbeitsvertrages tarifgebunden war. Darauf, ob der Arbeitnehmer die Tarifbindung des Arbeitgebers kannte, komme es nicht an. BAG, v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02, ZIP 2003, 1906 = NZA 2003, 1207, dazu EWiR 2003, 1177 (Thüsing).
Dass diese Rechtsprechung mit der RL 2001/23/EG vereinbar ist, hatte der 720 EuGH in der Rs. „Werhof“ bestätigt. EuGH, v. 9.3.2006 – C-499/04, ZIP 2006, 723 = NZA 2006, 376 – Werhof, dazu EWiR 2006, 507 (Laskawy/Lomb).
Um eine konstitutive Zusage der Anwendung eines bestimmten Tarifvertrags 721 handelt es sich nach der Rechtsprechung des BAG demgegenüber u. a., wenn im Arbeitsvertrag auf einen fachfremden Tarifvertrag Bezug genommen wird. BAG, v. 21.10.2009 – 4 AZR 396/08, NZA-RR, 2010, 361; BAG, v. 25.10.2000 – 4 AZR 506/99, NZA 2002, 100.
Wende ein tarifgebundener Arbeitgeber die bei ihm geltenden Tarifverträge 722 unterschiedslos auf tarifgebundene und nicht tarifgebundene Arbeitnehmer an, werde hierdurch indes allenfalls eine statische Bezugnahme begründet. BAG, v. 14.1.2009 – 5 AZR 175/08, NZA 2010, 64; zur Reichweite einer Bezugnahme durch betriebliche Übung BAG, v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98, NZA 1999, 879.
bb) Ab dem 1.1.2002 vereinbarte Bezugnahmeklauseln Für Bezugnahmeklauseln, die nach dem 31.12.2001 in Formulararbeitsverträ- 723 gen vereinbart worden sind, hat das BAG mit Blick auf §§ 305c Abs. 2, 307 Abs. 1, 2 BGB und das Verbot der geltungserhaltenden Reduktion eine – bereits 2005 angekündigte – BAG, v. 14.12.2005 – 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607, dazu EWiR 2006, 389 (Weller).
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
Rechtsprechungsänderung mit Urteil vom 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965; zur vom BAG angenommenen Vereinbarkeit der Rspr. mit der „Werhof“-Entscheidung des EuGH, v. 9.3.2006 (C-499/04, ZIP 2006, 723 = NZA 2006, 376, dazu EWiR 2006, 507 (Laskawy/ Lomb)) vgl. BAG, v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2008, 323,
vollzogen. Individualvertragliche dynamische Bezugnahmen auf die beim übertragenden Rechtsträger geltenden Tarifverträge wirken danach nur dann nicht konstitutiv, wenn der Fortbestand der Tarifbindung des Arbeitgebers für den Arbeitnehmer erkennbar zur auflösenden Bedingung für die Vereinbarung gemacht worden ist. BAG, v. 22.10.2008 – 4 AZR 793/07, NZA 2008, 323; a. A. LAG Düsseldorf, v. 2.4.2009 – 15 Sa 1148/08, aufgehoben durch BAG, v. 17.11.2010 – 4 AZR 407/09.
724 Sie sind also ihrem Wortlaut gemäß zu interpretieren. Dies soll auch dann gelten, wenn die nach dem Stichtag vereinbarte Bezugnahmeklausel inhaltsgleich mit einer vor dem 1.1.2002 im Arbeitsvertrag enthaltenen Klausel ist. BAG, v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965.
725 Mit der „Werhof“-Entscheidung des EuGH vom 9.3.2006 – C-499/04, ZIP 2006, 723 = NZA 2006, 376
hält das BAG diese Rechtsprechung für vereinbar. BAG, v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, ZIP 2010, 748 = NZA 2010, 513, dazu EWiR 2010, 483 (Kock).
cc) Ab dem 1.1.2002 geschlossene Änderungsvereinbarungen 726 Die Grundsätze zu Neuklauseln sind ferner anzuwenden, wenn die Bezugnahmeklausel zwar vor dem 1.1.2002 vereinbart wurde, der Arbeitsvertrag jedoch nach dem Stichtag geändert und die Bezugnahmeklausel hierbei zum Gegenstand der rechtsgeschäftlichen Willensbildung gemacht wurde. BAG, v. 24.2.2010 – 4 AZR 691/08, NZA-RR 2010, 530.
c) Alemo-Herron 727 Im Lichte der Entscheidung des EuGH in der Rs. „Alemo-Herron” EuGH, v. 18.7.2013 – C-426/11, ZIP 2013, 1686
ist aber sehr fraglich geworden, ob die dynamische Fortgeltung kraft arbeitsvertraglicher Inbezugnahme gegen höherrangiges, namentlich gegen vorrangig anzuwendendes EU-Recht verstößt. In dieser Sache hat der EuGH zum englischen Recht entschieden, dass der übernehmende Rechtsträger nach einem Betriebsübergang nicht an Tarifverträge gebunden ist, die aufgrund einer ar-
186
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
beitsvertraglichen Bezugnahme gelten, wenn sie nach dem Betriebsübergang geschlossen wurden und er auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte. Dadurch ist für das deutsche Recht fraglich geworden, ob die Dynamik einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BAG durch einen Betriebsübergang endet. aa) Sachverhalt Der Rs. „Alemo-Herron“ lag zusammenfassend folgender Sachverhalt zu- 728 grunde: Der Lewisham London Borough Council (LLBC), eine öffentliche Einrichtung, übertrug eine seiner Abteilungen durch Betriebsübergang auf einen privaten Betreiber, CCL. In den Arbeitsverträgen, der zunächst bei LLBC/CCL beschäftigten Arbeitnehmer war eine (im Ergebnis: kleine) dynamische Bezugnahmeklausel enthalten. Denn sie verwies auf Tarifverträge, die von einer Tarifkommission ausgehandelt wurden, an der auf Arbeitgeberseite ausschließlich öffentliche Stellen beteiligt sein konnten. CCL veräußerte die Abteilung später – wiederum verbunden mit einem Betriebsübergang – an die Beklagte im Ausgangsverfahren: Parkwood, ein anderes Privatunternehmen. Parkwood war der Ansicht, sie sei nicht an die nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs in der Tarifkommission beschlossenen Tarifverträge gebunden und verweigerte den übergegangenen Arbeitnehmern die vereinbarte Tariflohnerhöhung. In dem nachfolgenden Rechtsstreit legte der Supreme Court of the United Kingdom dem EuGH gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Frage vor, ob Art. 3 RL 2001/23/EG dahin auszulegen sei, dass er es einem Mitgliedsstaat verwehre, vorzusehen, dass im Fall eines Betriebsübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt verhandelte und geschlossene Kollektivverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind. Der EuGH bestätigt dies: Art. 3 RL 2001/23/EG stehe einer derartigen Regelung entgegen, wenn der Erwerber nicht die Möglichkeit habe, an Verhandlungen, über die nach dem Übergang abgeschlossenen Kollektivverträge teilzunehmen. bb) Begründung des Europäischen Gerichtshofs Der EuGH stellt dazu zunächst klar, dass die Auslegung einer Bezugnahme 729 als statisch bereits in der Rs. „Werhof“ als mit Art. 3 RL 77/178/EWG (§ Art. 3 RL 2001/23/EG) vereinbar gekennzeichnet worden war. EuGH, v. 18.7.2013 – C-426/11, ZIP 2013, 1686.
Dann stützt er seine Entscheidung letztlich auf zwei Hauptargumente: Ers- 730 tens den Sinn und Zweck des Art. 3 RL 2001/23/EG, der im Schutz des Arbeitnehmers einerseits, aber auch in einem gerechten Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer und übernehmendem Rechtsträger andererseits bestehe. Insbesondere stelle die Richtlinie klar, dass der Erwerber in der Lage sein müsse, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen.
187
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
731 Das zweite Hauptargument ist, dass nach ständiger Rechtsprechung die Bestimmungen der RL 2001/23/EG im Einklang mit den Grundrechten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) auszulegen sind. Sie sei daher „auf jeden Fall im Einklang mit Art. 16 [GRC] zur unternehmerischen Freiheit auszulegen“. (1) Spielraum für erforderliche Anpassungen 732 Das erste Argument ist also, dass dem übernehmenden Rechtsträger ein Spielraum für erforderliche Anpassungen verbleiben müsse. Welche Anpassungen als „erforderlich“ zu qualifizieren sind, kennzeichnet der EuGH (leider) nicht näher. Denkbar ist, dass er dies mit Blick auf Art. 16 GRC bewusst unterlässt und dass dem übernehmenden Rechtsträger insoweit eine Einschätzungsprärogative zukommt. Vorliegend handelt es sich nach Auffassung des EuGH aber offenbar um einen Evidenzfall. Denn führe man sich vor Augen, dass es sich vorliegend um den Übergang eines Unternehmens vom öffentlichen auf den privaten Sektor handele, sei davon auszugehen, dass die Fortsetzung der Tätigkeit des Erwerbers in Anbetracht der unvermeidlichen Unterschiede, die zwischen diesen beiden Sektoren bei den Arbeitsbedingungen bestehen, beträchtliche Anpassungen erfordere. 733 Eine Klausel, die dynamisch auf nach dem Übergang des betreffenden Unternehmens verhandelte und geschlossene Kollektivverträge verweise, welche die Entwicklung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor regeln sollen, könne jedoch den Handlungsspielraum, den ein privater Erwerber benötigt, um diese Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen, erheblich einschränken. In einer solchen Situation könne eine solche Klausel den gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Erwerbers in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber einerseits und denen der Arbeitnehmer andererseits beeinträchtigen. 734 Auch wenn die letztgenannte Feststellung isoliert betrachtet dahin interpretiert werden könnte, dass mit dem Hinweis auf eine „solche Situation“ eine Einschränkung auf Evidenzfälle beabsichtigt ist, sprechen die besseren Gründe gegen eine derartige Einordnung der Entscheidung. Denn für eine derartige Interpretation finden sich in den übrigen Feststellungen des EuGH keine Anhaltspunkte. Im Gegenteil: Der EuGH stützt seine Entscheidung schließlich bewusst auf ein zweites Argument, Art. 16 GRC, in dessen Rahmen er keine auf Evidenzfälle beschränkte Anwendung andeutet. Es geht dem EuGH – wie auch die Auseinandersetzung mit seinen Feststellungen in der Rs. „Werhof“ deutlich macht – darum, die Frage der dynamischen Inbezugnahme allgemein zu bewerten und damit das in der Rs. „Werhof“ entwickelte Konzept zu vervollständigen und zu ergänzen.
188
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
(2) Negative Vereinigungsfreiheit und Vertragsfreiheit als unternehmerische Freiheit Gerade das zweite Argument dürfte dem BAG die Aufrechterhaltung seiner 735 bisherigen Rechtsprechung erheblich erschweren. Denn das BAG hat – im Lichte von „Werhof“ – den Einwand eines möglichen Verstoßes seiner Rechtsprechung gegen die europarechtlich geschützte negative Koalitionsfreiheit vor allem mit einem konstruktiv-begrifflichen Argument abgewehrt. Ablehnend dazu Lobinger, NZA 2013, 945, 946; Sutschet, RdA 2013, 28, 32 f.
Ein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit könne nur dann in Be- 736 tracht gezogen werden, wenn die auf den Erwerber des Betriebs übergehenden Verpflichtungen im technischen Sinn kollektivvertraglich begründet würden, nicht aber auch, wenn sie – wie bei Bezugnahmeklauseln – im technischen Sinn individualvertraglich begründet worden sind. BAG, v. 23.9.2009 – 4 AZR 331/08, ZIP 2010, 748 = NZA 2010, 513, dazu EWiR 2010, 483 (Kock).
Genau diesen Ausweg, den auch das vorlegende Gericht gesucht hatte, hat 737 der EuGH nun aber explizit abgeschnitten: EuGH, v. 18.7.2013 – C-426/11, ZIP 2013, 1686.
Die Bestimmungen der RL 2001/23/EG seien nach ständiger Rechtsprechung 738 im Einklang mit den Grundrechten auszulegen, wie sie in der GRC anerkannt würden. Dass das Recht auf negative Vereinigungsfreiheit nach Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, spiele daher keine Rolle. Art. 3 RL 2001/23/EG sei „auf jeden Fall im Einklang mit Art. 16 der [GRC] zur unternehmerischen Freiheit auszulegen“. Dieses Grundrecht umfasse insbesondere die Vertragsfreiheit. Mit Blick auf Art. 3 RL 2001/23/EG folge daraus, dass es dem Erwerber möglich sein müsse, „im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens, an dem er beteiligt ist, seine Interessen wirksam geltend zu machen und die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“.
Dem Erwerber, um den es im Ausgangsverfahren gehe, sei es jedoch ver- 739 wehrt, in dem betreffenden Tarifverhandlungsorgan mitzuwirken. Dieser Erwerber habe daher „weder die Möglichkeit, im Rahmen eines zum Vertragsabschluss führenden Verfahrens seine Interessen wirksam geltend zu machen, noch die Möglichkeit, die die Entwicklung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeitnehmer bestimmenden Faktoren mit Blick auf seine künftige wirtschaftliche Tätigkeit auszuhandeln“.
In derselben Situation befindet sich der übernehmende Rechtsträger nach 740 deutschem Recht z. B. bei der dynamischen Inbezugnahme eines vom übertragenden Rechtsträger abgeschlossenen Firmentarifvertrags oder eines – in-
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
folge des mit dem Betriebsübergang verbundenen Branchenwechsels – branchenfremden Tarifvertrags. (3) Folgen für die Rechtsprechung des BAG 741 Unter beiden vom EuGH herangezogenen Aspekten ist es völlig irrelevant, ob die auf einen Betriebserwerber übergehenden tariflichen Arbeitsbedingungen beim übertragenden Rechtsträger normativ oder kraft Bezugnahme gegolten haben. Ebenso Lobinger, NZA 2013, 945, 947.
742 Man wird die Feststellungen des EuGH daher sowohl auf die vertraglich vereinbarte, als auch auf eine normative Fortgeltung anwenden müssen. Zur Anwendbarkeit auf die kollektiv- und individualvertragliche Fortgeltung ebenso Forst, DB 2013, 1847, 1848.
743 Damit wäre – nimmt man den EuGH wörtlich – sowohl eine normative als auch eine individualvertragliche dynamische Fortgeltung ausgeschlossen. In diesem Sinne Lobinger, NZA 2013, 945, 947.
744 Dies würde dann auch für eine „lediglich“ – im Sinne der Rechtsprechung des BAG, BAG, v. 22.4.2009 – 4 AZR 100/08, ZIP 2009, 2461 = DB 2009, 2607, dazu EWiR 2010, 213 (Haußmann) –
„angelegte Dynamik“ gelten, die im Rahmen einer statischen Fortgeltung zur Anwendung kommt. Forst, DB 2013, 1847, 1850.
(a) Aufrechterhaltung durch funktionale Betrachtung? 745 Den Ausweg zur Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsprechung des BAG sucht Forst in einer funktionalen Betrachtung. Forst, DB 2013, 1847, 1849.
Die englische Bezugnahmeklausel sei nicht vergleichbar mit dem in Deutschland unter diesem Begriff diskutierten Rechtsinstitut. Das zeige sich nicht zuletzt daran, dass nach englischem Recht eine solche Bezugnahmeklausel nicht nur durch Custom and Practice, d. h. im Ergebnis kraft Verkehrssitte, vgl. Mückl, Der Vertragsbruch des Dienstleisters, S. 64 f. m. w. N.,
in den Vertrag eingeführt werden könne, sondern schon dann anzunehmen sei, wenn der Vertrag andernfalls nicht durchzuführen wäre. Forst, DB 2013, 1847, 1849.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Gerade bei einer funktionalen Betrachtung überzeugt dieses Argument aller- 746 dings nicht. Denn die vorgenannten Formen der Vertragsergänzung finden sich im deutschen Recht in funktional gleicher Weise entweder im dispositiven Gesetzesrecht (vgl. nur § 612 Abs. 2 BGB), das in England bekanntlich weit weniger umfangreich ausgebildet ist und dort deshalb im ersten Schritt tarifvertragliche Vorgaben sinnvoll erscheinen, die im zweiten Schritt notwendig kraft Bezugnahme Vertragsinhalt werden müssen, oder aber ebenfalls in einer richterlichen Vertragsergänzung. Näher Mückl, Der Vertragsbruch des Dienstleisters, S. 64 ff. m. w. N.
(b) Differenzierungsnotwendigkeit nach Art. 3 RL 2001/23/EG? Für eine unterschiedliche Behandlung englischer und deutscher Bezug- 747 nahmeklauseln soll darüber hinaus Art. 3 RL 2001/23/EG streiten, der zwischen dem im Arbeitsvertrag bzw. Arbeitsverhältnis geltenden Rechten und Pflichten (Abs. 1) und den in einem Kollektivvertrag geregelten Rechten und Pflichten (Abs. 3) unterscheide. Forst, DB 2013, 1847, 1849.
Für die kollektivrechtlichen Rechte und Pflichten sehe Art. 3 Abs. 3 RL 748 2001/23/EG – im Gegensatz zur uneingeschränkten Fortgeltung individualrechtlicher Rechte und Pflichten nach Art. 3 Abs. 1 RL 2001/23/EG – vor, dass diese nur bis zu dessen Kündigung oder Ablauf oder dem Inkrafttreten eines anderen Tarifvertrages fortgelten. Das mag formal und bei einer vornehmlich am Wortlaut orientierten Ausle- 749 gung auf den ersten Blick richtig sein, überzeugt bei teleologischer Betrachtung – wie sie der EuGH zu Recht im Lichte von Art. 16 GRC vornimmt – aber nicht. Denn Sinn und Zweck des Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG ist im Lichte von „Alemo-Herron“, den übernehmenden Rechtsträger nicht dauerhaft an eine letztlich nur von den Tarifvertragsparteien gesteuerte Entwicklung der Rechte und Pflichten zu binden. Ob diese rechtskonstruktiv kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme oder kraft Gesetzes erfolgender Inkorporation in das Arbeitsverhältnis erfolgt (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB), spielt auf Grundlage der vom EuGH entwickelten Argumentation (Art. 16 GRC) keine Rolle. Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG steht dem nicht entgegen. 750 Denn dort heißt es: „Nach dem Übergang erhält der Erwerber die in einem Kollektivvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen bis zur Kündigung oder zum Ablauf des Kollektivvertrags bzw. bis zum Inkrafttreten oder bis zur Anwendung eines anderen Kollektivvertrags in dem gleichen Maße aufrecht, wie sie in dem Kollektivvertrag für den Veräußerer vorgesehen waren“.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
751 Das kann man gerade für die Fälle, in denen nach früherer Rechtsprechung des BAG eine Gleichstellungsabrede angenommen wurde, nämlich die Fälle einer arbeitsvertraglichen Zusage parallel zur Tarifbindung des übertragenden Rechtsträgers, auch dahin lesen, dass der übernehmende Rechtsträger die tariflichen Arbeitsbedingungen lediglich nach Maßgabe von § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB aufrecht erhalten muss – und zwar unabhängig davon, ob sie im Einzelfall im betroffenen Arbeitsverhältnis neben einer normativen Bindung zusätzlich kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme galten. Im gleichen Sinn lässt sich auch § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB ohne Verstoß gegen seinen Wortlaut auslegen. Lobinger, NZA 2013, 945, 947.
(c) Verstoß gegen das „Vorher-Nachher-Prinzip“? 752 Auch das in Erwägungsgrund 3 RL 2001/23/EG niedergelegte „VorherNachher-Prinzip“ dürfte dem – im Lichte von Art. 16 GRC ausgelegt – nicht entgegenstehen. Erwägungsgrund 3 RL 2001/23/EG stellt fest, es seien Bestimmungen notwendig, „die die Arbeitnehmer bei einem Inhaberwechsel schützen und insbesondere die Wahrung ihrer Ansprüche gewährleisten“. Welche Ansprüche in welcher Weise gewährleistet werden, legen aber erst die nachfolgenden Bestimmungen der RL 2001/23/EG fest. Insofern kann Erwägungsgrund 3 RL 2001/23/EG für sich genommen zunächst keine „Ewigkeitsgarantie“ für vertragliche Regelungen entnommen werden. Da die RL 2001/ 23/EG aber nicht nur den Bestands-, sondern auch den Inhaltsschutz ausgestaltet, kann ihrem Erwägungsgrund 3 auch insoweit kein uneingeschränktes Veränderungsverbot entnommen werden. a. A. Forst, DB 2013, 1847, 1849.
(d) Art. 16 GRC als Maßstab 753 Entgegengehalten wird dem, dass eine durch entsprechende Auslegung von Art. 3 Abs. 3 RL 2001/23/EG eröffnete Verschlechterung zur Folge habe, dass sich der Übernahmevertrag zwischen dem übertragenen und dem übernehmenden Rechtsträger zu Lasten der vertraglichen Rechte des Arbeitnehmers auswirke. Forst, DB 2013, 1847, 1849, dort auch zu den nachfolgend wiedergegebenen Argumenten.
754 Diesem stehe aber ebenfalls die Vertragsfreiheit nach Art. 16 GRC zu. Der EuGH müsse, wenn er dem nicht folgen wolle, jedenfalls erklären, warum die Vertragsfreiheit des übernehmenden Rechtsträgers schützenswerter als die des Arbeitnehmers sei. Im englischen Recht sei sie es, weil die „englische“ Bezugnahmeklausel häufig ohne ein Zutun des Arbeitnehmers in den Arbeitsvertrag „hineingelesen“ werde. Je mehr die Rechtsordnung dem Arbeitnehmer helfe, desto eher müsste sie auch dem übernehmenden Rechtsträger helfen dürfen, um für ausgeglichene Verhältnisse zu sorgen. 192
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
Losgelöst davon, dass die letztgenannte Überlegung für die Fälle expliziter 755 Bezugnahmen auch im englischen Recht nicht zutrifft, stellt sie die Eingriffsintensität der RL 2001/23/EG für die betroffenen Parteien auf den Kopf: Die Richtlinie greift dadurch in die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein, dass er einen neuen Vertragspartner aufgedrängt erhält, ohne sich dagegen wehren zu können. Denn ein Widerspruchsrecht gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses steht allein dem Arbeitnehmer zu. Führt man sich vor Augen, dass die Vertragsabschlussfreiheit des Arbeitgebers damit vollkommen ausgeschaltet ist, muss ihm zumindest inhaltlich eine auch seinen Bedürfnissen gerecht werdende Anpassung des Vertrags- bzw. Arbeitsverhältnisses möglich sein. Genau dies scheint der EuGH im Auge gehabt zu haben, wie der Hinweis darauf deutlich macht, dass der Erwerber in der Lage sein müsse, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen. EuGH, v. 18.7.2013 – C-426/11, ZIP 2013, 1686 Rn. 25 i. V. m. Rn. 23.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der Erwerber die Bezug- 756 nahmeklauseln vor dem Betriebsübergang typischerweise im Rahmen einer Due Diligence erkennen könne und damit gerade von seiner Vertragsfreiheit Gebrauch mache, wenn er entsprechend belastende Vertragsklauseln „sehenden Auges“ übernehme. So aber Forst, DB 2013, 1847, 1850; a. A. Sutschet, RdA 2013, 28, 33 f.
Denn dieses Argument ändert nichts an der Einschränkung seiner Vertrags- 757 freiheit im Verhältnis zum übernommenen Arbeitnehmer und gerade um diese geht es. d) Lösungsansätze Um der zu schützenden Vertragsfreiheit des übernehmenden Rechtsträgers 758 im Verhältnis zum Arbeitnehmer gerecht zu werden, erscheinen mehrere Wege denkbar: Will man nicht mit einer in der Literatur aufkommenden Ansicht das Tarifvertragsmodell im Sinne einer kollektiv ausgeübten Privatautonomie dahin neu interpretieren, dass Tarifnormen „gewöhnliche“ schuldrechtliche Vereinbarungen sind, die von Vertretern bzw. Ermächtigten für die Arbeitsvertragsparteien vereinbart werden, sodass für die vorliegenden Fallkonstellationen Lösungen über eine (ggf. analoge) Anwendung der §§ 168 Satz 2, 183 BGB möglich werden, in diesem Sinne Lobinger, NZA 2013, 945, 946 und 947 m. w. N.,
erscheint zunächst einmal die Rückkehr zur bisherigen Rechtsprechung des BAG zur Gleichstellungsabrede als naheliegende Lösung. Denn sie ist – wie der EuGH in der Rs. „Werhof“ EuGH, v. 9.3.2006 – C-499/04, ZIP 2006, 723 = DB 2006, 673, dazu EWiR 2006, 507 (Laskawy/Lomb)
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
bestätigt hat – mit den Vorgaben der RL 2001/23/EG vereinbar. Sie müsste dann allerdings auf die Fälle ausgedehnt werden, in denen das BAG auch vor seinem Rechtsprechungswechsel eine konstitutive Bezugnahme angenommen hatte. Vgl. oben unter Rn. 717 ff.
759 Mit den Grundsätzen der Vertragsauslegung ist sie aber nicht unbedingt vereinbar. Dieser Umstand hatte das BAG ja schließlich erst zu seinem Rechtsprechungswechsel veranlasst. Bereits zuvor hatte das BAG eine korrigierende Auslegung einer kleinen dynamischen Bezugnahmeklausel als Tarifwechselklausel – mit einer vereinzelt gebliebenen Ausnahme –, BAG, v. 4.9.1996 – 4 AZR 135/95, NZA 1997, 271,
nur akzeptiert, wenn ein entsprechender Wille aus dem Vertragswortlaut oder den Begleitumständen hinreichend deutlich wird. BAG, v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, ZIP 2011, 395 = NZA 2011, 356.
760 Die Vertragsauslegung bietet – interpretiert man das Tarifvertragsmodell nicht wie oben skizziert „neu“ – also keinen Ausweg. 761 Im Lichte von „Alemo-Herron“ scheint aber eine unmittelbare oder zumindest analoge Anwendung von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB denkbar. Diskutiert wird eine Analogie in diesem Zusammenhang schon länger, dafür z. B. Henssler, in: Festschrift Schaub, 1998, S. 311, 322 f.; a. A. z. B. Jacobs, BB 2011, 2037, 2040,
die das BAG allerdings bislang unter Hinweis darauf abgelehnt hat, es fehle an einer planwidrigen Regelungslücke. Z. B. BAG, v. 17.11.2010 – 4 AZR 391/09, ZIP 2011, 395 = NZA 2011, 356.
762 Die Geltung der Tarifverträge des übertragenden Rechtsträgers bestimme sich nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB. 763 Ausgangspunkt dieser Feststellung war jedoch die Annahme, eine dauerhafte Bindung des übernehmenden Rechtsträgers an die vorgenannten Tarifverträge sei mit den Vorgaben von Art. 3 RL 2001/23/EG vereinbar. Im Lichte von „Alemo-Herron“ wird man aber eine teleologische oder unechte – und damit planwidrige – Regelungslücke annehmen können, wenn man die oben unter Rn. 662 vorgenommene Auslegung von § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB als lex specialis gegenüber § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB für letztlich kollektivrechtlich begründete Rechte ablehnt. Denn bei einer unechten Regelungslücke fordert die – mithilfe der übrigen Auslegungskriterien, zu denen auch die europarechtskonforme Auslegung zählt – ermittelte ratio legis in Verbindung mit dem Gleichheitssatz die Erstreckung der Rechtsfolgeanordnung der in Rede
194
I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
stehenden Norm auf den zwar dem Wortlaut nach nicht erfassten, ihrem Sinn und Zweck nach aber erforderlichen Fall. Vgl. nur Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 474.
Letztlich würde dann § 613a Abs. 1 Satz 3 BGB (analog) das Günstigkeits- 764 prinzip zugunsten des übernehmenden Rechtsträgers ausschließen und es käme zu einem Gleichlauf von normativer und individualvertraglicher Tarifgeltung. Auch wer diesen Schritt nicht mitgehen möchte, wird dem übernehmenden 765 Rechtsträger – der nach den Feststellungen des EuGH insoweit auch nicht von der Änderungswilligkeit des Arbeitnehmers und damit auf einen Änderungsvertrag verwiesen werden darf – gestatten müssen, die Dynamik durch Änderungskündigung zu beseitigen (Entdynamisierung). I. d. S. bereits vor „Alemo-Herron“ Giesen, NZA 2006, 625, 631 f.; WHSS/Hohenstatt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, Rn. E 216; Jacobs, BB 2011, 2037, 2040.
Auf die Änderungskündigung als Gestaltungsmittel hatte das BAG in diesem 766 Kontext bereits hingewiesen, BAG, v. 18.4.2007 – 4 AZR 652/05, NZA 2007, 965,
obwohl es sie als Mittel zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen „nach unten“ in ständiger Rechtsprechung ablehnt. Vgl. BAG, v. 12.1.2006 – 2 AZR 126/05, ZIP 2006, 1272 = NJW 2006, 3805; BAG, v. 16.5.2002 – 2 AZR 292/01, ZIP 2003, 45 = NZA 2003, 147, dazu EWiR 2003, 177 (Fleddermann).
Führt man sich jedoch vor Augen, dass die Entdynamisierung nicht entgelt- 767 absenkend wirkt, sondern den status quo erhält, indem sie den Vertragsinhalt lediglich von der Veränderung durch die Tarifvertragsparteien befreit und damit letztlich die in § 3 Abs. 3 TVG angeordnete Rechtsfolge auf die vertragliche Tarifgeltung überträgt, ist sie – jedenfalls im Lichte der Feststellungen des EuGH zum Schutz der Vertragsfreiheit des übernehmenden Rechtsträgers in der Rs. „Alemo-Herron“ – in aller Regel sozial gerechtfertigt (§ 2 KSchG). Die strengen Maßstäbe einer Änderungskündigung zur Entgeltsenkung können insoweit – entgegen den Feststellungen des BAG im Urteil vom 12.1.2006 – 2 AZR 126/05, ZIP 2006, 1272
nicht (mehr) zur Anwendung kommen. e) Fazit Die Feststellungen des EuGH in der Rs. „Alemo-Herron“ vervollständigen 768 die in der Rs. „Werhof“ skizzierte Lösung und machen ein Umdenken bei
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
der Interpretation von – häufig sanierungsschädlichen – kleinen dynamischen Bezugnahmeklauseln im Zusammenhang mit Betriebsübergängen nach § 613a BGB erforderlich. Denn die durch Art. 16 GRC geschützte Vertragsfreiheit des übernehmenden Rechtsträgers im Verhältnis zum übernommenen Arbeitnehmer verlangt, dass der übernehmende Rechtsträger die zur Fortführung seines Betriebs notwendigen Maßnahmen vornehmen kann. Zu ihnen gehört nach den Feststellungen des EuGH eine Entdynamisierung, die im deutschen Recht durch eine Übertragung des Regelungsmodells des § 613a Abs. 1 Satz 2 bis 4 BGB bzw. jedenfalls durch eine Änderungskündigung zur Entdynamisierung erreicht werden kann, die regelmäßig sozial gerechtfertigt ist. 4. Keine Beendigung von Rückkehransprüchen durch Betriebsübergang 769 Insbesondere im Zusammenhang mit strategisch motivierten Ausgliederungsvorhaben wird von den Arbeitnehmervertretern nicht selten die Begründung von sog. Rückkehrrechten gefordert. Ziel derartiger Vereinbarungen ist es, den von der Ausgliederung betroffenen Arbeitnehmern einen Wiedereinstellungsanspruch gegen den (derzeitigen) Arbeitgeber als übertragenden (ausgliedernden) Rechtsträger einzuräumen. 770 Dies kann – soweit die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht eingreift – auch durch Betriebsvereinbarung geschehen. Ausf. bereits BAG, v. 14.3.2012 – 7 AZR 147/11, NZA 2012, 1183 = AP Nr. 60 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung m. w. N.
771 Da sich der Anspruch gegen den derzeitigen (nach Durchführung der Ausgliederung: ehemaligen) Arbeitgeber richtet, überschreiten die Betriebsparteien damit insbesondere nicht ihre Regelungskompetenz im Sinne eines unzulässigen Vertrags zu Lasten Dritter, wenn entsprechende Vereinbarungen vor der Ausgliederung zwischen dem ausgliedernden Rechtsträger und dem zuständigen (§§ 50, 58 BetrVG), bei ihm gebildeten Betriebsrat getroffen werden. 772 Die für die Auslegung derartiger kollektivrechtlicher Rückkehrzusagen maßgeblichen Grundsätze hat das BAG in seinem Urteil vom 12.6.2013 – 7 AZR 557/11, n. v.
noch einmal klarstellend zusammengefasst und dabei deutlich gemacht, dass etwaige Einschränkungen des Rückkehrrechts im Wortlaut der anspruchsbegründenden Regelung zum Ausdruck gebracht werden sollten. Dabei spielt grundsätzlich keine Rolle, ob der Anspruch in einem Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung geregelt ist: Zur Auslegung vertraglicher Rückkehrrechte vgl. BAG, v. 20.12.2012 – 2 AZR 867/11, NZA 2013, 1003.
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I. Kennzeichnung und Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs
a) Für Kollektivvereinbarungen maßgebliche Auslegungsgrundsätze Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge sind nach ständiger Rechtsprechung 773 des BAG – wegen ihres normativen Charakters – ebenso wie Gesetze auszulegen. Nach einer vom BAG immer wieder verwendeten Formulierung ist dabei vom Wortlaut der Bestimmung und dem durch ihn vermittelten Wortsinn auszugehen. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sei – so das BAG – der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, sofern und soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen sei ferner auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Regelungen. Im Zweifel gebühre derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führe. BAG, v. 12.6.2013 – 7 AZR 557/11, n. v.
b) Vorgaben für die kollektivrechtliche Formulierung von Rückkehrrechten Bereits diese allgemeinen Vorgaben für die Auslegung von Kollektivverein- 774 barungen machen deutlich, dass dem Wortlaut bei der Auslegung ungeachtet der Tatsache großes Gewicht zukommt, dass Kollektivvereinbarungen gem. § 310 Abs. 4 Satz 2 BGB nicht der AGB-Kontrolle und den Auslegungsgrundsätzen der §§ 305 ff. BGB unterliegen. Soweit – was aus Arbeitgebersicht sinnvoll sein kann – Einschränkungen beabsichtigt sind, sollten diese im Wortlaut der Klausel selbst zum Ausdruck kommen. Das macht die Entscheidung vom 12.6.2013 noch einmal deutlich. Denn mit einer nicht im Wortlaut angelegten Einschränkung ist das BAG dort sehr zurückhaltend. Insbesondere einen stillschweigenden „Konzernvorbehalt“, d. h. eine Gel- 775 tung der Rückkehrklausel nur für den Verbleib des übernehmenden Rechtsträgers bzw. des von der Ausgliederung betroffenen Arbeitsverhältnisses in dem Konzern, dem auch der übertragende Rechtsträger angehört, lehnt das BAG ohne entsprechende Anhaltspunkte im Wortlaut ab und stützt sich dabei auf drei – verallgemeinerbare – Überlegungen: Entscheidend für die Einräumung eines Rückkehrrechts sei weniger die 776 Kompensation von Nachteilen wegen eines Wechsels zu einer ganz bestimmten (konzernzugehörigen) Arbeitgeberin, sondern wegen der Nichtfortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem übertragenden Rechtsträger. Hierfür hätten die Betriebspartner ein Äquivalent in der Form einer Wiedereinstellungszusicherung geschaffen und deren Bedingung – im entschiedenen Fall: folgerichtig – allein an das Fehlen einer Weiterbeschäftigungsmöglichkeit aus betrieblichen Gründen innerhalb der „neuen Gesellschaft“ geknüpft. Gegen den ungeschriebenen Vorbehalt eines Verbleibs der „neuen Gesell- 777 schaft“ in dem Konzern, dem der übertragende Rechtsträger angehöre, spreche darüber hinaus, dass es der übertragende Rechtsträger bzw. das herr-
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
schende Unternehmen (insbesondere in Personalunion) anderenfalls weitgehend in der Hand hätte, allein durch die Veräußerung der Gesellschaftsanteile die Rückkehransprüche der begünstigten Arbeitnehmer kompensationslos zu beseitigen. Deren Rechtspositionen könnten von der Konzernmutter durch einseitige Maßnahmen ersatzlos entwertet werden. 778 Bei einem ungeschriebenen Vorbehalt des Verbleibs der „neuen Gesellschaft“ in dem Konzern, dem der übertragende Rechtsträger angehöre, bliebe schließlich völlig unklar, ob ein solcher Verbleib bereits mit dem Verlust der Mehrheitsanteile und der Beendigung des Konzernverhältnisses oder erst mit der Aufgabe jeglicher Beteiligung an der „neuen Gesellschaft“ endete. Auch dies spreche gegen einen derartigen ungeschriebenen Vorbehalt BAG, v. 12.6.2013 – 7 AZR 557/11, n. v.; vgl. bereits BAG, v. 14.3.2012 – 7 AZR 147/11, NZA 2012, 1183 = AP Nr. 60 zu § 77 BetrVG 1972 Betriebsvereinbarung.
779 Nur in engen Grenzen steuerbar sind die mit zwar beabsichtigten, aber nicht explizit formulierten Beschränkungen verbundenen Risiken durch Ausgestaltung der in entsprechenden Kollektivvereinbarungen häufig ergänzend enthaltenen Regelungen zu den Arbeitsbedingungen im Übrigen. Soll das Rückkehrrecht z. B. in zeitlicher Hinsicht möglichst nur befristet bestehen, kann diese Intention „verdeckt“ allenfalls durch die Befristung der Fortgeltung von sonstigen Arbeitsbedingungen, insbesondere Vergünstigungen, bewirkt werden. Eine unbefristete Fortführung derartiger Arbeitsbedingungen spricht hingegen systematisch deutlich gegen eine Befristung des Rückkehrrechts. Vgl. einerseits BAG, v. 19.10.2005 – 7 AZR 32/05, NZA 2006, 393 und andererseits BAG, v. 12.6.2013 – 7 AZR 557/11, n. v.
780 Sofern dies nicht im Wortlaut zum Ausdruck kommt, darf ebenfalls nicht darauf vertraut werden, dass das Rückkehrrecht durch einen im Nachgang erfolgenden Betriebs(teil)übergang i. S. d. § 613a BGB erlischt. Dies gilt nach den Feststellungen des BAG im Urteil vom 12.6.2013 in den Fällen des Betriebs(teil-)übergangs jedenfalls dann, wenn der Arbeitnehmer von der Möglichkeit, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses nach § 613a Abs. 6 BGB zu widersprechen, keinen Gebrauch macht, sondern mit seinem Einverständnis bei einer Rechtsnachfolgerin der „neuen Gesellschaft“ weiterbeschäftigt wird. Dies basiert auf folgender Überlegung: 781 Das Rückkehrrecht soll dem Umstand Rechnung tragen, dass der betroffene Arbeitnehmer mit dem übertragenden Rechtsträger im Verhältnis zu einem neu gegründeten Unternehmen, das ggf. wirtschaftlich schwächer ist, eine „sichere“ Arbeitgeberin verliert. Der damit von den Betriebsparteien verfolgte Zweck, das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers an einer arbeitsvertraglichen Beschäftigungsmöglichkeit zu sichern, besteht auch, wenn an die Stelle der „neuen Gesellschaft“ nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB ein weiterer neuer Arbeitgeber tritt. Dem entspricht es, dass das Rückkehrrecht nur
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II. Besonderheiten bei der Einbindung von BQG
dann ausgelöst wird, wenn bei dem – letzten – Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung aus betrieblichen Gründen nicht mehr möglich ist. Diese Voraussetzung tritt aber allein durch einen Betriebsteilübergang bzw. Betriebsübergang nicht ein. Geht das Arbeitsverhältnis auf den Erwerber über, bleibt der Arbeitnehmer vor dem Verlust einer Weiterbeschäftigung aus betrieblichen Gründen durch die Rückkehrzusage des übertragenden Rechtsträgers weiter umfassend geschützt. Praxistipp: Die zuletzt ergangenen Entscheidungen des BAG zu Rückkehrrechten aus Betriebsvereinbarungen machen deutlich, welche dramatischen Dimensionen eine zeitlich unbefristete Rückkehrzusage haben kann. Teilweise machen Arbeitnehmer auch über 30 Jahre nach ihrem Ausscheiden aus dem Unternehmen ein Rückkehrrecht geltend. Arbeitgeber tun deshalb gut daran, die Voraussetzungen einer Wiedereinstellungszusage genau zu definieren, um das Risiko einer Inanspruchnahme nach solch langen Zeiträumen auszuschließen. Üblich sind etwa die Vereinbarung zeitlicher Grenzen für die späteste Geltendmachung des Rückkehrrechts und/oder die inhaltliche Beschränkung des Anspruchs, etwa auf das Vorhandensein geeigneter und freier Arbeitsplätze beim früheren Arbeitgeber.
II. Besonderheiten bei der Einbindung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften – Außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch die BQG wegen Wegfall der Finanzierungsgrundlagen Die BQG refinanziert sich typischweise durch das von der Agentur für Ar- 782 beit geleistete Transferkurzarbeitergeld (§§ 216a, 216b SGB III a. F.; §§ 111 SGB III n. F.) sowie die Zuschüsse des Alt-Arbeitgebers hierzu, die insbesondere die sog. Remanenzkosten, d. h. die eigentlich Einnahmen der BQG, umfassen. Gegen das Risiko eines Finanzierungsausfalls sichern sich BQG und Alt-Arbeitgeber typischerweise dadurch ab, dass sie mit den von dem Transfer betroffenen Arbeitnehmern im Rahmen der dreiseitigen Vereinbarung vorsehen, dass die Aufhebung des bisherigen und die Begründung des neuen Arbeitsverhältnisses mit der BQG unter der aufschiebenden Bedingung (§ 158 Abs. 1 BGB) der Gewährung von Transferkurzarbeitergeld steht. Dass dies aus Sicht der BQG zu kurz gedacht sein kann, macht das Urteil des BAG vom 24.1.2013 – 2 AZR 453/11, DB 2013, 1365
deutlich. In dem entschiedenen Fall hatten die Parteien den Transfer des Klägers unter der vorgenannten, aufschiebenden Bedingung vorgesehen. Im Juli 2009 leistete der Alt-Arbeitgeber (A) auf der Grundlage eines zwischen ihm und der beklagten BQG gesondert abgeschlossenen Dienstleistungsvertrags einen Vorschuss in Höhe von 100.000,00 € auf die für das erste Vierteljahr zu erwartenden Aufwendungen. Nach Einleitung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des A teilte der vorläufige Insolvenzverwalter der
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
BQG am 22.10.2009 mit, dass keine weiteren Vorschusszahlungen geleistet würden. Angesichts dessen schloss diese mit 17 der 20 Beschäftigten Aufhebungsverträge. Der Kläger sowie zwei weitere Kollegen lehnten das ab. Mit Schreiben vom 30.10.2009 kündigte die BQG das „bestehende befristete Arbeitsverhältnis“ mit dem Kläger außerordentlich fristlos. Das BAG gab der hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklage – ebenso wie die Vorinstanzen – statt. 1. Qualifikation des Beschäftigungsverhältnisses mit Kurzarbeit „Null“ als Arbeitsverhältnis 783 Dabei stellt das BAG zunächst zu Recht klar, dass das Beschäftigungsverhältnis mit einer BQG als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist – und zwar auch dann, wenn vereinbarungsgemäß Kurzarbeit „Null“ geleistet werde. Das Fehlen einer Arbeitspflicht bei „Transferkurzarbeit Null“ spreche – entgegen einer teilweise (auch instanzgerichtlich) vertretenen Ansicht – nicht gegen das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses. Vgl. Meyer, NZS 2002, 578, 580; i. E. auch Gaul/Otto, NZA 2004, 1301, 1303; a. A. LAG Berlin-Brandenburg, v. 17.1.2007 – 4 Sa 1258/06, juris; Natzel, NZA 2012, 650, 651 f.
784 Denn der Begriff der „Arbeit“ sei weit zu verstehen und umfasse auch eine vertraglich vereinbarte Teilnahme an angebotenen Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Zudem könne die Arbeitspflicht – etwa bei Fortbildungsmaßnahmen oder einer Freistellung – auch im Rahmen von Arbeitsverhältnissen entfallen. Dem ist zuzustimmen. Die Gegenansicht überzeugt schon deshalb nicht, weil die Parteien – worauf das BAG zu Recht hinweist – auf ihrer Grundlage die Voraussetzungen für die Gewährung von Transferkurzarbeitergeld nicht erfüllen können. Sie führt damit letztlich zu einer „Zweckverfehlung“ der dreiseitigen Vereinbarung. Denn gem. § 216b Abs. 4 Nr. 2 SGB III (a. F. = § 111 Abs. 4 Nr. 2 SGB III n. F.) muss ein bestehendes Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden, damit Transferkurzarbeitergeld geleistet werden kann. An Arbeitnehmer in einem gekündigten oder aufgelösten Arbeitsverhältnis kann Transferkurzarbeitergeld nicht gewährt werden Vgl. Gaul/Otto, NZA 2004, 1301, 1307; zu § 111 SGB III Brand/Kühl, SGB III, § 111 Rn. 3; Gagel/Bieback, § 111 SGB III Rn. 1.
785 Die Arbeitnehmer dürfen vor und mit Eintritt in die BQG nicht arbeitslos geworden sein. Die Parteien können die von ihnen verfolgten Ziele daher nur durch die Begründung eines Arbeitsverhältnisses erreichen.
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II. Besonderheiten bei der Einbindung von BQG
2. Nichtvorliegen eines Grundes für eine außerordentliche Kündigung bei Wegfall der Refinanzierung und Insolvenzgefahr Ausgehend von einem befristeten Arbeitsverhältnis zwischen Kläger und 786 BQG stellt das BAG im nächsten Schritt klar, dass für eine Beendigung durch Kündigung keine besonderen Vorgaben zur Anwendung kommen. Ist – wie für die Einbindung einer BQG typisch – im vorliegenden Fall keine ordentliche Kündigungsmöglichkeit vorbehalten, kommt allenfalls eine außerordentliche Kündigung in Betracht. Deren Voraussetzungen nach den zutreffenden Feststellungen des BAG aber nicht vorlagen. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund 787 ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Nach dem ultima-ratio-Grundsatz ist eine außerordentliche Kündigung aus betrieblichen Gründen gegenüber einem ordentlich kündbaren Arbeitnehmer allerdings grundsätzlich unwirksam. Sie setzt vielmehr voraus, dass dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ausnahmsweise unzumutbar ist. Das ist bei einer betriebsbedingten Kündigung regelmäßig nicht der Fall. Dem Arbeitgeber ist es nämlich, wenn eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den Arbeitnehmer aus betrieblichen Gründen entfällt, selbst im Insolvenzfall zuzumuten, die – ggf. nach § 113 InsO maßgebliche – Kündigungsfrist einzuhalten BAG, v. 18.3.2010 – 2 AZR 337/08, NZA-RR 2011, 18; BAG, v. 8.4.2003 – 2 AZR 355/02, NZA 2003, 856.
Ein wichtiger Grund liegt – wie das BAG in Übereinstimmung mit der herr- 788 schenden Meinung feststellt – nämlich insbesondere nicht bereits in einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder der (drohenden) Insolvenz des Arbeitgebers als solcher. Vgl. bereits BAG, v. 25.10.1968 – 2 AZR 23/68, NJW 1969, 525 = EzA BGB § 626 Nr. 10; ErfK/Müller-Glöge, § 113 InsO Rn. 12; KR/Weigand, § 113 InsO Rn. 73.
Denn das wirtschaftliche Risiko trägt grundsätzlich der Arbeitgeber. Das 789 komme – so das BAG – u. a. in § 113 Satz 1, Satz 2 InsO zum Ausdruck. Danach steht – selbst bei Ausschluss der ordentlichen Kündigung – auch dem Insolvenzverwalter bei betrieblichen Gründen nur das Recht zur ordentlichen Kündigung mit einer Frist von bis zu drei Monaten zu. Eine auf betriebliche Gründe gestützte außerordentliche Kündigung kommt 790 daher – unter Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist – allenfalls in Betracht, wenn die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung ausgeschlossen ist und dies dazu führt, dass der Arbeitge201
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
ber den Arbeitnehmer andernfalls trotz Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit noch für erhebliche Zeiträume vergüten müsste, ohne dass dem eine entsprechende Arbeitsleistung gegenüberstünde (sog. sinnentleertes Arbeitsverhältnis), vgl. BAG, v. 18.3.2010 – 2 AZR 337/08, NZA-RR 2011, 18; BAG, v. 10.5.2007 – 2 AZR 626/05, BAGE 122, 264 = ZIP 2008, 334.
791 Diese Grundsätze finden auch auf eine von einer BQG vor dem Hintergrund einer Krise bzw. drohenden Insolvenz ausgesprochene außerordentliche Kündigung uneingeschränkt Anwendung. 792 Insbesondere aus dem dreiseitigen Vertrag ergibt sich – nach den insoweit (im Rahmen der typischen Ausgestaltung eines derartigen Vertrags) verallgemeinerbaren Feststellungen des BAG – nichts anderes. Zwar gingen dessen Parteien davon aus, dass die Agentur für Arbeit Transferkurzarbeitergeld auszahlen und D die Finanzmittel für die Aufstockungszahlungen und die sonstigen Remanenzkosten bereitstellen würde. Zur Absicherung der BQG hätten die Vertragsparteien die Begründung des Arbeitsverhältnisses mit dieser unter die aufschiebende Bedingung gestellt, dass Transferkurzarbeitergeld tatsächlich geleistet wird. Wer nach Eintritt der aufschiebenden Bedingung das Risiko des Ausbleibens sonstiger Refinanzierungsleistungen zu tragen habe, sei hingegen nicht geregelt. Es verbleibe deshalb dabei, dass das wirtschaftliche Risiko vom Arbeitgeber (der BQG) zu tragen ist. Dieser Grundsatz bedarf nach der Bewertung des BAG auch für den vorliegenden Fall aus folgenden Gründen keiner Korrektur: 793 Es sei der BQG unbenommen gewesen, sich gegen das Risiko einer Insolvenz des A – so wie für die ersten drei Monate der Maßnahme durch Vorausleistung geschehen – abzusichern. Der Kläger seinerseits habe das mit A bestehende Arbeitsverhältnis nur deshalb unter „Verzicht auf das Führen von Bestandsstreitigkeiten“ aufgegeben, weil er die Möglichkeit erhalten habe, für eine bestimmte Zeit unter Erhalt seiner Existenzgrundlage an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen, ohne arbeitslos zu sein. 3. Konsequenzen für die betriebliche Praxis und BQG-Betreiber 794 Dass diese Möglichkeit für die BQG tatsächlich im Verhältnis zum Arbeitnehmer besteht, kann in der Praxis in vielen Fällen bezweifelt werden. Dies gilt zunächst deshalb, weil entsprechende Vorauszahlungen im Insolvenzfall anfechtbar sein dürften, soweit kein Bargeschäft i. S. d. § 142 InsO mehr vorliegt. Denn sie dürften andernfalls als inkongruent zu qualifizieren sein, weil klar ist, dass die BQG sie in dieser Form nicht verlangen durfte. Denkbar ist lediglich, relativ kurze Laufzeiten vorzusehen, die den Zeitraum für eine noch als Bargeschäft zu qualifizierende Leistung nicht überschreiten. Zweifelhaft ist in diesen Fällen – losgelöst von einer drohenden Insolvenz – aber, ob die Arbeitnehmer unter diesen Bedingungen von einem Wechsel in die
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
BQG überzeugt werden können. Denn die von ihnen erstrebte und vom BAG zutreffend skizzierte Planungssicherheit ist dann nur für einen sehr überschaubaren Zeitraum gegeben. Hier wird viel von der (nachweislichen) Fähigkeit der BQG abhängen, relativ kurzfristig eine vergleichsweise hohe Vermittlungsquote zu erreichen. Darauf sollte bei dem der Auswahl der BQG typischerweise vorangehenden „Beauty Contest“ besonders geachtet werden. Als weiteres Argument kann – insoweit allerdings nur in insolvenznahen Fällen – die beim Alt-Arbeitgeber geltende, ggf. nach § 113 InsO abgekürzte Kündigungsfrist angeführt werden. Denn wenn die Kündigungsfrist beim Alt-Arbeitgeber ggf. maximal 3 Monate beträgt, mag der – mit höheren Zusatzvorteilen (Qualifizierung und Vermittlung) verbundene – Wechsel in eine BQG attraktiver wirken. III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung (Betriebstilllegung, -spaltung und -verlagerung) 1. Wirtschaftliche Vertretbarkeit eines Sozialplans Während die Vorgaben für die Sozialplandotierung in der Insolvenz durch 795 § 123 InsO relativ streng reguliert sind, sodass den Betriebsparteien insoweit wenig Gestaltungsraum bleibt, sind außerhalb der Insolvenz lediglich die Ermessensgrenzen der Einigungsstelle gesetzlich geregelt (§§ 112, 112a BetrVG). Auch dies bewirkt, dass die Sozialplandotierung außerhalb der Insolvenz einen der Hauptdiskussionspunkte anlässlich einer Betriebsänderung bildet. Die Diskussion wird zumeist zunächst im Vorfeld und dann erneut im Rahmen eines Einigungsstellenverfahrens geführt. Die insoweit maßgeblichen Grundsätze hat das BAG in seinem Beschluss vom 22.1.2013 – 1 ABR 85/11, DB 2013, 1182
konkretisiert. a) Rechtsweg, Antragstellung und Frist Hält der Arbeitgeber den Spruch der Einigungsstelle für ermessensfehlerhaft 796 und daher rechtswidrig, kann er ihn im Beschlussverfahren (§§ 80 ff. ArbGG) gerichtlich überprüfen lassen. Beantragt werden muss dann die Feststellung der Unwirksamkeit des Beschlusses, § 256 Abs. 1 ZPO. BAG, v. 23.3.2010 – 1 ABR 82/08, BAGE 133, 373 Rn. 11 = NZA 2011, 642.
Beispiel: Ein entsprechender Antrag kann wie folgt lauten: „Der Beteiligte zu 1 beantragt, festzustellen, dass der Beschluss der Einigungsstelle über einen Sozialplan vom [DATUM], zugestellt am [DATUM], unwirksam ist“.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
797 Der Einigungsstellenspruch unterliegt der gerichtlichen Überprüfung nach § 76 Abs. 5 Satz 4 BetrVG. Der Arbeitgeber muss danach den Spruch der Einigungsstelle innerhalb von zwei Wochen anfechten und die mangelnde wirtschaftliche Vertretbarkeit rügen. Maßgeblich für den Fristbeginn ist die Zustellung des Spruchs an den Arbeitgeber. BAG, v. 22.1.2013 – 1 ABR 85/11, DB 2013, 1182.
b) Darlegungslast 798 Für die Darlegungslast bedeutet dies, dass der Anfechtende die Überschreitung einer der nachfolgend erläuterten Ermessensgrenzen dartun muss. Ficht der Arbeitgeber den Sozialplan wegen mangelnder wirtschaftlicher Vertretbarkeit an, hat er daher entweder darzulegen, dass dessen Regelungen zu einer Überkompensation der eingetretenen Nachteile führen und deshalb schon die Obergrenze des § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verletzen, oder dass sie die Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit für das Unternehmen überschreiten. 799 Sollte dies mit Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse allein des Arbeitgebers zu bejahen sein, liegt darin allerdings nur dann ein Ermessensfehler der Einigungsstelle, wenn nicht – was lediglich im Ausnahmefall in Betracht kommt – ein Bemessungsdurchgriff auf Konzernobergesellschaften rechtlich geboten ist. BAG, v. 24.8.2004 – 1 ABR 23/03, BAGE 111, 335 = ZIP 2005, 543, dazu EWiR 2005, 687 (Moll/Schöllmann).
800 Insoweit trägt allerdings der den Berechnungsdurchgriff befürwortende Betriebsrat die Darlegungslast. BAG, v. 24.8.2004 – 1 ABR 23/03, BAGE 111, 335 = ZIP 2005, 543.
c) Gerichtlicher Kontrollmaßstab 801 Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle nach § 76 Abs. 5 Satz 4, § 112 Abs. 5 BetrVG ist, ob sich der Spruch der Einigungsstelle als angemessener Ausgleich der Belange des Betriebs und Unternehmens auf der einen und der betroffenen Arbeitnehmer auf der anderen Seite erweist. Maßgeblich ist dabei allein die getroffene Regelung als solche. Eine Überschreitung der Grenzen des Ermessens muss daher nach ständiger Rechtsprechung des BAG in ihr selbst als Ergebnis des Abwägungsvorgangs liegen. Auf die von der Einigungsstelle angestellten Erwägungen kommt es nach Auffassung des BAG hingegen nicht an. Die Frage, ob die der Einigungsstelle gezogenen Grenzen des Ermessens eingehalten sind, unterliegt der uneingeschränkten Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Insoweit gilt nichts anderes als für die gerichtliche Kontrolle von Betriebsvereinbarungen. BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433; BAG, v. 22.1.2013 – 1 ABR 85/11, DB 2013, 1182.
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
d) Gestaltungsspielraum der Einigungsstelle Die Einigungsstelle hat nach § 112 Abs. 5 Satz 1 BetrVG bei ihrer Entschei- 802 dung über einen Sozialplan sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen als auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung für das Unternehmen zu achten. Im Rahmen billigen Ermessens muss sie unter Berücksichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalls Leistungen zum Ausgleich oder der Milderung wirtschaftlicher Nachteile vorsehen, dabei die Aussichten der betroffenen Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen und bei der Bemessung des Gesamtbetrags der Sozialplanleistungen darauf achten, dass der Fortbestand des Unternehmens oder die nach der Durchführung der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze nicht gefährdet werden (§ 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 bis Nr. 3 BetrVG). Im ersten Schritt ist daher der Ausgleichs- und Milderungsbedarf der Arbeit- 803 nehmer zu bestimmen. Er bemisst sich nach den ihnen entstehenden Nachteilen. Die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung stellt für die Einigungs- 804 stelle eine Grenze der Ermessensausübung dar. BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433.
Sie ist der zweite Prüfschritt, den die Einigungsstelle zu unternehmen hat. 805 Der wirtschaftlichen Vertretbarkeit komme – so das BAG – eine Korrekturfunktion zu: Die Einigungsstelle habe von dem von ihr vorgesehenen Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile abzusehen, wenn dieser den Fortbestand des Unternehmens gefährden würde. Sei der für angemessen erachtete Ausgleich von Nachteilen der Arbeitnehmer für das Unternehmen wirtschaftlich nicht vertretbar, sei das Sozialplanvolumen bis zum Erreichen der Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit zu mindern. Die gebotene Rücksichtnahme auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Un- 806 ternehmens könne die Einigungsstelle sogar zum Unterschreiten der aus § 112 Abs. 1 Satz 2 BetrVG folgenden Untergrenze des Sozialplans zwingen. Erweise sich nämlich auch eine noch substanzielle Milderung der mit der Betriebsänderung verbundenen Nachteile als für das Unternehmen wirtschaftlich unvertretbar, sei es nach § 112 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 BetrVG zulässig und geboten, von einer solchen Milderung abzusehen BAG, v. 24.8.2004 – 1 ABR 23/03, BAGE 111, 335 = ZIP 2005, 543; BAG, v. 22.1.2013 – 1 ABR 85/11, DB 2013, 1182. Praxistipp: Das müssen in der Krise befindliche Unternehmen und ihre Berater im Rahmen von Einigungsstellenverfahren im Blick halten und – auch gegenüber dem Vorsitzenden – unterstreichen.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
e) Grundsätzlich keine Besonderheiten infolge bloßer Konzernbindung 807 Entgegen einer in der Praxis nicht selten bemühten Argumentation, richtet sich die wirtschaftliche Vertretbarkeit i. S. d. § 112 Abs. 5 Satz 1 BetrVG grundsätzlich auch dann nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des sozialplanpflichtigen Arbeitgebers, wenn das Unternehmen einem Konzern angehört. Dies stellt das BAG nun noch einmal explizit unter Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut von § 112 Abs. 5 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 BetrVG klar. Nur in Bezug auf Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten sei nach § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG eine konzernbezogene Betrachtung vorzunehmen. Auch die Gesetzesmaterialien wiesen nicht darauf hin, dass anstelle des Unternehmens auf die wirtschaftliche Lage des Konzerns abzustellen ist. Vgl. dazu bereits BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433.
808 Ein solcher Fall ist zunächst § 134 Abs. 1 UmwG, den das BAG mit der schon bislang herrschenden Meinung nicht nur auf die Haftung für schon entstandene Ansprüche, sondern analog auch für die Bemessung von Sozialplanansprüchen heranzieht. BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433.
809 Ein Bemessungsdurchgriff kann sich auch aus anderen Gründen ergeben. In Erwägung gezogen hatte ihn das BAG bereits in seinem Beschluss vom 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433,
auch analog § 302 AktG (Verlustübernahme bei Beherrschungs- oder Gewinnabführungvertrag). 810 Ausführlich hat sich das BAG ebenfalls bereits in der vorgenannten Entscheidung mit den Grundsätzen der Existenzvernichtungshaftung im Konzern befasst. Nach der Rechtsprechung des BGH haftet ein Gesellschafter der Gesellschaft gem. § 826 BGB, wenn er missbräuchlich das Gesellschaftsvermögen schädigt. BGH, v. 16.7.2007 – II ZR 3/04, ZIP 2007, 1552 = NJW 2007, 2689 – „Trihotel“, dazu EWiR 2007, 557 (Wilhelm).
811 Eine bloße Unterkapitalisierung genügt allerdings nicht. BGH, v. 28.4.2008 – II ZR 264/06, ZIP 2008, 1232 = NJW 2008, 2437, dazu EWiR 2008, 493 (Bruns).
812 Wenn ein solcher Schadensersatzanspruch besteht, spricht nach Auffassung des BAG viel dafür, dass er zum Vermögen der Gesellschaft gehört und bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Vertretbarkeit zu berücksichtigen ist. BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433, dazu EWiR 2011, 621 (Mehrens).
206
III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung Praxistipp: Bei Umstrukturierungen ist also die fünfjährige Nachhaftung gem. § 134 Abs. 1 UmwG ebenso im Auge zu behalten wie andere Fälle des Bemessungsdurchgriffs (ausführlich zum Bemessungsdurchgriff Ahrendt, RdA 2012, 340 ff.)
f) Kriterien für die Bestimmung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit eines Sozialplans Da § 112 Abs. 5 BetrVG nicht die Voraussetzungen der wirtschaftlichen 813 Vertretbarkeit eines Sozialplans bestimmt, sondern nur (aber immerhin) Ermessensgrenzen für die Einigungsstelle festlegt, ist die betriebliche Praxis an die vom BAG vorgenommene Konkretisierung der Kriterien für die wirtschaftliche Zumutbarkeit eines Sozialplans gebunden. Maßgeblich sind nach ständiger Rechtsprechung die Gegebenheiten des Einzelfalls: Vgl. zur Sozialplandotierung durch die Einigungsstelle ausführlich Scholz, BB 2006, 1498 ff.
Dabei ist grundsätzlich von Bedeutung, ob und welche Einsparungen für das 814 Unternehmen mit der Betriebsänderung verbunden sind, deren nachteilige Auswirkungen auf die Arbeitnehmer der Sozialplan kompensieren soll. Der Umstand, dass sich ein Unternehmen bereits in wirtschaftlichen Schwierigkeiten befindet, entbindet es nach den Wertungen des Betriebsverfassungsgesetzes nicht von der Notwendigkeit, weitere Belastungen durch einen Sozialplan auf sich zu nehmen. Sogar in der Insolvenz sind Betriebsänderungen gem. § 123 InsO sozialplanpflichtig. Bei der Prüfung, wie sehr der Sozialplan das Unternehmen belastet und ob er 815 möglicherweise dessen Fortbestand gefährdet, ist sowohl das Verhältnis von Aktiva und Passiva als auch die Liquiditätslage zu berücksichtigen. Führt die Erfüllung der Sozialplanverbindlichkeiten zu einer Illiquidität, zur bilanziellen Überschuldung oder zu einer nicht mehr vertretbaren Schmälerung des Eigenkapitals, ist die Grenze der wirtschaftlichen Vertretbarkeit regelmäßig überschritten BAG, v. 15.3.2011 – 1 ABR 97/09, BAGE 137, 203 = ZIP 2011, 1433; BAG, v. 6.5.2003 – 1 ABR 11/02, BAGE 106, 95 = ZIP 2003, 2266, dazu EWiR 2004, 99 (v. Hoyningen-Huene).
Dies gelte – so das BAG in seinem Beschluss vom 22.1.2013 – auch dann, 816 wenn ein Unternehmen seinen einzigen Betrieb stilllegt. Denn wie § 112 Abs. 5 Satz 2 Nr. 2 BetrVG zeige, unterscheide das Gesetz ausdrücklich zwischen dem Unternehmen und dem Betrieb. Bei einer vollständigen Betriebsstilllegung bestehe das Unternehmen – als Rechtsträger des Betriebs – grundsätzlich fort. Allerdings dürfe in diesem Fall nicht außer Acht bleiben, dass nach Durchführung der Betriebsänderung keine Arbeitsplätze mehr vorhanden sind, die durch den Gesamtbetrag der Sozialplanleistungen gefährdet werden könnten. 207
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
2. Sozialplangestaltung – Diskriminierung wegen des Alters und/oder einer Behinderung bei Abfindungen a) Ausgangssituation 817 Altersgrenzen spielen in Sozialplänen häufig aus Unternehmenssicht eine bedeutende Rolle als Begrenzungskriterium für den Umfang der wirtschaftlichen Inanspruchnahme des Arbeitgebers. Typischerweise enthalten Sozialpläne dementsprechend Regelungen, nach denen Arbeitnehmer, die infolge der Betriebsänderung ausscheiden, aber einen Anspruch auf Altersrente – gleich welcher Art (auch infolge einer Schwerbehinderung) – haben, keine Abfindung erhalten. Bisweilen erfolgt dieser Ausschluss schon dann, wenn die Möglichkeit besteht, vorzeitig Altersrente in Anspruch zu nehmen. 818 Altersgrenzen fungieren in einem Sozialplan ferner insoweit als Begrenzungskriterium für die Inanspruchnahme des Arbeitgebers, als an sie häufig Kappungsgrenzen anknüpfen. Bei dieser Gestaltung wird der Anspruch auf eine Sozialplanabfindung nicht nur durch einen Höchstbetrag („Deckel“) begrenzt, sondern die Sozialplanabfindung für „rentennahe“ zusätzlich dadurch „gedeckelt“, dass die Abfindung jedenfalls den Betrag nicht übersteigt, den der Arbeitnehmer bei einer Fortdauer des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen der – ggf. vorzeitigen – Altersrente (gleich welcher Art) als Bruttogehalt erhalten hätte. Manchmal erfolgt auch darüber hinaus eine Kürzung dadurch, dass als Kappungsgrenze nur ein bestimmter Prozentsatz des Bruttogehalts vereinbart wird. 819 Ob und inwieweit diese Mechanismen weiter genutzt werden können, muss unter Berücksichtigung der Feststellungen des EuGH im Urteil vom 6.12.2012 – C-152/11, NZA 2012, 1435 – Odar
entschieden werden. Wichtig ist, dass entsprechende Regelungen so gestaltet werden müssen, dass sie nicht als Diskriminierung wegen des Alters und/oder der Behinderung qualifiziert werden können. Wegen des Vorranges des Europarechts ist hierfür die Richtlinie 2000/78/EG maßgeblich. Keine Rolle spielt, dass § 10 Satz 3 Nr. § AGG vergleichbare Regelungen grundsätzlich erlaubt. Der insoweit verbleibende Gestaltungsspielraum wird nachfolgend unter Berücksichtigung der Vorgaben des EuGH und der auf sie Bezug nehmenden Klarstellungen des BAG, BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792; BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921 sowie BAG, v. 23.4.2013 – 1 AZR 916/11, NZA 2013, 2619,
nachgezeichnet. b) Ungleichbehandlung wegen des Alters und/oder einer Behinderung 820 Ein Anspruch auf gesetzliche Altersrente besteht nach §§ 36, 77, 236 SGB VI nur für Arbeitnehmer eines bestimmten Alters, sodass eine Klausel, die hier-
208
III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
an anknüpfend einen Ausschluss von Sozialplanansprüchen vorsieht, betroffene Arbeitnehmer prima facie wegen ihres Alters benachteiligt. EuGH, v. 12.10.2010 – C-499/08, NZA 2010, 1341 – Andersen.
Gleiches gilt für Klauseln, die in derartigen Fällen eine Kürzung der Sozial- 821 planabfindung regeln, indem sie den Abfindungsanspruch entweder summenmäßig deckeln oder dadurch eine Kappung vorsehen, dass nur die Zeit bis zum Erreichen der für die vorzeitige Inanspruchnahme maßgeblichen Altersgrenze berücksichtigt wird. Unter beiden Gesichtspunkten liegt ergänzend eine Ungleichbehandlung 822 wegen einer Schwerbehinderung vor, wenn auch der Umstand, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer nach §§ 37, 236a SGB VI mit Vollendung des 60. bzw. 62. Lebensjahres vorzeitig Altersrente in Anspruch nehmen können, zum Anspruchsausschluss oder einer Kürzung führt. Selbst wenn das nicht ausdrücklich geschieht, sondern eine Klausel gewählt wird, die einen Anspruchsausschluss bzw. eine Kürzung bei Altersrente gleich welcher Art vorsieht, werden schwerbehinderte Arbeitnehmer damit in jüngeren Jahren ausgeschlossen bzw. sind schneller von einer Kürzung betroffen. Denn auch dann, wenn nicht ausdrücklich an die Schwerbehinderung angeknüpft, liegt immerhin eine mittelbare Benachteiligung vor, weil die dem Anschein nach neutrale Klausel sich nur in Bezug auf Schwerbehinderte auswirkt. Ob dabei ein Ausgleich für das dauerhafte Absenken des Zugangsfaktors (§ 77 Abs. 2 SGB VI) gezahlt wird, ist insoweit irrelevant. c) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Da entsprechende Klauseln also unter zwei Gesichtspunkten auf den ersten 823 Blick diskriminierend wirken, sind sie nur zulässig, wenn die Diskriminierung gerechtfertigt ist. Weil für die Neubestimmung des insoweit bislang bestehende Gestaltungsspielraum die Vorgaben maßgeblich sind, die der EuGH in seinem Urteil vom 6.12.2012 – C-152/11, NZA 2012, 1435 – Odar
entwickelt hat, wird man in der Praxis zunächst konkretisieren müssen, ob und ggf. in welchem Umfang ausgehend von diesen Vorgaben tatsächlich eine Benachteiligung der betroffenen Arbeitnehmer vorliegt. aa) Notwendigkeit einer Rechtfertigung? In den allgemeinen Schranken der Verhältnismäßigkeit denkbar ist nämlich 824 insbesondere, dass die in Rede stehenden Sozialplangestaltungen dann zulässig sind, wenn kein vollständiger Ausschluss der Sozialplanansprüche erfolgt. Vor den Entscheidungen von EuGH und BAG hatten sich mit diesen Fragen 825 zuletzt das LAG Düsseldorf und das LAG Rheinland-Pfalz befasst.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung LAG Düsseldorf, v. 10.11.2011 – 11 Sa 764/11, n. v.; LAG Düsseldorf, v. 14.6.2011 – 16 Sa 1712/10, n. v.; LAG Rheinland-Pfalz, v. 10.3.2011 – 10 Sa 547/10, n. v.
826 Obwohl die Kürzungsregelung in den dortigen Fällen zu einer um mehr als 95 % geringeren als Abfindung für rentennahe Jahrgänge führen konnte, hielten die Landesarbeitsgerichte die entsprechenden Kürzungsregelungen für zulässig. Denn die betrieblichen Sozialpartner dürften bei der Ausfüllung ihres Gestaltungsspielraumes die Möglichkeit rentennaher Jahrgänge berücksichtigen, zeitnah nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Bezug der gesetzlichen Altersrente eine wirtschaftliche Ausgleichsleistung zu erhalten. Dies unterscheide sie von den übrigen Arbeitnehmern, denen bei betriebsbedingter Kündigung keine entsprechende Absicherung zur Verfügung stand. Die vom EuGH in der Entscheidung vom 12.10.2010 – C-499/08, NZA 2010, 1341 – Andersen
entwickelten Grundsätze könnten insoweit nicht übertragen werden. Denn bei einem Sozialplan gehe es, anders als bei den gesetzlichen Leistungen dort, um die Verteilung eines begrenzten Volumens, das insgesamt die Nachteile aller von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer ausgleichen oder mildern solle. 827 Dies entsprach nicht nur § 10 Satz 3 Nr. 6 (letzte Fallgruppe) AGG. Auch das BAG hat bereits in seinem Urteil vom 11.11.2008 – 1 AZR 475/07, ZIP 2009, 336 = NZA 2009, 210, dazu EWiR 2009, 429 (Klasen)
damit übereinstimmend die Kürzung einer Sozialplanabfindung dann für zulässig gehalten, wenn nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses und einem zwischenzeitlichen Bezug von Arbeitslosengeld I Anspruch auf vorzeitige Altersrente besteht. Abschließend positioniert hatte sich das BAG damit aber noch nicht zwingend. Denn in dem vom BAG entschiedenen Fall fiel die Kürzung erheblich geringer aus als in den von den Landesarbeitsgerichten entschiedenen Fällen. Sie gestaltete sich im Wesentlichen wie folgt: 828 Zunächst einmal war in dem der BAG-Entscheidung zugrunde liegenden Sozialplan die Kürzung für rentennahe Jahrgänge auf 50 % der ohne Kürzungsregelung zu zahlenden Abfindung begrenzt. Darüber hinaus entfiel die Kürzung unter bestimmten Umständen. Dies war zwar (nur) dann der Fall, wenn unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Altersrente – ggf. auch Altersrente wegen Schwerbehinderung – bezogen werden konnte. In jedem Fall erhielten die Arbeitnehmer aber pauschale Ausgleichsleistungen für den Abschlag beim Zugangsfaktor der Rente, d. h. für die Rentenminderung, die aus der vorzeitigen Inanspruchnahme folgte. 829 Nach Auffassung des BAG war diese Gestaltung zulässig, weil insoweit ein zulässiges Differenzierungskriterium bestand. Schließlich wurde danach differenziert, dass für die rentennahen Arbeitnehmer die wirtschaftlichen Nach-
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
teile, die infolge des durch die Betriebsänderung bedingten Arbeitsplatzverlustes eintreten, deutlich kleiner sind als bei den nicht rentennahen Arbeitnehmern. Dies gelte – so das BAG – selbst dann, wenn sich ein Arbeitnehmer entschließe, anstelle der Altersrente zunächst einmal Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen. Irrelevant sei, dass insoweit auf Leistungen der Sozialversicherung abgestellt werde. Zwar hänge die Höhe einer gesetzlichen Altersrente und damit das Maß der mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Absicherung von den individuell unterschiedlichen Versicherungsverläufen der einzelnen Arbeitnehmer ab. Eine Typisierung und Pauschalierung durch Arbeitgeber und Betriebsrat sei im Rahmen der Sozialplangestaltung losgelöst davon aber zulässig und häufig unvermeidlich. Jedenfalls typisierend handele es sich daher bei der Annahme, rentenberechtigte Arbeitnehmer seien im Regelfall wirtschaftlich stärker abgesichert als rentenferne Arbeitnehmer, nicht um eine realitätsferne Betrachtung, sondern um eine den Betriebsparteien im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums zustehende Einschätzung. Jedenfalls liege damit zudem ein sachlicher Grund vor, welcher der Annahme einer Diskriminierung wegen des Alters oder der Behinderung entgegen stehe. Davon ausgehend wären Kürzungs- und Ausschlusstatbestände in einem So- 830 zialplan auch unter Berücksichtigung des Umstandes zulässig, dass sie bei schwerbehinderten Arbeitnehmern deutlich früher zu einer Kürzung bzw. einem Wegfall des Abfindungsanspruches führen. Eine unzulässige Diskriminierung läge jedenfalls nicht vor. bb) Veränderte Vorgaben durch die Rechtsprechung des EuGH Nach der Entscheidung des EuGH vom 6.12.2012
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– C-152/11, NZA 2012, 1435 – Odar,
steht aber – jedenfalls hinsichtlich einer Diskriminierung wegen einer Behinderung – fest, dass das BAG an dieser Rechtsprechung nicht festhalten kann. Eine (denkbaren) Diskriminierung wegen des Alters kann – im Rahmen der nachfolgend beschriebenen Gestaltungsmöglichkeiten – anders zu beurteilen sein. Der EuGH hat hierfür in der Rechtssache „Odar“ die Weichen gestellt. (1) Gestaltungsspielraum ohne Vorliegen einer Behinderung In Bezug auf die Benachteiligung älterer Arbeitnehmer – aber ebenfalls be- 832 deutsam für die grundsätzliche Qualifikation von Sozialplanleistungen, die häufig als „Belohnung“ für geleistete Dienste missverstanden werden – stellt der EuGH insoweit zunächst klar, dass eine Sozialplanabfindung eine „Überbrückungsfunktion“ hat. Dann bestätigt er die in der deutschen Praxis im Nachgang zu seiner Entscheidung in der Sache „Andersen“ EuGH, v. 12.10.2010 – C-499/08, NZA 2010, 1341
entwickelte Überlegung, dass die Sozialplanabfindung unter Berücksichtigung des Umstands, dass nach deutschem Recht im Rahmen der Sozialplan211
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
gestaltung eine gerechte Verteilung begrenzter Mittel erfolgen muss, jüngere Arbeitnehmer schützen und eine Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung schaffen soll. Derartige Ziele seien mit Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2000/78/EG vereinbar. Hinzu komme, dass die betrieblichen Sozialpartner bei der Festlegung der für diese Ziele geeigneten Maßnahmen einen weiten Ermessensspielraum hätten, weil sie hierdurch ihr Grundrecht auf Kollektivverhandlungen ausübten. Daher sei es (weiterhin) zulässig, an Arbeitnehmer, die nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Altersrente beziehen, eine geringere Sozialplanabfindung zu zahlen. Dies gelte sogar dann, wenn auf den Zeitpunkt der vorzeitigen Altersrente mit Abschlägen abgestellt werde. 833 Zulässig ist nach den Feststellungen des EuGH auch, dass – wie im entschiedenen Fall geschehen – zunächst ein mit zunehmendem Alter aufsteigender Faktor gewählt wird, der nach Überschreiten des 59. Lebensjahres schrittweise auf (einen geringfügig kleineren Faktor (0,05) als) den Ausgangsfaktor (Minimalwert) absinkt (im entschiedenen Fall 0,3 bei einem Maximalwert von 1,7). Entscheidend für die Zulässigkeit dieser Gestaltung war für den EuGH, dass der Kläger als rentennaher Arbeitnehmer nicht vollständig von Ausgleichsleistungen des Sozialplans ausgeschlossen war. Denn der Sozialplan sah ausdrücklich vor, dass auch die Arbeitnehmergruppe, welcher der Kläger angehörte, mindestens die Hälfte der sich nach der für „gewöhnliche“ Arbeitnehmer geltenden Formel („Standardformel“ genannt) ergebenden Sozialplanabfindung erhalten sollte. Dies war auch dann vorgesehen, wenn nach der für den Kläger geltenden „Sonderformel“, die die Standardformel für rentennahe Jahrgänge abwandelte, an sich gar keine Abfindung zu zahlen war. Praxistipp: Für die betriebliche Praxis und insbesondere die Sanierungspraxis folgt daraus, dass ein vollständiger Ausschluss nicht zulässig ist. Zur erforderlichen Mindestabfindung äußert sich der EuGH leider nicht. Jedenfalls eine 50 %-ige (Mindest-)Abfindung dürfte zulässig sein, da der EuGH sie im entschiedenen Fall nicht beanstandet hat. Nicht ausgeschlossen ist damit aber, dass auch geringere Mindestabfindungen zulässig sind, weil man die Entscheidung nicht in diese Richtung interpretieren kann. Davon geht – wie unten näher dargestellt wird – auch das BAG in seiner aktuellen Rechtsprechung richtigerweise aus.
(2) Gestaltungsspielraum bei Vorliegen einer Behinderung 834 Umgekehrt ist nach Auffassung des EuGH im Urteil vom 6.12.2012 – C-152/11, NZA 2012, 1435 – Odar
der Umstand, dass Schwerbehinderte bis zu drei Jahre vor den anderen Arbeitnehmern Altersrente in Anspruch nehmen können, nicht geeignet, ihre Benachteiligung durch Ausschluss oder Kürzung ihrer Sozialplanleistungen zu rechtfertigen. Dies begründet der EuGH damit, dass mit den Regelungen des Sozialplans die praktische Wirksamkeit nationaler Vorschriften beeinträchtigt werde, die schwerbehinderten Arbeitnehmern durch §§ 37, 236a SGB VI
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
an sich Vorteile verschaffen sollten, um Schwierigkeiten und besondere Risiken schwerbehinderter Arbeitnehmer auszugleichen bzw. zu mildern. Dass das besondere Risiko einer fehlenden Anschlussbeschäftigung und die spezifischen Bedürfnisse schwerbehinderter Arbeitnehmer mit dem Alter zunehmen, bliebe bei einer Kürzung von Sozialplanabfindung, die an die Altersrente geknüpft sei, unberücksichtigt. Dass eine Abfindung bei gleicher Dauer der Betriebszugehörigkeit und gleichem Lebensalter bei dem Schwerbehinderten zu einer Kürzung führe, stelle daher eine übermäßige Beeinträchtigung der legitimen Interessen schwerbehinderter Arbeitnehmer dar und gehe über das hinaus, was zur Erreichung der vom deutschen Gesetzgeber verfolgten sozialpolitischen Ziele erforderlich sei. Die Kürzung des Sozialplanabfindungsanspruchs dürfte vor diesem Hinter- 835 grund dann als unzulässige Benachteiligung wegen einer Behinderung zu qualifizieren sein, wenn sie dazu führt, dass Arbeitnehmer gleichen Lebensalters wegen der unterschiedlichen Zeitpunkte der möglichen Inanspruchnahme einer gesetzlichen Altersrente verschieden behandelt werden und die benachteiligte Gruppe sich allein aus schwerbehinderten Arbeitnehmer zusammensetzt. Unter diesem Gesichtspunkt wird das BAG seine bisherige Rechtsprechung (vgl. Rn. 829 f.) daher nicht aufrecht erhalten können. (3) Fernwirkungen für einen Anspruchsausschluss bei Möglichkeit des Altersrentenbezugs? Ausgehend von der Begründung des EuGH, ein Ausschluss bzw. eine Kür- 836 zung beeinträchtige die praktische Wirksamkeit nationaler Vorschriften, die schwerbehinderten Arbeitnehmern durch §§ 37, 236a SGB VI an sich Vorteile verschaffen sollten, könnten auch Regelungen, die einen Ausschluss oder eine Kürzung an die bloße Möglichkeit eines Altersrentenbezugs anknüpfen, d. h. auch dann anwendbar sind, wenn die Altersrente tatsächlich nicht in Anspruch genommen wird, jedenfalls dann unwirksam sein, wenn die ohne entsprechende Klausel zu zahlende Abfindung deutlich höher ist als die gesetzliche Altersrente, die in dem der Kürzung zugrunde liegenden Zeitraum bezogen wird. Das hatte der EuGH zwar im Urteil vom 12.10.2010 – C-499/08, NZA 2010, 1341 – Andersen
nicht angenommen und für die Zulässigkeit einer Kürzung spricht, dass der betroffene Arbeitnehmer unmittelbar im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wirtschaftlich abgesichert ist was – über entsprechende Beitragsanteile – auch durch den Arbeitgeber finanziert worden ist. Die bestehende wirtschaftliche Absicherung hat der EuGH in der Rs. Odar 837 insoweit aber gerade nicht für maßgeblich gehalten. Deshalb kann die Annahme einer unzulässigen Diskriminierung – ausgehend von der Begründung des EuGH – nicht ausgeschlossen werden, weil – jedenfalls bei erheblich höherer Abfindung – auch insoweit eine nicht unerhebliche Benachteiligung wegen der Behinderung vorliegt. 213
D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
d) Adaption durch das Bundesarbeitsgericht 838 Das BAG hat dies noch nicht geklärt, die Rechtsprechung des EuGH aber in seinen Urteilen vom 26.3.2013 und 23.4.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792 und – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921
umgesetzt. Für die Praxis wichtig ist, dass es dabei noch erhebliche Gestaltungsspielräume angenommen hat: 839 Nach dieser Rechtsprechung sind unterschiedliche Regelung zwischen den „normalen“ Arbeitnehmern und rentennahen Arbeitnehmern trotz des Verbots einer unzulässigen Diskriminierung wegen des Alters oder einer Behinderung nicht generell untersagt. Im Rahmen der EU-Gleichbehandlungsrichtlinien einerseits und § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG andererseits kommt es nach den Feststellungen des BAG auf die Ausgestaltung im Einzelfall an. Schließlich habe der Gesetzgeber den Betriebsparteien entsprechend dem zukunftsgerichteten Charakter – den der EuGH zutreffend als „Überbrückung“ gekennzeichnet hat – von Sozialplanleistungen ermöglichen wollen, diese bei „rentennahen“ Arbeitnehmern stärker an den tatsächlich eintretenden wirtschaftlichen Nachteilen zu orientieren, die durch den bevorstehenden Arbeitsplatzverlust und eine daraus folgende Arbeitslosigkeit drohen. Durch diese Gestaltungsmöglichkeit könne das Anwachsen der Abfindungshöhe, das mit der Verwendung der Faktoren Betriebszugehörigkeit und/oder Lebensalter bei der Bemessung der Abfindung zwangsläufig verbunden sei, bei Abnehmen der Schutzbedürftigkeit im Interesse der Verteilungsgerechtigkeit zu Gunsten der jüngeren Arbeitnehmer begrenzt werden. Dies gelte über den Wortlaut von § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG hinaus auch für Arbeitnehmer, die nicht unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Altersrente in Anspruch nehmen können. aa) Keine Verpflichtung zu einer mindestens hälftigen Regelabfindung 840 Die Rechtsprechung des EuGH konkretisiert das BAG darüber hinaus dahin, dass die Betriebsparteien nicht verpflichtet sind, rentennahen Arbeitnehmern eine Abfindung zuzusprechen, die mindestens die Hälfte der Abfindung rentenferner Arbeitnehmer beträgt. BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921.
Dies führe – so das BAG – nämlich zu einer unverhältnismäßigen Besserstellung rentennaher Arbeitnehmer. bb) Umfang des notwendigen Ausgleichs 841 Erforderlich und ausreichend sei vielmehr, wenn die Abfindung so bemessen werde, dass die wirtschaftlichen Nachteile in der Zeit nach Erfüllung des gesetzlichen Arbeitslosengeldanspruchs bis zum frühestmöglichen Bezug einer
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
Altersrente ausgeglichen würden. Dies sei stets der Fall, wenn die Abfindungshöhe für diesen Zeitraum den Betrag der zuletzt bezogenen Arbeitsvergütung erreiche. Die von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer seien dann wirtschaftlich so gestellt, als wäre das Arbeitsverhältnis bis zu dem Zeitpunkt fortgesetzt worden, in dem sie nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I nahtlos eine Altersrente beziehen könnten. Mit dieser Regelung läge eine geeignete und auch verhältnismäßige Einschränkung der Leistungshöhe in Bezug auf diesen Personenkreis vor. BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, ZIP 2013, 1349 = NZA 2013, 921.
Dass damit „rentenferne“ Arbeitnehmer deutlich höhere Ansprüche haben, 842 ist aus Sicht des BAG zulässig. Denn die Betriebsparteien könnten bei den rentennahen Jahrgängen davon ausgehen, dass diese selbst bei Fortbestehen der Arbeitslosigkeit nach dem Bezug von Arbeitslosengeld I jedenfalls dann weitgehend abgesichert seien, wenn die Abfindungshöhe bis zum Erreichen der Altersgrenze für den Bezug der Altersrente unter Einbeziehung von Arbeitslosengeld I als Abfindung den Betrag der zuletzt bezogenen Arbeitsvergütung erhalten. BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792.
Eine vergleichbare Absicherung liege vor, wenn Arbeitnehmer nach Beendi- 843 gung des Arbeitsverhältnisses eine kalenderjährliche Pauschalleistung in Höhe von 3.000 € (brutto) erhielten und – wie die jüngeren Arbeitnehmer – zunächst in eine Transfergesellschaft wechseln könnten. BAG, v. 23.4.2013 – 1 AZR 619/11, NZA 2013, 2619.
Eine vergleichbare Absicherung könnten die Betriebsparteien bei den renten- 844 fernen Jahrgängen nicht prognostizieren. Denn selbst wenn diese eine Anschlussbeschäftigung fänden, verlören die entlassenen Arbeitnehmer ihre bisherige kündigungsrechtliche Stellung und gehörten bei zukünftigen Personalreduzierungen deshalb regelmäßig zu dem Personenkreis, der wegen seiner kurzen Betriebszugehörigkeit vorrangig gekündigt werde. Zudem könnten sie regelmäßig im Rahmen eines neuen Arbeitsverhältnisses nicht ihr bisheriges Arbeitsentgelt erzielen, was – ebenso wie die vorangehenden Zeiten eine Arbeitslosigkeit – zur Nachteilen in ihrer Rentenbiographie führe. BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921.
cc) Keine Notwendigkeit von Abschlägen wegen Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrente Möglicherweise nicht völlig im Einklang mit dem EuGH ist aus Sicht des 845 BAG auch kein Ausgleich für etwaige Abschläge wegen Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente erforderlich. Auf solche Leistungen könnten die Betriebsparteien angesichts der begrenzt zur Verfügung stehenden Sozialplan-
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
mittel und der den anderen Arbeitnehmern voraussichtlich entstehenden Nachteile verzichten. BAG, v. 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921.
846 Es liege – so das BAG – keine (mittelbare) Benachteiligung wegen Behinderung vor, wenn sich die Höhe einer Sozialplanabfindung für rentennahe Jahrgänge nach der Bezugsmöglichkeit einer vorgezogenen Altersrente wegen Arbeitslosigkeit richte und schwerbehinderte Arbeitnehmer die gleiche Sozialplanabfindung erhielten wie nicht behinderte Arbeitnehmer. BAG, v. 23.4.2013 – 1 AZR 619/11, NZA 2013, 2619. Praxistipp: Sicherer dürfte jedenfalls sein, den Anspruch auf eine (vorgezogene) Altersrente wegen Schwerbehinderung (§ 236a Abs. 1 SGB VI) im Rahmen des Sozialplans nicht zu berücksichtigen, sondern auf die allgemeinen Tatbestände einer Altersrente abzustellen. Damit wird auch ein Verstoß gegen die UNBehindertenrechtskonvention vermieden.
dd) Beispiele für den bestehenden Gestaltungspielraum 847 Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht für die Betriebsparteien nach wie vor ein erheblicher Gestaltungsspielraum, der auch eine erhebliche Kürzung der Leistung für rentennahe Arbeitnehmer zulässt. Das belegen gerade die vom BAG entschiedenen Fälle. So erhielt z. B. der rentennahe Arbeitnehmer in einem der am 26.3.2013 – 1 AZR 813/11, NZA 2013, 921
entschiedenen Fälle eine Abfindung in Höhe von 4.974,62 € (brutto) aufgrund einer Regelung, die vorsah, dass rentennahe Arbeitnehmer bis zum frühestmöglichen Eintritt in die gesetzliche Altersrente 85 % des um die gesetzlichen Abzüge verminderten Bruttomonatsentgelts unter Anrechnung des voraussichtlichen Arbeitslosengelds für 24 Monate erhalten. Die Summe wurde zwar mit einem pauschalen Zuschlag von 15 % als Bruttoabfindungssumme gezahlt. Nach der für „normale“ Arbeitnehmer geltenden Formel hätte er aber eine Abfindung in Höhe von 236.721,49 € (brutto) erhalten. In einer weiteren Entscheidung vom 26.3.2013 – 1 AZR 857/11, DB 2013, 1792
hat es das BAG sogar für zulässig gehalten, dass ein Arbeitnehmer nach Vollendung des 62. Lebensjahres nur noch die Mindestabfindung erhielt, die lediglich zwei Bruttomonatsgehälter betrug, während für die übrigen Arbeitnehmer eine Abfindung nach der Formel „Bruttomonatsvergütung x Betriebszugehörigkeit x Faktor“ festgelegt worden war. Auf Basis dieses Sozialplans erhielt der 64-jährige Kläger lediglich eine Abfindung in Höhe von 10.650,00 € (brutto), während er nach der für Arbeitnehmer zwischen 60 und 62 Jahren geltenden Formel 36.885,30 € (brutto) und nach der Formel für Arbeitneh-
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
mer von 51 bis 59 Jahren sogar in Höhe von 122.951,00 € (brutto) erhalten hätte. In dem seinem Urteil vom 23.4.2013
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– 1 AZR 916/11, NZA 2013, 2619
zugrunde liegenden Fall hatte das BAG eine Sonderregelung für rentennahe Arbeitnehmer gebilligt, nach welcher der Kläger nur eine Abfindung in Höhe von 9.000,00 € (brutto) erhielt, während er nach der für „gewöhnliche“ Arbeitnehmer geltenden Formel 50.229,47 € (brutto) erhalten hätte. Ausgleichend kam in diesem Sozialplan jedoch hinzu, dass (auch) Arbeitnehmer, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bereits das 60. Lebensjahr vollendet hatten, einen Anspruch auf einen Wechsel in eine Transfergesellschaft für die Dauer von 12 Monaten hatten. Sie mussten daher erst nach 12 Monaten durch den 24-monatigen Anspruch auf Arbeitslosengeld I abgesichert werden, sodass die Abfindung letztlich nur die Nachteile durch den vorzeitigen Rentenbezug, d. h. die damit verbundenen Abschläge, ausgleichen musste. e) Rechtsfolgen bei unzulässiger Differenzierung Rechtsfolge einer die Vorgaben des EuGH in der Entscheidung vom 6.12.2012
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– C-152/11, NZA 2012, 1435 – Odar
nicht beachtenden, unzulässige Benachteiligung ist, dass der Arbeitgeber die benachteiligende Regelung nicht anwenden darf. BAG, v. 14.5.2013 – 1 AZR 44/12, ZIP 2013, 2075.
Die diskriminierten älteren und/oder schwerbehinderten Arbeitnehmer können dementsprechend zunächst die Leistungen verlangen, die sich ergeben, wenn der Anspruch auf vorgezogene Altersrente wegen Schwerbehinderung nicht berücksichtigt wird. Ob für ältere Arbeitnehmer dasselbe gilt, hängt vom Umfang ihrer Benachteiligung ab. Sie haben nur bei unangemessener Benachteiligung einen derartigen Anspruch. Denn angemessene Schlechterstellungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH und des BAG zulässig. Ihre den Vorgaben von EuGH und BAG entsprechende Regelungsintention sollten die Betriebsparteien aber im Sozialplan zum Ausdruck bringen. f) Praktische Möglichkeiten einer Anpassung bisheriger Sozialplanregelungen Bisherige Sozialpläne müssen im Lichte der neuen Vorgaben nicht ggf. ange- 850 passt werden, wozu mehrere Möglichkeiten denkbar sind: Zunächst kommt eine klarstellende Vereinbarung, ggf. in Form einer Proto- 851 kollnotiz, in Betracht, nach der eine vorgezogene Altersrente wegen Schwerbehinderung bei der Berechnung von Sozialplanleistungen nicht (mehr) berücksichtigt wird.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
852 Alternativ können – ebenfalls in Form einer klarstellenden Ergänzungsvereinbarung – z. B. Mindestleistungen festgelegt werden, die auch gezahlt werden, wenn eine (vorzeitige) Altersrente in Anspruch genommen werden kann. Praxistipp: In Übereinstimmung mit den Vorgaben des BAG muss Ziel solcher Leistungen sein, den Arbeitnehmer unter Berücksichtigung sozialversicherungsrechtlicher Leistungen (Arbeitslosen-, aber auch Kurzarbeitergeld) annähernd so zu stellen, wie er bei Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis zur Altersrente gestanden hätte. Dieses Ziel sollte explizit klargestellt werden, um im Streitfall eine Berufung auf die Rechtsprechung des BAG zu erleichtern.
g) Ausgestaltungsmöglichkeiten für künftige Sozialpläne 853 Angepasst werden können in künftigen Sozialplänen auch die üblichen Formeln für die Berechnung von Sozialplanabfindungen. Ziel muss dabei eine Formel sein, die alters- und behinderungsunabhängig einen bestimmten Mindeststandard für eine begrenzte Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gewährleistet. 854 Ausgehend von den vom BAG entschiedenen Fällen könnte dieser Mindeststandard z. B. dadurch festgelegt werden, dass für eine bestimmte Zeit ein bestimmter Prozentsatz des bisherigen Bruttomonatsentgelts gezahlt wird, wobei die Leistungsdauer an die Dauer der Betriebszugehörigkeit anknüpft. Auf diesen Anspruch könnten zudem ein etwaiger Anspruch auf Arbeitslosengeld, auf Kurzarbeitergeld und ein Anspruch auf vorzeitige Altersrente – die unabhängig von einer Schwerbehinderung gewährt wird – angerechnet werden. Schließlich sind mit Blick auf die dadurch bewirkte wirtschaftliche Absicherung auch derartige Leistungen in den Blick zu nehmen. Ausgeglichen werden müsste lediglich der Abschlag wegen vorzeitiger Inanspruchnahme von Altersrente. 3. Verjährung von Sozialplanansprüchen bei Masseunzulänglichkeit 855 Wird ein Sozialplan vom Insolvenzverwalter nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit abgeschlossen, verjähren Abfindungsansprüche nicht bereits drei Jahre nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Denn der Anspruch wird dann erst mit Abschluss des Insolvenzverfahrens und Verteilung der Masse fällig. Dies hat das LAG Düsseldorf mit Urteil vom 10.10.2013 – 5 Sa 823/12, n. v. (Pressemitteilung)
klargestellt. Ebenso hat die Kammer in acht weiteren Verfahren entschieden, wobei es um Abfindungen zwischen circa 3.000 € und 40.000 € ging.
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
a) Sachverhalt Der Kläger war bis zum 31.1.2004 bei der Arbeitgeberin beschäftigt, über de- 856 ren Vermögen am 1.10.2003 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt worden war. Dieser zeigte gegenüber dem Insolvenzgericht am 2.10.2003 Masseunzulänglichkeit an und schloss am 10.10.2003 mit dem Betriebsrat einen Sozialplan. Aus diesem ergab sich für den Kläger ein Abfindungsanspruch in Höhe von 14.761,39 €. In den seit 2003 erstellten 17 halbjährlichen Zwischenberichten des Insolvenzverwalters waren die Sozialplanansprüche mit einer Quote berücksichtigt. Erstmals im 18. Zwischenbericht vom 17.12.2012 teilte der Beklagte mit, dass diese Ansprüche aufgrund des Eintritts der Verjährung nicht mehr zu berücksichtigen seien. Dieser Rechtsauffassung tritt der Kläger entgegen und begehrt die Feststellung, dass ihm nach wie vor der Sozialplananspruch zusteht. b) Fälligkeit mit Abschluss des Insolvenzverfahrens und Verteilung der Masse Ebenso wie das AG Duisburg hat das LAG Düsseldorf der Klage mit zwei 857 parallelen Begründungen stattgegeben. Zum einen seien die Ansprüche noch nicht fällig, also die Verjährungsfrist habe noch nicht zu laufen begonnen. Zwar verjährten Sozialplanansprüche innerhalb von drei Jahren ab Fälligkeit und diese Fälligkeit sei grundsätzlich mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses, also hier am 31.1.2004, gegeben. Anders sei dies aber, wenn – wie im konkreten Fall – vor Abschluss des Sozialplans Masseunzulänglichkeit angezeigt werde. Der Anspruch werde dann erst mit Abschluss des Insolvenzverfahrens und Verteilung der Masse fällig. Vorher sei der Anspruch sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach unsicher, sodass die Verjährung unterbrechende Leistungs- oder Feststellungsklagen nicht möglich seien. c) Berufung auf Verjährung als Verstoß gegen Treu und Glauben Zum anderen verstoße es gegen Treu und Glauben, wenn der Insolvenzver- 858 walter sich auf Verjährung berufe, nachdem er die Ansprüche jahrelang – auch nach dem von ihm angenommenen Ablauf der Verjährung – in den Zwischenberichten aufgenommen hatte. Die Arbeitnehmer hätten objektiv davon ausgehen dürfen, so die Kammer in ihrer mündlichen Urteilsbegründung, dass mit ihrem Sozialplananspruch alles in Ordnung sei. Die Kammer hat die Revision nicht zugelassen. 4. Nachteilsausgleichsanspruch bei Umsetzung einer Betriebsänderung ohne ausreichende Betriebsratsbeteiligung Nach § 111 Satz 1 BetrVG hat der Unternehmer in Unternehmen mit in der 859 Regel mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben können, rechtzeitig
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
und umfassend zu unterrichten und die geplanten Betriebsänderungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Kommt ein Interessenausgleich zwischen Unternehmer und Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung zustande, ist dieser nach § 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG schriftlich niederzulegen und von den Betriebsparteien zu unterschreiben. Gegenstand des Interessenausgleichs sind die organisatorische Umsetzung der Betriebsänderung und die mit ihrer Durchführung verbundenen personellen Maßnahmen. Zu diesem zählt insbesondere der Ausspruch von Kündigungen und Versetzungen gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern. 860 Hält der Arbeitgeber diese Vorgaben für die Betriebsratsbeteiligung nicht ein oder weicht er von den maßgeblichen Vereinbarungen mit dem Betriebsrat ab, drohen ihm – neben einer von manchen Landesarbeitsgerichten zu Unrecht anerkannten einstweiligen Unterlassungsverfügung – Nachteilsausgleichsansprüche nach § 113 BetrVG. Dies gilt auch in der Insolvenz. BAG, v. 30.5.2006 – 1 AZR 25/05, ZIP 2006, 1510, dazu EWiR 2007, 213 (Henkel).
861 In seinem Urteil vom 22.1.2013 – 1 AZR 873/11, NZA 2013, 1232 = EzA § 113 BetrVG 2001 Nr. 9
hat das BAG nun wichtige Klarstellungen zum Anwendungsbereich des § 113 BetrVG vorgenommen und völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht jede Abweichung von den Vereinbarungen im Interessenausgleich Nachteilsausgleichsansprüche auslöst. a) Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts 862 Im entschiedenen Fall hatte die Beklagte mit ihrem Gesamtbetriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan (GBV 2009) abgeschlossen, in dem u. a. festgelegt war, dass im sog. B2C-Vertriebskanal insgesamt 18 Arbeitsplätze entfallen. Gleichzeitig sollte eine Verstärkung des sog. B2B-Vertriebskanals um 8 Mitarbeiter vorgenommen werden. Ein Zuschnitt der geplanten Vertriebsgebiete, der aber zukünftig Änderungen durch die C-Deutschland GmbH unterlag, war in Anlage 1 zum Interessenausgleich beschrieben. Der Kläger war im B2B-Vertriebskanal beschäftigt und bewarb sich auf die ausgeschriebene Außendienststelle für das Vertriebsgebiet 13. Nach Eingang seiner Bewerbung entschied die Beklagte, dieses Vertriebsgebiet auf die benachbarten Regionen aufzuteilen. Der Kläger meinte, die Beklagte sei ohne zwingenden Grund durch die Aufteilung des Vertriebsgebiets von der Regelung in der GBV 2009 abgewichen. Hierdurch sei ihm ein wirtschaftlicher Nachteil entstanden, weil er im aufgeteilten Gebiet jährlich 60.000,00 € hätte verdienen können. Er macht die Vergütungsdifferenz als Nachteilsausgleich geltend. 863 Der Kläger blieb in allen Instanzen erfolglos. Das BAG stellte fest, dass die Beklagte bei der Auflösung des Vertriebsgebiets nicht von der GBV 2009 ab-
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
gewichen sei, da sie nicht verpflichtet war, die in der GBV 2009 ausgebrachte Vertriebsdienststelle zu besetzen. Bei der in der GBV 2009 beschriebenen Verstärkung des B2B-Vertriebskanals handele es sich nicht um eine zwischen den Betriebsparteien vereinbarte Maßnahme, die hinsichtlich der zahlenmäßigen oder regionalen Besetzung des Außendienstes Verbindlichkeit beanspruchen könne. Die GBV 2009 enthalte nur eine unverbindliche Absichtserklärung der Beklagten über die zukünftige Ausgestaltung des B2B-Vertriebskanals. Dies ergebe bereits der Wortlaut, da insbesondere der Zuschnitt zukünftigen Änderungen unterlag. b) Differenzierende Bewertung von Regelungen eines Interessenausgleichs Selbst wenn eine Verpflichtung zur Besetzung des Vertriebsgebiets 13 be- 864 gründet worden wäre, hätte es sich bei der Verstärkung des B2B-Vertriebskanals nach der Bewertung des BAG um keine Regelung i. S. d. § 111 Satz 1 BetrVG gehandelt, so dass kein Nachteilsausgleichsanspruch besteht. Dazu, welche Regelungen eines Interessenausgleichs als Regelungen i. S. d. § 111 Satz 1 BetrVG zu qualifizieren sind, trifft das BAG dann wichtige Klarstellungen: Die Betriebsparteien seien im Interessenausgleich nicht auf die Ausgestal- 865 tung von Maßnahmen i. S. d. § 111 Satz 1 BetrVG beschränkt. Arbeitgeber und Betriebsrat könnten auch Abreden über Sachverhalte treffen, deren Regelungsbedürftigkeit nicht unmittelbar auf die Betriebsänderung zurückgeht, sondern deren mittelbare Folge sind (Folgeregelungen). aa) Kennzeichnung von Folgeregelungen Diese vom BAG als „Folgeregelungen“ qualifizierten Regelungen kenn- 866 zeichnet es dahin, dass sie nicht die nachteiligen Wirkungen der Betriebsänderung, sondern andere Beteiligungssachverhalte betreffen. Praxistipp: Hierzu zählen nach den Feststellungen des BAG etwa Vereinbarungen über die Auswirkungen der geänderten Betriebsstruktur auf die Personalplanung, die Besetzung von neu geschaffenen Arbeitsplätzen und das darauf bezogene Auswahlverfahren. Solche Folgeregelungen können – so das BAG – auch in einem Interessenausgleich aufgenommen werden.
Wichtig ist, dass mit derartigen „Folgeregelungen“ nach den Feststellungen 867 des BAG keine Anknüpfungspunkte für Nachteilsausgleichsansprüche geschaffen werden. Denn der Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BetrVG erfasse nur solche Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis von der Betriebsänderung unmittelbar nachteilig betroffen ist.
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
bb) Begründung 868 Dies ergebe die Auslegung der Norm, die das BAG überzeugend vornimmt. 869 Hierfür spreche zunächst bereits der Wortlaut der Norm. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich setzt eine Abweichung vom Interessenausgleich über die geplante Betriebsänderung voraus. Dies betrifft – so das BAG – nur die im Interessenausgleich bezeichneten Arbeitsverhältnisse, die nach der Vorstellung der Betriebsparteien von der unternehmerischen Maßnahme nachteilig betroffen sein können. 870 Ergänzend stützt das BAG sein Verständnis aber auf den Normzweck und die Gesetzessystematik: 871 Der Anspruch aus § 113 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BetrVG diene vornehmlich der Einhaltung des abgeschlossenen Interessenausgleichs über die geplante Betriebsänderung und schütze dabei mittelbar die Interessen der von dieser betroffenen Arbeitnehmer. Der Unternehmer soll durch die drohende individual-rechtliche Entschädigung zur Einhaltung seiner sich aus §§ 111 Satz 1, 112 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ergebenden Pflichten angehalten werden. Da diese Pflichtenstellung nur in Bezug auf die Teile der Belegschaft bestehe, die von den betriebsändernden Maßnahmen nachteilig betroffen seien, erstrecke sich die durch § 113 BetrVG bewirkte Sanktion nicht auf eine Zuwiderhandlung des Unternehmers gegen die in einem Interessenausgleich enthaltenen Folgeregelungen. 872 Für diese Sichtweise spreche auch die Regelung in § 113 Abs. 3 BetrVG. Durch diese erhalten Arbeitnehmer einen Anspruch auf Nachteilsausgleich, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und infolge der Maßnahme Arbeitnehmer entlassen werden oder andere wirtschaftliche Nachteile erleiden. Unterbleibt der Versuch eines Interessenausgleichs überhaupt, können nur solche Arbeitnehmer eine Entschädigung beanspruchen, die von der Betriebsänderung selbst nachteilig betroffen werden. Es sei kein Sachgrund ersichtlich, den begünstigten Personenkreis in § 113 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 BetrVG weitergehend zu bestimmen als nach dessen Abs. 3. Letztlich stützt sich das BAG damit überzeugend auf die innere Systematik des § 113 BetrVG. 873 Auf dieser Grundlage hatte der Kläger auch deshalb keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich, weil sein Arbeitsverhältnis nicht von der in der GBV 2009 beschriebenen Betriebsänderung erfasst wurde. c) Praxisfolgen 874 Ausgehend von den überzeugenden Feststellungen des BAG muss die betriebliche Praxis bei der Geltendmachung von Nachteilsausgleichsansprüchen streng danach zu unterscheiden, ob der Arbeitgeber eine Regelung missach-
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III. Mitbestimmungsrechte bei Betriebsänderung
tet, die (unmittelbar) die organisatorische Umsetzung der Betriebsänderung oder aber (mittelbar) bloße Folgeregelungen betrifft. Nur im ersten Fall können Ansprüche der Arbeitnehmer entstehen. Für Arbeitgeber wird so das Risiko eingeschränkt, von Arbeitnehmern auf Nachteilsausgleich in Anspruch genommen zu werden. Praxistipp: Diese Grundsätze sollten auch bei der Rechtsprechung zu Unterlassungsansprüchen des Betriebsrats bei Umsetzung einer Betriebsänderung ohne Beachtung von Beteiligungsrechten des Betriebsrats berücksichtigt werden. Hiervon ausgehend ist ein Unterlassungsanspruch jedenfalls dann zu verneinen, wenn Maßnahmen vorliegen, die lediglich Folgeregelungen und nicht unmittelbar die Betriebsänderung betreffen.
5. Änderung einer Auswahlrichtlinie durch einen Interessenausgleich mit Namensliste Auswahlrichtlinien nach § 1 Abs. 4 KSchG in Form eines Punkteschemas 875 bewirken, dass die Sozialwahlauswahl innerhalb der gebildeten Vergleichsgruppe nur auf grobe Fehlerhaftigkeit geprüft werden kann. Praxistipp: Die Vergleichsgruppenbildung selbst bleibt voll überprüfbar (vgl. BAG, v. 5.6.2008 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120).
Sie machen die Sozialauswahl allerdings durch die Punktevergabe sehr trans- 876 parent und damit leicht mathematisch nachprüfbar. Abweichungen vom mathematischen Ergebnis wirken dann schnell rechtfertigungsbedürftig. Dass sie es nicht unbedingt sind – und insbesondere nicht jede Abweichung zur Unwirksamkeit der Kündigung führt –, hat das BAG in seinem Urteil vom 24.10.2013 – 6 AZR 854/11, ZIP 2013, 2476 = DB 2014, 66
klargestellt. Sie bewirken keine uneingeschränkte Bindung, sondern können auch konkludent aufgehoben bzw. geändert werden. Denn Arbeitgeber und Betriebsrat können nach den Feststellungen des BAG Auswahlrichtlinien im Sinn von § 1 Abs. 4 KSchG später oder zeitgleich – etwa bei Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste – ändern. Setzen sich die Betriebsparteien z. B. in einem Interessenausgleich mit Namensliste in einem bestimmten Punkt gemeinsam über die Auswahlrichtlinie hinweg, gilt die Namensliste. Im entschiedenen Fall war der 1970 geborene, unverheiratete Kläger seit 1998 877 als Werkzeugmacher bei der Insolvenzschuldnerin, einem Unternehmen der Automobilzulieferindustrie, beschäftigt. Im Dezember 2009 wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Der Beklagte und der Betriebsrat schlossen am 10.2.2010 einen Interessenausgleich, der eine Auswahlrichtlinie und eine
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D. Übertragende Sanierung/Betriebsübergang/Betriebsänderung
Namensliste enthielt. Der Kläger wies nach dem Punkteschema der Auswahlrichtlinie zwei Sozialpunkte mehr als der Arbeitnehmer Y auf, der der Vergleichs- und Altersgruppe des Klägers zugeordnet war. Die Namensliste nannte dennoch den Namen des Klägers. Von den sieben Arbeitsverhältnissen der Vergleichs- und Altersgruppe des Klägers wurde nur sein Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 12.2.2010 ordentlich zum 31.5.2010 gekündigt. Mit der Klage wandte sich der Kläger gegen die Kündigung. Er meinte, die soziale Auswahl sei grob fehlerhaft, weil der Beklagte sein Arbeitsverhältnis und nicht das des Arbeitnehmers Y gekündigt habe. Die Auswahlrichtlinie räume dem Arbeitgeber keinen Beurteilungsspielraum ein. 878 Dem ist das BAG – im Gegensatz zu den Vorinstanzen – nicht gefolgt. Während sie angenommen hatten, die Kündigung verstoße gegen die Auswahlrichtlinie, sodass die Sozialauswahl sei deshalb grob fehlerhaft sei, stellte der 6. Senat klar, mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung könne der Klage nicht stattgegeben werden. Die Betriebsparteien wichen in der Namensliste übereinstimmend und wirksam von der Auswahlrichtlinie ab. Der Senat hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Auf der Grundlage des bisher festgestellten Sachverhalts steht noch nicht fest, ob die Kündigung wirksam ist. 879 Für die Sanierungspraxis ist diese Entwicklung erfreulich, weil so letztlich die Vorteile von Auswahlrichtlinie (§ 1 Abs. 4 KSchG) und Interessenausgleich mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG) kombiniert werden können, um betriebsbedingte Kündigungen gegen Angriffe abzusichern. Systematisch betrachtet, ist die Entscheidung richtig. Denn beide Instrumente stehen nach der gesetzlichen Konzeption nebeneinander und schränken sich nicht wechselseitig ein. Den Betriebsparteien wird insoweit ein insbesondere für Sanierungsfälle ein wichtiger Gestaltungsspielraum gesichert, der sanierungsgerechte Lösungen ermöglicht.
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E. Tarifrecht – Anwendbarkeit einer tariflichen Ausschlussfrist auf insolvenzrechtliche Rückgewähransprüche infolge Anfechtung I. Landesarbeitsgerichtliche Rechtsprechung Die Frage der Anwendbarkeit tarifvertraglicher Ausschlussfristen auf Anfech- 880 tungsansprüche ist in der Instanzrechtsprechung zuletzt umstritten gewesen. Vgl. bejahend LAG Hannover, v. 22.3.2012 – 7 Sa 1052/11, NZI 2012, 862; a. A. LAG Berlin-Brandenburg, v. 12.9.2012 – 4 Sa 1166/12, ZIP 2012, 2261 = NZI 2013, 100; LAG Nürnberg, v. 16.5.2012 – 2 Sa 566/11, ZInsO 2013, 94.
Das LAG Berlin-Brandenburg hatte in seiner Entscheidung vom 2.11.2012
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– 22 Sa 1238/12, GWR 2013, 369 (Revision eingelegt BAG – 6 AZR 367/13)
noch angenommen, auf den Rückgewähranspruch des Insolvenzverwalters finde eine tarifliche Verfallklausel (hier § 15 BRTV Bau a. F.) Anwendung, die Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, erfasse. In dem entschiedenen Fall stritten über die Verpflichtung des Beklagten, eines 882 ehemaligen Arbeitnehmers der Insolvenzschuldnerin, zur Rückzahlung von Arbeitsentgelt aufgrund einer Anfechtung des klagenden Insolvenzverwalters (§§ 129 Abs. 1, 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Ca. drei Wochen nachdem der Beklagte erfolgreich die Zwangsvollstreckung gegen die Schuldnerin betrieben hatte, war das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet worden. Auf das Arbeitsverhältnis fand der BRTV (a. F.) Anwendung, der in § 15 eine zweistufige Ausschlussfrist vorsieht. Diese Frist wahrte der Kläger hinsichtlich der ersten Stufe, indem er seinen Rückzahlungsanspruch (§ 143 Abs. 1 Satz 1 InsO) außergerichtlich geltend machte. Die Frist der zweiten Stufe (gerichtliche Geltendmachung innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf einer zweiwöchigen Äußerungsfrist des Beklagten) wahrte er jedoch nicht. Das Arbeitsgericht hatte die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung zurück. Der Kläger habe zwar 883 einen Rückgewähranspruch zur Insolvenzmasse erworben, der aber nach § 15 Abs. 2 BRTV verfristet sei. 884
Nach der Rechtsprechung des BAG v. 19.5.2011 – 6 AZR 736/09, ZIP 2011, 1628 = NZI 2011, 644
sowie des BGH v. 23.3.2006 – IX ZR 116/03, ZIP 2006, 916 = NZI 2006, 397, dazu EWiR 2006, 537 (Eckardt)
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E. Tarifrecht
sei eine während der „kritischen“ Zeit im Wege der Zwangsvollstreckung erlangte Sicherheit oder Befriedigung als inkongruent anzusehen. Daher spiele die Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin oder des Eröffnungsantrags keine Rolle. Ein Bargeschäft (§ 142 InsO) stehe mangels Zahlung im Dreimonatszeitraum, dazu BAG, v. 6.10.2011 – 6 AZR 262/10, ZIP 2011, 2366 = NZI 2011, 981,
nicht in Rede. Auch ein Treuhandverhältnis sei durch die bloße Lohnabrechnung nicht zustande gekommen. 885 Der Anspruch sei aber mangels fristgemäßer gerichtlicher Geltendmachung nach § 15 Abs. 2 BRTV a. F. verfallen. Bei dem Rückgewähranspruch handele es sich um einen Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis, der von § 15 BRTV a. F. erfasst sei. Die vom GmS-OGB v. 27.9.2010 – GmS-OGB 1/09, ZIP 2010, 2418 = NZI 2011, 15
zur Rechtswegfrage getroffenen Feststellungen seien auf die materiell-rechtliche Einordnung des Anspruchs übertragbar. Die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien sei insoweit auch nicht insolvenzspezifisch eingeschränkt. Eine einschränkende Auslegung sei nicht geboten. Entgegen BAG, v. 19.11.2003 – 10 AZR 110/03, ZIP 2004, 229 = NZA 2004, 208, dazu EWiR 2004, 299 (Reichold).
886 Da tarifliche Ausschlussfristen einen Schadensersatzanspruch aus § 717 Abs. 2 ZPO erfassten, vgl. nur BAG, v. 18.12.2008 – 8 AZR 105/08, NZA-RR 2009, 314,
sei eine hiervon abweichende Bewertung des Anspruchs aus § 143 InsO nicht nachvollziehbar. Schließlich stehe der Verfallklausel auch keine spezialgesetzliche Fristenregelung (§ 146 InsO) entgegen. 887 Für diese Bewertung spricht auch folgende Überlegung: Überträgt man mit dem LAG Berlin-Brandenburg die Feststellungen des GmS-OGB zur Rechtswegfrage auf die materiell-rechtliche Einordnung des Anspruchs, handelt es sich bei dem Eingreifen der Ausschlussfrist letztlich nur um eine Folge des in § 108 InsO angeordneten Fortbestehens des Arbeitsverhältnisses. Danach besteht das Arbeitsverhältnis als Ganzes mit Wirkung für die Masse fort. Es werden nicht etwa einzelne Bestandteile – wie tarifliche Ausschlussfristen – außer Funktion gesetzt. Dies nützt auch dem Insolvenzverwalter, da er sich ebenfalls auf die Ausschlussfrist berufen kann. Um den Insolvenzverwalter nicht zu überfordern, wird man aber auf der ersten Stufe einer zweistufigen Ausschlussfrist in Übertragung der vom BAG v. 19.9.2012 – 5 AZR 924/11, NZA 2013, 156
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II. Bewertung des Bundesarbeitsgerichts
für Arbeitnehmer entwickelten Grundsätze eine unbezifferte Geltendmachung ausreichen lassen müssen. Vgl. Mückl/Krause, GWR 2013, 369.
II. Bewertung des Bundesarbeitsgerichts Das BAG hat sich dieser Bewertung indes leider nicht angeschlossen, son- 888 dern in seinem Urteil vom 24.10.2013 – 6 AZR 466/12, ZIP 2014, 91
angenommen, der Anfechtungsanspruch unterfalle tariflichen Ausschlussfristen nicht. Im entschiedenen Fall war die Klägerin seit 1983 bei der Schuldnerin beschäf- 889 tigt. Aufgrund eines Insolvenzantrags vom 10.5.2007 wurde am 1.7.2007 über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet. In den letzten drei Monaten vor dem Insolvenzantrag erlangte die Klägerin durch Forderungspfändungen von der Schuldnerin rückständiges Arbeitsentgelt. Der beklagte Insolvenzverwalter focht die Zahlungen unter dem 23.4.2010 an. Mit der Widerklage verlangte er die Rückzahlung zur Masse. Das BAG gab der Klage auf der Grundlage von § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO statt. 890 Danach ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte (sog. inkongruente Deckung), wenn die Handlung innerhalb des zweiten oder dritten Monats vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und der Schuldner zur Zeit der Handlung zahlungsunfähig war. Nicht „in der Art“, wie sie der Gläubiger zu beanspruchen hat, erfolgt nach der Rechtsprechung des BAG auch eine im Wege der Zwangsvollstreckung erlangte Befriedigung. Folglich kann der Insolvenzverwalter bei Vorliegen der übrigen Anfechtungsvoraussetzungen von einem Arbeitnehmer die Rückzahlung von Arbeitsvergütung zur Masse verlangen, die dieser durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen erlangt hat. Der Rückforderungsanspruch unterfällt nach der Bewertung des BAG keinen 891 tariflichen Ausschlussfristen. Die insolvenzrechtlichen Anfechtungsregelungen seien zwingendes Recht, in welches die Tarifvertragsparteien nicht eingreifen dürften. § 146 InsO, der für die Insolvenzanfechtung auf die Regelungen über die regelmäßige Verjährung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verweist, normiere die zeitliche Begrenzung des Anfechtungsrechts abschließend. Für die Insolvenzverwaltung bringt die Entscheidung damit eine erhebliche Entspannung. Sie beugt der nicht rechtzeitigen Geltendmachung durch ein Übermaß an zu prüfenden Ansprüchen vor.
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F. Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung I. Zurückweisung einer Kündigungserklärung mangels Vollmachtsvorlage und Unanwendbarkeit des § 174 Satz 1 BGB auf die Betriebsratsanhörung Überraschend viele Kündigungen scheitern in der betrieblichen Praxis an 892 Formalien wie der Nichtidentifizierbarkeit der Kündigungsberechtigung des Kündigenden – z. B. durch Vorlage einer Originalvollmacht gemeinsam mit der Kündigungserklärung – zur Risikohaftigkeit einer Kündigung durch Mitarbeiter, die ausländische Titel führen, in diesem Zusammenhang vgl. Mückl/Marxen, ArbRAktuell 2012, 465
oder Fehlern bei der Betriebsratsanhörung. In seinem Urteil vom 25.4.2013 – 6 AZR 49/12, ZIP 2013, 1982 = NZI 2013, 758
hat der 6. Senat des BAG über wichtige Klarstellungen zum internationalen Insolvenzrecht hinaus, die Vorgaben für eine Zurückweisung der Kündigung mangels Vollmachtsvorlage nach § 174 Satz 1 BGB präzisiert und ergänzend entschieden, dass § 174 Satz 1 BGB auf die Betriebsratsanhörung keine – auch keine entsprechende – Anwendung findet. Für die betriebliche Praxis sind damit erhebliche Erleichterungen verbunden. 1. Sachverhalt des Bundesarbeitsgerichts Im entschiedenen Fall war Arbeitgeberin eine Aktiengesellschaft griechischen 893 Rechts mit Sitz in Athen. Es handelte sich um eine ehemalige Fluggesellschaft, deren Hauptanteilseigner der griechische Staat ist. Sie betrieb in Deutschland eine Niederlassung mit 36 Arbeitnehmern in Frankfurt und darüber hinaus weitere Stationen an anderen deutschen Flughäfen. Keiner ihrer Arbeitnehmer war im Flugbetrieb eingesetzt. Alle Arbeitnehmer betreuten vielmehr den Bodenbetrieb des Flugverkehrs von und nach Deutschland. Aufgrund einer gesetzlichen Sonderbestimmung in Griechenland wurde das Unternehmen liquidiert („Sonderliquidation“). Ein neu gegründetes Unternehmen übernahm teilweise die Flugrouten des sonderliquidierten Unternehmens. Im Zusammenhang mit der Liquidation kam es zu betriebsbedingten Kündigungen, die vom Liquidator auf der Grundlage einer Vollmacht ausgesprochen wurden. Vor diesem Hintergrund stellte sich unter anderem die Frage, ob die Klage gegen den Liquidator oder gegen das zu liquidierende Unternehmen zu richten war. Denn nach griechischem Recht verblieb die Arbeitgeberstellung bei dem zu liquidierenden Unternehmen, der Insolvenzverwalter rückte – anders als nach deutschem Recht- nicht in diese ein. Damit stellte sich in diesem Verfahren nicht nur die Frage, welchem Recht das Insolvenzverfahren unterliegt (griechischem oder deutschem Recht). Für die betriebliche Praxis wichtig war darüber hinaus insbesondere die Frage, ob die
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F. Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung
Klägerin der ordentlichen betriebsbedingten Kündigung mangels wirksamer Vollmachtsbeifügung rechtzeitig i. S. d. § 174 Satz 1 BGB widersprochen hatte und ob der Betriebsrat – ebenfalls mit Blick auf eine fehlende Vollmachtsvorlage- wirksam angehört worden war. 2. Anforderung an die wirksame Zurückweisung einer Kündigung 894 Für die betriebliche Praxis sind neben den Klarstellungen zu dem bei multinationalen Insolvenzen anwendbaren Insolvenzrecht zunächst vor allem die Vorgaben zur Zurückweisung einer Kündigung mangels Vollmacht wichtig. In diesem Zusammenhang weist das BAG noch einmal darauf hin, dass die Kündigung nach deutschem Recht ein einseitiges Rechtsgeschäft sei, bei dem eine Vertretung ohne Vertretungsmacht unzulässig ist (§ 180 Satz 1 BGB). Nach § 180 Satz 2 BGB finde aber § 177 Abs. 1 BGB entsprechende Anwendung, wenn der Erklärungsempfänger die vom Vertreter behauptete Vertretungsmacht nicht „bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts“ beanstande. Die Genehmigung wirke dann nach § 184 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts zurück. Wolle der Erklärungsgegner – hier also der Arbeitnehmer – diese Rechtsfolge abwenden, müsse er die Vertretungsmacht unverzüglich i. S. d. §§ 174 Satz 1, 121 Abs. 1 Satz 1 BGB rügen. Geschehe dies nicht, sei die Kündigung dem Arbeitgeber mit Zugang der Genehmigung beim Arbeitnehmer zuzurechnen. 895 Mit Blick auf die erforderliche Unverzüglichkeit der Zurückweisung weist das BAG dann noch einmal darauf hin, dass die Zurückweisung einer Kündigungserklärung nach einer Zeitspanne von mehr als einer Woche nicht unverzüglich i. S. d. § 174 Satz 1 BGB ist, wenn keine besonderen Umstände vorliegen. Diese Grundsätze gelten nach den Feststellungen des BAG aber in gleicher Weise auch für die Rüge der Vollmacht „bei der Vornahme des Rechtsgeschäfts“ i. S. d. § 180 Satz 2 i. V. m. § 177 Abs. 1 BGB. Beanstande der Gekündigte die Vollmacht nicht unverzüglich, könne der Vertretene die Kündigung genehmigen. 896 Die vom BAG etablierte Wochenfrist beginne mit der tatsächlichen Kenntnis des Empfängers – hier also des Arbeitnehmers – von der Kündigung. Denn es solle schnell geklärt werden, ob er die Wirksamkeit der Kündigung unter formalen Gesichtspunkten in Frage stelle. Die Rüge sei dementsprechend an keinerlei Nachforschungen über die wirklichen Vertretungs- und Vollmachtsverhältnisse gebunden und erfordere auch keinen schwierigen Abwägungsprozess. Eine Zeitspanne von einer Woche sei deshalb, so das BAG, unter gewöhnlichen Umständen ausreichend, um die Entscheidung über die Rüge zu treffen. Praxistipp: Die Genehmigung der Kündigung kann auch durch schlüssiges Handeln erfolgen (BAG, v. 25.4.2013 – 6 AZR 49/12, ZIP 2013, 1982 = NZI 2013, 758). Sie sollte in der Regel aber zur Vermeidung von Diskussionen ihrerseits unverzüglich ausdrücklich erklärt werden.
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I. Zurückweisung einer Kündigungserklärung
3. Keine (analoge) Anwendung von § 174 BGB auf die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG Eine für die betriebliche Praxis wichtige Erleichterung von Kündigungen un- 897 ter formalen Gesichtspunkten nimmt der 6. Senat dann dadurch vor, dass er klarstellt, dass § 174 BGB auf die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG weder unmittelbar noch analog anwendbar ist. Die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 BetrVG sei zwar eine rechtsgeschäftliche Handlung, für welche die analoge Anwendung des § 174 grundsätzlich geboten sei. Offengelassen hatte die Qualifikation als rechtsgeschäftliche Handlung bzw. Willenserklärung noch der 7. Senat des BAG im Urt. v. 27.8.1982 – 7 AZR 30/80, BAGE 40, 95 = ZIP 1982, 1466.
Eine analoge Anwendung des § 174 BGB auf die Anhörung des Betriebsrats 898 sei nach dem Zweck des Anhörungserfordernisses in § 102 Abs. 1 BetrVG und dem Zweck der Zurückweisungsmöglichkeit des § 174 Satz 1 BGB aber ausgeschlossen. Dies gelte auch dann, wenn –wie hier – eine betriebsfremde Person als Botin des Arbeitgebers das Anhörungsverfahren eingeleitet habe. Denn Zweck der Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 BetrVG sei nicht, 899 die Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung zu überprüfen. Dem Betriebsrat solle vielmehr lediglich im Vorfeld der Kündigung die Möglichkeit gegeben werden, auf die Willensbildung des Arbeitgebers Einfluss zu nehmen. Sinn des Anhörungserfordernisses sei es daher, dem Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Ermittlungen Gelegenheit zu geben, dem Arbeitgeber seine Überlegungen zu der Kündigungsabsicht zur Kenntnis zu bringen. Der Arbeitgeber solle die Stellungnahme des Betriebsrats –insbesondere dessen Bedenken und dessen Widerspruch gegen die beabsichtigte Kündigung- bei seiner Entscheidung über die Kündigung berücksichtigen können. Das Verfahren nach § 102 BetrVG sei kein formalisiertes, an bestimmte Formenvorschriften gebundenes Verfahren. Deshalb genüge auch eine mündliche oder telefonische Anhörung des Betriebsrats den Anforderungen des § 102 BetrVG. § 174 BGB diene demgegenüber dem Gewissheitsinteresse des Gegners eines 900 einseitigen empfangsbedürftigen Rechtsgeschäfts oder einer geschäftsähnlichen Handlung. Die Bestimmung solle klare Verhältnisse schaffen. Der Erklärungsempfänger sei zur Zurückweisung berechtigt, wenn er keine Gewissheit habe, dass der Erklärende wirklich bevollmächtigt sei und sich der Vertretende dessen Erklärung tatsächlich zurechnen lassen müsste. Der Empfänger solle nicht nachforschen müssen, welche Stellung der Erklärende habe, er solle vor der Ungewissheit geschützt werden, ob eine bestimmte Person bevollmächtigt sei, das Rechtsgeschäft vorzunehmen. Bei einer Gesamtschau dieser Zwecke ergebe sich nun – so das BAG –, das 901 der Zweck des § 174 seine analoge Anwendung auf die Anhörung nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nicht erfordere. Denn der Gesetzgeber messe dadurch, dass er das Anhörungsverfahren nicht formalisiert ausgestaltet und eine 231
F. Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung
mündliche Anhörung nicht ausgeschlossen habe, dem Gewissheitsinteresse im Zusammenhang mit § 102 BetrVG keine schützenswerte Bedeutung bei. Bei einer telefonischen Anhörung sei ein Nachweis i. S. d. § 174 BGB ausgeschlossen. Dennoch solle durch eine solche Anhörung die Frist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG in Lauf gesetzt werden können. Der Gesetzgeber gehe daher ersichtlich davon aus, dass das Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit i. S. d. § 2 Abs. 1 BetrVG, das auch im Anhörungsverfahren nach § 102 zu beachten sei, ausreiche, um den Betriebsrat zu schützen, wenn er Zweifel daran habe, ob die ihm gegenüber Auftretenden berechtigt seien, für den Arbeitgeber tätig zu werden. Aus dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit folge die Verpflichtung, sich bei der Verfolgung der unter Umständen unterschiedlichen Interessen an die Regeln zu halten, die Vertrauen erst ermöglichen. 902 Vor diesem Hintergrund könne dahinstehen, ob der Betriebsrat beim Fehlen näherer Anhaltspunkte davon ausgehen müsse, dass sich der Arbeitgeber im Rahmen der Anhörung nach § 102 BetrVG nur ordnungsgemäß bevollmächtigter oder beauftragter Personen bediene. Jedenfalls sei dem Zweck des Anhörungsverfahrens auch genügt, wenn der Bote oder Vertreter des Arbeitgebers keinen Nachweis seiner Botenmacht oder keine Vollmacht vorlege. Denn der Betriebsrat sei auch in einem solchen Fall nicht gehindert, seine Auffassung zu der Kündigung zu äußern und Einfluss auf den Willensbildungsprozess des Arbeitgebers zu nehmen. Habe er Zweifel an der Boten- oder Vertreterstellung desjenigen, der ihm gegenüber bei der Anhörung aufgetreten sei, oder bezweifle er, dass dieser seine Einwände zur Kenntnis nehme und/oder an den Arbeitgeber weiterleite, könne er seine Einwände dem Arbeitgeber unmittelbar mitteilen und den (betriebsfremden) Dritten umgehen. Ein abstrakt schützenswertes Interesse daran, klare Verhältnisse zu schaffen und sicher zu sein, dass die Stellungnahmefrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 zu laufen beginne oder begonnen habe, habe der Betriebsrat vor dem Hintergrund dieses Zwecks des § 102 BetrVG nicht. 903 Für die betriebliche Praxis steht damit fest, dass einer Betriebsratsanhörung zu deren Wirksamkeit kein Vollmachtsnachweis beigefügt werden muss. Die Stellungnahmefrist des § 102 Abs. 2 Satz 1 BetrVG beginnt daher in aller Regel auch dann zu laufen, wenn der Betriebsrat informiert worden ist, ohne dass ihm eine entsprechende Vollmacht vorgelegt worden ist. Ausnahmefälle sind kaum denkbar. Dies ist mit Blick auf die Möglichkeit des Betriebsrats, sich autonom dadurch zu versichern und zu schützen, dass er seine Bedenken und Einwände unmittelbar gegenüber dem Arbeitgeber erklärt, als erhebliche Erleichterung für die betriebliche Praxis zu begrüßen, die beim Ausspruch von Kündigungen ohnehin bereits eine ganze Reihe formaler Hindernisse zu überwinden hat.
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I. Zurückweisung einer Kündigungserklärung
4. Unwirksamkeit der Kündigung wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats im Rahmen eines Interessenausgleichsverfahrens Auch beim Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste i. S. d. § 1 904 Abs. 5 KSchG, § 125 InsO unterliegt die Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG keinen erleichterten Anforderungen; sie muss vielmehr wie die Anhörung des Betriebsrats zu jeder anderen Kündigung den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen zu § 102 BetrVG entsprechen. Das hat das LAG Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 20.3.2013 – 8 Sa 542/12, n. v.
noch einmal klargestellt. Dabei hat es zugleich aber – den Bedürfnissen der betrieblichen Praxis entsprechend – unterstrichen, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, neben den Verhandlungen über den Interessenausgleich mit Namensliste, auch den Betriebsrat zu den auszusprechenden Kündigungen nach § 102 BetrVG anzuhören, keine Verdoppelung des Beteiligungsverfahrens notwendig macht. Es sei vielmehr zulässig, dass beide Verfahren zusammengefasst werden, damit der Betriebsrat gleichzeitig mit dem Abschluss des Interessenausgleichs auch zu den beabsichtigten Kündigungen Stellung nehmen kann. Die Möglichkeit, beide Verfahren miteinander zu verbinden, bedeute jedoch 905 nicht, dass in den Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich mit Namensliste zugleich auch die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG zu sehen wäre. Sollten Interessenausgleich und Betriebsratsanhörung miteinander verbunden werden, so sei dies schon bei Einleitung des Beteiligungsverfahrens klarzustellen. Außerdem sei es dann zweckmäßig, dass die Betriebspartner im Wortlaut des Interessenausgleichs zum Ausdruck brächten, dass mit dessen Unterzeichnung auch das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG hinsichtlich sämtlicher auszusprechender Kündigungen abgeschlossen ist. Die Entscheidung liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung des BAG. 906 Nach ihr ist ferner eine Verbindung des Interessenausgleichsverfahrens mit der Erfüllung der Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG zulässig. Soweit die gegenüber dem Betriebsrat bestehenden Pflichten aus § 111 BetrVG mit denen aus § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG und § 102 Abs. 1 BetrVG übereinstimmten, kann der Arbeitgeber sie gleichzeitig erfüllen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32.
Durch den Arbeitgeber muss aber hinreichend klargestellt werden, dass und 907 welche Verfahren gleichzeitig durchgeführt werden sollen. BAG, v. 20.9.2012 – 6 AZR 155/11, NZA 2013, 32; zu einem Praxistipp hierzu vgl. unter Rn. 517 ff.
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F. Betriebsverfassung und Unternehmensmitbestimmung
II. Vorübergehende Einstellung von Leiharbeitnehmern und Mitbestimmung des Betriebsrats 908 Für die betriebliche Praxis ist mit Inkrafttreten der neuen Fassung des AÜG am 1.12.2011 die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern für mehr als nur kurze Einsätze unsicher geworden. Auf der Grundlage des Beschlusses des BAG vom 10.7.2013 – 7 ABR 91/11, DB 2013, 2629
können längerfristige Einstellungen nun insbesondere häufiger am Widerstand des Betriebsrates scheitern. 909 Im entschiedenen Fall wollte der Arbeitgeber eine Leiharbeitnehmerin ohne zeitliche Begrenzung statt einer Stammkraft einstellen. Der Betriebsrat verweigerte seine Zustimmung zu der Einstellung. Daher beantragte der Arbeitgeber beim Arbeitsgericht, die Zustimmung des Betriebsrats ersetzen zu lassen. Während der Antrag des Arbeitgebers in den Vorinstanzen Erfolg hatte, gab das BAG dem Betriebsrat mit folgender Begründung Recht: 910 § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG in der seit dem 1.12.2011 geltenden Fassung sei ein Verbotsgesetz i. S. d. § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG. Die Bestimmung enthalte nicht lediglich einen unverbindlichen Programmsatz, sondern untersage die nicht nur vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung. Sie diene zum einen dem Schutz der Leiharbeitnehmer. Zum anderen solle sie auch die dauerhafte Aufspaltung der Belegschaft des Entleiherbetriebs in eine Stammbelegschaft und eine entliehene Belegschaft verhindern. Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs könne daher seine Zustimmung zur Einstellung von Leiharbeitnehmern verweigern, wenn diese im Entleiherbetrieb nicht nur vorübergehend beschäftigt werden sollen. Dabei komme es nicht darauf an, ob und ggf. welche Rechtsfolgen sich aus einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG für das Rechtsverhältnis des einzelnen Leiharbeitnehmers zum Entleiher ergeben. Insofern könne offen bleiben, ob in diesem Fall ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher entstehe. Bejahend z. B. LAG Berlin-Brandenburg, v. 9.1.2013 – 15 Sa 1635/12, ZIP 2013, 840; verneinend z. B. LAG Berlin-Brandenburg, v. 16.10.2012 – 7 Sa 1182/12, ZIP 2013, 844.
911 Eine genaue Abgrenzung des Begriffs „vorübergehend“ müsse jedoch nicht vorgenommen werden. Der Einsatz von Leiharbeitnehmern ohne jegliche zeitliche Begrenzung statt einer Stammkraft, wie sie der Arbeitgeber hier plane, sei jedenfalls nicht mehr vorübergehend. Eine Klärung der Frage, wann der Einsatz von Leiharbeitnehmern noch vorübergehend und damit im Rahmen des AÜG erfolgt, bringt der Beschluss des BAG nicht. In der Rechtsprechung und Literatur wird von einer lediglich klarstellenden Funktion ohne Rechtsfolgen,
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II. Vorübergehende Einstellung von Leiharbeitnehmern Lembke, DB 2011, 414, 415; Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 475, 489,
bis hin zu einer Übertragung der Wertung des § 14 TzBfG, vgl. Teusch/Verstege, NZA 2012, 1326, 1327 m. w. N.,
alles vertreten. Eine Klärung wird in einem der durch die Rechtsprechung des BAG ermöglichten Zustimmungsersetzungsverfahren nach § 99 BetrVG erfolgen.
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G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen I. Insolvenzgeld und neues Insolvenzereignis Nach ständiger Rechtsprechung des BSG tritt ein neues Insolvenzereignis 912 nicht ein und kann folglich auch keine Ansprüche auf Insolvenzgeld auslösen, solange die auf einem bestimmten Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert. Von andauernder Zahlungsunfähigkeit ist dabei so lange auszugehen, wie der Schuldner wegen eines nicht nur vorübergehenden Mangels an Zahlungsmitteln nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Die Zahlungsunfähigkeit endet nicht schon dann, wenn der Schuldner wieder einzelnen Zahlungsverpflichtungen nachkommt. An diesen Grundsätzen hält das BSG fest, wie es in seiner Entscheidung vom 6.12.2012 B 11 AL 11/11 R, ZIP 2013, 795 = NZI 2013, 454
ausdrücklich klargestellt hat. Im entschiedenen Fall war die Klägerin bis zum 30.5.2003 bei einer Küchen- 913 möbel GmbH beschäftigt und verlangte für die Monate März, April und Mai 2003 Insolvenzgeld. Das Unternehmen hatte zuerst im April 2001 einen Insolvenzantrag gestellt. Der vorläufige Insolvenzverwalter hatte im Jahre 2001 veranlasst, dass die Bundesagentur für Arbeit vorfinanziertes Insolvenzgeld gewährt, und im Übrigen einen Insolvenzplan erstellt. Das Amtsgericht hob mit Wirkung zum 31.12.2001 das Insolvenzverfahren auf. Im Mai 2003 stellte der Geschäftsführer erneut Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Es bestünden Lohnrückstände für zwei Monate. Auch die vom Insolvenzplan vorgegebenen Zahlungen hätten nicht erbracht werden können, weil die Liquiditätserwartungen nicht zu realisieren gewesen seien. Die Bundesagentur für Arbeit lehnt den Antrag der Klägerin auf Insolvenz- 914 geld ab, da wegen eines früheren Insolvenzereignisses bereits Insolvenzgeld gewährt worden sei. Das LSG Sachsen gab der Klage im Wege richtlinienkonformer Auslegung unter Hinweis auf die Richtlinie 80/987/EG in der Fassung der Richtlinie 2002/74/EG statt Vgl. LSG Sachsen, v. 9.3.2011 – L 1 AL 51/07, n. v.; zustimmend Frank/Heinrich, NZI 2011, 569.
Das BSG weist die Klage demgegenüber mit dem Argument ab, ein neues In- 915 solvenzereignis i. S. d. § 183 SGB III a. F. trete nicht ein, solange die auf einem früheren Insolvenzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauere. Dies sei vorliegend aber der Fall gewesen, da nach den Feststellungen des LSG Sachsen die bereits 2001 insolvente Arbeitgeberin zu keinem Zeitpunkt die Zahlungsfähigkeit wiedererlangt habe. Unerheblich sei, dass das Insolvenzgericht eine Überwachung der Planerfüllung nicht angeordnet hatte. Ein anderes Ergebnis folge auch nicht aus der RL 80/987/EG in der Fassung 916 RL 2002/74/EG. Dieser komme zunächst unmittelbare Wirkung nur im Zu237
G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen
sammenhang mit nach dem 8.10.2005 eingetretenen Insolvenzfällen zu. Unabhängig davon enthalte die Richtlinie keine ausdrücklichen Bestimmungen zur Frage, ob einem Arbeitnehmer, der bereits aus Anlass der Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers eine Garantieleistung erhalten hat, bei andauernder Zahlungsunfähigkeit erneut eine Leistung durch die zuständige Einrichtung zu gewähren ist. Soweit aufgrund der Änderungen durch die RL 2002/74/EG von einem „Gesamtverfahren“ sowie in Art. 2 Abs. 4 davon die Rede sei, dass die Mitgliedstaaten „nicht gehindert sind“, den Schutz der Arbeitnehmer auch „auf andere Situationen der Zahlungsunfähigkeit“ auszuweiten, erfordere dies jeweils den Erlass entsprechender Rechts- oder Verwaltungsvorschriften durch die Mitgliedstaaten, über die diese frei entscheiden könnten. 917 Für die Auffassung des LSG Sachsen sprächen schließlich auch nicht die von ihm angeführten wirtschafts- und sozialpolitischen Erwägungen, die auch Äußerungen im Schrifttum zugrunde lägen. Frank/Heinrich, NZI 2011, 569, 571 ff. und dies., NZS 2011, 689, 691.
918 Es möge zwar wünschenswert sein, in Sanierungsfällen über den Schutz des § 183 Abs. 2 SGB III hinaus auch Arbeitnehmern, die schon einmal Insolvenzgeld erhalten haben, eine zusätzliche Absicherung zuzubilligen. Unabhängig davon, dass im vorliegenden Fall die Sanierungsbemühungen offenbar von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen seien, könne derartigen Vorstellungen aber nur durch den Gesetzgeber entsprochen werden. Die mit der Einführung von Insolvenzplanverfahren verfolgten Zielsetzungen rechtfertige es nicht, allein aufgrund der Bestätigung des Plans und der Aufhebung des Insolvenzverfahrens eine erneute Inanspruchnahme der InsolvenzgeldVersicherung zu eröffnen. Ferne sei zu beachten, dass der Gesetzgeber mit den §§ 183 ff. SGB III nicht die Ziele der InsO verfolge: 919 Wie die aktuelle Entwicklung zeige, hat sich der deutsche Gesetzgeber anlässlich der Überarbeitung und Neugestaltung des SGB III im Jahre 2011 insbesondere im Hinblick auf zu erwartende Mehrkosten für die umlagepflichtigen Arbeitgeber und mögliche Wettbewerbsverzerrungen gerade nicht dazu entschlossen, eine gesetzliche Regelung i. S. d. Auffassung des LSG Sachsen in das SGB III aufzunehmen. Vgl. dazu Gegenäußerung der Bundesregierung zu der – sich explizit auf die vorliegende Entscheidung des LSG Sachsen beziehenden – Stellungnahme des Bundesrats zum Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 17/6853, S. 18, zu Nr. 2, und S. 1 ff., zu Art. 1 Nr. 7a und Art. 2 Nr. 18.
920 Der Entscheidung ist vollumfänglich zuzustimmen Auf den seit 1.4.2012 geltenden § 165 SGB III dürften dieselben Grundsätze anwendbar sein. Zwischenzeitlich ergangene, anders lautende Rechtsprechung, vgl. z. B. SG Karlsruhe, v. 8.5.2012 – S 16 AL 4404/10, NZS 2012, 916,
ist damit überholt. 238
II. Arbeitslosengeld
II. Arbeitslosengeld 1. Rechtfertigung einer betriebsbedingten Kündigung durch eine unternehmerische Entscheidung Nach § 147a SGB III in der Fassung des Dritten Gesetzes für moderne 921 Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003, in Kraft ab dem 1.1.2004, hatte der Arbeitgeber, bei dem der Arbeitslose innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Tag der Arbeitslosigkeit, durch den nach § 124 Abs. 1 SGB III a. F. die Rahmenfrist bestimmt wird, mindestens 24 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat, der Bundesagentur vierteljährlich das Arbeitslosengeld für die Zeit nach Vollendung des 57. Lebensjahres des Arbeitslosen, längstens für 32 Monate, zu erstatten. Die Erstattungspflicht trat nach § 147a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB III a. F. ins- 922 besondere dann nicht ein, wenn der Arbeitgeber darlegt und nachweist, dass er das Arbeitsverhältnis durch sozial gerechtfertigte Kündigung beendet hat; § 7 KSchG fand keine Anwendung; die Agentur für Arbeit ist aber an eine rechtskräftige Entscheidung des Arbeitsgerichts über die soziale Rechtfertigung einer Kündigung gebunden. Die Verpflichtung zur Erstattung des Arbeitslosengeldes schließt die auf diese Leistung entfallenden Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung ein (§ 147a Abs. 4 SGB III a. F.). Zur Frage, wann wegen einer unternehmerischen Entscheidung eine betriebs- 923 bedingte Kündigung gerechtfertigt sein kann, hat das LSG Berlin-Brandenburg in seinem Urteil vom 6.11.2012 – L 12 AL 450/07, BeckRS 2013, 67057, BAG, v. 27.2.2002 – 9 AZR 562/00, NZA 2002, 1099; BAG, v. 5.6.2006 – 2 AZR 907/06, NZA 2008, 1120
Stellung genommen und dabei zunächst einmal die ständige arbeitsgerichtliche Rechtsprechung bestätigt. Mit Blick auf den Befreiungstatbestand des § 147a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB III a. F. hat es insoweit ergänzend klargestellt, dass seine Voraussetzungen auch dann erfüllt seien, wenn dem Arbeitnehmer aufgrund einer tarifvertraglichen Regelung gekündigt wurde, die den tariflichen Kündigungsschutz bei betriebsbedingten Kündigungen einschränkt, soweit „sozialverträgliche Instrumente“ zu den „notwendigen Personalanpassungsmaßnahmen“ zur Anwendung kommen – wie z. B. im entschiedenen Fall Vorruhestandsregelungen. Eine entsprechende tarifvertragliche Regelung verstoße – so das LSG Berlin-Brandenburg – nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen gesetzliches Kündigungsschutzrecht. 2. Umfang des Forderungsübergangs bei „Hartz IV-Leistungen“ 924
Bereits in seinem Urteil vom 21.3.2012 – 5 AZR 61/11, NZA 2012, 729
hatte das BAG zur Frage des Forderungsübergangs bei Hartz-IV-Leistungen Stellung genommen. 239
G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen
925 Im entschiedenen Fall blieb der beklagte Insolvenzverwalter dem Kläger für mehrere Monate das Arbeitsentgelt schuldig. Der Kläger und seine Ehefrau bezogen deshalb Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beklagte kam der Aufforderung des Grundsicherungsträgers, die für beide Eheleute erbrachten Sozialleistungen zu erstatten, nach und zahlte nur den Restbetrag an den Kläger aus. Der Kläger fordert Nachzahlung seines Arbeitsentgelts in Höhe der seiner Ehefrau zugeflossenen Grundsicherung. 926 Das Arbeitsgericht hat die Zahlungsklage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Auf die Revision des Beklagten ist die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen worden. Es ist noch festzustellen, in welcher Höhe die Grundsicherung erbracht wurde, weil der Beklagte die Vergütung nicht gezahlt hat. In der Sache hat das BAG aber folgende Klarstellungen vorgenommen: 927 Erbringt ein Sozialleistungsträger an einen Arbeitnehmer Leistungen, weil der Arbeitgeber die Vergütung nicht zahlt, geht der Vergütungsanspruch gem. § 115 Abs. 1 SGB X in Höhe der an den Arbeitnehmer selbst gewährten Leistungen auf den Leistungsträger über. Bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende an Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II sei hingegen der Grundsatz der Personenidentität durchbrochen. Erbringe eine ARGE (jetzt: Jobcenter) Leistungen an den nicht getrennt lebenden Ehegatten, den Lebenspartner des Hilfebedürftigen und an dessen unverheiratete Kinder unter 25 Jahren, weil der Arbeitgeber die Vergütung an den Arbeitnehmer nicht zahle, gehe dessen Vergütungsanspruch nach der in § 34b SGB II enthaltenen Sonderregelung auch in Höhe der an diese Personen erbrachten Leistungen auf den Träger der Grundsicherung über. III. Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen – Inanspruchnahme des GmbH-Geschäftsführers wegen Vorenthaltung 928 Die Darlegungs- und Beweislast des Sozialversicherungsträgers, der den Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen aus § 823 Abs. 2 BGB, § 266a Abs. 1 StGB in Anspruch nimmt, erstreckt sich auf den Vorsatz des beklagten Geschäftsführers; diesen trifft lediglich eine sekundäre Darlegungslast. Dies hat der BGH in seinem Urteil vom 18.12.2012 – II ZR 220/10, ZIP 2013, 412
in einem Fall klargestellt, in dem der Beklagte einer von zwei GmbHGeschäftsführern einer GmbH war, über deren Vermögen im Juli 2006 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Die klagende gesetzliche Krankenkasse macht Schadensersatz i. H. v. 2.116,07 € für Nichtabführung der Arbeitnehmeranteile von vier Angestellten von November 2005 bis März 2006 geltend. Darüber hinaus beantragt die Klägerin festzustellen, dass eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung des Beklagten vorliegt.
240
III. Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen
Klage und Berufung wurden vom AG Berlin und LG Berlin abgewiesen, weil 929 es am Vorsatz fehle. Der Beklagte habe in einer räumlich ausgelagerten Betriebsstätte gearbeitet und sei mit Verwaltungs- oder Buchhaltungsaufgaben nicht befasst gewesen. Er habe von der drohenden Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens nichts gewusst. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung und Feststellung weiter. Auf die Revision der Klägerin verwies der BGH die Sache an das Berufungs- 930 gericht zurück. Das Berufungsurteil genüge nicht den Anforderungen des § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und sei daher nicht der Revision zugänglich. Zur Darlegungs- und Beweislastverteilung stellte der BGH aber klar, dass die 931 Beweislast in Bezug auf alle Umstände, aus denen sich die Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale eines verletzten Schutzgesetzes ergibt, grundsätzlich den Kläger treffe; den in Anspruch genommenen Geschäftsführer treffe lediglich eine sekundäre Darlegungslast. Dies gelte auch für den Vorsatz des Beklagten. Denn nach der Rechtsprechung des BGH,
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BGH, v. 21.1.1997 – VI ZR 338/95, ZIP 1997, 412 = NJW 1997, 1237; BGH, v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422 = NJW 2001, 969
gelte auch insoweit, dass Vorsatz in Bezug auf eine Nichtabführung der Sozialversicherungsbeiträge dann vorliege, wenn der Geschäftsführer eine für möglich gehaltene Beitragsvorenthaltung billige und nicht auf die Erfüllung der Ansprüche der Sozialversicherungsträger hinwirke. Bei Delegierung der einzelnen Pflichten müsse der Geschäftsführer – entsprechend seinen Überwachungspflichten – tätig werden, sobald Anhaltspunkte für eine Nichterfüllung der Aufgaben durch den zuständigen Geschäftsführer oder Angestellten vorliegen. So z. B. für den Fall finanzieller Krisensituationen oder ungeordneter Verhältnisse im Geschäftsablauf innerhalb der Gesellschaft BGH v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275 = BeckRS 2008, 13002, dazu EWiR 2008, 719 (Schreiber).
Der Geschäftsführer müsse persönlich sicherstellen, dass den sozialversiche- 933 rungsrechtlichen Anforderungen entsprochen wird. Dies wird ihm aus folgenden Gründen regelmäßig möglich sein: Nach § 15a InsO muss ein Geschäftsführer binnen drei Wochen Insolvenz- 934 antrag stellen, wenn Überschuldung droht bzw. eingetreten ist. Diese Frist kann er nur wahren, wenn er sich kontinuierlich über die finanzielle Situation des Unternehmens informiert und sich darüber versichert, dass weder Zahlungsunfähigkeit noch Überschuldung vorliegt. Der Einwand, er sei für die Buchhaltung nicht zuständig gewesen oder für die Personalverwaltung etc.,
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G. Steuer- und sozialversicherungsrechtliche Fragen
entlastet ihn nicht. Folge dieser Verpflichtung ist in der Regel aber, dass ihm auffallen muss, dass das Unternehmen Sozialversicherungsbeiträge nicht abführt. Dies gilt umso mehr, als die zuständige Einzugsstelle in der Praxis regelmäßig Vollstreckungsmaßnahmen androht oder auch einleitet. 935 Vor diesem Hintergrund muss er trotz Krise des Unternehmens sicherstellen, dass die Abführung der Beiträge erfolgt. Dass dies den Insolvenzverwalter im Nachhinein ggf. der Einzugsstelle gegenüber zur Anfechtung berechtigt, ändert daran nichts. Für die Einzugsstelle ändert sich ggf. wirtschaftlich also nichts. Der Geschäftsführer ist aber jedenfalls von der Strafdrohung des § 266a StGB verschont. Auch aus § 64 GmbHG drohen ihm keine Nachteile. Denn wer als Geschäftsführer in der Krise des Unternehmens vorrangig die Sozialversicherungsbeiträge abführt, verstößt nicht gegen die Pflichten eines ordentlichen Kaufmannes i. S. d. § 64 GmbHG. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BGH jedenfalls für die Arbeitnehmeranteile. BGH, v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, ZIP 2011, 422 = BeckRS 2011, 03868.
IV. Lohnsteuer – Anspruch eines Grenzgängers auf Auszahlung von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag nach Insolvenzgeldzahlung 936 In seinem Urteil vom 1.2.2012 – 2 Sa 96/11, NZI 2012, 504 = BeckRS 2012, 69047
hat sich das LAG Saarland mit dem Anspruch eines Grenzgängers auf Auszahlung von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag nach Insolvenzgeldzahlung durch Vorfinanzierung seitens einer Bank zu beschäftigt. 937 Im entschiedenen Fall war die Klägerin in der Zeit vom 15.6.2006 bis 31.11.2009 bei der Schuldnerin beschäftigt. Sie hatte ihren Wohnsitz im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland auf französischem Boden und bekam daher nach dem Doppelbesteuerungsabkommen mit Frankreich den Grenzgängerstatus zuerkannt. Für den Zeitraum September bis einschließlich November bekam die Klägerin, die ihre Arbeitsleistung in dieser Zeit weiterhin erbrachte, die Vergütung in Höhe des zu erwartenden Insolvenzgelds von dritter Seite vorfinanziert. Hierzu wurde mit der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit sowie des Insolvenzverwalters für den jeweiligen Monat ein Forderungskaufvertrag mit der Bank abgeschlossen. Alle Verträge waren bis auf die Angabe des jeweiligen Zeitraums und des Nettogehaltsbetrags ansonsten inhaltsgleich formuliert. Es wurde dann auch ein entsprechender Antrag auf Insolvenzgeld gestellt. Die Klägerin erhielt Gehaltsabrechnungen für die jeweiligen Zeiträume. Hierbei wurde unter der Rubrik gesetzliche Abzüge ein Abzug für die Lohnsteuer sowie ein Solidaritätszuschlag rechnerisch ausgewiesen. 938 Das LAG Saarland hat entschieden, dass mit der Antragstellung auf Insolvenzgeld nach § 187 Satz 1 i. V. m. § 185 SGB III der Nettovergütungsan-
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IV. Lohnsteuer
spruch eines Arbeitnehmers auf die Bundesagentur für Arbeit übergeht, da das Insolvenzgeld letztlich auch nur in dieser Höhe gezahlt werde. Dem Grenzgänger mit Wohnsitz in Frankreich gehe durch den gesetzlichen Übergang seines Vergütungsanspruches seine Anteile (Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag) am Bruttovergütungsanspruch nicht verloren. Dies gelte mit Blick auf die Pflicht des Grenzgängers zur Versteuerung seines Einkommens in Frankreich. Eine tatsächliche Abführung von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag in der Bundesrepublik Deutschland erfolge nicht wegen des nach § 185 II Nr. 2 SGB III vorgegebenen Abzuges der nur fiktiv nach deutschem Steuerrecht errechneten Lohnsteuerbeträge und des Solidaritätszuschlages bei der Ermittlung der Höhe des ausgezahlten Insolvenzgeldes. Dies gelte auch bei Vorfinanzierung der Insolvenzgeldzahlung durch ein Kreditinstitut gegen Abtretung der nach deutschem Steuer- und Sozialrecht ermittelten Nettoauszahlungsbeträge.
243
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen I. Kündigungsschutzklage eines GmbH-Geschäftsführers nach Insolvenzeröffnung Bereits im vorläufigen Insolvenzverfahren fühlen sich Geschäftsführer losge- 939 löst davon, ob ein „starker“ vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt worden ist oder nicht, häufig bereits „entmachtet“. Das – jedenfalls „gefühlte“ – ÜberUnter-Ordnungsverhältnis zum Insolvenzverwalter bewirkt nicht selten eine „gefühlte“ Annäherung an einen Arbeitnehmerstatus. Dies gilt insbesondere, wenn das Anstellungsverhältnis gekündigt wird. Auch außerhalb der Insolvenz berufen sich dann viele Geschäftsführer – für mit den Unternehmensverhältnissen vertraute Personen durchaus überraschend – darauf, sie seien tatsächlich Arbeitnehmer. Ziel dieser Behauptung ist, die strengen Vorgaben des KSchG für die Wirksamkeit von Kündigungen für sich (im Rahmen von Vergleichsverhandlungen) nutzbar zu machen. Dies muss bei der Beendigung des Anstellungsverhältnisses eines Geschäfts- 940 führers losgelöst davon berücksichtigt werden, ob das der Anstellung zugrunde liegende Vertragsverhältnis als Dienst- oder Arbeitsvertrag zu qualifizieren ist. Eine wirksame Berufung auf den Arbeitnehmerstatus (zur Erzielung einer (hohen) Abfindung) kann dadurch vermieden werden, dass zunächst die Kündigung ausgesprochen wird und erst (nachweislich) im Nachgang die Abberufung erfolgt. Dann scheidet – wie das BAG in seinem Urteil vom 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539 = NJW 2013, 2140, dazu EWiR 2013, 501 (Undritz/Röger)
noch einmal klargestellt hat, zunächst die Anrufung der Arbeitsgerichte aus: Denn nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG gelten in Betrieben einer juristischen Person oder einer Personengesamtheit Personen nicht als Arbeitnehmer i. S. d. ArbGG, die kraft Gesetzes, Satzung oder Gesellschaftsvertrags allein oder als Mitglieder des Vertretungsorgans zur Vertretung der juristischen Person oder der Personengesamtheit berufen sind. Für einen Rechtsstreit zwischen dem Vertretungsorgan und der juristischen Person sind nach dieser gesetzlichen Fiktion die Gerichte für Arbeitssachen nicht berufen. Die Fiktion der Norm gilt nach der Rechtsprechung des BAG auch für das der Organstellung zugrunde liegende Rechtsverhältnis. Sie greift unabhängig davon ein, ob das der Organstellung zugrunde liegende Rechtsverhältnis materiellrechtlich als freies Dienstverhältnis oder als Arbeitsverhältnis ausgestaltet ist. Auch wenn ein Anstellungsverhältnis zwischen der juristischen Person und dem Mitglied des Vertretungsorgans wegen dessen starker interner Weisungsabhängigkeit als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist und deshalb materielles Arbeitsrecht zur Anwendung kommt, sind zur Entscheidung eines Rechtsstreits aus dieser Rechtsbeziehung die ordentlichen Gerichte berufen.
245
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
941 An der Unzuständigkeit der Arbeitsgerichte ändert sich nach den zutreffenden Feststellungen des BAG nichts, wenn zwischen den Prozessparteien streitig ist, wie das Anstellungsverhältnis zu qualifizieren ist. § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG greift nämlich sogar ein, wenn objektiv feststeht, dass das Anstellungsverhältnis ein Arbeitsverhältnis ist. Die Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG soll gerade sicherstellen, dass die Mitglieder der Vertretungsorgane mit der juristischen Person selbst dann keinen Rechtsstreit im „Arbeitgeberlager“ vor dem Arbeitsgericht führen, wenn die der Organstellung zugrunde liegende Beziehung als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Für Ansprüche der Klagepartei aus dem der Geschäftsführertätigkeit zugrunde liegenden Vertrag sind deshalb die ordentlichen Gerichte ohne Weiteres zuständig. 942 Etwas anderes kann nur gelten, wenn und soweit der Rechtsstreit nicht das der Organstellung zugrunde liegende Rechtsverhältnis betrifft, sondern eine weitere Rechtsbeziehung besteht. Denn insoweit greift die Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG nicht ein. Praxistipp: Das ist z. B. der Fall, wenn der Organvertreter Rechte auch mit der Begründung geltend macht, nach der Abberufung als Geschäftsführer habe sich das nicht gekündigte Anstellungsverhältnis – wieder – in ein Arbeitsverhältnis umgewandelt. Gleiches gilt, wenn die Klagepartei Ansprüche aus einem auch während der Zeit als Geschäftsführer nicht aufgehobenen Arbeitsverhältnis nach Abberufung als Organmitglied geltend macht. Dabei kann es sich um das der Geschäftsführertätigkeit zugrunde liegende Arbeitsverhältnis handeln, wenn der Geschäftsführer – was durch formlose Abrede geschehen kann, ohne dass ein gesonderter „Geschäftsführeranstellungsvertrag erforderlich ist (BAG, v. 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539) – auf dessen Grundlage zum Geschäftsführer bestellt wird. Dies gilt auch für die während der Zeit der Geschäftsführerbestellung auf dieser arbeitsvertraglichen Basis entstandenen Ansprüche (BAG, v. 29.5.2012 – 10 AZB 3/12, n. v.). Wichtig ist deshalb, wie bereits dargelegt, die Kündigung des Anstellungsverhältnisses zeitlich vor der Abberufung vorzunehmen. Dann ist aufgrund der Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG eine Anrufung der Arbeitsgerichte ausgeschlossen (BAG, v. 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539).
943 Diese Grundsätze finden auch bei einer Kündigung des Geschäftsführers in der Insolvenz uneingeschränkt Anwendung, wie das BAG in seinem Beschluss vom 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539
zutreffend klargestellt hat. Denn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ändert an der organschaftlichen Stellung des Geschäftsführers nichts. Die Organstellung des Organs einer juristischen Person bleibt – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH – durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unberührt. Vgl. nur BGH, v. 26.1.2006 – IX ZR 282/03, ZInsO 2006, 260; Uhlenbruck, in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, S. 707.
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I. Kündigungsschutzklage eines GmbH-Geschäftsführers nach Insolvenzeröffnung
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens macht dementsprechend aus gesetz- 944 lichen Vertretern der Schuldnerin keine Arbeitnehmer i. S. d. ArbGG. BAG, v. 4.2.2013 – 10 AZB 78/12, ZIP 2013, 539, dazu EWiR 2013, 501 (Undritz/Röger); GMP/Germelmann/Müller-Glöge, ArbGG § 5 Rn. 45. Praxistipp: Mit diesem prozessualen „Vorteil“ korrespondiert – in der Praxis entscheidend – ein materiell-rechtlicher Vorteil: Wird die Kündigung des der Geschäftsführerstellung zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses – wie hier empfohlen – vor der Abberufung als Geschäftsführer ausgesprochen, finden die §§ 1 ff. KSchG gem. § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG auf die in Rede stehende Kündigung unabhängig davon keine Anwendung, ob das Rechtsverhältnis als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren ist. Der soziale Kündigungsschutz nach §§ 1 ff. KSchG kann dann vom Geschäftsführer nicht nutzbar gemacht werden, um hohe Abfindungen durchzusetzen.
Die Entscheidung beendet eine im vergangenen Jahr aufgeflammte, durch 945 missverständliche Feststellungen desselben Senats verursachte Diskussion um den Kündigungsschutz für Geschäftsführer. Sie entspricht zunächst der ständigen Rechtsprechung des 5. und 6. Senats des BAG sowie der des BGH. Danach ist hinsichtlich der Rechtsverhältnisse von GmbH-Geschäftsführern zu unterscheiden zwischen der Bestellung zum Organ der Gesellschaft und dem schuldrechtlichen Vertragsverhältnis, das der Bestellung zugrunde liegt. Aus der rechtlichen Trennung von Organ- und Anstellungsverhältnis folgt grundsätzlich, dass beide Rechtsverhältnisse rechtlich selbständig nebeneinander stehen. BGH, v. 28.10.2002 – II ZR 146/02, ZIP 2003, 28, dazu EWiR 2003, 259 (Frey).
Durch die Bestellung als solche wird noch keine schuldrechtliche Beziehung 946 zwischen der Gesellschaft und dem Geschäftsführer begründet. BAG, v. 25.10.2007 – 6 AZR 1045/06, NZA 2008, 168.
Behauptet der gekündigte Geschäftsführer, es hätten zwei schuldrechtliche 947 Rechtsverhältnisse bestanden (Geschäftsführerdienstverhältnis und ruhendes Arbeitsverhältnis), hat er im Einzelnen die Tatsachen darzulegen, aus denen sich ergeben soll, dass eine klar unterscheidbare und trennbare Doppelstellung vorlag. BAG, v. 25.10.2007 – 6 AZR 1045/06, NZA 2008, 168; BAG, v. 10.12.1996 – 5 AZB 20/96, BAGE 84, 377 = ZIP 1997, 690.
Der 10. Senat weicht in seiner Rechtsprechung nicht von diesen Vorgaben 948 ab, die der 5. und 6. Senat entwickelt haben. So hatte er bereits in seinem Beschluss vom 26.10.2012 – 10 AZB 60/12, ZIP 2013, 335, dazu EWiR 2013, 305 (Bross)
247
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
angenommen, der Berufung eines Arbeitnehmers zum Geschäftsführer einer GmbH liege zwar eine vertragliche Abrede zugrunde, die regelmäßig als ein Geschäftsführer-Dienstvertrag zu qualifizieren sei und mit der das Arbeitsverhältnis grundsätzlich aufgehoben werde. Zwingend sei dies aber entgegen seinen missverständlichen Ausführungen im Beschluss vom 15.3.2011 – 10 AZB 32/10, NJW 2011, 2684
nicht, die in der Praxis für Verwirrung gesorgt hatten. Deshalb bereits zuvor klarstellend BAG, v. 23.8.2011 – 10 AZB 51/10, BAGE 139, 63 = ZIP 2011, 2175.
949 Denn die Bestellung zum Geschäftsführer einer GmbH könne auch auf einem Arbeitsvertrag beruhen. BAG, v. 26.10.2012 – 10 AZB 60/12, ZIP 2013, 335.
950 Dies ist – wie der 10. Senat nun klargestellt hat – immer dann anzunehmen, wenn die Bestellung zum Geschäftsführer ohne abweichende Abreden auf der Grundlage einer „formlosen“ Absprache erfolgt. Mit Annahme der Bestellung „verzichtet“ der Geschäftsführer infolge der Anwendbarkeit von § 14 Abs. 1 KSchG auf den zuvor bestehenden Kündigungsschutz, wenn eine Kündigung seines Anstellungsverhältnisses vor seiner Abberufung erfolgt. II. Wiederaufnahme eines infolge Insolvenzeröffnung unterbrochenen Klageverfahrens über angeblich rückständige Arbeitsvergütung – Teil 1 (Insolvenzforderung) 951 Durch welche Partei ein durch Insolvenzeröffnung unterbrochenes Klageverfahren wegen angeblich rückständiger Arbeitsvergütung wiederaufgenommen werden kann, richtet sich grundsätzlich danach, ob eine Insolvenzforderung oder eine Masseverbindlichkeit in Rede steht. In welcher Instanz sich das Verfahren befindet, spielt dabei keine Rolle. 952 Die vom Insolvenzverwalter erklärte Aufnahme des durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des beklagten Arbeitgebers gem. § 240 Satz 1 ZPO unterbrochenen Rechtsstreits ist unwirksam, wenn eine Insolvenzforderung in Rede steht. Das hat das BAG in seinem Zwischenurteil vom 15.5.2013 – 5 AZR 252/12 (A), n. v.
unter Hinweis auf § 240 Satz 1 ZPO klargestellt. Denn nach § 240 Satz 1 ZPO bestimmen sich die Voraussetzungen, unter denen ein infolge Insolvenzeröffnung unterbrochener Rechtsstreit aufgenommen werden kann, nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften. Diese differenzieren hinsichtlich der Berechtigung, einen unterbrochenen Rechtsstreit aufzunehmen, danach, ob der Rechtsstreit die Insolvenzmasse betrifft (§§ 85, 86 InsO) oder es sich um eine Insolvenzforderung handelt (§ 87 InsO).
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III. Wiederaufnahme eines unterbrochenen Klageverfahrens – Teil 2
Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) können nach § 87 InsO ihre Forderungen 953 nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen, also im Wege der Anmeldung nach den §§ 174 ff. InsO. Es obliegt daher im Fall einer Insolvenzforderung der Entscheidung des klagenden Arbeitnehmers, ob er seine (in den Vorinstanzen) erfolglos geltend gemachten Forderungen nunmehr zur Tabelle anmeldet und im Falle ihres Bestreitens durch den Insolvenzverwalter die Feststellung nach § 179 Abs. 1 ZPO betreibt. Zu diesem Zwecke muss der Arbeitnehmer nach § 180 Abs. 2 InsO – unter Änderung seines bisherigen Zahlungsantrags – den unterbrochenen Rechtsstreit aufnehmen. Nur wenn für die Forderung des Klägers ein vollstreckbarer Titel vorliegt, 954 obliegt es dem bestreitenden Insolvenzverwalter nach § 179 Abs. 2 InsO, den Widerspruch durch Aufnahme des Verfahrens zu verfolgen. Nimmt er in anderen Fällen – unberechtigt und damit unwirksam – das Verfahren wieder auf, trägt er hierfür die Kosten. BAG, v. 15.5.2013 – 5 AZR 252/12 (A), n. v.; vgl. bereits BGH, v. 15.10.2004 – V ZR 100/04, ZIP 2004, 2345.
III. Wiederaufnahme eines infolge Insolvenzeröffnung unterbrochenen Klageverfahrens über angeblich rückständige Arbeitsvergütung – Teil 2 (Insolvenzforderung) Diese Rechtsprechung hat der 5. Senat in seinem Beschluss vom 28.8.2013
955
– 5 AZN 426/13 (F), NZA 2013, 1303
in einem Fall fortgeführt, in dem die Parteien über die Vergütung von Überstunden stritten. Das Arbeitsgericht hatte der Klage stattgegeben; das Landesarbeitsgericht die Berufung des vormaligen Beklagten (jetzt Insolvenzschuldner) zurückgewiesen. Es hatte die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtete sich die auf den 20.6.2012 datierte und am 2.7.2012 beim BAG eingegangene Beschwerde des Insolvenzschuldners. Über dessen Vermögen war allerdings am 22.6.2012 das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt worden. Mit Schriftsatz vom 29.4.2013 beim BAG eingegangen am 2.5.2013 und dem Insolvenzverwalter zugestellt am 6.5.2013 hat der Kläger den Rechtsstreit gegen den Insolvenzverwalter aufgenommen. Dieser hat daraufhin mitgeteilt, er nehme den Rechtsstreit nicht auf. Konsequenz der zwischenzeitlichen Eröffnung des Insolvenzverfahrens war 956 nach der zutreffenden Bewertung des BAG, dass der Kläger das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde mit der Zustellung des Schriftsatzes vom 29.4.2013 (§ 250 ZPO) zwar wirksam aufgenommen hatte. Die Nichtzulassungsbeschwerde war vom ehemaligen Beklagten und jetzigen Insolvenzschuldner aber nicht wirksam eingelegt worden.
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H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
1. Wirksame Verfahrenswiederaufnahme 957 Von einer wirksamen Verfahrenswiederaufnahme war auszugehen. Denn ist in einem Insolvenzverfahren eine Forderung vom Insolvenzverwalter oder von einem Insolvenzgläubiger bestritten worden, bleibt es nach § 179 Abs. 1 InsO dem Gläubiger überlassen, die Feststellung gegen den Bestreitenden zu betreiben. War zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens – wie hier – ein Rechtsstreit über die Forderung anhängig, ist die Feststellung durch Aufnahme des Rechtsstreits zu betreiben (§ 180 Abs. 2 InsO). Dabei obliegt es zwar gem. § 179 Abs. 2 InsO dem Bestreitenden, den Widerspruch zu verfolgen, wenn für eine Forderung – wie im vorliegenden Fall – ein vollstreckbarer Schuldtitel oder ein Endurteil vorliegt. Es ist aber auch der Gläubiger der Forderung zur Aufnahme befugt, wenn der Bestreitende seinen Widerspruch nicht verfolgt. BGH, v. 31.10.2012 – III ZR 204/12, ZIP 2012, 2369, dazu EWiR 2012, 799 (Eckardt).
958 Nichts anderes gilt dann, wenn – wie hier – nach nicht bestrittenem Vorbringen des Gläubigers der Insolvenzverwalter gänzlich untätig bleibt und eine angemeldete titulierte Forderung entgegen § 175 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht einmal in die Tabelle einträgt. 959 Die Aufnahme des Rechtsstreits ist dann – wie das BAG in Übereinstimmung mit der entsprechenden Rechtsprechung des BGH, BGH, v. 31.10.2012 – III ZR 204/12, ZIP 2012, 2369,
feststellt – auch dann möglich, wenn dieser zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Revisionsinstanz in einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren anhängig war. 960 Betreibt der Gläubiger die Feststellung, ist Aufnahmegegner der Bestreitende oder der untätig gebliebene Insolvenzverwalter. Dieser tritt an Stelle des Schuldners in den Rechtsstreit ein. Vgl. BGH, v. 31.10.2012 – III ZR 204/12, ZIP 2012, 2369.
961 Der Kläger verfolgt in derartigen Fällen nach den Feststellungen des BAG mit der Aufnahme des Beschwerdeverfahrens gegen den Insolvenzverwalter auch ein sinnvolles Rechtsschutzziel. Denn sollte das BAG die Revision nicht zulassen, würde das Berufungsurteil rechtskräftig (§ 72a Abs. 5 Satz 6 ArbGG). 2. Unzulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde 962 War die Aufnahme des Verfahrens damit wirksam, war die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde aber unzulässig. Denn mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 22.6.2012 hatte der Schuldner und ehemalige Beklagte die Prozessführungsbefugnis verloren (§ 80 Abs. 1 InsO), die Prozessvollmacht des die Nichtzulassungsbeschwerde einlegenden Rechtsanwalts ist zu diesem Zeitpunkt erloschen (§ 117 Abs. 1 InsO). Vgl. BAG, v. 24.6.2009 – 10 AZR 707/08 (F), NJW 2009, 3529.
250
IV. Keine Passivlegitimation für Kündigungsschutzklage nach Freigabe
Damit war der Schuldner zum Zeitpunkt des Eingangs der Nichtzulassungs- 963 beschwerde beim BAG nicht mehr wirksam vertreten. Ob der Insolvenzverwalter die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde durch den nicht mehr prozessführungsbefugten Schuldner hätte genehmigen können, konnte das BAG offenlassen. Denn die Mitteilung des Insolvenzverwalters, den Rechtstreit nicht aufzunehmen, gab keinen Anlass für die Annahme, der Insolvenzverwalter wolle sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Schuldners zu eigen machen. Praxistipp: Die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig hat zur Folge, dass der Insolvenzverwalter zu Lasten der Masse nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen hat. Insolvenzverwalter sollten daher unmittelbar nach ihrer Bestellung prüfen, welche Rechtstreite anhängig sind und über die Fortsetzung der Rechtstreite zu einem Zeitpunkt entscheiden, der die Wahrung der im Rechtstreit laufenden Frist noch ermöglicht.
IV. Keine Passivlegitimation des Insolvenzverwalters für Kündigungsschutzklage nach Freigabe gem. § 35 Abs. 2 InsO Mit den Auswirkungen einer Insolvenzeröffnung auf die Passivlegitimation 964 und den weiteren Auswirkungen einer Freigabe gem. § 35 Abs. 2 InsO hat sich das BAG in seinem Urteil vom 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, n. v. (Pressemitteilung)
beschäftigt. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers nach § 80 Abs. 1 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die bestehenden Arbeitsverhältnisse auf den Insolvenzverwalter übergeht. Im entschiedenen Fall war der Kläger seit 6.5.2010 beim Schuldner, der als 965 Einzelunternehmer einen Kurier- und Kleinsttransportbetrieb führte, als Kraftfahrer beschäftigt. Am 15.5.2010 kündigte der Schuldner das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich. Am 20.5.2010 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. Einen Tag später erklärte der Beklagte gegenüber dem Schuldner, dass er die von ihm ausgeübte selbständige Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse freigebe. Mit seiner am 1.6.2010 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage wollte der Kläger gegenüber dem Insolvenzverwalter festgestellt wissen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht fristlos, sondern ordentlich beendet wurde. Folge des Übergangs der Verwaltung- und Verfügungsbefugnis auf den In- 966 solvenzverwalter ist nach der Rechtsprechung des BAG, dass eine Kündigungsschutzklage ab dem Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung gegen den Insolvenzverwalter in seiner Eigenschaft als Partei kraft Amtes zu richten.
251
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen Praxistipp: Dies gilt nach den Feststellungen des BAG auch dann, wenn die Kündigung noch vom Insolvenzschuldner erklärt wurde.
967 Übt der Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aber eine selbständige Tätigkeit aus und gibt der Insolvenzverwalter diese nach § 35 Abs. 2 InsO aus der Insolvenzmasse frei, fällt die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis mit Wirksamwerden der Freigabeerklärung auch über die zu diesem Zeitpunkt bereits begründeten Arbeitsverhältnisse an den Schuldner zurück. Ab dann ist – wie das BAG in der vorliegenden Entscheidung klarstellt – der Schuldner und nicht mehr der Insolvenzverwalter passiv legitimiert für eine Kündigungsschutzklage. Praxistipp: Arbeitnehmervertreter müssen dementsprechend genau prüfen, wer gerade die Arbeitgeberstellung innehat, der Insolvenzverwalter oder noch bzw. – aufgrund Freigabe – schon wieder der Schuldner.
V. Berechnung des pfändbaren Anteils des Arbeitseinkommens 968 Lohnpfändungen spielen in der Abrechnungspraxis eine ganz erhebliche Rolle. In seiner Entscheidung vom 17.4.2013 – 10 AZR 59/12, ZIP 2013, 1984
hat das BAG wichtige Klarstellungen zur Berechnungsmethode des pfändbaren Einkommens getroffen, welche die Lohnabrechnung zwar leicht komplizieren können, aber mit Blick auf die Interessen der Gläubiger überzeugen. Auf der Grundlage dieser Entscheidung wird die Praxis bei der Berechnung des pfändbaren Einkommens gem. § 850e Nr. 1 Satz 1 ZPO – entgegen der bislang herrschenden Meinung – nicht länger die sog. Bruttomethode, sondern die sog. Nettomethode anwenden müssen. Dies bedeutet, dass die der Pfändung entzogenen Bezüge mit ihrem Bruttobetrag vom Gesamteinkommen abzuziehen sind. Ein erneuter Abzug der auf diesen Bruttobetrag entfallenden Steuern und Abgaben erfolgt nicht. 1. Anwendbarkeit der Nettomethode 969 Mit seiner Entscheidung wendet sich das BAG gegen die bislang herrschenden Meinung, nach der von dem Gesamtbruttoeinkommen des Arbeitnehmers zunächst die nach § 850a ZPO unpfändbaren Bezüge mit dem Bruttobetrag und anschließend die auf das Gesamtbruttoeinkommen (d. h. einschließlich der unpfändbaren Bezüge) zu zahlenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen sind (sog. Bruttomethode). Vgl. für viele LAG Berlin, v. 14.1.2000 – 19 Sa 2154/99, NZA-RR 2000, 657; LAG München, v. 30.5.2007 – 7 Sa 1089/06, n. v.;
252
V. Berechnung des pfändbaren Anteils des Arbeitseinkommens LG Mönchengladbach, v. 1.2.2005 – 5 T 631/04, NZI 2006, 49; VG Düsseldorf, v. 15.6.2012 – 26 K 5884/11, n. v.; Smid, in: MünchKomm-ZPO, § 850e Rn. 2, 4.
Die auf die unpfändbaren Bezüge entfallenden Steuern und Sozialversiche- 970 rungsbeiträge werden nach dieser Ansicht also zweimal in Abzug gebracht. Dies soll – nach dieser Auffassung – im Hinblick auf die Schutzwürdigkeit des Schuldners und vereinfachte Rechenwege hinnehmbar sein. Im Anschluss an die – zutreffende – Gegenansicht im Schrifttum, vgl. zuletzt Bauckhage-Hoffer/Umnuß, NZI 2011, 745, 747 ff.; im Ergebnis auch ArbG Aachen, v. 21.2.2006 – 4 Ca 4544/05, FamRZ 2007, 63,
hat der 10. Senat BAG nun ausdrücklich die Nettomethode für anwendbar erklärt. Dies war bereits in der Entscheidung des 6. Senats vom 5.12.2002 – 6 AZR 569/01, NZA 2003, 802
angelegt, in dem dieser die Aufrechnung eines Arbeitgebers gegen Lohnforderungen des Arbeitnehmers für gem. § 394 Satz 1 BGB unzulässig gehalten hatte, weil der Kläger im maßgeblichen Monat neben dem stetigen Monatslohn Anspruch auf Überstundenvergütung hatte und der Arbeitgeber nicht dargelegt hatte, welcher Teil des auf der Lohnabrechnung ausgewiesenen Gesamtnettobetrags der Überstundenvergütung zuzurechnen sei. Dieser Argumentation liegt – worauf der 10. Senat in seiner Entscheidung zu Recht hinweist – bereits die Nettomethode zugrunde. Denn nach der Bruttomethode wäre das pfändbare Einkommen nach Maßgabe der auf der Lohnabrechnung ausgewiesenen Bruttobeträge und abzuführenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge errechenbar gewesen. Entgegengetreten ist der 10. Senat damit ausdrücklich auch dem Urteil des 971 8. Senats, BAG, v. 4.4.1989 – 8 AZR 689/87, n. v.,
in dem dieser – ohne die Streitfrage zu erörtern – im Ergebnis der Bruttomethode gefolgt war. 2. Wesentliche Überlegungen des Bundesarbeitsgerichts Maßgeblich waren für den 10. Senat dabei – angesichts eines als unergiebig 972 empfundenen Wortlauts des § 850e ZPO und einer (jedenfalls in dem von der Gegenansicht herangezogenen Teil) ebenso empfundenen Gesetzesbegründung – letztlich teleologische Überlegungen. Denn das gesetzgeberische Ziel spreche entscheidend für die Nettomethode. Sie führe durchweg zu plausiblen und dem Gesetzeszweck dienenden Ergebnissen. Sie sichere den mit den Pfändungsschutzvorschriften beabsichtigten sozialen Schutz des Schuldners und vermeide die mit der Bruttomethode einhergehende und mit der gesetzgeberischen Absicht in keinem vernünftigen Zusammenhang stehende Benachteiligung des Pfändungsgläubigers. 253
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen Vgl. zum Ausgleich der verfassungsrechtlich geschützten Belange von Schuldner und Gläubiger als Gesetzesziel: BT-Drucks. 17/2167, S. 12 f.
3. Berechnung des pfändungsfreien Arbeitsentgelts bei Unterhaltsleistungen 973 In seinem Urteil vom 28.8.2013 – 10 AZR 32/12, BB 2013, 2804 (LS)
hat der 10. Senat des BAG darüber hinaus klargestellt, dass solange der Schuldner mit seiner früheren Ehefrau in häuslicher Gemeinschaft lebt, davon auszugehen ist, dass die Ehegatten nach § 1360 BGB, § 1360a BGB einander Naturalunterhalt leisten und die Ehefrau als unterhaltsberechtigte Person im Rahmen von § 850c Abs. 1 Satz 2 ZPO zu berücksichtigen ist. Mit der Auflösung der häuslichen Gemeinschaft ist die getrennt lebende Ehefrau nur dann als unterhaltsberechtigte Person zu berücksichtigen, wenn der Schuldner ihr tatsächlich Unterhalt leistet. Praxistipp: Das hat auch Auswirkungen auf die Klagebefugnis in der Insolvenz. Denn Nach § 36 Abs. 1 InsO gehört pfändungsfreies Arbeitsentgelt i. S. d. § 850c ZPO nicht zur Insolvenzmasse. Der Arbeitnehmer ist deshalb trotz Insolvenzeröffnung über sein Vermögen insoweit klagebefugt.
VI. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs und der Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens auf eine Lohnpfändung 974 Nachdem das BAG in seinem Urteil vom 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, ZInsO 2013, 1806
klargestellt hat, dass die Arbeitskraft des Schuldners und dessen Arbeitsverhältnis als solches nicht zur Insolvenzmasse gehören und daher nicht dem Verfügungsverbot des § 81 Abs. 1 Satz 1 InsO unterfallen, sodass ein Schuldner auch nach Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens über den Inhalt seines Arbeitsvertrages ohne Zustimmung des Treuhänders verfügen kann, werden Treuhänder zunehmend genauer prüfen müssen, wann verschleiertes Arbeitseinkommen vorliegt. Denn angesichts der grundsätzlich schrankenlos gewährleisteten Verfügungsfreiheit des schuldnerischen Arbeitnehmers über seinen Arbeitsvertrag und dessen Inhalt, muss besonderes Augenmerk auf die gesetzlich normierten Grenzen in dieser Verfügungsfreiheit gelegt werden. Besondere Beachtung verdienen dabei die Vorgaben über verschleiertes Arbeitseinkommen i. S. d. § 850h ZPO. Zu dessen Behandlung hat das BAG in seinem Urteil vom 16.5.2013 – 6 AZR 556/11, ZIP 2013, 1433, dazu EWiR 2013, 723 (H. Schröder)
wichtige Klarstellungen getroffen. 254
VI. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs
1. Sachverhalt Im entschiedenen Fall betrieben sowohl die Klägerin als auch der Beklagte, 975 bei dem der Schuldner als Arbeitnehmer tätig war, Lebensmitteleinzelhandelsgeschäfte. Im Februar 2010 gliederte das Beklagte das von ihm betriebene Einzelhandelsunternehmen unter Übertragung aller Aktiva und Passiva in eine neugegründete GmbH aus. Wegen Zahlungsverzugs des Schuldners hatte die Klägerin gegenüber der Beklagten einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirkt, der ihm im Juli 2008 zugestellt worden und durch dem u. a. die Ansprüche des Schuldners gegen das ausgegliederte Unternehmen auf Zahlung von Arbeitseinkommen einschließlich einer angemessenen Vergütung nach § 850h Abs. 2 ZPO gepfändet und der Klägerin zur Einziehung überwiesen worden war. Während des gerichtlichen Verfahrens zwischen der Klägerin und dem Be- 976 klagten auf Zahlung des gepfändeten Arbeitseinkommens wurde im Juni 2010 das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. In der Revision stritten die Parteien zuletzt darüber, ob die Klägerin ungeachtet der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners weiter aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vollstrecken kann. Die Klägerin hatte einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erwirkt und dem Beklagten zugestellt, durch den die Ansprüche des Schuldners gegen den übertragenen Rechtsträger auf Zahlung des gesamten Arbeitseinkommens einschließlich in Höhe einer angemessenen Vergütung nach § 850h Abs. 2 ZPO sowie künftig fällig werdende Ansprüche bis zur vollständigen Befriedigung pfändet und der Klägerin zur Einziehung überwiesen wurden. Mit ihrer dem beim BAG geführten Rechtsstreit zugrunde liegenden Klage 977 nahm die Klägerin den Beklagten auf Zahlung des pfändbaren Teils des verschleierten Arbeitseinkommens des Schuldners und auf Schadensersatz in Anspruch. Nach den unstreitigen Feststellungen des Landesarbeitsgericht übte der Schuldner für den Beklagten eine Vollzeittätigkeit aus, für die ein Tarifentgelt der Gruppe V des Tarifvertrages über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütung und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg zugrunde zu legen war. Aus dieser angemessenen Vergütung errechnete sich für den streitgegenständigen Zeitraum ein pfändbarer Betrag von 13.682,60 €. Das fiktive Arbeitseinkommen des Schuldners war unstreitig so hoch, dass zumindest der von der Klägerin geforderte Betrag von monatlich 612,40 € pfändbar wäre. Nach den Feststellungen des BAG muss der Beklagte aufgrund der Freigabe- 978 erklärung der Treuhänderin bis zum Ablauf des Nachhaftungszeitraumes nach § 157 Abs. 1 UmwG den pfändbaren Teil des verschleierten Arbeitseinkommens des Schuldners aus dessen Arbeitsverhältnis mit seinem neuen Arbeitgeber monatlich 612,40 € an die Klägerin zahlen, solange die Voraussetzungen der §§ 832 f. ZPO erfüllt sind.
255
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
979 Anknüpfend an seine Entscheidung vom 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, ZIP 2008, 1935 = NZA 2009, 790, dazu EWiR 2008, 765 (Matthießen)
zur Haftung der an einer Spaltung beteiligten Rechtsträger für die Weitergeltung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses nach Ausgliederung sowie des 6. Senats vom 17.9.2009 – 6 AZR 369/08, ZIP 2010, 952 = NZA 2010, 300
und des BGH vom 24.3.2011 – IX ZB 217/08, ZIP 2011, 871 = NJW-RR 2011, 1495, dazu EWiR 2011, 511 (Lüke/Scherz)
zu den Auswirkungen der Eröffnungen des Insolvenzverfahrens auf Pfändungsund Überweisungsbeschlüsse trifft das BAG insoweit in seiner Entscheidung vom 16.5.2013 – 6 AZR 556/11, ZIP 2013, 1433, dazu EWiR 2013, 723 (H. Schröder)
wichtige Klarstellungen. 2. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs auf eine Lohnpfändung 980 Dies gilt zunächst für die Haftung nach §§ 156 f. UmwG für Verbindlichkeiten aus Arbeitsverhältnissen: 981 Der übertragende Rechtsträger hafte gem. § 156 UmwG weiter für die von dem übernehmenden Rechtsträger übernommenen Verbindlichkeiten. Dies begründe auch seine Passivlegitimation. 982 § 133 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 UmwG ordne zwar allgemein die gesamtschuldnerische Haftung von übertragendem und übernehmenden Rechtsträger für die vor Wirksamwerden der Spaltung begründeten Verbindlichkeiten an. Für die Haftung des Einzelkaufmanns werde diese allgemeine Haftungsanordnung aber durch §§ 156 f. UmwG als leges speciales verdrängt, soweit der Regelungsgehalt der Vorschriften übereinstimme. 983 Der Einzelkaufmann hafte daher nach §§ 156 f. UmwG für die übertragenen Verbindlichkeiten. Der Haftungsumfang bestimmt sich ebenso wie bei § 133 Abs. 1 Satz 1 UmwG danach, ob die übertragene Altverbindlichkeit vor dem Wirksamwerden der Ausgliederung begründet worden ist. Darauf ob die weiteren Voraussetzungen für die Entstehung der Verbindlichkeiten erst danach eingetreten sind, kommt es nicht an. Bei Dauerschuldverhältnissen wie dem Arbeitsverhältnis sei die Rechtsgrundlage für die einzelne Schuldverpflichtung bereits in dem Vertrag selbst angelegt. Sie sind mit Abschluss des Arbeitsvertrages begründet i. S. d. § 156 Satz 1 UmwG, auch wenn die weiteren Voraussetzungen ihres Entstehens erst später erfüllt werden, insbesondere, wenn sie erst später fällig werden. 256
VI. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs
Die Ausgliederung auf den übernehmenden Rechtsträger hinderte die Kläge- 984 rin im entschiedenen Fall vor diesem Hintergrund nicht daran, weiterhin auch gegen den übertragenen Rechtsträger aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss vorzugehen, soweit und solange dieser §§ 156 f. UmwG noch für den pfändbaren Teil des verschleierten Arbeitseinkommens des Schuldners mithaftet. Sodann stellt das BAG klar, wie sich eine umwandlungsbedingte Übertra- 985 gung des Arbeitsverhältnisses auf Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse in Bezug auf Arbeitseinkommen auswirkt: Die Einkommenspfändung durch den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss 986 erfasse mit ihrem bisherigen Rang auch die fiktiven Einkünfte des Schuldners, die er seit dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den übernehmenden Rechtsträger erzielt habe und erziele. Denn die Ausgliederung auf den übernehmenden Rechtsträger, die zu einem Betriebsübergang geführt habe, habe keine Änderung des Dienstherrn i. S. d. § 833 Abs. 1 Satz 2 ZPO zur Folge. Der Betriebsübergang auf den übernehmenden Rechtsträger stelle keine Neubegründung des Arbeitsverhältnisses im Sinne dieser Vorschrift dar. Vielmehr bliebe bei Anlegen der erforderlichen wirtschaftlichen Betrachtungsweise die Identität des Arbeitgebers unverändert. Das verschleierte Arbeitseinkommen wurde und werde im Rahmen einer einheitlichen Rechtsbeziehung erzielt, bei der das Arbeitsverhältnis wirtschaftlich gleichbleibend ausgestaltet sei. Der Pfändungs- und Überweisungsbeschluss entfaltet vor diesem Hinter- 987 grund nach den Feststellungen des BAG seit der Übertragung auf den übernehmenden Rechtsträger nicht nur Wirkung gegenüber dem übernehmenden Rechtsträger, sondern auch weiterhin gegenüber dem übertragenen Rechtsträger, soweit er nach §§ 156 f. UmwG für die Verbindlichkeiten des einzelkaufmännischen Unternehmens und damit auch für den pfändbaren Teil des verschleierten Arbeitseinkommens, das der Schuldner bei der übernehmenden Rechtsträger erzielt, für die Zeit der Nachhaftung mithaftet. Andernfalls wäre nach der zutreffenden Bewertung des BAG der von §§ 156 f. 988 UmwG bezweckte Gläubigerschutz nicht ausreichend gewährleistet. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers soll eine Spaltung nicht dazu genutzt werden können, Verbindlichkeiten auf eine nicht ausreichend ausgestattete Gesellschaft zu übertragen und dadurch die Gläubiger zu gefährden. Die gemeinsame Haftung der an der Spaltung beteiligten Rechtsträger im Außenverhältnis soll derartigen Missbräuchen vorbeugen. Vgl. BT-Drucks. 12/6699, S. 122; BAG, v. 11.3.2008 – 3 AZR 358/06, BAGE 126, 120 = ZIP 2008, 1935.
Dieses gesetzgeberische Ziel würde – so das BAG – verfehlt, wenn die Pfän- 989 dung von (verschleierten) Entgeltansprüchen nicht auch die Mithaftung des übertragenen Rechtsträgers erfasse und sich der Gläubiger nach einer Aus257
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
gliederung allein an den übernehmenden Rechtsträger halten bzw. unter Verlust des Rangs die Ansprüche gegenüber dem mithaftenden Rechtsträger erneut pfänden müsste. 3. Auswirkungen der Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens auf eine Lohnpfändung 990 Im Anschluss stellt das BAG anknüpfend an seine bisherige Rechtsprechung und die Rechtsprechung des BGH klar, wie sich die Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens auf die Pfändungsmöglichkeiten beim Arbeitnehmer auswirkt und trifft dabei insbesondere Klarstellungen zur Wirkungsweise des § 114 Abs. 3 InsO. 991 Ist über das Vermögen des Schuldners zwischenzeitlich das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet worden, gelten für verschleiertes Arbeitseinkommen nach den Feststellungen des BAG folgende Grundsätze: 992 Auch verschleiertes Arbeitseinkommen i. S. d. § 850h Abs. 2 ZPO gehöre in Höhe des pfändbaren Teils der angemessenen Vergütung zur Insolvenzmasse. Denn gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO sei u. a. § 850h Abs. 2 ZPO entsprechend anwendbar. Damit werde die Masse zugunsten der Gesamtheit der Gläubiger um den pfändbaren Teil des verschleierten Arbeitseinkommens erweitert. Das verschleierte Arbeitseinkommen solle insoweit der Gesamtheit der Gläubiger und nicht nur dem Gläubiger, der das Einkommen gepfändet habe, zugutekommen. Um diese Gleichbehandlung sicherzustellen, werde die zukünftige Wirkung vollstreckungsmäßiger Verfügungen über die Bezüge aus einem Dienstverhältnis für die Zwecke und die Dauer des Insolvenzverfahrens von § 114 Abs. 3 InsO durchbrochen. Vgl. BGH, v. 24.3.2011 – IX ZB 217/08, ZIP 2011, 871 = NJW-RR 2011, 1495.
993 § 114 Abs. 3 InsO begrenze die zeitliche Wirksamkeit einer im Wege der Zwangsvollstreckung ausgebrachten Pfändung der Bezüge und ersetze den Prioritätsgrundsatz des § 804 Abs. 3 ZPO durch das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung. Vgl. auch BAG, v. 17.9.2009 – 6 AZR 369/08, BAGE 132, 125 = ZIP 2010, 952.
994 Abweichend von § 91 InsO lasse § 114 Abs. 3 InsO zwar die Einziehung des verschleierten Arbeitseinkommens durch den Lohnpfändungsgläubiger noch für den Monat zu, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet ist, bzw. – bei Eröffnung nach dem 15. eines Monats – auch noch für den Folgemonat. Insoweit privilegiere diese Bestimmung die durch den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erreichte Sicherung. Nach Ablauf dieses Zeitraumes verliere aber die Pfändung des Arbeitseinkommens und damit auch die des pfändbaren Teils des verschleierten Arbeitseinkommens ihre Wirkung. Vgl. zu § 114 Abs. 3 InsO allgemein BAG, v. 17.9.2009 – 6 AZR 369/09, BAGE 132, 125 = ZIP 2010, 952.
258
VI. Auswirkungen eines spaltungsbedingten Betriebsübergangs
Den pfändbaren Teil der angemessenen Vergütung könne nunmehr nur noch 995 der Insolvenzverwalter bzw. Treuhänder vom Arbeitgeber beanspruchen. Vgl. BAG, v. 12.3.2008 – 10 AZR 148/07, BAGE 126, 137 = ZIP 2008, 979, dazu EWiR 2008, 479 (Holzer).
Keine Rolle spielt für das Eingreifen von § 114 Abs. 3 InsO, wenn bei einem 996 unredlichen Schuldner keine Restschuldbefreiung erfolgt. Besondere Grundsätze gelten nach den Feststellungen des BAG aber für die Freigabe verschleierten Arbeitseinkommens: Die Insolvenzordnung lasse die Freigabe einzelner Vermögensgegenstände 997 durch den Insolvenzverwalter aus dem Insolvenzbeschlag zu. Für die Verbraucherinsolvenz ergebe sich das insbesondere aus § 314 InsO. Im Fall der sog. echten Freigabe werde der freigegebene Gegenstandsteil des 998 sonstigen Vermögens i. S. d. § 89 Abs. 1 InsO und deshalb vom Vollstreckungsverbot erfasst. BGH, v. 12.2.2009 – IX ZB 112/06, ZIP 2009, 818.
Denkbar sei aber auch eine sog. „modifizierte“ Freigabe. Eine derartige Frei- 999 gabe liege vor, wenn der Insolvenzverwalter oder Treuhänder das verschleierte Arbeitseinkommen des Schuldners aus dem Massebeschlag zugunsten eines bestimmten Gläubigers – hier: der Klägerin – freigegeben habe. Dies bewirke, dass die nur zeitweilige Durchbrechung der Wiederholungswirkung der Pfändung fortlaufender Bezüge durch § 114 Abs. 3 InsO, vgl. BGH, v. 24.3.2011 – IX ZB 217/08, ZIP 2011, 874 = NJW-RR 2011, 1495, dazu EWiR 2011, 511 (Lüke/Scherz),
beendet und die Zwangsvollstreckung aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss durch den begünstigten Gläubiger wieder zugelassen werde. Eine derartige Freigabe sei jedenfalls dann zulässig, wenn der begünstigte 1000 Gläubiger zugleich verpflichtet werde, das beigetriebene verschleierte Arbeitseinkommen – unter Abzug der ihm entstandenen Kosten – an die Insolvenzmasse abzuführen. Vorrangiger Zweck des Insolvenzverfahrens sei es zwar unter Berücksichtigung der Lage des Schuldners, die Forderung der Gläubiger bestmöglich zu befriedigen. Unter Berücksichtigung dieses Zweckes bestehe für die modifizierte Freigabe vorliegend aber ein rechtlich schutzwürdiges Bedürfnis. Denn mit der modifizierten Freigabe soll der im vorliegenden Rechtsstreit erreichte Prozesserfolg gesichert und der pfändbare Teil des verschleierten Arbeitseinkommens des Schuldners zur Masse zur gemeinsamen Befriedigung der Gläubiger zugeführt werden. Hintergrund für diese Feststellung ist, dass die Klägerin im entschiedenen 1001 Fall unter Aufwendung nicht erheblicher Kosten Tatsachen ermittelt hatte, aus denen sich nach den rechtskräftigen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ein erheblicher Pfändungsbetrag ergab. Es war zur Überzeugung des BAG nicht ausgeschlossen, sondern vielleicht sogar naheliegend, dass der Be259
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
klagte im Falle einer Klage der Treuhänderin auf Abführen des verschleierten Arbeitseinkommens die Höhe dieses Einkommens in Abrede stellen würde. Ohnehin würde ein erneuter Prozess die Masse mit Kosten der Rechtsverfolgung belasten. Der erreichte Prozesserfolg ließ sich deshalb ohne weitere Belastung der Masse nur sichern, indem das BAG der Klägerin ermöglicht, im Interesse der Masse den anhängigen Rechtstreit materiell erfolgreich auch für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners zu führen. Dies wird durch die modifizierte Freigabeerklärung i. V. m. der Verpflichtung der Klägerin, jedenfalls die Beträge, die über die von ihr aufgerollten Kosten hinausgehen an die Masse abzuführen für die Zukunft erreicht. Praxistipp: Da es sich bei der Freigabeerklärung um ein Gestaltungsrecht handelt, wirkt es nur für die Zukunft. Eine Rückwirkung von Gestaltungsrechten will das BAG nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung zulassen, an der es im Rahmen des Insolvenzverfahrens fehlt. In diesem Zusammenhang wirkt § 114 Abs. 3 InsO wie folgt: Der von der Klägerin erwirkte Pfändungs- und Überweisungsbeschluss sei durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, die die Wirkung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses hatte (BAG, v. 12.3.2008 – 10 AZR 148/07, BAGE 126, 137 = ZIP 2008, 979), nicht verdrängt worden. Die von § 114 Abs. 3 InsO angeordnete befristete Wirksamkeit von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens führe nach Ablauf dieser Frist nicht zur Unwirksamkeit der darin enthaltenen Vollstreckungsanordnungen. § 114 Abs. 3 InsO zwinge den Pfändungspfandgläubiger nicht, den vom ersten Pfändungsbeschlag begründeten Zeitrang seines Rechts aufzuopfern, sondern beschränke seine durch die Zwangsvollstreckung erreichte Rechtsposition nur, soweit und solange die Zwecke des Insolvenzverfahrens dies rechtfertigen (BAG, v. 24.3.2011 – IX ZB 217/08, ZIP 2011, 871 = NJW-RR 2011, 1495).
1002 Durch die Freigabeerklärung sei mit deren Wirksamwerden die zeitweilige Durchbrechung der Wiederholungswirkung der Pfändung des verschleierten Arbeitseinkommens des Schuldners beendet. Die Klägerin könne seitdem mit dem durch den erstmals zugestellten Pfändungs- und Überweisungsbeschluss erreichten Rang bis zum Ablauf der erreichten Nachhaftungsgrenze des § 157 UmwG wieder die Zwangsvollstreckung betreiben. 1003 Mit der Anerkennung der modifizierten Freigabe und seinen Feststellungen zum spaltungsbedingten Arbeitgeberwechsel trifft das BAG für die Vollstreckungspraxis wichtige Klarstellungen. Gläubiger sollten im Fall anhängiger Rechtsstreite mit erheblichen Investitionen in die Sachverhaltsaufklärung (typischerweise Detektivkosten) und entsprechenden gerichtlichen Feststellungen vor oder während eines laufenden Verbraucherinsolvenzverfahrens auf eine modifizierte Freigabe hinwirken, um den erreichten Erfolg für die Masse zu sichern und einen Kostenersatz sicherzustellen. Bedeutung hat die Entscheidung, soweit sie § 114 Abs. 3 InsO betrifft, allerdings nur noch bis zu
260
VII. Streitwert einer Klage auf Feststellung zur Insolvenztabelle
dessen Streichung mit Wirkung zum 1.7.2014, über die an anderer Stelle berichtet wurde (vgl. Rn. 14 ff.). VII. Streitwert einer Klage auf Feststellung zur Insolvenztabelle In seinem Beschluss vom 5.8.2013
1004
– 1 Ta 217/13, NZI 2013, 7
hat das LAG Hessen noch einmal bestätigt, dass sich der Wert des Streitgegenstandes einer Klage auf Feststellung einer Forderung, deren Bestand vom Insolvenzverwalter oder von einem Insolvenzgläubiger bestritten wird, nach dem Betrag richtet, der bei der Verteilung der Insolvenzmasse für die Forderung zu erwarten ist (§ 182 InsO). Dieser sei nach dem gerichtlichen Ermessen zu schätzen. Vgl. auch LAG Rheinland-Pfalz, v. 1.3.2010 – 1 Ta 16/10, n. v.
Hierbei könne das Gericht für die Schätzung auf Angaben des Insolvenzver- 1005 walters als Grundlage für die Wertbestimmung zurückgreifen. Hierbei besteht nach den Feststellungen des LAG Nürnberg im Beschluss 1006 vom 1.2.2013 – 4 Ta 167/12, ZInsO 2013, 627
keine generelle Verpflichtung, die Insolvenzakten beizuziehen und auszuwerten. Vielmehr könne regelmäßig die Auskunft des Insolvenzverwalters die Grundlage für die Wertbestimmung sein. Nur wenn entsprechende Anhaltspunkte dafür vorliegen, seien vom Gericht weitere Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen. Hierbei seien auch eventuelle Einwendungen des Beschwerdegegners der anderen Prozessparteien zu beachten und zu würdigen. Vgl. bereits LAG Rheinland-Pfalz, v. 1.3.2010 – 1 Ta 16/10, n. v.
Insoweit ist nach den Feststellungen des LAG Hessen im Beschluss vom 1007 5.8.2013 – 1 Ta 217/13, NZI 2013, 7
zu berücksichtigen, dass eine Insolvenzgeldbescheinigung mangels konstituierender Wirkung keine Bindungswirkung für den Leistungsträger des Insolvenzgeldes oder die Gerichte entfaltet, sondern lediglich den Kenntnisstand über offene Gehaltsansprüche vermittele. Vgl. bereits LAG Hessen, v. 1.12.2011 – 2 Ta 253/11, n. v.; LSG Bayern, v. 22.7.2010 – L 10 AL 78/08, n. v.
Somit wäre ihr Wert auch nur wie der eines vom Arbeitgeber aufgrund einer 1008 Vergleichsvereinbarung zu erteilenden Arbeitspapiers zu bemessen. Vgl. bereits LAG Hessen, v. 9.7.2003 – 15 Ta 123/03, LAGE § 10 BRAGO Nr. 15 = NZA-RR 2003, 660.
261
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
1009 Ergänzend hierzu hat das LAG Nürnberg in seinem Beschluss vom 1.2.2013 – 4 Ta 167/12, ZInsO 2013, 627
klargestellt, dass § 182 InsO bei allen Klagen gem. §§ 179, 180 InsO auf Feststellung einer bestrittenen Insolvenzforderung als Sonderregelung zu der allgemeinen Wertvorschrift des § 40 GKG zu berücksichtigen ist. Dies gelte sowohl bei einer Neuklage als auch einer Prozessaufnahme. Vgl. bereits LAG Baden-Württemberg, v. 3.5.2012 – 5 Ta 3/12, NZA RR 2012, 378.
1010 Im Fall einer unbestrittenen Masseunzulänglichkeit mit der zu erwartenden Quote Null, kann in Ermangelung einer höher zu erwartenden Quote im Rahmen des § 182 InsO lediglich der gesetzliche Mindestwert nach der Anlage 2 zu § 34 GKG von 300,00 € in Ansatz gebracht werden. LAG Nürnberg, v. 1.2.2013 – 4 Ta 167/12, ZInsO 2013, 627.
VIII. Rechtsweg bei der Anfechtung von Versorgungsleistungen (Direktversicherung) 1011 Nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG sind die Gerichte für Arbeitssachen u. a. ausschließlich zuständig für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus dem Arbeitsverhältnis, über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses sowie über Arbeitspapiere. Daraus folgt nach der vom LAG Hamm in seinem Beschluss vom 4.6.2013 – 2 Ta 616/12, ZInsO 2013, 2174
bestätigten herrschenden Meinung auch die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte, wenn der Insolvenzverwalter unter Berufung auf insolvenzrechtliche Anfechtungsvorschriften Rückzahlungsansprüche wegen Zahlungen aufgrund des Arbeitsverhältnisses geltend macht, die von der Insolvenzschuldnerin noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet worden sind. 1. Eröffnung des Rechtswegs zu den Arbeitsgerichten 1012 Für Streitigkeiten im Zusammenhang mit einer Direktversicherung, die das Versorgungsverhältnis betreffen, ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten dementsprechend – wie das LAG Hamm zu Recht feststellt – ebenfalls eröffnet. Dies gilt auch dann, wenn der Insolvenzverwalter wegen insolvenzrechtlicher Anfechtung die Rückzahlung der von dem Insolvenzschuldner an den Arbeitnehmer ausgezahlten Beträge verlangt. 1013 Denn schließt der Arbeitgeber als Versicherungsnehmer zum Zwecke der betrieblichen Altersversorgung zugunsten des Arbeitnehmers eine Direktversicherung ab, ist – wie das LAG Hamm zu Recht annimmt – zwischen dem Rechtsverhältnis des Arbeitgebers als Versicherungsnehmer zum Versicherer (Versicherungsverhältnis, Deckungsverhältnis) einerseits und dem Rechts
262
VIII. Rechtsweg bei der Anfechtung von Versorgungsleistungen
verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Versorgungsverhältnis, Valutaverhältnis) andererseits zu unterscheiden. Vgl. dazu auch BAG, v. 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269, dazu Mückl/Herrnstadt, EWiR 2012, 781 f.
a) Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Versicherer Das Rechtsverhältnis des Arbeitgebers zum Versicherer richtet sich unab- 1014 hängig von den im Arbeitsverhältnis bestehenden Verpflichtungen allein nach dem Versicherungsvertrag. Daher kann der Arbeitgeber die Rechte aus dem Versicherungsvertrag wahrnehmen, soweit er als Versicherungsnehmer Inhaber der Rechte aus dem Versicherungsvertrag ist. Er kann damit ein nach dem Versicherungsvertrag widerrufliches Bezugsrecht widerrufen. Er kann auch den Versicherungsvertrag kündigen und den Rückkaufswert in Anspruch nehmen. Diese Grundsätze gelten auch in der Insolvenz des Arbeitgebers, da der 1015 Verwalter nach § 80 Abs. 1 InsO in die Rechtsposition des Arbeitgebers aus dem Versicherungsverhältnis eintritt. Für das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber und der Versicherung kommt es grundsätzlich nicht darauf an, welche Befugnisse dem Arbeitgeber – und in der Insolvenz des Arbeitgebers dem Verwalter – im Versorgungsverhältnis zum Arbeitnehmer zustehen. Dies kann dazu führen, dass der Arbeitgeber – und in der Insolvenz des Arbeitgebers der Verwalter – aus dem Versicherungsvertrag abgeleitete Rechte versicherungsrechtlich ausüben kann, obwohl er dies arbeitsrechtlich im Verhältnis zum Arbeitnehmer nicht darf. Versicherungsrechtlich ist in diesem Fall die Ausübung wirksam. Im Versorgungsverhältnis können jedoch Ansprüche des Arbeitnehmers, insbesondere Schadensersatzansprüche entstehen. b) Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Demgegenüber richten sich die auf die Versicherung bezogenen Verpflich- 1016 tungen des Arbeitgebers nach dem Rechtsverhältnis, das zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer besteht, also nach dem Arbeitsverhältnis. Machen die Arbeitsvertragsparteien Ansprüche unter Berufung auf dieses dem Versicherungsverhältnis zugrunde liegendem Versorgungsverhältnis, dem arbeitsrechtlichen Valutaverhältnis geltend, dann liegt auch eine arbeitsrechtliche Streitigkeit vor. Denn insoweit geht es um Rechte und Pflichten der Arbeitsvertragsparteien, die ergänzend durch die Gehaltsumwandlungsvereinbarung begründet wurden, also um betriebliche Altersversorgungsansprüche in Form einer Direktversicherung. Bei der Gehaltsumwandlung werden die Beiträge zu der Direktversicherung nicht nur aus dem Betriebsvermögen, sondern auch aus dem dem Arbeitnehmer zustehenden Arbeitsentgelt geleistet. c) Bedeutung für den Rechtsweg Dementsprechend ist auch der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nach § 2 1017 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG, eröffnet wenn Arbeitgeber oder Arbeitnehmer An263
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
sprüche aus diesem dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden arbeitsrechtlichen Valutaverhältnis geltend machen. Nichts anderes gilt, wenn der Insolvenzverwalter unter Berufung auf insolvenzrechtliche Anfechtungsvorschriften die Rückzahlung der von der Insolvenzschuldnerin vor Insolvenzeröffnung aufgrund des arbeitsrechtlichen Valutaverhältnisses geleisteten Zahlungen verlangt. Da der Insolvenzverwalter für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis für die Dauer des Insolvenzverfahrens Arbeitgeber i. S. d. § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG ist, ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffnet, wenn der Insolvenzverwalter Rückzahlungsansprüche gegen den ehemaligen Arbeitnehmer der Insolvenzschuldnerin aufgrund der von dieser auf arbeitsrechtlicher Grundlage erbrachter Zahlungen verlangt. Vgl. GemSOGB, v. 27.9.2010 – GmS-OGB 1/09, ZIP 2010, 2418 = NZA 2011, 534, dazu EWiR 2010, 765 (Bork); LAG Hamm, v. 4.6.2013 – 2 Ta 616/12, ZInsO 2013, 2174.
2. Qualifikation von Schadensersatzansprüchen 1018 In seinem Urteil vom 18.9.2012 – 3 AZR 176/10, ZIP 2012, 2269, dazu EWiR 2012, 781 (Mückl/Herrnstadt)
hat der 3. Senat des BAG den Versorgungsschaden als nicht streitgegenständlich bewertet und damit vermieden, zu der zuletzt offengelassenen Frage, vgl. BAG, v. 22.5.2007 – 3 AZR 334/06 (A), ZIP 2007, 1869,
Stellung zu nehmen, ob seine zur KO entwickelte Rechtsprechung, Schadensersatzansprüche wegen arbeitsvertragswidrigem Widerruf des Bezugsrechts seien als Insolvenzforderungen zu qualifizieren, BAG, v. 26.2.1991 – 3 AZR 213/90, ZIP 1991, 1295,
auf die InsO übertragen werden kann. Letztlich wird man differenzieren müssen. Dazu Mückl/Herrnstadt, EWiR 2012, 782.
1019 Wenn der Verwalter das Bezugsrecht widerruft und den Rückkaufswert zur Masse zieht, verwertet er damit einen bereits zu ihr gehörenden Gegenstand. BAG, v. 26.2.1991 – 3 AZR 213/90, ZIP 1991, 1295.
1020 Deshalb besteht kein Aussonderungsrecht. Damit ist § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO dem Wortlaut nach zwar nicht ausgeschlossen („Verwertung“). Allerdings macht das Entstehen von Masseverbindlichkeiten nur Sinn, wenn das Handeln des Insolvenzverwalters bewirkt, dass der Masse etwas zugeführt wird, während Handlungen, die allein der Abwicklung bei Verfahrenseröffnung bestehender Rechtsbeziehungen dienen, keine Masseverbindlichkeiten begründen sollen. Hefermehl, in: MünchKomm-InsO, § 55 Rn. 18.
264
IX. Mangelnde Vertretungsbefugnis bei Vergütungsklage gegen die GmbH
Dies bestätigt für die in Rede stehende Konstellation die innere Systematik 1021 der Norm, da nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO bei oktroyierter Erfüllungswahl aus gegenseitigen Verträgen nur Masseverbindlichkeiten entstehen, solange der Vertrag nach Verfahrenseröffnung fortbesteht. Da der Versorgungsanspruch ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis ist (§ 108 InsO), spricht auch dies dafür, den allgemeinen Grundsätzen entsprechend allenfalls den Anteil am Versorgungsschaden, der dem nach Insolvenzeröffnung erdienten Teil der Anwartschaft entspricht, als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren. Im Übrigen handelt es sich um eine bloße Insolvenzforderung. Denn wird – wie hier – durch die Verwertung als Abwicklungshandlung ein als Insolvenzforderung einzuordnender Leistungsanspruch beeinträchtigt, ist der darauf gestützte Schadenersatzanspruch Insolvenzforderung und keine Masseverbindlichkeit. Vgl. Hefermehl, in: MünchKomm-InsO, § 55 Rn. 32.
IX. Mangelnde Vertretungsbefugnis des Geschäftsführers für die GmbH bei Vergütungsklage des Treuhänders gegen die GmbH Prozessrechtlich ist es nicht möglich, einen Rechtsstreit mit sich selbst zu 1022 führen – und zwar auch nicht als Vertreter eines anderen. Dementsprechend kann eine GmbH in einem Rechtsstreit mit ihrem Geschäftsführer nicht durch diesen selbst vertreten werden. Zuständig sind vielmehr deren Aufsichtsrat bzw. die Gesellschafter. Praxistipp: Das gilt auch für Klagen von ehemaligen Geschäftsführern und Vorständen gegen ihre ehemalige Anstellungsgesellschaft.
Daher kann eine Klage, die in einem Rechtsstreit mit dem Geschäftsführer 1023 als Vertreter der beklagten GmbH ausschließlich den klagenden Geschäftsführer benennt, nicht wirksam zugestellt werden. OLG München, v. 23.1.2004 – 23 U 3875/03, ZIP 2004, 1778.
Dies gilt – wie das LAG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 8.8.2013 zu 1024 Recht klargestellt hat –, LAG Düsseldorf, v. 8.8.2013 – 13 Sa 508/13, ZInsO 2013, 2070,
auch dann, wenn mit der Klage von einem Treuhänder über das Vermögen des Geschäftsführers Ansprüche aus dem Gesichtspunkt verschleierten Arbeitseinkommens geltend gemacht werden. Denn inhaltlich bedeutet dies, dass der Kläger (stellvertretend für die Gläubiger des Streitverkündeten [Geschäftsführers]) fiktive Vergütungsansprüche des Streitverkündeten gegen dessen Arbeitgeberin, die Beklagte, geltend macht. Nach der Rechtsprechung des BAG kann der Insolvenzverwalter zwar in ent- 1025 sprechender Anwendung von § 850h Abs. 2 Satz 1 ZPO fiktives Arbeitsein-
265
H. Prozessuale und vollstreckungsrechtliche Fragen
kommen zur Masse ziehen. Der Eröffnungsbeschluss wirkt wie ein Pfändungsund Überweisungsbeschluss im Einzelvollstreckungsverfahren. Es handelt sich damit um eine einer Drittschuldnerklage vergleichbaren Lage. Vgl. dazu unter Rn. 990 ff.
1026 In der vom LAG Düsseldorf entschiedenen Fallkonstellation gilt aber im Ergebnis nichts anderes: Formal gesehen klagt dort zwar nicht der Geschäftsführer selbst, sondern dessen Treuhänder. Das ändert jedoch – wie das LAG Düsseldorf zu Recht klarstellt – nichts daran, dass in materieller Hinsicht fiktive Vergütungsansprüche des Geschäftsführers verlangt werden. 1027 In einem derartigen Fall ist für die Drittschuldnerklage höchstrichterlich anerkannt, dass die Zustellung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses, der die Ansprüche eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber pfändet, an den Drittschuldner nicht wirksam durch Aushändigung an den Schuldner bewirkt werden kann. BAG, v. 15.10.1980 – 4 AZR 662/78, ZIP 1980, 1142 = DB 1981, 536.
1028 In der vom LAG Düsseldorf entschiedenen Konstellation besteht in der Person des Streitverkündeten (d. h. des Geschäftsführers) dieselbe Interessenkollision: Als Vertreter der Beklagten muss er auf die Abweisung der Klage dringen. Als Schuldner hingegen profitierte er von einem Unterliegen der Beklagten, da sich hierdurch seine Schulden erheblich verringern würden. LAG Düsseldorf, v. 8.8.2013 – 13 Sa 508/13, ZInsO 2013, 2070.
1029 Prozessrechtlich besteht nach alledem „Personenidentität“. Da es prozessrechtlich nicht möglich ist, einen Rechtsstreit mit sich selbst zu führen – und zwar auch nicht als Vertreter eines anderen – war die Klage im entschiedenen Fall nicht wirksam erhoben. Praxistipp: Erforderlich und ausreichend wäre es gewesen, die Gesellschafter oder – soweit vorhanden – den Aufsichtsrat, vertreten durch dessen Vorsitzenden, als gesetzliche Vertreter der Gesellschaft zu benennen.
266
Stichwortverzeichnis
Abfindung
101 ff. – Aufhebungsvertrag 106 ff. Abtretungserklärung 385 ff., 394 – Doppelzahlung 385 – wirksame 388 „Alemo-Herron“-Entscheidung 704, 727 ff., 749, 761, 767 f. Allgemeinverbindlicherklärung 35 ff. Altersgrenzenregelung 546 ff. – Zulässigkeit 548 Altersteilzeit 239 ff. – Blockmodell 291 – Doppeltreuhand 316 – Förderung 290 – Gläubigergleichbehandlung 310 – Insolvenzsicherungspflicht 296 ff., 316 – Rückabwicklung 292 – Vorleistung 292 „Andersen“-Entscheidung 826, 832 Anfechtung – Altersteilzeit 309 ff. – Ausschlussfrist 880 – Direktversicherung 1011 ff. – Einigungsstellenspruch 797 – inkongruente Deckung 163 ff., 178 ff. – Lohnzahlung 190 – Sozialplan 798 – Tantieme 166 – Urlaubskasse 152, 158 – Vergütungsanspruch 141 ff. – Versorgungsleistung 1011 – Vorauszahlung 794 Arbeitsentgelt – Bruttomethode 968, 971 – Forderungsübergang 924 – Klageverfahren 951 – Mitbestimmung 908 – Nettomethode 968 ff.
– pfändbarer Anteil 968 ff. – Pfändungsfreigrenzen 23, 973 Arbeitgeberdarlehen – Verbraucherinsolvenz 15 Arbeitnehmer-Entsendegesetz 34 Arbeitnehmerüberlassung 49 ff. Arbeitslosengeld 336 ff., 356, 921 ff. Arbeitszeit – Änderungsvereinbarung 225 – Erhöhung 223, 225 – Mitbestimmung 908 – Sanierungsstunden 239 ff. – Überarbeit 233 ff. – Überstunden 223 ff., 230 – unbezahlte 223 ff., 233, 236 Aufhebungsvertrag – Abfindungsanspruch 106 ff. Ausschlussfrist 634 ff. – tarifliche 636 ff., 880 ff. Auswahlrichtlinie 875 ff.
Befristung
565 ff. – Leiharbeit 556 ff. – Sachgrund 570 ff. – Vertretung 570 Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft 782 ff. – Beschäftigungsverhältnis 783 – Remanenzkosten 782 – Transferkurzarbeitergeld 782, 784, 792 Betriebsmittel 586 ff. – Eigentumsverhältnis 593 – Grundstück 594 – Nutzung 595 – sächliche 586, 602 Betriebsrat – Betriebsänderungen 859 – Erhöhung Arbeitszeit 223 – Gesamt- 504, 507 – Konzern- 504, 510 f.
267
Stichwortverzeichnis
– Kündigung 434, 439 – Leiharbeit 908 – Massenentlassungen 501 ff., 517 ff. – Mitbestimmung 908 – Rechtsanwaltskosten 123 ff. – Unterrichtung 517 ff. – zuständiger 502 ff. Betriebsratsanhörung 892, 897 ff. – Interessenausgleich 905 Betriebsstilllegung 613 ff. – Kündigung 613, 618 ff. Betriebsübergang 577 ff., 626 – „Alemo-Herron“-Entscheidung 704, 727 – Arbeitsverhältnis 629 ff., 645 ff. – Arbeitsvertrag 644 – Auftragsnachfolge 604, 626 – Betriebsmittel 586 ff. – Betriebsteil 583, 592, 630 – Betriebsvereinbarung 665, 696 ff. – Betriebszugehörigkeit 646 f. – Dienstwagen 650 – Entgeltkürzung 682 – Funktionsnachfolge 604 – gleichartige Tätigkeit 622 – Haftung 700 – Inhalts- und Bestandsschutz 627 f. – Kollektivvereinbarungen s. dort – Kündigung 630, 648 – Lohn- und Gehaltsanspruch 649, 672 – Lohnpfändung 980 ff. – organisatorische Einheit 582, 600 f., 622 f. – Personal 585, 598, 625, 629 – Reisekostenerstattung 650 – Rückkehrrechte 769 ff. – Tarifvertrag 652 ff., 676, 691 ff. – Tarifwechsel 705 ff. – Transfergesellschaft 689
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– – – –
Unterbrechung 609 ff. Urlaubsanspruch 650 Wahlrecht 639 Widerspruchsrecht Arbeitnehmer 633 ff. Betriebsvereinbarung 664 – Ablösung 698 f. – Betriebsübergang 665, 696 ff. – Offenheit 250 ff. – Rückkehrrechte 770 ff. Betriebsverfassung 892 ff. Betriebszugehörigkeit 646 f. Bezugnahmeklausel 699, 717 ff. – „Alemo-Herron“-Entscheidung 704, 728, 749, 761, 768 – große dynamische 717 – kleine dynamische 717, 759, 765 ff. – Neuklausel 726 – „Werhof“-Entscheidung 723 f., 729, 734 f., 768 Blockmodell 291 ff. Bonus 265 s. a. Sonderleistungen; Tantieme – Incentive Bonus 63, 66 ff. – Leistungs- 194 ff. – nach billigem Ermessen 202 ff. – Retention Bonus 59 ff., 177 – Verzicht 203 „Bündnisse für Arbeit“ 233 „CGZP“-Entscheidung 97 ff., 332 f.
Doppeltreuhand
316, 322
Einigungsstelle
776 ff. – Ermessensfehler 796, 799 – gerichtliche Überprüfung 797 – Sozialplan 795, 802 ff., – Verfahren 795 Equal Pay 97 f., 328 ff., 332
Freistellung
336 ff., 396 – einseitige 404, 406 – Haftung 336
Stichwortverzeichnis
– nach billigem Ermessen 349 – rechtswidrige 398, 405 – unwiderrufliche 398, 406, 418 – wirksame 355 Freistellungserklärung 132, 135 ff. – Aufrechnungsverbot 137 – Tilgungsbestimmung 135 Freiwilligkeitsvorbehalt 209 ff. – allgemeiner 211, 222 – Inhaltskontrolle 213 – ohne Rechtsanspruch 214 – Transparenz 213 – wirksamer 209
Gewerkschaft
31 Gleichstellungsabrede 718 ff., 758 Günstigkeitsprinzip 668, 674, 764
Haftung – beschränkte 700 – Freistellung 336 ff. – Kündigungsfrist 350 Hartz-IV-Leistungen 924 ff.
Incentive Bonus
63, 66 ff. – Bewertung 80 ff. – Masseverbindlichkeit 81 Insolvenzgeld 912 ff., 936, 1007 – Grenzgängerstatus 937 – Lohnsteuer 936 – neues Insolvenzereignis 914 ff. Insolvenzsicherung – Altersteilzeit 296 ff., 316 – Contractual Trust Arrangements 326 – Doppeltreuhand 316, 322 – Unterlassung 304 – Verstoß 301 Insolvenztabelle 702 – Urlaubsanspruch 702 Interessenausgleich 864 f., 869 ff., 904 – Betriebsratsanhörung 905 – Namensliste 875
Kollektivvereinbarung
667 ff., 690, 773 ff. – Altersgrenze 546 – Einjahresfrist 686 – Günstigkeitsprinzip 668, 674 – „Scattolon“-Entscheidung 670 – Verschlechterungsverbot 673, 682 Konzerninsolvenz 20 ff. – besondere Beteiligungsrechte 21 Know-how-Träger 60 ff., 177, 208 Kündigung – Änderungs- 704, 715 f., 765, 767 – aus wichtigem Grund 787 – außerordentliche 782 ff., 786 – Beendigungszeitpunkt 428 – betriebsbedingte 424 ff., 437 f., 470 ff., 616 – Betriebsratsanhörung 892, 897, 904 – Betriebsstilllegung 613, 618 ff. – Erklärung 427, 431 ff. – Frist 787 – Interessenausgleich 460, 466 f., 511, 520 – ordentliche 424 ff., 790 – Schwerbehinderte 458 – Sozialauswahl 469, 472 f., 484 ff., 630, 875 ff. – Vollmacht 892 – Unwirksamkeit 904 – Zurückweisung 894 Kündigungsfrist 350 ff., 433 Kündigungsschutz 452, 496 – Einschränkung 447 – Leiharbeiteinsatz 447 ff. Kündigungsschutzklage 374, 406, 494 – Geschäftsführer 939 ff. – Passivlegitimation 964 Kurzarbeit 32
269
Stichwortverzeichnis
Leistungsträger
60 ff., 177 Leiharbeit 51, 97 ff., 328, 438, 441 ff., 447, 475 ff., 535 – Anschlussverbot 565 f. – befristete 556 ff. – betriebsbedingte Kündigung 470 ff. – Betriebsrat 908 – „CGZP“-Entscheidung 332 f. – Equal Pay 97 f., 328 ff., 332 – Ersetzungsbefugnis 478 – nicht angemeldete Forderungen 97 ff. – Massenentlassungen 535 ff. – Tarifvertrag 329 ff. Lohnsteuer 936 ff.
Massenentlassungen – Auswahl 517 – Betriebsrat 501 ff., 517 ff. – Zeitraum 517 Mindestlohn 31, 34 – gesetzlicher 38 ff. – Höhe 41 – Minijob 44 – Tarifvertrag 40 – Verzicht 34
Nachteilsausgleich
859 ff., 864, 867 ff. Nichtzulassungsbeschwerde 956 – Unzulässigkeit 962
Pensionsfonds
276 f. Pfändungsfreigrenzen 23, 366, 973
Restschuldbefreiung
3 Abtretungsverbote 13 Arbeitsentgelt 3 ff. Arbeitnehmerinsolvenz 4 ausgenommene Forderungen 12 – Lohnabtretung 14 – Versagung 11 – – – –
270
Restschuldbefreiungsverfahren 1 ff. – Motivationsrabatt 10 – Verkürzung 6 ff. Retention Bonus 59 ff., 177 – Bewertung 83 ff. – Masseverbindlichkeit 85 „Robins“-Entscheidung 279 ff. Rückkehrrechte 769 ff. – Befristung 779 – kollektive 772, 774 – Konzernvorbehalt 775 „Scattolon“-Entscheidung 670, 712 ff. Schadensersatzanspruch 79 „Schultz-Hoff“-Entscheidung 412 Sonderleistungen 64 ff., 194 s. a. Bonus; Tantieme – Ausgestaltung 86 ff. – Entgeltcharakter 87 f. – Insolvenzforderung 74, 85 – Masseforderung 74 – Stichtag 88 ff. – Zeitraum 73 ff. – Zweck 70 f., 86 Sozialauswahl 469, 472 f., 484 ff., 521 – fehlerhafte 484 ff. – im Ausland tätiger Arbeitnehmer 491 – Leiharbeitnehmer 470, 475, 539 – Vergleichbarkeit 473, 475 Sozialplan 795 – Alter 817, 820, 825 ff., 831, 838 – „Andersen“-Entscheidung 826, 832 – Anfechtung 798 – Anpassung 850 ff. – Bemessungsdurchgriff 809 ff. – Berechnungsformel 853 – Einigungsstelle 795, 802 ff., 813
Stichwortverzeichnis
– Konzern 807 ff. – Kürzung 825 ff., 835 – Rente 820 ff., 827, 836, 842, 845 ff. – Schwerbehinderung 817, 820, 834 f., 838 – Überbrückungsfunktion 832, 839 – Ungleichbehandlung 822 f., 835, 849 ff. – Verjährung 855 ff. – wirtschaftliche Zumutbarkeit 813 Sozialversicherungsbeitrag 928 ff. – GmbH-Geschäftsführer 928
Tantieme
260 ff. s. a. Bonus; Sonderleistung – Anspruch 260 f. – Unverbindlichkeitsvorbehalt 263 – Vorauszahlung 260 Tarifrecht 880 ff. – Ausschlussfrist 636 ff., 880 ff. – Verfallklausel 881 Tarifvertrag 773 – Ablösung 662 – „Alemo-Herron“-Entscheidung 704, 727 – Allgemeinverbindlicherklärungen 35 ff. – Betriebsübergang 652, 659 ff., 676, 693, 705 – Bezugnahmeklausel s. dort – „CGZP“-Entscheidung 332 f. – Erwerber- 681 – fachfremder 721 – kollektivrechtliche Fortgeltung 708 f. – Leiharbeitnehmer 329 ff. – Sanierungs- 655, 679 f. – Scattolon“-Entscheidung 670, 712 ff.
Teilzeit – befristete 56 Transferkurzarbeitergeld 782, 784, 792 Treuhand – Contractual Trust Arrangements 326 – Doppel- 316, 322
Überarbeit
233, 246 – Rückfallklausel 234 – Sanierungsstunden 239 ff. – Sanierungsvereinbarung 233, 239 ff. Unternehmensmitbestimmung 892 ff. Urlaubsabgeltungsanspruch 129 ff., 395, 411 – „Schultz-Hoff“-Entscheidung 412 – Surrogatstheorie 412, 418 – Reduzierung 418 – tarifvertraglicher 417 – Tod 420 – Unabdingbarkeit 411 ff. – Verzicht 410 f. Urlaubsanspruch 395 – Art. 31 Abs. 2 EU-GRCharta 408 – Betriebsübergang 650 – Freistellung 396 ff. – Insolvenztabelle 702 – „KHS“-Entscheidung 407 – Nichtgewährung 418 – Schwerbehindertenzusatzurlaub 408
Verbraucherinsolvenz
3 – Abtretungserklärung 385 ff., 394 – Arbeitgeberdarlehen 15 – Arbeitsentgelt 968 ff., 974 – Arbeitspflicht 377 ff. – Dispositionsfreiheit 362, 365 – Insolvenzbeschlag 997
271
Stichwortverzeichnis
– Pfändung 390 ff., 974, 990 ff. – Pfändungsfreigrenzen 23, 366, 973 – Vergütungskürzung 384 – Zwangsvollstreckung 391 Verdienstausfall 357, 359 Verfallklausel 881 Vergütung – Abrechnungsperiode 230 f. – Abtretungserklärung 385 – Änderungsvereinbarung 225 – Tantieme 260 – Tarif 229, 232 – Überstunden 223 ff., 230 – Verbraucherinsolvenz 362 ff. – verkehrsübliche 229 – Weihnachtsgratifikation 266 Verschlechterungsverbot 673, 682
Weihnachtsgratifikation
266 ff. – Freiwilligkeitsvorbehalt 268 f.
272
„Werhof“-Entscheidung 723 f., 729, 734 f., 758, 767 f. Werkvertrag 45, 455 Widerspruchsrecht 633 ff., 755 – Ausschlussfrist 634 ff. – Unterrichtung 638 – Verwirkung 640 ff. – Zeitpunkt der Ausübung 635 Wiedereinstellungszusage 113 ff.
Zusatzversorgungseinrichtungen, betriebliche 276 – RL 2008/94/EG 273 ff. – „Robins“-Entscheidung 279 ff. Zustimmungsersetzungsverfahren 911 Zwangsvollstreckung 19, 154 ff., 365, 371, 391, 884, 1002 – Pfändungsfreigrenze 23, 366, 973