Die freie Entwicklung innerlicher Kraft: Die Grenzen der Anthropologie in den frühen Schriften der Brüder von Humboldt 9783737097970, 9783847100263, 9783847000266


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Die freie Entwicklung innerlicher Kraft: Die Grenzen der Anthropologie in den frühen Schriften der Brüder von Humboldt
 9783737097970, 9783847100263, 9783847000266

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Anette Mook

Die freie Entwicklung innerlicher Kraft Die Grenzen der Anthropologie in den frühen Schriften der Brüder von Humboldt

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0026-3 ISBN 978-3-8470-0026-6 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Karl-Jaberg-Stiftung. Ó 2012, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Galvanische Versuche. Aus Luigi Galvanis »De Viribus Electricitatis«, 1791. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Die Ausbildung Wilhelm und Alexander von Humboldts im Rahmen einer ganzheitlichen Weltbetrachtung . . . . . . . . . . . . I.1. Die Erziehung der Brüder von Humboldt im Horizont der Spätaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1.a) Die Kindheit auf »Schloss Langweil« . . . . . . . . . . I.1.b) Kurze Intermezzi in Frankfurt an der Oder und Berlin (1787 – 1788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2. Studium an der Universität Göttingen (1788 – 1790) . . . . . . I.2.a) Johann Friedrich Blumenbach: Die Suche nach dem »Bildungstrieb« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.2.b) Georg Forster und sein Bemühen um das »Ganze der Natur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte – die ersten Ansätze im zeitgenössischen Horizont . . . . . . . . . . . II.1. Die Lebenskraft als Forschungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . II.1.a) John Brown: Das Leben als Erscheinung der »Incitabilitas« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.1.b) Christoph Girtanner : Der Sauerstoff als »Princip des Lebens« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2. Erste Zweifel an der Beweisbarkeit der ›vis vitalis‹ . . . . . . . II.3. Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« im Spiegel der humboldtschen Forschungen und Forschungsabsichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.a) Herder und Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . II.3.b) Herder und Alexander von Humboldt . . . . . . . . .

19 20 21 40 49 51 62

77 81 82 86 92

100 105 133

6

Inhalt

III. Der methodische Zweifel am »Zusammenhang« . . . . . . . . . . . III.1. Samuel Thomas von Soemmerring und die Suche nach dem Sitz der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2. Die anatomischen und physiologischen Studien in Jena . . . . III.3. Wilhelm von Humboldts Horenaufsätze vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Naturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . III.4. »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« – Alexander von Humboldts physiologische Idee in mythischem Gewand . . . III.5. »Überhaupt ist es unglaublich, was es heisst, ein einziges Object der Natur zu erforschen« – wissenschaftliche Skepsis und Differenzierung der Wissensgebiete . . . . . . . . . . . . IV. Die Situation in Frankreich – die Wissenschaften zwischen Revolution und Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.1. Die ›Id¦ologues‹ und die neue Wissenschaft vom Menschen IV.2. Der reisende ›Id¦ologue‹ Volney : Die Integration des Menschen in seine Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.a) »Voyage en Êgypte et en Syrie« – eine analytische Bestandesaufnahme des Nahen Ostens . . . . . . . . IV.2.b) »Les ruines« – Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.c) »Tableau du climat et du sol des Etats-Unis« – die Menschheit am Rande der Geschichte . . . . . . . . IV.3. Pierre-Jean-Georges Cabanis: Die Integration der Psyche in die Physiologie des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . V.

159 160 169 177 207

236

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255 258

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267

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268

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Die Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert . V.1. Wilhelm von Humboldts Beschäftigung mit der Anthropologie vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Situation in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.1.a) Der »Plan einer vergleichenden Anthropologie« . . . . V.1.b) »Das achtzehnte Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . V.1.c) Wilhelm von Humboldts Tagebücher aus den Jahren 1797 bis 1799 und seine Briefe aus Paris . . . . . . . . V.2. Wilhelm von Humboldts Verteidigung von Kants »alleinseligmachender Lehre« im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb der europäischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341

344 347 353 365

376

7

Inhalt

V.3. Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldts differenzierte Denk- und Arbeitsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.3.a) Erste Kontakte Alexander von Humboldts zu den französischen Wissenschaftlern . . . . . . . . . . . . V.3.b) Paris: Eine wissenschaftliche Heimat für Alexander von Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.4. Der Einfluss der modernen Naturwissenschaften auf das literarische Schaffen Alexander von Humboldts . . . . . . . V.4.a) Alexanders Briefe aus Südamerika . . . . . . . . . . V.4.b) Die »Ansichten der Natur« – eine »ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände« . . . . . V.4.c) Die »Relation historique« – ein Fragment aus innerer Notwendigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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392

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VI. Das Ende des Monismus und die Ausdifferenzierung der Arbeitsgebiete der Brüder von Humboldt . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

473 473 486

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Dissertation wurde im Frühjahrsemester 2010 von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern angenommen. Die Druckfassung ist überarbeitet und nur sehr geringfügig verändert worden. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Wolfgang Pross in Bern und München, der mich in meinen akademischen Studien geleitet und unterstützt hat. Mit seinen vielfältigen Anregungen und seinem grossen, fächerübergreifenden Wissen gab er mir stets wertvolle Hilfestellungen. In seinen Kolloquien hatte ich zudem die Möglichkeit, mit meinen Kommilitonen problemorientierte Diskussionen zu führen und neue Motivation für die Arbeit zu finden. Meinen Eltern danke ich für die persönliche Unterstützung, die es mir ermöglichte, die intensiven Forschungsarbeiten zu bewältigen. Sie halfen mir in manchen schwierigen Situationen, mein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht zuletzt danken möchte ich Herrn Professor Dr. Joachim K. Krauss in Hannover, der mit seiner langjährigen medizinischen Betreuung dazu beitrug, die gesundheitlichen Herausforderungen zu meistern. Lyss, im Mai 2011

Anette Mook

Einleitung

Begegnet man heute den Namen von Wilhelm und Alexander von Humboldt, so sind diese meist mit bestimmten Assoziationen verbunden. Geht es um Fragen zum stets aktuellen Thema einer Bildungsreform, taucht früher oder später der Name des älteren Bruders, Wilhelm von Humboldt, auf. Gleichgültig ob unter positiven oder negativen Vorzeichen, beruft man sich auf Wilhelm von Humboldt, so meint man stets die Preussische Bildungsreform am Beginn des 19. Jahrhunderts und die damit verbundene Berliner Universitätsgründung. Auch in der Sprachwissenschaft ist Wilhelm von Humboldt eine feste Grösse und seine diesbezüglichen Werke werden noch heute rezipiert. Fällt der Name Alexander von Humboldt, so denkt man stets an dessen beeindruckende Süd- und Mittelamerikareise, an erster Stelle natürlich an die Besteigung des Chimborazo, der zur damaligen Zeit noch als höchster Berg der Erde galt. Von Alexanders Werken werden heute vielleicht noch die »Ansichten der Natur« gelesen, und sein »Kosmos« gilt noch immer als Zeugnis seines umfangreichen Wissens – auch wenn er damals wie heute kaum gelesen wird. Auf den ersten Blick erscheint es also, als haben die beiden Brüder sehr unterschiedliche Wege beschritten: der eine auf dem Gebiet der Pädagogik und Geisteswissenschaften, der andere als Naturforscher. Doch vergessen wird oft, dass sowohl Wilhelm als auch Alexander in ihren jungen Jahren ganz ähnliche Interessen verfolgten und zeitweise sogar zusammen arbeiteten. Wenn man aber bedenkt, dass sie während ihrer Kindheit und Jugend fast dieselbe Ausbildung erhielten, vor allem durch ihren gemeinsamen Unterricht auf dem heimischen Schloss in Tegel sowie an den Universitäten von Frankfurt an der Oder und Göttingen, so sind ihre gemeinsamen Forschungsinteressen und Denkansätze weniger erstaunlich. Gerade diese frühen Jahre vor 1800 sind sehr aufschlussreich für ihren weiteren Werdegang und liefern uns wertvolle Hinweise für das Verständnis ihrer Werke. Wie eng die beiden Humboldtbrüder ihr Leben lang verbunden blieben, zeigt auch das Zitat, welches ich als Titel meiner Arbeit gewählt habe: »Die freie Entwicklung innerlicher Kraft« ist ein Zitat aus dem »Kosmos. Entwurf einer

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Einleitung

physischen Weltbeschreibung« von Alexander von Humboldt. Am Ende des ersten Bandes, der in einem »Naturgemälde« die allgemeinen Erscheinungen des Universums beschreibt, erörtert Alexander die schwierigen Fragen, ob alle Menschen ein einheitliches Geschlecht bilden und wo ihr ursprünglicher Stammsitz zu finden ist? Nun ist die Beantwortung dieser Fragen zwar unmöglich, will man die Grenzen eines »physischen Naturgemäldes« nicht überschreiten und den Bereich der reinen Spekulationen betreten, aber wir finden doch eine Idee, die durch die ganze Geschichte hindurch die Einheit des Menschengeschlechts bestätigt: die Idee der Menschlichkeit. »[…] das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurtheile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben, und die gesammte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als Einen grossen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung Eines Zweckes, der f r e i e n E n t w i c k l u n g i n n e r l i c h e r K r a f t , bestehendes Ganzes zu behandeln.«1

Klar und deutlich sagt Alexander von Humboldt jedoch nur, dass er die Einheit des Menschengeschlechts »behauptet«. Einen Beweis für diese These lässt sich aber nicht erbringen. Das Interessante an obigem Zitat ist nun, dass es sich hierbei wiederum um ein Zitat handelt, nämlich um eines aus dem »Kawi-Werk«2 seines Bruders Wilhelm. Auch dieser hat stets die Ansicht einer monogenetischen Menschheit vertreten. Zwar können auch die sprachlichen Erzeugnisse die Einheit ihrer Herkunft nicht belegen, da die noch vorhandenen Zeugnisse viel jünger sind als die Menschheit selbst, aber bei der Sprache handelt es sich in Alexanders Worten um eine »Naturkunde des Geistes« und kann deshalb auch als Teil der physischen Weltbeschreibung behandelt werden. Die »Innigkeit des Bandes, welche beide Sphären, die physische und die Sphäre der Intelligenz und der Gefühle, miteinander verknüpft«,3 ist somit Ausdruck einer monistischen Naturauffassung beider Brüder. Die Wurzeln dieser monistischen Naturauffassung von Wilhelm und Alexander von Humboldt lassen sich in ihren frühen Werken finden. Denn beide Brüder widmeten sich im letzten Jahrzehnt des ausgehenden 18. Jahrhunderts naturwissenschaftlichen und anthropologischen Studien. Da sie insbesondere auch den Menschen als monistisches Wesen betrachteten, dessen Körper und Geist innigst verbunden sind, war für sie eine umfassende Anthropologie von Interesse, die die Integration des Menschen in seine natürliche Umwelt be1 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 385. Bibliografische Hinweise sind in den Fussnoten als Siglen aufgeführt. Die detaillierten Literaturangaben werden am Ende in der Bibliografie angegeben. 2 Humboldt, W. (1836 – 1819), Bd. III; S. 426. 3 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 385.

Einleitung

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rücksichtigt. Gerade eine solche Wissenschaft der Anthropologie sollte ihr monistisches Naturkonzept beweisen, denn sie sollte den Übergang des Physischen und Geistigen auffinden. Der sich mit Ästhetik, Sprachen, Literatur und Bildung – im weitesten Sinn dieses Begriffs – befassende Wilhelm und der an den Naturwissenschaften interessierte Alexander versuchten, sich diesem Übergang von zwei Seiten her anzunähern, um den ›wahren‹ Menschen begreifen zu können. Eine so konzipierte Anthropologie hätte den Vorteil, dass sie nicht nur auf philosophischen Grundsätzen, sondern auch auf naturwissenschaftlichen, empirisch überprüfbaren Fakten beruhte. Weder Wilhelm noch Alexander gelang jedoch eine monistische Darstellung des Menschen und der Natur. Das allmähliche Auseinanderdriften von Naturalismus und Historismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verunmöglichte mehr und mehr einen wissenschaftlich nachweisbaren Monismus. Diese höchst interessante Phase in der Wissenschaftsgeschichte lässt sich besonders gut in den frühen Schriften der Humboldtbrüder nachvollziehen. Mich interessierte an diesem Prozess der allmählichen Polarisierung vor allem, woher die beiden von Humboldt die Anregungen für ihre monistischen Ansichten bekamen, mit denen sie jenem Auseinanderdriften von Naturalismus und Historismus entgegentreten wollten, und auf welche Weise sie ihre Pläne zu verwirklichen versuchten. Hier bot sich eine nähere Untersuchung ihrer gemeinsamen Ausbildung an, um der Frage nachzugehen, von welchen Theorien und Anschauungen sie beeinflusst worden sind. Bereits unter den Hauslehrern auf Schloss Tegel befanden sich verschiedene Gelehrte, die sich ebenfalls um eine ganzheitliche Sicht des Menschen bemühten. Zu einer intensiven Berührung mit den Naturwissenschaften kam es aber an der Universität Göttingen, zur damaligen Zeit eine der fortschrittlichsten Hochschulen Europas. Der Gedanke lag also nahe, dass die Brüder von Humboldt dort Einblicke in die komplexen Naturzusammenhänge bekamen. Einen grösseren Raum nimmt in meiner Arbeit die Überprüfung der möglichen Einflüsse von Johann Gottfried Herder ein. Die Frage, ob Herder eventuell ein wichtiger Bezugspunkt für die beiden von Humboldt war, drängte sich insbesondere nach einer eingehenden Lektüre von Wilhelms ersten geschichtsphilosophischen Entwürfen und Essays auf. Die Suche nach Parallelen zwischen Texten von Herder, Wilhelm und Alexander von Humboldt erwies sich als viel ergiebiger als anfangs angenommen. Deshalb wurde auf die Erörterung von Herders Bedeutung für die Brüder von Humboldt besonderes Gewicht gelegt. Die Untersuchung zeitgenössischer Theorien verschiedener Gelehrter, die ein ähnliches Ziel wie Wilhelm und Alexander verfolgten, und die sich ebenfalls um die Darstellung eines Zusammenhanges in der Natur bemühten, sollte den Einfluss naturwissenschaftlicher Diskurse klären, den diese auf philosophische

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Einleitung

Debatten über die virulente Frage, was denn einen lebenden Organismus, in erster Linie den Menschen, eigentlich konstituiere? Die einfache Frage, was ›Leben‹ ist, konnte angesichts der Komplexität der Natur, die mit immer besseren Technologien erforscht werden konnte, kaum noch beantwortet werden. Ein weiterer Anhaltspunkt für meine Untersuchung der Genese der humboldtschen Interessen für ein monistisches Naturkonzept waren ihre gemeinsamen Besuche bei Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe. Doch nicht so sehr die Begegnung mit dem Weimarer Klassizismus war für meine Fragestellung von Bedeutung, sondern vielmehr die Erörterungen naturgeschichtlicher Probleme, welche insbesondere mit Goethe stattfanden, und das grosse Interesse für anatomische und physiologische Versuche, das die Besucher zu Justus Christian Loder nach Jena führte. Besonders die Kontroverse um das sogenannte ›Galvanische Fluidum‹ beschäftigte die Humboldts und ihre Freunde. Diese Debatte versprach, Aufklärung darüber zu geben, inwieweit Wilhelm und Alexander noch von der Existenz einer besonderen ›vis vitalis‹, einer Lebenskraft, überzeugt waren, die das Geistige mit dem Körperlichen verbinden sollte. Vor allem stellte sich mir die Frage, welchen Einfluss ihre empirischen physiologischen und galvanischen Versuche auf ihr monistisches Denken hatten, und ob sich in ihrem Denken Veränderungen ausmachen lassen, die mit der fehlgeschlagenen Suche nach einer Lebenskraft zusammenhängen. Wie wirkten sich ihre konkreten Erfahrungen in der Naturforschung auf die tradierten monistischen Vorstellungen der Spätaufklärung aus? Aber noch in einer weiteren Hinsicht sind die frühen Schriften der Brüder von Humboldt sehr interessant. Einige ihrer Arbeiten entstanden in Frankreich oder wurden in Frankreich veröffentlicht. Deshalb erschien es sinnvoll, die Entwicklung der Wissenschaften, insbesondere der Anthropologie, in den Jahren unmittelbar vor und nach der französischen Revolution aufzuzeigen. Aufschlussreich versprach eine nähere Untersuchung der ›Id¦ologie‹ und der ›Science de l’homme‹ zu sein, die von einer ganzen Generation von Wissenschaftlern vertreten wurden, die heute nahezu in Vergessenheit geraten sind. Exemplarisch habe ich dazu Texte von Volney und Pierre-Jean-Georges Cabanis ausgewählt, da diese damals in Frankreich sehr beachtet wurden. Als ›Id¦ologues‹ prägten sie nach der Revolution nicht nur die wissenschaftlichen Forschungsansätze, sondern auch die politische Entwicklung des Landes. Die französischen Debatten in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts, also zeitgleich mit den intensiven galvanischen und physiologischen Studien der Brüder von Humboldt, betrafen ebenfalls Fragen um die Stellung des Menschen in der Natur und um dessen Darstellung als physisch-moralische Einheit. Mit der Berücksichtigung der wissenschaftlichen Situation in Frankreich konnten die Grundlagen für weitere Untersuchungen geschaffen werden. Hatten

Einleitung

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die französischen Bemühungen um eine monistische Naturauffassung und den Versuch einer Integration des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur Auswirkungen auf die Studien der Brüder von Humboldt? Und wie wirkten sich die in Frankreich weiter fortgeschrittenen modernen Naturwissenschaften und die zunehmende Spezialisierung ihrer Disziplinen auf den monistischen Forschungsansatz von Wilhelm und Alexander aus? Soweit also die Fragestellungen meiner Arbeit. Die Schwierigkeiten ergaben sich insbesondere aus den Anforderungen der Interdisziplinarität. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen am Ende des 18. Jahrhunderts erfordern bereits ein Spezialwissen, das für eine Literaturwissenschaftlerin wie mich nicht unmittelbar zugänglich ist. Auch wenn die damaligen Probleme, vor allem in Deutschland, noch von Wissenschaftlern aller Fachrichtungen diskutiert wurden – die Brüder von Humboldt sind dafür das beste Beispiel –, so ergaben sich aus diesen vielseitigen und vielschichtigen Diskussionen zahlreiche Missverständnisse, die die beginnende Polarisierung zwischen Historismus und Naturalismus verdeutlichen. Das Arbeiten mit der Begrifflichkeit des 18. Jahrhunderts erfordert ein ständiges Hinterfragen der jeweiligen Bedeutungen. Die dabei festzustellende Ambivalenz vieler Begriffe, besonders derjeniger, welche primär von den Naturforschern geprägt wurden, zeigen gerade die Unsicherheiten auf, die während einer Phase des Umbruchs entstehen. Weder die Gesellschaft noch die Kultur und Wissenschaft entwickeln sich linear. Die Verschiebungen und Brüche verursachen ›Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen‹, die aus einem zeitlichen Rückblick nur allzu gern verwischt werden. Diese Brüche aufzuzeigen und zu akzeptieren stellt eine Herausforderung dar, der ich mich zuerst bewusst werden musste. Ein weiteres Hindernis bei der Beschäftigung mit den frühen Schriften von Wilhelm und Alexander von Humboldt stellt der oft schwierige Zugang zu den Texten dar. Von Wilhelm von Humboldt wurden vor 1800 fast nur Skizzen und Entwürfe verfasst, die er nie fertig ausgearbeitet hat. Folglich hat Wilhelm nur sehr wenig veröffentlicht. Die von Albert Leitzmann herausgegebenen »Gesammelten Schriften«4 von Anfang des letzten Jahrhunderts enthalten zwar 17 Bände, sind aber trotzdem nicht vollständig. Zudem entspricht ihre Edition nicht mehr dem heutigen wissenschaftlichen Standard. Eine zusätzliche Schwierigkeit ist die oft fehlende oder unsichere Datierung seiner Fragmente. Wie viele von Wilhelms Entwürfen, Tagebüchern und Briefen unwiederbringlich verloren sind, lässt sich heute nur schwer abschätzen. Zweimal wurden seine Manuskripte Opfer des Krieges: während der französischen Besatzung in Berlin am Beginn des 19. Jahrhunderts und während des zweiten Weltkrieges.

4 Humboldt, W. (1903 – 1939)

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Einleitung

Alexander von Humboldt hinterliess vor 1800 zwar nur wenige Fragmente, doch wurden seine wissenschaftlichen Schriften kaum wieder aufgelegt. Noch heute neu aufgelegt werden einzig die »Ansichten der Natur«5 und der »Kosmos«.6 Das liegt einerseits an den wissenschaftlichen Daten, die heute nicht mehr aktuell sind, andererseits aber auch an der komplizierten Herausgabe seines amerikanischen Reisewerks. Nicht alle vorgesehenen Bände wurden ausgearbeitet, und einige der französischen Originalschriften wurden nie ins Deutsche übersetzt. Schwierigkeiten bereiten auch seine Tausende verfasster und erhaltener Briefe. Alexander hatte die Angewohnheit, die meisten Briefe, welche er erhalten hatte, zu vernichten und bat auch seine Adressaten, mit seinen Briefen dasselbe zu tun. Diese Schwierigkeiten beim Zugang zu den humboldtschen Werken, insbesondere zu den frühen, mögen die heutige Forschungssituation erklären. Trotzdem ist auffallend, dass es keine Forschungsliteratur gibt, die die frühen Werke beider Humboldtbrüder untersucht. Das Brüderpaar scheint zwar für Biografen von grossem Interesse zu sein, jedoch findet sich keine Werkanalyse, die die Texte von Wilhelm und Alexander miteinander in Beziehung setzt. Zu Wilhelm von Humboldts frühen anthropologischen Schriften gibt es kaum Sekundärliteratur. Die wenigen Arbeiten von Robert Leroux,7 Paul Robinson Sweet,8 Lydia Dippel9 und Hans-Josef Wagner10 vernachlässigen insbesondere die naturwissenschaftlichen Grundlagen sowie die Bezüge zu den Arbeiten seines Bruders. Der grösste Teil der Forschungsliteratur beschäftigt sich mit Wilhelm von Humboldts Sprachtheorie und Sprachgeschichte. Kaum anders sieht die Situation bei Alexander von Humboldt aus. Nicht nur, dass seine frühen Veröffentlichungen kaum berücksichtigt werden, sondern diese werden überdies meist aus der Perspektive einer Fachdisziplin betrachtet. Obwohl es müssig ist darüber zu streiten, ob Alexander nun in erster Linie Geograf, Mineraloge, Physiologe oder Biologe war, werden noch heute ›Revierkämpfe‹ um die Vorrangstellung einer wissenschaftlichen Domäne in seinem Werk geführt. Am fruchtbarsten für die Fragestellungen meiner Untersuchung erwiesen sich die Arbeiten von Ilse Jahn,11 die jedoch die Einflüsse philosophischer Denkansätze auf den jungen Alexander von Humboldt nicht berücksichtigen. Als Biologiehistorikerin vermag sie aber sehr hilfreiche Erläuterungen zu den physiologischen Problemen des späten 18. Jahrhunderts zu geben. 5 6 7 8 9 10 11

Humboldt, A. (1808) Humboldt, A. (1845 – 1862) Leroux (1932); ebenso Leroux (1934); Leroux (1945); Leroux (1958) Sweet (1973) Dippel (1990) Wagner, H.-J. (2002) Jahn (1969); Jahn (1993)

Einleitung

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Was die Beziehungen der Brüder von Humboldt zu den zeitgenössischen Wissenschaften in Frankreich betrifft, sieht die Forschungssituation noch schlechter aus. Wenn auch in jüngster Zeit einige Arbeiten zum deutsch-französischen Wissenschaftsverhältnis um 1800 erschienen sind, so fehlt es leider noch immer an einer Untersuchung zum Einfluss der wissenschaftlichen Situation in Frankreich auf die Studien der Brüder von Humboldt. So bleibt zu hoffen, dass diese Arbeit einige Anregungen zu weiteren Untersuchungen auf diesem Gebiet zu geben vermag. Die frühen Schriften von Wilhelm und Alexander von Humboldt bergen noch manche Schätze, die darauf warten, näher beleuchtet zu werden.

I. Die Ausbildung Wilhelm und Alexander von Humboldts im Rahmen einer ganzheitlichen Weltbetrachtung

In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in ganz Europa die Bemühungen verstärkt, den beunruhigenden Dualismus zwischen Körper und Geist, der insbesondere in der Nachfolge von Ren¦ Descartes mehr und mehr zum Problem geworden war, zu überwinden. Sowohl vonseiten der Philosophie als auch vonseiten der Naturwissenschaften und Medizin gab es Anstrengungen, die duale Sichtweise des Menschen in einer monistischen aufzuheben. Vor diesem Hintergrund ist nun auch die von zahlreichen Gelehrten unternommene Suche nach einer ›Lebenskraft‹, einer ›vis vitalis‹, einer ›vis essentialis‹ oder einem ›nisus formativus‹ zu sehen. Mithilfe einer solchen Essenz oder Substanz, sei sie nun materiell oder immateriell, wollte man Geist und Körper, das Spirituelle sowie das Physische, miteinander verbinden. Ziel dieser Bemühungen war eine ganzheitliche, allumfassende Sicht der Welt. Der Mensch wurde dabei nicht mehr als Wesen zweier Welten, sondern als Angehöriger der natürlichen Schöpfung gesehen. Im Zuge dieses Monismus rückte Gott immer mehr in den Hintergrund. Fragen nach dem Schöpfer oder nach der ewigen Seele des Menschen gewichtete man jetzt nicht mehr als Problem erster Priorität. Viele Gelehrte liessen theologische Fragen, die nicht mit Gewissheit zu beantworten waren, tunlichst beiseite. Selbst ein Theologe wie Johann Gottfried Herder widmete sich lieber der natürlichen Anthropologie, als dass er sich in erster Linie mit dem Seelenheil oder dem Weiterleben der Seele nach dem Tod seiner Mitmenschen beschäftigt hätte. Er wandte sich stattdessen ›lösbaren‹ Aufgaben zu und sah dem Fortschritt der Menschheit voller Zuversicht entgegen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass auch Wilhelm und Alexander von Humboldt, aufgewachsen in einer weltoffenen und ›aufgeklärten‹ Familie, im Geiste dieser monistischen Weltbetrachtung der Spätaufklärung erzogen wurden. Ihre erste Erziehung zu Hause durch sorgfältig ausgewählte Hauslehrer und die Planung ihrer beruflichen Zukunft im Dienste des preussischen Staates hatten denn auch zum Ziel, dem neuen Menschenbild gerecht zu werden.

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I.1.

Die Ausbildung Wilhelm und Alexander von Humboldts

Die Erziehung der Brüder von Humboldt im Horizont der Spätaufklärung

Wilhelm und Alexander von Humboldt beschäftigten sich vor allem während des letzten Dezenniums des 18. Jahrhunderts intensiv mit der Suche nach der ›Lebenskraft‹, die in dieser Arbeit näher betrachtet und in einen grösseren kulturellen und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden soll. Unterbrochen wurde diese Suche unter anderem auch durch Veränderungen ihrer Lebensumstände, denn für beide brachten die letzten Jahre vor 1800 eine markante Zäsur im weiteren Lebenslauf. Zum einen starb Ende 1796 ihre verwitwete Mutter Elisabeth von Humboldt, die ihnen ein sehr grosses Vermögen hinterliess, zum andern verbrachten beide kurze Zeit später mehrere Jahre im Ausland. Wilhelm von Humboldt übersiedelte 1797 nach Paris, unternahm mehrmonatige Reisen durch Frankreich und Spanien und übernahm schliesslich von 1802 bis 1808 die Stelle als preussischer Resident beim päpstlichen Stuhl in Rom. Sein Bruder Alexander hielt sich zur Vorbereitung auf seine geplante Südamerikareise ab 1797 in Salzburg, Paris und Madrid auf, um am 5. Juni 1799 seine grosse Reise in La CoruÇa anzutreten. Erst am 3. August 1804 kam der äusserst erfolgreiche Naturforscher wieder in Bordeaux an, ohne allerdings für die nächsten zwanzig Jahre seinen festen Wohnsitz in Paris aufzugeben.1 Aufgrund dieser biografischen Daten werden oft auch die Schriften der beiden Brüder, die vor ihrer Übersiedelung nach Paris entstanden sind, unter dem nivellierenden Etikett ›Frühwerke‹ betrachtet, so als bildeten sie tatsächlich eine abgeschlossene und homogene Einheit von Schriften. Doch zum Zeitpunkt dieser Zäsur lagen entscheidende Änderungen in der Ausrichtung ihrer Forschungen bereits hinter ihnen. Denn gerade die Werke, die in den Neunzigerjahren entstanden sind, zeigen, wie sehr die Frage nach einer einheitsstiftenden organischen Kraft sowohl von naturwissenschaftlichen als auch metaphysischen Diskursen beeinflusst worden ist. Im Spannungsfeld der sich allmählich vollziehenden Trennung zwischen Historismus und Naturalismus wurde eine universale Weltbetrachtung zunehmend problematisch. Die daraus resultierenden

1 Biografische Werke zu Wilhelm und Alexander von Humboldt sind in reichlicher Fülle vorhanden. Trotzdem finden sich bis heute in der Forschungsliteratur noch zahlreiche biografische Angaben, die entweder nicht belegt oder mit Sicherheit falsch sind. Deshalb bietet auch die folgende Auswahl teilweise widersprüchliche Darstellungen, die im Einzelnen stets zu überprüfen sind: Beck, H. (1961); Berglar (1991); Biermann, K.-R. (1983); Biermann, K.R. / Jahn / Lange (1968); Borsche (1990a); Brenner (1990); Bruhns (1872); Fröhling / Reuss (1999); Geier (2009); Hein (1985); Howald (1944); Krätz (1997); Leitzmann (1940); MeyerAbich (1995); Nelken (1980); Plewe (1970); Richter (2009); Rübe (1988); Schleucher (1985); Scurla (1955); Sweet (1978 / 1980); Terra (1956).

Die Erziehung der Brüder von Humboldt im Horizont der Spätaufklärung

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Unsicherheiten machten sich auch in den Frühwerken der Humboldts auf markante Weise bemerkbar. Zunächst soll aber der Frage nachgegangen werden, welche Impulse überhaupt ausschlaggebend waren für das Bemühen Wilhelms und Alexanders um ein Naturkonzept, welches auch den Menschen umfassen sollte. Ihre Hinwendung zu praktischen anatomischen und physiologischen Versuchen, die Aufschluss über die ›Lebenskraft‹ geben sollten, ist ganz im Zeichen einer Anthropologie zu sehen, die sich lediglich als Teilgebiet der Naturgeschichte verstand. Doch nur wenn man die Ausbildung der Brüder und die ihre Forschungen leitenden Personen in der Untersuchung der frühen Schriften berücksichtigt, lässt sich analysieren, wie tief verwurzelt das Denken der Humboldts in der Spätaufklärung war. Die Frage stellt sich also, welchen Einfluss die Erziehung durch Hauslehrer auf Schloss Tegel und die späteren Studien an den Universitäten von Frankfurt an der Oder und Göttingen auf die Genese ihrer zeitlebens monistischen Weltbetrachtung hatte?

I.1.a) Die Kindheit auf »Schloss Langweil«2 Rückblickend schrieb Alexander von Humboldt am 4. August 1801 in Santa F¦ de Bogot‚ – wie es scheint ohne äusseren Anlass – seinen bisherigen Lebenslauf nieder. Noch im Jahre 1839 durften diese Aufzeichnungen aufgrund seiner persönlichen Verfügung nicht veröffentlicht werden.3 Hieraus schliesst KurtReinhold Biermann, dass diese Memoiren die ungeschminkte, wenn auch subjektive Wahrheit über seine Kindheit und Jugend enthalten dürften.4 Dazu ist allerdings anzumerken, dass es durchaus auch andere Gründe als ein zu persönlicher Inhalt dieser Autobiografie für Alexanders spätere Vorsicht hinsichtlich einer Veröffentlichung geben könnte. Da der Hinweis des Verfassers auf eine Nichtveröffentlichung erst aus dem Jahre 1839 stammt, lässt sich nicht ohne Weiteres daraus schliessen, Alexanders »echte Bekenntnisse« seien von Anfang an nur für einen privaten Gebrauch bestimmt gewesen. Denn möglicherweise hatte er erst im Nachhinein Bedenken, seine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Einzelne Charakterisierungen berühmter Personen, so zum Beispiel die von Georg Forster, sind nämlich sehr despektierlich gehalten, sodass er später, im 2 Henriette Herz berichtete, Alexander von Humboldt hätte seine in hebräischer Sprache abgefassten Briefe an sie und eine gemeinsame Freundin (wahrscheinlich handelt es sich um Rahel Levin) mit dem Vermerk »Schloss Langweil« versehen. Siehe dazu: Bruhns (1872), Bd. 1. S. 49. 3 Vgl. dazu: Biermannn, K.-R. (1989), S. 31. 4 Ibid.

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Die Ausbildung Wilhelm und Alexander von Humboldts

reiferen Alter, vielleicht lieber auf eine Publikation verzichtete. Des Weiteren spricht für eine anfänglich offizielle Abfassung dieser Memoiren, dass Alexander schon während der Südamerikareise seine Briefe und Tagebücher im Hinblick auf eine Veröffentlichung niederschrieb. Zum einen gehörte dieses Verfahren zu seiner geschickten ›Öffentlichkeitsarbeit‹ für den zukünftigen Verkauf des geplanten Reisewerks, zum andern musste er stets damit rechnen, nicht mehr lebend von seiner Forschungsreise zurückzukehren, und war deshalb auf einen eventuellen Nachlass bedacht.5 Ebenso weist der ausgefeilte, hypotaktische Schreibstil eher nicht auf ein Dokument zum reinen Privatgebrauch. Aus diesen Gründen ist der folgende Textauszug meiner Meinung nach nur mit Vorbehalt als ›wahr‹ zu betrachten. Alexanders Darstellung seiner Ausbildung, bei der es an naturwissenschaftlichen Impulsen gefehlt haben soll, ist vermutlich allzu negativ : »Der Wunsch, entfernte Weltteile zu besuchen und die Produkte der Tropenwelt in ihrer Heimat zu sehen, ward erst in mir rege, als ich anfing, mich mit Botanik zu beschäftigen. Bis in mein 17tes und 18tes Jahr waren alle meine Wünsche auf meine Heimat beschränkt. So sorgfältig auch unsere [Wilhelms und Alexanders] literarische Erziehung war, so ward doch alles, was auf Naturkunde und Chemie Bezug hatte, in derselben vernachlässigt. Kleinlich scheinende Umstände haben oft den entscheidendsten Einfluss auf ein tätiges Menschenleben, und so muss man die Spuren wichtiger Ereignisse oft in diesen Umständen suchen. Der Hofrat Heim, von dem das Gymnostomum Heimii den Namen führt und der mit dem jungen Muzel lange in Sir Joseph Banks Freundschaft gelebt, war unser Hausarzt. Er hatte eine grosse Sammlung von Moosen und gab sich eines Tages die Mühe, meinem älteren Bruder die Linn¦schen Klassen zu erläutern. Dieser, des Griechischen schon damals kundig, lernte die Namen auswendig, ich klebte Lichen parietinus und Hypna auf Papier, und in wenigen Tagen war uns beiden alle Lust zur Botanik wieder verschwunden. Heim verschaffte unserem Nachbar, dem H[err] von Burgsdorf, botanischen Ruf, dieser legte dendrologische Sammlungen an. Ich sah dort Gleditsch und viele Glieder der Naturforschenden Gesellschaft – krüppelhafte Figuren, deren Bekanntschaft mir ebenfalls mehr Abscheu als Liebe zur Naturkunde einflösste.«6

Diese Aussagen Alexanders erwecken den Eindruck, als wäre seine Kindheit – und die seines Bruders – ziemlich trostlos und monoton gewesen. So werden 5 Siehe dazu auch die Anmerkung von Humboldt: »Ich habe in der Insel Cuba angefangen, mein Leben zu beschreiben. [Diese Aufzeichnungen sind verschollen; Anm. K.-R. Biermann.] Ungewiss, ob ich dies Unternehmen je ausführen kann, habe ich hier die nächste Veranlassung meiner Reise schildern wollen – in der Hoffnung, diese Zeilen einst, in spätem Alter, mit Freude zu lesen.« Ibid. S. 32. 6 Alexander von Humboldt: Ich über mich selbst (mein Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden 1769 – 1790). Erstveröffentlicht von Kurt-Reinhold Biermann / Fritz G. Lange: Alexander von Humboldts Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden. In: Festschrift (1969), S. 87 ff. Wiederveröffentlicht in: Biermannn, K.-R. (1989), S. 32 ff.

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auch in den biografischen Werken zu den Humboldts die Erziehungsmethoden und der Unterricht oft als ›kalt‹, ›abstrakt‹, ›rational‹ und ›unsinnlich‹ beschrieben. Belegen lassen sich solche Einschätzungen in der Tat durch autobiografische Notizen, wie das obige Zitat zeigt. Zu beachten ist dabei allerdings zweierlei: Erstens stammen solche Belege aus späterer Zeit, und zweitens gibt es zahlreiche Widersprüche zwischen einzelnen Dokumenten. Im Falle von Alexander ist zu vermuten, dass nachträgliche Beteuerungen einer freudlosen Jugend sowie seines anfänglichen Desinteresses für Botanik der eigenen Legendenbildung dienten. Nicht zuletzt als begeisterter Anhänger von Goethes »Werther« war er zudem in seiner Jugend ›anfällig‹ für eine Autonomsetzung seines Genies. Zu bedenken ist ebenfalls, dass die ersten Jahre des gemeinsamen Unterrichts der Brüder von Humboldt zu Hause in Berlin bereits durch neue pädagogische Erziehungskonzepte der Spätaufklärung geprägt waren, die versuchten, den Schulunterricht vom mechanischen Auswendiglernen zu befreien und das Wissen nach kindgerechten, ›natürlichen‹ Methoden zu vermitteln. So spielten mit Sicherheit die Lernmethoden Joachim Heinrich Campes eine grosse Rolle, obwohl dieser 1775 die Stelle als Hauslehrer bei der humboldtschen Familie endgültig verlassen hatte.7 Zunächst zur Erziehung des Stiefbruders Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Holwede von 1770 bis 1773 nach Tegel geholt, übernahm er 1775 für kurze Zeit die Unterrichtung von Wilhelm und Alexander.8 In dieser Zeit, in der Campe vielfältige Beziehungen zu den Berliner Aufklärern um Mendelssohn und Nicolai knüpfen konnte, entstanden seine ersten Veröffentlichungen, darunter auch die Abhandlung »Die Empfindungsund Erkenntnisskraft der menschlichen Seele die erstere nach ihren Gesetzen, beyde nach ihren ursprünglichen Bestimmungen, nach ihrem gegenseitigen Einflusse auf einander und nach ihren Beziehungen auf Charakter und Genie«9, die 1776 in Leipzig erschienen ist. Diese Schrift war eine Antwort auf eine von 7 Zu Campes Biografie und Werkübersicht siehe: Leyser (1877). Eine übersichtliche Illustration zu Campes Lebenswerk bietet: Schmitt, H. (1996). Die Sekundärliteratur zu Campe ist trotz seiner grossen Bedeutung für die Pädagogik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der Wertschätzung durch berühmtere Zeitgenossen wie Georg Forster, Kant, Herder, Heyne, Klopstock, Mendelssohn, Wieland und andere dünn gesät. Möglicherweise liegen die Ursachen dafür in Campes ›zu langer‹ Begeisterung für die französische Revolution, die er noch zu dem Zeitpunkt verteidigte, als sich die meisten in Deutschland bereits enttäuscht und entsetzt von den blutigen Ereignissen in Frankreich zeigten. Campe erwuchsen daraus grosse Schwierigkeiten mit Verlegern und Obrigkeit, besonders auch wegen seiner Annahme des französischen Bürgerrechts. Als Jakobiner verdächtigt wurde er deshalb lange Zeit, namentlich während der napoleonischen Kriege, geächtet. Zur Wirkungsgeschichte Campes siehe auch die Einleitung von Hanno Schmitt in: Campe (1996), Bd. 1: Briefe von 1766 – 1788. S. 23 – 27. 8 Die Darstellung Berglars, Campe sei bis 1777 bei der Familie von Humboldt als Hauslehrer tätig gewesen, ist nicht korrekt. Siehe: Berglar (1991), S. 20. 9 Campe (1776)

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der Berliner Akademie der Wissenschaften ausgeschriebene Preisfrage, an der sich auch Herder beteiligte. Später wirkte Campe unter anderem als Lehrer an Basedows berühmtem Philanthropinum in Dessau. Leider wirkt noch heute Wilhelm von Humboldts anlässlich einer gemeinsamen Parisreise 1789 geübte Kritik an Campes Verständnis von Bildung in der Forschung nach: »Zwischen Campe und mir auf dieser ganzen reise wenig gespräch, noch weniger interessantes. Ich kann mich nicht in die art finden, wie er die dinge ansieht. Seine und meine gesichtspunkte liegen immer himmelweit auseinander. Ewig hat er vor augen, und führt er im munde das was nüzlich ist, was die menschen glüklicher macht, und wenn es nun darauf ankommt zu bestimmen was das ist, so ist diese bestimmung immer so eingeschränkt. Für das schöne, selbst für das wahre, tiefe, feine, scharfsinnige in intellectuellen, für das grosse, in sich edle in moralischen dingen scheint er äusserst wenig gefühl zu haben, wenn nicht mit diesem zugleich eigen ein unmittelbarer nuzen verbunden ist.«10

Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, diese Tagebuchnotiz des 22jährigen als Beleg dafür zu werten, dass der ehemalige Hauslehrer wenig Beachtung bei seinem Zögling genoss und seine Erziehung in keinerlei Weise von nachhaltiger Wirkung war.11 Doch diese Einschätzung dürfte der tatsächlichen Bedeutung Campes für die Ausbildung der beiden Humboldts kaum gerecht werden, auch wenn Karl Bruhns, der die erste grundlegende Biografie über Alexander von Humboldt verfasste, dessen Einfluss als unbedeutend einschätzte. So geht Bruhns kaum auf Campes Wirken im Hause Humboldt ein und meint etwas lapidar : »Wie Campe’s pädagogisches Talent damals, als man es liebte die vornehme Jugend nach Rousseau’scher Methode zu emilisiren, viel zu sehr überschätzt wurde, so überschätzte man auch seinen Einfluss auf die beiden Humboldt über alle Massen. Alexander, der gern und dankbar seine Lehrer nennt, hat Campe nie als solchen genannt; er scherzte sogar über ihn.«12

In einer Fussnote zu dieser Textstelle zitiert Bruhns als weiteren Beleg einen Brief Alexanders an Samuel Thomas von Soemmerring vom 28. Januar 1791, in dem der ehemalige Schüler über eine von Campe geplante Amerikareise zwecks des Studiums der Verfassung der USA spottet.13 Doch ganz abgesehen von Alexan10 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. S. 85 f. (Tagebuchnotiz vom 18. – 23. Juli 1789). 11 In einem späteren Brief an Charlotte Diede vom Dezember 1822 äussert sich Wilhelm sehr positiv über Campe: »Er [Campe] hatte schon damals eine sehr glückliche, natürliche Gabe, den Kinderverstand lebendig anzuregen.« Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 21. 12 Bruhns (1872), Bd. 1. S 22. Offenbar wirkt diese Einschätzung bis heute in der Forschungsliteratur nach. 13 »Campe hat ein Project, nach Amerika zu reisen. Ob er es ausführt, ist noch ungewiss. Denken

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ders bekannter und gefürchteter Spottlust, beweist der Brief gerade die nach wie vor engere Beziehung zwischen dem Philanthropen und den Brüdern von Humboldt. Auch wenn Campe nur kurze Zeit in Tegel tätig war, so heisst das nicht unbedingt, dass er keinen Einfluss mehr auf die weitere Erziehung hatte. Denn aus mehreren Briefen Wilhelms an seinen früheren Erzieher geht hervor, dass dieser auch noch nach seiner Lehrtätigkeit im Hause Humboldt regen Anteil an den Fortschritten seiner ehemaligen Zöglinge nahm.14 Von Alexander von Humboldt hingegen sind nur Briefe aus den Jahren von 1789 bis 1792 erhalten geblieben.15 Offenbar erledigte der ältere Bruder während der Ausbildungszeit in Berlin die Korrespondenz mit Joachim Heinrich Campe. Doch fragen wir zunächst, ob Alexanders oben zitierte Erinnerung an eine Erziehung, die die Naturwissenschaften ausser Acht liess, überhaupt richtig ist? In Wilhelms Brief an Campe vom 31. August 1781 lesen wir : »Die Geographie lerne ich noch, ausser dem gewöhnlichen Unterricht, dadurch, dass ich häufig Karten abkopire, und mir so die Lage der Länder, Provinzen und Städte einpräge. Von der Logik hat mir Herr Kunth durch Ihre Seelenlehre, die er mit mir und meinem Bruder ganz durchgenommen, und die uns sehr amüsirt hat, einige Begriffe beigebracht. […] Die Naturgeschichte lerne ich aus Rafs Naturgeschichte für Kinder, in der ich oft lese. Die Botanik insbesondere lehrt mich Herr Heim. Weil er uns aber nicht oft genug besucht, so bin ich auch noch nicht sehr weit darin gekommen.«16

Diese Stelle ist ein kurzer Ausschnitt aus einem Brieffragment, das sehr ausführlich Wilhelms Lernstoff, Lernmethode und Lektüreliste beschreibt. Es kann aber mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, dass diese auch für Alexanders Unterricht Gültigkeit besassen. Daher erlaubt dieser Text eine differenziertere Analyse der schulischen Erziehung im Hause Humboldt. Sie Sich aber, Lieber, die Veranlassung, die er angiebt, nicht etwa um die westind[ische] Jugend mit einem Transport seiner Kinderbibliotheken, Robinsonaden p. zu beglükken, nicht um den Wilden seinen neuen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu predigen, nicht um das Tanzen in Philadelphia nach den Regeln der Keuschheit zu reguliren, – nein, um die Verfassung des nordamerikan[ischen] Freistaats in der Nähe zu studiren, sie nach einem Jahre (denn so lange soll ihn Europa entbehren) der Alten Welt laut zu verkündigen und so Freiheit und Wahrheit über die Menschheit zu verbreiten. Ist je eine drolligere Idee in eines Menschen Kopf gekommen! Ich erwarte täglich den Brief, worinn Campe mir das Mitreisen anbietet.« Brief Alexander von Humboldts an Samuel Thomas von Soemmerring vom 28. Januar 1791. In: Jahn / Lange (1973), S. 123. (Brief Nr. 65.) 14 Campe (1996), Bd. 1: Briefe von 1766 – 1788. Es handelt sich um die Briefe Nr. 184, 201, 247, 426, 429, 435 und 437. Die Briefe 407 und 414 vom Erzieher der Brüder von Humboldt, Gottlob Johann Christian Kunth, beziehungsweise von der Mutter Maria Elisabeth von Humboldt dokumentieren sehr schön, wie gerne noch 1788 Campes Beziehungen genutzt wurden, um Wilhelm den Übertritt an die Universität Göttingen zu erleichtern. Notwendig waren solche Beziehungen deshalb, weil für den Preussen Wilhelm ein Studium ausser Landes eigentlich verboten gewesen wäre. 15 Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. II. S. 277 – 294. 16 Ibid. S. 300 f.

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Tatsächlich scheint der Botanikunterricht bei Ernst Ludwig Heim, dem Hausarzt der Familie von Humboldt, nicht besonders fruchtbar gewesen zu sein, zumindest vermochte er weder Wilhelm noch Alexander – wie ein Vergleich mit dessen oben zitierter biografischen Aufzeichnung zeigt – zu begeistern. Was jedoch die Naturgeschichte und Geografie betrifft, so muss man betonen, dass diese Schulfächer noch keineswegs zur damaligen Standardausbildung des Grossbürgertums oder niederen Adels gehörten. Nicht zuletzt dank Campe und den philanthropischen Bildungsreformern wurde zurzeit der Spätaufklärung auch auf die Unterweisung praktischer Kenntnisse nach kindgerechten Lernmethoden geachtet. Denn mehr und mehr setzte sich die Erkenntnis durch, dass ein aufgeklärter Staatsbürger mehr bedurfte als eine, nur zu oft rudimentäre, Ausbildung in Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion. Mit der Unterweisung in Naturgeschichte und Geografie sollten die Kinder an die Herausforderungen der neuen Zeit herangeführt werden, die nun nach einer stärkeren Orientierung an den ökonomischen Grundlagen des Staates verlangte.17 Gerade der Vater von Wilhelm und Alexander, Alexander Georg von Humboldt, war gegenüber diesen fortschrittlichen Erziehungsmethoden sehr aufgeschlossen. Deshalb kann der Unterricht auf Schloss Tegel durchaus als innovativ bezeichnet werden. Belegt der oben zitierte Briefauszug also bereits den grossen Stellenwert der Realien in der Ausbildung der Humboldts im Allgemeinen, so lässt sich anhand dieser und diverser anderer Textstellen des Briefes aber auch der unmittelbare Einfluss der campeschen Bildungsreformpläne im Besonderen nachweisen. Wilhelms Darstellung, dass er die Geografie »noch, ausser dem gewöhnlichen Unterricht, dadurch [lerne], dass ich häufig Karten abkopire, und mir so die Lage der Länder, Provinzen und Städte einpräge«, stimmt auffallend mit Campes Auffassung darüber überein, wie der Geografieunterricht für Kinder interessant gestaltet werden soll. Dessen legendäres geografisches Kartenspiel beruhte auf dem Prinzip, sich zuerst mithilfe einer Landkarte die Lage von Städten, Gebirgen 17 Interessant ist in diesem Zusammenhang der spätere Briefwechsel zwischen Campe und Georg Forster – Alexander von Humboldts Reisebegleiter von 1789 und 1790 an den Niederrhein, nach England, Holland und Frankreich – über die geplante Mitarbeit des Weltumseglers an der »Schulencyclopädie«. Forster wollte ein »Handbuch der Naturgeschichte für Schulen« verfassen, das den Zusammenhang der Natur illustrieren und die Naturgegenstände veranschaulichen sollte. Die bereits als Entwurf vorhandene Schrift wurde nicht ausgeführt, da Forster auf Einladung der Zarin Katharina II. von Russland eine Expedition ins Südmeer unternehmen wollte. Wegen des russisch-türkischen Krieges 1787 – 1792 wurde die auf vier Jahre geplante Forschungsreise zunächst jedoch verschoben und schliesslich ganz abgesagt. (Siehe dazu die Briefe Nr. 339, 344, 353, 383, 422 und 430 in: Campe (1996), Bd. 1.) Auch Steven Jan van Geuns berichtet in seinem Tagebuch über die gemeinsame Rheinreise mit Alexander von Humboldt im Herbst 1789, anlässlich ihres Besuches bei Georg Forster in Mainz, »dass aus dieser Reise wegen des aufkommenden Krieges zwischen Russland und der Türkei nichts werden sollte, da die Kaiserin ihre Schiffe und ihr Geld dafür brauchen musste«. (Geuns (2007), S. 161.)

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und Gewässern zu veranschaulichen, um sich danach die dazugehörigen statistischen Angaben (Regierungsform, Bevölkerung, Handel, Landesprodukte etc.) einzuprägen.18 Eine weitere Übereinstimmung zwischen Campes in die Pädagogik eingeführten und von Wilhelm praktizierten Lernmethoden betrifft das Erlernen der Sprachen. Der bereits erwähnte Brief Wilhelms vom 31. August 1781 enthält folgende Beschreibung: »Sprachen: Ich habe nur in drei Sprachen Unterricht gehabt, in der deutschen, lateinischen und französischen.19 Die deutsche Sprache hab’ ich nach keiner Grammatik gelernt. Herr Kunth hat nur immer die Fehler, die ich beim Schreiben oder Sprechen machte, verbessert, und ich selbst bin beim Lesen deutscher Bücher aufmerksam gewesen. Dadurch habe ich es dahin gebracht, dass ich im Schreiben wohl nur äusserst selten, und auch im Sprechen nicht häufig Fehler gegen die Grammatik mache. […] Die französische Sprache habe ich, wie die deutsche, nicht nach einer Grammatik, sondern durch Lesen und vieles Sprechen gelernt.«20

Das Erlernen des Lesens und Schreibens der Muttersprache sowie des Sprechens einer Fremdsprache nach einer sogenannten ›natürlichen‹ Methode war von Beginn an ein Grundanliegen Campes.21 Orthografie und Grammatik waren für ihn künstliche Hindernisse beim Spracherwerb, da sie dem Kind das natürliche und intuitive Sprachgefühl austreiben würden. So meinte Joachim Heinrich Campe bereits 1775, noch vor seinem Aufenthalt am Dessauer Philanthropinum, als er als Feldprediger in Diensten des Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich Wilhelm II von Preussen, den Auftrag bekam, einen Erziehungsplan für dessen Sohn zu entwerfen: »In Ansehung der fremden Sprachen muss in diesen zwei Jahren [nach den ersten beiden vorbereitenden Jahren] keine andere, als allein die französische und zwar an18 Campes »Geographisches Kartenspiel« erschien zwar erst 1784, aber bereits 1775 betonte er die Wichtigkeit der Geografie für den Schulunterricht. Siehe dazu: Joachim Heinrich Campe: Erziehungsplan für das auf Befehl Sr. Königl. Hoheit des Kronprinzen von Preussen zu erziehende Kind. Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. I. S. 197. Ob allerdings der im Hause Humboldt tätige Campe mit einem »anschaulichen« geografischen »Kartenspiel« den höchstens sechsjährigen Alexander beeindruckte, wie Meyer-Abich meint, bleibt sehr fraglich. Siehe: Meyer-Abich (1995), S. 17. 19 Hier widerlegt Wilhelm die spätere Erinnerung seines Bruders, er hätte sich aufgrund seiner Griechischkenntnisse im Botanikunterricht Heims die linn¦schen Pflanzennamen besser einprägen können! Siehe: Biermannn, K.-R. (1989), S. 32. 20 Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. II. S. 297; 299. 21 Siehe dazu beispielsweise Joachim Heinrich Campes »Neue Methode, Kinder auf eine leichte und angenehme Weise lesen zu lehren, nebst einem dazu gehörigen Buchstaben- und Silbenspiele in sechs und zwanzig Charten« (Campe (1778)). Dass Wilhelm tatsächlich bei Campe lesen und schreiben lernte, wird auch durch einen Brief an Charlotte Diede vom 1. Mai 1825 belegt: Humboldt, W. (1909), Bd. 1. S. 121. (44. Brief).

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fangs bloss als Muttersprache durch Plaudern und Spielereien erlernt und das Grammatikalische derselben bis auf ein reiferes Alter verschoben werden.«22

Einen dritten Hinweis auf Campes in absentia wirkenden Einfluss auf seine früheren Zöglinge erhalten wir aus Wilhelms Lektürekanon.23 Dieser enthält unter anderem auch »Robinson der Jüngere« sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache24, die »Kleine Seelenlehre für Kinder«25, die in 12 Bänden erschienene »Kinderbibliothek«26 sowie die »Entdekkung von Amerika«27. Beachten wir nun noch die Bedeutung der Naturwissenschaften in Campes Bildungsreformen, dann müssen wir Wilhelms Mitteilung, »die Naturgeschichte lerne ich aus Rafs Naturgeschichte für Kinder, in der ich oft lese,«28 ebenfalls mehr Beachtung schenken. Denn gestützt auf das »Elementarwerk« Johann Bernhard Basedows29 legte auch Campe spezielles Gewicht auf die Naturgeschichte und Naturkunde, wobei Basedow unter dem Begriff der Naturkunde insbesondere naturhistorische, biologische, physikalische und morphologisch-chemische Inhalte zusammenfasste.30 Im Übrigen nimmt auch die Geografie einen grossen Raum in Basedows vierbändigem Werk ein. Aus diesen Hinweisen, die eine sehr viel grössere Bedeutung von Campes auch aus der Ferne wirkenden Autorität für die Erziehung von Wilhelm und Alexander von Humboldt belegen als bisher angenommen, können wir nun in einem weiteren Schritt die allgemeinen Erziehungsprinzipien, nach welchen der wahlweise als ›Philanthrop‹, ›Utilitarist‹ oder ›Rousseauist‹ bezeichnete Pädagoge aus Deensen unterrichtete, extrapolieren. Da die Erziehung der Brüder Wilhelm und Alexander von Anfang an sehr sorgfältig vom Vater Alexander Georg von Humboldt geplant wurde und nach seinem frühen Tod 1779 in seinem 22 Joachim Heinrich Campe: Erziehungsplan für das auf Befehl Sr. Königl. Hoheit des Kronprinzen von Preussen zu erziehende Kind. Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. I. S. 199. Wohlgemerkt standen auch Englisch, Italienisch und Lateinisch auf dem Lehrplan. Doch für ein Mitglied der königlichen Familie erachtete Campe in erster Linie Französisch als »notwendig und nützlich«. 23 Leyser (1877), Bd. II. S. 301. 24 Campe (1779 / 1780); Erster Teil. Hamburg 1779. Zweiter Teil Hamburg 1780. Die französischen Übersetzungen erfolgten bereits 1779 und 1782. 25 Campe (1780) 26 Campe (1779 – 1784) 27 Campe (1781). Dieses Buch enthält drei Teile: 1. Columbus oder die Entdeckung von Westindien; 2. Cortes oder die Entdeckung von Mexico; 3. Pizarro oder die Entdeckung von Peru. Interessanterweise handelt es sich beim ersten Teil über Columbus im Wesentlichen um eine Aufbereitung von William Robertsons »History of America«, die 1777 erstmals in London erschienen ist. Siehe dazu: Schmitt, H. (1996), S. 163. Ist daher Alexanders Behauptung in dem auf Seite 22 angeführten Zitat, er habe sich bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr ausschliesslich für seine Heimat interessiert, nicht sehr fragwürdig? 28 Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. II. S. 301. 29 Basedow (1774) 30 Siehe dazu das Nachwort von Reinhard Stach in: Campe (1997), S. 101.

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Sinne von der Mutter Elisabeth von Humboldt sowie dem Hauslehrer Christian Kunth geleitet wurde, verdient das vom Vater sehr geschätzte pädagogische Bemühen Campes auch im Hinblick auf dessen grundlegende Erziehungsprinzipien besondere Beachtung. Denn gerade im Hause Humboldt fielen bürgerlich-republikanische Bildungsvorstellungen auf fruchtbaren Boden.31 Als einer der Protagonisten der philanthropischen Reformbewegung stützte sich auch Campe auf die Erkenntnisse der empirischen Anthropologie und Medizin.32 Diesen Ansatz der Philanthropen belegt exemplarisch eine Stelle aus Ernst Christian Trapps »Versuch einer Pädagogik« von 1779: »Man sieht aus dem bisherigen leicht, dass sich der Erzieher eigentlich zu keiner der vier Fakultäten halten müsste, wenn alles wäre, wie es sein sollte. So wie die Sachen bisher stehen, muss er sich zur theologischen halten. Ich wünschte, wenn eins sollte, noch lieber zur medizinischen. Die Theologen zeigen ihm die menschliche Natur’, wie wir sie durch das Glas des Kirchensystems ansehen müssen; wenn man aber als Erzieher die menschliche Natur behandeln soll, so muss man sie mit seinen natürlichen Augen und nicht durch gefärbtes Glas ansehen. Dazu hilft nun das Studium einiger Teile der Arzneiwissenschaft mehr als die gesamte Theologie, und die Schriften eines Haller, Tissot und ihres gleichen mehr, als alle Kirchenväter.«33

Ähnlich wie Trapp fasste auch Campe die Erziehung der Kinder als Unterstützung bei der Entwicklung ihrer natürlichen Anlagen auf. So schreibt er bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der »Kleinen Seelenlehre für Kinder«: »[…] dass die vollkommenste Erziehung diejenige ist, welche alle physischen und moralischen Anlagen des Leibes und des Geistes der Kinder in dem besten Verhältnisse zu einander gleichmässig auszubilden sucht.«34

Deshalb war nicht die Deduktion abstrakter Regeln aus einem System sein Ziel, sondern die Bestimmung der ursprünglichen Kräfte, die in ein harmonisches Gleichgewicht gebracht werden sollen. So wird dieses Vorhaben in seiner Schrift »Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeit zu überspannen« mit folgenden Beobachtungen begründet: »1) Je mehr die ursprünglichen Kräfte eines Menschen sich dem Ebenmaasse nähern, desto grösser und ausgebreiteter ist seine Brauchbarkeit im bürgerlichen Leben; 31 Wilhelm und Alexander von Humboldts zumindest anfänglich grosse Sympathien für die französische Revolution resultierten nicht zuletzt auch aus der republikanisch-antiaristokratischen Gesinnung des Vaters. 32 Kersting (1992). Zum wissenschaftshistorischen und methodischen Kontext des Philanthropismus siehe vor allem das 2. Kapitel. Leider versäumt es Kersting, die zeitgenössischen Quellen der Anthropologie und Medizin genauer zu untersuchen. Es böte sich hier ein interessanter Anknüpfungspunkt der Pädagogik an die Naturwissenschaften. 33 Trapp (1913), S. 231 f. 34 Campe (1780), S. 3.

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2) Desto vielfacher, reiner, dauerhafter und stärker ist sein Genuss der Freuden dieses Lebens; und 3) Desto fähiger und williger ist er, auch über seine Mitmenschen Freuden verbreiten und Leiden von ihnen abwehren zu helfen.«35

Es sind wohl solche Äusserungen, die Campe in den Augen Wilhelm von Humboldts als Utilitaristen erscheinen liessen, der die Dinge nur im Hinblick auf ihren »unmittelbaren nuzen« betrachtete. Nicht zu bestreiten ist sein Ziel, durch Erziehungsreformen die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Deutschland zu verändern, das heisst zu demokratisieren. Trotzdem darf nicht übersehen werden, dass sein Menschenbild zutiefst geprägt war von den zeitgenössischen Bemühungen der Physiologen, Mediziner und Anthropologen, den Geist als natürliche Substanz in Verbindung mit dem Körper zu setzen. Eine solche Verbindung sollte mit einer nicht näher zu bestimmenden Kraft hergestellt werden. So bildet auch für Campe »im ganzen Menschen nur eine Kraft, die wir Seele nennen«36 das Fundament für die Entwicklung jedes Individuums: »Alle Kräfte (ausser den blos mechanischen und denen, welche der Materie, als Materie, zukommen) die wir in unserm Körper sowohl, als auch in unserer Seele wahrnehmen und als besondere Kräfte zu unterscheiden pflegen, sind in unserer einigen Seelenkraft, und also in der wesentlichen Natur des Menschen, theils u n m i t t e l b a r , theils m i t t e l b a r e r W e i s e gegründet. Einige nehmlich sind wesentliche, und also nothwendige, andere hingegen ausserwesentliche, und also nur zufällige Abänderungen (Modifikationen) jener Seelenkraft. Wir wollen für beide einen Ausdruk festsetzen, und jene u r s p r ü n g l i c h e , diese a b g e l e i t e t e Kräfte nennen.«37

Eine »einige Seelenkraft« ist also die Voraussetzung für die Bildung des Menschen. Auch wenn von der Pädagogik in erster Linie die daraus folgenden Konsequenzen für den gesellschaftlichen Nutzen des Einzelnen in den Vordergrund gerückt werden, bedeutet Campes Konzept trotzdem eine Überwindung der mechanistisch-rationalistischen Auffassung des Menschen. Wie wir noch sehen werden, folgte der Pädagoge mit der Annahme einer einzigen, Körper und Geist verbindenden Kraft der anthropologischen, wissenschaftlich-empirisch fundierten Theorie eines Bildungstriebs von Johann Friedrich Blumenbach oder einer ›vis essentialis‹ von Caspar Friedrich Wolff, welche während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der Nachfolge Albrecht von Hallers, versuchten, die Äusserung dieser Kraft empirisch nachzuweisen. Später versuchte auch der ›Id¦ologue‹ Pierre-Jean-Georges Cabanis, wie auch die deutschen Philanthropen mit Berufung auf Haller, den Menschen als ein 35 Campe (1997), S. 41. Diese Abhandlung wurde erstmals veröffentlicht in: Campe (1785), Bd. 3; S. 291 – 434. 36 Campe (1997), S. 6. 37 Ibid. S. 7.

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System physischer und moralischer Kräfte, die miteinander in Beziehung stehen, darzustellen.38 Cabanis schloss dabei immaterielle Seelenkräfte aus seiner Betrachtung explizit aus, bei den Philanthropen wird das Problem der Seele offensichtlich nicht thematisiert. Des Weiteren nimmt hier Campe Bezug auf Johann Gottfried Herders Konzeption einer organischen Kraft39 – nicht zuletzt in Abwehr gegen die Anthropologie Kants, der mit seiner Vorstellung eines ›homo duplex‹ nach wie vor den traditionellen Dualismus zwischen Körper und Geist aufrechterhält. Die Bildung darf sich deshalb gemäss Campe auch nicht nur auf den Geist beziehen, sondern soll ebenfalls den Körper miteinbeziehen. »Mens sana in corpore sano« – das Juvenal-Zitat besass für alle Anhänger der philanthropischen Bewegung Gültigkeit. Voraussetzend, dass eine Ausbildung aller ursprünglichen Kräfte des Menschen notwendig ist und nicht der Natur überlassen werden darf, muss nach Meinung der Philanthropen speziell beim Kind auf eine ausgewogene und harmonische Entwicklung dieser Kräfte geachtet werden, denn »1. je mehr diese Kräfte in einem Menschen verhältnissmässig entwickelt und durch Uebungen gestärkt sind, desto grösser ist seine innere Fähigkeit zur Glückseligkeit, weil er nun für tausend angenehme Genüsse Sinn und Empfänglichkeit hat, wofür andere minder ausgebildete Menschen keinen Sinn, keine Empfänglichkeit haben, und weil er diese Genüsse nun auch besser, als andere, sich zu erwerben weiss. 2. Kein Stand und kein Beruf ist zu erdenken, dessen Geschäfte nicht in eben dem Maasse besser von Statten gingen, in welchem alle die ursprünglichen Kräfte desjenigen, der sie verrichtet, mehr entwickelt worden sind.«40

Für Campe ist die individuelle Glückseligkeit also das oberste Ziel der Bildung, erst an zweiter Stelle folgt, quasi als Konsequenz daraus, die Erlangung sozialer Kompetenz. Vergleichen wir nun dieses campesche Bildungskonzept mit einer der frühesten Aussagen Wilhelm von Humboldts zu Bildungsfragen anlässlich eines Besuches der Stuttgarter Militärakademie, so stellen wir verblüffende Analogien fest: »Jeder mensch existirt doch eigentlich für sich; ausbildung des individuums für das individuum und nach den dem individuum freien kräften und fähigkeiten muss also der einzige zwek alles menschenbildes sein. Daraus dass man diesen zwek — den man freilich nicht immer unmittelbar im auge behalten kann, weil selbst die ausbildung des individuums ein vergesellschaften, und folglich bindung fürs ganze erfordert — oft nicht genug beachtete sind eine grosse menge sehr schädlicher folgen entstanden. Die iugend, die zeit ehe der mensch wenigstens als thätiges mitglied in die gesellschaft tritt, 38 Siehe dazu auch Kapitel IV.3. 39 Mit Herder stand Campe in einem freundschaftlichen Briefwechsel, der die gegenseitige Wertschätzung belegt. 40 Campe (1997), S. 24.

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ist vor ieder andren zeit geschikt zu dem behufe der freien individuellen ausbildung. Sie sollte also vorzüglich dazu genuzt werden.«41

Nur gerade zwei Monate nach Humboldts polemischer Bemerkung über Campe auf der gemeinsamen Reise nach Paris und der Schweiz gibt hier der ehemalige Zögling eine grundlegende These seines früheren Lehrers wieder : Das oberste Bildungsprinzip ist die Ausbildung aller Kräfte und Fähigkeiten eines Individuums. Wenige Jahre später wird Wilhelm hinzufügen: »Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnden Neigungen, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.«42

Neben diesen dargelegten gemeinsamen Grundlagen Campes und Wilhelm von Humboldts lässt sich aber bereits eine bedeutsame Akzentverschiebung in der Bildungstheorie des Schülers erkennen. Für den Philanthropen darf der Erzieher nicht bei der inneren Ausbildung der Kräfte eines jungen Menschen stehen bleiben, sondern muss stets dessen Sozialisation und zukünftigen Aufgaben in und für die Gesellschaft im Auge behalten. Da nun seiner Überzeugung nach die ebenmässige Entwicklung aller ursprünglichen Kräfte zugleich das notwendige Fundament für jeden Stand und Beruf bildet, entsteht kein Interessenkonflikt zwischen individueller und gesellschaftlicher Bildung. Die individuelle Entwicklung, vorausgesetzt sie verläuft in – im rousseauschen Sinne – natürlichen Bahnen,43 ist deshalb folgerichtig auch nützlich, sowohl für die Erlangung der eigenen Glückseligkeit als auch für den Fortschritt der Gesellschaft. Diese a priori gesetzte Übereinstimmung von individuellem und sozialem Nutzen führt dazu, dass Campe in den Ereignissen der französischen Revolution mehr sieht als nur eine politisch-gesellschaftliche Veränderung: nämlich den Fortschritt jedes einzelnen Franzosen auf dem Weg zu der als ideales Ziel postulierten Humanität. Für Wilhelm von Humboldt hingegen steht bereits in jungen Jahren der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Auch wenn er sich auf der Reise nach Paris und der Schweiz stets für soziale Einrichtungen wie Waisenhäuser, Hospitäler, Armenhäuser etc. interessiert und die jeweiligen Vorzüge und Mängel eingehend kritisiert, so stellen für ihn die von Staat und Gesellschaft auferlegten Verpflichtungen für den modernen Menschen letzten Endes doch eine Einschrän41 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 154 f. (Tagebuchnotiz vom 26. September 1789). 42 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 64. 43 Wie für die Philanthropen allgemein, so galten auch für Campe die Erziehungsschriften JeanJacques Rousseaus, vorab »Êmile ou l’¦ducation«, als vorbildlich, wenn auch im Einzelnen ›Korrekturen‹ vorgenommen werden mussten.

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kung, im schlimmsten Falle gar eine Verstümmelung der individuellen Persönlichkeit dar. Schon seine frühen Staatsschriften und die meist fragmentarisch gebliebenen Entwürfe zur Anthropologie und Bildungstheorie dokumentieren dieses Dilemma und lassen Wilhelm das Ideal der Humanität schliesslich in der Vergangenheit erblicken: im antiken Griechenland. Obwohl ihm spätestens seit seiner philologischen Studien antiker Quellen bei Christian Gottlob Heyne in Göttingen bekannt war, dass die antiken griechischen Stadtstaaten die von ihm so sehr geschätzte Freiheit nur für wenige Individuen auf der Grundlage einer Sklavengesellschaft gewährleisten konnten, hielt er zeitlebens an seinem Philhellenismus fest und nahm die antiken Griechen wider besseres Wissen zum Vorbild. Dieses Paradoxon eines in der Antike scheinbar verwirklichten Ideals, das zugleich als zukünftiges, in der Praxis nie zu erreichendes Ziel der Menschheit gilt, wird in Wilhelms Denken stets bestehen bleiben. Doch bevor ich auf die frühen Werke Wilhelm und Alexander von Humboldts näher eingehen werde, gilt es vorderhand, die Kindheit und Jugend der Brüder weiter zu verfolgen. Nach dem Weggang Joachim Heinrich Campes übernahm ab 1777 der erst zwanzigjährige, aber sehr gebildete Johann Christian Kunth die Erziehung der Brüder von Humboldt. Mag er auch in der Forschungsliteratur als pedantisch und kühl-distanziert beschrieben werden,44 so genoss er doch das Vertrauen der Mutter Elisabeth und führte nach dem Tod des Vaters im Jahre 1779 sowohl die Leitung der Erziehung als auch die Vermögensverwaltung der von Humboldts weiter. Im Jahre 1797 schliesslich, nach dem Tod der Mutter, nahm er als Testamentsvollstrecker die Erbteilung zwischen den Söhnen vor, die Alexander die fünfjährige Amerikareise finanziell erst ermöglichen sollte. Unter Kunths Ägide übernahmen mehr als fünfzehn – zum Teil sehr prominente – Gelehrte den Unterricht der Brüder, welcher ein ausgesprochen umfangreiches Spektrum an Fächern umfasste. Bedeutenden Einfluss auf die Bildung Wilhelms und Alexanders hatte mit Sicherheit Christian Wilhelm Dohm, der zeitweise den Unterricht in Nationalökonomie, Statistik und politischen Wissenschaften, die nicht zuletzt auch Geografie beinhalteten, erteilte.

44 Hanno Beck spricht gar von »Misshandlung« seitens des Lehrers und von Misstrauen seitens Alexanders. Allerdings unterlässt es Beck, seine Behauptung mit Quellenangaben zu belegen. (Siehe dazu: Beck, H. (1999), S. 37.) Eine differenziertere Sicht des Verhältnisses zwischen den Humboldts und Kunth bietet nach wie vor Leitzmann (1940), S. 3 ff. Gegen ein angespanntes Verhältnis zwischen den Brüdern und Kunth spricht auch, dass sie später weiterhin eine freundschaftliche Beziehung pflegten. Auch unterstützte Alexander nach seiner Amerikareise Kunths Neffen, den Botaniker Carl Sigismund Kunth.

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Nachhaltig dürfte er auf das politische Denken der Brüder gewirkt haben. Als engagierter Verfechter der Judenemanzipation in Preussen45 stand er in enger Verbindung mit den Berliner Aufklärern um Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Marcus Herz. Er war auch massgeblich an der Einführung der Humboldts in die »Dienstagsgesellschaft« von Henriette und Marcus Herz beteiligt, in der offen und kritisch über politische, philosophische und wissenschaftliche Fragen diskutiert wurde. Darüber hinaus aber spielte Dohm insbesondere für Alexander eine wichtige Rolle in der Vermittlung der neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Der ehemalige Kollege von Georg Forster am Collegium Carolinum in Kassel war eng mit Friedrich Büsching befreundet, mit dem er Engelbert Kaempfers Japanbuch herausgegeben und das Vorwort dazu verfasst hatte.46 Das Privatkolleg, das er 1785 / 86 den Brüdern von Humboldt hielt und von dem noch eine Nachschrift Wilhelms bekannt ist, beinhaltete auch politisch-geografische Teile des kaempferschen Manuskripts über Japan. Hanno Beck bezeichnet deshalb Dohm als ersten Geografielehrer Alexanders.47 Ein interessantes Detail liegt dabei in der Tatsache, dass Dohm zusammen mit Casimir Medicus, dem Arzt und Direktor des botanischen Gartens in Mannheim, 1783 auch eine gekürzte Ausgabe von Kaempfers Japanwerk herausgegeben hatte. Beide Humboldts lernten während ihrer späteren Reisen Medicus persönlich kennen. Dieser war es auch, der als Erster den Begriff ›Lebenskraft‹ unabhängig von einer metaphysischen Seele definierte.48 Nach seiner Vermutung bestand der menschliche Körper aus Seele, Lebenskraft und organisierter Materie.49 Für Alexander war diese Begegnung insofern von Bedeutung, als Medicus ein Botaniker war, der das linn¦sche Pflanzensystem ablehnte und sich an den Vorstellungen Tourneforts orientierte. Zusammen mit den Überlegungen Carl Ludwig Willdenows zu Sinn 45 Dohm (1781). In seinen Reisetagebüchern notierte Alexander Jahre später, dass die Lage der Indios in Südamerika verbessert werde könnte, wenn man Dohms Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Juden in Preussen auch auf die Ureinwohner der Neuen Welt anwenden würde. (Siehe dazu: Humboldt, A. (1982), Bd. 5. S. 232.) 46 Kaempfer (1964) 47 Vgl. dazu die Einführung zum Neudruck Kaempfer (1964); S. III; Anm. XX.) Gegen die Darstellung Becks ist anzumerken, dass, wie aus Wilhelms Brief an Campe vom 31. August 1781 hervorgeht, die Brüder schon früher Geografieunterricht erhielten. (Abgedruckt bei Leyser (1877), Bd. II. S. 300 f.) 48 Steven Jan van Geuns erwähnt in einem Brief an seine Eltern, den er während der gemeinsamen Reise mit Alexander von Humboldt schrieb, Friedrich Casimir Medicus’ Dissertation »De vis vitalis« und berichtet, dass ihm dieser ein Exemplar seiner »Philosophischen Botanik« geschenkt habe. Da die beiden Reisenden schon in Göttingen einen Besuch von Medicus in Mannheim geplant hatten und mit entsprechenden Empfehlungsschreiben versehen waren, ist anzunehmen, dass sie die Schriften des berühmten Botanikers zumindest teilweise bereits kannten. (Geuns (2007), Brief vom 25. Oktober 1789; S. 374.) 49 Botsch (1997), S. 34.

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und Zweckmässigkeit eines Pflanzensystems schärfte dieser somit Alexanders Bewusstsein für die Unterscheidung zwischen der natürlichen Pflanzenvielfalt und eines rein für klassifizierende Zwecke erstellten Pflanzensystems.50 Zwar hielt der jüngere von Humboldt bei seinen eigenen botanischen Sammlungen am linn¦schen System fest, jedoch machte er stets deutlich, dass dieses eine künstliche Ordnung zwecks besserer Orientierung und einheitlicher botanischer Bezeichnungen darstellt. Im Unterschied dazu stellte er später in seiner Pflanzenphysiognomik die Vegetabilien zusätzlich nach morphologischen Gesichtspunkten zusammen, die das Erscheinungsbild einer Landschaft und somit deren ästhetische Wirkung auf den Betrachter berücksichtigten.51 Von Dohm erhielt Alexander wahrscheinlich die ersten Anregungen zu seiner späteren Pflanzengeografie, die als innovative Besonderheit die dritte Dimension, das heisst die Verteilung der Pflanzen in Bezug auf die Höhe ihres Standortes, einbezog. Dohm selbst stellte in seinen Vorträgen über politische Geografie auch klimatologische Betrachtungen über die günstigsten Bedingungen für die Entfaltung der Menschen an.52 Besonders bemerkenswert scheint mir auch Dohms Freundschaft mit Rudolf Erich Raspe zu sein.53 Der Bibliothekar und Mineraloge erkannte als Erster den vulkanischen Ursprung der Basaltsäulen in den Höhlen Schottlands und Nordirlands und entdeckte 1769 zusammen mit dem schwedischen Mineralogen und Chemiker Johann Jakob Ferber, dass es auch in Deutschland erloschene

50 Es wäre jedoch ungerecht zu behaupten, Linn¦ sei sich der Künstlichkeit seines Systems nicht bewusst gewesen. Das Klassifikationssystem anhand der Geschlechtsmerkmale bildet zwar ein Artefakt, aber es erleichtert die Einordnung neu entdeckter Pflanzen enorm. Dieser Vorteil des linn¦schen Systems wusste auch Alexander von Humboldt durchaus zu nutzen. 51 Als Beispiel dafür lässt sich folgende Stelle aus den »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse« von 1806 anführen: »Ungleich ist der Teppich gewebt, welchen die blütenreiche Flora über den nackten Erdkörper ausbreitet: Dichter, wo die Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel emporsteigt, lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Frost bald die entwickelte Knospe tötet, bald die reifende Frucht erhascht. Doch überall darf der Mensch sich der nährenden Frucht erfreuen.« (In: Humboldt, A. (1987 – 1997). Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Bd. V, S. 178.) 52 Meyer-Abich weist darauf hin, dass Dohm das »mittlere Klima« als das für den Menschen geeignetste betrachtete. (Siehe: Meyer-Abich (1995), S. 18.) Allerdings war diese These zur damaligen Zeit keineswegs neu. Bereits in der Antike wurde die Meinung vertreten – so zum Beispiel von Vitruv im ersten vorchristlichen Jahrhundert –, dass die hervorragendsten Menschen im gemässigten Klima anzutreffen seien. Doch die bedeutendste Rolle für Dohms klimatologische Theorie dürfte zweifellos Buffons »L’Histoire naturelle de l’homme« gespielt haben. 53 Raspe war, ebenso wie Dohm, mit Johann Reinhold und Georg Forster befreundet. Vom Landgrafen von Hessen-Kassel des Diebstahls verdächtigt floh er nach England ins Exil, wo er Georg Forster bei der deutschen Übersetzung von dessen »A voyage round the world« half. (Siehe dazu: Harpprecht (1987), S. 180 ff.)

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Vulkane gibt.54 Es wäre also durchaus denkbar, dass Alexander schon sehr früh mit der fortschrittlichen Plutonismus-Theorie vertraut war. Sein späteres Lavieren zwischen der Neptunismus- und Plutonismus-Theorie in seiner ersten Veröffentlichung über die Basalte am Niederrhein55 könnte deshalb mit der Rücksichtnahme auf seinen zukünftigen Lehrer an der Bergakademie in Freiberg, Abraham Gottlob Werner, erklärt werden. Werner war der prominenteste Verfechter der Neptunismus-Theorie, sodass eine Zurückhaltung Alexanders in dem damals schwelenden Gelehrtenstreit plausibel wäre. Zumindest ist es unter all den hier geschilderten Umständen kaum denkbar, dass die Brüder, wie Alexander in dem weiter oben56 zitierten autobiografischen Fragment behauptete, so wenig in Naturgeschichte unterrichtet wurden. Nicht weniger wichtig für die Ausbildung Wilhelms und Alexanders war der Lehrer für Philosophie und Geschichte der Philosophie, Johann Jakob Engel, der zudem noch Professor am Joachimsthalschen Gymnasium war. Als Popularisierer der Schulphilosophie veröffentlichte er seinen damals viel gelesenen »Philosophen für die Welt«.57 Durch ihn wurden die Brüder mit der antiken Philosophie und den Werken Leibniz’ vertraut. Aber auch die Rassenlehre Kants, die er in seinem Werk wiedergibt, dürfte er ihnen vermittelt haben.58 Besonders Wilhelm war von Engel begeistert und bekannte, er habe durch ihn seine »erste bessere Bildung«59 empfangen. Erwähnenswert ist unter den zahlreichen Lehrern im Hause Humboldt auch Ernst Friedrich Klein, der, ein bedeutender Jurist und Kammergerichtsrat, Unterricht in Naturrecht erteilte. Sein Einfluss auf die frühe politische Bildung Wilhelms und Alexanders war sehr komplex und weitreichend. Durch ihn und Dohm erhielten die Brüder Zugang zu den Berliner Aufklärern, sogar bis in die höchsten Regierungskreise. In den dortigen Auseinandersetzungen über Fragen der Menschenrechte, den Zweck des Staates oder die Rolle der Religion im Staat im letzten Dezennium vor der französischen Revolution lassen sich die Wurzeln für viele politische Haltungen der Humboldts finden, die für sie zeitlebens von 54 1770 verfasste Raspe den Aufsatz »A short account of some Basalt Hills in Hessia« für die »Philosophical Transactions« der Royal Society in London (Raspe (1771a). Noch im selben Jahr erschien in den »Anzeigen der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften« seine »Nachricht von niederhessischen Basalten und den Spuren eines erloschenen Vulkans am Habichtswalde« (Raspe (1771b)). (Siehe dazu auch Krätz (1997), S. 33 ff.) 55 Alexander von Humboldts »Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein. Mit vorangeschickten, zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der älteren und neueren Schriftsteller.« sind 1790 anonym erschienen. (Humboldt, A. (1790)). 56 Siehe dazu die Ausführungen auf Seite 22. 57 Engel (1775 / 1777) 58 Das 22. Stück des 2. Teils im »Philosoph für die Welt« ist eine wörtliche Wiedergabe von Kants »Von den verschiedenen Racen der Menschen«. Ibid. 2. Teil. S. 125 – 164. 59 Humboldt, W. (1907 – 1916), 1. Bd., S. 280. (Brief an Caroline von Dacheröden vom 8. November 1790.)

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Bedeutung blieben.60 War auch später das hautnahe Miterleben der Revolutionsereignisse in Frankreich eine unvergessene und prägende Erfahrung sowohl für Wilhelm als auch für Alexander, so wurde doch das Fundament für ihre liberale, antiaristokratische Haltung bereits während ihrer Ausbildung in Berlin gelegt. Ein für die Meinungsbildung der Brüder einflussreicher Verfechter der Menschenrechte und vehementer Gegner der Sklaverei war auch Johann Heinrich Zöllner. In erster Linie hatte er jedoch massgebenden Anteil an Alexanders Begeisterung für Botanik und Geografie. Zöllner verband diese zwei Fachgebiete mithilfe von Tabellenstatistiken, barometrischen Höhenmessungen und Wasseranalysen zu einer Pflanzengeografie. Er hatte wohl auch Kenntnis von Reliefdarstellungen des Riesengebirges und möglicherweise auch von CharlesFranÅois Exchaquets dreidimensionalem Modell des Montblanc.61 Was läge daher näher, als dass der von Alexander hochverehrte Naturforscher dieses Wissen an seine Zöglinge weitervermittelte? Durch Zöllner wurde der jüngere Humboldt unter Umständen schon in frühen Jahren mit den Schriften des Naturforschers Thaddäus Haenke vertraut, dessen Studie über das Riesengebirge62 er 1791 in Usteris »Annalen der Botanick«63 rezensierte. In dieser Rezension hebt Alexander besonders Haenkes pflanzengeografische Methode hervor: »Herr Haenke hat seine kleine Flora des Riesengebirges nicht nach Linnaeischen Klassen abgeteilt, er zählt die Pflanzen auf, nach der Zeitordnung wie er sie fand, fast wie Loefling in seinen Briefen, nur mit mehr Geist und Annehmlichkeit der Schreibart. Da er sich, von der Ebene, also von der wärmeren und dichteren Luftregion in die kältere und dünnere der Bergkuppen begab, so ist diese Methode der systematischen gewiss vorzuziehen. Herr Haenke liefert dadurch (wenn sich Rezens. eines Ausdrucks des liebenswürdigen Schwärmers St. Pierre bedienen darf!) gleichsam einen vegeta60 Noch im Jahre 1816 berichtet Karl Gustav von Brinkmann in einem Brief aus Schweden an Trolle-Wachtmeister über die politischen Diskussionen in Berlin: »Alle waren wir eigentlich Gentzens Schüler und alle wurden wir schliesslich, nicht aus Leidenschaft, sondern aus reiner, fester und wohlbegründeter Überzeugung, unumstössliche Antirevolutionisten und Königsverehrer, alle mit Ausnahme der Humboldts, von denen der gelehrte Reisende alle Politik unter seiner Würde fand und der andre eben so gern die Königsmacht wie die Republik verspottete.« (Zitiert nach: Humboldt, W. (1939), S. X.) Der despektierliche Unterton Brinkmanns erklärt sich aus seinem politischen Standpunkt, der von der liberaleren Gesinnung der Humboldts, vor allem Alexanders, abwich. 61 Im »Museum d’histoire naturelle de la ville de GenÀve« befindet sich noch heute ein Originalmodell Exchaquets von 1786 / 87. Darauf sind die von Horace-B¦n¦dict de Saussure zurückgelegten Wegstrecken bei seiner Besteigung des Montblanc verzeichnet. Das Modell ist wahrscheinlich ein Legat von Marc-Auguste Pictet. Sowohl de Saussure als auch Pictet lernte Alexander auf seiner Schweizerreise 1795 in Genf kennen. 62 Haenke (1791) 63 Usteri (1791), S. 78 – 83.

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bilischen Thermometer, dessen Skala sich durch die meteorologischen Observationen des Abb¦ Gruber näher bestimmen liesse.«64

Zurzeit der Niederschrift dieser Rezension befand sich Haenke bereits auf seiner wissenschaftlichen Entdeckungsreise durch Chile, Peru und Bolivien. Obwohl er bis zu seinem Tod 1817 in Südamerika blieb, ist ihm Alexander von Humboldt nie persönlich begegnet. Diese eindrucksvolle Liste der im Hause Humboldt tätigen Lehrer könnte noch mit weiteren prominenten Namen fortgesetzt werden. Doch im Zusammenhang mit dem Thema dieser Arbeit sollten hier vor allem diejenigen Personen hervorgehoben werden, die sich darum bemühten, Wilhelm und Alexander ein ganzheitliches Denken zu vermitteln. Auch wenn den beiden der häusliche Unterricht nachträglich pedantisch und trocken erschien, eröffnete er ihnen doch einen weiten Horizont, der sie in die Lage versetzte, Theorien und Konzepte unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen miteinander zu verknüpfen, um sie in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Ohne dieses für die damalige Zeit sehr fundierte naturwissenschaftliche Wissen wäre es ihnen später wohl kaum gelungen, das in der Physiologie entwickelte Paradigma des lebendigen Organismus auf fruchtbare Weise in andere Fachgebiete zu übertragen. Ein solcher Transformationsprozess konnte nur mit einem modernen Wissenschaftsverständnis gelingen, das den tradierten Wissensstand in Frage zu stellen vermochte. Zu diesem, vor allem auf Francis Bacon zurückgehendes Wissenschaftsverständnis gehören auch empirisch-induktive und analytische Methoden, experimentelle Verfahren sowie die sorgfältige Beobachtung, Sammlung und Auswertung der Fakten. Wir werden später aus einem Brief Wilhelm von Humboldts an Karl Gustav von Brinkmann ersehen, wie dringend die Notwendigkeit einer Restauration der Wissenschaften, auch mit direktem Bezug auf Bacon, erachtet wurde.65 Wichtig im Zusammenhang mit dem Kennenlernen neuer wissenschaftlicher Theorien ist auch der schon öfter erwähnte Berliner Salon, den die Brüder Humboldt in ihrer Jugend besuchten. Dort knüpften sie Freundschaften mit zahleichen Berliner Aufklärern, die folgenreich für ihren weiteren Lebensweg waren.66 In deren Kreis wurden neben politischen, philosophischen und sozialen nicht zuletzt auch naturwissenschaftliche Fragen diskutiert, die jedoch nicht isoliert betrachtet, sondern wechselseitig miteinander in Zusammenhang ge64 Ein Teilabdruck der Rezension befindet sich in: Humboldt, A. (1987 – 1997). Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 33 f. 65 Siehe Kapitel II., S. 79 f. 66 Zu erwähnen sind hier Moses Mendelssohn, Marcus und Henriette Herz, Rahel Levin, Israel Stieglitz, Dorothea Veit und David Friedländer. (Zum Berliner Salon der Henriette Herz siehe auch: Drewitz (1976). Ebenfalls Bruhns (1872), Bd. 1 S. 46 – 49.)

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bracht wurden. An erster Stelle ist hier der Arzt Marcus Herz hervorzuheben, der sich eingehend mit der Physiologie befasste, um die daraus resultierenden Forschungsergebnisse für die Medizin und Pharmazie fruchtbar zu machen.67 Besonders mit Alexander unterhielt er auch später noch einen regen Briefwechsel, in dem sie vor allem naturwissenschaftliche Probleme erörterten.68 Aber Herz war auch seit seiner Studienjahre in Königsberg eng mit Immanuel Kant befreundet, sodass intensive Debatten über die philosophischen Werke des Königsbergers in seinem Berliner Salon anzunehmen sind.69 Insgesamt stand der Kreis der Berliner Aufklärer im Bann von Kants kritischer Philosophie. Für die beiden Humboldts war diese Nähe zum Berliner Salon später nicht ganz unproblematisch, da sie während ihrer Göttinger Studienzeit nähere Bekanntschaft mit Georg Forster und Friedrich Heinrich Jacobi gemacht haben. Nachhaltig dürfte jedenfalls für Wilhelm und Alexander von Humboldt der methodische Aspekt dieser Erfahrungen gewirkt haben, wonach sämtliches Wissen gemäss den Zielen der Aufklärung aufeinander bezogen, seine Abhängigkeit von Ort und Zeit beachtet sowie seine praktische Nutzbarkeit für den Menschen im Auge behalten werden sollte. Die Spuren des ersten Unterrichts zu Hause auf Schloss Tegel und die engen Beziehungen zu den wichtigsten Personen der Berliner Spätaufklarung lassen sich in fast allen Schriften Wilhelm und Alexander von Humboldts nachweisen. Schon bald setzte bei beiden die Publikation ihrer ersten Werke ein, nachdem die frühen fragmentarischen Skizzen und Entwürfe in Tagebüchern und Briefen noch unveröffentlicht blieben. Alexander publizierte seine erste Schrift, die »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein«, bereits im 67 Siehe dazu: Krätz (1997), S. 16 f. 68 Diese enge Bekanntschaft wird auch durch die häufigen Zitate aus Herz‘ Publikationen in Alexander von Humboldts »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« bezeugt. 69 Alexander zitiert in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt« (Humboldt, A. (1797c)) öfter aus Kants »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« und »Kritik der reinen Vernunft«. Ob er sich aber, wie sein Bruder Wilhelm, mit der Philosophie Kants eingehender beschäftigte, ist zu bezweifeln. In einem Empfehlungsschreiben Wilhelms an Friedrich Heinrich Jacobi vom Juli 1789 beschreibt dieser seinen Bruder als jemand, der »sich nur wenig mit Metaphysik beschäftigt und erst seit kurzem Kant zu studieren angefangen« habe. (Zitiert nach: Leitzmann (1936), S. 150.) Diese Aussage Wilhelms steht in gewissem Widerspruch zur Annahme, dass die Brüder von Humboldt durch die Lektüre von Johann Jakob Engels »Philosoph für die Welt« auch mit Kants Rassenlehre bekannt geworden sind. Doch möglicherweise erachtete Wilhelm die frühere Kantlektüre nicht als ›Studium‹. Zu erwähnen ist im Zusammenhang mit Alexanders Beschäftigung mit Kant, dass er diesen in seiner »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum« von 1793 nie erwähnt. Möglicherweise liegt dies daran, dass Humboldts in den »Aphorismen« geäusserte Ansichten über eine Lebenskraft durch Kants »Kritik der Urteilskraft« (erste Auflage 1790) ins Wanken geraten wären.

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Jahre 1790.70 Wilhelms Aufsatz »Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst« erschien 1791 in der »Berliner Monatsschrift«.71 Ein Jahr später wurden Teile seiner »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« wiederum in der »Berliner Monatsschrift« und in Schillers »Thalia« veröffentlicht.72 Zuvor jedoch erhielten sie weitere entscheidende Impulse durch ihren einjährigen Studienaufenthalt in Frankfurt an der Oder und besonders durch ihr Studium an der Universität Göttingen.

I.1.b) Kurze Intermezzi in Frankfurt an der Oder und Berlin (1787 – 1788) Im Herbst des Jahres 1787 bezogen Wilhelm und Alexander von Humboldt, in Begleitung ihres Erziehers Johann Christian Kunth, die Alma Mater Viadrina, die Universität in Frankfurt an der Oder. Trotz des Altersunterschiedes von zwei Jahren begannen sie gleichzeitig ihr Studium – Wilhelm studierte die Rechtswissenschaften, Alexander Kameralistik. Für beide wurde damit der Grundstein 70 Humboldt, A. (1790) 71 Wilhelm von Humboldt: Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst«. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 33 – 42. 72 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 56 – 233. Die Schrift von 1792 wurde erst 1851 vollständig veröffentlicht. Paul Robinson Sweet vermutet, dass Wilhelms plötzliche Zurücknahme des Manuskriptes kurz vor der in Aussicht gestellten Publikation dreierlei Gründe hatte. Zum einen befürchtete der Autor wohl Schwierigkeiten mit der preussischen Zensurbehörde. Ein weiterer Grund lag möglicherweise in den veränderten politischen Zuständen in Frankreich. Nachdem am 21. Januar 1793 Ludwig XVI. in Paris hingerichtet wurde, distanzierte sich Humboldt merklich von den Ereignissen der französischen Revolution. Ein dritter Grund für die Nichtveröffentlichung seiner Staatsschrift war sehr wahrscheinlich die gerade erschienene deutsche Übersetzung von Edmund Burkes »Reflections on the Revolution in France«. Der Übersetzer Friedrich von Gentz, ein enger Freund Wilhelm von Humboldts, ergänzte die Schrift mit eigenen Aufsätzen, die Gedanken enthielten, die denen Wilhelms sehr ähnlich waren. Zumindest scheint Alexander von Humboldt in der Übersetzung von Burkes Werk den Hauptgrund für Wilhelms Rückzug gesehen zu haben. (Sweet (1978 / 1980), Bd. 1. S. 100 ff.) Die späte Publikation verhinderte in Deutschland eine grössere Wirksamkeit der humboldtschen Ideen. Im Ausland hingegen, besonders in England und Frankreich, wurde Wilhelms liberales Gedankengut zum Teil begeistert aufgenommen. (Ibid. Bd. 1, S. 305 f. Zur Veröffentlichung der frühen Schriften Wilhelm von Humboldts im Allgemeinen vergleiche auch Sweet (1973).) Sweets Ansicht, die meisten von Humboldts frühen Schriften seien unveröffentlicht und deshalb seinen Zeitgenossen unbekannt geblieben, ist insofern unrichtig, als umfangreiche Teile davon als Zeitschriftenbeiträge oder Briefe – teils anonym – bereits vor 1800 publiziert wurden. Zu bedenken wäre auch, dass damals Manuskripte oft im Freundes- und Bekanntenkreis herumgereicht wurden. Eine unveröffentlichte Schrift ist somit nicht zwangsläufig eine von den Zeitgenossen nicht zur Kenntnis genommene.

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einer zukünftigen Karriere im höheren Staatsdienst, der nur Adligen vorbehalten war, gelegt. Doch der Aufenthalt in Frankfurt war dem Anschein nach wenig ertragreich, denn zu bescheiden war der wissenschaftliche Rang dieser preussischen Universität. Ein Brief Wilhelms an seinen Jugendfreund Beer dokumentiert diesen Missstand: »Eine Doctorpromotion hab’ ich hier gesehn. Wenn Sie jemand wissen, der gern Doctor werden will, und nichts gelernt hat, schicken Sie ihn nur her. Hier braucht er nichts als eine Stunde lang zu stehn, und zu thun, als wollte er disputiren. Denn der Professor macht nicht bloss die Disputation für ihn, er hält sie auch hernach. Ich habe einer mit beigewohnt, wo der Doctorirende nicht Ein Wort sprach.«73

Aber trotz der offenbar wenig anregenden Lehrveranstaltungen trieb Wilhelms jüngerer Bruder, entgegen späteren Aussagen, bereits zu dieser Zeit botanische Studien und versuchte anhand von Carl Ludwig Willdenows »Florae Berolinensis prodromus«74 Pflanzen zu bestimmen. Sein Interesse für diese Wissenschaft, mit der er sich zeit seines Lebens beschäftigen und die einen wichtigen Teil zu einem besseren Verständnis des Zusammenhangs in der Natur liefern sollte, bestand also mit Sicherheit schon vor der persönlichen Bekanntschaft mit Willdenow im Frühjahr oder Sommer 1788. In diesem Punkt lässt sich erneut eine der zahlreichen, von den Humboldts selbst sowie ihren späteren Biografen wiederholt aufgestellten Behauptungen widerlegen, nämlich diejenige, Alexanders Interesse für die Botanik sei erst nach seiner Rückkehr aus Frankfurt an der Oder durch die persönliche Begegnung mit dem um vier Jahre älteren Willdenow geweckt worden. Als Belege für dieses angebliche, beinahe ins Mythische gesteigerte ›Erweckungserlebnis‹ dienen meist zwei Stellen aus Alexander von Humboldts autobiografischen Aufzeichnungen. Die erste findet sich in dem in Santa F¦ de Bogot‚ verfassten Lebenslauf. Über seinen Aufenthalt in Berlin im Sommer 1788 liest man Folgendes: »Ich fühlte aufs neue die Notwendigkeit botanischer Kenntnisse, quälte mich mit neuem Eifer, Pflanzen nach Willdenows Flora zu bestimmen. Ich legte nun ein förmliches Herbarium an, und da man mir nun zuerst gestattete, allein auszugehen, fasste ich den Entschluss, unempfohlen Willdenow selbst aufzusuchen. Von welchen Folgen war dieser Besuch für mein übriges Leben! Schriebe ich ohne diesen diese Zeilen im Königreich Neu Grenada?«75 73 Humboldt, W. (1894). Anhang 1. S. 107 f. (Brief Nr. 5.) 74 Willdenow (1787) 75 Alexander von Humboldt: Ich über mich selbst (mein Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden 1769 – 1790). Erstveröffentlicht von Kurt-Reinhold Biermann / Fritz G. Lange: Alexander von Humboldts Weg zum Naturwissenschaftler und Forschungsreisenden. In: Festschrift (1969), S. 54.

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Ich habe bereits an früherer Stelle darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Dokument, verfasst 1801 während Humboldts Reise in Südamerika, kaum als eine private Tagebuchnotiz betrachtet werden kann.76 Es ist sprachlich und stilistisch allzu ausgefeilt, um nicht an ein breites Publikum gerichtet zu sein. Gerade die Schilderung der ersten Begegnung mit Willdenow zeigt, mit welchem dramaturgischen Geschick Alexander seinen Lebenslauf literarisch überformt hat. Auch der zweite Beleg weist ähnliche Spuren einer späteren ›Bearbeitung‹ jener bedeutsamen Episode auf. Er findet sich in einer autobiografischen Skizze, die Alexander einem Brief an Marc-Auguste Pictet vom 3. Januar 1806 beigelegt hat: »Jusqu’— l’–ge de seize ans, j’avais peu d’envie de m’occuper de sciences. J’avais l’esprit inquiet et je voulus Þtre soldat. Mes parents d¦saprouvÀrent ce go˜t; je devais me vouer — la finance, et n’ai jamais de ma vie eu occasion de faire un cours de botanique ou de chimie; presque toutes les sciences dont je m’occupe — pr¦sent, je les appris par moimÞme et trÀs-tard. Je n’avais pas entendu parler de l’¦tude des plantes jusqu’en 1788, o¾ je liai connaissance avec M. Willdenow, du mÞme –ge que moi, et qui venait de publier alors sa Flore de Berlin.77 Son caractÀre doux et aimable me fit plus encore ch¦rir la Botanique. Il ne me donna pas formellement des leÅons, mais je lui portai les plantes que je ramassai et qu’il d¦termina. Je devins passionn¦ pour la botanique, surtout pour les cryptogames. La vue des plantes exotiques, mÞme sÀches dans les herbiers, remplissait mon imagination des jouissances que doit offrir la v¦g¦tation des pays plus temp¦r¦s. M. de Willdenow ¦tant en liaison ¦troite avec le chevalier Thunberg, il en recevait souvent des plantes du Japon. Je ne pouvais les voir sans que l’id¦e ne se pr¦senta de visiter ces contr¦es.«78 76 Siehe dazu die Ausführungen auf S. 21 ff. 77 In diesem Punkt irrt Alexander von Humboldt. Willdenows »Florae Berolinensis« erschien bereits 1787 (siehe Anm. 74). Alexander selbst benutzte diese Schrift schon in Frankfurt an der Oder zu botanischen Studien. 78 Pictet (1868), S. 180 f. [Hervorhebung von mir]. [»Bis zum Alter von sechzehn Jahren hatte ich wenig Lust, mich um Wissenschaften zu kümmern. Ich hatte einen unruhigen Geist und ich wollte Soldat werden. Meine Eltern missbilligten diese Neigung, ich musste mich der Finanzwelt widmen, und ich habe in meinem Leben nie Gelegenheit gehabt, einen Botanikoder Chemiekurs zu absolvieren; fast alle Wissenschaften, denen ich mich gegenwärtig widme, habe ich autodidaktisch und sehr spät gelernt. Ich habe bis 1788 von keinem Pflanzenstudium sprechen gehört, als ich die Bekanntschaft mit Herrn Willdenow machte, der im gleichen Alter war wie ich, und der gerade seine Flora von Berlin veröffentlichte. Sein sanftes und liebenswertes Wesen machten mich der Botanik noch geneigter. Er hat mir nicht formell Stunden gegeben, aber ich brachte ihm die Pflanzen, welche ich gesammelt hatte und die er bestimmte. Ich begeisterte mich für die Botanik, vor allem für die Cryptogamen. Die Ansicht der exotischen Pflanzen, sogar getrocknet in den Herbarien, erfüllte meine Fantasie mit dem Vergnügen, welches die Vegetation der wärmeren Länder bieten muss. Herr von Willdenow stand in enger Verbindung mit dem Ritter Thunberg, er erhielt von ihm oft Pflanzen aus Japan. Ich konnte sie nicht betrachten, ohne dass der Gedanke aufkeimte, diese Länder zu besuchen.« Auch in diesem Brief beteuert Alexander, er habe während seiner

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Weshalb nun stellte Alexander die Behauptung auf, er habe sich vor seiner Begegnung mit Willdenow nie für Botanik interessiert? Trog ihn in der Tat sein Erinnerungsvermögen oder versuchte er vielleicht, die wahren Quellen für die Anregung zu seinen späteren Schriften über Pflanzengeografie und Pflanzengeschichte zu verbergen? Für Letzteres spricht die Überschrift seiner Aufzeichnungen, die er Pictet für eine Biografie über sich zur Verfügung stellte: »Mes confessions, — lire et — renvoyer un jour«79. Im Begleitbrief bittet Humboldt Pictet inständig, er möge niemandem verraten, dass er selbst der Urheber der Biografie sei. Dies sei eine »conditio sine qua non«, denn er habe nicht nur Freunde in Berlin. Er befürchtete, seine Feinde könnten ihm schwerwiegenden Schaden –»tort infini« – zufügen, sollte herauskommen, dass das Material für die Biografie von ihm selbst stamme.80 Diese Bitte macht deutlich, wie vorsichtig er bei den Angaben über seine Person und seine privaten Angelegenheiten sein musste, um keine falschen Verdächtigungen oder Verleumdungen zu provozieren. Es ist somit zu vermuten, dass die Behauptung, Willdenow sei derjenige gewesen, der ihn als Ester mit der Botanik in Berührung brachte, nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die späten Huldigungen an seinen Berliner Freund verbergen eher die wahren Quellen zu seinen Naturstudien. Denn betrachtet man Humboldts ›Konfessionen‹ genauer, fällt auf, wie wenig konkret er das Verdienst Willdenows beschreibt. Es handelt sich vor allem um eine stark emotional geprägte Erinnerung, die tatsächlich geleistete Hilfe und die Anregungen für die späteren botanischen Arbeiten lassen sich daraus aber kaum ermessen. Gewiss war die Begegnung mit Willdenow, dem damaligen Direktor des Botanischen Gartens in Berlin, bedeutungsvoll für den zukünftigen Amerikareisenden und eröffnete ihm eventuell zum ersten Mal die Möglichkeit, tropische Pflanzen in natura zu sehen. Zudem unterhielt der Botaniker, übrigens ein Neffe des in der auf Seite 22 zitierten Tagebuchnotiz Alexanders so geschmähten Gleditsch, freundschaftliche Beziehungen zu Thunberg, dessen Berichte über seine naturforschende Tätigkeit für den knapp Zwanzigjährigen sicherlich reizvoll waren. Aber hat der Berliner Botaniker als Einziger Alexander zu seinen umfangreichen, nicht nur das Anlegen von Herbarien beinhaltenden, sondern auch die geografischen und historischen Migrationen berücksichtigenden Pflanzenstudien angeregt? Eine etwas andere Sichtweise auf Alexander von Humboldts erste Idee, sich für die kommenden Jahrzehnte einem Werk zur Pflanzengeografie und Pflanzengeschichte zu widmen, eröffnet uns ein Brief an den Zürcher Botaniker Paul Usteri vom Herbst 1791: Schulzeit keinen Unterricht in naturwissenschaftlichen Disziplinen erhalten. Wie wir bereits gesehen haben, ist diese Aussage nicht korrekt. 79 Ibid. S. 180. [»Meine Bekenntnisse, zu lesen und eines Tages zurückzuschicken«]. 80 Ibid. S. 176 f.

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Die Ausbildung Wilhelm und Alexander von Humboldts

»Ihre Beiträge über Botanische Geographie haben mir unendliche Freude gemacht. Da ich Geognosie, Geschichte des Feldbaus p. mit Botanik immer zusammen studirte, so fiel ich schon vor 2 Jahren darauf, auf eine Geschichte der Pflanzenwanderungen zu samlen, ja Proben zu Karten für die gesellschaftlich lebenden Pflanzen, z. B. die fast in ganz Europa zusammenhängenden ericeta, die afrikan[ischen] Euphorbien zu entwerfen. Die Pflanzen, welche gewissen Völkern folgten, z. B. den Arabern, Griechen, Persern, und vornehmlich den Vandalen und Gothen, durch welche Europa mit Caucasischen Gewächsen überschwemmt wurde, machten mich besonders aufmerksam darauf. Ich glaubte, das Werk vielleicht in 20 – 30 Jahren zu vollenden. Jetzt aber ist der Termin näher gerükt, da Forster seit vorigen Winter sich mit mir zur Ausarbeitung dieses so vernachlässigten Theils der Universalgeschichte vereinigt hat.«81

Anhand dieser Briefstelle könnte man zum Schluss kommen, dass das Vorhaben, eine Pflanzengeografie als Teil einer Universalgeschichte zu verfassen, Alexanders ureigenste Idee gewesen sei. Danach wäre Willdenows Einfluss allerdings bedeutungslos gewesen, denn er »fiel« ja laut dieses Briefes erst 1789 auf seinen Plan, eine Geschichte der Pflanzenwanderungen zu schreiben. Auch in einem Brief an Wilhelm Gabriel Wegener vom 25. Februar 1789 berichtet er von seinen Sammlungen für ein Werk über die »gesammten Kräfte der Natur (mit Ausschluss der Heilkräfte)«,82 für das er noch weitere Mitarbeiter gewinnen möchte. Erstaunlich an seinen Ausführungen dazu ist aber, dass er seinen Freund Willdenow zwar erwähnt, nicht jedoch als denjenigen bezeichnet, der ihn zu seinem geplanten Werk angeregt habe. Laut Alexander ist Willdenow lediglich der Einzige, der seine Gefühle während des einsamen Naturgenusses nachempfinden kann. Doch die Idee zu seinem geplanten botanischen Werk entsprang, so könnte man meinen, seiner ureigensten Eingebung. Ganz ähnlich stellt Humboldt seine Beschäftigung mit der Pflanzengeografie in einer Fussnote der 1793 erschienenen »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum« dar.83 Auch hier könnte man zum Schluss kommen, er sei der erste gewesen, der die Idee gehabt habe, geografische Karten über die Verteilung der Gewächse zu erstellen: »Vegetabilia aeque ac animalia sive sparsa sive sociata vivunt, quorum altera vernacula lingua e i n z e l n l e b e n d e , altera g e s e l l i g l e b e n d e P f l a n z e n vocanda censeo. […] Si Ericae vulgaris plantulas in quocunque agro sparsas animadvertas, a situ na81 Brief Alexander von Humboldts an Paul Usteri vom Herbst 1791. In: Jahn / Lange (1973), S. 163 f. (Brief Nr. 92.) 82 Brief Alexander von Humboldts an Wilhelm Gabriel Wegener vom 25. Februar 1789. In: Jahn / Lange (1973), S. 41. (Brief Nr. 16.) Fünf Jahre später äussert sich Humboldt in einem Brief an Johann Friedrich Pfaff noch einmal zu diesem Vorhaben, wiederum ohne seine unmittelbaren Quellen zu verraten. Auf diesen Brief werde ich im Kapitel II.3.b) über Herders Einfluss auf Alexander von Humboldt näher eingehen. 83 Alexander von Humboldt, A. (1793)

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turali amotas putes, eodem jure quo formicam vel hominem singulum per sylvas errantem! Terrae tractus, quos plantae sociatae v.c. Erica tenent, P f l a n z e n z ü g e , tabulis geographicis dessignari possunt. Cujus rei tres ab hinc annos sumsi tentamen, in lucem nondum emissum.”84

Nun haben wir aber bereits in Kapitel I.1.a) gesehen, dass auch andere Gelehrte schon früher versucht hatten, eine Geografie der Pflanzen sowie deren Verbreitung im Laufe der Jahrtausende zu konzipieren. Genannt wurden Zöllner, Haenke und Willdenow. Ihre Studien verstanden sie als Beiträge zur allgemeinen Naturgeschichte, die die Zusammenhänge in der gesamten organischen und anorganischen Natur mitsamt dem Menschen darstellen sollten. Wie letztlich noch Alexander von Humboldt versuchten sie in der Tradition von Buffons »Histoire naturelle« die in enormer Geschwindigkeit wachsende Anzahl empirisch erhobener Fakten miteinander in Beziehung zu setzen und unter einem höheren Gesichtspunkt zusammenzuschauen.85 Eine umfangreiche Übersicht der Entwicklung der Erde, der Pflanzen, Tiere und Menschen stellte aber in erster Linie Johann Gottfried Herder in seinen ab 1784 erschienenen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« dar.86 Er sah, wie später auch Alexander in dem oben zitierten Brief an Usteri, die allmähliche Verbreitung und Genese der verschiedenen Pflanzenarten als eine zeitliche Entwicklung. Diese Betrachtungsweise verknüpfte er mit der noch von Buffon vertretenen traditionellen Theorie der Konstanz der Arten und entwarf ein geschichtsphilosophisches Modell, das die Gleichzeitigkeit von Norm und Kontingenz in der Universalgeschichte zu vereinbaren suchte. Dass Herders »Ideen« tatsächlich von entscheidendem Einfluss für Alexander – und ebenso für Wilhelm – gewesen sein dürften, werde ich im Kapitel II.3. noch eingehender 84 Ibid. § 11. S. 178, Anm. ***. [In der deutschen Übersetzung der »Aphorismen« zur »Florae Fribergensis« von Gotthelf Fischer: »Die Vegetabilien leben eben so wie die Thiere entweder getrennt, oder in Gesellschaft, man könnte die erstern vielleicht e i n z e l n l e b e n d e , die andern g e s e l l i g l e b e n d e P f l a n z e n nennen. […] Trift man die Erica vulgaris auf irgend einem Acker e i n z e l n l e b e n d an, so halte man sie für einen Fremdling, der sich von seinem Geburtsorte entfernt hat, gleich dem Menschen oder der Ameise, die einzeln im Walde herum irrt! Die Erdstriche, welche g e s e l l i g l e b e n d e Pflanzen, z. B. die Erica, inne haben, P f l a n z e n z ü g e , lassen sich durch geographische Charten darstellen. Seit drei Jahren beschäftige ich mich mit einem Versuch darüber, der noch nicht öffentlich erschienen ist.« Humboldt, A. (1794), § 11. S 117 f. Anm. 187.] 85 Auffallend ist, wie inflationär in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Formulierungen, die den Sehsinn betreffen, gebraucht werden. Allein in den Titeln der deutschen und französischen Literatur begegnen wir häufig Termini wie ›Anschauung‹, ›Ansicht‹, ›Blick‹, ›Beobachtungen‹, ›Vue‹, ›Tableau‹ u.s.w. (Siehe dazu auch: Wuthenow (1980).) Zu Verweisen ist hier besonders auch auf die französische Gesellschaft der ›Observateurs de l’homme‹, die die Bedeutung des Beobachtens programmatisch im Namen trägt. (Siehe dazu: Moravia (1989a).) 86 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.

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untersuchen.87 Doch soll hier bereits festgehalten werden, dass Alexanders botanische und pflanzengeografische Interessen mit Sicherheit weder allein durch Carl Ludwig Willdenow noch ausschliesslich durch sein ›Originalgenie‹ initiiert worden waren.88 Mit diesen Hinweisen ist aber die Frage nach den Gründen für Alexanders möglicherweise absichtliches Nichterwähnen Herders noch nicht geklärt. Einen Anhaltspunkt gibt uns vielleicht die Nennung Georg Forsters in dem oben zitierten Brief an Usteri, da dieser zur damaligen Zeit in verschiedene Kontroversen mit anderen Gelehrten verwickelt war.89 Forster hatte sich schon einige Jahre früher in den Streit zwischen Herder und Kant aus Anlass der Publikation des ersten Teils von Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« eingemischt und für Ersteren Partei ergriffen. Doch dessen ungeachtet bedeuteten Kants Angriffe auf Jahrzehnte hinaus eine Diskreditierung Herders, sodass für Alexander, der seit den Berliner Salonbesuchen enge Beziehungen zu Marcus Herz, dem Schüler und Anhänger Kants, unterhielt, die Erwähnung Herders sehr wahrscheinlich problematisch gewesen wäre.90 Als angehendem Naturforscher hätte ihm eine positive Erwähnung der »Ideen« gewiss Nachteile gebracht, nachdem diese durch Kant in 87 Hanno Beck vermutet, dass der Titel von Alexanders »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse« von 1806 eine deutliche Anlehnung an Herders »Ideen« darstellt. Parallel dazu lassen sich auch Wilhelms »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« zu Herders Werk in Beziehung setzen. Da der ältere Bruder seine Staatsschrift bereits 1792 verfasste, liegt die Vermutung nahe, dass auch Alexander sehr früh mit der herderschen Schrift vertraut war. (Siehe den Kommentar von Hanno Beck in: Humboldt, A. (1987 – 1997). Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Bd. V. S. 371.) 88 Meiner Meinung nach wäre es ebenfalls lohnend zu untersuchen, ob Alexander von Humboldt eventuell von Eberhard August Wilhelm von Zimmermanns »Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüssigen Thiere« (Zimmermann (1778 – 1783)) zu seiner Pflanzengeografie angeregt wurde. Zimmermanns Tiergeografie wurde auch von Johann Gottfried Herder und Georg Forster sehr geschätzt. In den »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen« verweist Humboldt zudem selbst auf Zimmermann: »Diese zoologische Skala [zum Naturgemälde der Anden], welche hier nun skizziert erscheint, enthält die Grundzüge zu einem zoologischen Gemälde, welches nach Analogie dessen entworfen werden könnte, welches ich für die Pflanzen-Geographie geliefert habe. Zimmermanns klassisches Werk stellt die Tiere nach Verschiedenheit der geographischen Lage ihres Wohnorts auf dem Erdboden dar. Es wäre interessant, in einem Profil die Höhen zu bestimmen, zu welchen sie sich in derselben Zone, aber in Gebirgsländern, erheben.« (Alexander von Humboldt: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer. Tübingen und Paris 1807. (In: Humboldt, A. (1987 – 1997). Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 149.) 89 Nach der Auseinandersetzung zwischen Herder und Kant nahm Georg Forster beispielsweise 1790 öffentlich für Johann Friedrich Blumenbach Partei, der sich genötigt sah, seine Theorie der Menschrassen gegen Angriffe von Christoph Meiners zu verteidigen. (Zur Auseinandersetzung zwischen Blumenbach und Meiners siehe: Dougherty (1990a), S. 89 – 111.) 90 Siehe dazu den Aufsatz von Wolfgang Pross: »Ein Reich unsichtbarer Kräfte«. Was kritisiert Kant an Herder? (Pross (1997).)

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Misskredit geraten waren. Die Anerkennung von massgebenden Wissenschaftlern wäre ihm so schwerlich zuteilgeworden. Dies würde auch erklären, warum Alexander von Humboldt den Autor der – trotz der öffentlichen Diffamierung weit verbreiteten – geschichtsphilosophischen Schriften in seinen Werken zeit seines Lebens nur sehr selten genannt hat. Zwar erwähnt er bereits 1788 in einem Brief an Wilhelm Gabriel Wegener »Herders vortrefliche Preisschrift (über den Ursprung der Sprache)«,91 jedoch erst im zweiten Teil des »Kosmos« verweist er in einer Fussnote auf »die treffliche Schilderung der Araber in Herders Ideen zur Gesch. der Menschheit, Buch XIX, 4 und 5«.92 Ähnlich vorsichtig verhielt er sich, wie wir noch sehen werden, im Streit zwischen Neptunisten und Plutonisten oder in den späteren Auseinandersetzungen zwischen Alessandro Volta und Luigi Galvani um die Frage nach dem Vorhandensein einer tierischen Elektrizität. Auch in diesen Streitfragen bezog er erst nach eigenen empirischen Studien eindeutig Stellung. Humboldts Zurückhaltung bei der Angabe seiner Quellen lässt sich also mit seiner Scheu vor einer allzu starken Exponierung, die ihn seine wissenschaftliche Reputation hätte kosten können, erklären. Bemerkenswerter scheint mir aber, dass Alexander von Humboldt Willdenow zwar als denjenigen ausmachte, der ihn als Erster für die Botanik begeistern konnte, nicht jedoch erwähnte, wie wichtig dessen Betrachtungsweise der Natur auch für ihn selbst gewesen war. Denn es dürfte mit grosser Sicherheit der Berliner Mentor gewesen sein, der Alexander praktisch im vorsichtigen Umgang mit dem linn¦schen System unterwies. Nicht erst von Blumenbach hörte er, dass die Existenz einer ›Kette des Seins‹ empirisch nicht nachweisbar sei, auch Willdenow betonte, dass die Natur selbst kein System kenne: »Systema quod elegi est Systema LINNEANUM ab Illustr. Equite & Professore C.P. THUNBERGIO emendatum, quo usus est, quum Floram Suam Japonicam ederet. Perinde semper erit quodnam Systema eligimus, nam Systema est: filum Ariadneum, cujus ope Labyrinthum facile exire possumus, quo demto semper Chaos erit. Quod de Systemate Naturae nonnulli somniant, semper pium manebit desiderium. Si vel omnia terrae nostrae vegetabilia detecta essent, tamen impossibile erit Systema Naturae in91 Brief Alexander von Humboldts an Wilhelm Gabriel Wegener vom 24. Juni 1788. In: Jahn / Lange (1973), S. 16. (Brief Nr. 5.) 92 Trotzdem zählt er Herder nicht zu denen, die durch Anregung der Einbildungskraft zur Belebung des »Triebes zu fernen Reisen« beigetragen haben. (Siehe: Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 65 ff.) Ich zitiere im Folgenden nicht nach der Kosmosausgabe von Hanno Beck (Humboldt, A. (1987 – 1997). Bd. VII, 2 Teilbände), da diese leider unvollständig und sprachlich zu sehr überarbeitet ist. Neuerdings bietet Hans Magnus Enzensberger in der Reihe »Die Andere Bibliothek« eine bis auf das Register des 5. Bandes vollständige Ausgabe nach dem Originaldruck von 1845 – 1862 (Humboldt, A. (2004a)). Schon Wilhelm von Humboldt schliesst in seinem vernichtenden Urteil über Herders »Ideen« die Schilderung der Araber explizit aus. (Vgl.: Humboldt, W. (1939), S. 72. (36. Brief vom 19. Dezember 1793). Siehe dazu auch Kapitel II.3.a).)

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vestigare. Alma enim Natura, in se spectata, non est systematica, non Genera habet, neque catenam rerum agnoscit. Singula Creata nexu quasi retiformi, ut ita dicam cohaerent, & Nos singula in lineam rectam disponere solemus, qua methodo haud utitur Naturae. Non ignoro Systema LINNEANUM emendatum adhuc imperfectum esse, sed ubi quaeso reperitur Systema omni numero absolutum?«93

Erst mit der Unterscheidung zwischen der ›Natur‹ und dem ›System der Natur‹ als Hilfsmittel wurde es möglich, die organische Natur nicht als statisch, sondern in ihren räumlich-zeitlichen Veränderungen zu betrachten. Doch damit hatte das linn¦sche System nicht etwa ausgedient – es war nach wie vor für die Bestimmung der Pflanzen und Tiere sehr praktikabel und diente dem Naturforscher mit Willdenows Worten als »Ariadnefaden« zur Orientierung im »Labyrinth« der Natur. Aber die geografische Verbreitung und die im Verlauf der Geschichte entstandenen »Abartungen« der Organismen wurden dadurch stärker fokussiert. Alexanders Idee, dereinst eine »Geschichte der Pflanzenwanderungen« zu schreiben, ist somit eng mit Willdenows Definition des »Systema Naturae« verknüpft. Ob Humboldt aber tatsächlich durch den Berliner Botaniker diese wichtige Unterscheidung kennenlernte, ist heute kaum nachprüfbar, denn darüber geben uns seine autobiografischen Aufzeichnungen keinerlei Auskunft! Zusammenfassend kann man also sagen, dass die von Alexander von Humboldt 18 Jahre später (!) gemachte Huldigung an Willdenow ziemlich einseitig, wenig erhellend und übertrieben war. Vielleicht entsprang sie einem Bedürfnis nach Selbsterklärung des eigenen Werdegangs, das in dem liebenswürdigen Botaniker einen ›unproblematischen‹ Mentor sah. Gewiss trägt das Bild, das er von seinem langjährigen Berliner Freund entwirft, sehr sympathische Züge. Auch die von Alexander oft erzählte Anekdote, wonach er im Sommer 1788 mit einem Reispflänzchen, welches ihm Willdenow geschenkt hatte, vor Freude wie ein Irrer durch Berlin gerannt sei, weist auf eine enge Verbundenheit der beiden Botaniker hin. Doch so einnehmend uns in solchen Schilderungen Willdenow 93 Willdenow (1787), S. IX f. [»Das System, welches gewählt worden ist, ist das verbesserte linn¦sche System des berühmten Ritters und Professors C.P. Thunberg, welches gebräuchlich ist, seitdem seine ›Japanische Flora‹ herausgegeben wurde. Es wird immer so sein, dass wir ein gewisses System wählen, denn ein System ist: ein Ariadnefaden, mit dessen Hilfe wir mühelos das Labyrinth verlassen können, welches ohne dieses immer ein Chaos sein wird. Was manche auch über die Systeme der Natur träumen, es wird immer ein frommer Wunsch bleiben. Wenn auch alle Pflanzen unserer Erde entdeckt sein würden, wird es dennoch unmöglich sein, das System der Natur aufzuspüren. Die nährende Natur, auf sich selbst bezogen, ist nicht systematisch, sie hat keine Gattungen, und sie kennt keine Kette der Dinge. Die einzelnen Geschöpfe sind netzartig miteinander verbunden, sie hängen sozusagen zusammen, aber wir sind gewöhnt, diese Einzelwesen in eine gerade Linie zu stellen, eine Methode, welche von der Natur nicht gebraucht wird. Ich kenne das verbesserte linn¦sche System, das bis jetzt unvollkommen ist, aber wo, frage ich, wird das vollkommene System mit der gesamten Menge gefunden?«]

Studium an der Universität Göttingen (1788 – 1790)

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auch erscheinen mag, seine wahre Bedeutung für Humboldt wird damit verschleiert, und andere möglichen Quellen für seine Anregungen zu den zukünftigen wissenschaftlichen Arbeiten werden – vermutlich mit Absicht – verschwiegen. Leider wird in den Biografien zu den von Humboldts, besonders in denjenigen zu Alexander, oft noch heute eine Art Hagiographie betrieben. Doch in eklatantem Widerspruch dazu werden deren Schriften, vor allem die vor 1800 entstandenen, kaum eingehender untersucht – manchmal nicht einmal erwähnt. Zu sehr wird bis heute Wilhelms Bild ausschliesslich durch seine späteren sprachwissenschaftlichen Arbeiten, seine immer wieder behauptete ›Abhängigkeit‹ von Goethe und Schiller94 sowie seinem Mitwirken an der preussischen Bildungsreform geprägt. Alexander hingegen, der zwar oft als »letzter Universalgelehrter« bezeichnet wird,95 blieb der Nachwelt vor allem durch die spektakuläre Forschungsreise nach Süd- und Mittelamerika in Erinnerung. Wie wichtig aber ihre erste Erziehung und Ausbildung für diese Leistungen war, wird meist zu wenig beachtet. Wir haben bereits gesehen, wie vielfältig die Anregungen während ihrer Kindheit und Jugend waren. Weitere richtungsweisende Impulse erhielten die Brüder von Humboldt jedoch durch ihr Studium an der Göttinger Universität. Hier bekamen sie die entscheidenden Denkanstösse für ihre Bemühungen um eine ganzheitliche Sicht von Mensch und Natur. Deshalb werde ich im nächsten Abschnitt versuchen, die Forschungsinhalte an der Georgia Augusta genauer zu untersuchen. Diese erlauben uns weitere Aufschlüsse über Wilhelms und Alexanders Intentionen, sich im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts so intensiv mit der Suche nach der ›vis vitalis‹ zu beschäftigen.

I.2.

Studium an der Universität Göttingen (1788 – 1790)

In einer Lobesrede auf die Universität Göttingen, wenige Jahre vor der Wende zum 19. Jahrhundert, meinte Ernst Brandes:

94 Fritz Giese meint beispielsweise, dass in der Zusammenarbeit zwischen Wilhelm von Humboldt und Schiller »Humboldt der weitaus Empfangendere war und blieb«. (Humboldt,W. (1917), S. 8.) 95 So bezeichnet zum Beispiel Peter Burke den Universalgelehrten als Typus, der spätestens im 18. Jahrhundert zur »bedrohten Spezies« wurde. Die Humboldtbrüder führt er als »einzelne Ausnahmen« an, die im frühen 19. Jahrhundert »überlebten«. (Burke (2000), S. 98.)

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»[…] in Göttingen wären weder Wolfianer noch ungestüme Reformatoren der Theologie, weder Brownianer oder andere Sektirer in der Medicin und in den Naturwissenschaften noch irgendein metaphysischer Prophet angestellt gewesen.«96

Diese Äusserungen Brandes belegen den ›aufgeklärten‹ Ruf, den die Göttinger Universität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts genoss.97 Gerade zu der Zeit, als die Brüder Humboldt dort studierten, galt sie als eine der fortschrittlichsten Hochschulen Europas. Namen wie Heyne, Pfaff, Kästner, Schlözer, Franz, Blumenbach und Lichtenberg sprechen für die modernen Forschungsmethoden, nach denen in Göttingen Wissenschaft betrieben wurde. Kritische Überprüfung des tradierten Wissens, Sammeln und Vergleichen von Fakten, methodisches Experimentieren und schliesslich vorsichtiges Schlussfolgern aus den gewonnenen Daten legten neue Massstäbe in allen Bereichen der Wissenschaften. Während der zwei beziehungsweise drei Semester, die die Humboldts an der Georgia Augusta verbrachten, wurden auch sie mit diesen Forschungsmethoden vertraut, die in den folgenden Jahrzehnten fruchtbar für ihre Arbeit werden sollten. Dass sie sich der Bedeutung dieser modernen Methoden durchaus bewusst waren, geht aus einem kurz nach der Göttinger Studienzeit geschriebenen Brief Alexanders an seinen ehemaligen Professor für experimentelle Physik, Georg Christoph Lichtenberg, hervor: »Wenn man für Freundschaft und Wohlwollen danken könnte, so müsste ich Ihnen viel danken. Ich achte nicht bloss auf die Summe positiver Kenntnisse, die ich Ihrem Vortrage entlehnte – mehr aber auf die allgemeine Richtung, die mein Ideengang unter Ihrer Leitung nahm. Wahrheit an sich ist kostbar, kostbarer aber noch die Fertigkeit, sie zu finden.«98

Sowohl Wilhelm als auch Alexander befassten sich in Göttingen wenig mit ihren eigentlichen Studienfächern Jurisprudenz und Kameralistik, sondern genossen ihre akademischen Freiheiten in der Wahl ihrer Kollegien und Vorlesungen. Zum ersten Mal standen sie nicht mehr unter der Aufsicht Kunths und konnten daher ihren eigenen Interessen nachgehen. So besuchten beide die Vorlesungen des Altphilologen Christian Gottlob Heyne, des Physikers und Mathematikers Georg Christoph Lichtenberg sowie des Anatomen und Physiologen Johann Friedrich Blumenbach. Dass sich beide so intensiv mit naturwissenschaftlichen Fächern beschäftigten, liegt wohl einerseits am qualitativen Standard dieser Disziplinen 96 Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 82. 97 Zur Göttinger Universität im 18. Jahrhundert siehe: Marino (1995). 98 Brief Alexander von Humboldts an Georg Christoph Lichtenberg vom 3. Oktober 1790. In: Jahn / Lange (1973), S. 109. (Brief Nr. 56.) Es handelt sich hier um einen Begleitbrief Alexanders zur Übersendung seiner »Mineralogischen Betrachtungen über einige Basalte am Rhein«.

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in Göttingen, andererseits aber sicher auch an ihrem breit gefächerten Vorwissen. Hält man sich das immense Wissen vor Augen, welches die beiden noch nicht einmal Zwanzigjährigen durch hochqualifizierte Hauslehrer bereits vor ihrem Studium vermittelt bekamen, lässt sich die Faszination vielleicht erahnen, die von der Zielsetzung ausging, dieses Wissen für das Erlangen eines allgemeinen Gesichtspunktes fruchtbar zu machen und die Erscheinungen der gesamten Natur miteinander in Einklang zu bringen.99

I.2.a) Johann Friedrich Blumenbach: Die Suche nach dem »Bildungstrieb« Auf dem Gebiet der Naturgeschichte übten an der Georgia Augusta die Vorlesungen Johann Friedrich Blumenbachs besondere Anziehungskraft aus. Dessen Idee, dass eine einzige Grundkraft, man nenne sie nun ›vis essentialis‹, ›nisus formativus‹ oder ›vis vitalis‹, die tote Materie belebt und damit die organische aus der anorganischen Natur hervorgehen lässt, ermöglichte die Verkettung aller materiellen Elemente des Kosmos: »So gieng die todte Materie von Lebenskraft beseelt, durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern, und derselbe Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geist des Pythagoras, in dem vormals ein dürftiger Wurm im augenblicklichen Genusse sich seines Daseins erfreute!«100

Dieser Gedanke, den Alexander von Humboldt 1795 dem Philosophen Epicharmus im »Rhodischen Genius« in den Mund legen wird, war damals in Göttingen seit einigen Jahrzehnten Ausgangspunkt für physiologische Experimente. Vor allem Johann Friedrich Blumenbach, dessen Annahme eines ›Bil99 In der Forschung scheint sich die Hypothese hartnäckig zu halten, dass Alexander von Humboldt erst durch die persönliche Begegnung mit Goethe 1794 zu einer monistischen Sichtweise der Natur gekommen sei. So behauptet beispielsweise Shu Ching Ho, dass der »Gedanke von der Ganzheit des Weltalls als einem Organischen Universum« in den »stark an der empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung orientierten Jugendschriften« Alexander von Humboldts »nicht gegenwärtig« sei. Erst der Bekanntschaft mit Goethe habe er diese Neuorientierung zu verdanken. Sie verweist zur Untermauerung ihrer These auf Humboldts »Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen«, in denen Alexander Goethes »methodische und gedankliche Auseinandersetzung mit den anatomischen Forschungsströmungen der Zeit«, welche bei der berühmten Jenaer Begegnung thematisiert wurden, aufnehme und in seiner chemischen Vorgehensweise folge. Shu Ching Ho berücksichtigt jedoch nicht, dass es sich bei den »Aphorismen« um eine Übersetzung der »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum« handelt, die bereits 1793 erschienen ist! (Ho (2003), S. 82.) 100 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 96. (Wiederabgedruckt in: Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V.)

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dungstriebes‹ es erlaubte, Zeugung, Wachstum und Regeneration der lebenden Organismen als Wirkungen einer einzigen Kraft zu begreifen, war massgebend an einem Paradigmenwechsel im Bereich der Physiologie beteiligt. Mithilfe dieses Bildungstriebs, des ›nisus formativus‹, überwand er die Präformationstheorie, die nicht mehr in der Lage war, dringliche Probleme bei der Entstehung, Erhaltung und Fortpflanzung belebter Organismen zu erklären. Ausschlaggebend für die Postulierung einer epigenetischen Theorie war eine Beobachtung, die Blumenbach zufällig an einer Art grüner Armpolypen gemacht hatte: Einige dieser Polypen besassen nur kurze, steife Arme.101 Der Naturforscher fand den Grund dieser Erscheinung durch Experimente heraus. Schneidet man einem Polypen einen Arm ab, so wächst dieser zwar aufgrund einer offenbar vorhandenen ›Reproduktionskraft‹ innerhalb von zwei bis drei Tagen nach, aber nicht mehr bis zu seiner ursprünglichen Grösse. Auch an anderen Organismen, selbst am Menschen, zeigen sich ähnliche Phänomene einer nicht mehr vollständigen Wiederherstellung. Daher stellte sich ihm die Frage: »Und können einmahl vollkommen organisirte Theile da gebildet werden, wo an keinen dazu präformirten Keim zu denken ist, wozu brauchts denn überhaupt der ganzen Einschachtelungs-hypothese?«102

Für Blumenbach war es nun nicht mehr möglich, solche Versuchsresultate mit der Präformationstheorie in Einklang zu bringen, und er stellte nun die Hypothese auf: »Dass keine präformirten Keime präexistiren: sondern dass in dem vorher rohen ungebildeten Zeugungsstoff der organisirten Körper, nachdem er zu seiner Reife und an den Ort seiner Bestimmung gelangt ist, ein besonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann lebenslang zu erhalten, und wenn sie ja etwa verstümmelt worden, wo möglich wieder herzustellen. Ein Trieb, der folglich zu den Lebenskräften gehört, der aber eben so deutlich von den übrigen Arten der Lebenskraft der organisirten Körper (der Contractilität, Irritabilität, Sensilität etc.) als von den allgemeinen physischen Kräften der Körper überhaupt, verschieden ist; der die erste wichtigste Kraft zu aller Zeugung, Ernährung, und Reproduction zu seyn scheint, und den man um ihn von anderen Lebenskräften zu unterscheiden, mit dem Namen des Bildungstriebes (nisus formativus) bezeichnen kan.«103

Innerhalb eines Jahrzehnts, zwischen 1781 und 1791, dem Erscheinungsjahr der dritten Auflage seines Buches »Über den Bildungstrieb«, distanzierte sich Blumenbach immer ausdrücklicher von der besonders von Albrecht von Haller, 101 Blumenbach (1791a), S. 28 ff. 102 Blumenbach (1791b), § 8. S. 11. 103 Blumenbach (1791a), S. 31 f.

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Lazzaro Spallanzani und Charles Bonnet vertretenen Präformationstheorie und wurde überzeugter Vertreter der sogenannten Epigenesistheorie. Ihm erschien es nun nach vielfachen Experimenten an Pflanzen und Tieren weit angemessener, die Entstehung neu erzeugter organischer Wesen mithilfe einer bildenden Kraft zu erklären. Parallel zu dieser Hinwendung zur Epigenesis lässt sich eine weitere wichtige Uminterpretation der organischen Erscheinungen feststellen. Denn in der ersten Auflage definierte er den Bildungstrieb noch als eine der Materie eingeborene Kraft: »Dass in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrner, lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen.«104

In den nächsten zehn Jahren präzisierte er die Modifikationsmöglichkeiten dieser besonderen Lebenskraft und trennte sie immer schärfer von ihrer materiellen Wirkungsstätte, indem er sie zu einem nach der Empfängnis dem noch unorganischen »Zeugungsstoff« hinzugefügten Trieb erklärte. In der sechsten Auflage des »Handbuchs der Naturgeschichte« bekräftigte er diesen bedeutsamen Unterschied zu seiner anfänglichen Definition: »Und dies [die Entstehung der neuerzeugten organisierten Materie] geschieht, wenn man annimmt, dass der reife, vorher zwar ungeformte, aber organisirbare Zeugungsstoff der Eltern, wenn er zu seiner Zeit, und unter den erforderlichen Umständen an den Ort seiner Bestimmung gelangt, dann für eine in denselben nun zweckmässig wirkende Lebenskraft, nämlich den Bildungstrieb (nisus formativus) zuerst empfänglich wird;- für einen Trieb, der sich von aller bloss mechanisch bildenden Kraft (als welche auch im unorganischen Reiche Crystallisationen u. dergl. hervorbringt) dadurch auszeichnet, dass er nach der endlos mannichfaltig verschiedenen Bestimmung der organisirten Körper und ihrer Theile, die vielartig organisirbaren Zeugungsstoffe auf eben so mannichfaltig aber durchgehends zweckmässig modificirte Weise in bestimmte Gestalten zu formen vermag – und so (- durch die Verbindung des bloss Mechanischen mit dem zweckmässig Modificirbaren in diesem Triebe -) zuerst bey der Empfängniss die allmählige Ausbildung; dann aber auch die lebenswierige Erhaltung dieser organischen Bildung durch die Ernährung; und selbst wenn dieselbe durch Zufall gelitten haben sollte, so vie[l] möglich die Wiederersetzung derselben durch die Reproduction, bewirkt wird*).«105 *) Diess alles habe ich in der Schrift über den Bildungstrieb, Götting. 1791. 8. weiter ausgeführt, die ich nicht mit der unreifern Abhandlung, die unter einem ähnlichen Titel 1781 erschienen ist, zu verwechseln bitte. 104 Blumenbach (1781), S. 12. Anm. 18. 105 Blumenbach (1799), § 9. S. 17 f.

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Blumenbach gab somit dem ›nisus formativus‹ eine Sonderstellung, indem er ihm die Rolle der ersten und wichtigsten Kraft aller organischen Materie zuordnete. Doch ging er mit seiner Bestimmung auch auf Distanz zu Caspar Friedrich Wolff, der annahm, dass in der Materie selbst eine ›vis essentialis‹ vorhanden sei, und machte deutlich, dass dieser Bildungstrieb nicht eine Eigenschaft der Materie selbst sei.106 Dadurch entging er dem Vorwurf des Materialismus und Atheismus, denn eine nicht-materielle Kraft war mit der Existenz eines Schöpfergottes durchaus kompatibel – im Gegensatz zu Caspar Friedrich Wolffs ›vis essentialis‹, die diesen im Grunde obsolet machte.107 Was Blumenbach aber 1791 noch als Hypothese formuliert hatte, nahm in den darauffolgenden Jahren, vergleicht man die verschiedenen Auflagen des »Handbuchs der Naturgeschichte« miteinander, die Definition eines unbestreitbaren Faktums an, indem er sich immer nachdrücklicher zur Annahme einer epigenetischen Theorie und der Existenz des Bildungstriebes bekannte. Gleichzeitig versuchte er sich gegen die Vorwürfe des Pantheismus, Spinozismus oder gar Atheismus schon prophylaktisch zu verteidigen. Deshalb legte er stets Wert auf den Hinweis, dass die Ursache des Bildungstriebes eine »qualitas occulta« bleibe. Die konstanten Wirkungen des Bildungstriebes sind jedoch aus der Erfahrung bekannt.108 Sie lassen sich näher bestimmen und in allgemeine Gesetze bringen. Blumenbach beruft sich dabei auf eine Autorität der Antike, nämlich Ovid: »caussa [sic] latet, vis est notissima.«109 Wie vorsichtig Blumenbach im Umgang mit dem Begriff ›Bildungstrieb‹ war, eine Vorsicht, die auch seine Hörer Wilhelm und Alexander von Humboldt bei ihren eigenen Forschungen während der 90er Jahre immer mehr beherzigen sollten, macht besonders eine Anmerkung zu der oben zitierten Stelle deutlich, die er der sechsten Auflage seines »Handbuchs der Naturgeschichte« von 1799 hinzufügte: 106 Auch Peter McLaughlin weist darauf hin, dass der einzige wirklich klare Unterschied zwischen Blumenbachs »unreiferen« und »reiferen« Formulierungen über den Bildungstrieb darin besteht, dass er den Ausdruck »eingebohrner« Trieb aus seiner Schrift »Über den Bildungstrieb« von 1781 in den späteren Werken durch »allgemeinen« Trieb ersetzt hat. (Siehe: McLaughlin (1982), S. 371.) 107 Wie gefährlich die Annahme einer organischen Kraft, die die gesamte Natur reguliert, noch 1845 sein konnte, zeigen die Reaktionen der kirchlich-konservativen Kreise auf Alexander von Humboldts ersten Band des »Kosmos«. In den Briefen an Varnhagen von Ense finden sich zahlreiche Stellen, in denen er berichtet, er sei aufgefordert worden sich zum Christentum zu bekennen und öffentlich zu erklären, dass er im »Kosmos« keine atheistische Weltanschauung vertrete. (Siehe dazu: Humboldt, A. (1860). Vgl. auch meine Ausführungen auf Seite 148 f.) 108 Blumenbach (1791a), S. 33. Er weiss sich in diesem Punkt zudem mit Voltaire, d’Alembert und Fordyce einig. 109 ibid. S. 34. [»Die Ursache ist verborgen, aber die Wirkung ist wohlbekannt.« Ovid, Metamorphosen IV. Buch.]

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»Hoffentlich ist für die mehresten Leser die Erinnerung überflüssig, dass das Wort Bildungstrieb selbst so gut wie die Benennungen aller andern Arten von Lebenskräften an sich weiter nichts erklären, sondern bloss eine besondre (das Mechanische mit dem zweckmässig Modificirbaren in sich vereinende) Kraft unterscheidend bezeichnen soll, deren constante Wirkung aus der Erfahrung anerkannt worden, deren Ursache aber so gut, wie die Ursache aller andern noch so allgemein anerkannten Naturkräfte für uns hienieden im eigentlichen Wortverstande qualitas occulta bleibt.– Das hindert aber nicht, dass man nicht mehr suchen sollte, ihre Wirkungen durch Beobachtung weiter zu erforschen und zu verfolgen, und sie so auf allgemeine Gesetze zurück zu bringen.«110

Entscheidend im methodischen Vorgehen Blumenbachs war also, dass er von sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen ausging, um Hinweise auf eine Lebenskraft zu erhalten. Spekulationen über die »Ursache« des Bildungstriebes wies er als nicht zur Wissenschaft gehörend zurück. Nicht zufällig stützte er seine Ausführungen, vergleicht man die Formulierungen und Erweiterungen der verschiedenen Auflagen, auf eine stets grössere Anzahl von Zitaten Newtons. Dessen Autorität garantierte in den Augen Blumenbachs – und in denen der Naturforscher des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen – die Nachprüfbarkeit der empirisch gesammelten Daten, die von metaphysischen Betrachtungen streng getrennt wurden. Wir sehen also, wie die Einlösung seiner Forderung nach Empirie, die besonders nachdrücklich um 1790 erhoben wurde, bei Blumenbach dazu führte, dass einerseits durch die genaue und überprüfbare Beobachtung der organischen Natur immer präzisere und zahlreichere Aussagen über die Phänomene des Lebens gemacht werden konnten, andererseits aber – und dies ist die Kehrseite der Medaille – die philosophische Reflexion über die Ursache der Lebenserscheinungen zurückgedrängt wurde. Diese Feststellung einer stärkeren Hinwendung Blumenbachs zur Empirie lässt uns auch die Frage nach einem möglichen Einfluss Immanuel Kants kritischer Philosophie besser beurteilen. Verschiedentlich wird in der Forschungsliteratur darauf hingewiesen, dass Blumenbach seine Epigenesistheorie erst nach der Beschäftigung mit Kants »Kritik der Urteilskraft« zu formulieren vermochte.111 Somit käme der Philosophie eine entscheidende Rolle bei dem Paradigmenwechsel von der Lehre der Präformation zur Epigenese zu. Eine solche Einschätzung gewichtet aber meiner Meinung nach die Bedeutung der 110 Blumenbach (1799), § 9. S. 18. 111 So meint etwa Timothy Lenoir, dass der Göttinger Physiologe in den neueren Editionen seiner Werke (1789, 1791), die sich mit dem Bildungstrieb auseinandersetzen, seine Theorie hauptsächlich aufgrund seiner Beschäftigung mit der kantischen Philosophie revidiert habe. Erst auf Anregung Kants sei ihm der entscheidenden Perspektivenwechsel in der Frage der Entwicklung und Fortpflanzung von Organismen gelungen. (Lenoir (1980), S. 77 – 108.)

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Empirie – zumindest in Bezug auf Blumenbach – zu wenig. Denn gerade bei Blumenbach lässt sich beobachten, wie die exakte Beobachtung des real Vorhandenen die philosophische Betrachtung zurückdrängt. Erst nach und nach wurde er sich der Konsequenzen seiner Theorie bewusst und versuchte sich gegen mögliche Vorwürfe des Atheismus zu verteidigen. Dazu bot ihm nun »Die Kritik der Urteilskraft« einen idealen Schutzschild. So beruft sich Blumenbach in der sechsten Auflage seines »Handbuches der Naturgeschichte« auf die Autorität Kants, um sich gegen kritische Einwände zu wappnen: »Zu diesen grossen Verrichtungen werden die organisirten Körper durch die Organisation ihres Baues, und durch die mit derselben verbundenen Lebenskräfte geschickt gemacht. Denn durch diese letztern erhalten die Organe ihre Empfänglichkeit für reitzende Eindrücke (s t i m u l i ) und ihr Bewegungsvermögen, ohne welches weder Ernährung noch Wachsthum, noch wechselseitige Einwirkung der Theile zur zweckmässigen Erhaltung des Ganzen, und umgekehrt*), denkbar seyn könnte.«112 *) Vergl. Kant’s Critik der Urtheilskraft S. 285. u. f.

Somit können wir erst 1799 eine explizite Bezugnahme Blumenbachs auf Kant feststellen, wobei noch anzumerken wäre, dass in obigem Zitat nur sehr allgemein von »Lebenskräften« die Rede ist. Eine grundlegende philosophische Prämisse des ›nisus formativus‹, die sich an Kant festmachen lässt, ist also nicht gegeben.113 Vielmehr spricht Kant an der von Blumenbach erwähnten Stelle nicht von »Lebenskräften«, sondern von der Bestimmung eines Dinges als »Naturzweck, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist«.114 Doch auf eine Erörterung dieses fundamentalen Problems geht der Göttinger Physiologe in seinen Schriften gar nicht ein. Zu den später prominentesten Zuhörern von Johann Friedrich Blumenbach 112 Blumenbach (1799), § 6, S.12. 113 Es ist genau diese Stelle aus dem »Handbuch der Naturgeschichte«, auf die Timothy Lenoir den Einfluss Kants zu stützen versucht, der sich ab der vierten Auflage von 1791 nachweisen liesse: »In the mature formulation of the theory, after he had begun to wrestle with Kant’s philosophy of organic form, Blumenbach defined the ›Bildungstrieb‹ as one among a class of ›Lebenskräfte‹, modelled on Haller’s vital forces of sensibility and irritability. ›By Lebenskraft‹, Blumenbach wrote, ›the animal organization maintains its receptivity for receiving stimulating impressions and the ability of setting its organs in motion.‹ Blumenbach stressed the importance of regarding these two aspects of the ›Lebenskraft‹ as mutually supportive in order to render intelligible the ›interaction of the parts for the purposive maintenance of the whole and vice versa.‹« Aber gerade bei diesem massgebenden Zitat unterlaufen Lenoir zwei schwerwiegende Fehler : Erstens fehlt ausgerechnet das Kant-Zitat aus der »Kritik der Urteilskraft« über die »Erhaltung der Theile zur zweckmässigen Erhaltung des Ganzen, und umgekehrt« in dieser vierten Auflage. Blumenbach zitiert Kant erst in der sechsten Auflage von 1799! Zweitens spricht Blumenbach an der entsprechenden Stelle des § 6 ganz allgemein von »Lebenskräften«, weshalb also gar nicht vom Bildungstrieb die Rede sein kann. (Lenoir (1980), S. 83.) 114 Kant (1968), Bd. X, S. 318 ff.

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gehörten während dieser entscheidenden Jahre um 1790 Wilhelm und Alexander von Humboldt. Ähnlich wie ihr Lehrer verzichteten auch sie in ihren wenige Jahre später verfassten Schriften und Entwürfen auf eine nähere Bestimmung dieser Lebenskraft. Aber beide gingen a priori von ihrer Existenz aus. So liegt der feste Glaube an die Existenz der ›vis vitalis‹ allen politischen und anthropologischen Texten Wilhelms zugrunde. Die freie Entfaltung der Lebenskraft sowohl im einzelnen Menschen als auch in ganzen Nationen hat erste Priorität. Diese innere Kraft ist jedoch noch nicht analysierbar, nur ihre Wirkungen sind bisher wahrnehmbar. Um nun die freie Ausbildung dieser Hauptkraft und aller aus ihr hervorgehenden Nebenkräfte zu fördern, mit dem Ziel, sie zu einem harmonischen Ganzen zu führen, muss man sie zuerst exakt beobachten. In der Einsicht, dass erst auf der Grundlage empirischer Fakten eine Wissenschaft vom Menschen, also einer Anthropologie im weitesten Sinne, möglich ist, liegt Wilhelms Motivation für die fünf Jahre später in Jena absolvierten anatomischen Studien. Erst wenn auch die physische Natur erforscht ist, lassen sich die Gesetze des Ganzen, das ebenso die moralische Natur umfasst, erkennen: »Dennoch ist es unläugbar, dass die physische Natur nur Ein grosses Ganze mit der moralischen ausmacht, und die Erscheinungen in beiden nur einerlei Gesetzen gehorchen. Nach der Erforschung der Körperwelt und dem Studium des inneren Lebens der Geister bleibt daher noch endlich ein Blick auf das gegenseitige Verhältnis dieser beiden völlig ungleichartigen Reiche übrig, um diejenigen Gesetze aufzufinden, welche, in beiden herrschend, die höchste Verknüpfung des Naturganzen vollenden. Diese Gesetze werden freilich immer nur sehr wenige und äusserst einfache seyn können, da sie die reiche Mannichfaltigkeit aller besondren unter sich befassen müssen.«115

Es ist alles andere als ein Zufall, dass Wilhelm diese Sätze 1795 in einem Aufsatz für Schillers »Horen« schrieb, also zeitlich parallel zu seinen Studien bei Loder in Jena. Die entscheidenden Impulse für seine anatomischen und physiologischen Versuche, die er gemeinsam mit seinem Bruder Alexander, Goethe und Johann Heinrich Meyer vorgenommen hat, gingen also nicht erst von Goethe aus, dessen naturwissenschaftliche Interessen von Schiller als Irrweg gesehen wurden, sondern hatten ihre Wurzeln in den Vorlesungen Blumenbachs, die Wilhelm während seiner Göttinger Studienzeit besuchte. Auch sein jüngerer Bruder Alexander setzte Mitte der Neunzigerjahre die Lebenskraft noch als gegeben voraus. Sowohl die »Aphorismen« (1793) als auch der »Rhodische Genius« (1795) gehen von deren Annahme aus.116 Sein Augen115 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 271. Siehe zu Wilhelms Horenaufsätzen insbesondere Kapitel III.3. 116 Zum Problem der Lebenskraft im »Rhodischen Genius« siehe besonders das Kapitel III.4.

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merk richtete sich ebenfalls auf die wahrnehmbaren Auswirkungen dieser Kraft, die er zunächst an Pflanzen, später der Vollständigkeit wegen auch an Tieren und Menschen untersuchte. Aber bereits am Ende seiner »Aphorismen« lassen sich anhand eines Spinoza-Zitats leise Zweifel an ihrer tatsächlichen Existenz feststellen: »Videmus enim omnes rationes, quibus natura explicari solet, modos esse tantummodo imaginandi, nec nullius rei naturam, sed tantum imaginationis constitutionem indicare.« (»Wir sehen, dass alle Gründe, aus denen wir die Natur zu erklären pflegen, nur die Art und Weise, wie wir uns die Sache vorstellen, und nicht die Natur der Sache selbst, sondern die Beschaffenheit unserer Einbildung, anzeigen.«)117

Als Wissenschaftler, der sich an die überprüfbaren Resultate der Experimente hielt, distanzierte er sich schon bald von der Behauptung, es gebe eine nachweisbare Lebenskraft.118 Trotzdem hielt er zeit seines Lebens an einer ganzheitlichen Betrachtung der Natur fest, weswegen er auch noch 1826 Sympathien für eine grundlegende Kraft in allem Organischen hegte. Die Aufnahme des »Rhodischen Genius« in die zweite, 1849 schliesslich in die dritte Ausgabe seiner überaus erfolgreichen »Ansichten der Natur« zeigt diese widersprüchliche Haltung Alexanders. In seiner Erläuterung zur dritten Ausgabe von 1849 distanziert er sich zwar vom wissenschaftlich relevanten Gehalt des »Rhodischen Genius«, aber in der Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe der »Ansichten der Natur«, die erst mit der dritten Ausgabe erschien, verteidigt er den Wiederabdruck mit der »Vorliebe«, die Schiller für den »Rhodischen Genius« gehegt haben soll.119 Dass er sich ausgerechnet auf Schiller beruft, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn dieser äusserte sich in einem Brief an Christian Gottfried Körner wenig schmeichelhaft über Alexander und warf diesem vor, er würde die Natur mit »nacktem« und »schneidendem Verstand« ausmessen.120 Doch eine objektive Herangehensweise an seinen Forschungsgegenstand gehörte nun einmal zu Alexander von Humboldts Selbstverständnis als Naturforscher und beruhte selbstredend auch auf dem Sammeln der Fakten nach exakten empirischen Methoden. In diesem Punkt konnte er sich auf Bacon berufen, dessen Einfluss auf die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts immer noch immens war :

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dieser Arbeit. An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, den Einfluss Blumenbachs auf Alexander von Humboldts fernere Studien zu untersuchen. Humboldt, A. (1794), S. 128. Humboldts Quellenangabe lautet: Spinoza: Opera omnia. 1677, pag. 39. Siehe dazu die auf Seite 222 f zitierte Berichtigung in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«. Humboldt, A, (1987 – 1997). Ansichten der Natur. Bd. V, S. XI. Brief Friedrich Schillers an Christian Gottfried Körner vom 6. August 1797. In: Schiller (18?), Bd.5. S. 234.

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»[..]; ich hebe nur das aus, was von andern Physikern vor mir noch nicht beobachtet wurde, und bleibe meiner älteren Methode getreu, n u r T h a t s a c h e n z u s a m menzustellen, ohne mich auf Dinge einzulassen, die wenigstens ausser den Gränzen unserer bisherigen Erfahrung e n l i e g e n , ›Est enim genus Philosophantium, qui in p a u c i s e x p e r i m e n t i s sedulo et accurate elaborarunt, atque inde Philosophias educere et confingere ausi sunt; r e l i q u a m i r i s m o d i s a d e a d e t o r q u e n t e s .‹ Baco Ver, Nov. Organ. I. 62«121

Erst auf dieser Grundlage lässt sich, wie er im Brief vom 3. Oktober 1790 an Lichtenberg geschrieben hatte,122 die Wahrheit finden. Dass aber gemäss der Auffassung der Brüder von Humboldt naturwissenschaftlich objektive Erkenntnisse, die auf der Beobachtung der anorganischen und organischen Materie beruhten, mit ästhetischen, kulturhistorischen und psychologischen Konzepten der Zeit in Beziehung gebracht werden sollten, scheint Schiller übersehen zu haben. Gerade für eine solche monistische Weltsicht lieferte aber Blumenbachs Bildungstrieb eine ideale Basis. Er gab zur Hoffnung Anlass, den Dualismus zwischen Geist und Materie überwinden zu können. Doch auch in anderer Hinsicht hatte Blumenbach Einfluss auf die Brüder von Humboldt. Gemäss der historischen Methode, die damals in Göttingen angewendet wurde, betrachtete der berühmte Arzt und Anatom die Gegenstände seines Faches auch aus einer zeitlichen Perspektive. So bestritt er vehement die These einer »Kette des Seins«, die davon ausging, dass die gesamte Schöpfung eine lückenlose und unveränderliche Stufenleiter bilden würde.123 Gegen eine solche Behauptung führte Blumenbach streng wissenschaftliche Argumente an: Die Naturgeschichte zeigt, dass ganze Arten von Lebewesen im Laufe der Zeit verschwunden sind, ohne dass sich die Gesetzmässigkeiten des Universums geändert hätten.124 Darüber hinaus hielt er strikt an einer Trennung zwischen unorganisierten (Mineralien) und organisierten Körpern (Pflanzen und Tiere) fest. Gerade die Annahme eines Bildungstriebes lässt die Kontinuität der drei Reiche nicht zu, da sich das dritte Reich der Mineralien durch das Fehlen einer 121 Humboldt, A. (1796a), S. 166. [»Die auf die Vernunft sich stützende Schicht der Philosophen rafft aus der Erfahrung das Verschiedenste und Nächstliegende auf, was weder sicher erkundet noch sorgfältig geprüft und erwogen ist; das übrige überantworten sie der Überlegung und der Regsamkeit des Geistes.« Bacon (1990), S. 129.] 122 Vgl. S. 50. 123 Nach wie vor ein Standardwerk zu diesem Thema ist: Arthur O. Lovejoy : The Great Chain of Being. Harvard: 1933. (Deutsche Übersetzung: Lovejoy (1985).) 124 Im ersten Band des »Kosmos« hebt Alexander von Humboldt die Bedeutung Blumenbachs für die Paläontologie und vergleichende Anatomie besonders hervor. Er schreibt seinem ehemaligen Mentor, neben Pieter Camper und Samuel Thomas von Soemmerring, das Verdienst zu, sich als Erster wissenschaftlich mit der vergleichenden Anatomie des osteologischen Teils der Paläontologie beschäftigt zu haben. (Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 286.)

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belebenden Kraft von den beiden anderen Reichen unterscheidet. Diese Gedanken fügte Blumenbach der 6. Auflage des »Handbuchs für Naturgeschichte« bei und hob sie in der Vorrede als wichtigen Zusatz zur 5. Auflage noch explizit hervor.125 Wir sehen hier, welche Konsequenzen die Annahme einer epigenetischen Theorie für die gesamte Naturgeschichte hatte. Sie ermöglichte eine historische und dynamische Sicht der Erdgeschichte, indem sie sowohl die Variabilität als auch das Verschwinden der Arten zu erklären vermochte. In seinen »Beyträgen zur Naturgeschichte«, deren erste Auflage 1790 in Göttingen erschien, trägt das erste Kapitel den Titel »Über die Veränderlichkeit der Schöpfung«, das zweite »Ein Blick in die Vorwelt«. Der Beginn dieses zweiten Kapitels zeigt erneut, welche Bedeutung der genauen Beobachtung zukam: »Fast jeder Pflasterstein in Göttingen zeugt davon, dass Gattungen – ja sogar ganze Geschlechter von Thieren untergegangen seyn müssen. Unser Kalkboden wimmelt gleichsam von den mannigfaltigsten Arten versteinter Seegeschöpfe, unter welchen meines wissens nur eine einzige Gattung ist, wozu wir noch gegenwärtig ein wahres ganz damit übereinkommendes Original kennen; [..]«126

Nebst der Bildung von Variabilitäten und dem Untergang ganzer Geschlechter hielt Blumenbach bereits 1790 die Schöpfung neuer Gattungen für möglich.127 35 Jahre später konnte er dann seine Hypothese mit der Entdeckung kleiner Mikroorganismen noch besser abstützen. Zwar ging er nach wie vor davon aus, dass Körper derselben Gestalt und Art stets Gleichartiges hervorbringen und eine ununterbrochene Reihe bis zurück zur ersten Schöpfung bilden, »Oder wenigstens b i s z u i h r e n e r s t e n S t a m m ä l t e r n h i n a u f .– Denn ich habe im ersten Theile meiner Beyträge zur Naturgeschichte Facta angeführet, die es mehr als bloss wahrscheinlich machen, dass auch selbst in der jetzigen Schöpfung neue Gattungen von organisirten Körpern entstehen, und gleichsam n a c h g e s c h a f f e n werden; {wohin namentlich auch die erste Entstehungsweise mancher sehr einfachen und mikroskopischkleinen organisirten Körper, wie z. B. der mehrsten sogenannten Infusionsthierchen zu gehören scheint.}«128 125 Blumenbach (1799), § 4. S. 8 f. 126 Blumenbach (1790), S. 6. Nicht unbedeutend war auch Blumenbachs Beitrag zur Paläontologie. Einer der bedeutendsten Paläontologen nach 1800, Georges Cuvier, beruft sich in den »Discours sur les r¦volutions de la surface du globe, et sur les changemens qu’elles ont produits dans le rÀgne animal« mehrere Male auf Blumenbach. Generell war Cuvier für die Rezeption deutscher naturwissenschaftlicher Werke in Frankreich wichtig. Auch forderte er seine französischen Kollegen öfter auf Deutsch zu lernen, damit die Fortschritte, die in Deutschland erzielt wurden, auch in Frankreich fruchtbar gemacht werden könnten. 127 Ibid. S. 4. 128 Blumenbach (1825), § 2. S. 2 f. Der in Klammern gesetzte Teil des Zitats ist ein Zusatz der 11. Auflage.

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Wir erkennen hier eine gewisse Verunsicherung bei der Frage, ob Arten tatsächlich immer konstant bleiben. Blumenbach versuchte, solchen Ungewissheiten mit der Forderung nach Autopsie und Erfahrung zu begegnen. Zu diesem Zweck legte Johann Friedrich Blumenbach besonderen Wert auf die sorgfältige und kritische Auswertung der naturgeschichtlichen Entdeckungen und der Berichte von Reisenden über naturgeschichtlich relevante Gegenstände.129 Um das Lernen aus eigener Anschauung zu unterstützen, legte er den Grundstein für die Ethnografischen Sammlungen und gründete das Akademische Museum in Göttingen. Berühmt war seine grosse Bibliothek, die vor allem auch eine ansehnliche Sammlung von Reiseberichten enthielt. In all seinen Forschungen war er aber stets bemüht, die Grenzen der für den Menschen überhaupt möglichen Erkenntnisse nicht zu überschreiten, das heisst, den Bereich der Metaphysik auszuklammern. Um den Erfahrungshorizont zu erweitern, waren nach Meinung Blumenbachs Forschungsreisen von grosser Wichtigkeit. Aus diesem Grunde stand der Göttinger Gelehrte mit zahlreichen Reisenden in Verbindung und führte einen regen Briefwechsel mit Sir Joseph Banks, dem ehemaligen Begleiter auf James Cooks erster Weltumsegelung und Präsidenten der Londoner Royal Society. Dadurch erhielt er auch Zugang zu der 1788 gegründeten »Association for promoting the discovery of the interior parts of Africa«.130 Dieses Interesse für Forschungsreisen weckte Blumenbach auch in vielen seiner jungen Göttinger Studenten, die im Jahre 1789 eine »Physikalische Gesellschaft« gründeten. Unter ihnen war auch Alexander von Humboldt und ohne Zweifel erhielt er dort das methodische Rüstzeug für seine eigenen Forschungsreisen. Nebst Alexander gehörten der »Physikalischen Gesellschaft« noch weitere Studenten an, die sich später ebenfalls einen Namen als berühmte wissenschaftliche Entdeckungsreisende machen sollten – so zum Beispiel die Afrikaforscher Ulrich Jasper Seetzen und Friedrich Heinrich Link. Nicht zufällig war Humboldts Begleiter auf der ersten wissenschaftlichen Reise im September 1789 ein Mitglied dieser privaten Gesellschaft, nämlich der junge Holländer Steven Jan van Geuns. Wie direkt Blumenbach Einfluss auf die Vorbereitungen und Durchführungen der Reisen seiner interessierten Studenten genommen hatte, zeigen beispielsweise seine umfangreichen und exakten Anweisungen für den Afrikafor129 In seinen »Beyträgen zur Naturgeschichte« legte Blumenbach besonderen Nachdruck auf die »unabbittliche Verpflichtung des Naturforschers« eigene Erfahrungen in der Welt zu sammeln. Erst an zweiter Stelle soll er sich mit den Nachrichten von »fähigen und glaubwürdigen Zeugen begnügen«. Blumenbach wendete sich hier im Besonderen gegen Christoph Meiners, doch gehörte für ihn die Autopsie ganz allgemein zu einer wichtigen Voraussetzung für jeden Naturforscher. (Siehe: Blumenbach (1790), S. 69 ff.) 130 Siehe dazu: Plischke (1937), S. 6 f.

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scher Friedrich Hornemann. Sie betrafen Physiognomie, Krankheiten, Kultur und Ökonomie der Einwohner ebenso wie detaillierte Fragen nach einheimischen Tieren, Heilpflanzen sowie geologischen und topografischen Charakteristiken der Landschaft.131 Humboldt machte sich zwar nie im Auftrag Blumenbachs auf eine Studienreise, aber er stand doch durch seine enge Verbindung zu ihm, die er auch nach seiner Göttinger Studienzeit aufrecht erhielt,132 indirekt in der Tradition der berühmten Göttinger Fragenkataloge, die seit Michaelis ein Instrument zur Systematisierung und Koordinierung der Forschungsreisen boten. Genauso wie Georg Forster, der ebenfalls enge Beziehungen zu Blumenbach unterhielt, war er somit seit früher Jugend mit diesen universalen Ansprüchen an den reisenden Naturforscher vertraut. Spätere Bekanntschaften mit Joseph Banks oder Louis-Antoine de Bougainville dürften ihn in seinem Vorhaben noch bestärkt haben, auf seinen Reisen möglichst viele verschiedenartige Objekte zu sammeln sowie genaue Beobachtungen und Messungen anzustellen, um daraus schliesslich die Gesetzmässigkeiten erkennen zu können. Aber den entscheidenden Impuls für seine wissenschaftlichen Reisen dürfte Alexander von Humboldt in Göttingen erhalten haben.

I.2.b) Georg Forster und sein Bemühen um das »Ganze der Natur« Mit Georg Forster fällt der Name einer weiteren einflussreichen Persönlichkeit, die das Interesse von Wilhelm und Alexander von Humboldt auf die empirische Naturforschung gelenkt haben dürfte. Während Alexander bis Ostern 1789 in Berlin noch Privatunterricht in Mathematik, Technologie, Griechisch und Zeichnen erhielt, lernte sein Bruder 1788 – bereits die Universität in Göttingen besuchend – durch die Vermittlung des Altphilologen Christian Gottlob Heyne das Ehepaar Therese und Georg Forster kennen. Forsters Frau Therese war die Tochter Heynes und übersiedelte zu dieser Zeit mit ihrem Mann nach Mainz, der dort im Herbst 1788 eine Stelle als Bibliothekar des Kurfürsten antrat. Durch Wilhelm machte auch Alexander die Bekanntschaft mit dem berühmten Weltumsegler und besuchte ihn 1789, nun ebenfalls Göttinger Student, auf seiner ersten Forschungsreise an den Rhein. Er wohnte mit seinem Begleiter Steven Jan van Geuns eine Woche lang in Forsters Haus in Mainz. Bereits ein Jahr später wurde er von Georg Forster eingeladen, ihn auf seiner Reise an den Niederrhein sowie nach den Niederlande, England und Frankreich zu begleiten. Vermutlich 131 Wiederabgedruckt in Plischke (1937), S. 81 – 83. 132 Humboldt unterhielt während seiner Amerikareise einen Briefwechsel mit Blumenbach und schickte ihm Indianerschädel für seine umfangreiche Sammlung. (Humboldt, A. (1987 – 1997). Über die Wasserfälle des Orinoko bei Atures und Maipures. Bd. V. S. 142.)

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spielte Forster auch eine entscheidende Rolle für die weitere Ausbildung Alexanders an der Bergakademie in Freiberg. Sein eigener Aufenthalt 1784 in Freiberg sowie seine persönliche Freundschaft mit Abraham Gottlob Werner dürften eine entscheidende Hilfestellung für die Zulassung des jüngeren Reisegefährten an die berühmte sächsische Schule für Montanwissenschaften gewesen sein.133 Oft wird der jüngere Humboldt aufgrund seiner späteren wissenschaftlichen Forschungsreisen als Nachfolger Forsters bezeichnet. Doch weit wichtiger als die offensichtliche Parallelität des Reisens an sich war dessen Vorbildfunktion in der Durchdringung und Bearbeitung der wahrgenommenen Gegenstände. Nicht von ungefähr war auch Johann Gottfried Herder ein grosser Bewunderer des Weltumseglers, sah er doch in ihm einen Reisenden, der mit seiner Reisebeschreibung »A voyage round the world«134 zu einer Philosophie der Menschengeschichte beitrug. Schon im Jahre 1774, noch während sich Johann Reinhold Forster und sein Sohn Georg auf ihrer Weltumsegelung befanden, schrieb Herder hellsichtig: »Unsre Reisebeschreibungen mehren und bessern sich: alles läuft, was in Europa nichts zu tun hat, mit einer Art Philosophischer Wut über die Erde – wir sammlen ›Materialien aus aller Welt Ende‹, und werden in ihnen einst finden, was wir am wenigsten suchten, Erörterungen der Geschichte der wichtigsten Menschlichen Welt.«135

Eigene Erfahrungen und Nutzung der Erfahrungen anderer zuverlässiger Reisenden sollen nach Meinung Forsters als Grundlage der Naturforschung dienen. Doch dabei darf nicht so sehr die Anhäufung von neuem Datenmaterial im Vordergrund stehen, sondern weit wichtiger ist das Entdecken der Zusammenhänge und Wechselwirkungen in der anorganischen und organischen Natur. In der Einleitung zu seiner Vorlesung über Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel von 1779, »Ein Blick in das Ganze der Natur«, sprach Georg Forster programmatisch über die Anforderungen an einen aufgeklärten Naturforscher. Dabei warnte er ebenso eindringlich vor einer mangelhaften Durchdringung der Gegenstände wie sie für den Polyhistor eigentümlich ist, wie vor der einseitigen Spezialisierung des Fachgelehrten: »Allein die zuverlässigen Entdeckungen Anderer zu benutzen, und den ganzen gegenwärtigen Zustand der Wissenschaft inne zu haben, Wahrheit und Thatsache von Irrthum und Betrug zu unterscheiden, die wesentlichen Grundlehren ganz zu verdauen, und dann den einzelnen Theil, den Punkt der Wissenschaft, dessen Aufklärung uns näher liegt, mit steter Rücksicht auf jene Grundlage genauer zu sichten und zu 133 Beck, C. (1960), S. 265. 134 Georg Forster : A voyage round the world. London 1777. Die erste deutsche Bearbeitung »Reise um die Welt« wurde zwischen 1778 und 1780 in Berlin veröffentlicht. 135 Herder (1984 – 2002). 1. Bd. Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. S. 666.

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kultiviren: dazu ist das Leben nicht nur, sondern selbst die Zeit der Bildung, unsere Jugend, lang genug. Mit Recht fordert man also diese Vorkenntnisse von jedem, der sich um die Unsterblichkeit des Ruhms bewirbt, und etwas mehr als eigene Ergötzung, nämlich das Beste seiner Mitbürger, am Herzen zu haben vorgiebt.«136

Erst auf der Grundlage einer soliden, umfangreichen Vorbildung soll also ein Forschungsprojekt in Angriff genommen werden. Die Klassifikation der gesammelten Objekte ist zwar notwendig, aber lediglich die Vorbereitung für eine wirkliche Naturgeschichte. Denn jene, die blosse Beschreibung und Ordnung der Naturalien, muss durch einen genetisch-erklärenden Aspekt erweitert werden. Ebenso wie später für Willdenow ist für Forster ein Klassifikationssystem, wie beispielsweise Carl von Linn¦s »Systema Naturae«, nur eine Ordnungshilfe, um sich in der chaotisch erscheinenden Natur zurechtzufinden. Entscheidend ist aber, dass der Naturforscher seine Begriffe aus der Beobachtung der Tatsachen entwickelt und nicht a priori voraussetzt. Genau in diesem Punkt setzte Forsters Kritik an Immanuel Kant ein, der die Naturgeschichte auf ein Problem der Erkenntnistheorie reduzierte. Kant behauptete apodiktisch in seinem Aufsatz »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« von 1785: »Es liegt gar viel daran, den Begriff, welchen man durch Beobachtung aufklären will, vorher wohl selbst bestimmt zu haben, ehe man seinetwegen die Erfahrung befragt; denn man findet in ihr, was man bedarf, nur alsdann, wenn man vorher weiss, wornach man suchen soll.«137

Darauf entgegnete Forster, dass nach Kants Methode die ›Tatsachen‹ als reine Artefakte aus den Begriffen a priori konstruiert würden.138 Stattdessen soll der Forscher, wie der Weltreisende bereits in der Rede »Ein Blick in das Ganze der Natur« erläuterte, zuerst die empirischen Methoden der neu sich formierenden Naturwissenschaften erlernen, um mit deren Hilfe zunächst die Naturalien zu beschreiben und zu klassifizieren. In verschiedenen Briefen an Heyne und Campe aus dem Jahre 1786 skizzierte Forster im Zusammenhang mit der für Campes »Schulencyclopädie« geplanten Naturgeschichte, die aber lediglich als Entwurf ausgearbeitet blieb, sein methodisches Konzept. Demnach seien »zuerst die blosse Unterscheidungs-lehre, nämlich die Classification und Beschreibung der Naturalien, soviel davon zu wissen A l l e n nothwendig ist«139, abzuhandeln. Danach folge die »eigentliche Naturgeschichte«, die die »Geschichte der einzelnen Arten, ihr Lebenslauf, Le136 137 138 139

Forster (1969). Bd. II. Ein Blick in das Ganze der Natur. S. 13. Kant (1968). Bd. XI. Bestimmung des Begriffs der Menschenrasse. S. 65. Siehe dazu: Marino (1995), S. 102 ff. Forster (1978). Werke. Bd. 14, S. 509. (Brief Nr. 168 vom 10. Juli 1786 an Christian Gottlob Heyne.)

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bensweise, Verwandlung, Triebe, Kräfte, Nutzen«140 umfasse. Der dritte, wichtigste Teil soll dann einen Überblick über das Ganze enthalten: »Am Ende noch ein Corollarium mit dem Vorhergehenden, um den Ueberblick des Ganzen zu erleichtern und die Gränzen, wo Naturgeschichte sich an andere Wissenschaften anschliesst, aufzunehmen. Hier würde das etwanige Kosmographische, wovon ich im ersten Briefe sprach, mit ganz wenigen Worten seinen Platz finden. Es soll mehr nicht seyn, als ein Wink, wodurch der allgemeine Zusammenhang angedeutet, die Oekonomie der Natur mit diesem ihrem ganzen Hausrath, den wir so einzeln aufgezählt haben, unter einen Gesichtspunkt zusammengezogen, und gezeigt wird, wie das Kleinste und das Ungeheuerste in immerwährender Beziehung auf einander stehen.«141

Die letzte Stufe der Naturgeschichte wäre allenfalls noch »ein dunkles Hindeuten auf eine letzte Ursache und Quelle alles dieses in die Sinne fallenden Vielfaches«142. Doch hier verlässt man den Bereich der überprüfbaren ›physikalischen‹ Wissenschaften und betritt das Gebiet der Metaphysik. Entsprechend diesem Konzept ist auch Alexander von Humboldt in seinen »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein«143 vorgegangen. Seine erste wissenschaftliche Reise wurde Forsters Forderungen gemäss durchgeführt. Dass dieser dabei die entscheidenden Impulse gegeben hatte, wurde von Alexander immer wieder bestätigt. So bezeichnete er den Mainzer Bibliothekar beispielsweise im »Kosmos« als seinen »berühmten Lehrer und Freund«.144 Wie viel Humboldt von seinem Reisegefährten gelernt hat, zeigt ein kurzer Blick in die erwähnte Veröffentlichung von 1790, die er konsequenterweise Forster gewidmet hat. In seinen »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« dokumentiert er nicht nur die eigenen geologischen Studien, sondern unterzieht auch antike sowie neuere Schriften über den Forschungsgegenstand einer eingehenden Kritik. Die Literaturdiskussion nimmt hierbei gegenüber den eigenen Naturbeobachtungen sogar den grösseren Raum ein. Damit knüpft Alexander an die gelehrte Tradition des 18. Jahrhunderts an. Ein weiteres wesentliches Merkmal seines Erstlingswerkes ist wohl ebenfalls auf die Anregung Forsters zurückzuführen: Nicht nur die geologischen Formationen in Unkel werden gründlich untersucht, auch die Vegetation, die dieses Basaltgestein hervorbringt, wird genau geprüft und mit der Flora des zuvor besuchten Hohen Meissners verglichen. Wir erkennen hier bereits eine für Humboldts Naturbetrachtung typische Darstellungsweise. Da ihm daran gelegen ist,

140 141 142 143 144

Ibid. Ibid. S. 534. (Brief Nr. 180 vom 4. November 1786 an Joachim Heinrich Campe.) Ibid. S. 509. (Brief Nr. 168 vom 10. Juli 1786 an Christian Gottlob Heyne.) Humboldt, A. (1790) Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 72.

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die Zusammenhänge zu erkennen, genügt ihm die isolierte Beobachtung der einzelnen Objekte nicht: »Die Pflanzen, welche ich an diesem Basaltfelsen fand, waren bloss A r t e m i s i a c a m p e s t r i s , aber eine sonderbare Varietät f o t i c i s g l a u c i s , die sich im ganzen h a b i t u s der A . p o n t i c a und L i c h e n c r i s p u s näherte. Diese Flechtenart scheint, wie ich schon an mehreren Orten (hauptsächlich am Weissener, zwischen Allmerode und Allendorf) bemerkte, a u f d e m B a s a l t s e h r h ä u f i g z u s e y n . Ueberhaupt müssen die Gewächse, welche der Botaniker auf dieser oder jener Steinart findet, nicht unbemerkt bleiben. L i c h . s a x a t i l i s , L e p r a f l a v a L . v i r i d i s ist zwar den Steinen so gut eigen, als den Vegetabilien. Aber warum wurden L i c h . c a l c a r e u s noch eben so wenig auf einem Sandstein oder Granit, als H y d n u m a u r i s c a l p i u m anders als auf Tannenzapfen, Ly c o p e r d o n e q u i n u m W i l l d . anders, als auf einem Pferdehuf, Clavaria militaris anders, als auf einer verlarvten Raupe gefunden. Jedem Stein ist gewiss nicht jede Pflanze zum Wohnort bestimmt [sic]. Die Natur folgt hier noch Gesetzen, die nur dadurch erforscht werden können, dass die Botaniker mehr Data zur Induction darreichen.«145

Mithilfe eines Vergleichs lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzeln beobachteten Fakten erkennen. In einem weiteren Schritt können daraus dann die natürlichen Gesetzmässigkeiten gefolgert und in einer Synthese zusammengefasst werden. Dass man jedoch bei seinen Schlussfolgerungen vorsichtig vorgehen muss und die Grenzen der Wissenschaft nicht überschreiten darf, war Alexander schon damals durchaus bewusst. Gegen allzu einfache Simplifizierungen, wie sie beispielsweise der Abt Giraud-Soulavie in seiner »Histoire naturelle de la France« angestellt hatte, indem er von der Bodenbeschaffenheit einer Gegend direkt auf den Charakter der dort ansässigen Bewohner schloss, wendet Humboldt ein: »Ich darf kaum den Misverstand fürchten, durch welchen man mir vorwerfen möchte, ich wolle den a l l g e m e i n e n E i n f l u s s der physicalischen Beschaffenheit eines Landes auf die Sitten der Menschen läugnen. Bergbewohner sind allerdings von den Bewohnern flacher Küsten verschieden. Aber im Einzelnen zu bestimmen, w i e Granit, Porphyr, Thonschiefer, Basalt etc. auf den Charakter wirken, das heisst, die Grenzen unseres Wissens muthwillig überschreiten.«146

Stattdessen ist Humboldt stets daran gelegen, nur solche Theorien zu akzeptieren, die sich mit ausreichend gesichertem Datenmaterial belegen lassen: »Ich muss gestehen, dass ob ich gleich selbst einen grossen Theil dieses merkwürdigen Gebirges sahe, (in dem sich Quecksilber, Steinkohlen, Basalte, Sandstein, Kalk, und Thonschiefer mit verdruckten Fischen unter einander befinden) der Augenschein mich doch nicht von jenen Vulcanischen Wirkungen überzeugen konnte, weil ich den 145 Humboldt, A. (1790), S. 85 f. 146 Ibid. S. 22.

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Grundsatz dieser Hypothese, die ehemalige Flüssigkeit der Basalte, für noch immer nicht hinlänglich erwiesen hielt. Doch bin ich nicht unbescheiden genug, um diese Aeusserung für mehr als einen s c h w a c h e n Zweifel auszugeben.«147

Somit bilden für Humboldt genauso wie für Forster die exakte Beobachtung, das ausgiebige Sammeln von Fakten sowie das sorgfältige Ziehen der Schlussfolgerungen die Minimalanforderungen an einen professionellen Naturforscher. Im letzten Zitat wird eine wichtige naturhistorische Frage des ausgehenden 18. Jahrhunderts angesprochen. Umstritten war, ob der Basalt ausschliesslich vulkanischen Ursprungs ist, oder ob dieser vielleicht durch andere Feuerherde im Innern des Erdmantels, beispielsweise durch brennende Kohleflöze, entstanden sein könnte. Diese Frage war deshalb so wichtig, weil damit ein weiteres Problem zusammenhing, dasjenige der Entstehung unseres Planeten. Auf der einen Seite standen die Neptunisten, die, angeführt von Abraham Gottlob Werner, behaupteten, auf der anfänglich mit Wasser bedeckten Erde hätten sich allmählich aus den Sedimenten Gebirgsformationen gebildet. Nachdem das Wasser zum grössten Teil verdunstet sei, kamen die so entstandenen Gebirge und Täler zum Vorschein und seien im Wesentlichen unverändert geblieben. Die Plutonisten (oder Vulkanisten) hingegen, deren Hauptvertreter Jean-Andr¦ de Luc war, glaubten, die Gebirge der Erde seien durch gewaltige Vulkanausbrüche entstanden, die in relativ kurzer Zeit die ursprünglichen Gesteinsformationen durcheinander geworfen hätten.148 Den Plutonisten lieferte der – hypothetische – vulkanische Ursprung des Basaltes ein wichtiges Argument für diese ›Feuertheorie‹. Das Problem der Erdentstehung, das zu dieser Zeit sehr kontrovers diskutiert wurde, beschäftigte auch Alexander von Humboldt. Auffallend ist Alexanders behutsame Vorgehensweise bei der Parteinahme für oder gegen die beiden Theorien, die eine zentrale Rolle in den »Mineralogischen Betrachtungen« spielen. Im Text lassen sich zahlreiche Stellen finden, die sich teils als Zustimmung zur plutonistischen, teils zur neptunistischen Sichtweise der Erdgeschichte deuten lassen. Lediglich im Begleitbrief zu dem an Abraham Gottlob Werner, seinem zukünftigen (!) Lehrer an der Bergakademie in Freiberg, übersandten Exemplar der »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« nimmt Alexander von Humboldt eindeutig für die Neptunismus-Theorie Partei: »Auf meiner Reise nach England, von der ich eben zurükkomme, habe ich die Rheinischen Gebürge wieder durchwandert. Ich fand nichts, was die Voraussezung ehemaliger Vulkane nothwendig machte; hingegen überall Gründe für den neptunischen Ursprung der Basalte. Ihre Idee eines ehemals über die Erdfläche allgemein verbreiteten 147 Ibid. S. 18. 148 Zur Neptunismus – Plutonismus – Debatte siehe Guntau (1984). Insbesondere S. 82 – 97.

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Basaltlagers, wurde mir nie wahrscheinlicher und einleuchtender, als bei Linz und Unkel, wo ich auf den höchsten Kuppen horizontale Schichten sah‘. Viele unserer vaterländischen Mineralogen werden mir diese Geständnisse sehr verargen und meine Schrift (wenn sie nicht gar vergessen bleibt) einer harten Kritik unterwerfen. Aber diese Betrachtungen sollen, wenigstens wünsch‘ ich, dass es mein steter Vorsaz bleibe, mich nie abhalten, zu sagen, was ich für wahr erkenne. Ich habe lange in einer berufenen vulkanischen Gegend gelebt, ich habe die Hannövrischen, Hessischen, Rheinischen und Zweibrükkischen Gebürge fleissig zu Fuss besucht — aber ich kann mich nicht zu einer Hypothese bekennen, die Herr de Luc in seinen geognostischen Gedichten (Lettres physiques et morales) so reizend ausschmükt.«149

Bei diesem ›Bekenntnis‹ ist allerdings zu beachten, dass sich Humboldt mit seinem Brief als Anwärter für einen Studienplatz an der damals weltweit führenden Bergakademie empfehlen wollte. Es ist deshalb leicht einzusehen, warum er hier dezidiert für Werner Partei ergreift. Somit ist dieses Schreiben eher als Zeugnis für Alexanders grosses diplomatisches Geschick zu betrachten, denn als Beweis für dessen Überzeugung von der Neptunismus-Theorie. Doch in den »Mineralogischen Beobachtungen« enthält sich Humboldt letztlich eines eindeutigen Votums für die eine oder andere Theorie, denn beide Hypothesen haben in seinen Augen eine gewisse Berechtigung:150 »Nach jeder Hypothese bleiben jene ebensöligen Basaltblöcke immer merkwürdig. Senkrechte Schichten können, nach dem Geständniss*) eines grossen Mineralogen, in der natürlichen Lage nie an horizontale grenzen, sondern nur nach und nach in dieselben übergehen. Die Natur mag also hier durch Vulcanische oder Neptunische Mittel gewirkt werden, so müssen beim E r k a l t e n , oder A b t r o c k n e n d e r B a s a l t e doch grosse Revolutionen im Spiel gewesen seyn.«151 *) Von Trebra Erfahrungen über das Innere der Gebirge. Br. 2.

Damit lässt Alexander die Frage nach der Erdentstehung offen und schliesst seine Untersuchung nicht damit, dass er eine Hypothese für wahrscheinlicher 149 Jahn / Lange (1973), S. 99 f. (Brief Nr. 49 vom 25. Juli 1790.) 150 Aufgrund dieser doch schon sehr früh manifesten Zweifel Alexander von Humboldts in dieser Frage stimme ich der Behauptung Wolf von Engelhardts nicht zu, Alexander sei noch während seiner Amerikareise 1799 – 1804 ein »getreuer Schüler seines Lehrers« Abraham Gottlob Werner gewesen. (Engelhardt, W. (2003), S. 25.) Auch Ulrike Leitner meint, Humboldt vertrete in den »Mineralogischen Beobachtungen« »eindeutig die Partei seines Lehrers«, ohne jedoch ihre Behauptung zu begründen. (Leitner (2003), S. 30.) Leitner verweist lediglich auf Günter Hoppe, dessen ›Belege› für die wernersche Anhängerschaft Humboldts für die Zeit vor 1800 nicht zu überzeugen vermögen. (Hoppe, G. (1994), S. 93 – 106.) Hingegen betonen die Herausgeber des »Tagebuches einer Reise mit Alexander von Humboldt« von Steven Jan van Geuns in ihrer Einleitung ebenfalls, dass Humboldt in seinen frühen wissenschaftlichen Arbeiten stets die Ergebnisse seiner Beobachtungen in den Vordergrund rückte und sich eines abschliessenden Urteils enthielt. (Geuns (2007), S. 14.) 151 Humboldt, A. (1790), S. 86.

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erklärt als die andere, sondern indem er den Bereich der Naturwissenschaften verlässt, um sich den ästhetischen Genuss beim Anblick der Unkeler Basaltfelsen in Erinnerung zu rufen: »Welcher Hypothese man auch seinem [sic] Beifall giebt, man mag sich mit Herrn von Veltheim in den Schlund eines Vulcan’s versetzen, man mag den Basalt mit Herrn von Dolomieu als eine ausgeworfene Lava, oder mit Herrn Werner als eine abgetrocknete Masse betrachten (denn alles ist gleich gross und unbegreiflich!) so muss der Anblick der Unkeler Steinhöhle einen tiefen, schwer verlöschenden Eindruck hinterlassen.«152

Nicht zuletzt spielte für Humboldts Zurückhaltung in der Stellungnahme zur Debatte der Erdentstehung wohl auch die Haltung seines Reisegefährten von 1790, Georg Forster, eine gewisse Rolle. Forster äussert sich in seinen »Ansichten vom Niederrhein«, die den ersten Teil ihrer gemeinsamen Reise dokumentieren, noch vorsichtig-kritisch gegen die Plutonisten: »[…] kurz, ehe es Menschen gab, die den Gefahren dieses furchtbaren Wohnortes trotzten, und das plutonische Gebiet mit Waizen oder mit Reben bepflanzten, kreis’te hier die Natur, und die Berge wanden sich in gewaltsamen Krämpfen. Ist das nicht prächtig – geträumt?«153

Auf über zwanzig Seiten seines Werkes erörtert der Weltreisende das Für und Wider der Plutonisten. Doch letzten Endes neigt er eher zur NeptunismusTheorie, da ihm die Argumente der Plutonisten noch allzu sehr auf Hypothesen beruhen, die noch eines empirischen Beweises bedürfen.154 In seinen privaten Aufzeichnungen dieser Reise hingegen hält er sich mit deutlichen Ausfällen gegen die Plutonisten nicht zurück.155 Man kann also annehmen, dass Alexander von Humboldt schon beim ersten Zusammentreffen mit Forster 1789 in Mainz um dessen Vorbehalte gegen die neue Theorie der Erdentstehung wusste. Somit liesse sich Alexanders ambivalente Haltung auch mit seiner Rücksichtnahme auf Forster erklären, wobei es immerhin sehr beachtlich ist, dass er trotz der Skepsis seines berühmten Rei152 Ibid. S. 105 f. 153 Forster (1791). 1. Bd; Kapitel III; S. 40. Geplant war eine Reisebeschreibung der gesamten Reise an den Niederrhein, nach Holland, England und Frankreich. Doch nachdem Georg Forster 1793 im französischen Exil bleiben musste, weigerte sich seine geschiedene Frau Therese Heyne-Forster-Huber, ihm die für eine Veröffentlichung notwendigen Manuskripte nach Paris zu senden. Forster verstarb kurz darauf am 10. Januar 1794. So blieben die »Ansichten vom Niederrhein« letztlich fragmentarisch. 154 »Diejenigen, die sich auf die Urtheile Anderer verlassen, und die Vulkanität des Basalts auf Treu und Glauben annehmen, sollten sich erinnern, dass n u l l i u s i n v e r b a nirgends unentbehrlicher ist, als im hypothetischen Theile der Naturgeschichte.« Ibid. S. 49 f. 155 Forster (1893), S. 127 f.

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sebegleiters nicht blind für die Neptunisten Partei ergreift.156 Sein sorgfältiges Abwägen der beiden Theorien zur Erdentstehung lässt ihm eine spätere eindeutige Stellungnahme in jeder Richtung offen. Einige Jahre später, explizit erst nach seiner Rückkehr aus Amerika, nachdem Alexander die Vulkane der Anden sorgfältig untersucht hatte, bezog er eindeutig Stellung für den Plutonismus. Dieses ›Umfallen‹ konnte ihm Johann Wolfgang Goethe, ein Anhänger der wernerschen Neptunismus-Theorie, nie ganz verzeihen. Immer wieder äusserte er sein Missfallen, dass der von ihm so sehr geschätzte Naturforscher ins feindliche Lager gewechselt ist, obwohl auch er vom Neptunismus nicht restlos überzeugt war.157 Wie sehr sich Goethe mit der Debatte um den Plutonismus und Neptunismus auseinandersetzte, zeigen verschiedene literarische Bearbeitungen innerhalb seines Gesamtwerkes. Besonders eindrücklich ist seine Darstellung der beiden Positionen zu Beginn des vierten Aktes in »Faust II«: »MEPHISTOPHELES ernsthaft. Als Gott der Herr – ich weiss auch wohl, warum – Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte, Da, wo zentralisch glühend, um und um, Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte, Wir fanden uns bei allzugrosser Hellung In sehr gedrängter, unbequemer Stellung. Die Teufel fingen sämtlich an zu husten, Von oben und von unten auszupusten; Die Hölle schwoll von Schwefelstank und –säure, Das gab ein Gas! Das ging ins Ungeheure, So dass gar bald der Länder flache Kruste, So dick sie war, zerkrachend bersten musste. 156 In seinen »Ansichten vom Niederrhein« verweist Forster explizit auf Alexander von Humboldt, ohne sich selbst eindeutig festzulegen: »Alles was ich hier von unsern vermeintlichen Vulkanen am Rhein mit wenigen Worten berühre, findet sich in den beiden Quadranten des Dr. N o s e und in den zusammengedrängten Beobachtungen unseres scharfsinnigen Freundes A . V. H . bestätigt.« (Forster (1791). 1. Bd; Kapitel III; S. 56. 157 »Nun meldet man neuerlichst auch aus dem hohen Norden: der A l t a y sey auch einmal gelegentlich aus dem Tiefgrund gequetscht worden. Und Ihr könnt Gott danken, dass es dem Erdbauche nicht irgend einmal einfällt sich zwischen Berlin und Potsdam auf gleiche Weise seiner Gährung zu entledigen. Die Pariser Akademie sancionirt die Vorstellung: der Mont blanc sey ganz zuletzt, nach völlig gebildeter Erdrinde, aus dem Abgrund hervorgestiegen. So steigert sich nach und nach der Unsinn und wird ein allgemeiner Volks- und Gelehrtenglaube, gerade wie in dunkelsten Zeitalter man Hexen, Teufel und ihre Werke so sicher glaubte, dass man sogar mit den grösslichsten Peinen gegen sie vorschritt.« (Riemer (1834), S. 307 f. Brief Goethes an Zelter vom 9. November 1829.) Goethe spielt hier auf Alexander von Humboldts fast täglich zurückgelegte Wegstrecke zwischen Berlin und dem Schloss Sanssouci in Potsdam an, da zu dieser Zeit der preussische König Friedrich Wilhelm III. sehr oft auf die Anwesenheit seines in Berlin wohnhaften Kammerherrn Humboldt bestand.

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Nun haben wir’s an einem andern Zipfel, Was ehmals Grund war, ist nun Gipfel. Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren, Das Unterste ins Oberste zu kehren. Denn wir entrannen knechtisch-heisser Gruft Ins Übermass der Herrschaft freier Luft. Ein offenbar Geheimnis, wohl verwahrt, Und wird nur spät den Völkern offenbart. FAUST. Gebirgsmasse bleibt mir edel-stumm, Ich frage nicht woher und nicht warum. Als die Natur sich in sich selbst gegründet, Da hat sie rein den Erdball abgeründet, Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht, Die Hügel dann bequem hinabgebildet, Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet. Da grünt’s und wächst’s und um sich zu erfreuen, Bedarf sie nicht der tollen Strudeleien.«158

Die Bezeichnung der vulkanischen Erdentstehung als »tolle Strudeleien« dürfte nicht zuletzt ein Seitenhieb gegen Alexander von Humboldt gewesen sein. Dass Goethe aber den Neptunismus-Plutonismus-Streit öfter in seinen literarischen Texten zur Darstellung brachte, zeigt einerseits die Virulenz dieser naturwissenschaftlichen Frage, andererseits verdeutlicht es die Unterschiede zwischen Goethe und Humboldt in der Herangehensweise an dieses Thema. Denn letztlich lehnte der Dichter die Plutonismus-Theorie aus ästhetischen Gründen ab. Ihm graute vor der Vorstellung, die Erdoberfläche sei durch laute und glühend heisse Eruptionen entstanden. Die Idee einer allmählichen, sanften Abtrocknung der Erde kam deshalb seiner Auffassung einer langsamen organischen Entwicklung der Natur eher entgegen. Wie wir oben gesehen haben, spielte auch für Alexander von Humboldt eine ästhetische Betrachtung der Natur durchaus eine Rolle, jedoch war für ihn eine auf Fakten beruhende Basis naturwissenschaftlicher Theorien elementar. Erst diese bildete die Grundlage für die Annahme einer wissenschaftlichen Hypothese. Alexanders Forschungsmethode der sorgfältigen Synthesenbildung und Subsumierung der einzelnen Fakten unter wenige Gesetzmässigkeiten liegt aber eine fundamentale Überzeugung zugrunde, die von zahlreichen Gelehrten des ausgehenden 18. Jahrhunderts geteilt wurde und im Wesentlichen auf Buffon zurückgeht: Die Komposition und Dekomposition des Organischen aus anorganischen Teilen stellt einen immerwährenden Kreislauf dar, der die Einheit der Vielfalt garantiert. Eine irgendwie geartete ›Lebenskraft‹, die nach einem uni158 Goethe (1989). Bd. 3. Faust. Der Tragödie zweiter Teil. S. 305.

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versalen Gesetz wirkt, hält das ewige Werden und Vergehen in Gange und modifiziert die individuellen Formen.159 Bereits 1782, in einer Rede vor der »HessenCasselischen Gesellschaft der Altertümer«, verlieh Georg Forster dieser Überzeugung Ausdruck: »Animer, inspirer, donner la vie, c’est le seul acte de la Nature, qu’elle persiste — vouloir accomplir dans tous les tems, et dans toutes les parties de l’univers. Elle fait para„tre la vie sous le plus grand nombre de modifications possible, elle r¦unit tous les efforts, pour la conserver intacte, pour la rendre douce et d¦sirable. Rien de plus touchant que le spectacle de la vie; rien de plus glorieux pour la Nature, que cette bont¦ presque divine, avec laquelle elle repand l’allegresse et le bonheur dans tout son empire. Au milieu de cette douce contemplation, souvenons-nous toujours que ces moyens sont born¦s, que les compos¦s sont fragiles. Quoique la multitude des formes pourrait Þtre infinie, la quantit¦ de la matiÀre est d¦termin¦e. Pour d¦corer la terre, du ph¦nomÀne d’une vie perp¦tuelle, pour introduire successivement toutes les formes dans la matiÀre, il fallait donc en ¦laguer de temps en temps les sujets qui commenÅaient — languir, et mettre en action de nouveaux ressorts.«160

Auch in der Vorlesung »Ein Blick in das Ganze der Natur« bezieht sich Forster in seiner Darstellung des Naturganzen ausdrücklich auf Buffon und nimmt dessen Idee einer »moule int¦rieur« auf.161 In Forsters Sprache sind es die »Urbilder« jeder Gattung, die für eine gewisse Konstanz sorgen. Ihre Anordnung in Anzahl, Erhaltung und Gleichgewicht bleibt unwandelbar, doch die individuellen Ausbildungen stellen in ihren Veränderungen und Abweichungen zahlreiche Nuancen dar, die, wie er später in einer Schrift gegen Kant ausführt, den Zusammenhang der Schöpfung gewährleisten.162 Die Vorstellung einer »inneren Form« war nicht nur für Forster bedeutsam, auch Herders »Prototyp« sowie Goethes 159 Siehe dazu: Dougherty (1990b), S. 221 – 279. 160 Forster (1843). Bd. 5, 2. Teil. S. 260. [»Beleben, anregen, Leben geben, das ist die einzige Handlung der Natur, welche sie dauernd zu allen Zeiten und in allen Teilen des Universums ausführen will. Sie ermöglicht, das Leben in einer Vielzahl von Modifikationen erscheinen zu lassen, sie vereinigt alle Wirkungen, um es unversehrt zu bewahren, um es süss und begehrenswert zu erhalten. Nichts ist eindrücklicher als das Schauspiel des Lebens; nichts ist glanzvoller als die Natur, als diese fast göttliche Güte, mit welcher sie Freude und Glück in ihrem gesamten Reich ausbreitet. Mitten in dieser zartfühlenden Betrachtung, erinnern wir uns immer daran, dass die Mittel begrenzt sind, dass die Verbindungen zerbrechlich sind. Obgleich die Vielfalt der Formen unbegrenzt sein kann, ist die Menge der Materie festgesetzt. Um die Erde zu schmücken, zum Erscheinen eines fortwährenden Lebens, um nach und nach alle Formen in die Materie einzuführen, muss man von Zeit zu Zeit die Gegenstände zurückschneiden, die anfangen zu verkümmern, und neue Kräfte in Bewegung setzen.«] 161 Forster (1969). Bd. II. Ein Blick in das Ganze der Natur. S. 14. 162 Forster (1969). Bd. II. Noch etwas über die Menschenrassen. S. 85. In der Fussnote zu dieser Textstelle verweist Forster auf E.A.W. Zimmermanns »vortrefliche geographische Geschichte des Menschen und der vierfüßigen Thiere«, ein Werk, das auch für Herder und Alexander von Humboldt von grosser Wirkungskraft war.

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»Urpflanze« und »Urtier« haben ihre Wurzeln in Buffons Naturkonzeption.163 Wie wir später sehen werden, nehmen auch Wilhelm und Alexander von Humboldt diese Konzeption wieder auf – und das in so unterschiedlichen Bereichen wie der Anthropologie und der Pflanzengeografie. Was aber bewirkt dieses Werden und Vergehen der organischen Natur? Was hält den immerwährenden Kreislauf des Lebens in Gange? In der Beantwortung dieser Frage war Forster ebenso wegweisend für die weiteren Studien der Brüder von Humboldt wie Blumenbach. Er legt der lebenden Materie »Organisationskräfte« zugrunde und versucht mit Begriffen aus der Physiologie den Zusammenhang innerhalb der Schöpfung zu erhellen. Dabei kann er sich auf eine Reihe von Autoritäten berufen, wie eine Stelle aus dem »Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit« zeigt: »Die ersten Organisationskräfte, man nenne sie plastisch mit den Alten, Seele mit Stahl, wesentliche Kraft mit Wolf, Bildungstrieb mit Blumenbach, u.s.w. wirken im Menschen dahin, dass er sich selbst erhalten, und sein individuelles Dasein hier gegen alle äussern Verhältnisse behaupten könne.«164

Forster verwendet hier den Ausdruck »Organisationskräfte« offenbar in Anlehnung an Herders »organische Kräfte«, eine Ausdrucksweise, gegen die Kant in seiner Rezension der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« so heftig polemisierte.165 Doch auch wenn Forster diese Organisationskräfte nicht näher bestimmt, so stellt er sich hier doch in eine Traditionslinie mit Stahl, Wolff und – wohl nicht ohne Seitenhieb auf Kant – Blumenbach, obwohl ja der Königsberger Philosoph seine Theorie der Naturgeschichte ebenfalls auf Blumenbachs »nisus formativus« abzustützen versuchte. Erst mithilfe dieser Organi163 Anzumerken ist hier allerdings, dass gerade auch Kant in seinem Aufsatz »Von den verschiedenen Racen der Menschen« aus dem Jahre 1775 von »Urbildern« der Stammgattungen spricht, deren Abartungen und Bildungen von Arten und Rassen Gegenstand der Naturgeschichte im eigentlichen Sinne wären. Doch wenn Kant von der Notwendigkeit spricht, mithilfe dieser neuen Naturgeschichte das »weitläufige Schulsystem der Naturbeschreibung in ein physisches System für den Verstand zu verwandeln«, so wird das Dilemma deutlich, das aus Kants späterer Forderung nach einer der Erfahrung vorhergehenden Begriffsbestimmung entspringt. Eine wirklich empirische, auf Erfahrung beruhende Naturforschung wäre auf diese Weise nicht möglich, da ›Erfahrung› nach Kant ein erkenntnistheoretisches Problem bleibt. In unserem Zusammenhang ist jedoch interessant, dass die Brüder von Humboldt jenen frühen Kanttext mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits aus ihrer Ausbildungszeit in Berlin kannten, da ihn ihr Lehrer für Philosophie, Johann Jakob Engel, im zweiten Teil seines »Philosophen für die Welt« abdrucken liess. (Siehe dazu: Engel (1775 / 1777). Die hier erwähnte Textstelle befindet sich in der Fussnote auf den Seiten 104 und 105 des zweiten Teils.) 164 Forster (1843). Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit. Bd. 5, 2. Teil. S. 227. 165 Kant (1968). Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. XII. S. 784 ff. Siehe dazu auch: Pross (1997).

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sationskräfte kann nun die Geschichte der Menschheit mit den Prozessen innerhalb der Natur in Einklang gebracht werden. Der Mensch wird harmonisch in den Zusammenhang der Natur integriert. In das Jahr 1789, als beide Brüder von Humboldt die Vorlesungen Blumenbachs hörten und die persönliche Bekanntschaft mit Georg Forster gemacht hatten, fällt also nicht nur Blumenbachs entscheidende Präzisierung der Definition des Bildungstriebs, sondern auch Forsters Beschäftigung mit der Menschen- und Völkergeschichte. Wie bereits Herder bemühte sich auch Forster um eine Skizzierung einer Anthropologie. Doch ging es ihm dabei keineswegs um eine einseitige biologische Anthropologie, denn auch die geistigen und kulturellen Hervorbringungen der Menschheit wurden in Betracht gezogen. So bilden die verschiedenen Völker der Erde gemäss Forster – ebenfalls wieder in Analogie zu Herder – in Bezug auf ihre moralisch-sittlichen Ausformungen eine Stufenfolge: »Diese allgemein bekannten Erfahrungen [der Abweichung von einer gleichförmigen Entwicklung] scheinen sich mir auch in der grossen Masse des Menschengeschlechts zu bestätigen, und ganze Völker scheinen jene verschiedenen Stufen der Bildung hinanzusteigen, die dem einzelnen Menschen vorgezeichnet sind. Die Natur scheint anfänglich auch bei diesen Haufen nur für Erhaltung zu sorgen; späterhin, wenn sie reichlichere Quellen der Subsistenz ausfindig gemacht haben, kommt der Zeitraum ihrer Vermehrung; sodann entstehen grosse Bewegungen, gewaltsames Streben nach Herrschaft und Genuss; endlich entwickelt sich der Verstand, verfeinert sich die Empfindung, und die Vernunft besteigt ihren Thron.«166

Entscheidend in Forsters Entwurf der Geschichte der Menschheit ist die Übertragung von physiologischen Gesetzmässigkeiten der individuellen Entwicklung auf die Geschichte einer ganzen Gattung, in diesem Falle auf die der Menschen. Der einzelne Mensch ist zunächst analog zum Tier durch die Triebe der Selbsterhaltung und Fortpflanzung bestimmt: »Mit allen Thieren haben wir Erhaltung und Fortpflanzung gemein; in so fern also sind diese Funktionen mit den besondern und ausschliessenden Bestimmungen der Menschheit nicht zu vergleichen. Das Dasein des Einzelnen und der gesammten Gattung hinge gleichwol an einem gar zu schwachen Faden, wenn die Periode des Wachsthums und des Geschlechtstriebes nicht vor der höchsten Entwickelung der Thätigkeit nach Aussen und der Denkkraft vorherginge.«167

Erst auf dieser quasi ›tierischen‹ Basis entwickeln sich die spezifisch menschlichen Eigenschaften: 166 Forster (1843). Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit. Bd. 5, 2. Teil. S. 231. 167 Ibid. S. 230.

Studium an der Universität Göttingen (1788 – 1790)

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»Vor allen Dingen müssen wir sein; sodann erst können wir auf eine bestimmte Art und Weise unsere Kräfte äussern. Da indessen das Wachsthum aller Organe gleichzeitig fortschreitet, (wiewol das zarteste früher ausgearbeitet erscheint); da nun die Zeitpunkte ihrer höchsten Wirksamkeit, ihrer Reife, verschieden sind; da auch das Handeln und Denken schon während der Epoche des Wachsthums seinen Anfang nimmt: so darf man in gewisser Hinsicht behaupten, dass unsere Existenz zu keiner Zeit bloss thierisch ist.«168

Die Veranlagung des Menschen zum Denken und Handeln ist somit in seiner physiologischen Natur begründet, die Vernunft selbst jedoch muss der Mensch – und, wie die vorhergehenden Zitate erläutern, auch die ganze Menschheit – erst allmählich erlernen. In diesen Punkten bezieht sich Forster offensichtlich erneut auf Herder, denn dieser hatte ganz ähnlich das menschliche Vermögen zur Vernunft an physiologischen Beobachtungen festgemacht: »Der Mensch allein bleibt lange schwach: denn sein Gliederbau ist, wenn ich so sagen darf, dem Haupt zuerschaffen worden, das übermässig gross in Mutterleibe zuerst ausgebildet ward und also auf die Welt tritt. Die andern Glieder, die zu ihrem Wachstum irrdische Nahrungsmittel, Luft und Bewegung brauchen, kommen ihm lange nicht nach, ob sie gleich durch alle Jahre der Kindheit und Jugend zu ihm und nicht das Haupt verhältnismässig zu ihnen wachset. Das schwache Kind ist also, wenn man will, ein Invalide seiner obern Kräfte und die Natur bildet diese unablässig und am frühesten weiter. Ehe das Kind gehen lernt, lernt es sehen, hören, greifen und die feinste Mechanik und Messkunst dieser Sinne üben. Es übt sie so Instinktmässig als das Tier ; nur auf eine feinere Weise. Nicht durch angeborne Fertigkeiten und Künste: denn alle Kunstfertigkeiten der Tiere sind Folgen gröberer Reize; und wären diese von Kindheit an herrschend da: so bleibt der Mensch ein Tier, so würde er, da er schon alles kann, ehe ers lernte, nichts menschliches lernen. Entweder musste ihm also die Vernunft, als Instinkt angeboren werden, welches sogleich als Widerspruch erhellen wird, oder er musste, wie es jetzt ist, schwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.«169

Auch Forster konstatiert, dass die Ausbildung des Menschen nicht instinktmässig und daher nicht nach unveränderlichen Regeln erfolgt. Doch gerade deshalb ist er zur Perfektibilität fähig: »Was scheint nun wol natürlicher, als die Voraussetzung, dass zwar keine Anlage im Menschen unbenutzt und unentwickelt bleiben, aber auch keine auf Kosten der übrigen ausgebildet und vervollkommnet werden dürfe? Die Natur bindet sich jedoch nirgends an diese Regel. Wäre sie unabänderlich, so wüssten wir nicht, wie weit sich die Perfectibilität jedes einzelnen Organs erstreckt, und in welchem Grade die Lebenskraft sich darin äussern kann, sobald sie sich ganz darauf concentrirt und die übrigen Organe vernachlässigt. Nun wird aber diese Kraft durch geringe Anomalien der Bil168 Ibid. S. 230. 169 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1, S. 132 f. Siehe dazu auch den Kommentar des Herausgebers in Band III / Teilband 2. S. 284 f.

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dung und hinzutretende äussere Verhältnisse so bestimmt, dass einzelne Theile durch sie im Körper gleichsam herrschend werden, dass Alles sich auf diese zu beziehen scheint, und zur Vervielfältigung, Erleichterung und Vervollkommnung ihrer Funktionen dienen muss.«170

Ist aber das Gleichgewicht unter den Kräften nicht von Natur aus gegeben, sodass der Mensch seine natürlichen Anlagen erst vervollkommnen muss und sich nicht allein auf seine angeborenen Instinkte verlassen kann, heisst das implizit, dass diese Ausbildung eines Gleichgewichts die Möglichkeit, wenn auch nicht die Notwendigkeit, des Fortschritts der Menschheit beinhaltet. Erst unter Berücksichtigung der naturbedingten Unvollkommenheit des neugeborenen Menschen kann also eine Entwicklung des Menschen und der Menschheit postuliert werden. Bereits bei Campe haben wir gesehen, wie das Problem des Gleichgewichts unter den Kräften in pädagogischer Hinsicht thematisiert wurde. Bei Blumenbach und Forster werden nun die physiologischen Grundlagen dieses angestrebten Gleichgewichts näher untersucht, um eine naturale Basis für die postulierte Perfektibilität des Menschen zu erhalten und deren dynamische Gesetzmässigkeiten zu erhellen. Anhand der blumenbachschen und forsterschen Untersuchungen dieser primär physiologischen Materie, die während der letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts bei zahlreichen Gelehrten auf reges Interesse stiessen, können wir nun rekonstruieren, woher bei Wilhelm und Alexander von Humboldt die Motivation kam, später selbst anatomische und physiologische Studien bei Loder in Jena zu betreiben. Die Klärung der physischen Struktur und Funktionsweise organischer Körper versprach nämlich, die emotionalen, psychischen und intellektuellen Gesetzmässigkeiten im menschlichen Individuum – und in einem zweiten Schritt die kulturellen Entwicklungen der Menschheit – erhellen zu können. Bevor ich jedoch auf diese Studien der Brüder von Humboldt in Jena und die damit in Verbindung stehenden Texte näher eingehen werde, ist es erforderlich, weitere ›Lösungsvorschläge‹ ihrer Zeitgenossen, die damals von Belang waren, zu untersuchen. Danach werden wir besonders ein Werk in Augenschein nehmen, das sehr bedeutungsvoll für seine monistische Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch eine innere Kraft gewesen sein dürfte: Johann Gottfried Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«.

170 Forster (1843). Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit. Bd. 5, 2. Teil. S. 230.

II. Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte – die ersten Ansätze im zeitgenössischen Horizont

In den Jahren, die dem Besuch der Göttinger Universität folgten, trennten sich die Wege der Brüder von Humboldt. Wilhelm trat 1790 als Justizbeamter in den preussischen Staatsdienst ein – um ihn wenige Monate später wieder zu verlassen. Durch seine Heirat mit Caroline von Dacheröden im Juni 1791 finanziell unabhängig geworden, verbrachte er die darauffolgenden Jahre bis zu seiner Ernennung 1802 zum preussischen Residenten beim Papst in Rom auf den thüringischen Landgütern seiner Frau, in Jena, auf Schloss Tegel und ab November 1797 in Paris. Sein häufiger Wohnortswechsel wurde noch unterbrochen durch zahlreiche Reisen innerhalb und ausserhalb Deutschlands. Während der Jahre vor seinem Aufenthalt in Rom, wo er sich vornehmlich mit Problemen der Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft beschäftigte, stand neben dem Studium der griechischen Sprache und Literatur der Mensch im Mittelpunkt seines Interesses. In der Einleitung zu seinen täglichen Tagebuchnotizen während des längeren Parisaufenthaltes fasste er dieses Bestreben mit folgenden Worten zusammen: »Immer soll allein der Gesichtspunkt darin herrschen meine wichtigen Arbeiten über Menschenkenntnis und Menschenbildung vorzubereiten, und mich selbst meiner Bestimmung, diess Fach zu erfüllen, näher zu bringen; oder wenigstens zu zeigen, was ich dafür that, und warum nur der Erfolg mir nicht zusagte.«1

Tatsächlich befassen sich sehr viele seiner im letzten Dezennium des 18. Jahrhunderts entstandenen Schriften – oft lediglich als Entwürfe ausgearbeitet – mit Konzeptionen zu einer Geschichte der Menschheit, die sowohl deren naturgeschichtlichen als auch moralischen Teil umfassen sollte. Alexander hingegen setzte seine Ausbildung an der Hamburger Handelsakademie von Johann Georg Büsch und an der Bergakademie im sächsischen Freiberg bis zum Jahre 1792 fort. In der Folgezeit interessierten ihn neben seinen 1 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. S. 362. Der Eintrag erfolgte wahrscheinlich im Dezember 1797. Die im Archiv in Tegel aufbewahrten Tagebuchnotizen wurden 1806 bei der Plünderung durch die Franzosen zum Teil beschädigt oder vernichtet.

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Tätigkeiten für das preussische Bergdepartement in Berlin und Franken insbesondere Fragen auf dem Gebiet der Pflanzen- und Tierphysiologie. Erst nach dem Tod der Mutter im November 1796 trat er aus dem Staatsdienst aus, um sich, nun ebenso wie Wilhelm finanziell unabhängig, der sorgfältigen Vorbereitung seiner fünfjährigen Südamerikareise zu widmen. Doch obwohl jeder der beiden Brüder von Humboldt von nun an seinen eigenen Weg ging und infolgedessen ihre persönlichen Begegnungen spärlicher wurden, müssen ihre wissenschaftlichen Arbeiten nach wie vor in engerem Zusammenhang gesehen werden. Ihre anatomischen und physiologischen Studien bei Justus Christian Loder in Jena während des Wintersemesters 1794 / 95 und ihre Zusammenkünfte bei Schiller und Goethe bildeten dabei nur einen äusseren Rahmen für ihre gemeinsamen Interessen. Die Einflussnahme auf die Beschäftigungen des jeweils anderen hatte gewiss auch Folgen für deren inhaltliche Ausrichtungen. Dass Wilhelm sogar die sehr fachspezifischen Abhandlungen seines Bruders zur Bergbaukunde und Chemie las, erfahren wir aus seiner Vorrede zu Alexanders Untersuchung »Ueber die unterirdischen Gasarten und die Mittel ihren Nachtheil zu vermindern. Ein Beytrag zur Physik der praktischen Bergbaukunde«.2 Zu einem Zeitpunkt, als sich der jüngere von Humboldt bereits auf der grossen Reise nach Mittel- und Südamerika befand, überwachte Wilhelm von Paris aus die Herausgabe des Werkes. In der Vorrede weist er darauf hin, »dass, wie ich an mir selbst erfahren habe, diese Schrift auch noch demjenigen interessant seyn wird, welchem das Technische des Bergbaus fremd ist, und der sich selbst nicht mit den genaueren Versuchen der analytischen Chemie beschäftigt«.3

Ihm bot sie nicht nur Stoff zum Nachdenken und zur Befriedigung wissenschaftlicher Neugier, sondern auch Nahrung für die Einbildungskraft, die sich, gestützt auf die mineralogischen und botanischen Beschreibungen der unterirdischen Natur, ein noch weitgehend unbekanntes Reich ausmalen konnte. Er betonte überdies die Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik4 für die Kulturentwicklung der Menschheit – ein Gedanke, den er auch später noch in seinen Konzepten zur Preussischen Bildungsreform weiterverfolgen sollte. Wichtiger jedoch als das gegenseitige Interesse am Betätigungsfeld des anderen sind die gemeinsamen theoretischen Ansätze für die wissenschaftlichen Arbeiten der beiden Brüder. Wie sehr die Intentionen Wilhelms und Alexanders miteinander verflochten sind, zeigt ein Brief des Älteren an Karl Gustav von 2 Humboldt, A. (1799b) 3 Ibid. S. V. 4 Sein Bruder Alexander entwickelte während der Amtszeit als Oberbergrat in Franken einen Respirationsapparat und eine Rettungslampe für Bergleute, zwei Erfindungen, die die Sicherheit im Bergbau erhöhten.

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Brinkmann. Zunächst schildert er die charakterlichen Vorzüge seines Bruders und die Bedeutung, die dessen Studien für die Menschheit einmal haben werden. Doch das Forschungsprogramm Alexanders wird unter der Hand zu seinem eigenen Gegenstand des Interesses. Denn das eigentliche Ziel aller wissenschaftlichen Bemühungen ist letzten Endes immer der Mensch: »Ich halte ihn [Alexander] unbedingt und ohne alle Ausnahme für den grössesten Kopf, der mir je aufgestossen ist. Er ist gemacht Ideen zu verbinden, Ketten von Dingen zu erblikken, die Menschenalter hindurch, ohne ihn, unentdekt geblieben wären. Ungeheure Tiefe des Denkens, unerreichbarer Scharfblik, und die seltenste Schnelligkeit der Kombination, welches alles sich in ihm mit eisernem Fleiss, ausgebreiteter Gelehrsamkeit, und unbegränztem Forschungsgeist verbindet, müssen Dinge hervorbringen, die jeder andre Sterbliche sonst unversucht lassen müsste. In dem, was er bis jezt geleistet hat, weiss ich nichts anzuführen, was s o v i e l bewiese, als ich hier avancire, aber abgerechnet dass ich mit seinen bisherigen Entdekkungen, zum Theil dem Namen, und ganz und gar ihrem innern Werth nach, unbekannt bin; so weiss ich, dass an dem, was ich sagte, kein Titelchen falsch ist, und ich bin fest überzeugt, dass die Nachwelt (denn sein Name geht gewiss auf eine sehr späte über) mein jeziges Urtheil buchstäblich wiederholen wird. Es ist nicht meine Sache zu loben und zu bewundern, aber ich habe mich, so oft ich meinen Bruder von seinen eigentlichsten Ideen reden hörte, nie inniger Bewunderung erwehren können, ich glaube sein Genie tief studirt zu haben, und dies Studium hat mir in dem Studium des Menschen überhaupt völlig neue Aussichten verschaft. Eine völlige Restauration der Wissenschaften und mehr als diess, alles menschlichen Bemühns ist seit Jahrhunderten nothwendig, und die Nothwendigkeit wächst mit jedem Jahre. Diese Nothwendigkeit fühlte schon Baco, aber er hätte ein grösserer Kopf und ein vielseitigerer Mensch sein müssen, wenn er nur den Umriss hätte richtig zeichnen sollen. Er hat unläugbar einen sehr scharfen und oft einen tiefen Blik, daher so viele unnachahmlich schöne Ideen. Aber wo er das Ganze zeichnen will, wo er das Einzelne in Eins zu versammlen versucht, da mangelt es ihm an Genie. Bei wahrem Genie hätte er auch nicht soviel Spielerei und Wust in seinem Plane geduldet. […] Zu dieser Restauration ist der wichtigste Schritt Einheit in alles menschliche Streben zu bringen, zu zeigen, dass diese Einheit der Mensch ist, und zwar der innere Mensch, und den Menschen zu schildern, wie er auf alles ausser ihm, und wie alles ausser ihm auf ihn wirkt, daraus den Zustand des Menschengeschlechts zu zeichnen, seine möglichen Revolutionen zu entwerfen, und die wirklichen, soviel möglich, zu erklären. Von allem, was auf den Menschen einwirkt, ist das Hauptsächlichste eigentlich die physische Natur und diese Wirkung ist um so stärker, als ihre Ursachen uns unbekannt sind. Ueberhaupt ist die physische Natur eigentlich die wichtigere, da, was man sonst studiren mag, man eigentlich es mit Menschenwerk zu thun hat, bei dem Studium jener aber eigentlich der Gang des Schiksals, des Schiksals, dem auch der Mensch selbst unterthan ist, offenbar wird. So aber ist dieses Studium noch gar nicht behandelt, die Art des Einwirkens auf den Menschen, die ich hier meine, ist nicht einmal der Gattung nach ungefähr bekannt. Das Studium der physischen Natur nun mit dem der moralischen zu verknüpfen, und in das Universum, wie wir es erkennen, eigentlich erst die wahre Harmonie zu bringen, oder wenn diess die Kräfte Eines

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Menschen übersteigen sollte, das Studium der physischen Natur so vorzubereiten, dass dieser zweite Schritt leicht werde, dazu, sage ich, hat mir unter allen Köpfen, die ich historisch und aus eigner Erfahrung in allen Zeiten kenne, nur mein Bruder fähig geschienen. Ja, was noch mehr ist, so ist es beinah einerlei, wie er seine Studien treibt, und worauf er sie richtet. Was er behandelt, führt ihn, das habe ich oft bemerkt, von selbst auf den eben angegebnen Gesichtspunkt, wenn er ihn selbst auch nie gerade so gedacht haben sollte.«5

Diese ausführliche Charakterisierung Alexander von Humboldts durch seinen Bruder Wilhelm im Jahre 1793 verdeutlicht sehr schön, worauf es dem Jüngeren in seinen Studien ankam. Die physische Natur mit der moralischen zu verbinden und die wahre Harmonie in das vom Menschen erfassbare Universum zu bringen war aber, wie dieser Brief veranschaulicht, genauso das Bestreben des älteren von Humboldt. Intensiv beschäftigte sich Wilhelm zu dieser Zeit mit Fragen zur Menschheits- und Kulturgeschichte, bevor er sich nach 1800 auf die vergleichende Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie beschränkte. Dabei hoffte er sehr wahrscheinlich auf die Unterstützung seines Bruders Alexander, der in erster Linie die Erkenntnisse aus der Erforschung der physischen Natur zu seinen geplanten anthropologischen Werken beitragen sollte.6 Seine eigene Aufgabe hätte wohl darin bestanden, in einem zweiten Schritt die Wirkung jener physischen Natur auf den Menschen zu untersuchen. Belegen lässt sich diese These zwar nicht mit expliziten Aussagen der Brüder von Humboldt, aber der obige Brief lässt die gemeinsame Zielrichtung ihrer Interessen deutlich erkennen. Mitunter ist gar nicht mehr klar zu erkennen, ob Wilhelm von den Studien seines Bruders oder von den seinigen spricht. Denn beide versuchten gemäss ihrer monistischen Weltbetrachtung, das universale Ganze in seinem Zusammenhang zu erforschen. Der Leitgedanke, den inneren Zusammenhang in der Natur darzustellen, oder mit Wilhelms Worten »das Einzelne in Eins zu versammlen«, gründete aber besonders im Denken einer älteren Generation, deren Einfluss auf ihre Schüler sich nun geltend machte. Bedeutsam war vor allem die letztlich auf die Antike zurückführbare Tradition des Vitalismus.7 Der Begriff »Vitalismus« ist nun al5 Humboldt, W. (1939), S. 60 ff. (27. Brief vom 18. März 1793.) Im Anschluss an diese Stelle gibt Wilhelm seiner Überzeugung Ausdruck, dass Alexander sein zukünftiges Leben ganz in den Dienst seiner Forschungen stellen und deshalb nie eine eheliche Verbindung eingehen werde – womit er recht behalten sollte. 6 Zu Wilhelm von Humboldts zahlreichen Versuchen in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts eine vergleichende Anthropologie zu entwerfen, die neben historischen, soziologischen und psychologischen auch naturwissenschaftliche Aspekte umfassen sollte, siehe die Kapitel V.1. und V.2. dieser Arbeit. (Vgl. auch die »Einführung in die Schriften zur Anthropologie« von Andreas Flitner und Klaus Giel, in: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 322 – 327.) 7 Im dreizehnten Abschnitt seiner »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«

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lerdings sehr unscharf und wird heute oft in pejorativer Absicht verwendet. Im Folgenden soll daher nur die Forschungsrichtung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts behandelt werden, die davon ausging, dass der organischen, im eigentlichen Sinne belebten Natur eine eigene Kraft zukommt, die sie von der unbelebten Natur unterscheidet. Zusätzlich zu der von Newton entdeckten Gravitations- und Attraktionskraft gäbe es somit noch eine dritte Kraft, die Lebenskraft oder vis vitalis, die eine elementare Rolle im harmonischen Gleichgewicht des Universums spielen würde. Dabei bleibt letztlich offen, ob sich diese drei Kräfte auf eine einzige Grundkraft zurückführen lassen. Die Attraktivität der Annahme einer solchen Grundkraft, für die auch die Brüder von Humboldt eine gewisse Sympathie hegten, liegt in ihrer Simplizität. Denn würde man die Gesetze dieser allem zugrunde liegenden Kraft entdecken, könnte man damit die ganze Welt erklären – oder mit Goethes Worten das faustische Verlangen befriedigen: »Dass ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält, Schau’ alle Wirkenskraft und Samen, Und tu’ nicht mehr in Worten kramen.«8

II.1. Die Lebenskraft als Forschungsobjekt Aus dem bisher Geschilderten ist bereits zu ersehen, wie stark das Bemühen beider Humboldts um ein universales Weltkonzept in der Tradition der Spätaufklärung verwurzelt ist. Einige dieser Bemühungen lassen sich, wie aus dem oben Dargestellten hervorgeht, mit klar fassbaren Personen wie Campe, Willdenow, Blumenbach und Forster sowie deren Schriften in Verbindung bringen. Mit Sicherheit lässt sich ebenfalls annehmen, dass Wilhelm und Alexander durch die Vermittlung von Johann Friedrich Blumenbach, Georg Forster, Samuel Thomas von Soemmerring und Christoph Girtanner mit den physiologischen Werken von Albrecht von Haller, Eberhard August Wilhelm Zimmermann, Peter Simon Pallas, Buffon, Caspar Friedrich Wolff und Charles Bonnet, der Jüngere zumindest auch mit denen von Carl Friedrich Kielmeyer und Johann Christian Reil vertraut waren.9 zeichnet Alexander von Humboldt die Geschichte der Physiologie nach und weist selbst auf die ersten Spuren der Idee eines Lebensprinzips in der Antike hin. Auch in dieser Schrift kann man also erneut die Beobachtung machen, dass Alexander seine empirischen Untersuchungen mit historischen Studien verbindet. (Siehe: Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 90 – 170. 8 Goethe (1989). Bd. 3. Faust. Der Tragödie erster Teil. S. 20. 9 Alle hier aufgezählten Personen werden von Alexander öfter in seinen pflanzen- und tierphysiologischen Schriften zitiert. Er bezeichnet Girtanner sogar als eigentlichen Anreger für seine Pflanzenversuche (Humboldt, A. (1793), § 8. S. 155.). Im Falle von Wilhelm sind solche

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Den Arzt und Anatomen Soemmerring lernten die Humboldts anlässlich ihrer Besuche von Georg Forster in Mainz kennen. Besonders Alexander stand in regem Briefwechsel mit ihm und widmete »dem grossen Zergliederer« seine »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«. Die Begegnung mit Girtanner aber war für die Studien der beiden Brüder deswegen so bedeutsam, weil dieser sie mit den in Frankreich entstehenden modernen Naturwissenschaften, insbesondere mit der quantitativen Chemie Lavoisiers, bekannt machte.10 Die Attraktivität von Girtanners chemischen Schriften lag darin, dass sie mithilfe des von Lavoisier und Priestley entdeckten Sauerstoffs, Albrecht von Hallers Irritabilitätslehre sowie John Browns Lehre der »Incitabilitas«, die alle Krankheiten entweder als Anhäufung (Sthenie) oder Erschöpfung (Asthenie) der im Nervenmark und in der Muskelsubstanz vorhandenen »Erregbarkeit« klassifizierte, eine Klärung der Frage verhiessen, was dem Prinzip der Lebenskraft zugrunde liegt.11

II.1.a) John Brown: Das Leben als Erscheinung der »Incitabilitas« Nicht zu Unrecht weist Otto Krätz auf die Bedeutung von John Brown für Alexander von Humboldts erste physiologische Experimente hin, die sich stets mit der Erforschung des ›Lebens‹ befassten.12 Obwohl sich Alexander schon bald von der allzu einfachen brownschen Theorie distanzieren sollte, ermöglichte sie ihm doch einen Ansatzpunkt für ein monistisches Konzept der belebten Organisation. Die Zurückführung aller Lebenserscheinungen auf das Prinzip der »Incitabilitas« bedeutete zunächst eine hilfreiche Simplifizierung des Phänomens ›Leben‹, dem man dadurch empirisch nachspüren zu können glaubte.13

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Kenntnisse, ausgenommen der Werke Blumenbachs, nicht belegt. Es ist jedoch naheliegend, dass er als Absolvent der Göttinger Universität und Auditor bei Loder in Jena wenigstens mit Albrecht von Hallers wichtigsten Schriften vertraut war. Darüber hinaus waren die Werke von Buffon, Wolff, Pallas und Zimmermann zu dieser Zeit allgemein bekannt, sodass zumindest rudimentäre Kenntnisse vorausgesetzt werden können. Alexander von Humboldt lernte Christoph Girtanner während seiner Studienzeit in Göttingen kennen. Bereits in einem Brief an Paul Usteri aus dem Jahr 1789 nennt er diesen »mein Freund Girtanner«. (Geuns (2007), Brief vom 28. November 1789; S. 394.) Auf seiner gemeinsamen Reise mit Georg Forster 1790 traf er Girtanner in London wieder. Noch drei Jahre später erinnerte sich Alexander dankbar an diese Begegnung, da Girtanner der Erste war, der ihn über Lavoisiers antiphlogistisches System unterrichtete. (Siehe dazu auch den auf S. 87 zitierten Brief Humboldts an den Schweizer Naturforscher.) Zu Girtanner siehe: Tränkle (1986). Ebenso: Wegelin (1957). Vor allem Girtanner kommt das Verdienst zu, die antiphlogistische Chemie Lavoisiers in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Durch seine Vermittlung wurde Alexander von Humboldt ebenfalls ein vehementer Verfechter von Lavoisiers Theorie. Krätz (1997), S. 31. Gerade John Browns allzu simple Reduzierung des Lebensprozesses auf ein Zuviel oder

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Besonders sollte man dabei berücksichtigen, dass Browns Theorie, obwohl sie aus heutiger Sicht vielleicht etwas befremdlich anmuten mag, doch auch auf eigenen empirischen Erfahrungen beruhte. In der Vorrede zu den »Elementa medicinae« schildert John Brown ausführlich, wie er erst allmählich durch die Selbstbehandlung seiner Gicht mit Alkohol und Opium, die nicht der damals gängigen medizinischen Kur entsprach, zu neuen Ansichten über Krankheit und Gesundheit des organischen Körpers gelangte.14 Bedeutsam war vor allem Browns Erkenntnis, dass Krankheit und Gesundheit keine ›Wesenheiten‹, die ontologisch zu unterscheiden wären, sind, sondern lediglich eine graduelle Abweichung der pathophysiologischen Vorgänge im Organismus – nach seiner Vorstellung ein Zuviel oder Zuwenig an Erregbarkeit: »Die Vorstellung, als seyen Gesundheit und Krankheit verschiedenartige Zustände wird durch die Thatsache widerlegt, dass den Thätigkeiten, welche beide Zustände entweder hervor bringen oder entfernen, dieselbe Wirkungsart zukömmt.«15

Erst mit dieser Auffassung setzte sich die Idee durch, die physiologischen Abläufe apparativ zu messen und gegebenenfalls operativ, im Sinne einer therapeutischen Behandlung, einzugreifen.16 Auch wenn Alexander von Humboldt besonders diese quantitative Methode später als »hyperphysisch« und zu einseitig kritisierte,17 darf trotzdem nicht vergessen werden, dass gerade auch das

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Zuwenig der »Incitabilitas« wird Alexander von Humboldt später kritisieren: »Wie einseitig würde man die Natur thierischer Kräfte beurtheilen, wenn man solche pathologische Zustände einer einfachen Sthenie und Asthenie der Nerven zuschreiben wollte!«. (Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 403.) Nichtsdestoweniger bezeichnet er ihn auch 1797 nach wie vor als »genievollen Urheber« der Incitabilitätslehre und weist mehrmals auf Browns Verdienste hin. (Ibid. S 75 ff.) Siehe zu Humboldts Kritik am Brownianismus: Rath (1960), S. 75 – 77. Joannis Brunonis: Elementa medicinae. 2. Auflage. Edinburgi 1784. Wenige Jahre später folgte eine englische Übersetzung: John Brown: Observations on the principles of the old system of Physic, exhibiting a compend of the new doctrine. The whole containing a new account of the state of medicine, from the present times backward to the restoration of the Grecian learning in the western parts of Europe. By a Gentleman conversant in the subject. London 1787. Alexander von Humboldt kannte die deutsche Übersetzung von Christoph Heinrich Pfaff (John Brown’s System der Heilkunde. Kopenhagen 1796.), die damals in Deutschland weitverbreitet war. Nicht verschwiegen werden soll hier, dass Browns ausgiebiger Opiumkonsum letztlich zu dessen Tod führte. Pfaff (1796), S. 140. Siehe dazu: Henkelmann (1981) »Dieses Nichtachten auf die chemischen Verhältnisse der organischen Materie, diese hyperphysische Behandlung eines physischen Gegenstandes ist unstreitig der Hauptfehler der Brownischen Elemente. Alles wird nur immer auf Grössen und Zahlenverhältnisse, auf die Ideen von Mangel und Ueberfluss reducirt.« (Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 86.) Auch Christoph Wilhelm Hufeland, dessen medizinische und physiologische Theorie nicht wenig vom brownschen System beeinflusst war, kritisierte an John Brown, dass dieser einseitig nur die Wirkung veränderter Kräfte auf die Materie behandle, die Rückwirkung veränderter fehlerhafter Materie und Mischungsverhältnisse der Säfte auf die Organe sowie deren daraus

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Messen zu seinen grundlegenden empirischen Methoden gehörte. Seit seinen ersten physiologischen Studien, vor allem im Zusammenhang mit den galvanischen Experimenten, gehörte neben der Beobachtung auch das exakte Messen (der Zeitdauer, der Anteile chemischer Bestandteile, der Ausdehnung, u.s.w.) zu seiner wissenschaftlichen Arbeitsmethode, die eine objektive Darstellung und Auswertung der Resultate erst erlaubte. Somit bediente er sich bei der Untersuchung naturwissenschaftlicher Gegenstände ebenfalls einer Methode, die empirische Versuche, Beobachtung, Messung sowie eine erneute Überprüfung umfasste und die Brown ein Jahrzehnt früher sein geradezu revolutionäres neues Konzept der Medizin entwerfen liess. Aus diesem Grunde darf man den Einfluss des Schottischen Arztes auf Alexanders – und wohl auch Wilhelms – Beschäftigung mit dem Problem des Lebensprozesses nicht zu gering einschätzen. Dessen vehemente Ablehnung jeglicher Metaphysik schärfte eine physiologische Betrachtungsweise des Menschen, die ohne die Hilfe von »supernaturalistischen« Ideen auszukommen versuchte, auch wenn sie durch die Reduktion auf eine einzige Eigenschaft des belebten Körpers (Incitabilitas) die empirischen Daten überinterpretierte und dadurch die Empirie hypostasierte.18 In der Folge führte dann jedoch diese allzu schnelle Rückführung zahlreicher Phänomene auf eine einzige Ursache erneut zu bloss hypothetischen Annahmen. Gerade das Fehlen empirischer Beweise in den Schriften der Schottischen Ärzte kritisiert Alexander später in einem Brief am Marc-Auguste Pictet und stellt diesen seine eigenen »Consid¦rations sur l’irritation de la fibre nerveuse et musculaires« entgegen, die er demnächst publizieren will: »Il y a des exp¦riences que j’ai r¦p¦t¦ pendant deux ans, et je me flatte que nos id¦es sur la vitalit¦ ou le procÀs chymique de vie gagneront par ces essays. Je viens de faire la d¦couverte sur l’influence de l’acide muriat[ique] oxyg¦n¦ sur la fibre animale. Cet acide pr¦sente des ph¦nomÀne[s] ¦tonnants. Il excite du mouvement dans un cœur qui ne palpitait plus; il revifie des organes dont l’irritabilit¦ a ¦t¦ ann¦antie par l’opium. Je

resultierenden Reaktionen jedoch nicht berücksichtige. (Hufeland (1795)) Alexander von Humboldt war Hufelands Schrift spätestens 1797 bekannt. 18 In einer Fussnote zu §. 229 seines Systems der Heilkunde beschuldigt Brown selbst Newton metaphysischer Betrachtungen: »Diess ist vielleicht das erste philosophische Werk, in welchem das Grübeln über abstrakte Ursachen sorgfältig vermieden worden ist. Ihre Verfolgung hat beynahe jedes Fach menschlicher Kenntniss, das wissenschaftlich behandelt worden ist, verunstaltet. Man sehe hierüber die Einleitung zu meinen Bemerkungen über die verschiedenen irrigen Systeme der Arzneywissenschaft u.s.w. wo man finden wird, dass selbst der grosse I s a a c N e w t o n diesen Irrthum nicht völlig vermied, besonders in den Fragen, die er, wiewohl bescheiden, über einen alles durchdringenden Aether aufwarf; worauf andere jene aufgeblasenen luftigen Theorien gebaut haben, die, den bessern Vorschriften des Lords B a c o zum Trotze, die Philosophie der Mitte unsers Jahrhunderts verunehrt haben.« (Pfaff (1796), S. 147, Anmerkung l.)

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crois que c’est une d¦couverte qui pourra nous mener assez loin. M. Girtanner et les Êcossais ne nous donnaient que des hypothÀses, voici des faits.«19

Dass mit den »Êcossais« auch John Brown gemeint sein könnte, lässt sich aus ihrer Erwähnung im Zusammenhang mit Humboldts eigenen Experimenten über die Irritabilität tierischer Organe herleiten. Darüber hinaus deutet der Name Girtanners auf die brownsche Schule in Edinburgh hin, die dieser in Deutschland bekannt gemacht hat. Auch Ilse Jahn und Fritz Lange kommentieren diese Stelle in ihrer Ausgabe der Jugendbriefe Alexander von Humboldts mit dem Hinweis, dass wohl John Brown und seine Anhänger gemeint seien.20 Zumindest dokumentiert der Brief Alexanders Kenntnisse der damals führenden medizinischen Schule Schottlands. Ob jedoch John Browns Theorie von den Brüdern von Humboldt bereits vor dem Jahre 1796, in dem die deutsche Übersetzung der »Elementa Medicinae« von Christoph Heinrich Pfaff erschien, direkt rezipiert wurde, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit nachweisen. Weder die lateinischen Ausgaben von 1780 und 1784 noch die englische von 1788 werden in den Schriften Alexanders und Wilhelms erwähnt. Aber die Begegnungen mit Girtanner, dem damals wohl einflussreichsten Anhänger des Brownianismus in Deutschland, lassen zumindest eine indirekte Vermittlung der Incitabilitätslehre schon zu Beginn der Neunzigerjahre vermuten,21 zumal sie damals in Deutschland sehr populär war.

19 Pictet (1868), S. 139. (Brief vom 24. Januar 1796.) [»Es enthält Versuche, die ich während zwei Jahren wiederholt habe, und ich schmeichle mir, dass unsere Ansichten über die Vitalität oder den chemischen Prozess des Lebens durch diese Abhandlungen gewinnen werden. Ich bin dabei, den Einfluss der salzsauren oxygenierten Säure auf die belebte Fiber zu entdecken. Diese Säure zeigt erstaunliche Erscheinungen. Sie ruft Bewegungen in einem Herz hervor, welches nicht mehr schlug; sie belebt Organe wieder, deren Reizbarkeit durch das Opium zerstört war. Ich glaube, dass das eine Entdeckung ist, die uns weit genug führen könnte. Herr Girtanner und die Schotten lieferten uns nichts als Hypothesen, hier sind nun die Fakten.«] 20 Jahn / Lange (1973). Brief Nr. 349, S. 486, Anm. 3. 21 Auch zwischen Wilhelm von Humboldt und Girtanner fanden persönliche Begegnungen statt. Wilhelm erwähnt Girtanner in zwei Briefen an Georg Forster. Offenbar machte er seine Bekanntschaft in Göttingen. (Forster (1978). Bd. 18. S. 285, Brief vom 10. November 1788; S. 333, Brief vom 1. Juli 1789.) In einem Brief aus Weimar vom 5. Januar 1789 an seinen Vetter Daniel Girtanner berichtet Christoph Girtanner, er sei in Begleitung »eines Herrn von Humboldt aus Berlin« nach Weimar gefahren. Tatsächlich hielt sich Wilhelm zu dieser Zeit in Weimar auf. (Siehe dazu: Tränkle (1986), S. 26 f.)

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II.1.b) Christoph Girtanner: Der Sauerstoff als »Princip des Lebens« Auf der gemeinsamen Reise mit Georg Forster im Jahre 1790 traf Alexander von Humboldt in London einen Bekannten aus Göttingen wieder, den Schweizer Arzt und Chemiker Christoph Girtanner.22 Obwohl Girtanner keinen zweifelsfreien wissenschaftlichen Ruf besass, war dieses Zusammentreffen für den jüngeren Reisenden nicht ohne Folgen geblieben. Ausdrücklich dankt Alexander von Humboldt Christoph Girtanner in einem Brief für seine Hinweise auf die antiphlogistische Chemie und seine »chemisch-physiologischen Entdeckungen«, die im Grunde auf Browns Incitabilitätslehre basierten.23 Unwesentlich ist in 22 Anders als Alexander von Humboldt schätzte Georg Forster den Schweizer Arzt überhaupt nicht. In einem Brief an seine Frau Therese nennt er Girtanner »den kleinen Gnom« und schreibt sehr abfällig über ihn: »Er hat eine neue Entdeckung gemacht, welche die ganze Physiologie, Chymie, Naturgeschichte in neue Formen wirft; er kann zwar nicht neue lebendige Materie schaffen; aber der, die zu leben aufhörte, neues Leben mittheilen; es ist ein ganzes Wundermännchen, und dabey zweifelt er an jedermanns Wundern, nur nicht an den Seinigen. Bruce hält er für einen Betrüger, Raspen will er nicht glauben, dass er ein paar Wallfische an der Küste von Schottland gesehen hat; das Unglück des Capt. Bligh, den seine Matrosen in ein offenes Boot 1200 Seemeilen weit von Land, aussezten, hält er für unmöglich; aber er kann die Todten erwecken? Mit Humboldten gieng er spatzieren, bat ihn aber nicht deutsch zu reden, als sie bey einem Dreckkarrn vorbeygiengen; solche Leute sind zuweilen bestellt, um die Fremden zu besprützen, sagte er. Humboldt sah in die Uhr: ›Ums Himmelswillen, stecken Sie ein; sonst weis man, dass sie eine Uhr haben!‹ – Es ist doch wirklich toller, als man sichs träumen kann.« (Forster (1893), S. 120. Brief vom 28. Mai 1790.) 23 Folgende Stelle aus dem ersten »M¦moire« Girtanners trägt deutliche Anklänge an Browns Incitabilitätslehre, die jener aber nicht als Quelle angibt: »On peut distinguer trois diff¦rens ¦tats de la fibre irritable, ou trois diff¦rens degr¦s d’irritabilit¦, dont elle est susceptible.18. L’¦tat de sant¦, qui est particulier — chaque individu, et que j’appellerai le t o n de la fibre, pour me servir d’une expression de Stahl. 28. L’¦tat d’a c c u m u l a t i o n , produit par l’abstraction des stimulus habituels. 38. L’¦tat d’¦ p u i s e m e n t , produit par l’action trop forte des stimulus. L’¦tat de sant¦, ou le t o n de la fibre, consiste dans une certaine quantit¦ du principe irritable n¦cessaire — sa conservation. Pour maintenir cet ¦tat, il faut que l’action des stimulus soit assez forte pour priver la fibre du surplus du principe irritable que lui fournissent continuellement les poumons et la circulation des fluides. Il faut pour cela un certain ¦quilibre entre les stimulus agissans et l’irritabilit¦ de la fibre, en sorte que la somme de tous les stimulus qui agissent sur elle soit toujours —-peu-prÀs ¦gale, assez grande pour priver la fibre de tout l’ex¦dent de son irritabilit¦, et pas trop grande pour ne pas lui úter plus que cet ex¦dent. C’est dans cet ¦quilibre entre les stimulus agissans et l’irritabilit¦, fournie par les poumons et la circulation, que consiste la sant¦, ou le ton de la fibre.« (Christoph Girtanner (1790a). Bd. 36; S. 427.) [»Man kann drei verschiedene Zustände der irritablen Fiber unterscheiden, oder deren verschiedene Grade der Irritabilität, für welche sie empfänglich ist. 1. Der Zustand der Gesundheit, der für jedes Individuum besonders ist, und welchen ich den Tonus der Fiber nennen werde, um mich eines Ausdrucks von Stahl zu bedienen. 2. Der Zustand der Anhäufung, hervorgerufen durch die Verallgemeinerung der gewöhnlichen Stimuli. 3. Der Zustand der Erschöpfung, hervorgerufen durch die zu starke Tätigkeit der Stimuli. Der Zustand der Gesundheit, oder der Tonus der Fiber, besteht in einer gewissen Menge des irritablen Prinzips, die für seine Erhaltung notwendig ist. Um diesen Zustand beizubehalten muss die Tätigkeit der Stimuli stark genug sein, um der Fiber einen Überfluss des irritablen Prinzips zu entziehen, mit

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diesem Zusammenhang, ob Girtanner wirklich eigene Experimente durchgeführt oder die Schriften Lavoisiers, Browns und anderer plagiiert hat.24 Für Humboldt bedeutete die Begegnung mit Girtanner auf seiner Reise durch England eine wichtige Anregung für seine ersten pflanzenphysiologischen – und später tierphysiologischen – Versuche, an denen sich auch sein Bruder Wilhelm beteiligen sollte, und die sich insbesondere mit dem Problem der Lebenskraft befassten: »Ihre chemisch-physiologischen Entdeckungen haben mich über alles interessirt. Ihrem Aufsatz: »Sur le principe de l’irritabilit¦, für den gute Köpfe wie Sömmering, Scherer, Plenck, Herz gern fechten, verdanke ich die Veranlassung, mich ernstlich mit dem antiphlogistischen System, oder vielmehr mit den antiphlogistischen Wahrheiten bekannt zu machen. Ich fing sogleich an, selbst zu experimentiren, habe seit zwei Jahren mit grösster mir möglichster Anstrengung alles studirt, was sich nur irgend darauf bezieht, und bin von dem Oxygen als Princip der Lebenskraft (trotz des noch so räthselhaften, gewiss nicht magnetischen oder elektrischen galvanischen Fluidums) ebenso überzeugt, als Sie es waren, da Sie mir in Green Park zuerst davon erzählten.«25

Die Definition des Lebensprinzips selbst scheint laut Girtanner recht einfach zu sein. Er setzt es nämlich kurzerhand mit der Irritabilität gleich, die sich wiederum mit Reizversuchen empirisch nachweisen lässt. Nachdem er nun die Irritabilität zum Prinzip des Lebens erklärt hat – was Experimente zu zeigen scheinen (!) – will er in seinem »Second M¦moire« über die Irritabilität beweisen, dass der Sauerstoff wiederum das Prinzip der Irritabilität ist: »J’ai donn¦ dans la premier M¦moire une esquisse g¦n¦rale d’un nouveau systÞme de Physiologie, fond¦ sur de nombreuses exp¦riences, qui paroissent d¦montrer que l’irritabilit¦ est le principe de vie dans la nature organis¦e. Je vais prouver maintenant, que l’oxigÀne est le principe de l’irritabilit¦.«26 dem sie fortwährend die Lunge und die Zirkulation der Säfte versorgen würde. Deshalb bedarf es eines gewissen Gleichgewichts zwischen den tätigen Stimuli und der Irritabilität der Fiber, sodass die Summe aller Stimuli, die auf sie einwirken, immer ungefähr gleich ist, gross genug, um der Fiber jeden Überfluss an Irritabilität zu entziehen, und nicht zu gross, um ihr nicht mehr als diesen Überfluss wegzunehmen. In diesem Gleichgewicht zwischen den tätigen Stimuli und der Irritabilität, von der Lunge und der Zirkulation erbracht, besteht die Gesundheit, oder der Tonus der Fiber.«] 24 Auch wenn Girtanner schon bald als Plagiator John Browns in Verruf geriet, da er die Quellen seiner beiden »M¦moires sur l’irritabilit¦, consid¦r¦e comme principe de vie dans la nature organis¦e« (1790) nicht angab, zollte ihm Alexander grossen Respekt. In Bezug auf die Vorwürfe der Plagiierung bemerkte Humboldt später, die »M¦moires« seien in Deutschland sehr »unsittlich« behandelt worden. (Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 252.) 25 Jahn / Lange (1973), S. 236. (Brief Nr. 134 vom 12. Februar 1793.) 26 Girtanner (1790b). Bd. 37, S. 139. [Hervorhebung von mir.] [»Ich habe im ersten Memoire eine allgemeine Skizze des neuen Systems der Physiologie dargelegt, gestützt auf zahlreiche Experimente, die zu zeigen scheinen, dass die Irritabilität das Lebensprinzip in der organischen Natur ist. Ich werde jetzt beweisen, dass der Sauerstoff das Prinzip der Irritabilität ist.«]

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Aus dieser doppelten Gleichsetzung (Sauerstoff = Prinzip der Irritabilität = Prinzip des Lebens) leitet Alexander von Humboldt die verkürzte Formel des »Oxygen als Princip der Lebenskraft« ab. Mit der doppelten Gleichsetzung ist Girtanner dann in der Lage, die Begriffe ›organisch‹ und ›lebend‹ als Synonyme zu verwenden und belebte Substanzen als solche zu definieren, die das Prinzip der Irritabilität oder des Lebens enthalten. Alexander von Humboldt übernimmt in den »Aphorismen« zur »Florae Fribergensis specimen« zunächst vorbehaltlos Girtanners Definition der belebten Substanz aus dem »Second M¦moire sur l’irritabilit¦, consid¦r¦e comme principe de vie dans la nature organis¦e«, die er in einer Fussnote zur Bezeichnung »les substances organis¦es ou vivantes« gibt: »›Les mots organis¦ et vivant sont, selon moi, synonimes. Je regarde comme vivant tout corps, toute partie de corps, toute substance organis¦e enfin, aussi longtems qu’elle contient, le principe de la vie ou de l’irritabilit¦, et aussi longtems que ses affinit¦s sont les mÞmes que celles des substances vivantes.‹ G i r t a n n e r in acutissima Dissertatione de irritabilitate.«27

Überprüft man nun die zitierte Stelle bei Girtanner, so stellt man aber fest, dass Humboldt die Fussnote nicht vollständig übernimmt. Am Beispiel des Holzes weist Girtanner nämlich noch auf die Problematik von Leben und Tod überhaupt hin: »Le bois, par exemple, dont nos chaises et nos tables sont faites, est une substance organis¦e, ou vivante, et, — proprement parler, l’on ne peut dire que le bois soit mort avant qu’il soit pourri. Ainsi du reste. Nos id¦es de la vie et de la mort sont des Id¦es trÀs-vagues, que je t–cherai de fixer dans un autre M¦moire.« 28

Man erkennt hier mühelos, mit welchen Unsicherheiten die Beantwortung der Frage, was Leben sei, letztlich auch bei Girtanner verbunden ist. Trotz aller empirischen Versuche und der Berufung auf Kapazitäten wie Haller, Lavoisier, Ingenhousz, Senebier und andere ist er bemüht, diese schwierige Frage nicht ohne gesicherte Daten zu entscheiden, um sich nicht dem Vorwurf des Materialismus oder Atheismus auszusetzen. 27 Humboldt, A. (1793), § 1, S. 133. [»›Die Wörter organisch und lebend sind, meiner Ansicht nach, Synonyme. Ich betrachte jeden Körper, jeden Teil des Körpers, letztlich jede organische Substanz als lebend, solange sie das Prinzip des Lebens oder der Irritabilität enthält, und auch solange ihre Verwandtschaften dieselben sind wie diejenigen der lebenden Substanzen.‹ G i r t a n n e r in seiner sehr scharfsinnigen Abhandlung über die Reizbarkeit.«] 28 Girtanner (1790b). Bd. 37, S. 150. [»Das Holz zum Beispiel, aus dem unsere Stühle und Tische gemacht sind, ist eine organische oder lebende Substanz, und, genau genommen, kann man nicht sagen, dass das Holz tot ist, bevor es verfault ist. Ebenso beim Restlichen. Unsere Vorstellungen von Leben und Tod sind sehr unbestimmte Vorstellungen, welche ich in einem anderen Memoire zu bestimmen versuchen werde.«]

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Alexander von Humboldt lässt diese Vorsicht zunächst beiseite und unterschlägt gerade die Stelle der girtannerschen Anmerkung, die seine Grundüberzeugung erschüttern könnte. Im Gegensatz zu Girtanner ist er zu diesem Zeitpunkt noch davon überzeugt, dass Holz und Knochen unorganische Substanzen sind, womit er der schwierigen Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod aus dem Weg geht.29 Die im Grunde tautologische Definition Girtanners – letztlich sagt Girtanner nichts anderes, als dass belebte Körper das Prinzip des Lebens enthalten: Eine Aussage, die die Fragwürdigkeit seiner Definition deutlich zu Tage treten lässt! – scheint Alexander offenbar ein Instrument zur Hand zu geben, das ihm eine erfolgsversprechende Suche nach der Lebenskraft in Aussicht stellt. Als aber Gotthelf von Fischer ein Jahr nach dem Erscheinen der »Florae Fribergensis specimen« Humboldts »Aphorismen« ins Deutsche überträgt, gibt er interessanterweise eine entscheidende Stelle des Girtanner-Zitats nicht adäquat wieder : die Formulierung »aussi longtems qu’elle contient, le principe de la vie ou de l’irritabilit¦« übersetzt er mit »so lange das Princip des Lebens und der Reizbarkeit in ihnen ist«.30 Während also Alexander 1793 noch Girtanners Gleichsetzung des Prinzips des Lebens mit dem Prinzip der Irritabilität übernimmt – und damit gleichzeitig dessen Gleichsetzung des Sauerstoffs mit dem Prinzip des Lebens –, unterscheidet Fischer bereits ein Jahr später zwischen diesen zwei Prinzipien. Möglicherweise unterlief dem Übersetzer hier ein eklatanter Fehler, aber zu bedenken wäre, dass Humboldt selbst die Revision der Übersetzung übernommen hat, »so dass sie also unter der Aufsicht des Verfassers selbst genau und mit Sorgfalt gefertigt worden ist«.31 Untersucht man jedoch die frühere lateinische Version der »Aphorismen« etwas genauer, so findet man auch hier bereits Aussagen, die der zitierten girtannerschen Definition widersprechen oder sie zumindest in Zweifel ziehen. Denn Humboldt hält sich nämlich bald selbst nicht mehr an die Gleichsetzung des Sauerstoffs mit dem Prinzip der Irritabilität und dem Prinzip des Lebens. Bereits in Paragraf 2 gibt er zu bedenken, dass »nichts in der Tat schwieriger [ist], als eine passende Definition von der Lebenskraft zu geben«.32 In Paragraf 3 lässt er dann Girtanners Definition völlig ausser Acht, indem er sowohl zwischen den Begriffen ›belebt‹ und ›reizbar‹ als auch zwischen ›Reizbarkeit‹ und ›Empfindlichkeit‹ unterscheidet: 29 Vgl.: Humboldt, A. (1793), § 4. S. 139. Bezeichnenderweise geht Humboldt auf diese Divergenz mit keiner Silbe ein. Siehe zum Problem der Bestimmung des Todes auch: Reill (1999). 30 Vgl. mit: Humboldt, A. (1794), §. 1, S. 4. [Hervorhebungen von mir]. 31 Ibid. Vorrede von Ch. F. Ludwig; S. XIX. 32 Ibid. §. 2. S. 11. Im lateinischen Original lautet die Stelle: «Nil dificilius certe quam vim vitale apte definire.« (Humboldt, A. (1793), §. 2. S. 136.)

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»Quum de partibus animalis dissero eas praesertim intelligo, quibus irritabilitas inest. Plures autem sunt quae vi vitali et irritabilitate, nec sensibilitate gaudent. Quantuscunque enim sit alterutrum consensus, tamen diversae videantur, quum tot egregiis observationibus cor ipsum, licet quam maxime irritabilis pars humanae fabricae, nervis fere totum carere et quos Neubauer delineavit, ad arterias magis quam ad cor ipsum pertinere discimus.«33

Obwohl Humboldt zu Beginn der »Aphorismen« die Lebenskraft klar definiert hat, wird der Nachweis ihrer Wirkungen umso diffiziler, je detaillierter er die Vorgänge im belebten Köper untersucht. Die Formulierung »tamen diversae v i d e a n t u r « zeigt, wie ungern er sich bei der Interpretation des Beobachteten eindeutig festlegen will.34 Wir können also konstatieren, dass Alexander bereits in der »Florae Fribergensis specimen« immer vorsichtiger mit dem Gebrauch des Terminus der Lebenskraft umgeht und schon starke Zweifel an einer einfachen Identifizierung der Lebenskraft als Irritabilität hegt. Hier stellt sich nun allerdings die Frage, wieso Humboldt die Definition seines Schweizer Freundes überhaupt so vorbehaltlos übernimmt? Als Antwort kämen drei Möglichkeiten in Betracht: 1. Alexander von Humboldt übersah den Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen. 2. Er respektierte Girtanner, der zur damaligen Zeit sehr angesehen war, zu sehr, um ihm zu widersprechen. 3. Er war zu unsicher in Bezug auf die Lebenskraft, um sich selbst auf eine exaktere Definition derselben einzulassen.

33 Humboldt, A. (1793), §. 3. S. 137. Humboldt verweist hier auf Soemmerrings Muskellehre, Gefässlehre sowie Hirn- und Nervenlehre. In Gotthelf Fischers Übersetzung lautet die Stelle: »Wenn ich der belebten Theile erwähne, so verstehe ich besonders diejenigen darunter, welche reizbar sind. Viele aber haben Lebenskraft und Reizbarkeit und doch keine Empfindlichkeit. So gross auch die Verwandtschaft von beiden ist, so scheinen sie doch verschieden zu seyn, da nach so vielen treflichen Beobachtungen, das Herz selbst, ob es gleich ein sehr reizbarer Theil des menschlichen Körpers ist, gar keine Nerven hat, und die von NEUBAUER gezeichneten mehr den Arterien als dem Herze selbst angehören.« (Humboldt, A. (1794), §. 3. S. 12.) 34 Hier sei kurz angemerkt, dass Alexander von Humboldt das ›Leben‹ nie als eine eigene Wesenheit definiert. Im Gegensatz dazu sind die Herausgeber der deutschen »Aphorismen«, Hedwig und Fischer, in ihrem Kommentar zu Humboldts Schrift weit weniger zurückhaltend. In Ergänzung zu dessen Definition der Lebenskraft schreiben sie gleich zu Beginn: »Und wie, wenn vollends erwiesen werden könnte, dass im Grundstoff der durch die Zeugung bewirkten Körper, die Organe nicht, wie man zu behaupten gesucht hat, im unendlich Kleinen vorhanden wären, sondern durch das ihnen mitgetheilte Leben gebildet würden: so dünkt mich, klar zu seyn, dass das Leben ein von den Organen verschiedenes Wesen, mithin leben und organisirt nicht einerley und gleichbedeutend sey.« (Humboldt, A. (1794). Zusätze des Herrn Professor Hedwig’s und des Uebersetzers. S. 133.)

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Die erste Möglichkeit halte ich für sehr unwahrscheinlich, da Alexander durch seine Ausbildung in Logik und exakter Philologie zu versiert war, als dass er die offensichtlichen Widersprüche einfach überlesen hätte. Somit bleiben noch die zweite und dritte Möglichkeit der Erklärung. Beide sind für mich sehr plausibel und schliessen einander nicht aus. Wir können aus dem zitierten Brief an Girtanner (Seite 87) ersehen, wie dankbar der jüngere Humboldt für die neuen Forschungsperspektiven war, die ihm der Schweizer 1790 in London eröffnet hatte. Geradezu enthusiastisch beschreibt er noch im Februar 1793 die Bedeutung, die Girtanners Ansichten für seine weiteren Studien haben sollte. Deshalb wäre es durchaus denkbar, dass er aus Rücksicht auf seinen Mentor dessen – nicht ins Latein übertragene (!) – Definition unbesehen übernimmt, um sie dann ein Jahr später in der deutschen Übersetzung stillschweigend zu ›korrigieren‹. Dieser Erklärungsmöglichkeit widerspricht nicht die dritte Antwort auf die gestellte Frage. Denn Alexanders weitere Aussagen über die Lebenskraft lassen seine Vorsicht vor allzu gewagten Spekulationen erkennen. Doch nach wie vor war Alexander von Humboldt von der Existenz einer besonderen Kraft, die die belebte Natur auszeichnet, überzeugt. Trotz seiner hier geschilderten Schwierigkeiten bei der näheren Bestimmung dieser ›vis vitalis‹, setzte er sie a priori voraus. Noch 1795 legte er diese Überzeugung dem Aufsatz »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« zugrunde und versuchte »die Entwicklung einer physiologischen Idee in einem halb mythischen Gewand«.35 Die poetische Ausgestaltung seiner Annahme einer Lebenskraft war aber nur deshalb unproblematisch, weil sich Alexander von Humboldt nicht auf deren wissenschaftlichen Nachweis einzulassen brauchte. Der Dichter Humboldt konnte sich eine allgemeine, eben »halbmythische« Darstellung erlauben, auf die der empirische Naturforscher verzichten musste. Doch seit der ersten pflanzenphysiologischen Veröffentlichung nimmt die Zahl vager und vorsichtiger Formulierungen in den humboldtschen Frühschriften kontinuierlich zu, sobald das Problem der Lebenskraft thematisiert wird. Da es nun aber gerade die von Girtanner als Prinzip des Lebens gehandelte ›Reizbarkeit‹ war, die die Brüder von Humboldt in besonderer Ausführlichkeit an Pflanzen und Tieren überprüften, erhalten die hier gemachten Beobachtungen umso mehr Gewicht. Denn ist die Reizbarkeit nicht mit der Lebenskraft identisch, so wird die Suche nach der Letzteren um einiges komplizierter.

35 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 323. (Siehe dazu vor allem Kapitel III.4. dieser Arbeit.)

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II.2. Erste Zweifel an der Beweisbarkeit der ›vis vitalis‹ Einige Jahre später erwähnt Alexander die oben zitierte Fussnote Girtanners in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« von 1797 noch einmal.36 Doch bezeichnenderweise führt er sie nicht wörtlich an und gebraucht an dieser Stelle nicht einmal den Begriff der Lebenskraft. Er verweist nur auf ein »scharfsinniges Memoire über die Reizbarkeit« des Schweizers, dessen bibliografische Angaben im Übrigen auch noch unkorrekt wiedergegeben werden! Vergleicht man Humboldts Schrift von 1797 mit seiner vier Jahre früher publizierten »Florae Fribergensis specimen« speziell in Hinsicht auf die Thematik der ›vis vitalis‹, so fällt auf, wie vehement Alexander nachträglich bestreitet, je ein Anhänger von Girtanners Lehre gewesen zu sein. Er widerspricht ausdrücklich einer Behauptung, die sein ehemaliger Mentor in der zweiten Auflage seiner »Anfangsgründe der antiphlogistischen Chemie« von 1795, in Anspielung auf Alexanders »Florae Fribergensis specimen«, kundgetan hat.37 Nun bekräftigt er seine Ansicht, dass der Lebensprozess nicht allein durch den Sauerstoff aufrechterhalten wird und stellt explizit klar : »Ich meines Theils fühle mich zu diesen Aeusserungen um so mehr aufgefordert, da meine ältern chemischen Versuche mit Pflanzen laut öffentlichen Aeusserungen jene Vorstellungsarten noch mehr bestätiget haben sollen, und da Herr G i r t a n n e r , B e d d o e s und mich, als Anhänger seiner physiologischen Lehren, öffentlich genannt hat. So schmeichelhaft mir die Aufmerksamkeit ist, welche jener scharfsichtige Mann meinen litterarischen Arbeiten schenkt, so sehr ich mich auch des kühnen Geistes der Untersuchung freue, welcher in seiner Abhandlung über die Reizbarkeit herrscht, so wahr und schön ich auch einzeln darin enthaltene Erklärungen finde; so weit bin ich doch davon entfernt eine Theorie, nach der es ein materielles Princip aller Reize, einen Grundstoff der Reizbarkeit giebt, anzunehmen.«38

Diese Textstelle erweckt bei einem unbefangenen Leser, der die früheren humboldtschen Schriften nicht kennt, den Eindruck, Alexander habe nie die Meinung vertreten, es gebe ein einziges Grundprinzip des Lebens. Um sich gegen den leisesten Verdacht zu verwahren, er sei je ein Anhänger von Girtanners einseitiger Theorie gewesen, verweist er ausserdem genau auf jene »Florae Fri36 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 36. 37 »Vor einigen Jahren machte ich die Entdeckung, dass der Sauerstoff der eigentliche Grundstoff der Reizbarkeit in Thieren und Pflanzen sei; eine Entdeckung, welche ich künftig, in einem eigenen Werke, weiter ausführen, und auf die wichtigsten Erscheinungen in der organisirten Natur anzuwenden suchen werde. Drei vortreffliche Schriftsteller Herr Professor B e d d o e s zu Oxford, Herr v o n H u m b o l d t , und Herr v o n U s l a r , haben bereits meine Theorie der Reizbarkeit angenommen, und dieselbe durch neue Versuche bestätigt.« (Girtanner (1795), S. 365 f.) 38 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 107 f.

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bergensis specimen«, in deren Aphorismen er sich ehemals auf Girtanners Definition des Lebens berufen hat. Tatsächlich sind dort folgende Ausführungen zu finden: »Ex iis, quae de fibra irritabili hactenus in medium protuli, patere videtur, oxygenes ad plantas stimulandas plurimum conferre. Quod elementum tamen in Aphorismo ipso unicum proponere non ausus sum, ratiocinationi minus, quam quae experiendo animadverti, confidens.«39

Die hier wiedergegebene Zitierweise entspricht derjenigen, die Humboldt in einer Fussnote zu den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« verwendet. Die von Alexander hervorgehobenen Wörter bekräftigen seine spätere Vorsicht bezüglich der Rolle des Oxygens als Prinzip des Lebens. Wohlweislich lässt er deshalb auch diejenigen Zeilen, die in den »Aphorismen« auf diese Stelle folgen, beiseite, denn diese machen deutlich, wie sehr er 1793 noch auf eine Bestätigung von Girtanners Theorie hoffte: »Quare omnes physicos, qui naturae investigandae operam dant opusculumque meum juvenile percurrere dignantur, oro atque obsecro, ut experimenta chemica de germinatione seminum in acido muriatico oxygenato repetant. Quae enim vis oxygenis in fibra irritanda vegetabili! Quae temporis ratio germinandi? […] Fibrae atque vasa vegetabilia, corporibus nutrientibus in prima elementa resolutis, oxygenes sibi assumere videntur, a cujus quantitate, totius fabricae indoli apta, vis vitalis potissimum pendet. […] Quam ob rem nullum liquorem oxygene carentem v.c. oleum, ex hydrogene et carbone conflatum germina elicere invenies. Quam ob rem quo minus arcte liquoris oxygenis ceteris elementis junctum est, eo magis eum germinationem accelerare perspicies.«40

Nach und nach nimmt also Alexanders Skepsis gegenüber der empirischen Nachweisbarkeit einer ›vis vitalis‹ im Laufe weniger Jahre zu. Angefangen 1790, 39 Ibid. Bd. II. S 108. In Fischers Übersetzung: »Aus dem nun, was ich bisher von der reizbaren Fiber gesagt habe, scheint zu erhellen, dass der Sauerstoff ein vorzügliches Reizmittel der Pflanzen sei. Ich wage jedoch nicht, dieses Element in dem Aphorismus anzuführen, weil ich mich weniger auf Schlüsse und Muthmassungen, als auf einfache Erfahrungen zu stützen suche.« (Humboldt, A. (1794), §. 8. S. 81.) 40 Humboldt, A. (1793), §. 8. S. 164 f. [»Deswegen ersuche ich alle Physiker, welche sich mit Beobachtungen über die Natur beschäftigen, und diese j u g e n d l i c h e Arbeit zu durchlaufen würdigen, meine chemischen Versuche über das Keimen der Saamen in oxygenirter Kochsalzsäure zu wiederholen. Denn wie gross ist nicht die Kraft des Sauerstoffs beim Reiz der Fibern! Welch ein Verhältniss der Geschwindigkeit beim Keimen! […] Die vegetabilischen Fibern und Gefässe scheinen den nährenden Körper in seine Bestandtheile zu zerlegen, den Sauerstoff daraus in sich zu nehmen, von dessen Menge, (wenn sie mit der Natur des ganzen Körpers in richtigem Verhältniss steht,) die Lebenskraft vorzüglich abhängt. […] Daher komt es, dass eine Flüssigkeit, die keinen Sauerstoff enthält, z. B. Oel, welches aus Wasserstoff und Kohlenstoff besteht, nie Keime dem Saamen entlockt. Daher komt es, dass der Sauerstoff desto mehr das Keimen befördert, je weniger fest er an die andern Elemente gebunden ist.« Humboldt, A. (1794), §. 8. S. 81 ff.]

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als er durch die persönliche Anregung von Christoph Girtanner in London noch von der Identität des Lebensprinzips und dem Oxygen überzeugt war, über die darauf folgenden physiologischen Tier- und Pflanzenversuche, von denen er sich eine Bestätigung dieser Theorie erhoffte,41 und die widersprüchlichen Äusserungen in der »Florae Fribergensis specimen«, bis zur Zurücknahme und Dementierung seiner früheren Überzeugung in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«, sehen wir, wie das monistische Konzept eines universalen Zusammenhangs allmählich ins Wanken gerät. Mit dem nicht erbrachten empirischen Beweis der Lebenskraft ändert sich aber auch die Terminologie Humboldts. Spricht er in dem oben angeführten Zitat aus den »Aphorismen« noch von der Lebenskraft, die von der Menge des Sauerstoffs abhängen soll, so interpretiert er diesen Begriff später kommentarlos um. Seinen Hinweis in den »Versuchen« auf die Textstelle in den »Aphorismen«, die seine angeblich schon frühere Ablehnung von Girtanners Theorie beweisen soll, leitet er mit den Sätzen ein: »Ich habe den Sauerstoff immer als ein v o r z ü g l i c h e s R e i z m i t t e l der erregbaren Materie angesehen. Ich habe immer geglaubt, dass die vitalen Functionen v o r z ü g l i c h von seiner Anhäufung abhängen, aber gegen einen allgemeinen Grundstoff der Erregbarkeit habe ich mich bereits ausdrücklich in meiner chemischen Pflanzenphysiologie verwahret.«42

Nicht mehr von Lebenskraft also ist hier die Rede, sondern lediglich von den »v i t a l e n F u n c t i o n e n «. Da er aber auch ein materielles Grundprinzip der Reizbarkeit ausdrücklich verneint, hat er nun, im Jahre 1797, die Trennung zwischen einer philosophischen und physiologischen Erörterung des Themas offensichtlich bereits vollzogen. Damit meint Humboldt allerdings nicht, dass es keine Lebenskraft gebe, sondern er lenkt seine Aufmerksamkeit zunehmend auf die materielle Basis der lebenden Organismen. Denn nur diese ist unserer Erfahrung zugänglich und ermöglicht den Fortschritt der Wissenschaften: »Der grosse, jetzt freilich oft (wie alles Grosse) gemisshandelte C u l l e n hatte mit Recht geweissagt, dass alle vitalen Functionen für uns in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt bleiben würden, bis wir die Natur des Stoffes [der Lebensluft] erkennen würden, der bei der Lungen- (und Haut-) Respiration in das venöse Blut tritt. Jene Weissagung ist grossentheils schon gegenwärtig eingetroffen, und wenn uns nicht die Hypothese von materiellen Substraten der Lebenskraft auf Abwege und leere Speculationen führt, wenn wir anhaltend fortfahren, die Verhältnisse a l l e r Elemente gegen eines, und eines gegen alle, zu prüfen; so werden wir zwar jenes Dunkel nie ganz verscheuchen, aber 41 Auch in der Einleitung zu den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« erwähnt Alexander, dass er sich mithilfe seiner früheren Experimente eine Bestätigung von Girtanners Theorie über das Oxygen als Lebensprinzip erhoffte. (Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 5 f.) 42 Ibid. Bd. II. S. 108.

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doch manche wichtige Erscheinungen, die bis itzt isolirt stehen, in einem wechselseitigen Causalzusammenhange erkennen.«43

Seine über Jahre gemachten physiologischen und chemischen Experimente an Pflanzen und Tieren bewirkten offenbar eine Erosion metaphysischer Betrachtungen. Auch ein öffentliches Schreiben an van Mons bestätigt diese Einschätzung. Wiederum in Abgrenzung zu Girtanner bekräftigt er darin seine neue Ansicht von der Rolle des Sauerstoffs bei den vitalen Prozessen: »Sie bemerken mit mir, wie sehr man Unrecht hat, anzunehmen, dass der Sauerstoff die e r s t e R o l l e in dem Prozesse der Vitalität spiele. Meine Versuche beweisen, dass die Reitzbarkeit oder der Ton der Faser nur von dem r e c i p r o k e n G l e i c h g e w i c h t e z w i s c h e n a l l e n E l e m e n t e n d e r F a s e r , dem Stickstoffe, dem Wasserstoffe, u,s,w, abhängt.«44

Weder die Termini ›Lebenskraft‹ noch ›Prinzip des Lebens‹ tauchen an dieser Stelle auf, einzig und allein die physiologische Wirkung ist hier noch von Interesse. Auch Alexanders Bruder Wilhelm, der, ebenso wie Johann Wolfgang von Goethe, grossen Anteil an dessen physiologischen Studien nahm, blieb von diesem Ergebnis nicht unbeeinflusst. Wir werden einige Seiten weiter in Kapitel III. sehen, welche Folgen die zunehmende Skepsis angesichts der immer deutlicher erkannten Komplexität der physiologischen Lebensgrundlagen in Wilhelm und Alexander von Humboldts späteren Schriften haben werden. Man kann also davon ausgehen, dass die Brüder von Humboldt bereits sehr früh die Problematik der näheren Bestimmung der ›vis vitalis‹ erkannten. Die Konsequenzen, die sie letztlich daraus zogen, waren allerdings verschieden. Was aber machte die ›Reizbarkeit‹ oder ›Irritabilitas‹ als Untersuchungsobjekt so interessant? Seitdem Albrecht von Haller die Irritabilität als spezifisches Merkmal des Organischen bestimmte, glaubte man mit ihrer Hilfe genauer definieren zu können, was denn ›Leben‹ überhaupt sei. Doch schon Haller bediente sich in seinem grundlegenden Werk «De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus» einer gewissen Vorsicht, sobald er nähere Angaben über die eigentliche Ursache der Irritabilität machen sollte: »Was hindert uns also zu glauben, die Reizbarkeit könne wohl eine Eigenschaft der Muskelfaser sein, vermöge deren sie sich zusammenzieht, wenn sie berühret und gereizet wird; wovon es aber nicht nötig ist, eine weitere Ursache anzugeben, ebenso wie keine wahrscheinliche Ursache des Anziehens oder der Schwere bei der Materie angegeben werden kann. Die physikalische Ursache liegt in dem innern Baue verborgen, 43 Ibid. Bd. II. S. 272. 44 Humboldt, A. (1797b). Bd. 4. S. 175. Derselbe Widerruf findet sich in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt«, (Humboldt, A. (1797c); Bd. I, S. 2 und Bd. II, S. 111.)

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Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte

und wird durch Versuche entdeckt, die zwar dieselbe zu bezeugen genügsam, zur Erforschung der Ursache in dem Baue aber allzu grob sind.«45

Eben diese Vorsicht in Bezug auf die Möglichkeit menschlicher Erkenntnisse und die Beschränkung auf das Wahrnehmbare wurde später von manchen Gelehrten ausser Acht gelassen. Denn will man eine rein mechanistische Naturgeschichte überwinden, so genügt es nicht, die »physikalischen Ursachen« der Reizbarkeit nur zu »bezeugen«. Aber obwohl sich Haller mit seiner vorsichtigen Definition der Irritabilität offensichtlich an Isaac Newton orientierte – eine Autorität, auf die sich auch Blumenbach und Alexander von Humboldt gerne beriefen – so war er doch manchmal versucht, die Grenzen des Empirischen zu überschreiten. Zunächst unterschied er sehr sorgfältig zwischen der »force morte« der toten Materie, der »irritabilit¦« der lebenden, empfindungslosen Materie und der sensibilit¦«, der Empfindungskraft. Trotzdem spekulierte er später selbst darüber, ob nicht doch diese drei Kräfte nur Komponenten einer einzigen Kraft seien, die das ›Leben‹ ausmacht. Somit bahnte er selbst den Weg für Spekulationen über ein einziges Lebensprinzip, dem alle weiteren Erscheinungen des Lebens unterzuordnen wären.46 Infolge dieser Unsicherheit bei Haller bezüglich des ›Lebensprinzips‹ war es nun möglich, dass sich Gelehrte unterschiedlichster Couleur auf die Irritabilitätslehre beziehen konnten, wobei die genaue Trennlinie zwischen dem, was empirisch wahrnehmbar, und dem, was nur mittels Spekulation herzuleiten ist, oft verwischt wurde. Denn die von Albrecht von Haller selbst wieder zunichtegemachte Exaktheit der früheren Definition erlaubte es, den Terminus ›Irritabilitas‹ auf die verschiedensten Phänomene des Lebens anzuwenden. Diese Schwierigkeit der genauen, durch empirische Methoden nachweisbaren Festlegung der Lebenskraft liegt auch den Problemen zugrunde, mit denen sich Wilhelm und Alexander von Humboldt in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts auseinandersetzten. Die von den beiden Brüdern angestrebte Konzeption eines einheitlichen und harmonischen Naturganzen musste einer eingehenden Kritik unterzogen werden, denn die Einwände, dass das bisher gesammelte Datenmaterial und die hypothetischen Annahmen über die ›Ursachen‹ der beobachtbaren Phänomene keineswegs ausreichten, um eine befriedigende Theorie über das Naturganze zu errichten, mussten sehr ernst genommen werden. 45 Haller (1752). Deutsche Übersetzung von Albrecht von Haller, 1772. S. 53. 46 Siehe zum Problem der Rezeption von Hallers Irritabilitätslehre, insbesondere bei Herder, den Kommentar von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2. S. 184 ff. Zur Rezeption bei Ernst Platner und dessen Kritik an Hallers Irritabilitätslehre siehe auch: De Angelis (2007).

Erste Zweifel an der Beweisbarkeit der ›vis vitalis‹

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Wie schmal der Grat zwischen einer als ungenügend empfundenen, rein materialistischen und einer ins Spekulative entgleitenden Definition des Lebens ist, bestätigt ein erneuter Blick auf John Browns Incitabilitätslehre. Dieser wandelte Hallers ›Irritabilitas‹ (Reizbarkeit) in die ›Incitabilitas‹ (Erregbarkeit) um und erhob sie – wie später auch Girtanner – zum alleinigen Prinzip des Lebens. Aus dieser apodiktischen Behauptung, die Brown aufgrund der täglichen Erfahrung als bewiesen erachtete, folgte nun »[…] dieser unbestreitbare Satz, dass das Leben ein erzwungener Zustand ist, dass die Thiere sich jeden Augenblick zur Auflösung hinneigen, und dass sie vor derselben nicht durch innere, sondern bloss durch fremde Kräfte bewahrt werden, und auch das nur mit Schwürigkeit und für kurze Zeit, so dass sie am Ende durch ihr unvermeidliches Verhängniss ein Raub des Todes werden.«47

Oberflächlich betrachtet glaubt man diese Definition des Lebens in Alexanders Aphorismen zur »Florae Fribergensis specimen« wiederzuerkennen, ergänzt durch die Gesetze der chemischen Verwandtschaft und in ausdrücklicher Abgrenzung zur anorganischen Natur : »Rerum naturam, si totam consideres, magnum atque durabile, quod inter elementa intercedit, discrimen perspicies, quorum altera affinitatum legibus optemperantia, altera vinculis solutis, varie juncta apparent. Quod quidem discrimen in elementis ipsis eorumque indole neutiquam positum, quum ex sola distributione singulorum petendum esse videatur. Materiam segnem, brutam, inanimam eam, vocamus, cujus stamina secundum leges chymicae affinitatis mixta sunt. Animata atque organica ea potissimum corpora appellamus, quae, licet in novas mutari formas perpetuo tendant, vi interna quadam continentur, quo minus priscam sibique insitam formam relinquant«48

Zwei Seiten weiter setzt er nun diese »vis interna« explizit mit der »vis vitalis« gleich: »Vim internam quae chymicae affinitatis vincula rusolvit atque obstat, quo minus elementa corporum libere conjungantur, vitalem vocamus.«49 47 Pfaff (1796), §. 72. S. 39. 48 Humboldt, A. (1793), § 1, S. 133. [»Wenn man die Natur mit e i n e m Blick umfasst, so findet man in ihren Elementen eine grosse und bleibende Verschiedenheit. Einmal sehen wir Körper, die den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gehorchen, ein andermal solche, die, frei von diesen Banden, auf mannichfache Art, mit einander verbunden sind. Diese Verschiedenheit nun, scheint nicht sowohl in den Elementen selbst, und in ihrer natürlichen Beschaffenheit, als vielmehr blos in ihrer Vertheilung zu liegen. Träge, unbelebte Materie nennen wir diejenige, deren Bestandtheile nach den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gemischt sind; belebte und organisirte Körper hingegen diejenigen, welche, des ununterbrochnen Bestrebens ihre Gestalt zu ändern ungeachtet, durch eine gewisse innere Kraft gehindert werden, ihre erste, ihnen eigenthümliche Form, zu verlassen.« Humboldt, A. (1794), §. 1. S. 3.] 49 Ibid. § 2. S. 135. [»Diejenige innere Kraft, welche die Bande der chemischen Verwandtschaft auflöst, und die freie Verbindung der Elemente in den Körpern hindert, nennen wir L e b e n s k r a f t . Humboldt, A. (1794), §. 2. S. 9.]

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Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte

Zu guter Letzt bezeichnet er die Lebenskraft ausserdem als »vis quaedam«, die sich in den animalischen Flüssigkeiten befindet und deren Wirkungen die täglichen Erfahrungen bezeugen: »Sanguini vel humoribus animantium vim quandam inesse quae impedit, quo minus elementa eorum, vinculis solutis, affinitatum legibus obtemperent, quotidiana testatur experientia. Quae tamen vis vitalis in variis animantibus differt, quum, succo ex vaso effuso, modo segnius, modo citius evanescat, et humores ipsi in corpore vivo inclusi vel diversae vel ejusdem fere indolis reperiantur, quam totius post mortem animantis prae se ferunt.«50

Der elementare Unterschied zwischen Browns und Humboldts Bestimmung des Lebens liegt also in der Verortung der Kräfte. Für beide ist das Leben ein erzwungener Zustand, die Kräfte aber, die diesen Zwang ausüben, liegen gemäss Brown ausdrücklich nicht im Innern des organischen Körpers. Im Gegensatz dazu spricht Alexander von Humboldt stets von einer inneren Kraft, denn diese ist das entscheidende Kriterium für die strikte Unterscheidung zwischen anorganischer und organischer Materie.51 Da aber diese Kraft nach dem Tod eines Tieres oder dem Absterben einer Pflanze nicht einfach verloren gehen kann, stellt sie auch die Verbindung zwischen Belebtem und Unbelebtem her. Erst durch sie wird der ewige Kreislauf von Leben und Tod aufrechterhalten. Die auf Seite 51 schon einmal zitierte Stelle aus Alexander von Humboldts »Rhodischem Genius« veranschaulicht diese Naturauffassung sehr schön: »So gieng die todte Materie von Lebenskraft beseelt, durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern, und derselbe Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geist des Pythagoras, in dem vormals ein dürftiger Wurm im augenblicklichen Genusse sich seines Daseins erfreute!«52

50 Ibid. § 10. S. 171 f. [»Dass in dem Blut oder in den andern Feuchtigkeiten der Thiere eine gewisse Kraft sei, welche hindert, dass die Elemente sich nicht ihrer natürlichen Fesseln entbinden und den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gehorchen, bezeugen tägliche Erfahrungen. Diese Lebenskraft aber ist in verschiedenen belebten Geschöpfen verschieden, je nachdem sie nach Herausfliesssung des Saftes aus dem Gefässe bald geschwinder, bald langsamer verschwindet, und je nachdem die Feuchtigkeiten selbst, so lange sie noch im lebenden Körper eingeschlossen sind, schon von eben der Natur sind, als nach dem Tode des Thieres.« Humboldt, A. (1794), §. 10. S. 99 f.] 51 Auch F¦lix Vicq d’Azyr spricht in seinem »Trait¦ d’Anatomie et Physiologie« (Vicq d’Azyr (1786), Tome I, S. 6) von einer »force int¦rieure« als Unterscheidungsmerkmal zwischen belebten und unbelebten Körpern. Doch offenbar kannte Alexander diese Abhandlung zum damaligen Zeitpunkt noch nicht, denn er zitiert sie erst in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« aus dem Jahre 1797 – allerdings mit einer entscheidenden Auslassung, auf die ich später in Kapitel V.3.a) noch eingehen werde. 52 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 96.

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Der Sinngehalt dieser Metapher lässt das eigentliche Ziel einer ganzen Forschergeneration erkennen: Die a priori gesetzte Lebenskraft und die mittels der modernen naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen Erkenntnisse mussten in Einklang gebracht werden. Das besonders im letzten Dezennium des 18. Jahrhunderts immer wieder behandelte Thema der Lebenskraft lässt uns das Dilemma erahnen, in dem sich die jüngere Generation von Naturwissenschaftlern und Philosophen befand. Der Übergang von einer qualitativen zu einer quantitativen Naturbetrachtung löste zwar ein Unbehagen aus, dessen tiefere Ursachen den Zeitgenossen aber noch nicht bewusst geworden war. Noch hielt man es durchaus für möglich, dass die das gesamte Universum in Harmonie erhaltende innere Kraft eines Tages erkannt, wenn auch nicht erklärt werden kann. Zahlreiche Wissenschaftler teilten Kants apodiktische Behauptung nicht, dass es »einen Newton des Grashalms«53 niemals geben werde. Denn sie gingen davon aus, dass sich die in der Natur vorhandene Kraft, die vis vitalis, die den Zusammenhang des Naturganzen garantiert, den stetigen Kreislauf von Tod und Leben in Gang halten und die Verbindungen der Elemente beleben konnte, auch empirisch nachweisen lassen wird. Analog zum Zusammenhang in der Natur sollte sich aber auch ein solcher innerer Zusammenhang der wissenschaftlichen Teilbereiche in einem Gesamtsystem darstellen lassen. Dass man sich jedoch mit der empirischen Erforschung der Naturgegenstände, die sich strikt an die Fakten halten musste, gerade von der Möglichkeit distanzierte, diesen vorausgesetzten inneren Zusammenhang zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen Disziplinen zu beweisen, war Anfang der Neunzigerjahre noch niemandem in aller Deutlichkeit bewusst geworden. Die Schwierigkeiten, die sich dadurch ergaben, führten in den Naturwissenschaften schliesslich zur völligen Aufgabe irgendwelcher höherer Prinzipien, aus denen man deduktiv die objektiven Gegenstände erschliessen zu können glaubte. Nachdem im Anschluss an die Bemühungen der jungen Forschergeneration vor 1800 – zu nennen wären hier neben Humboldt auch Carl Friedrich Kielmeyer, Johann Christian Reil, Samuel Thomas von Soemmerring und andere – die deutschen Naturphilosophen die Basis empirischer Faktenanalyse endgültig verlassen hatten, versuchten die Naturwissenschaftler der Dreissiger- und 53 »Es ist nämlich ganz gewiss, dass wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muss diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.« (Kant (1968). Kritik der Urteilskraft. Bd. X. S. 352.)

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Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte

Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts, zum Teil im Rückgriff auf die genannten Forscher,54 mit rein positivistischen Methoden ihre Wissenschaftsgebiete wiederum von jeglicher Spekulation zu befreien. So umreisst etwa Matthias Jakob Schleiden in der Einleitung zu seinem »Grundriss der Botanik« den zu untersuchenden Gegenstand folgendermassen: »Die Botanik als inductive Wissenschaft soll uns Anleitung geben, die gesammte Pflanzenwelt in ihrem Formenreichthum und ihrer Gesetzmässigkeit kennen zu lernen. Als Erfahrungswissenschaft steht sie noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Ausbildung und enthält nur noch einen sehr geringen Umfang wirklich begründeter Erfahrungen, wenigen Andeutungen von Naturgesetzen und gar keine constitutiven Principien und höchste Begriffe, aus denen sie sich entwickeln könnte. Diese sollen vielmehr grade erst gefunden werden und selbst die Beantwortung der Frage: ›was ist eine Pflanze im Allgemeinen‹, ist noch Aufgabe der Botanik. Sie muss daher mit ihren Untersuchungen von ohnzweifelhaften Pflanzen ausgehen und sich sehr vorsichtig ausbreiten und zwar ausschliesslich auf streng inductivem Wege.«55

Bevor jedoch Schleiden eine solch nüchterne Bestimmung seiner Wissenschaft machen konnte, bedurfte es eines tiefgreifenden Transformationsprozesses in der Beziehung zwischen Mensch und Natur.

II.3. Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« im Spiegel der humboldtschen Forschungen und Forschungsabsichten. Wie der eingangs von Kapitel II. zitierte Brief Wilhelm von Humboldts an Brinkmann verdeutlicht, sah man in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer »völligen Restauration der Wissenschaften«.56 Doch im Zentrum einer solchen Restauration sollte immer der Mensch stehen – »der innere Mensch« als einheitliches Ganzes. Die verschiedenen sich spezialisierenden Wissenschaftsbereiche mussten dazu mithilfe einer Wissenschaft vom Menschen, einer Anthropologie im umfassendsten Sinne des Wortes, in ein gemeinsames Konzept eingebunden werden. Auf diese Weise versuchte man, die sich nach dem Wegfall der Vormachtstellung der Theologie abzeichnende Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften zu verhindern. Das von zahlreichen Gelehrten des 18. Jahrhunderts verwendete Credo aus Alexander Popes »Essay on Man« – »the proper study of mankind is man« – illustriert das grosse Interesse an dieser neuen Wissenschaft auf augenfällige Weise. 54 Siehe dazu auch: Pross (1991) 55 Schleiden (1846). [Hervorhebung von mir.] 56 Siehe Seite 79 f. in dieser Arbeit.

Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«

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Die Bemühungen der Brüder von Humboldt um ein einheitliches Konzept aller Wissenschaften müssen also im Kontext der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angestrebten Darstellung eines Gesamtzusammenhanges in der Natur gesehen werden. Die Ausführungen solcher Vorhaben stiessen freilich in vielen Fällen auf grosse Schwierigkeiten, wenn es galt, den postulierten Gesamtzusammenhang mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern. Als Beispiel hierfür lassen sich die »Êtudes de la Nature« eines französischen ›Naturforschers‹ anführen, die überall in Europa sehr erfolgreich waren und auch von Alexander von Humboldt und Johann Gottfried Herder bewundert wurden. Die Rede ist von Bernardin de Saint-Pierre,57 der als glühender Verehrer Jean Jacques Rousseaus den von Gott geschaffenen harmonischen Naturzusammenhang zu beschreiben versuchte: »Je formai, il y a quelques ann¦es, le projet d’¦crire une histoire g¦n¦rale de la nature, — l’imitation d’Aristote, de Pline, du chancelier Bacon, et de plusieurs modernes c¦lÀbres. Ce champ me parut si vaste, que je ne pus croire qu’il e˜t ¦t¦ entiÀrement parcouru. D’ailleurs la nature y invite les hommes de tous les temps; et si elle n’en promet les d¦couvertes qu’aux hommes de g¦nie, elle en r¦serve au moins quelques moissons aux ignorans, sur-tout — ceux qui, comme moi, s’y arrÞtent — chaque pas, ravis de la beaut¦ de ses divins ouvrages.«58

Die widersprüchlichen Ergebnisse seiner Naturstudien verleiteten Saint-Pierre aber dazu, völlig absurde naturwissenschaftliche Theorien aufzustellen, die jeglicher empirischer Grundlagen entbehrten. So behauptete er beispielsweise, dass die Gezeiten durch das Schmelzen des Polareises verursacht würden und die Erdkugel am Nord- und Südpol verlängert sei. Solche Aussagen, die er bewiesen zu haben vorgab, verstrickten ihn in heftige Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen französischen Wissenschaftlern wie Laplace oder Lavoisier. Erstaunlicherweise gehörte nun aber auch Alexander von Humboldt zu SaintPierres grössten Bewunderern – trotz dessen fragwürdigem Renommee als 57 In der »Florae Fribergensis« weist Humboldt auf »S t . P i e r r e in opusculo elegantissimo, E t u d e s d e l a N a t u r e « hin und nennt ihn zusammen mit Gelehrten wie Bonnet, Linn¦, Bazin, Camper, Bertholon, Ingenhouss, Batsch, Smith, Hedwig, Blumenbach und Zimmermann. (Humboldt, A. (1793), § 6, S. 151, Anm. XXX.) Interessant ist im Zusammenhang mit Saint-Pierre auch eine Pariser Tagebuchnotiz von Wilhelm von Humboldt. Unter dem Eintrag vom 27. Dezember 1797 erwähnt er seinen Besuch bei Bernardin de Saint-Pierre und wirft die Frage auf, »in wie fern er eine ähnliche Art Kopf mit Herder« habe? (Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 384 f.) 58 Saint-Pierre (1791), Bd.1. S.1. [»Vor einigen Jahren fasste ich den Plan, eine allgemeine Naturgeschichte zu schreiben, in Nachahmung von Aristoteles, Plinius, dem Kanzler Bacon und mehreren modernen Berühmtheiten. Dieses Feld schien mir so riesig zu sein, dass ich nicht glauben konnte, es je vollständig durchquert zu haben. Darüber hinaus lädt die Natur die Menschen zu allen Zeiten dazu ein; und wenn sie auch nur den Menschen von Genie Entdeckungen verspricht, so behält sie zumindest einige Früchte den Unwissenden vor, die, wie ich, bei jedem Schritt stehen bleiben, entzückt über die Schönheit der göttlichen Werke.«]

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Die Idee eines Zusammenhangs in der Natur durch innere Kräfte

Naturwissenschaftler. Das zeigt, wie wichtig dem jüngeren von Humboldt eine poetische Schilderung der Natur war, die diese in ihrem universalen Zusammenhang darzustellen vermochte. Noch im »Kosmos« zählt Humboldt SaintPierre zu denjenigen, die »durch Anregung der Einbildungskraft mächtig auf die Belebung des Naturgefühls, den Kontakt mit der Natur und den davon unzertrennlichen Trieb zu fernen Reisen gewirkt«59 haben. Es mag bei dieser Einschätzung gewiss eine nostalgische Jugenderinnerung mitspielen, trotzdem verdeutlicht sie die grosse Rolle, welche Alexander von Humboldt dem »Naturgefühl« beimass. Den Brüdern von Humboldt genügte jedoch eine ausschliesslich philosophische Naturbetrachtung in der Art Saint-Pierres nicht mehr. Ihre in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts verfolgten Pläne hatten das Ziel, jene behauptete Einheit der Natur mithilfe der neusten wissenschaftlichen Daten auch zu beweisen. Doch um diesen Ambitionen genügen zu können, bedurfte es weit umfassenderer Konzeptionen, die, wären sie realisiert worden, eine jahrzehntelange Ausarbeitung nach sich gezogen hätten. Allein schon ein Überblick über die Titel ihrer frühen Schriften, Entwürfe und Fragmente gibt Aufschluss darüber, mit welcher Unbedenklichkeit sie Arbeiten philosophischen und wissenschaftlichen Inhalts mit einem Anspruch auf Universalität in Angriff genommen haben. Die Möglichkeit einer Verwirklichung ihrer Pläne haben sie zu diesem Zeitpunkt noch kaum in Zweifel gezogen. Ein erstes Beispiel für ein monistisches Konzept stellen beispielsweise die bereits erwähnten »Mineralogischen Betrachtungen« Alexander von Humboldts dar, in denen dieser zunächst ausführlich »zerstreute Bemerkungen über den Basalt der älteren und neueren Schriftsteller« vorausschickt und damit seine empirischen geologischen Forschungen mit philologischen und wissenschaftshistorischen Studien verbindet. Dies verdeutlicht, wie sehr Alexander bemüht war, Erdgeschichte nicht nur als Beschreibung des jetzigen Zustandes zu betreiben, sondern auch die historische Entwicklung der Erde zu berücksichtigen. So beginnt er auch in der »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum« zunächst mit einer Systematik der Erdwissenschaften, die die »Geognosie« in die eigentliche »Geognosia«, die »Physiographia« und die »Historia Telluris« unterteilt, wobei letztere besonders die Gesamtheit der Erdgeschichte ins Auge fasst:60 » H i s t o r i a Te l l u r i s (Erdgeschichte) Geognosiae magis quam Physiographiae affinis, nemini adhuc tentata, plantarum animaliumque genera, orbem inhabitantia primaevum, migrationes eorum pluriumque interitum, ortum quem montes, valles, 59 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 65 ff. 60 Siehe dazu auch den Aufsatz von Bernhard Fritscher. (Fritscher (1994), S. 53 – 61.)

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saxorum strata et vene metalliferae ducunt, sive aquam densando aere natam, sive aerem oceani exhalationibus rarefactum, mutatisque temporum vicibus modo purum modo vitiatum, terrae superficiem humo plantisque paulatim obtectam, fluminum inundantium impetu denuo nudatam iterumque siccatam et gramine vestitam commemorat.«61

Erst nach dieser Einordnung der Pflanzenkunde in das grössere Ganze der Geognosie folgt eine detaillierte Beschreibung der in Freiberg gedeihenden Pflanzen und im Anschluss daran die Auseinandersetzung mit dem Problem der Lebenskraft. Wie wir gesehen haben, ergaben sich für Alexander von Humboldt bereits in dieser Veröffentlichung Schwierigkeiten, die – seiner damaligen Überzeugung nach nur vorläufig – empirisch nicht nachgewiesene vis vitalis als einheitsstiftendes Prinzip des Naturganzen aufrecht zu erhalten. Interessant im Zusammenhang mit der wachsenden Skepsis gegenüber solchen universalen Ansprüchen ist nun auch die Tatsache, dass Alexander seine »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt« ursprünglich unter dem Titel »Physiologische Versuche über gereitzte Nerven und Muskelfasern mit allgemeinen Betrachtungen über die Natur des Thier- und Pflanzenkörpers«62 publizieren wollte. Doch offensichtlich war ihm dieser Titel zwei Jahre später zu allgemein gehalten, besonders da die nun veröffentlichte, kritisch überarbeitete Schrift vor allem Beschreibungen galvanischer und chemischer Versuche enthielt und infolgedessen gerade die metaphysischen Betrachtungen entsprechend zurückgedrängt wurden. Trotzdem trägt noch sein Alterswerk über den »Kosmos« den Untertitel »Entwurf einer physischen Weltbeschreibung«.63 Dies macht offenbar, wie sehr Alexander noch am Ende seines fast neunzigjährigen Lebens eine universale Weltbetrachtung anstrebte, auch wenn ihm durchaus bewusst war, dass diese einer steten, nie abgeschlossenen Revision bedurfte.64 Doch allein

61 Humboldt, A. (1793), S. X. Fussnote. [»Die Erdgeschichte, mehr an die Geognosie als an die Physiografie angrenzend, bis jetzt von niemandem berührt, behandelt die den ursprünglichen Erdkreis bewohnenden Pflanzen- und Tierarten, ihre Wanderungen und den Untergang der meisten, die Entstehung der Berge, Täler, Gesteinsschichten und Erzgänge, sei es, dass das Wasser durch die verdichtete Luft erzeugt wurde, oder dass die Luft durch die Ausdünstungen der Ozeane verdünnt wurde, durch den veränderlichen Wechsel der Verhältnisse bald gereinigt, bald verunreinigt, die Erdoberfläche, die sich allmählich mit Bodenkrume und Pflanzen bedeckt, durch ungestümes Vordringen überschwemmender Fluten wieder davon entblösst, wiederum trocken gelegt und vom Grase neu bekleidet wird.«] 62 Humboldt, A. (1795a), S. 116. 63 Humboldt, A. (1845 – 1862) 64 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Humboldt am Ende des ersten Bandes seines »Kosmos« noch einmal die oben teilweise zitierte systematische Unterteilung der Erdwissenschaften aus der »Florae Fribergensis« in voller Länge wiedergibt, ohne deren Gültigkeit anzuzweifeln. Nach wie vor ist er bestrebt, das »anorganische Erdenleben« mit

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diese exemplarische Auswahl der Titel seiner Werke verdeutlicht seine diesbezügliche Intention. Noch auffallender ist dieses Bemühen an den Arbeitstiteln von Wilhelm von Humboldts zahlreichen Entwürfen zur Anthropologie und Geschichtsphilosophie zu erkennen. Doch weder die Abhandlung »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« (…1791) noch die Schriften »Theorie der Bildung des Menschen« (…1794 / 1795), »Das achtzehnte Jahrhundert« (…1796 / 1797), »Plan einer vergleichenden Anthropologie« (…1797) sowie »Über den Geist der Menschheit« (…1797) sind je von Humboldt für den Druck ausgearbeitet und zu seinen Lebzeiten veröffentlicht worden.65 Schuld daran waren sicherlich nicht nur äusserliche Gründe wie seine zahlreichen Reisen oder häufigen Krankheiten.66 Das Vorhaben selbst, »das Studium der physischen Natur« »mit dem der moralischen zu verknüpfen, und in das Universum, wie wir es erkennen, eigentlich erst die wahre Harmonie zu bringen«, erwies sich mehr und mehr als undurchführbar. Nach einem Jahrzehnt intensiver Bemühung, ein anthropologisches Werk zu verfassen, gab er schliesslich diesen Plan am Ende des Jahrhunderts endgültig auf. Im Folgenden soll gezeigt werden, inwieweit die frühen Schriften der beiden von Humboldts hinsichtlich des oben geschilderten Bemühens um die Darstellung eines Gesamtzusammenhanges besonders von einem Werk geprägt und angeregt wurden: Gemeint sind die »Ideen zur Philosophie der Geschichte der dem »organischen Leben« in einer »Weltbeschreibung« zu vereinen. (Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 366 f, insbesondere Anm. 420.) 65 Sämtliche Texte sind abgedruckt in: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. 66 Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung Wilhelm von Humboldts vor einer Veröffentlichung der frühen Arbeiten ist möglicherweise in deren stilistischen Mängeln zu suchen. Wilhelms Freunde kritisierten oft an den ihnen vorgelegten Aufsätzen die ungenaue sprachliche Ausdrucksweise, die die Verständlichkeit der Inhalte beeinträchtigte. Humboldt selbst war sich dieser Schwächen durchaus bewusst und bat die Leser seiner Manuskripte um Korrekturen und Verbesserungsvorschläge. Trotzdem ernteten die wenigen Arbeiten, die er vor 1800 veröffentlichte, wegen ihres Stils geradezu hämische Kommentare. Besonders scharf gingen die Rezensenten mit seinen beiden Horenaufsätzen »Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« sowie »Ueber die männliche und weibliche Form« ins Gericht. Zu Ersterem meinte ein Kritiker spöttisch: »Rec. gesteht, dass er nicht zu den Adepten gehört, die den geheimen Sinn dieses Aufsatzes zu deuten vermögen. […] Ueberhaupt ist in diesem Aufsatze das Manövriren, Manierieren, Kokettieren der Schriftsteller so recht sichtbar. Um dem Ganzen den Schein von einem Resultate zu geben, sagt der Ver. am Ende, dass es diess nun eigentlich sey, was der a h n e n d e We i s h e i t s s i n n der Griechen schon im Mythus vom Chaos und Eros gedichtet. Sollte man nicht glauben, dass hier das, was die Griechen in jenem Mythus nur geahndet, hier nach Naturgesetzen erklärt sey? aber man lese nur! Eben so gut könnte der Urheber jener Dichtung, wenn er diesen Aufsatz läse, sagen: dass der V. mit ihm beynahe auf demselben Wege sey.« (Abgedruckt in: Braun (1882). 1. Abteilung; 2. Bd. S. 48 f.) In Anbetracht solcher Kritik ist Humboldts Zurückhaltung wenig erstaunlich! Ausführlicher werde ich im Kapitel III.3. auf die Geschlechteraufsätze eingehen.

Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«

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Menschheit« von Johann Gottfried Herder. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können Aufschluss darüber geben, wie sehr das Denken Wilhelms und Alexanders in der Tradition Herders zu sehen ist, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht so deutlich zu Tage tritt. Denn die von den Brüdern von Humboldt oft bekundete Verehrung für das Weimarer Zweigestirn Goethe und Schiller verschleiert allzu sehr die Bedeutung, die den »Ideen« für die Ausbildung ihrer ganzheitlichen Weltbetrachtung zukommt.

II.3.a) Herder und Wilhelm von Humboldt Zu Beginn der Neunzigerjahre, im Februar 1791, finden sich in einem Brief Wilhelms an seine damalige Braut Caroline von Dacheröden erste Überlegungen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit. Nachdem sich der Ehemann in spe für die Zusendung von Dominikus’ Schrift bedankt hat, urteilt er darüber folgendermassen: »Es sind schöne Gedanken darin, und die Hauptidee, durch die Geschichte das ewige Kämpfen der physischen und moralischen Natur und das daraus hervorgehende Selbstverdienst des Menschen zu zeigen, hat mir sehr gut geschienen. Auch ist sie neu und konnte gewiss nur in einem genievollen Kopfe entstehen. Überhaupt zeigt man in der Geschichte zu wenig den Menschen. Das was eigentlich überall Zweck ist, die Art des Seins des einzelnen Menschen, wird so oft und auch in der Geschichte als Mittel zu Zwecken angesehen, die nicht selten nicht mehr als Worte sind. Es scheint so simpel, eben dies innere Sein des Menschen überall zum letzten Gesichtspunkt zu nehmen, und doch ist es beinah unbegreiflich, wie fast alle Betrachtungen aller Wissenschaften eine verschiedene Gestalt erhalten, wenn man diesen Gesichtspunkt streng ins Auge fasst. Vorzüglich kommt es wohl daher, weil man in einem Studium, und gerade im wichtigsten, noch ganz zurück ist. Dies ist eben dies Studium des Menschen in sich, wie er ist und wie er sein soll.«67

Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass sich Wilhelm gerade zu dieser Zeit so intensiv mit der Philosophie der Menschheitsgeschichte zu beschäftigen begann. Denn im Jahre 1791 erschien ebenfalls der vierte und letzte Band von Johann Gottfried Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.«68 Die grosse Bedeutung dieses Werkes für Wilhelm von Humboldts Arbeiten, die eine Neuordnung der Wissenschaften, welche den Menschen ins Zentrum stellt, anstrebten, soll in diesem Kapitel näher untersucht werden. Wie aber steht es mit der Rezeption von Herders Werk durch Wilhelm von Humboldt im Allgemeinen? Sehr wahrscheinlich kannte Humboldt die her67 Humboldt, W. (1907 – 1916), 1. Bd., S. 393 f. (Brief vom 11. Februar 1791.) 68 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit.

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derschen Schriften sehr gut, zumindest ist anzunehmen, dass er sich bei seiner Beschäftigung mit der Sprachphilosophie und -theorie auch intensiv mit Herders Veröffentlichungen zu diesem Themenbereich auseinandersetzte.69 Doch genaue Nachforschungen darüber, welche Bücher er tatsächlich besass und gelesen hatte, sind heute leider nicht mehr möglich. Wilhelm von Humboldt vermachte seine umfangreiche sprachwissenschaftliche Bibliothek sowie seine Handschriften 1835 der Königlichen Bibliothek in Berlin als Legat.70 Ein Teil dieses Legats, vor allem die Handschriften, wurde schon kurze Zeit nach Wilhelms Tod verteilt und ist dadurch verloren gegangen. Weitere Bücher sind seit dem 2. Weltkrieg verschollen. Der Name Herders fehlt nun allerdings in der Liste der übrig gebliebenen Bücher71 – ebenso wie derjenige Volneys, der sich in Frankreich zur selben Zeit wie Wilhelm mit vergleichender Sprachwissenschaft beschäftigte und auf dessen Bemühungen um dieselbe ich weiter unten noch eingehen werde. Trotzdem gibt es einige spärliche Belege dafür, dass der ältere Humboldt sowohl Herders Werke als auch ihn persönlich gekannt hat. In der Einleitung zu seiner Herausgabe des Briefwechsels zwischen Goethe und den Humboldts erwähnt Bratranek, dass Wilhelm 1788 während seiner Reise an den Rhein Herders Frau Caroline, geborene Flachsland, kennenlernte.72 Nach weiteren sechs Jahren, nachdem er seinen Wohnsitz in Jena bezogen hatte, sei er zusammen mit seinem Bruder Alexander und Herder öfter zu Gast bei Goethe in Weimar gewesen.73 Aufschlussreicher ist jedoch ein Brief Wilhelms an Georg Forster von Anfang 1790. Dieser lässt vermuten, dass sich der ältere von Humboldt sehr beharrlich um eine enge Freundschaft mit Herder bemühte: »Auch bei Herder brachte ich, troz meines dreimaligen Hingehns, nur Eine Stunde zu. Bei ihr liess ich mich melden, aber sie nahm mich nicht an.«74

Nach dieser ersten Bekanntschaft in Weimar kam es nur zu einigen spärlichen persönlichen Begegnungen zwischen den beiden. Offenbar gelang es Humboldt nicht, Herder für sich einzunehmen und dieser legte auch später, als Ersterer im nahe gelegenen Jena wohnte, keinen Wert auf einen näheren Umgang mit ihm. In einem sehr viel später verfassten Brief an Charlotte Diede bestätigt Wilhelm seine frühere Bekanntschaft mit Herder und entwirft ein im Grossen und Ganzen positives Bild von ihm:

69 70 71 72 73 74

Siehe dazu den Aufsatz von: Gipper (1981). Schwarz (1993) Ibid. S. 7 f. Bratranek (1876), S. XXII. Ibid. S. XXXIII f. Leitzmann (1936), S. 58. (Brief vom 10. Januar 1790.)

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»Herder stand im Umfang des Geistes und des Dichtungsvermögens gewiss Goethe und Schiller nach, allein es war in ihm eine Verschmelzung des Geistes mit der Phantasie, durch die er hervorbrachte, was beiden nie gelungen sein würde. Diese Eigentümlichkeit führte ihn zu grossen und lieblichen Ansichten über den Menschen, seine Schicksale und seine Bestimmung. Da er eine grosse Belesenheit besass, so befruchtete er seine philosophischen Ansichten durch dieselbe, und gewann dadurch den Reichtum von Thatsachen für seine allegorischen und historischen Ausführungen. Er gehört, wenn man ihn im ganzen betrachtet, zu den wundervollest organisierten Naturen.«75

Auch in den frühen, oft Fragment gebliebenen Werken Wilhelms, die sich vor dem Hintergrund der französischen Revolution mit der Frage nach der bestmöglichen Staatsverfassung befassen, so zum Beispiel in der Schrift »Über Religion« oder den »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«,76 findet man Spuren der herderschen Gedanken. Bei einer eingehenderen Untersuchung von Humboldts Frühwerk begegnet man immer wieder der Überzeugung, dass die Aufgaben des Staates nur in der Aufrechterhaltung der Gesetze und der Verteidigung der Grenzen gegen aussen zu liegen haben. Denn der Staat – wie auch die Kirche – sollen so wenig wie möglich in die Privatsphäre der Menschen eingreifen, um die Entfaltung ihrer inneren Kräfte nicht zu gefährden. Diese Entfaltung bedarf der Freiräume und lässt sich nicht mit Vernunftregeln leiten. Wie lassen sich nun diese Aufgaben des Staates verwirklichen? Humboldt vertritt in der im Mai 1792 fertiggestellten endgültigen Fassung der »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«77 den Standpunkt, dass nicht Revolutionen, sondern einzig langsame Reformierungen des Staates zu einem höheren Grad der Freiheit führen können: »Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren und holderen Segen, als der gewiss nothwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Ausbruch tobender Vulkane. Auch ist keine andre Art der Reform unserm Zeitalter so angemessen, wenn sich dasselbe wirklich mit Recht eines Vorzugs an Kultur und Aufklärung rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staats muss – wie sich leicht voraussehen lässt – auf höhere Freiheit der Kräfte, und grössere Mannigfaltigkeit der Situationen führen.«78 75 Humboldt, W. (1909), Bd. II. S. 411. (48. Brief vom 6. Oktober 1833.) In demselben Brief erwähnt er auch namentlich die »Stimmen der Völker« und die »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. 76 Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. Der von Leitzmann gewählte Titel »Die Religion« ist irreführend, da es sich in dem Fragment nur am Rande um Fragen der Religion handelt. 77 Zur Publikationsgeschichte dieses Werkes vergleiche auch die Anmerkung 72 auf Seite 40. 78 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 58.

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Eine ähnliche Staatsauffassung finden wir auch in Herders neuntem Buch der »Ideen«. Analog zum Hauptzweck der Vergesellschaftung des Menschen, das Garantieren der Sicherheit und die gegenseitige Hilfeleistung, soll auch der Staat diese Naturordnung auf bestmögliche Weise realisieren: »Wie bei allen Verbindungen des Menschen gemeinschaftliche Hülfe und Sicherheit der Hauptzweck ihres Bundes ist: so ist auch dem Staat keine andre als die Naturordnung die beste; dass nämlich auch in ihm jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte. Sobald der Regent an die Stelle des Schöpfers treten und durch Willkür oder Leidenschaft von Seinetwegen erschaffen will, was das Geschöpf von Gotteswegen nicht sein sollte: sobald ist dieser dem Himmel gebietende Despotismus aller Unordnung und des unvermeidlichen Missgeschicks Vater.«79

Beide Autoren rücken damit die Natur des Menschen ins Zentrum ihrer Betrachtung. Der Staat darf nie Selbstzweck sein oder das Wohl seiner Bürger vernachlässigen, sondern er soll lediglich die freie Entfaltung des Einzelnen gewährleisten. In einem Brief an Georg Forster, verfasst kurz nach Beendigung der Staatsschrift, erläutert Humboldt seine eigentlichen Absichten: »Ich glaubte also auch kein andres Prinzip zum Grunde meines ganzen Raisonnements legen zu dürfen, als das, welches allein auf den Menschen – auf den doch am Ende alles hinauskommt – Bezug nimmt, und zwar auf das an dem Menschen, was eigentlich seiner Natur den wahren Adel gewährt. Die höchste und proportionirlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen ist daher das Ziel gewesen, das ich überall vor Augen gehabt, und der einzige Gesichtspunkt, aus dem ich die ganze Materie behandelt habe. Immer bleibt es doch wahr, dass eigentlich diese innre Kraft des Menschen es allein ist, um die es sich zu leben verlohnt, dass sie nicht nur das Prinzip, wie der Zwek aller Thätigkeit, sondern auch der einzige Stof alles wahren Genusses ist, und dass daher alle Resultate ihr allemal untergeordnet bleiben müssen.«80

Ihm geht es nicht so sehr um die theoretischen Richtlinien, an die sich ein Staat – synonym dazu verwendet Wilhelm auch den Begriff Gesellschaft81 – halten soll, sondern um die beste Möglichkeit der Entfaltung eines Individuums. Seine 79 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 338. 80 Forster (1978). Bd. 18. S. 534. Brief vom 1. Juni 1792. 81 Wilhelms mangelndes Bewusstsein für den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft hat zahlreiche Unstimmigkeiten zur Folge. Ihm ist wichtig, dass die Öffentlichkeit keinen Einfluss auf die Privatsphäre des Einzelnen nehmen kann. Den öffentlichen Raum bezeichnet er manchmal als Staat, manchmal als Gesellschaft. Problematisch wird diese Vermischung im Bereich des Bildungswesens. Da Wilhelm in den Neunzigerjahren dem Staat keine bildungspolitischen Aufgaben zubilligt, aber trotzdem die Notwendigkeit sieht, die Bildung der ärmeren Bevölkerungsschichten zu fördern und zu überwachen, überträgt er die Verantwortung für deren Bildung der ›Gesellschaft‹. Diese ›Gesellschaft‹ kann nun aber nicht der Staat sein, weshalb man annehmen muss, dass Humboldt in diesem Zusammenhang eine besondere Art von ›Gesellschaft‹ meint.

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Schrift ist im Grunde sogar unpolitisch, da er keinerlei Anweisungen gibt, wie seine allgemein gehaltenen Überlegungen praktisch umzusetzen wären.82 Vielmehr versucht er auf einem anthropologischen Fundament Regeln zur Begrenzung der staatlichen Macht festzusetzen. Ähnlich wie Herder betont auch Humboldt nachdrücklich, dass die Entfaltung der inneren Kräfte ihren inhärenten natürlichen Gesetzen gemäss erfolgen soll. Grundlegend ist dabei für beide die Annahme, dass diese natürlichen inneren Kräfte nicht als Gegensatz zur Kultur gesehen werden, die es zu unterdrücken oder zumindest zu kanalisieren gilt, sondern gerade als Bedingung für die Entwicklung der Menschheit betrachtet werden. Nichts ist dem Menschen so natürlich wie die Ausbildung seiner Kultur. Ein autoritärer Staat, der die Entwicklung der inneren menschlichen Kräfte unterdrückt, behindert somit nicht nur die Selbstbildung des Einzelnen, sondern auch das harmonische Zusammenleben der Gesellschaft: »Das höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwikkelte. Physische und moralische Natur würden diese Menschen schon noch an einander führen, und wie die Kämpfe des Kriegs ehrenvoller sind, als die der Arena, wie die Kämpfe erbitterter Bürger höheren Ruhm gewähren, als die getriebener Miethsoldaten; so würde auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und erzeugen.«83

Aber noch ist dieses Ideal des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht erreicht worden. Denn erst auf der höchsten Stufe der kulturellen Entfaltung, wenn die grösstmögliche Verfeinerung der inneren Kräfte des Menschen ausgebildet worden ist, wird es jedem Individuum gestattet sein, seine eigene Selbstbildung zu vollenden. Bleibt auch dieser wahre Zweck des Menschen letztlich eine Utopie, so ist der Weg dahin dennoch eng verknüpft mit der gesellschaftlichen Entwicklung der Völker.84 Diese muss nicht zwangsläufig linear fortschreiten, sondern kann auch Rückschläge erleiden. Das Beispiel des antiken Griechenland, mit dem sich Wilhelm von Humboldt zeitgleich, wenn auch eher aus literarischem und ästhetischem, denn aus historischem Interesse beschäftigt, gilt ihm als frühe Annäherung an sein Ideal, wenngleich Wilhelm durchaus eingesteht, dass eine Neubelebung des Hellenismus aufgrund von dessen historischer 82 Zur Entwicklung des politischen Denkens Wilhelm von Humboldts von anfänglich utopischen Vorstellungen zu seinen konkreten Verdiensten in der Staats- und Bildungspolitik siehe auch: Knoll / Siebert (1969). 83 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 67 . 84 Die Idee, dass sich die Völker über verschiedene Kulturstufen entwickeln, finden wir ebenfalls bei Herder. Das heisst für ihn indessen nicht, dass weniger ›zivilisierte‹ Völker von minderem Wert wären. Herder betrachtet die jeweiligen Kulturstufen wertfrei und betont ausdrücklich, dass die individuelle Glückseligkeit nicht vom Grad der Zivilisation abhängt.

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Bedingtheit nicht mehr möglich sei. Aber dennoch muss sein lebenslanger Philhellenismus auch in engem Zusammenhang mit seinen ersten anthropologischen, historischen und politischen Untersuchungen gesehen werden. Herder und Wilhelm von Humboldt stellen sich somit in Opposition zu Kant,85 der aufgrund einer postulierten Doppelnatur des Menschen, der einerseits zwar einen freien Willen besitzt, andererseits aber seine tierische, triebgesteuerte Natur nicht verleugnen kann, zum Schluss kommt: »[…] der Mensch ist ein T i e r , das, wenn es unter andern seiner G a t t u n g lebt, e i n e n H e r r n n ö t i g h a t . Denn er missbraucht gewiss seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und, ob er gleich, als vernünftiges Geschöpf, ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen H e r r n , der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.«86

Es ist just diese Stelle in Kants Entwurf einer Geschichtsphilosophie, auf die Herder explizit in den »Ideen« eingeht, um sie schliesslich als »bösen Grundsatz« abzulehnen. Kant wiederum greift Herders Replik in seiner sehr polemisch gehaltenen Rezension der Abhandlung seines ehemaligen Schülers erneut auf.87 Wie wir sehen werden, kannte Wilhelm von Humboldt eben diese »Ideen« bereits Anfang der Neunzigerjahre, und die seinerseits sehr abschätzige Beurteilung, um nicht zu sagen Verurteilung dieses Werkes dürfte in nicht geringem Masse auf Kants Rezension zurückzuführen sein. Der eifrige, wenn auch nicht unkritische Kantleser Humboldt dürfte sich vielleicht gescheut haben, die Quellen mancher seiner Gedanken preiszugeben. Er hätte es womöglich als stossend empfunden, ausgerechnet Herder in seiner Staatsschrift namentlich zu zitieren, in der er sich öfter auf die Autorität Kants beruft. Da nun Humboldt offensichtlich manche seiner Quellen so gut wie nie angibt, kann man jedoch eine direkte Rezeption der herderschen Schrift nur vermuten. Dies gilt im Übrigen auch für seinen Bruder Alexander88 sowie eine ganze Reihe weiterer junger Wissenschaftler. Sie wählten eine Vermeidungstaktik, das heisst sie verschwie85 Siehe dazu auch den Kommentar von Wolfgang Pross zum vierten Kapitel des neunten Buches in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2. S. 541 ff. 86 Kant (1968). Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Bd. XI. S. 40. 87 Kant (1968). Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. XII. S. 804 f. Zur Auseinandersetzung zwischen Herder und Kant siehe: Pross (1997). Auch Heinz Stolpe nimmt kritisch Stellung zu Kants Position in: Stolpe (1964), S. 303 – 307. 88 Zum möglichen Einfluss Herders auf Alexander von Humboldts Interesse für die Pflanzengeografie während der Studienzeit und die nachhaltige Wirkung der Auseinandersetzung zischen Georg Forster und Kant auf die junge Forschergeneration siehe auch das Kapitel I.1.b), Seite 46 f.

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gen Herders Namen, um sich nicht im Vornherein zu diskreditieren. Besonders im Weimarer Kreis, der Kant näher stand, galt es nicht als opportun, sich zu Herder zu bekennen. Dieses taktische Verhalten schlug sich auch in der Rezeption der herderschen Werke nieder. Zwar wurden sie gelesen und beeinflussten Generationen von Gelehrten, aber mit der Nennung des Verfassers hielt man sich lieber zurück.89 Dies dürfte im Übrigen auch für einen Text gelten, dessen Autor zu dieser Zeit nach wie vor als Atheist gebrandmarkt war. Gemeint ist Spinozas »Tractatus theologico-politicus«, der wiederum als ein wichtiger Quellentext für Herder fungierte. Die darin dargelegten Gedanken über den Endzweck des Staates weisen ebenfalls verblüffende Parallelen zu denjenigen Wilhelm von Humboldts auf: »Ex fundamentis reipublicae supra explicatis evidentissime sequitur finem ejus ultimum non esse dominari, nec homines metu retinere et alterius juris facere, sed contra unumquemque metu liberare, ut secure, quoad ejus fieri potest, vivat, hoc est, ut jus suum naturale ad existendum et operandum absque suo et alterius damno optime retineat. Non, inquam, finis reipublicae est homines ex rationalibus bestias vel automata facere, sed contra ut eorum mens et corpus tuto suis functionibus fungantur et ipsi libera ratione utantur, et ne odio, ira vel dolo certent nec animo iniquo invicem ferantur. Finis ergo reipublicae revera libertas est.«90

Die These, dass sich Humboldt tatsächlich eingehender mit Werken beschäftigt hat, die von grosser Nachhaltigkeit für Herders geschichtsphilosophisches Denken waren, wird durch die Nennung eines Autors gestützt, zu dessen Bewunderern auch der Autor der »Ideen« gehörte. In der Frage, ob die moralischen Mittel (Nationalerziehung, Religion und Sittengesetze) der Antike auch für einen modernen Staat tauglich seien, weist Wilhelm auf den englischen Historiker und Philosophen Adam Ferguson hin, der »die Übereinstimmung der Einrichtungen des Lykurgus mit der Lebensart der meisten unkultivierten Nationen meisterhaft 89 Zur Rezeptionsgeschichte von Herders «Ideen« siehe das Nachwort von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 1021 ff. Die Einschätzung Herders als Vorläufer des Darwinismus erörtert Heinz Stolpe in: Herder und die Ansätze einer naturgeschichtlichen Entwicklungslehre im 18. Jahrhundert. In: Stolpe (1964). 90 Spinoza (1979), S. 604 f. [»Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staates folgt ganz offenbar, dass der letzte Zweck des Staates nicht ist zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. Es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gesinnt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.«]

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gezeigt«91 habe. Fergusons »Essay on the History of Civil Society«92 war für Herders Geschichtsphilosophie ebenfalls von ausserordentlicher Bedeutung.93 Im Gegensatz zu Rousseau sah Ferguson keinen Bruch zwischen dem ›Naturzustand‹ und dem ›Gesellschaftszustand‹ des Menschen, sondern bewertete die kulturellen Leistungen der Menschheit als durch ihre natürlichen Anlagen bedingte Hervorbringungen. Deshalb müssen auch die Einrichtungen eines Staates der Kulturstufe seiner Gesellschaft angemessen sein. Sowohl Herder als auch Humboldt stehen also in der Tradition Fergusons, wenn sie davon ausgehen, dass die sich im Laufe der Zeit vollziehende Verfeinerung der Kultur eine natürliche Entwicklung der Menschheit darstellt – eine Entwicklung, die sich deshalb am ehesten ohne staatliche Zwänge perfektioniert. Neben Herder waren auch Israel Stieglitz, Georg Forster, Friedrich Heinrich Jacobi, Christian Wilhelm von Dohm sowie Friedrich Gentz nicht unbedeutend für Humboldts Überlegungen zu einem vorbildlichen Staat.94 Dass das Thema des eigentlichen Zwecks des Staates Anfang der Neunzigerjahre in Humboldts Freundeskreis rege diskutiert wurde, vermag kaum zu überraschen: Die politischen Ereignisse im benachbarten Frankreich boten Anlass genug, die Aufgaben des modernen Staates zu erörtern. Auch wenn nun Wilhelm von Humboldt Herders Schriften nirgends als Quelle seiner Werke preisgibt – obwohl deren Einfluss kaum von der Hand zu weisen ist –, so lässt sich seine Lektüre der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« aufgrund zweier Briefe ziemlich sicher belegen. Diese Zeugnisse erwecken nun allerdings den Eindruck, Wilhelm habe Herders »Ideen« überhaupt nicht geschätzt. Geradezu verächtlich verweist er auf sie in einem Brief an Christian Gottfried Körner, ohne jedoch Herder explizit beim Namen zu nennen. Trotzdem ist offensichtlich, auf wen die spitze Bemerkung gemünzt ist: »Endlich fehlt, freilich nicht dem Titel, aber wohl dem Geiste nach, eine philosophische Geschichte der Menschheit.«95

Hinter dieser abfälligen Formulierung steckt ganz offensichtlich eine Anspielung auf Kants Urteil über die »Ideen« Herders:

91 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 105. 92 Klaus Giel und Andreas Flitner weisen in ihrem Kommentar zu besagter Stelle darauf hin, dass Humboldt wahrscheinlich die Basler Ausgabe von 1789 benützt habe. (Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 309.) 93 Siehe dazu: Pross (2006), S. 18 f.; S. 21. 94 Sweet (1973), S. 471 ff. 95 An Christian Gottfried Körner : Zur philosophischen Geschichte der Menschheit. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 173. (Brief vom 19. November 1793.)

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»Daher möchte wohl, was ihm [Herder] Philosophie der Geschichte der Menschheit heisst, etwas ganz anderes sein, als man gewöhnlich unter diesem Namen versteht: […]«.96

Humboldts Weglassung von Herders Namen an dieser Stelle erklärt sich aus seinen im Brief dargelegten Überlegungen. Diese weisen so deutliche Parallelen zu den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« auf, dass eine Erwähnung des Autors im obigen Zitat kaum einen Sinn ergeben hätte. Wilhelms widersprüchliche Haltung gegenüber Herders Werk wäre noch deutlicher zu Tage getreten. Doch wie hätte er dieses ambivalente Verhalten erklären können? Wilhelms starke Abhängigkeit von Herders »Ideen« bei deren zugleich offiziell vorgegebenen Ablehnung spricht meiner Meinung nach dafür, dass der ältere von Humboldt beabsichtigte, ein ähnlich angelegtes Werk zu verfassen, das, wahrscheinlich mithilfe der wissenschaftlich fundierten Forschungsergebnisse seines Bruders Alexander, dasjenige seines Vorgängers bei Weitem überragen sollte.97 Dafür spricht auch ein Brief an Karl Gustav von Brinkmann, den er nur einen Monat später schrieb und in dem er nun offen gegen Herder und sein Werk polemisiert: »Es giebt keinen so interessanten Gegenstand, als Philosophie der Geschichte. Aber sie wankt doch ohne Fundament, da man noch nicht gehörig weiss, wornach man sehn soll, und diess doch bei allem Erfahrungsammlen selbst noch vor dem Aufthun der Augen geschehn muss. Eine traurige Erfahrung davon gaben mir noch neulich Herders Ideen 4. Theil. Einige Feinheit bei der Geschichte des Christenthums und die gut erzählte Geschichte der Araber ausgenommen, ists lauter Salbaderei und kommt zu keinem Resultat, ausser dass man lernt, dass alle B l ü t h e n welken. Mit den Blumen treibt Herder überhaupt grossen Spuk. Sie sind aber wirklich sehr gütig, wenn sie ihm gedeihen, der ihnen den Boden so schlecht mit Gedanken düngt. Eben so sind auch die 4. 5. Sammlung zerstreuter Blätter. Lasen Sie wohl Tithonius und Aurora? Das ist wieder ein Meisterstück von – gemachten Blumen.«98

Die dreiste Verhöhnung Herders, zu der sich hier der 26jährige Jüngling hinreissen lässt, darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass dessen verschmähte »Ideen« bei sehr vielen Betrachtungen Humboldts Pate standen.

96 Kant (1968). Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. XII. S. 781. 97 Auch Herder spricht in der Vorrede zu seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« davon, dass er Nutzen zog aufgrund der Fortschritte, da »in so manchen Wissenschaften und Kenntnissen, aus denen ich schöpfen musste, Meisterhände arbeiten und sammlen«. (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 15.) Angesichts der zahlreichen neuen Forschungsresultate in den Naturwissenschaften lässt sich Wilhelms Hoffnung durchaus nachvollziehen. 98 Humboldt, W. (1939), S. 72. (36. Brief vom 19. Dezember 1793.)

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Bereits im Brief an Körner erläutert Wilhelm sein Vorhaben, ganz ähnlich wie Herder »den Menschen, in dem ganzen Umfang seiner geniessenden und wirkenden Kräfte«99 zu untersuchen, und zwar sowohl empirisch-philosophisch, um das Ideal der Menschheit näher zu bestimmen, als auch historisch, die verschiedenen Völker und Nationen miteinander vergleichend und den Zusammenhang der Weltbegebenheiten kritisch verfolgend, um die Gesetzmässigkeiten der Entwicklung der Menschheit zu ergründen. Diese Entwicklung der Menschheit erfolgt gemäss Humboldt sowohl nach inneren, in den Menschen selbst liegenden Kräften, als auch nach äusseren, teilweise antagonistischen Kräften der Objekte ausser ihnen. Denkbar wären nun zwei Entwicklungsmodelle: Eines, welches die Menschheitsgeschichte als grossen, immerwährenden Kreislauf darstellt, und ein anderes, welches diese als immerwährendes Fortschreiten einem unendlichen Ziel entgegen beschreibt. Was hier von Wilhelm kurz angedeutet wird, ist das Problem, wie ein Fortschritt der Menschheit möglich sei, wenn diese gleichzeitig als Gattung aufgrund ihrer Natur unveränderlich bleiben soll. Denn nach wie vor wird von ihm die Konstanz der Arten nicht in Frage gestellt, wodurch sich aber das Problem einer Antinomie zwischen Norm und Kontingenz ergibt.100 Bereits etwas ausführlicher und grundsätzlicher erörtert Wilhelm dieses Thema in seinem Entwurf »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte«.101 Die Entstehung dieses Fragmentes wird von Leitzmann aufgrund des Wasserzeichens auf die zweite Hälfte des Jahres 1791 datiert. Es handelt sich hier also sehr wahrscheinlich um Humboldts früheste geschichtsphilosophische Skizze und dokumentiert den Beginn seiner Beschäftigung mit Anthropologie und Geschichte. Der oben zitierte Brief an seine Braut Caroline von Dacheröden bildet sozusagen die Intonierung dieses neuen Interesses. 99 An Christian Gottfried Körner: Zur philosophischen Geschichte der Menschheit. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 172. (Brief vom 19. November 1793.) 100 Auch der Epigenetiker Johann Friedrich Blumenbach, dessen Vorlesungen die Brüder von Humboldt während ihrer Göttinger Studienzeit besuchten, hielt an der Konstanz der Arten fest. Zwar räumte er aufgrund seiner eigenen physiologischen Experimente und fossilen Funde ausgestorbener Tiere eine gewisse Variabilität und Entwicklungsfähigkeit der Arten ein, aber eine Evolutionstheorie im darwinschen Sinn lag noch ausserhalb seiner Denkmöglichkeit. 101 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. Das im zweiten Weltkrieg vernichtete Manuskript trug ursprünglich keinen Titel. Humboldt selbst bestimmt den Gegenstand seiner Arbeit als »die Aufsuchung der Geseze der Entwikklung der menschlichen Kräfte auf Erden«. (Ibid. S. 51.) Erst Leitzmann gab dem Bruchstück den etwas unglücklich gewählten Titel »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte«: (Siehe: Humboldt, W. (1903 – 1939), 1. Bd., S. 431 f.) Leitzmanns Titelgebung ist insofern auch unkorrekt, als Wilhelm von Humboldt in diesem Fragment die Frage, ob Gesetze der menschlichen Kräfte tatsächlich auffindbar seien, erst einmal erörtern möchte.

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Mit keiner Silbe wird in dieser Abhandlung der Name Herders erwähnt – und doch fühlt man sich an vielen Stellen unwillkürlich an dessen »Ideen« erinnert.102 Teilweise scheint es, als habe Humboldt einige Formulierungen aus dem fünfzehnten Buch dieses Werkes direkt übernommen, teilweise gebraucht er die gleichen Begriffe wie Herder. Ob sich Wilhelm hier tatsächlich an Herders fünfzehntem Buch der »Ideen« orientiert hat, lässt sich nicht mit eindeutigen Beweisen belegen, thematisiert aber wird von beiden Autoren die Einbindung des Menschen in das Ganze der Natur und die gesetzmässige Entwicklung seiner inneren Kräfte.103 Doch im Unterschied zu Herder fehlt bei Humboldt die Stringenz in der Argumentation, um die Gesetzmässigkeiten der Geschichte in der Natur des Menschen zu verorten, eine Argumentation, die es dem Älteren ebenfalls erlaubt, seine Geschichtsphilosophie in charakteristischer Weise mit der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen.104 Wilhelm hingegen schreckt vor der Konsequenz dieser Naturalisierung zurück und verheddert sich in unlösbare Widersprüche. Herders Geschichtsoptimismus, der sich trotz alledem aus sei102 Sweet ist der Meinung, Herder antizipiere das frühe geschichtsphilosophische Werk Wilhelm von Humboldts, jedoch seien spezifische Einflüsse schwierig nachzuweisen. Eher wahrscheinlich sei deshalb, dass sich beide auf allgemeine Konzeptionen, die zur damaligen Zeit vorherrschend waren, beziehen. (Sweet (1978 / 1980), Bd.1, S. 142 – 145.) Ich werde versuchen, im Verlaufe dieses Kapitels anhand ausgewählter Textstellen Hinweise auf einen spezifischen Einfluss von Herders »Ideen« auf Humboldts Geschichtsphilosophie zu geben. Im Übrigen ist es wenig sinnvoll, bei der Bezugnahme eines späteren Werkes auf ein früheres von Antizipation zu sprechen, schon gar nicht, wenn – wie in diesem Fall – eine ausgereifte Theorie einigen fragmentarischen Skizzen vorhergeht! 103 Herders Versuch, den Dualismus zwischen Norm und Kontingenz aufzulösen und den Menschen als einerseits in seinen Entscheidungen arbiträres, andererseits den Naturgesetzen unterworfenes Wesen zu begreifen, orientiert sich an Texten von Cicero (»De naturam deorum«, »De divinatione«, »De fato«), Spinoza (»Tractatus theologico-politicus«, »Ethica«), La Mettrie (»L’Homme-machine«), Goguet (»Origines des loix, des arts et des sciences«), Adam Smith (»Theory of Moral Semtiments«), Diderot (Encyclop¦die-Artikel »Liaison«), Johann August von Einsiedel (»Ideen«), Ruggiero Giuseppe Boscovich (»Theoria philosophiae naturalis«) und Johann Heinrich Lambert (»Anlage zur Architectonic«). Siehe dazu den ausführlichen Kommentar zum fünfzehnten Buch von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2. S. 723 ff. 104 Die Fortschritte in der Geologie und Paläontologie sowie die zahlreichen Entdeckungen fremder Völker und Kulturen erschwerten es im 18. Jahrhundert zunehmend, den beschränkten Zeithorizont der Genesis aufrechtzuerhalten. Bereits Buffon setzte sich in seiner »Histoire naturelle« kühn über die von der Theologie behaupteten 6000 Jahre seit Erschaffung der Welt hinweg. Herder greift Buffons Erdgeschichte auf, verbindet sie jedoch mit dem Bericht über die Erschaffung der Erde im Alten Testament. Die Menschheitsgeschichte wird lediglich als Teil dieser Erdgeschichte gesehen, ohne auf konkrete Zeitangaben einzugehen. Somit behält die zeitliche Abfolge der Bibel ihre Gültigkeit, die zeitliche Dimension der Geschichte wird jedoch erweitert und ermöglicht schliesslich eine moderne Sicht der Erdentstehung und Menschheitsentwicklung, wie sie später bei Charles Lyell und Charles Darwin zum Tragen kommt.

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nem tiefen christlichen Glauben nährt, weicht bei Humboldt einer erst noch zu klärenden Frage, ob die Geschichte des Menschengeschlechts einem Ziel, einer höheren Vollkommenheit, entgegensteuert, oder ob sie im Grunde nur eine Wiederkehr gleichbleibender Kräfte im ewigen Wechsel der Natur beschreibt. Neben dieser grundsätzlichen Frage, die sich für Herder, der die kulturelle Entwicklung des Menschen sowie dessen Fortschritt der Vernunft als von Natur aus angelegt betrachtet, in dieser Weise gar nicht stellt, unterscheidet sich Wilhelms Entwurf auch dadurch, dass er zwei weitere Gesichtspunkte immer wieder thematisiert, die Humboldt in Herders »Ideen« möglicherweise vermisst hat. Zum einen ist es das im späteren Brief an Brinkmann monierte fehlende Fundament der Philosophie der Geschichte, die Selbsttätigkeit der inneren menschlichen Kräfte, zum andern die stärkere Akzentuierung des Individuums, wie es bereits im Schreiben an Caroline zum Ausdruck kommt, welche den Menschen an sich, als einzelnes Subjekt, in den Mittelpunkt der Geschichte stellen möchte. Zunächst aber betont Wilhelm von Humboldt das Interesse, das die Menschen aller Zeiten und aller Nationen am »Bild des Menschen in der Verschiedenheit seiner Lebensweise nach der verschiedenen Beschaffenheit der leblosen und lebendigen Natur um ihn her, unter deren unaufhörlichem Einwirken er lebt«,105 gehabt haben. Weiter führt er aus, dass der Betrachter der Geschichte unzweifelhaft den Zusammenhang der Epochen erkennt und die Begebenheiten des Menschengeschlechts in einem »Gemählde« zu sammeln versucht, indem er sie als Teile einer »grossen, unzertrennbaren Einheit«, die ebenso die Erdgeschichte umfasst, begreift.106 Unschwer ist hier das herdersche Thema in den »Ideen« zu erkennen und es scheint mir naheliegend zu sein, dass Humboldt mit der Einleitung des Entwurfs bewusst an Herder anknüpft. Noch deutlicher wird die Bezugnahme, vor allem auf das fünfzehnte Buch der »Ideen«, wenn wir die folgenden Textstellen bei Herder und Humboldt vergleichen. Bei Herder lesen wir: »Wir dünken uns selbstständig und hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten müssen auch wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andre sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reisst, um von neuem geknüpft zu werden. Der kluggewordene Greis geht unter die Erde, damit sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe überlasse, mit der auch Er sein Leben verzehret. So ketten sich Tage: so ketten Geschlechter und Reiche sich an einander.«107 105 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 43. 106 Vgl. zum geschichtlichen Denken in der Spätaufklärung auch den Aufsatz von Reill (1990). 107 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 577.

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Mit dem Bild einer Kette, in die der Mensch verflochten ist und damit ebenfalls den Naturgesetzen unterliegt, gelingt es Herder, die Geschichte der Menschheit und die Geschichte der Natur miteinander zu verbinden und als harmonisches Ganzes darzustellen. So wie alles in der Natur dem Werden und Vergehen unterliegt, ist auch der menschliche Körper vergänglich. Durch die Generationenfolge und die Überlieferung aber sind die einzelnen Menschen aneinander geknüpft. Ein ganz ähnliches Bild, teilweise mit identischen Begriffen, entwirft Wilhelm von Humboldt von der wandelbaren Natur, in die der Mensch aufgrund seiner Tradition und Generationenfolge eingebunden ist: »Wenn gleich freilich kein einzelnes Geschöpf die Umwandlungen dieses Ganzen in ihrer Folge erfährt, wenn selbst die leblose Natur, die ihr Schauplaz ist, nicht unverändert bleibt, der Boden, der den Enkel nährt, nicht mehr derselbe ist, den der Ahnherr betrat, und selbst die innerste Felsmasse unsrer Erdkugel vielleicht dem unaufhörlichen Flusse alles Endlichen folgt; so schlingt sich doch mitten durch allen diesen Wechsel hindurch, einer ununterbrochenen Kette gleich, die Reihe der auf einander folgenden Menschengeschlechter, so erhält sich doch das, was, allein ewig und unvergänglich, den hinfälligen Stoff seines Urhebers überlebt, der Vorrath von Ideen, den die Vorwelt auf die Nachwelt vererbt.«108

Und nun, gleich im Anschluss an diese Stelle, erläutert Humboldt die Methode des »philosophischen Geschichtsforschers«, der versucht, die Entwicklung des Menschengeschlechts sowie dessen Zukunft darzustellen: »An diesen Fäden verfolgt der philosophische Geschichtsforscher oft die Revolutionen des Menschengeschlechts, füllt mit Hypothesen die Lükken, welche die Überlieferung lässt, sieht aus der Vergangenheit die Gegenwart entspringen, ahndet aus dieser die nun neu sich entwikkelnde Zukunft, sucht das Ziel zu bestimmen, dem diess ewig rege wirksame Ganze nachstrebt, und erklärt den gleichen abgemessenen Fortschritt desselben entweder aus der Leitung einer weisen Macht, oder aus der nach ewigen Gesezen ihrer Natur wirkenden Selbstthätigkeit der einzelnen Kräfte«.109

Von dieser Art der Geschichtsbetrachtung distanziert sich nun aber Humboldt, indem er Wörter wie »Hypothesen«, »Lükken« oder »ahndet« benutzt. Ebenso lassen die Erklärungsmöglichkeiten für den »abgemessenen Fortschritt« am Ende des Zitats erkennen, dass Wilhelm im Grunde von der Zuverlässigkeit der eingangs skizzierten Geschichtsphilosophie wenig überzeugt ist. Bei genauerem Lesen entdeckt man denn auch bereits auf den ersten Seiten Hinweise auf seine kritische Distanz. Die vordergründig so unproblematisch erscheinende Geschichtsphilosophie wird nämlich schon von Anfang an in Zweifel gezogen, da 108 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 44. 109 Ibid.

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der besagte Geschichtsforscher die historischen Fakten nicht nur gemäss einem wirklichen Zusammenhang, sondern auch gemäss einem scheinbaren verbindet. Folglich wird die von ihm angestrebte allgemeine Darstellung des Ganzen lediglich »i n s e i n e n Au g e n zu Einer grossen, unzertrennbaren Einheit«,110 und somit bleibt an seiner Geschichtsphilosophie der Makel der Einseitigkeit und Subjektivität haften. Dies liegt nun aber in der »Natur des menschlichen Geistes« selbst, der stets danach strebt, das Allgemeine zu erfassen. Zusammenhänge zu suchen und zu erkennen entspricht also dem Wesen des Menschen, diese geistige Tätigkeit ist Folge seiner natürlichen Anlagen. Das heisst aber nicht, dass der Mensch tatsächlich die Wahrheit erkennen kann. Im Gegenteil – im Streben nach Allgemeinheit muss er zwangsläufig die »zerstreuten Züge« zusammenfassen und infolgedessen abstrahieren. Unter dieser Voraussetzung ist die von Humboldt vorher beschriebene Aufgabe des Geschichtsphilosophen bereits mit unvermeidlichen Einschränkungen verbunden: »Bald sieht er [der betrachtende Forscher] aus seiner Lage, mit seinen Gesichtspunkten auf die Vorzeit hin, bald versezt ihn seine Phantasie selbst in dieselbe, und eignet ihm den Gesichtspunkt, den ehmals ihre Wirklichkeit gab, und so wägt er unrichtiger oder richtiger das Gute und Beglükkende jedes Jahrhunderts, geniesst jezt des frohen Bewusstseins des eigenen Vorzugs, und jezt wieder des wehmüthigeren und dennoch süssen Gefühls, dass eine Treflichkeit hoher beseligender Schönheit einmal blühte und nun nicht mehr ist!«111

Wie können jedoch die Erkenntnisse des Geschichtsforschers trotzdem Allgemeingültigkeit beanspruchen? Dieses erkenntnistheoretische Problem, welches hier Wilhelm von Humboldt berührt, versucht er im Laufe der weiteren Argumentation zu erörtern, aber, wie wir noch sehen werden, erweist es sich als unlösbar. Es entzieht letzten Endes jedem Versuch, Natur und Menschheit als dynamische Einheit darzustellen, das Fundament. Auch Johann Gottfried Herder thematisiert in den »Ideen« die Subjektivität der menschlichen Erkenntnis. Wiederum können wir in dessen Formulierungen und Begrifflichkeit Parallelen zu Humboldts Fragment erkennen: »Wie meine Vernunft den Zusammenhang der Dinge sucht und mein Herz sich freuet, wenn sie solchen gewahr wird: so hat ihn jeder Rechtschaffene gesucht und ihn im Gesichtspunkt seiner Lage nur vielleicht anders als ich gesehen, nur anders als ich bezeichnet. Wo er irrte, irrete er für sich und mich, indem er mich vor einem ähnlichen Fehler warnet. Wo er mich zurechtweiset, belehrt, erquickt, ermuntert, da ist er mein

110 Ibid. [Hervorhebung von mir.] 111 Ibid. S. 43.

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Bruder ; Teilnehmer an derselben Weltseele, der Einen Menschenvernunft, der Einen Menschenwahrheit.«112

Gemäss Herder garantiert die »Eine Menschenwahrheit« das Erkennen des Weltganzen. Anders als bei Humboldt, der sich in diesem Punkt noch nicht zu entscheiden vermag, sind auf lange Sicht Fortschritte im Wissen der Menschen auszumachen. Aufgehoben im Kosmos und Teil desselben ist die Subjektivität des Individuums kein Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis des Ganzen – oder in Herders Terminologie: zum Allanblick.113 Wer aber ist mit dem »philosophischen Geschichtsforscher«, der sich, wie Wilhelm später erläutern wird, mit einer »Vernunftwahrheit«114 begnügt anstatt sich an der »Beobachtung der wirkenden Kräfte«, an der »Erfahrung« zu orientieren, gemeint? Denkt Humboldt bei seinen Ausführungen an einen konkreten Zeitgenossen? Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass hier direkt Herder angegriffen wird.115 Denn im dreizehnten Buch der »Ideen« finden wir eine Stelle, in der dieser die erforderliche Methode des Geschichtsforschers als Vorgehensweise einer »gesunderen Philosophie«, wie sie ebenfalls in der Mathematik und Naturgeschichte in Gebrauch ist, bezeichnet: »Jeder Geschichtsforscher ist mit mir einig, dass ein nutzloses Anstaunen und Lernen derselben den Namen der Geschichte nicht verdiene; und ist dies, so muss bei jeder ihrer Erscheinungen wie bei einer Naturgegebenheit der überlegende Verstand mit seiner ganzen Schärfe wirken. Im Erzählen der Geschichte wird dieser also die grösseste Wahrheit, im Fassen und Beurteilen den vollständigsten Zusammenhang suchen und nie eine Sache, die ist oder geschieht, durch eine andre, die nicht ist, zu erklären streben. Mit diesem strengen Grundsatz verschwinden alle Ideale, alle Phantome eines Zauberfeldes: überall versucht man, rein zu sehen was da ist und sobald man dies sah, fällt meistens auch die Ursache in die Augen, warum es nicht anders als also sein konnte? Sobald das Gemüt an der Geschichte sich diese Gewohnheit eigen gemacht hat, hat es den Weg der gesunderen Philosophie gefunden, den es ausser der Naturgeschichte und Mathematik schwerlich anderswo finden konnte.«116

Es ist zweifelsohne diese Art der Geschichtsphilosophie, die Humboldt in Frage stellt, selbst wenn die von Herder im obigen Zitat postulierte Erkennbarkeit der 112 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 600 f. 113 Zur elementaren Bedeutung der Idee des »Allanblicks« im herderschen Gesamtwerk vergleiche den Aufsatz von: Pross (2003). 114 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 46. 115 Auch Wolfgang Pross geht davon aus, dass Wilhelm von Humboldt hier Herders »Ideen«, insbesondere das fünfzehnte Buch, zum Ausgangspunkt nimmt. (Siehe: Pross (2008), S. 63.) 116 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 522.

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Ursachen gewährleistet wäre. Zumal in Wilhelms Augen, wie wir gerade gesehen haben, noch nicht einmal die Möglichkeit, dass das Erfassen des Zusammenhangs der menschlichen Erkenntnis zugänglich sei, a priori gegeben ist: »Denn wenn in dem Gange menschlicher Begebenheiten, ihrer wechselseitigen Verkettungen ungeachtet, keine Einheit, kein gleichförmiges Gesez vorhanden ist, oder wenn dasselbe auf Dingen beruht, welche menschliche Einsicht nicht zu durchschauen vermag, so wird die Phantasie im eitlen Haschen nach dem, was nirgend exisitirt, Hypothesen an die Stelle der Wahrheit sezen, und der erträglichste Erfolg des Unternehmens wird die Ueberzeugung seiner Unausführbarkeit sein. Um nun aber hierüber erst zur Gewissheit zu gelangen, dürfen wir uns nicht reiner Vernunftsäze und Schlüsse bedienen. Gesezt auch, wir besässen irgend eine Vernunftwahrheit, die auf die Nothwendigkeit eines gleichförmigen Gesezes führte; so dürften wir dennoch dadurch über die Natur und die Beschaffenheit desselben keine Aufschlüsse erwarten.«117

Hier verschärft sich das Problem der subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Die Daten der Geschichte werden nur fehlerhaft, unvollständig und einseitig überliefert. Für Humboldt ruhen deshalb die daraus abgeleiteten Gesetze auf einem unsicheren Fundament. So ist es seiner Meinung nach zunächst einmal notwendig, durch Selbstbeobachtung der eigenen inneren Kräfte eine sicherere Basis für die Entdeckung der Gesetzmässigkeiten zu gewinnen, da nur diese inneren Kräfte der Erkenntnis des Menschen zugänglich sind. Doch das daraus resultierende Problem, wie nämlich die aufgefundenen Gesetze der individuellen Kräfte auch für den Geschichtsprozess Gültigkeit beanspruchen können, wird von Humboldt nicht gelöst. Der Rückzug auf das Individuum, das das Fundament für die ›wahre‹ Geschichtsphilosophie bilden soll, verunmöglicht diese geradezu, da die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt aus dem Blickfeld geraten. Humboldt glaubt zwar, dass das Individuum sich in jedes lebendige Wesen hineinversetzen und nachvollziehen kann, »wie es wohl sich selbst in sich fühlt«, da es mit ihm »gleichsam verwandt« ist, doch die Grenzen seines Einfühlungsvermögens sind spätestens im Bereich der anorganischen Natur erreicht.118 Um aber, gemäss seiner Aporie, die physische sowie die moralische Welt als Einheit darzustellen, genügt es wohl kaum, die eigenen inneren Kräfte durch Einfühlung und Selbstbeobachtung zu kennen. Die Einflüsse von aussen, denen der Mensch fortwährend ausgesetzt ist, lassen sich mit Humboldts subjektiv-individualistischem Ansatz nicht analysieren – und infolgedessen bleiben auch allenfalls vorhandene Gesetzmässigkeiten in der Menschheitsgeschichte verborgen. Aus dem bisher Gesagten scheint mir die These sehr plausibel zu sein, dass 117 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 45 f. 118 Ibid. S. 49.

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sich Wilhelm in dem Fragment »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« implizit mit der Geschichtsphilosophie Herders auseinandersetzt. Bereits die oben erwähnten Anspielungen Humboldts auf den herderschen Text lassen diese Schlussfolgerung zu. Verfolgen wir das Kernproblem im humboldtschen Entwurf weiter, so wird die Nähe zu Herders »Ideen« noch klarer erkennbar. Es scheint, als ob sich Wilhelm hierbei in seiner Argumentation noch deutlicher auf den Autor der »Ideen« bezieht. Liest man die beiden Texte parallel, so entsteht der Eindruck, als greife Humboldt ganz bewusst die Darstellung des Älteren auf, um sie kritisch zu beleuchten.119 Besonders auffallend ist in dieser Hinsicht, dass er in der auf Seite 117 zitierten Stelle die seiner Meinung nach noch ungelöste Frage aufwirft, ob der besagte Geschichtsforscher das mögliche Ziel der Menschheitsgeschichte »entweder aus der Leitung einer weisen Macht, oder aus der nach ewigen Gesezen ihrer Natur wirkenden Selbstthätigkeit der einzelnen Kräfte« bestimmen könne. Eben diese Dichotomie ist es ja, die Herder in den »Ideen« – insbesondere im fünfzehnten Buch – zu überwinden sucht, indem er sowohl die Natur als auch die Geschichte als von denselben Naturgesetzen gelenkt betrachtet. Wilhelm hingegen stellt diese Analogie wieder in Frage, wenn er die Menschheitsgeschichte alternativ entweder als einen von Naturgesetzen oder als einen von Gott gelenkten Prozess zur Option anbietet. Am deutlichsten sichtbar wird dieser Unterschied zu Herder an der zentralen Stelle des Fragments, wo Humboldt den eigentlichen Zweck seiner beabsichtigten Untersuchung erläutert. Nachdem er die Forderung nach einem noch ausstehenden Nachweis der gesetzmässigen Entwicklung der inneren Kräfte im Menschen – ein Postulat, von dem Herder a priori ausgeht – bekräftigt hat, glaubt Humboldt dennoch die Beweise für eine mögliche Gesetzmässigkeit dieser Kräfte in den »Ereignissen des Menschengeschlechts« finden zu können, indem er sich diese »als eine Menge einzelner Reihen« vorstellt. Diese Reihen können sich gegenseitig modifizieren, berühren, durchkreuzen oder verbinden, aber es 119 Obwohl Eberhard Kessel die Bedeutung der Anthropologie oder Menschenkenntnis im Denken Wilhelm von Humboldts hervorhebt und in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf das frühe Fragment »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« eingeht, scheint er den engen Bezug zwischen diesem Text und Herders »Ideen« nicht gesehen zu haben. Er sieht in Wilhelm von Humboldt den Begründer des Historismus in Deutschland und grenzt ihn vom Rationalismus der Aufklärung ab, ohne jedoch zu erläutern, was er darunter versteht. Offenbar geht es Kessel darum, die Einzigartigkeit und Neuartigkeit von Wilhelms Denken aufzuzeigen. (Siehe: Kessel (1967), S. 81 ff.) Meiner Meinung nach ist es hingegen wichtig, Humboldts Auseinandersetzung mit der Anthropologie und Geschichte vor dem Hintergrund der herderschen Schrift zu sehen, um die Schwierigkeiten von dessen Konzeption begreifen zu können. (Siehe dazu auch die Hinweise von Wolfgang Pross in: Pross (2008), S. 63 f.)

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»lassen sich wohl – wenigstens scheint der Möglichkeit nichts entgegenzustehen, wenn gleich die Ausführung selbst mancherlei erschwert – die Geseze entdekken, nach welchen die einzelnen Theile einer Reihe auf einander folgen, und nach welchen eine jede durch die Berührung einer andren – wofern nur diese gegeben ist – verändert wird, allein unerforschbar menschlicher Einsicht möchten wohl die bleiben, nach welchen das ganze Gewebe sich durch einander verschlingt.«120

Die für den Menschen unmögliche Erkenntnis des »ganzen Gewebes« ist sehr wahrscheinlich eine Replik auf eine Textstelle bei Herder, in der dieser die Gültigkeit der Naturgesetze für die Geschichte der Menschheit herleitet: »Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muss derselbe sein, der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und seine Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt innig verwebt. Auch in ihr müssen also Naturgesetze gelten, die im Wesen der Sache liegen und deren sich die Gottheit so wenig überheben mag, dass sie ja eben in ihnen, die sie selbst gegründet, sich in ihrer hohen Macht mit einer unwandelbaren, weisen und gütigen Schönheit offenbaret.«121

Hier manifestiert sich ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Texten. Bei Wilhelm von Humboldt fehlt jegliche Gewissheit einer göttlichen Ordnung. Anders als Herder kann er sich deshalb auch nicht auf eine »weise Güte im Schicksal der Menschen«122 berufen. Jener ist hingegen davon überzeugt, dass sowohl in der Geschichte als auch in der Natur dieselbe göttliche Ordnung wirksam ist. Mit dieser Überzeugung reiht sich Herder in eine Tradition ein, die auf Lukrez zurückgeht. Beeinflusst von Machiavelli, Bacon und Spinoza weisen seine »Ideen« deshalb auch deutlich nichtchristliche Züge auf. Besonders seine Auffassung, dass Gott in der Natur tätig ist und sich nicht mehr über die anfänglich von ihm festgelegten Naturgesetze »überheben mag«, rückt ihn in gefährliche Nähe zu Spinoza. Humboldt versucht jedoch, die Beweise für die gesetzmässig wirkenden Kräfte des Menschen in der Geschichte zu finden. Dieses Vorhaben muss aber scheitern, da er bald an die Grenzen menschlicher Erfahrbarkeit stösst. Anders als Herder kann er sich nicht auf eine höhere Macht berufen, die in der Natur zum Ausdruck kommt und sich erst im Rückblick auf die Geschichte erkennen lässt. Humboldts Forderung nach Tiefe und Genauigkeit der Untersuchung lässt Gott als Legitimation für die Annahme einer geordneten Welt nicht mehr gelten. Mehr noch, für ihn ist eine natürliche Gesetzmässigkeit selbsttätiger Kräfte grundsätzlich nicht vereinbar mit einem 120 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 52. Über den Begriff der Reihe bei Humboldt und Herder siehe unten auf Seite 126 ff. 121 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 612. 122 Ibid.

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göttlichen Determinismus. Darin weiss er sich einig mit Friedrich Heinrich Jacobi, der Herders Kompromiss zwischen einem System von Endursachen und einem System der bloss wirkenden Ursachen nicht akzeptieren kann.123 Wie diesem bleibt auch für Humboldt der Glaube an eine göttliche Providenz unvereinbar mit seinem evolutionären Menschenbild. Deshalb schlägt er bereits zu Beginn seines Entwurfs alternativ vor, den Gang des Menschengeschlechts entweder »aus der Leitung einer weisen Macht« oder »aus der nach ewigen Gesezen ihrer Natur wirkenden Selbstthätigkeit der einzelnen Kräfte«124 zu betrachten. Diese für Wilhelm unvereinbare Dichotomie bildet eine grundlegende Kritik an Herders »Ideen«.125 Herder hingegen setzt aufgrund des von Gott geschaffenen vollkommenen Weltganzen die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte der Natur in Analogie. Dies gelingt ihm mühelos, weil er den Kulturprozess der Menschheit, der sich gemäss seiner Theorie stufenweise höher entwickelt, als von Beginn an in der Natur des Menschen angelegt annimmt.126 Gerade weil der Mensch nur einen Teil des »Gewebes« ausmacht, gelingt seine Integration in die Natur, wo123 In der zweiten Auflage »Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn« von 1789 entgegnet Jacobi den Ausführungen Herders in »Gott. Einige Gespräche«: »Eine nicht mechanische Verkettung ist eine Verkettung nach Absichten oder vorgesetzten Zwecken. Sie schliesst die wirkenden Ursachen, folglich Mechanismus und Notwendigkeit nicht aus, sondern hat allein zum wesentlichen Unterschiede, dass ihr das Resultat des Mechanismus, a l s B e g r i f f vorhergeht, und die mechanische Verknüpfung durch den Begriff, und nicht, wie in dem andern Falle, der Begriff I M Mechanismus gegeben wird. Dieses System wird das System der Endursachen, oder der vernünftigen Freiheit genannt. Jenes, das System der bloss wirkenden Ursachen, oder der Naturnotwendigkeit. Ein drittes ist nicht möglich, wenn man nicht zwei Urwesen annehmen will.« (Jacobi (2000), S. 250.) 124 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 44. 125 Siehe dazu auch: Leroux (1932), S. 231. Auch Leroux hält es für möglich, dass sich Wilhelm von Humboldt im Fragment »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« polemisch mit Herders »Ideen« auseinandersetzt. Er lässt es aber in diesem Werk beim Hinweis auf Humboldts Zustimmung zu Jacobis Kritik an Herders Geschichtsphilosophie beruhen, ohne weiter auf die besagten Texte einzugehen. In einem späteren Aufsatz nimmt Leroux seine These wieder auf und unterstreicht, allerdings wieder ohne genauere Interpretation des humboldtschen Textes, die Analogie zwischen Herders und Humboldts Geschichtsphilosophie. (Vgl. dazu: Leroux (1934), S. 145 – 166.) Den Hauptunterschied sieht er auch hier in Herders Glaube an einen göttlichen Plan, der aber gleichzeitig dessen Auffassung einer quasi naturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit widerspreche. Demgegenüber löse Humboldt das Problem der Unvereinbarkeit von Providenz und natürlicher Entwicklung der Menschheit, die auch den Zufall zulässt, indem er Ersteres ablehne. Auf diese Weise merze Wilhelm den Irrationalismus in der herderschen Philosophie aus und liefere ein kohärentes und logisches Konzept einer Geschichtsphilosophie. Leroux lässt aber völlig ausser Acht, dass Humboldt nie eine ausgereifte Geschichtsphilosophie verfasst hat. Meiner Meinung nach liegen die Gründe für den fragmentarischen Charakter seiner Versuche gerade in deren Inkohärenz und Widersprüchlichkeit! 126 Zu Herders Kulturstufentheorie siehe auch: Häfner (1995).

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hingegen Wilhelm von Humboldt das »Gewebe« aller Reihen als dem Menschen nicht erfassbares Chaos begreift. Herder ist es damit möglich, die Entwicklung des Menschen und die Menschheitsgeschichte als einen von Gott initiierten naturgegebenen Prozess zu begreifen, für den – und darin besteht Herders ›gefährlicher‹ Kunstgriff – auch die Naturgesetze, die der menschlichen Erfahrung zugänglich sind, Gültigkeit haben.127 Nicht eine abstrakte göttliche Macht, die nur mithilfe der Vernunft erkannt oder zumindest geahndet werden kann, sondern ein in der Natur – auch in der des Menschen und seiner Geschichte – wirkender Gott bestimmt das Schicksal der Welt. Und anstelle dieser göttlichen Macht lässt sich gemäss Herder genauso gut von der Natur sprechen.128 Der Mensch als natürliches, organisches Wesen handelt deshalb nicht nach den abstrakten Gesetzen einer von Gott festgesetzten Moral, sondern lediglich nach natürlichen Gesetzen. Seine Verhaltensweisen und kulturellen Hervorbringungen – und somit auch seine Geschichte – sind demnach ›naturgemäss‹. So schlägt Herder beispielsweise vor, die Geschichte des Römischen Reiches als Entwicklung eines lebendigen Organismus zu betrachten: »Bei dieser Betrachtung verschwindet alle sinnlose Willkür auch aus der Geschichte. In ihr sowohl als in jeder Erzeugung der Naturreiche ist Alles oder Nichts Zufall, Alles oder Nichts Willkür. Jedes Phänomenon der Geschichte wird eine Naturerzeugung und für den Menschen fast die Betrachtenswürdigste von allen, weil dabei so viel von ihm abhangt und er selbst bei dem, was ausser seinen Kräften in der grossen Übermacht der Zeitumstände liegt, bei jenem unterdrückten Griechenlande, […] obwohl in bittern Schalen den nutzbarsten Kern findet. Die einzige Philosophische Art, eine Geschichte anzuschauen, ist diese; alle denkenden Geister haben sie auch unwissend geübet.«129

Als Grundlage für diese Auffassung des Menschen als natürliches Wesen dient ihm dessen Notwendigkeit, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Denn in den natürlichen Bedürfnissen, vornehmlich demjenigen der Selbsterhaltung, und den von der Natur zu deren Befriedigung hervorgebrachten Mitteln sieht er ein für alle Zeiten, in allen Erdstrichen und in allen Völkern gültiges inhärentes Prinzip des Menschen. Mit dieser Aufwertung der Adiaphora, die bei Herders Geschichtsphilosophie eine wichtige Rolle spielen, distanziert er sich von der Annahme, dass die Menschheit einem von Gott bestimmten Idealzustand entgegensteuert, welcher unabhängig von der Natur des Menschen existieren soll.130 127 Siehe zu Herders Analogiesetzung der Naturgesetze mit den Gesetzen der Menschheitsgeschichte den einleitenden Kommentar zu Buch XV von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband. 2. S. 723 ff. Ebenfalls zu diesem Thema: Pross (1999b), S.187 – 225. 128 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 15. 129 Ibid. S. 573. 130 Mit dieser Aufwertung der Adiaphora geht Herder auf Distanz zu einer Geschichtsphilo-

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Denn der Impuls für die Entwicklung des Menschen liegt in ihm selbst und ist durch die Triebe festgesetzt. Herder führt diesen Gedanken, den er von Antoine Court de G¦belin aus dessen »Monde primitif« übernimmt,131 in seinen »Ideen« noch weiter aus, indem er die Selbsterhaltung als das für alle Lebewesen bestimmende Prinzip betrachtet.132 Dabei setzt er die Vernunft des Menschen analog zum Instinkt der Tiere – womit erneut die Naturgesetze ihre Gültigkeit auch für den Menschen beanspruchen dürfen. Ausgehend von dieser Anbindung der menschlichen Vernunft an die Natur ist es Herder möglich, die Menschheitsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Gesetzmässigkeit zu sehen. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit wird zur Naturgeschichte, mit der weitreichenden Konsequenz, dass trotz unvollständiger Daten der Historiografie die in der Geschichte wirkenden Gesetze erkannt und die Lücken in den Reihen der Begebenheiten ausgefüllt werden können. Gerade diese Analogie der Gesetzmässigkeiten wird nun bei Wilhelm von Humboldt kritisch beleuchtet. Zwar geht auch er davon aus, dass in allen Menschen im Ganzen genommen dieselben Kräfte wirksam sind. Die Notwendigkeit ihrer Erhaltung bringt dieselben Bedürfnisse hervor und aus deren Befriedigung entstehen wiederum dieselben Neigungen, Begierden und Leidenschaften. Die Gleichförmigkeit dieser Kräfte zieht somit auch eine Gleichförmigkeit ihrer Wirkungen nach sich. Humboldt greift damit die grundlegende herdersche Konstante der Humanität auf. Die Parallele seiner Argumentation zu der in den »Ideen« geht sogar noch weiter, indem er vorerst ebenfalls versucht – wie er zu Beginn des Fragmentes bereits angedeutet hat –, die Beweise für die Gesetzmässigkeit der inneren Kräfte des Menschen in der Geschichte zu finden.133 Doch gleich im Anschluss an die unten in Fussnote 133 zitierte Textstelle zieht er dieses Postulat selbst wieder in Zweifel:

sophie, wie sie beispielsweise Iselin, Kant oder Mendelssohn konzipieren. (Siehe dazu auch: Pross (2009).) 131 G¦belin (1774 – 1782). Zu Herders Beschäftigung mit Court de G¦belin siehe den Aufsatz von: Pross (2003), S. 64 ff. 132 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 284 f. 133 »Nun sind die Kräfte des Menschen im Ganzen genommen dieselben, die Nothwendigkeit ihrer Erhaltung bringt dieselben Bedürfnisse hervor, und aus diesen, wie aus dem angenehmen Gefühl ihrer Befriedigung entspringen ohngefehr dieselben Neigungen, Begierden und Leidenschaften. Eben so hat auch die übrige Natur immer und überall im Ganzen einen gleichen Vorrath von Mitteln, den Bedürfnissen des Menschen zu genügen. Wie ihre Natur, so bleibt auch der gegenseitige Einfluss dieser Eigenschaften sich gleich. So lässt die Gleichförmigkeit der Kräfte, als der Ursachen, auf eine Gleichförmigkeit der Wirkungen, der Ereignisse des Menschengeschlechts, schliessen. Eine andre Bestätigung dieses Schlusses liesse sich aus der Geschichte selbst hernehmen.« (Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 47.)

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»Allein so wichtig und nothwendig ihr Zeugniss [der Geschichte] bei dem ganzen Gegenstande bleibt, den ich behandle; so vermeide ich doch mit Fleiss, die eigentlichen Beweise in ihr zu suchen, vorzüglich hier bei der Prüfung der Ausführbarkeit meines Unternehmens, wo es am wichtigsten ist, nicht durch Irrthümer getäuscht zu werden. Denn wenn unsre Geschichte auch einen grösseren Zeitraum umfasste, wenn ihr Zusammenhang durch weniger Lükken unterbrochen wäre, und ihre Gewissheit weniger Zweifel litte, als es überhaupt der Fall ist; so würde es dennoch immer dem Schlusse von dem, was geschehen ist, auf das, was geschehen wird, von dem Gewöhnlichen auf das Nothwendige an Zuverlässigkeit mangeln.«134

Diese Zurücknahme der zuvor geäusserten scheinbaren Gewissheit vorhandener gleichförmiger Kräfte in der Geschichte zwingt nun Humboldt dazu, die Aussagekraft seiner geplanten Untersuchung noch stärker zu relativieren. Denn im Unterschied zu Herder, der die Gesetzmässigkeiten in der Geschichte nur a posteriori erkennt, möchte Wilhelm die gesuchten Gesetze auch auf die Zukunft anwenden können.135 Bereits vorher war er gezwungen, aufgrund der subjektiven Wahrnehmung des Menschen die Suche nach den Gesetzmässigkeiten »im Gange der menschlichen Begebenheiten«, aus denen die – nur mangelhaft überlieferte – Geschichte resultiert, auf die eigenen inneren Kräfte des Individuums zu beschränken. Da aber infolgedessen die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte weder auf beobachtbare Naturgesetze noch auf historische Fakten oder auf die Offenbarung einer Religion gegründet werden können, bleibt Wilhelm von Humboldt letztlich nur der Rückzug auf die Selbstbeobachtung der eigenen inneren Kräfte. Deren Ergebnisse dürfen jedoch kaum Allgemeingültigkeit beanspruchen und erscheinen somit als Fundament für eine Geschichtsphilosophie fragwürdig. Das Dilemma, in welches er sich mit seinem Lavieren zwischen einer Ablehnung der herderschen Geschichtsphilosophie und einem trotzdem daran angelehnten Monismus hineinmanövriert, kommt an einer Stelle besonders deutlich zum Ausdruck. Nachdem er, wieder in Anlehnung an Herder, die Ereignisse der Menschheitsgeschichte mit einer Menge einzelner Reihen verglichen hat, entzieht er einige Zeilen weiter unten seinem bis anhin geschilderten Vorhaben jegliches Fundament: »Denn diese Reihen sind – wie schon der Zusammenhang des Vorigen hinlänglich zeigt – nicht eigentlich Reihen der Begebenheiten, sondern der physischen, intellektuellen, und moralischen Kräfte der, durch den gegenseitigen Einfluss dieser Kräfte mit einander verbundenen Generationen; der Begebenheit sind sie es nur insofern, als diese reine Wirkungen jener Kräfte sind. Die Geseze, deren Aufsuchung uns beschäftigt, werden demnach eigentlich nur für die Kräfte bestimmt sein, und auf die Schiksale des Menschengeschlechts überhaupt nur Anwendung finden 1. insofern die Fortschritte 134 Ibid. 135 Siehe dazu auch Pross (2008), S. 63 f.

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einer Generation rein und ganz auf die folgende übergehen, 2. insofern die Begebenheiten selbst reine Wirkungen jener Kräfte sind. Keine dieser beiden Bedingungen, am wenigsten beide zugleich treffen auch nur Einmal in der wirklichen Welt ein; denn alle Kräfte, folglich auch die uns unerforschbaren, sind in unaufhörlicher Wirksamkeit, und alles steht wiederum in einem unzertrennbaren Zusammenhange.«136

Wie ist unter solchen Voraussetzungen eine Philosophie der Geschichte der Menschheit denkbar, wie soll uns unter diesen Umständen die Geschichte Aufschluss über die Gesetze menschlicher Kräfte geben können? Da die historischen Ereignisse in Wirklichkeit nie reine Wirkungen ihrer zugrunde liegenden Kräfte sind, diese Kräfte aber unaufhörlich wirken und im Zusammenhang mit dem Ganzen der Natur stehen, ist selbst eine Analyse der einzelnen Kräfte gar nicht mehr durchführbar – und somit ist auch ihre Betrachtung als Reihen unzulässig. Denn zugleich soll das Ganze aller zusammenwirkender Kräfte mehr sein als die blosse Summe der einzelnen Kräfte, was deren Trennung, welche Wilhelm vordem als Voraussetzung für eine Untersuchung postuliert hat, verunmöglicht. Sein eigentliches, wenn auch unausgesprochenes Vorhaben, eine ›wahre‹ Philosophie der Geschichte der Menschheit zu schreiben, die zunächst die physischen, intellektuellen und moralischen Kräfte ergründet, um danach deren Wechselbeziehung mit der Kultur und Geschichte der Menschheit darzustellen, ist infolgedessen von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Zu gross ist aufgrund von Wilhelms dargelegten Einschränkungen die Kluft zwischen dem Individuum, welches letztlich nur noch mithilfe der – rein subjektiven – Selbstbeobachtung erfahrbar wird, und der es umgebenden Umwelt. Der Zusammenhang des Naturganzen kann unter diesen Bedingungen kaum noch überzeugend aufgezeigt werden. Die starke Fokussierung auf das Individuum, die sich bereits in Humboldts Auseinandersetzung mit Campes Bildungskonzept abgezeichnet hat, führt ihn in einen ausweglosen Konflikt. Nicht so bei Herder. Nach seiner Theorie lassen sich die Gesetze der menschlichen Kräfte zwar nicht ihrem Wesen nach bestimmen, aber ihre Wirkungen, die für den Menschen beobachtbar sind, lassen sich dereinst sogar mathematisch berechnen. Für ihn ist der Fortgang der inneren Natur des Menschen unzweifelhaft gegeben und er lässt sich gerade auch aus der Geschichte ersehen. Wiederum setzt er diese Gesetzmässigkeiten in der Geschichte denjenigen in der Natur analog: »Erweiterte er [der Mensch] seinen Blick und vergliche nur die Zeitalter, die wir aus der Geschichte genauer kennen, unparteiisch mit einander ; dränge er überdem in die Natur des Menschen und erwäge, was Vernunft und Wahrheit sei, so würde er am Fortgange derselben so wenig als an der gewissesten Naturwahrheit zweifeln. Jahr136 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 53. [Hervorhebungen des Autors.]

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tausende durch hielt man unsre Sonne und alle Fixsterne für stillstehend; ein glückliches Fernrohr lässt uns jetzt an ihrem Fortrücken nicht mehr zweifeln. So wird einst eine genauere Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte unseres Geschlechts uns diese hoffnungsvolle Wahrheit nicht nur obenhin zeigen, sondern es werden sich auch, Trotz aller scheinbaren Unordnung, die Gesetze berechnen lassen, nach welcher Kraft der Natur des Menschen dieser Fortgang geschiehet.«137

In der Welt also, die dem Menschen nur kontingent erscheint und welche Humboldt in der Gesamtbetrachtung als der »menschlichen Einsicht unerfassbar« beschreibt, wirken Kräfte, die sich laut Herder als Reihen darstellen und berechnen lassen. Dadurch eröffnet sich dem Geschichtsphilosophen die Möglichkeit, zurückliegende Ereignisse der Menschheitsgeschichte, die nicht oder nur unvollständig überliefert wurden, mithilfe der rückblickend feststellbaren Gesetzmässigkeiten zu ergänzen und die Geschichte universal zu erfassen. Herders Zuversicht, die »Zusammenhaltung der Perioden in der Geschichte« entdecken zu können, beruht unter anderem auf den Ausführungen in der »Anlage zur Architectonic« aus dem Jahre 1771.138 Deren Autor, Johann Heinrich Lambert, erwähnt Herder explizit an mehreren Stellen der »Ideen«. Ob aber auch Wilhelm von Humboldt Lamberts Schrift kannte, halte ich eher für unwahrscheinlich, obwohl einige Passagen in seinem Fragment »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« an dessen Reihentheorie anklingen, so etwa, wenn er die Anwendbarkeit der gesuchten Gesetze der inneren Kräfte auf die wirkliche Welt negiert.139 Interessant ist jedoch, dass er mit dem Begriff der Reihe einen Schlüsselbegriff der herderschen Geschichtsphilosophie aufgreift. Ausgehend von d’Alemberts »Discours pr¦liminaire« in der »Encyclop¦die« überträgt Herder den mathematischen Begriff der Reihe, der die logischen Zusammenhänge der Folgesätze mit dem zugrundeliegenden Axiom bezeichnet, auf die Geschichtsphilosophie. Beim Mathematiker d’Alembert bezeichnen solche Reihen zunächst nur die Metamorphosen einfacher Sätze in komplexe 137 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 604. [Hervorhebung von mir.] 138 Siehe dazu die Ausführungen von Wolfgang Pross in seinem Kommentar zu Seite 595 in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2. S. 760 – 765. 139 Zum Beispiel spricht auch Lambert in § 922 von der Unmöglichkeit, in der wirklichen Welt Reihen zu finden: »Ist hingegen das Gesetz, nach welchem die Reihe fortgeht, von Glied zu Glied einerley, so dass man von A eben so auf B schliessen kann, wie von B auf C, von C auf D etc. so ist die Reihe unstreitig, s o l a n g e m a n v o n j e d e r ä u s s e r n U r s a c h e a b s t r a h i r t , vor und nach unendlich. Uebrigens ist hiebey allerdings mit anzumerken, d a s s , w o v o n w i r k l i c h e n Ve r ä n d e r u n g e n d i e R e d e i s t , i n d e r w i r k l i c h e n We l t k e i n e R e i h e g e f u n d e n w e r d e , wo die Veränderung von Glied zu Glied durchaus einerley sey, weil d i e w i r k e n d e n U r s a c h e n v i e l z u s e h r d u r c h e i n a n d e r l a u f e n , a l s d a s s d i e s e s s t a t t h a b e n k ö n n t e . « (Lambert (1771), S. 558 f.) [Hervorhebungen von mir.]

Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«

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Theoreme, die sich aber mithilfe strenger Analyse auf die Grundaxiome zurückführen lassen: »Consid¦r¦s sans pr¦jug¦, ils [les th¦orÀmes math¦matiques] se r¦duisent — un assez petit nombre de v¦rit¦s primitives. Qu’on examine une suite de propositions de G¦om¦trie d¦duites les unes des autres, en sorte que deux propositions voisines se touchent imm¦diatement & sans aucun intervalle, on s’appercevra qu’elles ne sont toutes que la premiÀre proposition qui se d¦figure, pour ainsi dire, successivement & peu-—-peu dans le passage d’une cons¦quence — la suivante, mais qui pourtant n’a point ¦t¦ r¦ellement multipli¦e par cet encha„nement, & n’a fait que recevoir diff¦rentes formes.«140

Die Anwendbarkeit mathematischer Axiome auf die Philosophie der Geschichte war jedoch während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein kontrovers diskutiertes Thema. Denn der Unterschied zwischen den Grundlagen der physikalisch-mathematischen Wissenschaften und den sich im Aufschwung befindenden anthropologischen Disziplinen schien für viele, auch für d’Alembert selbst, unüberbrückbar zu sein.141 Die Konsequenz aber, die nun aus Herders Überwindung dieser Kluft folgte, indem die Geschichte der Menschheit als Teil der Naturgeschichte behandelt wurde, erschreckte die Zeitgenossen, da die Eliminierung des Zufalls in der Geschichte durch die rigorose Anwendung der Naturgesetze den einzelnen Menschen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden liess. Vor diesem Hintergrund wird begreiflich, wieso Wilhelm von Humboldt gerade das Subjekt in den Mittelpunkt seiner geplanten geschichtsphilosophischen Arbeit stellen wollte. Die individuelle und harmonische Ausbildung des Charakters sollte seiner Meinung nach das primäre Ziel jedes Einzelnen sein. Dazu bedarf es allerdings einer grösstmöglichen Freiheit bei der Entfaltung der inneren Kräfte. Ist diese gewährleistet, so kann der Mensch seine Geschicke selbst gestalten und den Fortgang der Geschichte beeinflussen. Die Freiheit des Geistes, die für Humboldt stets Voraussetzung für die politische Freiheit ist, schien nun 140 Diderot (1751), Tome 1, S. VIII. [»Ohne Vorurteil betrachtet, beschränken sie [die mathematischen Theoreme] sich auf eine sehr geringe Zahl einfacher Wahrheiten. Wenn man eine Folge von Lehrsätzen aus der Geometrie, die einen aus den anderen abgeleitet, so dass sich zwei benachbarte Lehrsätze unmittelbar und ohne Zwischenraum berühren, überprüft, wird man erkennen, dass sie nichts anderes sind als der erste Lehrsatz, der sich sozusagen sukzessive und langsam im Übergang von einer Schlussfolgerung zur nächsten verändert, dabei aber in dieser Verkettung nicht wirklich vervielfacht worden ist und nichts als verschiedene Ausformungen erhalten hat.«] 141 Bereits Diderot, der Mitarbeiter d’Alemberts an der »Encyclop¦die«, wendet dessen mathematisches Axiom in seinem Artikel »Liaison« auf die gesamte anorganische und organische Welt an. Herder kannte diesen Artikel nachweislich. Zur Bedeutung von Diderots Gebrauch der Reihen siehe den Kommentar von Wolfgang Pross In: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2. S. 726 – 732.

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durch die Naturalisierung der Menschheitsgeschichte gefährdet. Obwohl auch er immer betonte, dass die intellektuellen und moralischen Kräfte an die Sinne des Menschen gebunden sind, gestand er ihnen eine gewisse Autonomie zu. Hier tritt das Problem zwischen Norm und Kontingenz in neuer Gestalt wieder auf. Die Verknüpfung der geistigen Kräfte mit den sinnlichen ist für Humboldt letztlich ebenso problematisch wie diejenige zwischen einer göttlichen Providenz mit der Selbsttätigkeit der Natur. Jener Dualismus zwischen Körper und Geist, den Herder mit seinem monistischen Konzept konsequent eliminierte, tritt also bei Wilhelm erneut hervor. Die Gründe dafür dürften nicht nur in seiner Angst vor der Tragweite einer naturalisierten Geschichtsphilosophie liegen, sondern auch in seiner damaligen Kantlektüre. Herders Betrachtung des Naturganzen als »Reich aufsteigender Formen und Kräfte«, die sich analog zum »sichtbaren Reich der Schöpfung« auch im »unsichtbaren Reich« fortsetzen und mit diesem im Zusammenhang stehen,142 provozierte bei seinem ehemaligen Lehrer heftige Kritik. Kant polemisierte gegen die Analogiebildung der »geistigen Natur der menschlichen Seele« mit den »Naturbildungen der Materie« und er bestritt die »mindeste Ähnlichkeit«.143 Mir erscheint es plausibel, dass Kants diffamierendes Urteil über Herders »Ideen« hier seine Wirkung auch bei Wilhelm von Humboldt zeigt. Die Autorität des Königsberger Philosophen hinderte ihn wohl daran, seine frühen Pläne zur Geschichtsphilosophie und Anthropologie konsequent weiterzudenken.144 Vielmehr versuchte er einen Brückenschlag zwischen Kants »Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«145 und Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, um sowohl sein monistisches Menschenbild als auch die These einer unabhängigen inneren Kraft zu ›retten‹. Kant fasste die Entwicklung des menschlichen Geistes unabhängig von der ›tierischen‹ Natur auf und postulierte, dass die Menschheit, geleitet von der göttlichen Vernunft, einem Idealzustand entgegenstrebt. Humboldts Versuch, 142 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 154 ff. 143 Kant (1968). Rezension zu Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. XII. S. 790 f. 144 Ein paar Jahre später fand Humboldts intensive Beschäftigung mit Kant in Friedrich Schlegel einen besorgten Kritiker. In einem Brief an seinen Bruder August Wilhelm moniert er : »Schiller und Humbold pfuschen viel in der Metaphysik, aber sie haben den Kant nicht verdaut, und leiden nun an Indigestion und Kolik.« (Schlegel (1890), S. 235. 69. Brief vom 17. August 1795.) Schlegel hegte die Befürchtung, dass Wilhelm von Humboldt im Umgang mit Schiller und dessen Freunden in Jena und Weimar seinen eigenen Standpunkt verlieren könnte, da er es jedem recht machen möchte. (ibid. S. 211 f . 60. Brief vom 20. Januar 1795.) 145 Kant (1968). Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Bd. XI. S. 31 ff

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Kants dualistische Sichtweise von Natur und Geist mit Herders monistischer Konzeption der Natur zu verknüpfen, musste aber zwangsläufig scheitern.146 Ein universaler Monismus, wie ihn Herder entwarf, liess sich nicht mit Kants metaphysischem Entwurf der Geschichte verbinden.147 Stattdessen verhedderte sich Wilhelm in ausweglose Widersprüche, die ihn zu nicht zu verstehenden Aussagen führten, wie etwa folgender Satz demonstriert: »Da nun einzelne Begebenheiten auch den Fortschritten der Kräfte oft sehr unerwartete Wendungen geben, und jene Begebenheiten den entdekten Gesezen nur sehr wenig unterworfen sein dürften; so wird die Anwendung derselben, auch auf die Kräfte, viele Ausnahmen leiden.«148

Die Konsequenz dieses Dilemmas war, dass Wilhelm von Humboldt sein geplantes Vorhaben, die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte zu analysieren, nie ausführte. Es bildet jedoch den Anfang zahlreicher – erfolgloser – Versuche, ein Werk zu verfassen, das seinem Ziel gerecht werden würde, nämlich: »Das Studium der physischen Natur nun mit dem der moralischen zu verknüpfen, und in das Universum, wie wir es erkennen, eigentlich erst die wahre Harmonie zu bringen.«149

Auch in den späteren anthropologischen und geschichtsphilosophischen Werken unternahm Wilhelm von Humboldt immer wieder den Versuch eine Methode zu finden, die zwischen den empirischen Naturwissenschaften und der Philosophie vermitteln konnte. Weder wollte er sich zu sehr auf die physischen Grundlagen des Menschen einlassen noch mithilfe der reinen Spekulation einen Ausweg finden. Was ihm vorschwebte, war das Verfolgen eines Mittelweges, der sowohl die Physis als auch die geistigen Kräfte des Menschen berücksichtigte. Trotzdem beschäftigte er sich in den folgenden Jahren bis 1794, im Kreise Schillers und Goethes, mit denen er nun intensiveren Umgang pflegte, mehr theoretisch mit Fragen zur Bildung des Menschen. Aus dieser Zeit stammt zum Beispiel das Fragment über die »Theorie der Bildung des Menschen«,150 in dem 146 Auch Robert Leroux konstatiert den Einfluss Kants auf das Denken Wilhelm von Humboldts und macht in dem Fragment »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« einen kantischen Dualismus zwischen der Ordnung der Natur und der Moral aus. Allerdings weist Leroux nicht darauf hin, dass gerade diese Annäherung an Kant Humboldts Intention, eine monistische Konzeption zu entwerfen, untergräbt. (Leroux (1934), S. 164.) 147 Siehe dazu auch: Pross (2008), S. 63 f. 148 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 53. 149 Humboldt, W. (1939), S. 61. (27. Brief vom 18. März 1793.) 150 Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 234 – 240.

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Wilhelm erörtern möchte, nach welchem Massstab sich die Bildung einer Person, einer Nation oder eines Zeitalters beurteilen lässt. Doch verlässt hier Humboldt den vorher eingeschlagenen Weg einer gleichzeitig empirischen, historischen und philosophischen Analyse des Menschen, um allgemein über das Ziel und die Perfektibilität der Bildung nachzudenken. Das von Leitzmann in das Jahr 1793 datierte Bruchstück151 wird von Flitner und Giel nicht ohne Grund in die Jenaer Zeit von 1794 oder 1795 eingeordnet.152 Denn einen wichtigen Aspekt dieser Schrift stellt die Beziehung des Menschen zur Aussenwelt dar – oder in Wilhelm von Humboldts Terminologie: die Wechselwirkung zwischen Mensch und NichtMensch. Dass diese Beziehung hier so sehr in den Vordergrund tritt und die Basis bilden soll für eine allgemeine Übersicht und Beurteilung der Wissenschaften, dürfte mit dem Erscheinen Johann Gottlieb Fichtes in Jena 1794 in direktem Zusammenhang stehen. Obwohl Fichtes Einfluss auf Humboldts Bildungstheorie eher gering gewesen sein dürfte, fand Wilhelm, im Gegensatz zu Schiller, sehr lobende Worte für den jungen Philosophen. In einem Brief an Brinkmann bewundert er »seinen grossen speculativen Kopf« und findet in seiner Wissenschaftslehre »ausserordentlich gute Ideen«.153 Aber trotz dieser Anerkennung wurde Humboldt kein Anhänger Fichtes,154 sondern bemühte sich schon bald wieder auf einer empirischen Grundlage, so wie es auch Herder gefordert hatte, die Entwicklung des Menschen und des Menschengeschlechts zu untersuchen. Erneut gewannen deshalb Herders »Ideen« grösseren Einfluss auf diejenigen Werke Wilhelms, die in Alexander von Humboldts, Loders und Goethes Umkreis entstanden. Doch das von Anfang an schwierige Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen den herderschen und humboldtschen Texten, wel-

151 Leitzmann ist der Ansicht, dieses Fragment, das er erstmals 1903 unter dem besagten Titel veröffentlichte, stehe in engem Zusammenhang mit Humboldts Plan, eine über Herder hinausgehende Philosophie der Menschenbildung zu schreiben. Deshalb rückt er es zeitlich in die Nähe zu dem auf Seite 113 f zitierten Brief an Brinkmann vom 19. Dezember 1793, in dem sich Humboldt so respektlos über Herders »Ideen« auslässt. (Humboldt, W. (1903 – 1939), 1. Bd., S. 434.) Der theoretische Ansatz dieses Textes spricht aber meiner Meinung nach nicht für einen direkten Einfluss von Herders »Ideen«. Vielmehr widerspricht der spekulative Charakter geradezu dessen Versuch, die Menschheitsgeschichte an die Naturgeschichte anzubinden. Eine Vorgehensweise, die Wilhelm im Übrigen schon bald wieder zu beherzigen versuchte. 152 Siehe den Kommentar von Andreas Flitner und Klaus Giel in: Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 318 ff. 153 Humboldt, W. (1939), S. 79. (39. Brief vom 3. November 1794.) 154 Aus Paris schrieb Humboldt später an Goethe: »Was Ihnen hier zu nicht geringem Troste gereichen würde, ist, dass man so erstaunlich sicher vor dem I c h und dem N i c h t - I c h herumgeht, als wären diese furchtbaren Gespenster gar nicht in der Welt. Fichte’s alter Thurm am jenaischen Stadtgraben kommt mir ordentlich manchmal wie ein Feenschloss vor.« (Bratranek (1876), S. 54. Brief vom Frühjahr 1798.)

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che auf das Fundament einer einzigen Lebenskraft aufbauten, blieb weiterhin problematisch. Aber wenden wir uns zunächst noch der Rezeption von Herders Werken durch Alexander von Humboldt zu – einer Rezeption, die noch schwieriger nachzuweisen ist als diejenige durch seinen Bruder Wilhelm.

II.3.b) Herder und Alexander von Humboldt In Kapitel I.1.b) haben wir gesehen, dass Alexander von Humboldt sich bereits vor seiner Begegnung mit dem Botaniker Karl Ludwig Willdenow im Jahre 1788 für Pflanzensammlungen und Pflanzenbestimmung interessierte, möglicherweise auch schon für Pflanzengeografie und Physiognomik der Pflanzen. Langsam reifte in ihm die Idee, ein Werk zu verfassen, das nicht nur einzelne Pflanzen bestimmen und beschreiben, sondern auch ihre Migration, Verbreitung und historische Entwicklung berücksichtigen sollte. Gedanken zu seinem Vorhaben erfahren wir zum Beispiel aus einem Brief an den Zürcher Botaniker Paul Usteri vom Herbst 1791155 oder aus seiner 1793 erschienenen »Florae Fribergensis specimen«.156 Die Möglichkeit, dass Humboldt neben Zoellner, Haenke und Willdenow auch durch Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« zu seinen Pflanzenstudien angeregt wurde, habe ich in jenem Kapitel ebenfalls kurz erwähnt.157 Herders möglichen Einfluss auf den jüngeren von Humboldt lässt sich bereits an Äusserlichkeiten festmachen. Auffallend ist nämlich, dass sich Alexander in zwei seiner späteren botanischen Werke, die die Flora nicht nach der Methode von Linn¦ zu klassifizieren, sondern sie nach »ihrer Allgemeinheit der Ansichten über die Lebensformen«158 einzuordnen versuchten, schon in der Titelgebung stark an Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« anlehnte. Zum einen ist hier der Essay »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse«159 zu nennen. Diesem liegt eine Vorlesung an der Preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin zugrunde, welche Humboldt am 3. Januar 1806 ge-

155 Brief Alexander von Humboldts an Paul Usteri vom Herbst 1791. In: Jahn / Lange (1973), S. 163 f. (Brief Nr. 92.) Zitiert auf Seite 44. 156 Humboldt, A. (1793), § 11. S. 178, Anm. ***. Zitiert auf Seite 44 f. 157 Vgl. auch: Hey’l (2007), S. 255 f. 158 Humboldt, A. (1987 – 1997). Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Erläuterungen und Zusätze. Bd. V. S. 294. 159 Alexander von Humboldt: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tübingen: Cotta 1806.

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halten hatte. Später bildete dieser Essay einen wichtigen Teil seiner »Ansichten der Natur«. Mit dem zweiten Werk sind die »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer«160 gemeint, einer deutschen Übersetzung des »Essais sur la g¦ographie des plantes«,161 der den 27. Band der »Grande Êdition« von Humboldts »Voyage aux r¦gions ¦quinoxiales du Nouveau Continent« bildet. Aber einen noch früheren Hinweis auf einen an Herders Werk angelehnten Titel finden wir bereits in einem Brief an den Mathematiker Johann Friedrich Pfaff. Ende 1794 schildert darin Alexander von Humboldt, zu dieser Zeit Bergrat im fränkischen Goldkronach, ein Vorhaben, für dessen Realisierung er bereit war, zwanzig Jahre seines Lebens zu investieren: »Ich arbeite an einem bisher ungekannten Theile der allgemeinen Weltgeschichte. Wollte nemlich nach dem Cleomedes sein s}stgla ]n o}qamo} wa_ c/r wa_ t_m ]m tomt_ vmse_m162 gewinnen. Das Buch soll in 20 Jahren unter dem Titel: ›Ideen zu einer künftigen Geschichte und Geographie der Pflanzen oder historische Nachricht von der allmäligen Ausbreitung der Gewächse über den Erdboden und ihren allgemeinsten geognostischen Verhältnissen‹ erscheinen. Mit dem ungeheuren Plan dieses Werks, das die Pflanzenschöpfung in Verbindung mit der ganzen übrigen Natur schildern soll, nebst ihrem Einfluss auf den empfindenden Menschen, ermüde ich Sie nicht, sondern gehe sogleich zu meinen einfältigen h i e r o klischen Fragen über. Ich fange von der untergegangenen Vegetation, den Grabstätten der Pflanzen der Vorwelt (Phytolithen, Steinkohlen usw.) an. Hier sehen wir Producte heisser Zonen unter 60 – 708 N. Br., und zwar (von B l u m e n b a c h und andern erwiesen) zahllos nicht hingeschwemmt, sondern in einer Lage, welche beweist, dass sie in ihrer Heimath liegen. Unter den vielen möglichen Gründen, welche eine Tropenwärme unter 69 – 708 N. Br. hervorbringen können, studiere ich den besonders über die veränderte Schiefe der Ekliptik, und L o u v i l l e in den act. erudit. Lips. 1719 p.292 hat mich so verwirrt gemacht, dass ich Sie herzlich um Belehrung bitte.«163 160 Der vollständige Titel lautet: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, auf Beobachtungen und Messungen gegründet, welche vom 10.ten Grade nördlicher bis zum 10.ten Grade südlicher Breite, in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802 und 1803 angestellt worden sind, von Al. von Humboldt und A. Bonpland. Bearbeitet und herausgegeben von dem Erstern. Mit einer Kupfertafel. (F.G. Cotta) Tübingen und (F.Schoell) Paris 1807. 161 Essai sur la g¦ographie des plantes, accompagn¦ d’un tableau physique des r¦gions ¦quinoxiales, fond¦ sur des mesures ex¦cut¦es, depuis le dixiÀme degr¦ de latitude bor¦ale jusqu’au dixiÀme degr¦ de latitude australe, pendant les ann¦es 1799, 1800, 1801, 1802 et 1803. Par Al. de Humboldt et A. Bonpland. R¦dig¦ par Al. de Humboldt. Avec une planche. (Fr. Schoell) Paris et (J.G. Cotta) Stuttgart [1805 – 1807]. 162 [»sein System aus dem Himmel und aus der Erde und aus den darin befindlichen Lebewesen«] 163 Jahn / Lange (1973), S. 370. (Brief Nr. 254 von Alexander von Humboldt an Johann Friedrich Pfaff vom 12. November 1794.) [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.] Der hervorge-

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Das Thema der Pflanzenmigration und Pflanzenevolution beschäftigte Alexander also mit Sicherheit schon vor seiner Reise nach Mittel- und Südamerika. In Bezug auf Herder stellt sich nun die Frage, ob dieser ausschliesslich für die Titelgebung von Humboldts Schriften eine gewisse Bedeutung hatte, oder ob sich auch inhaltliche Einflüsse finden lassen? Überprüft man nun die Werke Alexanders auf eine namentliche Zitierung Herders, so wird man erst im zweiten Band des »Kosmos« fündig! In einer Fussnote erwähnt er zum ersten und einzigen Mal dessen »Ideen«.164 Wir wissen auch nicht genau, welche Bücher Humboldt überhaupt besass oder gelesen hatte, denn erschwert werden solche Nachforschungen vor allem dadurch, dass seine nachgelassene Bibliothek fast vollständig in einem Londoner Auktionshaus verbrannt ist.165 Zudem besass er vor seiner Amerikareise offenbar nur wenige Bücher, meist lieh er sie in Bibliotheken oder von Freunden aus. Seine beeindruckende Büchersammlung, die immer wieder von Humboldts Besuchern bewundert und beschrieben wurde, hatte dieser erst in späteren Jahren angelegt. Seine Bibliothek umfasste denn auch in erster Linie Werke, die ihm Autoren gewidmet oder geschenkt hatten. Immerhin erfahren wir aus einem frühen Brief an seinen Freund Wilhelm Gabriel Wegener, dass er Herders Schrift »Über den Ursprung der Sprache« gelesen und ausserordentlich geschätzt hat.166 Trotz diesem dürftigen Befund lässt sich kaum bestreiten, dass Humboldt Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« offenbar schon sehr früh gekannt haben musste. Denn abgesehen von den oben erwähnten Allusionen der Titel dürfte Herder eine grosse Rolle für Alexanders wissenschaftliche Fragestellungen und Methoden gespielt haben. Wir finden in Herders »Ideen« eine Fülle von Anregungen für einen jungen Naturforscher, der seinen Blick insbesondere auf die Zusammenhänge und Wechselwirkungen in der gesamten Natur richten wollte. So könnte beispielsweise folgende Textstelle für den jungen Humboldt von grosser Bedeutung gewesen sein: »Bei der Verbreitung und Ausartung der Pflanzen ist eine Ähnlichkeit kenntlich, die sich auch auf die Geschöpfe über ihnen anwenden lässt und zu Aussichten und Gesetzen der Natur vorbereitet. Jede Pflanze fodert ihr Clima, zu dem nicht die Beschaffenheit der Erde und des Bodens allein, sondern auch die Höhe des Erdstrichs, die Eigenheit der Luft, des Wassers, der Wärme gehöret. Unter der Erde lag alles noch durch einander und obwohl auch hier jede Stein-Krystall- und Metallart ihre Behobene provisorische Titel zeigt auch Anklänge an Georg Forsters »Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit« von 1789. 164 »[…] Vergl. auch die treffliche Schilderung der Araber in Herder’s Ideen zur Gesch. der Menschheit Buch XIX, 4 und 5.« (Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 457, Anm. 360 zu S. 265.) 165 Vgl. dazu Schoenwaldt (1969 – 1970), S. 101 – 148, sowie Stevens (1963). 166 Jahn / Lange (1973), S. 16. (Brief Nr. 5 vom 24. Juni 1788.) Humboldt spricht von »Herders vortreflicher Preisschrift«.

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schaffenheit von dem Lande nimmt, in dem sie wuchs und hiernach die eigensten Verschiedenheiten giebet; so ist man doch in diesem Reich des Pluto noch lange nicht zu der allgemeinen geographischen Übersicht und zu den ordnenden Grundsätzen gekommen als im schönen Reich der Flora. Die botanische Philosophie*, die Pflanzen nach der Höhe und Beschaffenheit des Bodens, der Luft, des Wassers, der Wärme ordnet, ist also eine augenscheinliche Leiterin zu einer ähnlichen Philosophie in Ordnung der Tiere und Menschen.«167 * Linnei philosoph. botanica ist für mehrere Wissenschaften ein classisches Muster ; hätten wir eine philosophia anthropologica diese Art, mit der Kürze und vielseitigen Genauigkeit geschrieben: so wäre ein Leitfaden da, dem jede hinzukommende Bemerkung folgen könnte. Der Abt SoulaviÀ hat in seiner hist. naturelle de la France meridionale (P.II. T.I.) einen Entwurf zur allgemeinen physischen Geographie des Pflanzenreichs gegeben und verspricht ihn auch über Tiere und Menschen.

Wir erkennen in diesem Zitat genau jenes Vorhaben, welches Alexander von Humboldt mit einer Geografie der Pflanzen nach seiner Rückkehr aus Amerika verwirklichen sollte. In seinem berühmt gewordenen »Naturgemälde der Anden«168 hat er mithilfe barometrischer Höhenmessungen ein vertikales Profil der Kordilleren erstellt, welches die Verteilung der Pflanzen nicht nur in Hinsicht auf die Längen- und Breitenmeridiane darstellt, sondern die Vegetation auch in Relation zur Höhe der Gebirge setzt.169 Auf diese Weise konnte er zeigen, dass 167 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 56. 168 »Geographie der Pflanzen in den Tropen-Ländern; ein Naturgemälde der Anden, gegründet auf Beobachtungen und Messungen, welche vom 10.ten Grade nördlicher bis zum 10.ten Grade südlicher Breite angestellt worden sind; in den Jahren 1799 bis 1805. Von Alexander von Humboldt und A.G. Bonpland.« Tübingen und Paris 1807. Eine erste Skizze des Naturgemäldes hatte Humboldt im Februar 1803 im Hafen von Guayaquil entworfen. In der ersten deutschen Ausgabe der »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen« wurde das Naturgemälde-Profil unmittelbar mitgeliefert. (Humboldt, A. (1807).) Das französische Original »G¦ographie des plantes prÀs de l’Equateur. Tableau physique des Andes et pais voisins, dress¦ sur les observations et mesures faites sur les lieux en 1799 – 1803« erschien in einem separaten Gross-Folio-Band zum »Essai sur la G¦ographie des plantes ¦quinoxiales«. Humboldt, A. (1805 – 1807). 169 Das Naturgemälde ist links und rechts mit Skalen versehen, in denen folgende Angaben enthalten sind: Höhenangaben in Metern und Toisen; horizontale Strahlenbrechung; Entfernung, in welcher Berge auf dem Meer sichtbar sind (ohne Rücksicht auf die Strahlenbrechung); Höhenmessungen in verschiedenen Weltteilen; elektrische Erscheinungen nach Höhe der Luftschichten; Kultur des Bodens nach Verschiedenheit der Höhe; Abnahme der Schwere durch die Schwingungen des Pendels im leeren Raume ausgedrückt; Luftbläue in Graden des Cyanometers; Abnahme der Feuchtigkeit in Graden des Saussureschen Hygrometers ausgedrückt; Druck der Luft in Barometerhöhen; Luftwärme nach Höhe der Schichten durch den höchsten und niedrigsten Stand des Thermometers ausgedrückt; chemische Natur des Luftkreises; Höhe der unteren Grenze des ewigen Schnees, nach Verschiedenheit der geografischen Breite; Tiere, geordnet nach der Höhe ihres Wohnorts; Siedehitze des Wassers nach Verschiedenheit der Höhen; geognostische Ansicht der Tropenwelt; Schwächung der Lichtstrahlen beim Durchgang der Luftschichten. Wir können

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selbst in tropischen Zonen Pflanzen gedeihen, welche man typischerweise in den Gebieten Nordeuropas antrifft, da sich die klimatischen Bedingungen auf den Gebirgshöhen in südlichen Breitengraden und in den Ebenen der nördlichen Breitengraden ähneln. Jener von Herder im obigen Zitat erwähnte Abt Jean Louis Giraud Soulavie hatte Ähnliches bereits für die Vegetation Südfrankreichs in seiner »Histoire naturelle de la France m¦ridionale« versucht.170 Auch er setzte die Verteilung der Pflanzen mit barometrischen Höhenmessungen in Beziehung171 und betonte die Bedeutung des Bodens und des Klimas für das Pflanzenwachstum. So bekam Humboldt möglicherweise durch die Vermittlung Herders weitere Anregungen für eine Geografie der Pflanzen.172 Pikanterweise führte Alexander von Humboldt Soulavies »Histoire naturelle de la France m¦ridionale« schon in seinen »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« als negatives Beispiel für ein allzu simples methodisches Vorgehen an. Er distanzierte sich von dessen Behauptung, die Bodenbeschaffenheit einer Region beeinflusse direkt den Charakter der Bewohner.173 Den zweiten Teil des Werkes über die Vegetation erwähnte er jedoch nicht. Noch vehementer ging Alexander Jahrzehnte später mit Soulavie ins Gericht. 1826 bat er nämlich Heinrich Berghaus, seinen kartografischen Mitarbeiter in Berlin, den »Prospektus« zur zweiten Auflage der »G¦ographie des plantes«, die im Übrigen nie erschienen ist, zu übersetzen und in der Zeitschrift »Hertha« zu veröffentlichen.174 In dieser Ankündigung geht Humboldt über

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aus dieser Aufzählung ersehen, wie sehr die Auswertung der von Humboldt gesammelten Daten dem ›Forschungsprogramm‹ von Herder entspricht! Soulavie (1783). Der Untertitel des Werkes lautet: »Contenant les principes de la G¦ographie physique du rÀgne v¦g¦tal, l’exposition des climats des Plantes, avec des Cartes pour en exprimer les limites.« Besonders interessant ist die Darstellung des Mont Mezin, eines Berges in den Cevennen. Ibid. S. 264 f. Wie Herder und Alexander von Humboldt betont auch Soulavie die Bedeutung Buffons für die Naturgeschichte, da dieser die künstlichen Klassifikationen zugunsten der empirischen Sammlung von Fakten ablehnt. In Bezug auf die Geschichte der Botanik meint Soulavie: «[…] mais M. de Buffon fait pour philosopher sur tous ces objets, pour ¦loigner toute espÀce de savoir arbitraire dans la science de la nature, montra que nous ¦tions trop peu avanc¦s dans la science des faits, pour nous occuper des formes externes qui furent pendant si long temps l’objet des travaux de nos pr¦d¦cesseurs; ainsi l’esprit humain quittant peu-—-peu les apparences pour suivre le r¦el, s’occupa des faits et abandonna les formes.« (Soulavie (1783), S. 23.) [»…aber Herr von Buffon veranlasste, über alle diese Gegenstände zu philosophieren, alle Arten von arbiträrem Wissen in der Naturwissenschaft zu entfernen, er hat gezeigt, dass wir zu wenig fortgeschritten sind in der Tatsachenwissenschaft, um uns mit äusseren Formen zu beschäftigen, welche während so langer Zeit Gegenstand der Arbeiten unserer Vorgänger waren; indem der menschliche Geist langsam den äusseren Schein verliess um dem Reellen zu folgen, hat er sich mit den Fakten beschäftigt und die Formen aufgegeben.«] Siehe dazu Seite 66. Der Begleitbrief Alexander von Humboldts aus Paris an Berghaus vom 18. Oktober 1826 ist abgedruckt in: Humboldt, A. (1987 – 1997). Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 322 f.

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mehrere Seiten auf die Geschichte einer Geografie der Pflanzen ein, wobei er nun Soulavie jegliches Verdienst zu deren Beitrag abspricht: »Der von Menzel ausgesprochene Name [Geographie der Pflanzen] ward gegen 1783 fast zu gleicher Zeit von Giraud Soulavie gebraucht und vom Verfasser der Etudes de la nature [i.e. Bernardin de Saint-Pierre], welches Werk neben bedeutenden Irrthümern über die Naturkunde der Erdkugel die geistreichsten Ansichten über Form, geographisches Verhältniss und Beschaffenheit der Pflanzen enthält. Diese beiden Schriftsteller von so ungleichem Talent und Verdienst überliessen sich zu oft den Eingebungen der Einbildung. Mangel an positiven Kenntnissen hinderte sie auf einer Laufbahn, deren Ausdehnung sie nicht ermessen konnten vorzuschreiten. Giraud Soulavie wollte die in seiner G¦ographie de la nature auseinandergesetzten Grundsätze auf die G¦ographie physique des v¦g¦taux de la France m¦ridionale anwenden; aber der Inhalt des Buches entsprach kaum einem so selbstgefälligen Titel. Man sucht in diesem Werke, das sich für eine Geographie der Pflanzen ausgiebt, vergebens die Namen der wild wachsenden Gattungen oder die Angabe der Höhe ihres Wachsthums.«175

Unrichtig an diesen Äusserungen ist auf jeden Fall die Behauptung, der Verfasser der »Histoire naturelle de la France m¦ridionale« habe die Höhenangaben der Vegetation weggelassen. Gerade sein Profil des Mont Mezin war eine Pionierleistung in der Erstellung von Höhenprofilen der Vegetationszonen. Die hier an Soulavie geäusserte Kritik fällt noch schwerwiegender aus, wenn man bedenkt, dass der mit ihm verglichene Bernardin de Saint-Pierre einer von Alexanders Lieblingsautoren war, dessen »Verdienst« und »Talent« er so ungleich höher schätzte. Ausgerechnet jener Bernardin de Saint-Pierre, dessen »Etudes de la nature« jeglicher empirischen Grundlagen entbehrten! Warum Humboldt Soulavie so scharf kritisiert und seine unbestreitbaren Verdienste um eine Geografie der Pflanzen nicht zu würdigen weiss, ist nicht recht nachvollziehbar.176 Interessant an diesem »Prospektus« ist für uns aber auch die Feststellung, dass Johann Gottfried Herder unerwähnt bleibt, obwohl die Geschichte der Pflanzengeografie ausführlich geschildert und mit zahlreichen Namen belegt wird. Wollte Humboldt eventuell weder die Schriften Herders noch diejenigen des Abtes Soulavie als mögliche Quellen für seine Pflanzengeografie preisgeben? Wie Alexander – ganz deutlich zu ersehen aus dem oben angeführten Brief an Pfaff177 – betrachtet auch Herder eine Pflanzengeografie nur als Teil einer »allgemeinen Weltgeschichte«. Denn wenden wir unseren Blick auf die herdersche Fussnote des Zitates auf Seite 136, so sehen wir, dass sich dieser offenbar »einen 175 Berghaus (1826), S. 54. 176 Auch für Hanno Beck ist die heftige und unberechtigte Kritik an Soulavie unverständlich. Siehe dazu: Humboldt, A. (1987 – 1997.) Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 325. 177 Siehe Seite 134.

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Entwurf zur allgemeinen physischen Geographie«178 der Pflanzen, Tiere und Menschen wünschte, der den Überblick über das »Reich des Pluto«, also eine Geognosie, vervollständigen sollte. Folglich wäre das Ziel der Wissenschaften eine umfassende Weltbeschreibung der gesamten belebten und unbelebten Natur. Mag es nun ein Zufall sein, dass Humboldt seinen »Kosmos« mit dem Untertitel »Entwurf einer physischen Weltbeschreibung«179 versah? Er war sich jedoch der Komplexität des Themas viel zu sehr bewusst, als dass er sich angemasst hätte, die Ursachen aller Naturgesetze ergründen zu können. In einem Brief an Varnhagen von Ense vom 27. Oktober 1834 berichtet Alexander, er habe ausführlich mit seinem Bruder über die Wahl des Titels »Kosmos« diskutiert. Schliesslich habe er diesen Titel gewählt um klarzustellen, dass es sich bei seiner physischen Weltbeschreibung nicht nur um eine Erdbeschreibung, sondern auch um eine Beschreibung des Himmels handelt. Auch Herders »Ideen« umfassen eine uranologische und tellurische Weltbeschreibung!180 Bevor ich aber auf Humboldts Alterswerk näher eingehen werde, das schon durch diese Gliederung herdersche Einflüsse erkennen lässt, möchte ich weitere Belegstellen anführen, die die Bedeutung Herders für den jüngeren von Humboldt dokumentieren. Eine in der Humboldtforschung kontrovers diskutierte Frage betrifft den Zeitpunkt, zu dem Alexander seine Reisepläne konkret auf ›Westindien‹ richtete. Bereits die Reise mit Georg Forster mochte in ihm den Wunsch nach einer wissenschaftlichen Forschungsreise geweckt haben,181 doch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wann er Mittel- und Südamerika als Reiseziele ausgewählt hat?

178 Soulavie selbst bezeichnet sein Werk zwar nicht als »Entwurf«, er unterscheidet es jedoch von allgemeinen Naturgeschichten des Pflanzenreiches, welche detaillierter auf die Physiologie der Pflanzen eingehen. Er beschränkt sich auf die Vegetation Südfrankreichs und ihre klimatischen Bedingungen, eine allgemeine Übersicht der Pflanzen, ihre physische Beschreibung sowie ihre frühere und jetzige Verbreitung über die Erde. (Soulavie (1783), S. 32 ff.) Es ist möglicherweise dieser Widerspruch zwischen Soulavies Forderung, zuerst die Fakten zu untersuchen, und seinem Eingeständnis, die Naturgeschichte nur sehr allgemein abzuhandeln, welcher die Kritik Humboldts provozierte. 179 In einer Anmerkung zum fünften Band des »Kosmos« definiert Humboldt diesen Begriff nach Francis Bacon: »Im strengeren Sinne der Worte und in grösserer Verallgemeinerung der Begriffe ist ›We l t b e s c h r e i b u n g die Geschichte der Natur und der Menschheit. Die We l t - E r k l ä r u n g ist die W i s s e n s c h a f t , welche erkennt, was die Geschichte berichtet.‹« (Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. V. S. 19, Anm. 2 zu S. 7.) 180 Humboldt, A. (1860), S. 22. 181 Dafür sprechen die Aufzeichnungen Humboldts in Santa F¦ de Bogot‚ vom 4. August 1801. Darin bemerkt er, wie der erste Anblick des Meeres in Oostende seinen »Hang nach der Tropenwelt« in ihm weckte. (Biermannn, K.-R. (1989), S. 36.) Berücksichtigen sollte man aber die Vorbehalte gegenüber diesem Dokument, welche ich auf Seite 22 ff. dieser Arbeit dargelegt habe.

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Einige Male spricht Humboldt in seinen frühen Briefen zwar von einer grossen Reise, die er eines Tages unternehmen möchte, doch nähere Angaben dazu macht er nicht. Jedoch findet sich in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«, die in ihren wichtigsten Teilen bereits 1795 abgeschlossen waren, eine aufschlussreiche Stelle, welche seine Reisepläne mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Klimazonen, Vegetationstypen, Luftdruck und der Gesundheit der Bewohner eines Landes in Beziehung bringt: »Vielleicht geniessen die Küstenbewohner von P e r u und C h i l i wie die Hirtenvölker auf h o h e n G e b i r g e n , auch deshalb eines dauerhafteren Wohlbefindens, weil sie bekanntlich wenigeren Abwechselungen der Luftdichte ausgesetzt sind, als die cultivirten Mittelregionen der gemässigten Zonen. […] Ich begnüge mich für itzt diese Ideen unentwickelt hinzuwerfen. Auf der grossen Reise, welche ich vorhabe, bei einem Aufenthalte in den Tropenländern, wo die Lebenskräfte oft zu solch einem Grade gefahrvoll erhöht sind, dass die geringste äussere Veränderung über Vernichtung und Fortdauer entscheidet, hoffe ich jene wichtigen Phänomene näher prüfen zu können.«182

Humboldt spricht hier zwar nicht direkt von den Anden, aber da er die Reise im Zusammenhang mit barometrischen und hygrometrischen Messungen, die an der Westküste Südamerikas und auf »hohen Gebirgen«, die nicht in den »cultivirten Mittelregionen der gemässigten Zonen« liegen, gemacht werden müssten, erwähnt, ist davon auszugehen, dass er an ein Gebirge in den »Tropenländern« Südamerikas denkt – und was käme da ausser den Anden sonst in Betracht? Die Frage, ob Alexander schon vor 1799 ganz konkret an Südamerika als Reiseziel gedacht hat, dürfte damit beantwortet sein.183 Aber warum schien Humboldt der südamerikanische Kontinent so untersuchenswert zu sein? Im ersten Buch von Herders »Ideen« erhalten wir vielleicht eine Antwort auf diese Frage: »Es wäre schön, wenn wir eine Bergcharte oder vielmehr einen Berg-Atlas hätten, auf dem diese Grundsäulen der Erde in den mancherlei Rücksichten aufgenommen und bemerkt wären, wie sie die Geschichte des Menschengeschlechts fodert. Von vielen Gegenden ist die Ordnung und Höhe der Berge ziemlich genau bestimmt: die Erhebung des Landes über die Meeresfläche, die Beschaffenheit des Bodens auf seiner Oberfläche, der Fall der Ströme, die Richtungen der Winde, die Abweichungen der Magnetnadel, die Grade der Hitze und Wärme sind an andern bemerkt worden und einiges davon ist auch schon auf einzelnen Charten bezeichnet. Wenn mehrere dieser Bemerkungen, die jetzt in Abhandlungen und Reisebeschreibungen zerstreut liegen, genau gesammlet 182 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 249. 183 Auch in einem Brief vom 18. April 1797 an seinen Freund Carl Freiesleben spricht Alexander von Humboldt von seinen ernsthaften Vorbereitungen zu seiner »westindischen Reise«, weshalb er sich mit Anatomie und organischer Physiologie beschäftige. (Jahn / Lange (1973), S. 574. Brief Nr. 402.)

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und auch auf Charten zusammengetragen würden: welche schöne und unterrichtende physische Geographie der Erde würde damit in Einem Überblicke auch der Natur- und Geschichtsforscher der Menschheit haben! der reichste Beitrag zu Varenius, Lulofs und Bergmanns vortrefflichen Werken. Wir sind aber auch hier nur im Anfange: die Ferber, Pallas, Saussure, Soulavie u. a. sammlen, in einzelnen Erdstrecken zu der reichen Ernde von Aufschlüssen, die wahrscheinlich einst die Peruanischen Gebürge, (vielleicht die interessantesten Gegenden der Welt für die grössere Naturgeschichte) zur Einheit und Gewissheit bringen werden.«184

Diese einschlägige Stelle liest sich fast wie Alexanders Forschungsprogramm! Tatsächlich stellte Humboldt, zusammen mit Aim¦ Bonpland, in den zwischen 1799 und 1804 bereisten Ländern exakte physikalische und geometrische Messungen an und fertigte beispielsweise von Neu-Granada, das ungefähr den heutigen mittelamerikanischen Staaten entsprach, eine weit präzisere Karte an als sie zur damaligen Zeit etwa für Frankreich existierte.185 Das »Peruanische Gebürge«, die Anden, standen sowohl für Herder als auch für Humboldt deshalb so sehr im Mittelpunkt des Interesses, weil man sich von der genauen Kenntnis seiner Lage und Höhe186 eine bessere Einsicht in die Verteilung der Gebirge auf der Erdkugel erhoffte. Die Kordilleren stellten nach Meinung von Herder und Humboldt ein Gegengewicht zum Himalaja dar und hatten deswegen eine stabilisierende Funktion.187 Durch die bessere Kenntnis der Gebirgsketten sollte sich auch die Bildung der Erde, die Verteilung von Land und Wasser,188 die 184 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 47 f. 185 Siehe dazu auch die auf Seite 136 f in Anmerkung 169 aufgeführten Angaben zu den Skalen des »Naturgemäldes der Anden«. In diesem West-Ost-Querschnitt der Kordilleren stellte Alexander von Humboldt seine mit Bonpland angestellten Messungen und Beobachtungen zur Geologie, physikalischen Geografie, Klimatologie sowie Pflanzen- und Tiergeografie in einem Gemälde dar, welches tatsächlich einen Überblick ihrer »reichen Ernde von Aufschlüssen, die […] die Peruanischen Gebürge, […] zur Einheit und Gewissheit« lieferten, gibt. 186 Die Anden galten zu Herders Zeit noch als das höchste Gebirge der Erde: »Die Cordilleras sind die höchsten Gebürge der Welt.« (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 46.) Auch Alexander von Humboldt übernahm zunächst diese Ansicht, doch bereits während seiner legendären Besteigung des 6310 Meter hohen Chimborazo war er im Zweifel darüber, ob er tatsächlich den höchsten Berg der Welt (fast) erklimmen würde. Die meisten seiner Zeitgenossen hielten freilich den Chimborazo noch lange nach Humboldts Rückkehr für den höchsten Gipfel. 187 Dies ist im Übrigen auch der Grund, weshalb Humboldt später noch den Himalaja bereisen wollte! Dieser Lebenstraum wurde ihm jedoch nicht erfüllt. Als er im Mai 1827 nach London reiste, um von der British-Eastindian Company die Genehmigung für seine Reisepläne zu erhalten, schien es zwar zuerst, als ob Alexander das Vorhaben gestattet würde. Aber letztlich scheiterte sein Projekt aus politischen Gründen, da man in England befürchtete, Humboldt erhielte zu tiefe Einblicke in die Absichten des britischen Kolonialunternehmens. 188 In dem ursprünglich für den zweiten Band der »Ideen« geplanten Kapitel »Revolutionen der Welt nach den ältesten Traditionen«, welches erst ab 1814 veröffentlicht wurde, spekulierte Herder über die frühere Gestalt der Erde. Er vermutete, dass es ursprünglich nur eine feste

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Entstehung der Vegetationsdecke sowie der Ursprungsort der Menschheit besser klären lassen: »Auf ihre ursprüngliche Gestalt, Erzeugung und Fortstreckung, auf ihre Höhe und Breite, kurz auf ein physisches Naturgesetz kommt es an, das uns ihre Bildung und mit derselben auch die Bildung des vesten Landes erkläre. Ob sich nun ein solches physisches Naturgesetz finden liesse? ob sie als Strahlen aus Einem Punkt? oder als Äste aus Einem Stamm? oder als winklichte Hufeisen dastehn? und was sie, da sie als nackte Gebürge, als ein Gerippe der Erde hervorragten, für eine Bildungsregel hatten? Dies ist die wichtige bisher noch unaufgelösete Frage, der ich eine gnugtuende Auflösung wünschte. Wohlverstanden nehmlich, dass ich hier nicht von herangeschwemmten Bergen, sondern vom ersten Grund- und Urgebürge der Erde rede.«189

Machte bereits Alexanders Brief an Pfaff und die eben erwähnte Stelle aus den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« den Einfluss von Herders »Ideen« sehr plausibel, so lässt sich diese These insbesondere in Rücksicht auf das obige Herder-Zitat durch einen weiteren Beleg stützen. In einem Brief an Friedrich Schiller vom 6. August 1794 bedankte sich Humboldt für die Einladung, einen Beitrag für seine neu gegründete Zeitschrift »Die Horen« einzusenden. In dieser Einladung forderte Schiller die Adressaten auf, »philosophische Untersuchungen« sowie »historische und poetische Darstellungen«, welche »mit Geschmack und philosophischem Geiste«190 behandelt werden können, auszuarbeiten. Alexander, der einige Monate später mit der Erzählung »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« seinen Teil dazu beitragen sollte, subsumierte ganz selbstverständlich auch die »Naturkunde« zu dem von Schiller umrissenen Themenkreis. Aufgrund dieser ›Fehleinschätzung‹ zählte er in seinem Dankesbrief die folgenden drängenden Fragen der Naturgeschichte auf, die in den »Horen« behandelt werden sollten: »Die allgemeine Harmonie in der Form, das Problem, ob es eine ursprüngliche Pflanzenform giebt, die sich in tausenderlei Abstufungen darstellt,191 die Vertheilung Landmasse gab, die im Verlauf der Erdentwicklung auseinanderbrach. So hätten sich beispielsweise Nord- und Südamerika von Europa und Afrika abgespalten. Diese Annahme antizipiert bereits Alfred Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung! (Vgl. dazu Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 1140 – 1154.) 189 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 37. 190 Jahn / Lange (1973), S. 347. (Brief Nr. 238.) 191 Diese Stelle des Briefes ist besonders interessant im Hinblick auf Goethes Morphologie der Pflanzen. Falls Alexander von Humboldt Goethe zum ersten Mal am 14. Dezember 1794 in Jena begegnete (Schleucher (1985), S. 105.), würde dieser Brief beweisen, dass er sich unabhängig von diesem bereits im Sommer desselben Jahres mit der Frage beschäftigte, ob es eine Urpflanze gibt, die allen jemals existierenden Pflanzenformen zugrunde liegt. Doch lässt sich nicht genau festlegen, wann Alexander und Goethe sich zum ersten Mal begegnet sind. Manfred Geier geht davon aus, dass sich die beiden schon im März 1794 bei Wilhelm

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dieser Formen über den Erdboden, die verschiedenen Eindrücke der Fröhlichkeit und Melancholie, welche die Pflanzenwelt im sinnlichen Menschen hervorbringt, der Contrast zwischen der todten, unbewegten Felsmasse, selbst der unorganisch scheinenden192 Baumstämme und der belebten Pflanzendecke, die gleichsam das Gerippe mit milderndem Fleische sanft bekleidet, Geschichte und Geographie der Pflanzen, oder historische Darstellung der allgemeinen Ausbreitung der Kräuter über den Erdboden, ein unbearbeiteter Theil der allgemeinen Weltgeschichte, Aufsuchung der ältesten Vegetation in ihren Grabmälern (Versteinerungen, Steinkohlen, Torf & c.), allmählige Bewohnbarkeit des Erdbodens, Wanderungen und Züge der Pflanzen, der geselligen und isolirten, Karten darüber, welche Pflanzen gewissen Völkern gefolgt sind, allgemeine Geschichte des Ackerbaus, Vergleichung der cultivirten Pflanzen mit den Hausthieren, Ursprung beider, Ausartungen, welche Pflanzen fester, welche loser an das Gesetz gleichmässiger Form gebunden sind, Verwilderung gezähmter Pflanzen (so amerikanische, persische Pflanzen wild vom Tajo bis Oby), allgemeine Verwirrungen in der Pflanzengeographie durch Kolonisationen – das scheinen mir Objecte, die des Nachdenkens werth und fast ganz unberührt sind.«193

Den Vergleich der Gebirge mit einem »Gerippe«, welches von der Pflanzendecke gleichsam wie mit Fleisch bedeckt wird, übernahm der jüngere Humboldt höchstwahrscheinlich von Herder,194 und die aufgezählten »Objecte«, die ihm nachdenkenswert erscheinen, hat dieser bereits in einer allgemeinen Schilderung dargelegt. Das hier von Alexander erstellte ›Forschungsprogramm‹ erinnert nämlich in vielen Punkten an Herders »Ideen«. Zahlreiche Anregungen konnte er insbesondere in den Büchern I bis III sowie im Buch X entdecken, die sich mit der Bildung der Erde, des Mineral-, Pflanzen- und Tierreiches und der Ausbreitung der Kultur befassen. Das zweite Kapitel in Buch XV bietet gar eine Zusammenfassung der Natur- und Kulturgeschichte, wie wir sie stichwortartig in Alexanders Brief an Schiller wiederfinden. Auffallend hierbei ist, dass sowohl Humboldt als auch Herder die zeitliche Komponente der Ausbreitung von Pflanzen, Tieren und Menschen sowie die wechselseitige Förderung der Naturvon Humboldt in Jena getroffen und bei dieser Gelegenheit sehr wahrscheinlich auch über Alexanders pflanzenphysiologische Beschäftigungen gesprochen haben. Belegen kann er diese Begegnung allerdings nicht. Geier (2009), S. 176.) Wir wissen aber von Goethe selbst, dass er gegen Ende des Jahres 1794 den Brüdern von Humboldt seine Ansichten über vergleichende Anatomie und Morphologie vortrug, also zeitlich nach Humboldts eigenen Überlegungen zu einer ursprünglichen Pflanzenform. (Goethe (1882), S. 45 f. Siehe dazu auch Kapitel III.2. dieser Arbeit. ) 192 In der »Florae Fribergensis specimen« ging Humboldt noch davon aus, dass Holz zur unorganischen Materie gehört. An dieser Stelle kommen ihm offensichtlich Zweifel, wo die Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur zu ziehen ist. Siehe dazu auch Kapitel II.1.b), Seite 88 f. 193 Abgedruckt in: Jahn / Lange (1973), S. 346 f. (Brief Nr. 238.) 194 Zur Bezeichnung der Gebirge als Gerippe der Erde siehe auch den Kommentar von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2; S. 103 f.

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und Kulturentwicklung zu einem Ganzen betonen. Beide sehen die Erde im Werden begriffen.195 Eine Parallele erkennen wir auch in Herders und Humboldts Interesse für die Ergebnisse geologischer und paläontologischer Forschungen, auf die Herder durch einen Hinweis Buffons aufmerksam wurde. Denn Buffon sah als erster die grosse Bedeutung der Fossilien (im damaligen Sprachgebrauch ›Petrefakten‹) für die Bestimmung des Erdalters.196 Herder versprach sich deshalb von diesen Wissenschaften neue Erkenntnisse für die Naturgeschichte. Alexander von Humboldt seinerseits beschäftigte sich schon in jungen Jahren mit Fragen der Schichtung des Erdmantels und des Vulkanismus. Durch seine Ausbildung an der Bergakademie in Freiberg mit dem Fach der Mineralogie bestens vertraut, sammelte er vor und während seiner Amerikareise fleissig Gesteinsproben und Fossilien. Sie bildeten eine wichtige Grundlage für die Ausarbeitung seiner »Voyage aux r¦gions ¦quinoxiales du Nouveau Continent«. Schon aufgrund dieser Voraussetzungen wäre es naheliegend, dass sich Humboldt mit Herders »Ideen« eingehender beschäftigt hatte. Wir finden also sowohl bei Herder als auch bei Alexander von Humboldt das Bemühen, Naturbeschreibung und Naturgeschichte als zwei Disziplinen zu betrachten, die die Natur mit unterschiedlichen Methoden untersuchen, ihre Erkenntnisse gegenseitig fruchtbar machen und auf diese Weise den »Causalzusammenhang« des Naturganzen erhellen können. Schärfer als Herder grenzt Humboldt diese beiden Disziplinen voneinander ab. Als Naturwissenschaftler betont er die Wichtigkeit, die richtigen Fragen an die Objekte der Forschung zu stellen und die Aussagekraft der Ergebnisse nach ihrer Evidenz zu bewerten. Das exakte methodische Vorgehen spielt bei Alexander eine bedeutendere Rolle, um beim späteren Betrachten des Ganzen Spekulatives möglichst ausschliessen zu können. In den einleitenden Sätzen zu einem heute nur noch wenig beachteten Aufsatz über die »Entbindung des Wärmestoffs, als geognostisches Phänomen betrachtet« listet Humboldt die erforderlichen Fragen zur »Geognosie« auf, die die Heterogenität der beiden Wissensgebiete – Naturbeschreibung und Naturgeschichte – aufzeigen: »Ohnerachtet in neueren Zeiten, seit der wissenschaftlichen Ausbildung der mineralogischen Disciplinen, die Geognosie von der Erkennungslehre einfacher Fossilien (Oryktognosie) getrennt, und dadurch in bestimmtere Gränzen eingeengt worden ist: 195 So lautet der programmatische Untertitel des zweiten Kapitels im Buch XV der »Ideen«: »Alle zerstörenden Kräfte in der Natur müssen den erhaltenden Kräften mit der Zeitenfolge nicht nur unterliegen, sondern auch selbst zuletzt zur Ausbildung des Ganzen dienen.« (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 3785 ff.) 196 Zum Fossilienstreit im 18. Jahrhundert und dessen Bedeutung für die Frage nach der Veränderlichkeit der Organismen in Raum und Zeit siehe auch: Gusdorf (1972).

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so scheint sie doch noch immer zwey Objekte zu behandeln, die, ihrer Natur nach, eben so heterogen als eines verschiedenen Grades von Zuverlässigkeit fähig sind. Die Fragen, wie ist der feste Erdkörper gegenwärtig beschaffen? wie sind die Gebirgsmassen verbreitet? zu welcher Höhe erheben sie sich in den verschiedenen Zonen? welchen Gesetzen der Schichtung und Lagerung sind sie unterworfen? welche von ihnen enthalten Spuren organischer Körper? deuten diese Körper auf eine untergegangene Thier- und Pflanzenschöpfung hin, oder finden wir die Originale derselben noch jetzt in den entferntern Himmelsstrichen? – Alle diese wichtigen Fragen betreffen den gegenwärtigen gleichzeitigen Zustand der Dinge. Ihre Untersuchung gehört in die allgemeine Naturbeschreibung, welche die unbelebte Schöpfung sowohl, als die Verhältnisse der Thier- und Pflanzengeschlechter umfasst. Eine andere Klasse von Objekten berühren die Fragen: wie hat der Erdkörper seine gegenwärtige Gestalt gewonnen? wann sind die Gebirgsmassen erhärtet? waren ihre Grundstoffe in tropfbare Flüssigkeiten aufgelöst, oder waren sie diesen nur (mechanisch) eingemengt? welchen Einfluss hat das Feuer auf jene Scheidungen und Niederschläge, welchen auf die schon erhärteten Massen ausgeübt? sind die Seen aus Einsenkungen entstanden, oder haben die tobenden Fluthen im Herabstürzen weite Kessel ausgehölt? Diese letzteren Fragen sind historischen Inhalts. Sie beziehen sich auf einen ehemaligen Zustand der Dinge, und ihre Beantwortung gehört der Naturgeschichte zu. Sie sind von den erstern eben so verschieden, als es sehr heterogene Untersuchungen sind, welche Wanderungen eine Pflanze vom Kaukasus her nach dem westlichen Europa gemacht hat, und zu welcher Tiefe sie gegenwärtig, in die Ebene herabsteigend, gefunden wird.«197

Diese überaus interessanten Zeilen hat Alexander von Humboldt zwar erst 1799, kurz vor seiner Abreise nach Südamerika, in den »Jahrbüchern der Berg- und Hüttenkunde« publiziert, doch in einer kurzen Note weist er darauf hin, dass seine Theorie bereits seit 1792 unveröffentlicht vorlag.198 Ähnliche Überlegungen zur notwendigen Differenzierung zwischen einer Naturbetrachtung, die den momentanen statischen Zustand der Forschungsobjekte, und einer solchen, welche den prozessualen Charakter der historischen Entwicklung fokussiert, äusserte er ja auch schon in der »Florae Fribergensis specimen«. So können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass für Alexander die Unterscheidung zwischen Naturgeschichte und Naturbeschreibung schon Anfang der Neunzigerjahre von Bedeutung war. Wie ein roter Faden zieht sich die Differenzierung zwischen diesen beiden Teilen der Geognosie durch Humboldts Gesamtwerk. Sie ist notwendig, da die jeweiligen Fragen in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen mit unterschiedlichen Graden der Zuverlässigkeit beantwortet werden können. Besonders vorsichtig muss der 197 Humboldt, A. (1799a), S. 1 f. 198 »Die Hauptzüge dieser Theorie sind seit 1792 in den Manuscripten des Verfassers aufgezeichnet gelegen. Seine Reisen und Beschäftigung mit physiologischen Gegenständen haben die öffentliche Bekanntmachung dieser und anderer geognostischen Arbeiten verzögert.« Ibid. S. 1.

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Naturforscher die historischen Gesichtspunkte der Geognosie untersuchen und voreilige Schlussfolgerungen vermeiden. Die Antworten, welche die Naturgeschichte liefern kann, gründen auf unsicherem Fundament, da sie nur bedingt überprüfbar sind. Humboldts Vorsicht bei der Untersuchung historischer Fragen erklärt sich also aus seiner Scheu vor unwissenschaftlichen Hypothesen; und die Gefahr, dass man sich ins Spekulative verirrt, ist bei diesen besonders gross.199 Wie wir noch sehen werden, wird er Jahrzehnte später auch im »Kosmos« davor warnen, die Grenzen der empirischen Erkenntnisse zu überschreiten. Eine gerade in Hinblick auf Herder besonders interessante Äusserung sehen wir im obigen Zitat in jenem Teil, welcher sich mit den Fragen »historischen Inhalts« beschäftigt. Alexander geht ganz selbstverständlich davon aus, dass sich die Pflanzen im Laufe der Jahrtausende vom Kaukasus nach Westeuropa ausgebreitet haben – und noch immer ausbreiten –, und dass sie somit von ihrem höher gelegenen Ursprungsort in die Ebenen hinab gewandert sind. Gerade diese Annahmen sind es, auf die Herder im Buch X der »Ideen« seine Theorie über die Herkunft der Pflanzen, Landtiere und ersten Menschen stützt! Denn der Kaukasus gehört neben dem Himalaja und Hindukusch zu den Abhängen eines asiatischen Urgebirges, welches das Stammland der Pflanzen, Tiere und Menschen, also der gesamten organischen Natur der Erdoberfläche, umgibt.200 Herder folgt hierbei den Schilderungen von Peter Simon Pallas’ »Observations sur la formation des montagnes et les changemens assir¦ au globe, particuliÀrement — l’¦gard de l’empirie russe« aus dem Jahre 1777.201 Es ist nicht auszuschliessen, dass Humboldt sowohl Herders als auch Pallas’ Schrift kannte. Doch angesichts der zeitlichen Einordnung von Alexanders Aufsatz in das Jahr 1792 spricht vieles dafür, dass seine damalige Auffassung, das Stammland der Pflanzen, Tiere und Menschen sei von einem asiatischen Urgebirge umgeben, in erster Linie durch Herders »Ideen« präsent war.202 Aber Humboldt – und das ist 199 »Phantasien sind gefahrvoll täuschend, sobald man sie, wie nur zu oft geschieht, als Thatsachen vorträgt, und in das ernste Gewand wissenschäftlicher Untersuchungen einkleidet.« Ibid. S. 5. 200 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 382 f. 201 Pallas (1986). 202 Später übernimmt auch Johann Friederich Blumenbach in seiner 3. Auflage von »De generis humani varietate nativa« die Ansicht, dass der Ursprung der monogenetischen Menschheit im Kaukasus liegt. Wie Herder argumentiert er mit der Schönheit der dort ansässigen Georgier : »Nomen huic varietati a Caucaso monte, tum quod vicinia eius et maxime quidem australis plaga pulcherrimam hominum stirpem, Georgianam foveat; tum quod et omnes physiologicae rationes in eo conspirent, in eandem regionem, si uspiam, primos humani generis authochthones verisimillime ponendas esse.« (Blumenbach (1795), S. 303 f.) [»Der Name [i.e. Kaukasier] kommt dieser Varietät vom Kaukasus zu, erstens weil die Nachbarschaft desjenigen und vor allem weil die südliche Gegend den schönsten Stamm der Men-

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ein wichtiger Unterschied zu Herder – belässt es bei einer kurzen Andeutung dieser Theorie und lässt sich nicht mehr auf eine detaillierte Schilderung ein. Aufgrund der immensen Zahl neuer empirischer Daten ist er nicht mehr in der Lage, diese zu einer homogenen Weltbeschreibung zusammenzufügen. Der wissenschaftliche Naturforscher erkennt trotz des Bestrebens nach einer universalen Weltbeschreibung die Brüchigkeit eines Monismus, der auf nicht beweisbaren Grundlagen beruht, und bekennt im Wissen um die Grenzen des Erkennbaren bescheiden: »Es ist besser Erscheinungen unerklärt zu lassen, als von Wirkungen auszugehen, die jenseits unserer empirischen Erkenntniss liegen.«203

Zusammenfassend können wir also feststellen, dass schon während der Jahre 1794 und 1795 eine Reihe von Zeugnissen zu finden sind, die eine intensive und kritische Beschäftigung des jüngeren von Humboldt mit dem Hauptwerk Johann Gottfried Herders als sehr wahrscheinlich erachten lassen. Augenscheinlich gingen von Herder wichtige Impulse für Alexanders Konzept einer Forschungsreise aus, das die Zusammenhänge zwischen Mineral-, Pflanzen- und Tierreich berücksichtigte. In die Zeit um 1795 fällt auch Alexanders einzige rein literarische Arbeit, »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius«, die er gegen Ende 1794 zu Papier brachte und im darauffolgenden Jahr in Schillers »Horen« anonym veröffentlichte.204 Dieses Werk werde ich jedoch in Kapitel III.4. eingehender betrachten, da es in einem engen Zusammenhang mit den Horenaufsätzen seines Bruders Wilhelm und den anatomischen und physiologischen Studien bei Justus Christian Loder in Jena steht. Nach den bisherigen Ergebnissen überrascht es wenig, dass auch im »Kosmos«, Humboldts letztem Werk, die Einflüsse Herders zu finden sind. Wie bereits erwähnt, gibt es im gesamten Werk nur eine einzige Angabe von Herders Namen. Lediglich dessen Schilderung der Araber im Buch XIX der »Ideen« findet eine lobende Erwähnung, eine Ausnahme, welche ja auch Wilhelm von Humboldt in seinem kritischen Brief an Karl Gustav von Brinkmann vom Dezember 1793 Herder konzediert hat. Diese Nichterwähnung erstaunt umso mehr, da Alexander im »Kosmos« ausführlich auf die Geschichte der literarischen und künstlerischen Naturdarstellungen eingeht. So hebt er besonders Buffon, Rousseau, Bernardin de St. Pierre, Chateaubriand, Playfair und Georg Forster als wichtigste Anreger für das Naturstudium und die Entwicklung des Naturgefühls in der zweiten Hälfte des schen, den Georgier, begünstigen; und zweitens weil alle physiologischen Gründe darin übereinstimmen, dass sehr wahrscheinlich in jene Gegend, wenn irgendwohin, die ersten Bewohner des Geschlechts der Menschen gekommen sind.«] 203 Humboldt, A. (1799a), S. 5. 204 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b).

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18. Jahrhunderts hervor.205 Warum also fügte er Herders Namen nicht in diese illustre Liste ein – und das zu einem Zeitpunkt, als die Auseinandersetzungen zwischen Kant und Herder über fünfzig Jahre zurücklagen und wohl kaum noch von grosser Bedeutung gewesen sein dürften? Vielleicht gibt uns das Vorwort zum ersten Band des »Kosmos« eine Antwort auf diese Frage, denn bei dessen Lektüre fühlt man sich unweigerlich an Herder erinnert: »Was mir den Hauptantrieb [sich mit den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zu beschäftigen] gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganze aufzufassen. Ich war durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, dass ohne den ernsten Hang nach der Kenntniss des Einzelnen alle grosse und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne. Es sind aber die Einzelheiten im Naturwissen ihrem inneren Wesen nach fähig wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten.«206

Man kann hier nur spekulieren, wen Humboldt mit den »hochbegabten Männern« meint. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass gewisse Parallelen zwischen Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« und Humboldts »Kosmos« bestehen. In der hier zitierten Stelle können wir bereits zwei wichtige Anliegen des Naturforschers finden, die Herder ebenfalls im Vorwort zu seinen »Ideen« hervorhebt. Zum einen wendet Letzterer sich gegen »bloss metaphysische Spekulationen«, die, «abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel«207 führen (Alexander spricht von »Luftgebilden«!). Auch Herder fordert also zunächst die Untersuchung und Erkenntnis der einzelnen Erscheinungen, welche die Grundlage für die Beschreibung des Naturganzen bilden müssen. Dass dieses Naturganze, in dem ein Naturgesetz den Zusammenhang vom »grossen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinngewebes«208 gewährleistet, gegeben ist, bleibt für Herder unbestritten. Alexander ist ebenfalls von einem gesetzmässig geordneten Naturganzen überzeugt, doch Herders Gewissheit ist ihm abhanden gekommen. Die ungeheure Masse neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die sich teilweise sogar zu widersprechen schienen, verunmöglichte es mehr und mehr, deren Gesamtheit zu überblicken. Die Idee eines »Allanblicks«, welchen Herder dereinst im Rückblick noch zu gewinnen glaubte, war als unrealisierbar entlarvt worden. 205 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. II. S. 65. 206 Humboldt, A. (1845 – 1862) Bd. I. S. VI. 207 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 14. 208 Ibid. S. 12.

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Humboldt setzt zwar ebenfalls das Vorhandensein der Naturgesetze voraus, die sich möglicherweise auf eine einzige ursprüngliche Kraft zurückführen lassen, aber er untersucht ausschliesslich die Wirkungen dieser Gesetze. Nur auf diese Weise ist es möglich, immer tiefer in das Wechselspiel einzelner Kräfte einzudringen. Die Erkenntnis der Ursache dieser Kräfte jedoch liegt nach seiner Überzeugung jenseits dessen, was der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt zugänglich ist: »Nach theilweise erkannten Gesetzen konnten hier die Erscheinungen geordnet werden. Gesetze anderer, geheimnisvollerer Art walten in den höchsten Lebenskreisen der organischen Welt: in denen des vielfach gestalteten, mit schaffender Geisteskraft begabten, spracherzeugenden Menschengeschlechts. Ein physisches Naturgemälde bezeichnet die Grenze, wo die Sphäre der Intelligenz beginnt und der ferne Blick sich senkt in eine andere Welt. Es bezeichnet die Grenze und überschreitet sie nicht.«209

Die Reduktion aller Naturkräfte auf eine einzige ist für Alexander von Humboldt nicht mehr möglich. Nur aufgrund einer Vermutung lässt sich keine wissenschaftliche Theorie mehr errichten. Schon in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfasern« warnte er selbst davor, in die Unbekannten x und y mehr hineinzuinterpretieren als sie leisten können: lediglich Stellvertreter für noch zu beweisende Annahmen zu sein. Fügten sich für Herder die neu gewonnenen Erkenntnisse und Fakten noch zu einem allmählich sichtbar werdenden Ganzen zusammen wie die Teile eines Puzzles, muss Humboldt ein halbes Jahrhundert später feststellen, dass ohne scharfe Grenzziehung zwischen einem »physischen Naturgemälde« und der »Sphäre der Intelligenz« eine Weltbeschreibung nicht mehr möglich ist. Der Glaube an den Fortschritt der Naturwissenschaften spielt angesichts dieser Beschränkung auf das objektiv Erkennbare keine Rolle mehr und trägt nichts zur Klärung des Problems bei, ob letztlich eine einzige Urkraft dem Naturganzen zugrunde liegt. Die Gesetze »geheimnisvollerer Art« interessieren Humboldt als Naturforscher nicht, insofern sie nicht mit den Mitteln der Empirie zu erkennen sind. Dieser Verzicht bedeutet allerdings auch, dass der Naturforscher die letzte Gewissheit, welche für Herder letztlich allein durch Gott gewährleistet ist, nicht mehr gewinnen kann. Dass Alexander von Humboldt mit dieser Auffassung noch Mitte des 19. Jahrhunderts eine gewagte Position einnimmt, zeigen die Reaktionen konservativ-kirchlicher Kreise auf die Publikation des ersten Bandes seines »Kosmos«. Mit dem Hinweis, nur das empirisch Nachweisbare führe letztlich zu gesicherten Erkenntnissen, provozierte er scharfe Kritik und den Vorwurf, er vertrete atheistische Ansichten. Gegen den Vorwurf des Atheismus verwahrte Humboldt

209 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 386.

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sich jedoch immer wieder. Er bekräftigte zum Beispiel in einem Brief an Varnhagen, dass der Vorwurf des Atheismus gegen ihn ins Leere greift: »Im Westminster Review sagt in einem langen Artikel ein Doktor Cross, der Stil des Kosmos sei gedehnt und überaus mittelmässig, der häufige Reflex auf die Empfindung würde von englischen Gelehrten für recht überflüssig gehalten, Neues enthalte so ein Buch gar nicht. Dann folgt die Denunciation des Atheismus, obgleich überall von der ›Schöpfung‹ und dem ›Geschaffenen‹ im Kosmos die Rede ist. Auch habe ich noch in der französischen Übersetzung vor acht Monaten mich auf ’s deutlichste also ausgedrückt: ›C’est cette n¦cessit¦ des choses, cet encha„nement occulte, mais permanent, ce retour p¦riodique dans le d¦veloppement progressif des formes, des ph¦nomÀnes et des ¦v¦nements, qui constituent la nature ob¦issante — une premiÀre impulsion donn¦e. La physique, comme l’indique son nom mÞme, se borne — expliquer les ph¦nomÀnes du monde naturel par les propri¦t¦s de la matiÀre; le dernier but des sciences exp¦rimentales est donc de remonter — l’existence des lois et de les g¦n¦raliser progressivement. Tout ce qui est au-del— n’est pas du domaine de la physique du monde et appartient — un autre genre des sp¦culations plus ¦lev¦es. Immanuel Kant, du trÀs petit nombre des philosophes qu’on n’a pas accus¦ d’impi¦t¦ jusqu’ici, a marqu¦ les limites des explications physiques avec une rare sagacit¦ dans son c¦lÀbre Essai sur la th¦orie et la construction des cieux publi¦ — Königsberg en 1755.‹«.210

Die noch heute hin und wieder geäusserte Behauptung, Alexander sei Atheist gewesen, ist deshalb unhaltbar. Die Angriffe von Kirche und restaurativen Kräften auf Humboldts Darstellung der Natur offenbaren aber auf exemplarische Weise, wie weit sich die Denkweisen in den geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Disziplinen voneinander entfernt hatten. Trotz der Einschränkung in Bezug auf die Möglichkeit, alle Naturgesetze empirisch beweisen zu können, sehen wir noch eine weitere Parallele zwischen Herders »Ideen« und dem »Kosmos«. Als Konsequenz seines streng wissenschaftlich-methodischen Ansatzes teilt Humboldt sein »physisches Naturgemälde« zweckmässig in einen uranologischen und einen tellurischen Teil, beginnend mit der Einordnung der Erde in das Planetensystem – und folgt hierin genau der Systematik Herders. Wie dieser betont er ebenfalls die Wichtigkeit 210 Humboldt, A. (1860), 182 f. [»Es ist diese Notwendigkeit der Dinge, diese dunkle, aber fortwährende Verkettung, diese periodische Rückkehr in der fortschreitenden Entwicklung der Formen, Erscheinungen und Ereignisse, welche die Natur, die einem ersten gegebenen Anstoss gehorcht, ausmacht. Die Physik beschränkt sich darauf, wie es ihr Name schon sagt, die Erscheinungen der natürlichen Welt mit den Eigenschaften der Materie zu erklären; das letzte Ziel der experimentellen Wissenschaften ist es doch zur Existenz der Gesetze zu gelangen und diese nach und nach zu verallgemeinern. Alles, was darüber hinausgeht, gehört nicht in das Gebiet der Physik der Welt und ist Teil einer Art gehobenerer Spekulationen. Immanuel Kant, einer der wenigen Philosophen, die bis jetzt noch nicht der Gottlosigkeit angeklagt werden, hat die Grenzen der physikalischen Erklärungen mit einem seltenen Scharfsinn in seiner berühmten ›Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels‹, veröffentlicht 1755 in Königsberg, bezeichnet.«]

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empirischer Datensammlung. Nur eine solche erlaubt ein induktives Verfahren, ein Grundsatz von Francis Bacon,211 der für Humboldt zeitlebens von fundamentaler Bedeutung war : »In meinen Betrachtungen über die wissenschaftliche Behandlung einer allgemeinen Weltbeschreibung ist nicht die Rede von Einheit durch Ableitung aus wenigen, von der Vernunft gegebenen Grundprincipien. Was ich physische Weltbeschreibung nenne (die vergleichende Erd- und Himmelskunde), macht daher keine Ansprüche auf den Rang einer rationellen Wissenschaft der Natur ; es ist die denkende Betrachtung der durch Empirie gegebenen Erscheinungen, als eines Naturganzen.«212

Einige Seiten weiter warnt er noch eindringlicher vor verfrühten Spekulationen über einen »rein rationalen Zusammenhang«. Denn eine Weltbeschreibung im Sinne Humboldts muss sich auf empirisches Wissen gründen und darf nicht mittels Symbolen ein künstliches System über die »Klüfte von noch unergründeter Tiefe« hinweg errichten.213 In diesen Aussagen liegt eine deutliche Absage an die spekulative Naturphilosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und an den ›Weltgeist‹ hegelscher Prägung. Herder bemühte sich in seinen »Ideen« um ein ähnliches Vorhaben. Auch er stützte sich bei seiner Darstellung eines Zusammenhanges des Weltganzen auf die sinnlich erfahrbaren Gegebenheiten, die im Einzelnen überprüfbar sind.214 Nicht die Spekulation über irgendwelche, dem menschlichen Sinn nicht zugänglichen Ursachen der Kräfte oder Naturgesetze war sein Ziel,215 sondern das Sammeln und Zusammenfügen (und Zusammensehen) der neusten Erkenntnisse der Wissenschaften216 zu einer allgemeinen Weltgeschichte, die sowohl Natur- als auch Menschheitsgeschichte umfasst. Doch sein optimistischer 211 Bereits in seinen ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen beruft sich Alexander von Humboldt auf Bacon, so zum Beispiel in seinen »Neuen Versuche über den Metallreitz, besonders in Hinsicht auf die verschiedenartige Empfänglichkeit der thierischen Organe. Aus einem Briefe an den Herrn Hofrath Blumenbach vom Herrn Oberbergrath F. A. von Humboldt.« Die Stelle wurde auf Seite 59 zitiert. 212 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 31. 213 Ibid. S. 65 f. 214 Bacons Wissenschaftsverständnis war ebenfalls von fundamentaler Bedeutung für Herder. In den »Ideen« unterstreicht er mit Nachdruck dessen Forderung nach einer »Erfindungskunst« und stützt nicht zuletzt seinen Wissenschaftsoptimismus auf Bacons Appell für induktive Verfahren. (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 325.) 215 Siehe dazu: Pross (1997). 216 »Von diesen bin ich gewiss, dass sie den exoterischen Versuch eines Fremdlings in ihren Künsten nicht verachten sondern verbessern werden: denn ich habe es immer bemerkt, dass je reeller und gründlicher eine Wissenschaft ist, desto weniger herrscht eitler Zank unter denen, die sie anbauen und lieben. Sie überlassen das Wortgezänk den Wortgelehrten.« (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 15.)

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Glaube an eine Weltbeschreibung, die allein aufgrund empirischer Daten geleistet werden könnte, gab ihm eine ›unwissenschaftliche‹ Gewissheit, die von den Brüdern von Humboldt nicht mehr zu akzeptieren war – das in der Zwischenzeit gesammelte empirische Wissen überforderte mittlerweile schon wegen seiner exponentiellen Zunahme die Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Wie schwierig die exakte Trennung zwischen objektiven Tatsachen und reiner Spekulation für Alexander von Humboldt geworden ist, zeigt die erneute Erörterung der Frage nach der »Wiege des Menschengeschlechts« am Ende des ersten Bandes seines »Kosmos«. Herders Einflüsse sind an dieser Stelle deutlich spürbar, wenn auch Humboldt die Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage klar negiert. Für Alexander ist unbestritten, dass das Problem des ersten Wohnsitzes der Menschheit nur mittels der Geografie und Geschichte gelöst werden könnte. Aber ein spekulatives, sich auf Hypothesen stützendes Vorgehen, wie es Herders Schrift teilweise dokumentiert, wird von ihm nicht mehr akzeptiert. In der folgenden Passage sehen wir eine direkte Anspielung auf die herderschen »Ideen« – und dies sowohl von Alexander als auch indirekt von Wilhelm von Humboldt: »Die geographischen Forschungen über den alten Sitz, die sogenannte Wiege des Menschengeschlechts haben in der That einen rein mythischen Charakter. ›Wir kennen‹, sagt Wilhelm von Humboldt in einer noch ungedruckten Arbeit über die Verschiedenheit der Sprachen und Völker, ›geschichtlich oder auch nur durch irgend sichere Ueberlieferung keinen Zeitpunkt, in welchem das Menschengeschlecht nicht in Völkerhaufen getrennt gewesen wäre. Ob dieser Zustand der ursprüngliche war oder erst später entstand, lässt sich daher geschichtlich nicht entscheiden. Einzelne, an sehr verschiedenen Punkten der Erde, ohne irgend sichtbaren Zusammenhang, wiederkehrende Sagen verneinen die erstere Annahme und lassen das ganze Menschengeschlecht von Einem Menschenpaare abstammen. Die weite Verbreitung dieser Sage hat sie bisweilen für eine Urerinnerung der Menschheit halten lassen. Gerade dieser Umstand aber beweist vielmehr, dass ihr keine Ueberlieferung und nichts geschichtliches zum Grunde lag, sondern nur die Gleichheit der menschlichen Vorstellungsweise zu derselben Erklärung der gleichen Erscheinung führte: wie gewiss viele Mythen, ohne geschichtlichen Zusammenhang, bloss aus der Gleichheit des menschlichen Dichtens und Grübelns entstanden. Jene Sage trägt auch darin ganz das Gepräge menschlicher Erfindung, dass sie die ausser aller Erfahrung liegende Erscheinung des ersten Entstehens des Menschengeschlechts auf eine innerhalb heutiger Erfahrung liegende Weise, und so erklären will, wie in Zeiten, wo das ganze Menschengeschlecht schon Jahrtausende hindurch bestanden hatte, eine wüste Insel oder ein abgesondertes Gebirgsthal mag bevölkert worden sein. Vergeblich würde sich das Nachdenken in das Problem jener ersten Entstehung vertieft haben, da der Mensch so an sein Geschlecht und an die Zeit gebunden ist, dass sich ein Einzelner ohne vorhandenes Geschlecht und ohne Vergangenheit gar nicht in menschlichem Dasein fassen lässt. Ob also in dieser weder auf dem Wege der Gedanken noch der Erfahrung zu entscheidenden Frage wirklich jener angeblich traditionelle Zustand der geschichtliche war, oder ob das

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Menschengeschlecht von seinem Beginnen an völkerweise den Erdboden bewohnte? darf die Sprachkunde weder aus sich bestimmen, noch, die Entscheidung anderswoher nehmend, zum Erklärungsgrunde für sich brauchen wollen.‹«217

Es war Herder, der im zehnten Buch seiner »Ideen« begründete, warum die Menschheit, von einem Menschenpaar abstammend, seinen ersten Wohnsitz in einem abgesonderten Gebirgstal in Asien gehabt haben musste! Die Katastrophentheorie verwerfend, glaubte Herder, dass sich die Erde allmählich aus einem Chaos entwickelt hatte. Zuerst war sie von Wasser bedeckt, und da es noch keine Luft gab, entstand das erste Leben im Wasser. Durch das Absterben der Kleinstorganismen bildete sich eine Sedimentschicht, die wiederum dazu diente, feinere Organismen zu bilden. Als sich das Wasser langsam zurückzog, kamen die höchsten Berggipfel zum Vorschein. Auf ihnen bildeten sich die ersten Pflanzen, später die Tiere, die sich von den Pflanzen ernähren und danach die fleischfressenden Tiere.218 Mit der Erschaffung des Menschen war die Schöpfung abgeschlossen und der Kreislauf des Lebens begann. Erst zuletzt wurde also ein einzelnes Menschenpaar geschaffen, weil mit der zunehmenden Veredelung der Geschöpfe die Anzahl der jeweiligen Art kontinuierlich abnahm. Als Gebieter über die Welt musste es die übrigen Geschöpfe bereits vorgefunden haben. Auch die von Naturforschern gefundenen Fossilien stützen diese Theorie: Menschenknochen wurden erst in den obersten Sedimentschichten gefunden. Da die Menschen nicht vom Instinkt, sondern von der Vernunft, die eine lange Erziehung durch andere Menschen voraussetzt, geleitet werden, kann es nur einen Entstehungsort geben. Denn über die Erde zerstreut wären die vereinzelten Menschen untergegangen. Dieser Ursprungsort des Menschen liegt nach Ansicht Herders in Asien, denn dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen: - Asien bildet den höchstgelegenen Teil der grössten Erdmasse. Deshalb muss dort das früheste und stärkste Zentrum der organischen Kräfte liegen. Die Ausläufer seiner Gebirge reichen in alle Klimaten. 217 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 381 f. 218 Ganz ähnliche Ideen äussert Alexander von Humboldt in einem frühen Entwurf zu einer »Geschichte der Pflanzen« und eines »Naturgemäldes« von 1795, die er am Vierwaldstättersee, auf einer Reise von Mailand nach Luzern, niedergeschrieben hat: »Wo das Wasser ein Häufchen Erde zusammenschwemmt da wachsen Pflanzen. So sieht man Inseln von Kräutern auf den unwirtbaren Granitblöcken des Gotthard u[nd] Bernhard, so Inseln mitten in den Eismeeren am Montblanc. Diese Inseln sind mit Flechten, wie mit Korallenriefen [= riffen], umzingelt. Die fruchtbarsten Provinzen waren einst solche Inseln auf der nackten noch unbedeckten Oberfläche des Erdkörpers. Wenn durch das dörrende Laub der Bäume das Häufchen Erde grösser wird, da nisten sich Menschen u[nd] siedeln sich an.« (Humboldt, A. (1987 – 1997). Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 37.)

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- Unsere Kulturpflanzen und Haustiere stammen ursprünglich aus Asien. Dort leben noch heute die zahmsten und klügsten Tiere. - Die ältesten Sprachen und Sprachreste finden sich in Asien. Sie weisen viele einsilbige, unflektierte Wörter und unveränderte Regeln auf. Ebenso stammen die ältesten Alphabete aus Asien. - Kunst und Wissenschaften haben ihren Ursprung ebenfalls im Orient. Die ältesten Baudenkmäler sowie unsere Ziffern, Zeitrechnung und Astronomie sind asiatischen Ursprungs. - Schliesslich sind auch die ältesten Monarchien in China und in Tibet zu finden, die jahrtausendealte Verfassungen vorweisen können. Doch Herder konnte sich in seinen Ausführungen nicht nur auf die Naturgeschichte und die ältesten historischen Zeugnisse stützen. Beweise lieferten ihm auch die ältesten überlieferten Dokumente früherer Kulturen, die Sagen und Mythen verschiedener Völker sowie der Schöpfungsbericht in der Heiligen Schrift. Die Reihenfolge in der Schöpfungsgeschichte der Genesis stimmt mit der Naturgeschichte überein, ebenfalls ist der monogenetische Ursprung der Menschen von Moses überliefert. Und die wenigen geografischen Hinweise auf das Paradies lassen dieses in Kaschmir vermuten. Herders Theorie ist also sowohl mit der Naturgeschichte als auch mit der Bibel vereinbar. Alle diese hier kurz aufgeführten Begründungen führten Herder zur Überzeugung: »Gnug! der veste Mittelpunkt des grössesten Weltteils, das Urgebürge Asiens hat dem Menschengeschlecht den ersten Wohnplatz bereitet und sich in allen Revolutionen der Erde vest erhalten. Mit nichten erst durch die Sündflut aus dem Abgrunde des Meers emporgestiegen, sondern sowohl der Naturgeschichte als der ältesten Tradition zufolge, das Urland der Menschheit, ward es der erste grosse Schauplatz der Völker, dessen lehrreichen Anblick wir jetzt verfolgen.«219

Wir erkennen deutlich die Bezugspunkte zwischen Herders Theorie und Alexander und Wilhelm von Humboldts kritischer Auseinandersetzung mit derselben. Die beiden Brüder legen ihren Finger genau auf den wunden Punkt der herderschen Beweisführung: Wie nämlich soll ein geschichtsloser Zustand der Menschheit, der ausserhalb jeglicher Erfahrung und Überlieferung liegt, je den ursprünglichen, monogenetischen Zusammenhang aller Völker begründen? Indem Herder den geschichtlichen mit dem geschichtslosen Zustand des Menschengeschlechts verknüpft, überschreitet er die Grenze des menschlichen Erkenntnisvermögens und gelangt ins Reich reiner Spekulation. 219 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 387. In den folgenden Büchern XI bis XX schildert Herder die alte und neue Geschichte der Völker der Erde.

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Für die Gebrüder von Humboldt ist dieses methodische Vorgehen nicht mehr tolerierbar. Sie lassen Herders ›Beweise‹ nicht mehr gelten und beschränken sich auf das wissenschaftlich Nachweisbare, sei es nun auf dem Gebiet der Geschichte, der Geografie oder der vergleichenden Sprachwissenschaft.220 Trotzdem zeigt aber die Tatsache, dass sich Alexander noch mehrere Jahrzehnte nach dem Erscheinen der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« mit der Thematik des Ursprungs des Menschengeschlechts erneut auseinandersetzt, die Aktualität des damit verknüpften Problems. Denn Herders Theorie sollte ja beweisen, dass die Menschheit monogenetischer Abstammung ist, und so den Argumenten der damaligen Vertreter der Polygenese entgegentreten. Vornehmlich der Jurist und Philosoph Henry Home, Lord Kames, vertrat in der Einleitung seiner »Sketches of the History of Man« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die These, die verschiedenen Menschenrassen stammen aus verschiedenen Wurzeln ab und bilden somit unterschiedliche Arten.221 Eine solche Annahme hatte den ›Vorteil‹, dass sie das Dogma einer Überlegenheit der weissen Menschen, der ›Kaukasier‹, stützte und die Sklavenhaltung rechtfertigen konnte. Diese Begründung für die Legitimierung der Sklaverei, die bereits Herder zu widerlegen versuchte, ist Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor aktuell. Eben jene Passage am Ende des ersten Bandes des »Kosmos«, aus welcher obiges Zitat entnommen ist, zeigt die Präferenz Alexander von Humboldts für die These eines monogenetischen Ursprungs der Menschheit. Auch dieser ver220 Friedrich Althaus, der als junger Historiker seine Gespräche und Briefwechsel mit Alexander von Humboldt 1861 anonym veröffentlichte, berichtet von einem Besuch am 30. Juni 1850, bei dem sich Alexander über die ihm zugesandte Schrift »Ueber die Lage des Paradieses« folgendermassen geäussert habe: »›Diese Abhandlung‹, sagte er [Humboldt], ›ist wieder ein seltsames Beispiel von den für die Angelsachsen so charakteristischen Bestrebungen: die jüdisch-christliche Religionsgeschichte in Einklang zu setzen mit den Forschungen der neuern Wissenschaft. Der Verfasser untersucht noch einmal die viel besprochene Gegend von Kaschmir, als das vermuthliche Lokal jenes wundervollen Gartens, wobei das Faktum, dass heutzutage mehrere Monate hindurch Schnee in den Strassen von Kaschmir fällt und der nahe Wulursee regelmässig gefriert, ihn nicht beunruhigt. Natürlich hat, seit jenen Urzeiten, sich auch das Klima verschlechtert. Gab es damals ja selbst in den erstarrten Regionen des Eismeers Palmen und die kolossale Thierwelt der tropischen Zone. Alle derartigen Untersuchungen, weit entfernt, etwas zu beweisen, bewegen sich, der Natur der Sache nach, lediglich in Hypothesen und man legt sie, aus diesem Grunde, meist unbefriedigt aus der Hand.‹« (Humboldt, A. (1861), S. 52 f.) Leider erfahren wir nicht, wer der Verfasser der besprochenen Abhandlung ist. Es wird lediglich erwähnt, dass Humboldt die Schrift aus Nordamerika zugeschickt wurde, wodurch sich seine Kritik an der Geschichtswissenschaft in den anglophonen Ländern erklären lässt. Auch wäre es von Interesse zu erfahren, ob Alexander in diesem Gespräch Herder erwähnt hat. Doch zeigt das Zitat indes, dass offenbar noch Mitte des 19. Jahrhunderts Herders These, im Kaschmir sei das von der Genesis überlieferte Paradies zu finden, breite Unterstützung fand. Ebenso war noch dessen Methode verbreitet, sowohl naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse als auch den Schöpfungsbericht des Alten Testaments als ›Beweise‹ heranzuziehen. 221 Home (1778)

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urteilt die damals immer noch praktizierte Sklaverei aufs Schärfste. Wiederum mit Bezugnahme auf ein Werk seines Bruders Wilhelm stellt er klar : »Indem wir die Einheit des Menschengeschlechtes behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenracen. Es giebt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmässig zur Freiheit bestimmt; zur Freiheit, welche in roheren Zuständen dem Einzelnen, in dem Staatenleben bei dem Genuss politischer Institutionen der Gesammtheit als Berechtigung zukommt. ›Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist, wenn irgend eine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher missverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist, so ist es die Idee der Menschlichkeit: das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurtheile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben, und die gesammte Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe, als Einen grossen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerlicher Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln.‹«222

Alexander und Wilhelm von Humboldts ›unwissenschaftliches‹ Bekenntnis zur Monogenese der Menschheit verdeutlicht hier auf exemplarische Weise das Problem, wie angesichts einer positivistischen Naturwissenschaft nichtbeweisbare Grundüberzeugungen in einem wissenschaftlichen Werk ihre Berechtigung verlieren können. Obwohl beide Brüder Herders Theorie von einem einzigen Entstehungsort unseres Geschlechts aus ethischen und politischen Gründen zweifellos zustimmen, ist es für sie nicht mehr statthaft, irgendwelche Hypothesen über das Ursprungsland der Menschheit aufzustellen. Das Bestreben aber, alle Menschen als gleichberechtigt und als in das Ganze der Natur eingebundene Lebewesen zu betrachten, bleibt stets ihr grosses Ziel – mit der Konsequenz, dass die Wissenschaftlichkeit ihrer Werke auf dem Spiel steht. Das Dilemma, die Einheit des Kosmos zu behaupten, ohne sie empirisch beweisen zu können, und gleichzeitig alles Spekulative aus Gründen der Unwissenschaftlichkeit aus ihren Werken zu verbannen, ist unüberwindbar geworden.

222 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 385. In der beigefügten Fussnote 442 (S. 492) nimmt Alexander von Humboldt ganz entschieden gegen die Sklaverei Stellung: »Das Unerfreulichste und in späteren Zeiten so oft Wiederholte über die ungleiche Berechtigung der Menschen zur Freiheit und über Sklaverei als eine naturgemässe Einrichtung findet sich leider! sehr systematisch entwickelt in A r i s t o t e l e s P o l i t i c a I, 3, 5, 6.« Die im Text zitierte Stelle ist entnommen aus: Humboldt, W. (1836 – 1819), Bd. III, S. 426. Auch in einem Brief an Varnhagen von Ense vom 21. November 1856 äussert Alexander seinen Unmut über die nach wie vor bestehende Sklaverei: »Und die schändliche Parthei, die fünfzigpfündige Negerkinder verkauft, Ehrenstöcke vertheilt, wie der russische Kaiser Ehrendegen, und Gräfe’sche Ehren-Nasen, – die erweist, dass alle weisse Arbeiter auch besser Sklaven als Freie wären, – hat gesiegt. Welche Unthat!« (Humboldt, A. (1860), S. 332.)

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Möglicherweise liegt in dieser Erkenntnis der zutage getretenen Spaltung zwischen den Ansprüchen der modernen Naturwissenschaften und den ›Wahrheiten‹ der Geisteswissenschaften ein Grund für Alexander und Wilhelm von Humboldts Verschweigen der herderschen Impulse in ihren späteren Werken. Das ›geistige Erbe‹ des 18. Jahrhunderts war zwar noch immer sehr wirkungsmächtig, aber es bot keine Grundlage mehr für eine wissenschaftliche Erforschung der Naturgeschichte. Herders monistische Konzeption des Weltganzen prägte zwar nach wie vor das Denken jener, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Einheit des Naturganzen wissenschaftlich beweisen wollten, die Fortschritte in den Naturwissenschaften erschwerten aber den nicht-empirischen Wissenschaften ihren Geltungsanspruch zu legitimieren. Jene Verflechtung von Philosophie, Geschichte und Anthropologie, wie wir sie in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« in beeindruckender Weise vorfinden, war durch die Fülle und Komplexität des Wissens unmöglich geworden. Eine Bezugnahme auf Herders Werk musste in den Augen der humboldtschen Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts antiquiert erscheinen. Alexander von Humboldt konnte seine eigenen Vorgaben aus dem Jahre 1834, die er im »Kosmos« erreichen wollte, nicht mehr erfüllen – nämlich »[…] immer wahr beschreibend, bezeichnend, selbst scientifisch wahr zu sein, ohne in die dürre Region des Wissens zu gelangen.«223

223 Humboldt, A. (1860), S. 23. (Brief Alexander von Humboldts vom 27. Oktober 1834 an Varnhagen von Ense.) Humboldt versuchte seinen »Kosmos« im Stile der »Ansichten der Natur« zu schreiben. Dieses Werk sollte sowohl den Eindruck der Natur als auch die Natur selbst beschreiben und sich dadurch von der Manier Georg Forsters und Chateaubriands völlig unterscheiden. Siehe Näheres dazu in Kapitel V.4.b.

III. Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Bisher konnten wir verfolgen, wie stark die Vorstellung eines Zusammenhanges in der Natur sowie die Annahme einer ›vis vitalis‹, die als grundlegende Kraft des Organischen eine Unterscheidung der lebenden von der toten Materie ermöglichte, das Denken der Brüder von Humboldt prägte. Die Frage, wie nun die anorganische mit der organischen Natur zusammenhängt, beschäftigte auch eine Reihe anderer Gelehrter in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts. Ebenso befassten sich diese mit dem ungelösten Problem, wie das Immaterielle, die Seele, auf die materielle Welt Einfluss nimmt. Doch die Anforderungen der sich formierenden modernen Naturwissenschaften verlangten nach empirischen Beweisen hierfür, um nicht als blosse Spekulation ohne Bezug zur Wirklichkeit zu gelten. Mit diesem Bedürfnis nach empirischen Beweisen, die gemäss dem modernen Verständnis der Wissenschaftlichkeit von jeder Person zu jeder Zeit unter den gleichen Bedingungen experimentell überprüfbar sein müssen, tauchten jedoch grosse Schwierigkeiten auf, die nicht nur mit der Komplexität der Materie oder der Begrenztheit technologischer Fertigkeiten zusammenhingen. Bald schon stiess man an die Grenzen des Erfahrbaren, die zu überschreiten für einen Naturforscher nicht mehr legitim war.1 Aber noch ein weiteres Problem tauchte am Ende des 18. Jahrhunderts am Horizont auf. Mit den unterschiedlichen Ansatzpunkten der jeweiligen Wissensgebiete und der fortschreitenden Spezialisierung wurde es auch schwieriger, einen allgemeinen Dialog über die Fachgrenzen hinaus zu führen. Gebrauchten die Philosophen und Naturforscher teilweise noch dieselben Begriffe, so verstanden sie darunter mitnichten immer das Gleiche. Die unterschiedlichen Gegenstände und Perspektiven verhinderten mitunter eine echte Erörterung der Fragestellungen. Das Zeitalter der Polyhistoriker und Enzyklopädisten ging unaufhaltsam seinem Ende entgegen, sodass zur zunehmenden Komplexität der 1 Speziell zur Problematik des »Seelenorgans« beziehungsweise des »Gehirns« siehe: Hagner (2008).

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wahrnehmbaren Welt ein weiteres Problem hinzukam: Das Problem einer adäquaten Kommunikation.

III.1. Samuel Thomas von Soemmerring und die Suche nach dem Sitz der Seele Den Wunsch jener Zeit, das Unsichtbare sichtbar, oder zumindest erfahrbar, zu machen, dokumentiert exemplarisch die Schrift »Über das Organ der Seele« von Samuel Thomas von Soemmerring, dem damals wohl berühmtesten Arzt und Anatomen.2 Aufgrund von zahlreichen Sektionen menschlicher Gehirne vertrat er Mitte der Neunzigerjahre eine These, die bei seinen Zeitgenossen grosses Aufsehen erregte. Voraussetzend, dass es im Menschen eine einzige Stelle gibt, an der alle sinnlichen Wahrnehmungen zusammentreffen, ein sogenanntes ›sensorium commune‹, welches sich im Gehirn befindet, behauptet er : »Dass dies Sensorium commune in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen (Aqua Ventriculorum Cerebri) bestehe, oder in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen sich finde, oder wenigstens in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen gesucht werden müsse; kurz: dass die Flüssigkeit der Hirnhöhlen das Organ desselben sey.«3

Da alle Hauptnerven in den Gehirnhöhlen enden und dadurch die Medullarsubstanz mit den Muskeln und Organen des Körpers verbinden, gelangen bei sinnlichen Wahrnehmungen die Nervenimpulse – Soemmerring spricht von »Bewegungen« – ins Gehirn. Doch nun bleibt die Frage noch ungelöst, ob diese Impulse einfach aufhören oder in veränderter Form weitergeleitet werden. Für Soemmerring ist es aufgrund seiner empirischen Forschungen und a priori angestellter Überlegungen naheliegend, dass die Nervenreize nicht einfach aufhören können, und er schliesst daraus: »Wenn diese in einem Empfindung erregenden Nerven erfolgende Bewegung weiter als seine Hirnendigung sich erstreckt: so ist schlechterdings nichts anders denkbar, als: – ›Diese Bewegung geht aus der Hirnendigung des Nervens i n d i e mit dieser Hirnendigung in Berührung stehende F e u c h t i g k e i t d e r H i r n h ö h l e n unmittelbar über.‹ Dass bei diesem Uebergehen der durch die Nerven erfolgenden Bewegungen aus den soliden Hirnendigungen der Nerven in die Feuchtigkeit der Hirnhöhlen eine Aenderung der Bewegung vorgeht, ist gerade der wichtigste Beweis für meinen Satz.«4 2 Soemmerring (1796). Siehe dazu: Hagner (1990), S. 211 – 233. Ebenso: Hagner (1994), S. 145 – 161. 3 Soemmerring (1796), S. 32. 4 Ibid. S. 48.

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Soemmerring modifiziert allerdings seine These über den Sitz der Seele bereits dahingehend, dass er nicht eigentlich behauptet, die Seele selbst, die er für etwas Immaterielles hält,5 lasse sich in der Feuchtigkeit der Gehirnhöhlen nachweisen, sondern diese enthalte lediglich das ›sensorium commune‹, welches als eine Art Schaltstelle mit der für uns nicht wahrnehmbaren Seele fungiere. Sich auf Herder berufend stellt er klar, dass keine Kraft der Natur ohne ein Organ, das Organ aber nie die Kraft selbst sei.6 Einschränkend meint er deshalb im Hinblick auf die Verifizierung seiner These schon zu Beginn der Ausführungen: »Bevor ich zu der subtilen Frage komme: ›Lässt’s sich etwa auch a priori einsehen, dass die Feuchtigkeit der Hirnhöhlen das Gemeinschaftliche Sensorium enthält ?‹ muss ich vorher den Satz der transcendentalsten, bis in die fernsten Gefilde der Metaphysik führenden, Physiologie – nämlich: ›Kann eine Feuchtigkeit animir t sey n ?‹ ein wenig berühren. Es geschieht nämlich auch hier, was – wie Kant sagt – überhaupt in dem Widerstreite einer sich über die Gränzen möglicher Erfahrung hinauswagenden Vernunft angetroffen wird, dass die Aufgabe eigentlich n i c h t p h y s i o l o g i s c h sondern t r a n s c e n d e n t a l ist.«7

Soemmerring ist sich also durchaus bewusst, dass er sich mit seinen Untersuchungen an der Grenze zur Metaphysik bewegt. Entsprechend vorsichtig behandelt er das Thema des Sitzes der Seele und versucht deswegen auch nicht, die Seele selbst zu lokalisieren, um nicht in den Verdacht zu geraten, eine materialistische oder gar atheistische Position zu vertreten. Eine gewisse Tragik liegt allerdings in Soemmerrings Bemühen, ausgerechnet Immanuel Kant als Rezensenten seiner Schrift über das Seelenorgan zu gewinnen. Denn dieser erklärt in einem Brief, den Soemmerring sogleich zusammen mit seinem Werk veröffentlicht, dass die vom Autor gestellte Frage nach dem Sitz der Seele gar nicht zu beantworten sei: 5 In aller Schärfe bringt Soemmerring dies in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi zum Ausdruck: »Ich muss daher fürwahr über die Neuern die Achseln zucken, wenn sie das L e b e n (vita) als ein Materielles, als einen Gährungsstoff, als etwas das sich anhäuffen lässt, das man austauschen, vermehren, oder verringern kann, betrachten. Muss das nicht zur Barbarey führen.« (Soemmerring (2001), S. 306. Brief vom 25. April 1796.) 6 Soemmerring (1796), S. 44 f. Soemmerring zitiert an dieser Stelle die Überschrift des zweiten Kapitels des Buches V von Herders »Ideen «: »Keine Kraft der Natur ist ohne Organ; das Organ ist aber nie die Kraft selbst, die mittelst jenem wirket.« (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 158.) 7 Soemmerring (1796), S. 37 f. Der Hinweis auf Kant bezieht sich auf die »Kritik der reinen Vernunft« (Zweite Auflage. Riga 1787. S. 563.). An dieser Stelle meint Kant, dass nicht alle Kausalität der Sinne Natur und deshalb unabhängig von empirischen Gesetzen der Naturursachen sei. (Siehe: Kant (1968). Kritik der reinen Vernunft. Zweites Buch. Bd. IV. S. 489 f.)

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»Die verlangte Auflösung also der Aufgabe vom Sitzpder ffiffiffiffiffiffiffi Seele, die der Metaphysik zugemuthet wird, führt auf eine unmögliche Grösse ( ¢2); und man kann dem, der sie unternimmt, mit dem Terenz zurufen: nihilo plus agas, quam si des operam, ut cum ratione insanias8 ; indess es dem Physiologen, dem die blosse dynamische Gegenwart, wo möglich, bis zur unmittelbaren verfolgt zu haben genügt, auch nicht verargt werden kann, den Metaphysiker zum Ersatz des noch Mangelnden aufgefordert zu haben.«9

Fast schon kurios wirkt angesichts dieser Äusserung von Kant Soemmerrings Einschätzung der Rezension. Offenbar übersieht der Naturwissenschaftler das vernichtende und teilweise sogar geringschätzige Urteil des Philosophen und glaubt mit dessen Beitrag eine besondere Wertschätzung erhalten zu haben, die nicht zuletzt der positiven Aufnahme seines Werkes bei der Leserschaft förderlich sei: »Der Stolz unseres Zeitalters, K a n t , hatte die Gefälligkeit, der Idee, die in vorstehender Abhandlung herrscht, nicht nur seinen Beyfall zu schenken, sondern dieselbe sogar noch zu erweitern und zu verfeinern und so zu vervollkommnen. Seine gütige Erlaubniss gestattet mir, meine Arbeit mit seinen eigenen Worten zu krönen.«10

Doch das Dementi Kants zu Samuel Thomas von Soemmerrings These übte eine nachhaltige Wirkung auf die Zeitgenossen aus. Es setzte ein deutliches Signal gegen die Ansprüche der Physiologie oder der entstehenden Neurowissenschaften und vermochte die Ambitionen der Gelehrten zu mässigen, die ähnlichen Fragestellungen nachgingen. Goethe zum Beispiel warnte Soemmerring denn auch vor einem zu leichtfertigen Umgang mit dem Begriff ›Seele‹. Er kritisierte vor allem, dass dieser sich zu sorglos auf das Gebiet der Philosophie begeben hatte, anstatt sich als »Empiriker« und »Realist« an seinen Gegenstand zu halten.11 Die Verunsicherung, die Kants Kritik auslöste, findet man auch in den Äusserungen Wilhelm und Alexander von Humboldts zu Soemmerrings Werk. Denn gerade zu der Zeit, als sich die beiden Brüder intensiv mit anatomischen und physiologischen Versuchen beschäftigten, erschien Soemmerrings Abhandlung »Über das Organ der Seele« zusammen mit der Rezension Kants. So ist es nicht erstaunlich, dass sowohl Wilhelm als auch Alexander die kritische Beurteilung des Königsbergers reflektierten. 8 [»Du würdest nicht mehr vollbringen, als wenn du dir Mühe gibst, mit Vernunft wahnsinnig zu sein«.] 9 Immanuel Kant: Rezension von Soemmerings »Über das Organ der Seele«. In: Soemmerring (1796), S. 86. 10 Ibid. S. 81. 11 Soemmerring (2001), S. 249. Brief vom 28. August 1796.

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Wilhelm von Humboldt, mit Soemmerring seit September 1788 bekannt,12 las dessen Schrift und Kants Rezension bereits vor ihrer Publikation 1796. In einem Brief an Friedrich Schiller empfahl er die Arbeit über das Seelenorgan als eine »interessante Kuriosität«, denn der Autor mache darin das Wasser der Hirnhöhlen, worin die Nervenursprünge »gebadet« werden, zum Organ der Seele. Offensichtlich war das oberflächliche und fehlerhafte Urteil Wilhelms stark von Kants Kritik beeinflusst, weshalb er auch mehr auf dessen Urteil einging als auf das Werk des Anatomen.13 Soemmerrings Hinweis, dass nicht die Hirnfeuchtigkeit selbst die Seele enthalte, da diese nicht als Substanz nachweisbar sei, sondern bloss jenes ›sensorium commune‹, welches die Vermögen der menschlichen Seele ordne und koordiniere, schien sowohl Kant als auch Wilhelm von Humboldt entgangen zu sein. Im Grunde verfällt Kant in seiner Argumentation gegen Soemmerrings These in den alten cartesianischen Dualismus, wenn er kategorisch zwischen Sinneseindrücken, die ihre »Gehirnspuren« hinterlassen und der nicht lokalisierbaren Seele unterscheidet.14 Wilhelm, der zu dieser Zeit offenbar sehr erpicht darauf war, von Kant beachtet zu werden, übernahm kritiklos die Ansichten des Königsbergers, obwohl es gerade auch sein Anliegen war, den cartesianischen Leib–Seele–Dualismus zu überwinden.15 Seine damaligen physiologischen Studien und anatomischen Untersuchungen der Schädelknochen sollten dazu beitragen, die Natur als monistische Einheit zu verstehen. Doch die Autorität Kants und die Angst vor dem Vorwurf des Materialismus liessen ihn anscheinend sein widersprüchliches Verhalten übersehen – eine Feststellung, die wir bereits in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit Herder gemacht haben. Möglicherweise gibt es noch einen weiteren Grund für die abfällige Kritik von Wilhelm von Humboldt an Soemmerrings Schrift. Wie schon erwähnt, beschäftigten sich die Brüder von Humboldt zu dieser Zeit ebenfalls mit anatomischen Studien, jedoch ausgerechnet bei Justus Christian Loder, einem scharfen Kritiker von Soemmerrings Arbeiten. Wilhelms Nähe zu Soemmer12 Im Nachlass von Soemmerring findet sich ein Empfehlungsschreiben Georg Forsters, datiert in Göttingen am 16. September 1788, in dem dieser den Anatomen in Mainz bittet, die Überbringer der Empfehlung, seine Freunde »Herr von Humboldt aus Berlin, der hier studirt, und während der Ferien den Rhein besuchen will,« und »Dr. Crighton aus Schottland«, Gefälligkeiten zu erweisen. (Abgedruckt in: Wagner, R. (1986). Bd. I; S. 274; Brief 141.) 13 »Dieser Brief [von Kant] ist äusserst originell und enthält ausser einer sehr gut gewandten Zurechtweisung über die Sonderbarkeit, einen Sitz der Seele zu suchen, eine Hypothese, wie jenes Wasser auf die Nerven wirken könne, in der Kant ganz so wie in seiner ›Theorie des Himmels‹ erscheint und wie man seit vielen Jahren ihn nicht wieder auftreten sah.« (Humboldt, W. (1962). Bd. 1; S. 161 f. Brief vom 28. September 1795.) 14 Immanuel Kant: Rezension von Soemmerings »Über das Organ der Seele«. In: Soemmerring (1796), S. 82 f. Kant erwähnt Descartes explizit auf S. 83! 15 Siehe dazu auch Kapitel III.3.

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rings Widersacher hinderte ihn wohl an einem objektiven Urteil über »Das Organ der Seele«. Doch Soemmerring dürfte Wilhelms Kritik nicht allzu ernst genommen haben, denn auch der Anatom äusserte sich spöttisch über dessen naturwissenschaftliche Ambitionen: »Ich schrieb dies Werkgen [›Über das Organ der Seele‹] auch mit in der Absicht um gutmüthig scherzend zu zeigen, wozu die Anatomie noch führen kann, da ich hörte dass Humboldt senior fleissig dissecirte, um zu zeigen, was man aus der Anatomie für die Psychologie n i c h t l e r n e n k ö n n e . Er mag mir nachklettern, aber mit der Kritik der reinen Anatomie ja nicht den Hals brechen.«16

Offensichtlich spricht Soemmerring mit der »Kritik der reinen Anatomie« auf Humboldts Beschäftigung mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« an. Denkbar wäre es deshalb, dass er von Wilhelms abfälligen Äusserungen über sein Werk Kenntnis hatte. Sehr viel vorsichtiger fallen Alexander von Humboldts Urteile über Soemmerrings Schrift aus. Dies mag zunächst daran liegen, dass die beiden Naturalisten seit ihrer Bekanntschaft 1790 in Mainz freundschaftlich verbunden waren.17 Bereits in der »Florae Fribergensis specimen« bezeichnet er Soemmerring als berühmten Mann »qui inter amicos et praeceptores pie mihi colendos primarium occupat locum«.18 Ob jedoch Soemmerring die Freundschaft Alexanders ebenfalls so sehr schätzte, ist aufgrund mangelnder schriftlicher Zeugnisse heute schwer einzuschätzen. Denn zumindest während der ersten Jahre ihrer Bekanntschaft gab es eine wichtige Differenz in ihrer jeweiligen Auffassung über die Reizbarkeit des Organischen. Soemmerring bestritt nämlich, dass Pflanzen fähig seien, auf einen Reiz mit Bewegung zu reagieren, wohingegen Alexander in seiner »Florae Fribergensis specimen« die Süsskleeart Hedysarum gyrans als Gegenbeweis anführte.19 Damit stützte Humboldt seine bereits Anfang 1791 gegen Soemmerring geäusserte Hypothese, dass es zwischen Pflanzen und Tieren zahlreiche Übereinstimmungen gäbe.20 Hintergrund dieser Annahme war Alexander von Humboldts Leitgedanke der alles Organische verbindenden ›vis vitalis‹. Diese Lebenskraft ist es auch, welche Humboldt in den Aphorismen zur »Florae Fribergensis specimen«, unter Berufung auf Spinoza, gegenüber Soemmerring verteidigt: 16 Soemmerring (2001), S. 249. Brief an Konrad Engelbert Oelsner vom 27. Oktober 1795. 17 Ob sich Humboldt und Soemmerring eventuell bereits im November 1789 im Hause Georg Forsters kennengelernt haben, ist bis heute nicht geklärt. Siehe dazu: Kümmel (1985), S. 74 f. 18 Humboldt, A. (1793), § 10. S. 172. [»der unter meinen verehrungswürdigen Freunden und Lehrern gewiss den ersten Platz behauptet«.] 19 Auch Carl Friedrich Kielmeyer führte in seiner berühmten Rede »Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte« das Hedysarum gyrans [= Desmodium motorium; Telegraphenpflanze aus Südostasien] als Beweis für die Irritabilität bei Pflanzen an. (Kielmeyer (1993), S. 20.) 20 Siehe dazu: Jahn / Lange (1973), S. 123. (Brief Nr. 65 vom 28. Januar 1791.)

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»Discrimen inter plantas et animalia ex eo ortum esse videtur, quod homines inculti, quum res creatas in classes distribuere incepissent, characteres diagnosticos ex ultimis, ut ita dicam, naturae terminis peterent. Plantae vocabulum sane nunquam fictum fuisset vel plane ignorares si quocunque oculos conjeceris, nil nisi vegetabilia et zoophytas animadvertisses. ›Solent homines verum naturalium ideas formare universales, quas rerum veluti exemplaria habent et quas naturam intueri credunt, sibique exemplaria proponere.‹ B e n . S p i n o z a i n E t h i c a S. 162.«21

Doch trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen bestand Mitte der Neunzigerjahre aufseiten Humboldts ein lebhaftes Interesse an der Gunst des Anatomen. Grund dafür waren seine galvanischen Versuche, mit denen er sich nun vornehmlich beschäftigte. Soemmerring interessierte sich schon vor Humboldt für das Phänomen des Galvanismus, doch liess er die Resultate seiner eigenen Experimente unveröffentlicht. Im Unterschied zu Humboldt vertrat Soemmerring eher die Meinung Alessandro Voltas, dass nämlich die Muskeln keine eigene tierische Elektrizität besässen.22 Ihr gemeinsames Interesse führte zu einem regen Briefwechsel, in dem sie sich über ihre Ansichten austauschten. Konsequenterweise bat Alexander seinen Freund Soemmerring, ihm die »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« widmen zu dürfen. Geradezu flehentlich schrieb er ihm im Sommer 1795, während der Zeit also, als das Manuskript »Über das Organ der Seele« schon unter interessierten Gelehrten herumgereicht wurde, aus Bayreuth: »Ich will Ihnen ein Buch dediciren, ich ein physiologisches, es soll bald gedrukt werden, und Sie haben es noch nicht erlaubt… Das ist eine sonderbare Dreistigkeit. […] Es [das Buch »Physiologische Versuche über gereizte Nerven- und Muskelfasern] wird alles enthalten, was ich Zootomisches, über Respirat[ion] mache, Thiere, physiologia comparata der Pflanzen und Beleuchtungen der w i c h t i g e n Arbeiten von Reil (Gautier de irritabilitatis notione, natura et morbis 1793 und Abhandl[ung] über Gehirn und Nerven, Grens Neues Journ[al] d[er] Phys[ik] 1795, St.1.) enthalten. Werden 21 Humboldt, A. (1793), §. 6. S. 151. Anm.***. In Fischers Übersetzung: »Der Unterschied zwischen Thieren und Pflanzen scheint daher entstanden zu seyn, dass die noch unkultivirten Menschen, welche die Geschöpfe in Classen abzutheilen anfiengen, ihre Merkmale, wenn ich mich so ausdrücken darf, von den äussersten Gränzen der Natur hernahmen. Das Wort Pflanze würde gar nicht erfunden worden, oder uns wenigstens ganz unbekannt seyn, wenn man überall, wohin man nur blickte, nur Vegetabilien und Zoophyten sähe. ›Die Menschen pflegen sich von den natürlichen Dingen allgemeine Ideen zu bilden, welche sie für die Dinge selbst halten, und ihre Natur darin zu erblicken glauben.‹ B e n . S p i n o z a i n E t h i c a S. 162.« (Humboldt, A. (1794), §. 6. S. 48. Anm. 75.) Aus dieser Stelle ist die grosse Bedeutung der Zoophyten zu ersehen, welche bei den Problemen der Klassifikation und des Überganges zwischen Pflanzen und Tieren eine wichtige Rollen spielten. Alexander von Humboldt war mit den neusten Entdeckungen Johann Friedrich Blumenbachs, seines ehemaligen Lehrers in Göttingen, auf diesem Gebiet bestens vertraut und unterhielt mit diesem einen intensiven Briefwechsel. 22 Siehe dazu den Aufsatz von: Kümmel (1985), S. 73 – 87.

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Sie es mir verzeihen, wenn ich es wagte, diesem Büchlein Ihren Namen vorzusezen? Sie wissen, wie unendlich ich Sie liebe und schäze, und was ich Ihren Schriften, Ihrem Umgange danke, habe ich schon öffentlich gesagt.«23

Soemmerring willigte schliesslich zur Dedikation des Werkes ein, das allerdings erst 1797, nach gründlicher Überarbeitung, unter dem Titel »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt« erschien und nunmehr ausschliesslich galvanische und chemische Versuche enthielt.24 Humboldt bat Soemmerring noch um einen Appendix zu seinem Werk, doch dieser wurde nie geschrieben.25 Alexander umgeht also mit der Konzentration auf die Fragen des Galvanismus die Behandlung jener heiklen Frage nach dem Sitz der Seele. Obwohl er öfter auf Soemmerrings Schriften über die Muskel-, Gefäss- und Nervenlehre hinweist, sind seine Äusserungen zur Abhandlung »Über das Organ der Seele« eher spärlich. Sobald es um Fragestellungen geht, die an die Grenze der Empirie führen, wird Humboldt äusserst vorsichtig. Im ersten Band der »Versuche« nimmt er zunächst Stellung gegen die Vorstellung, geistige Tätigkeiten seien chemische oder mechanische Prozesse des Gehirns. Zwei Einwände bringt er gegen solche Behauptungen vor : Erstens liegen geistige Prozesse ausserhalb unseres Wahrnehmungsvermögens, und zweitens führen anderweitige Behauptungen zum gröbsten Materialismus. Einschränkend fügt er jedoch an: »Wenn aber auch das Denken selbst weder ein chemischer Process, noch Folge mechanischer Erschütterung ist, so scheint es doch keineswegs unphilosophisch, fibröse Bewegung, oder chemische Zersetzungen im Seelenorgane**) g l e i c h z e i t i g m i t d e m D e n k e n anzunehmen. Viele Erfahrungen, deren Herzählung nicht in diesen Abschnitt gehört, machen jene Annahme vielmehr sehr wahrscheinlich.«26 **) Vgl. Kant’s Ideen darüber in Sömmering über das Organ der Seele, 1796. S. 85.

Kant spricht an jener Stelle, auf die Humboldt hier hinweist, über die Möglichkeit, dass das Wasser der Gehirnhöhlen während des Denkens ständig durch Nervenreize in seine Urstoffe zersetzt werden könnte. Deshalb müsse man aber nicht wie Soemmerring annehmen, dass dieses Wasser organisiert [organisch] sei und das ›sensorium commune‹ enthalte, sondern es genüge zu sagen, dass dieses kontinuierlich organisiert werde. 23 Abgedruckt in: Jahn / Lange (1973), S. 428 f. (Brief Nr. 303 vom 7. Juni 1795.) 24 Wegen der Publikation von Christoph Heinrich Pfaffs Schrift »Ueber die thierische Electricität und Reizbarkeit« (Pfaff (1795)), die zahlreiche ähnliche Versuche enthielt, sah sich Humboldt gezwungen, einiges zu streichen und neue Experimente beizufügen. 25 Abgedruckt in: Jahn / Lange (1973), S. 438. (Brief Nr. 316 vom 29. Juni 1795.); S. 491. (Brief Nr. 353 vom 7. Februar 1796.) 26 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 297.

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Über die eigentliche Funktion des Gehirnwassers, welches nach Soemmerring das ›sensorium commune‹ enthält, geht Alexander von Humboldt weder an dieser noch an anderer Stelle ein. Er spricht lediglich von einer »wahrscheinlich« vorhandenen Parallelität geistiger und physischer Prozesse beim Denken. Diesen Gedanken nimmt er später, im zweiten Band, wieder auf, wenn er die in der damaligen Naturforschung umstrittene Frage behandelt, ob auch Organismen ohne Nerven und Gehirn Sinneswahrnehmungen haben können: »Aber ausser der Materie oder den Objecten des äusseren Sinnes, erkennen wir an den organischen Wesen noch etwas anderes, welches in Wechselwirkung mit ihnen steht – ein immaterielles Princip, ein Object des innern Sinnes, eine vorstellende Kraft. Ob die Verbindung dieser Kraft mit der Materie in der ganzen organischen (belebten, erregbaren) Welt, von der Steinflechte bis zum Menschen, oder nur da statt findet, wo Hirnund Nervensubstanz vorhanden sind, scheint mir eine Untersuchung zu seyn, welche ganz ausser den Grenzen menschlicher Wahrnehmungen liegt und weder auf dem Wege des Experiments noch auf dem des Raisonnements zu verfolgen ist.«27

Aufgrund dieser Reflexionen widerspricht er Reil, der behauptet hat, sinnliche Vorstellungen seien ohne Bewegung des Gehirns nicht möglich. Die Konsequenz dieser Annahme wäre der materialistische Grundsatz, dass die Tätigkeiten der Seele von der Beschaffenheit des Körpers abhängig seien. Ohne nun expressis verbis Reil vor dem Vorwurf des Materialismus zu ›beschützen‹, führt Humboldt genau jenes Argument von Kant an, welches dieser gegen Soemmerrings Seelenschrift vorbrachte: »Diese Vorstellungen führen alle auf die Bestimmung welche Herrn Reils philosophigewiss zuwider ist und welche Kant*) sehr fein mit der darzuschen Grunds ätzen pffiffiffiffiffiffi ffi stellenden ¢2 vergleicht. Es ist allerdings denkbar, dass dem Sinnenprocess in der Materie etwas als g l e i c h z e i t i g existirend, respondirt; denkbar, dass dieser Process zunächst a u f e i n e n b e s t i m m t e n T h e i l des organischen Körpers (Hirn) eingeschränkt ist, folgt aber daraus, dass dieser Theil in allen belebten Wesen gleichartig konstruirt ist, dass, da, wo wir nichts hirnartiges sehen, auch keine Vorstellungen vorhanden sind? Aus welchem Grunde dürfen wir schliessen, dass beim Embryo, vor der Ausbildung des Hirns auch keine Vorstellungen möglich sind?«28 *) S ö m m e r i n g über das Organ der Seele. S. 86.

Auffallend ist, dass es Humboldt stets vermeidet von der Seele oder vom Sitz der Seele zu sprechen und Soemmerrings Schrift immer nur indirekt, über die Rezension Kants erwähnt. Nirgends findet sich ein konkretes Urteil zu seiner Theorie. Es entsteht somit der Eindruck, als möchte er sich nicht direkt über das Problem des Leib–Seele–Dualismus äussern. Seine Vorstellung der Gleichzei27 Ibid. Bd. II. S. 42. 28 Ibid. Bd. II. S. 43.

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tigkeit von seelischen und physischen Prozessen überspielt die Unsicherheit in Bezug auf die Frage, ob und wie diese Prozesse zusammenhängen könnten. Möglicherweise liegt der Grund für Alexanders Zurückhaltung in seiner eigenen Verunsicherung ob der Beweisbarkeit der a priori gesetzten Lebenskraft. War er zu Beginn seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Physiologie von dieser noch überzeugt, so schwindet im Laufe der Jahre seine Gewissheit darüber mangels Erfolgen bei diesbezüglichen Untersuchungen. Wäre eine Lebenskraft, die alles Organische verbindet und das Leben per definitionem erst ermöglicht, vorhanden, könnte diese als Grundprinzip aller physischen und seelischen Tätigkeiten vorausgesetzt werden. Der Dualismus zwischen Körper und Seele wäre dann in der Tat überwunden. Doch ohne den empirischen Nachweis der Lebenskraft basiert der von Humboldt angestrebte Monismus lediglich auf einer Hypothese, die dem Naturwissenschaftler nicht mehr genügt. Stattdessen versucht Alexander später, die Flüssigkeit im Gehirn, das Hirnwasser, chemisch zu analysieren. In einem Brief an Friedrich von Schuckmann teilt er erste Resultate seiner Untersuchungen mit. So findet er heraus, dass das Hirnwasser eine von den »andern der thierischen Säfte« verschiedene Flüssigkeit ist. Die Frage nach dem Sitz der Seele klammert er jedoch bei seinem Forschungsziel aus. In Parenthesen fügt er lediglich ein: »wenn auch die Seele nicht darin [im Hirnwasser] schwimmt.«29 Vor diesem Hintergrund wird Alexanders zögerliche Haltung gegenüber Soemmerrings Seelenschrift verständlich. Selbst in persönlichen Briefen an den Anatomen spricht Alexander von Humboldt nur sehr unverbindlich darüber. Er lobt zwar die Abhandlung »Über das Organ der Seele« als »prächtig« und zeigt sich erstaunt, dass diese Schrift »so allgemein Sensation machte«. Aber sogleich fügt er an: »Ich habe nicht Zeit, Ihnen heute mehr als den allgem[einen] Ausdruk meiner Empfindungen zu geben.«30

Die Zeit für eine eingehendere Erörterung von Soemmerrings Seelenschrift sollte Alexander von Humboldt überhaupt nicht mehr finden.

29 Jahn / Lange (1973), S. 579. (Brief Nr. 407 vom 14. Mai 1797.) 30 Ibid. S. 506. (Brief Nr. 363 vom 9. April 1796.)

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III.2. Die anatomischen und physiologischen Studien in Jena Im Mai 1795 berichtete Alexander von Humboldt in einem Brief an Johann Wolfgang Goethe, den er vor wenigen Monaten persönlich in Jena kennengelernt hatte,31 womit er sich in nächster Zukunft befassen werde: »Ich werde ein botanisches Werk unter dem Titel: Ueber die Vegetation im Innern des Erdkörpers, ein Fragment aus der allgemeinen Naturbeschreibung, herausgeben. Ich dachte das L e b e n , nicht die Form der lichtscheuen Pflanzen darzustellen, und hier eine Probe zu liefern, wie nach meinen Einsichten organische Wesen behandelt werden müssen. Es ist eine Lieblingsidee von mir, diese obscure Schrift Ihnen zuzueignen.«32

Alexander hat dieses botanische Werk, das ein Thema zweier seiner früheren Aufsätze33 wieder aufgenommen und weitergeführt hätte, nie publiziert. Doch zeigt die Briefstelle sehr deutlich, dass er sich zu dieser Zeit intensiv mit der Frage beschäftigte, was denn das ›Leben‹ eigentlich konstituiert. Nach wie vor war die Überzeugung, dass eine Lebenskraft vorhanden seine müsse, die für alles Organische grundlegend ist, eine Hauptmotivation für seine Studien. Seine Hoffnung war gross, dieser Lebenskraft auf die Spur zu kommen, auch wenn er bereits erste Zweifel bezüglich ihrer Beweisbarkeit hegte.34 Eine neue Möglichkeit, der Lebenskraft auf die Spur zu kommen, schien der Galvanismus zu bieten. Wie ich bereits im vorigen Kapitel erwähnt habe, wandte sich auch Alexander Mitte der Neunzigerjahre diesem in ganz Europa diskutierten Phänomen zu. Es handelte sich dabei um die Frage, ob die von Luigi Galvani beobachteten Muskelzuckungen von Froschschenkeln, die hervorgerufen werden, wenn Muskeln oder Nerven der Schenkel mit Metallen berührt werden, auf eine tierische Elektrizität, das ›Galvanische Fluidum‹, deuten. Alexander teilte aufgrund eigener Experimente die Ansicht Galvanis und versuchte die Argumente von dessen Gegner Alessandro Volta zu widerlegen. Dieser nahm an, die Muskelzuckungen der Frösche würden bei einer Berührung lediglich durch den Metallreiz, der durch die elektrische Ladung des Metalls selbst ausgelöst wird, verursacht.35 Um Galvanis These zu beweisen, experi31 Alexander von Humboldt traf Goethe wahrscheinlich zum ersten Mal am 14. Dezember 1794 im Hause seines Bruders in Jena. (Schleucher (1985), S. 105.), Doch bereits 1790 übersandte er Goethe ein Exemplar seiner Abhandlung »Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein.« 32 Bratranek (1876), S. 307. Brief vom 21. Mai 1795. 33 Humboldt, A. (1792a) Bd. 5; S. 195 – 204. – Humboldt, A. (1792b). St. 3, S. 53 – 58. 34 Vergleiche das Kapitel II.2. 35 Die Frage, ob es eine tierische Elektrizität gibt, konnte damals wegen der zu wenig exakten Messinstrumente nicht endgültig geklärt werden. Die in dieser Zeit gemachten Beobachtungen verschiedener Forscher beruhten nicht auf einer tierischen Elektrizität. Insofern behielt Volta Recht, der die Muskelzuckungen damit erklärte, dass bei der Berührung einer organischen Materie mit einem Metall die elektrische Ladung des Metalls entladen wird und

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mentierte Humboldt mit Tausenden von Tieren und Pflanzen und war letztlich von der Existenz eines ›Galvanischen Fluidums‹ überzeugt: »Ich fange von der Erscheinung des Galvanismus an, weil ich durch die Art, wie ich diese Versuche anstellte, unwidersprechlich erweisen zu können glaube, dass der Stimulus in diesem wunderbaren Phänomen grösstentheils von den Organen selbst ausgeht, und dass diese sich dabei keineswegs bloss leidend, etwa als elektroskopische Substanzen, verhalten.«36

Das Verlockende an der Annahme einer ›tierischen Elektrizität‹ war die Aussicht, diese eventuell als die so intensiv gesuchte Lebenskraft zu identifizieren. Dass Alexander tatsächlich eine Verbindung zwischen der ›vis vitalis‹ und dem ›Galvanischen‹ Fluidum herstellte, belegt ein weiterer Brief an Goethe vom Juli desselben Jahres. Humboldt war besonders stolz über eine Entdeckung, welche er bei Versuchen zur tierischen Elektrizität gemacht hatte. Er stellte nämlich fest, dass Froschschenkel zu zucken beginnen, wenn die Glasplatte, auf welcher Muskel und Nerv des Frosches, ohne sich zu berühren, liegen, angehaucht wird.37 Goethe hatte von diesen Hauchversuchen offenbar zuerst durch Wilhelm von Humboldt erfahren,38 bevor er sich selbst an Experimenten beteiligte, und zeigte sich von dem Phänomen sehr beeindruckt. In einem Nachtrag zu dem eingangs erwähnten Brief an Goethe geht Alexander kurz auf Goethes Würdigung seiner Entdeckung ein: »Auch ich halte viel auf meinen Versuch mit dem Hauch, aqistsm lem udyq. Das ist das Lebensprincip, der Geist, der über den Wassern schwebt.«39

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Zuckungen in der organischen Materie hervorruft. Trotzdem hatte Galvani mit seiner Behauptung, es gäbe eine tierische Elektrizität, nicht Unrecht. Doch konnte diese erst 1849 von Emil DuBois-Reymond, einem von Alexander von Humboldt geförderten Naturwissenschaftler, mithilfe besserer Messgeräte nachgewiesen werden. (Siehe dazu: Jahn (1967). S. 135 – 156.) Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 2. Erst später bemerkte Alexander, dass bereits Christoph Heinrich Pfaff ähnliche Hauchversuche angestellt hatte: »Ich beobachtete diese Erscheinung zuerst im Monat April 1795. Sie überraschte mich so sehr, dass ich dieselbe wenige Wochen nachher den Herren Hofräthen S ö m m e r i n g , B l u m e n b a c h , H e r z und dem Herrn Geheimenrathe v o n G ö t h e , meldete. In allen bis dahin erschienenen Schriften über den Galvanismus fand ich keinen Versuch, der auch nur eine entfernte Aehnlichkeit mit meiner Entdeckung hatte; kaum aber fiel mir die zur Ostermesse erschienene treffliche Schrift des Herrn D . P f a f f in die Hände, so stiess ich darin auf Erfahrungen, welche den meinigen s e h r a n a l o g sind.« (Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 77 f; Anm.*) Goethe schrieb Alexander von Humboldt am 18. Juni 1795: »Ihre neuern Versuche über das galvanische Fluidum, die mir Ihr Herr Bruder mitgetheilt hat, sind sehr interessant. Wie merkwürdig ist, was ein blosser Hauch und Druck, eine Bewegung thun kann!« (Jahn / Lange (1973), S. 436. Brief Nr. 312.) Bratranek (1876), S. 311 f. Brief vom 16. Juli 1795. [»das Beste aber ist das Wasser«; Pindar, 1. Olympische Hymne.]

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Sowohl Goethe als auch Humboldt waren also fasziniert von der Möglichkeit, ein »Lebensprincip« zu entdecken. Doch darf hierbei nicht übersehen werden, dass Humboldt bereits zu dieser Zeit, bei Beginn seiner galvanischen Experimente, zwischen dem Lebensprinzip und der Lebenskraft anfing zu unterscheiden. Wir erkennen anhand Alexanders Auseinandersetzung mit dem Galvanismus, wie unsicher er, und mit ihm auch sein Bruder und seine Freunde in Weimar und Jena, im Umgang mit dem Phänomen ›Leben‹ geworden ist. Dies bestätigen uns ebenfalls seine Äusserungen in Briefen an seinen damals wohl engsten Vertrauten Carl Freiesleben. Innerhalb von weniger als zwei Monaten berichtete er ihm in zwei Briefen über die Hoffnungen, die er mit seinen aktuellen Versuchen verband. So schrieb er seinem Freund Ende 1795: »Ich habe eine neue, unumstössliche Definition der Lebenskraft gefunden, auf die ich viel halte, und glaube jetzt die alte Definition40 zu widerlegen«;41

und Anfang 1796 verkündete er ihm optimistisch: »Ich glaube, nun bald den gord[ischen] Knoten des Lebensprocesses zu lösen. Brennen und Leben ist Eins. Entzündlichkeit ist Reizbarkeit.«42

Humboldts Schwanken zwischen den Bezeichnungen »Lebenskraft«, »Lebensprincip« und »Lebensprocess« ist Ausdruck einer tiefen Verunsicherung. Zum einen förderte die anhaltende Beschäftigung mit in erster Linie tierischen Organismen die Einsicht in die Komplexität der vitalen Prozesse, zum andern schien die eingehende Untersuchung der Schnittstellen zwischen Leben und Tod oder Körper und Geist gerade die Konturen der Forschungsobjekte zu verwischen. Waren auf dem Gebiet der Mineralogie oder Botanik die Grenzen der Disziplinen noch klarer definiert, so liessen sich in anthropologischen Belangen die Fragen der Metaphysik doch nicht so einfach zurückdrängen. Gerade die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, wurde in jener Zeit zur leitenden Disziplin. Aus diesem Grund lässt sich die damals in ganz Europa um sich greifende Faszination für galvanische Experimente ohne deren Verbin40 Mit der alten Definition der Lebenskraft ist diejenige gemeint, welche Alexander von Humboldt in den Aphorismen zur »Florae Fribergensis specimen« postulierte: »Materiam segnem, brutam, inanimam eam, vocamus, cujus stamina secundum leges chymicae affinitatis mixta sunt. Animata atque organica ea potissimum corpora appellamus, quae, licet in novas mutari formas perpetuo tendant, vi interna quadam continentur, quo minus priscam sibique insitam formam relinquant.« (Humboldt, A. (1793), § 1, S. 133.) [»Träge, unbelebte Materie nennen wir diejenige, deren Bestandtheile nach den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gemischt sind; belebte und organisirte Körper hingegen diejenigen, welche, des ununterbrochnen Bestrebens ihre Gestalt zu ändern ungeachtet, durch eine gewisse innere Kraft gehindert werden, ihre erste, ihnen eigenthümliche Form, zu verlassen.« Humboldt, A. (1794), §. 1. S. 3.] 41 Jahn / Lange (1973). (Brief an Carl Freiesleben vom 14. Dezember 1795.) 42 Ibid. S. 495. (Brief an Carl Freiesleben vom 9. Februar 1796.)

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

dungen zur Anthropologie nicht begreifen. Denn letztlich sollte die Klärung der Existenz einer tierischen Elektrizität Aufschluss über den Menschen geben, über seine Einordnung und Stellung innerhalb des Naturganzen. Alexander von Humboldt benannte diesen ›Endzweck‹ seiner galvanischen Versuche klar und deutlich. Es ging ihm weder um die Erweiterung von Theorien noch um rein praktische Anwendungsmöglichkeiten etwaiger Entdeckungen. Zwischen Spekulation und Utilitarismus wollte er sich als »philosophischer Forschungsgeist« ein »äusseres Ziel« setzen, um »den innern Zusammenhang seiner Erkenntnisse aufzufassen«.43 Es genügt deshalb nicht, die Debatte um den Galvanismus nur als rein fachliche Auseinandersetzung innerhalb der Physik zu betrachten. Gemäss Alexander muss eine Klärung des galvanischen Phänomens in einen weit umfangreicheren Themenkomplex eingebettet werden: »Wir sehen die Physiologie auf dem Wege des Experimentirens dahin gelangen, wohin sonst nur theoretische Speculationen uns führten. Wir haben Erfahrungen gesammelt, welche nicht (wie die des Magnetismus) isolirt dastehen, sondern die an hundert ältere sich anreihen. So lange daher die genauere und gründliche Kenntniss von den Verrichtungen des Nervensystems den denkenden Physiologen beschäftigt, so lange werden auch die Erscheinungen des Galvanismus ein interessanter Gegenstand seiner Nachforschungen bleiben.«44

Doch konnten die galvanischen Versuche nicht nur das Verständnis für die physiologischen Vorgänge im tierischen (und menschlichen) Organismus fördern, sondern sie sollten auch ganz konkrete »Nebenvortheile« für den Menschen in naher Zukunft bereithalten. Sie versprachen unter anderem die Unterscheidung der Nerven von anderen Organen, die Heilung von Augenkrankheiten, Paralysen und Rheumatismus, die Unterscheidung des Scheintodes vom wahren Tod und in gewissen Fällen sogar die Wiedererweckung aus dem Scheintod.45 Diese kurze Aufzählung veranschaulicht, mit welchem Optimismus die Experimente in Angriff genommen wurden und welcher Segen für das Wohl der Menschheit man sich von ihnen erhoffte. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass naturwissenschaftliche Fragestellungen allgemein unter Gelehrten unterschiedlicher Fachrichtungen, sofern man überhaupt Ende des 18. Jahrhunderts bereits von ›Fachrichtungen‹ sprechen darf, diskutiert wurden. So lässt sich begreifen, warum Johann Wolfgang von Goethe, Johann Heinrich Meyer sowie Alexander und Wilhelm von Humboldt im Wintersemester 1794 / 95 die anatomischen Vorlesungen des berühmten Physiologen und Anatomen Justus Christian Loder in Jena besuchten.46 43 44 45 46

Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 4. Ibid. Bd. II. S. 5 f. [Hervorhebung von mir.] Ibid. Bd. II. S. 7 ff. In seinem Tagebuch notiert Wilhelm unter dem 3. November 1794 den Beginn von Loders

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Wollte man das Phänomen ›Leben‹ verstehen, bedurfte es nicht mehr nur philosophischer Erörterungen, sondern man musste zunächst die physischen Grundlagen des Organischen erforschen. Aufschluss über diese Intentionen der Teilnehmer an den Anatomievorlesungen Loders, welche auch die praktischen Anwendungen des Gelernten beinhalteten, gibt uns ein Brief Alexander von Humboldts an Samuel Thomas von Soemmerring, der die Studien seines Bruders noch für den Sommer 1795 bezeugt: »Wilhelm treibt fast nichts als prakt[ische] Anatomie, und (wie Loder meint) secirt und präparirt er sehr geschikt. Er treibt es, um zu sehen, was man daraus für Psychologie nicht lernen könne. Das hätte er kürzer in Ihrem treflichen Abschnitt übers Hirn im 5ten Bande, den ich unaufhörlich studire, gehabt.«47

Den Besuchern der Anatomievorlesungen ging es also in erster Linie um die exakte Untersuchung der Physis, um dann in einem zweiten Schritt mit den daraus resultierenden Erkenntnissen Antworten über Fragen zur Psyche zu erhalten. Den Übergang der körperlichen zu den geistigen Funktionen konnte man nur ex negativo bestimmen, indem man zunächst klar definierte, was nicht zum Bereich der Psyche gehört.48 Im Falle von Alexander von Humboldt ist dieses Interesse an der Anatomie und Physiologie wenig erstaunlich, hat er sich doch schon seit seiner frühen Jugend für Naturwissenschaften begeistert. Auch von Goethe ist hinlänglich bekannt, dass er sich intensiv mit der Naturgeschichte beschäftigte und sowohl Vorlesungen. (Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 253.) Zu den anatomischen Studien der Gebrüder Humboldt siehe auch: Jahn (1968 / 1969), S. 91 – 97. Dass auch Schiller an den Vorlesungen Loders teilnahm, wird in der Forschungsliteratur verschiedentlich berichtet. So meint zum Beispiel Heinz Müller-Dietz, Wilhelm von Humboldt hätte in Loders Anatomievorlesung »gelegentlich den Geschichtsprofessor Friedrich von Schiller« getroffen. Allerdings kann er diese Behauptung nicht mit einer Quellenangabe stützen. (Müller-Dietz (1989), S. 39.) Weder von Goethe, Wilhelm noch Alexander von Humboldt wird Schillers Anwesenheit bezeugt. Goethe erwähnt in seinem Tagebuch zum Jahre 1794 lediglich die Gebrüder von Humboldt und Meyer als Hörer in Loders anatomischem Auditorium. (Goethe (1882), S. 32 f.). Bruhns ist zwar der Meinung, Schiller habe sich schon aufgrund seines früheren Medizinstudiums – er schrieb eine Dissertation »Über den Zusammenhang der thierischen Natur mit seiner geistigen« – für anatomische und physiologische Themen interessiert, doch dürfte sich dieses Interesse eher auf eine rein philosophische Behandlung des Gegenstandes beschränkt haben. (Siehe dazu auch Kapitel III.3.) Als Beleg für Schillers grosse Anteilnahme für Alexander von Humboldts Arbeiten erwähnt er Freieslebens Erinnerungen an die »lehrreichen Abende im Schiller’schen Hause, wo die beiden Humboldt und Goethe sich mit grossem Interesse über Anatomie und ihre anatomischen Präparate unterhielten«. Doch offenbar hat sich Schiller nicht an diesen Gesprächen beteiligt! (Bruhns (1872), Bd.1. S. 201 f.) 47 Jahn / Lange (1973), S. 439. (Brief Nr. 316 vom 29. Juni 1795.) Gemeint ist Soemmerrings Schrift »Vom Baue des menschlichen Körpers« (1791). 48 Wilhelm von Humboldt stellte sich diesen Übergang als eine allmähliche Sublimierung der physischen Vorgänge in geistige vor und folgte damit der Tradition Herders. (Siehe dazu auch Kapitel III.3.)

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naturwissenschaftliche Experimente anstellte als auch eigene Theorien entwickelte.49 Die Begegnung mit den Brüdern von Humboldt im Dezember 1794 veranlasste ihn denn auch dazu, seine früher unternommenen naturwissenschaftlichen Studien wieder aufzugreifen und zu Papier zu bringen. In seinem Tagebuch bezeugt er die lebhaften Gespräche, die er mit Alexander und Wilhelm über diese Themen geführt hat.50 Dass sich auch Wilhelm von Humboldt für Anatomie und Physiologie begeistern konnte, mag zunächst überraschen. Doch in der Tat findet man neben dem oben zitierten Brief seines Bruders zahlreiche Belege, die sein damaliges Interesse für die Naturwissenschaften bezeugen. Dabei beschränkte sich Wilhelm beileibe nicht nur auf das Zuhören, sondern experimentierte selbst mit Fröschen, Hunden, Kaninchen u.s.w. Alexander bestätigt denn auch öfter die Studien seines älteren Bruders, »der, neben seinem metaphysischen, und philologischen Studium die Beobachtung der lebendigen Natur nicht vernachlässigt.«51 Diese Tatsache verdiente ohne Zweifel auch im Hinblick auf Wilhelm von Humboldts spätere Beiträge zum ästhetischen Programm des Klassizismus und dessen Mitarbeit bei der preussischen Bildungsreform mehr Beachtung, doch soll uns hier insbesondere der Zusammenhang mit dessen geschichtsphilosophischen und anthropologischen Schriften interessieren. Bemerkenswerterweise hat der ältere Humboldt seine früheren naturwissenschaftlichen Interessen später verleugnet, wodurch er selbst – wahrscheinlich ganz bewusst – zum Mythos des weltabgewandten, sich nur mit ›höheren‹ geistigen Dingen beschäftigenden Einsiedlers auf Schloss Tegel beigetragen hat.52 So sagte er 1824 rückblickend in einem Brief an Charlotte Diede: »Naturwissenschaften haben mich nie angezogen. Es fehlte mir auch der auf die äussern Gegenstände aufmerksam gerichtete Sinn. Von früh an hat mich das Altertum aber angezogen, und es ist auch eigentlich das, was mein wahres Studium ausmacht.«53

49 Siehe dazu: Heusser (2000). 50 »Ganz abgelenkt und zur Naturbetrachtung zurückgeführt ward ich, als gegen Ende des Jahres die beiden Gebrüder v o n H u m b o l d t in Jena erschienen. Sie nahmen beiderseits in diesem Augenblick an Naturwissenschaften grossen Antheil, und ich konnte mich nicht enthalten, meine Ideen über vergleichende Anatomie und deren methodische Behandlung im Gespräch mitzutheilen.« (Goethe (1882), S. 45.) 51 Humboldt, A. (1797c), Bd. II, S. 276. 52 Vgl. hierzu zum Beispiel: Selbmann (1984), S. 4. Selbmann sieht in Wilhelm von Humboldts Beiträgen zur preussischen Bildungsreform einen »Höhe- und Endpunkt« des »utopischen Charakters« klassischer deutscher Bildungsvorstellungen, die letztlich zu einer Vernachlässigung der Realien im Gymnasialunterricht führten. Wie intensiv gerade Humboldt um die Einbindung der Realien in den Schulunterricht bemüht war, deren grundlegende Bedeutung er stets betonte, lässt Selbmann völlig ausser Acht. 53 Humboldt, W. (1909), Bd. I; S. 100. (35. Brief vom 12. September 1824.)

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Gerade dieser Briefwechsel mit Charlotte Diede, der erstmals 1847, ein Jahr nach ihrem Tod, in stark redigierter Form herauskam, verfestigte das Bild des »Weisen von Tegel«, der sich in innerweltlicher Abkehr um Veredelung und Harmonie bemühte.54 Doch wendet man sich Zeugnissen zu, die unmittelbar während der Zeit seiner anatomischen Studien bei Justus Christian Loder in Jena geschrieben wurden, fügt sich ein Bild zusammen, das kontrastreicher nicht sein könnte. Zuerst schien sein anatomisches Interesse eher vordergründig gewesen zu sein: »Ich habe angefangen, hier Anatomie bei Loder zu hören, und das raubt mir den ganzen Vormittag von 9 Uhr an. So leid es mir indess auch manchmal um diese Stunden thut, so sehr interessiert mich doch das Studium, und auf dem Wege, den ich einmal eingeschlagen hatte, war es mir unentbehrlich. Auch ist es im Grunde ja nur diess eine halbe Jahr. Hernach kann ich es mit Gemächlichkeit treiben, um nicht zu vergessen, oder es sogar für mich selbst weiterzubringen.«55

Schon bald aber widmete er sich intensiver den damals drängenden naturwissenschaftlichen Problemen, nicht nur um über physiologische, sondern auch um über geistige Belange des Menschen Aufschluss zu erlangen. Wie für seine engsten Freunde stand damals für ihn ebenso die Suche nach der ›Lebenskraft‹ im Zentrum des Interesses. Dass es sich bei diesen anatomischen und physiologischen Studien spätestens seit Anfang 1795 um mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung handelte, beweist ein Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe. In ihm teilt er dem ebenfalls an Naturforschung interessierten Freund mit, dass er erwäge, eine Monografie über das Keilbein zu schreiben: »Indess sammle ich allerlei, vorzüglich Schädel, da ich gern eine monographie des Keilbeins zu Stande brächte, und auch vielleicht die Vergleichung eines zwar einzelnen, aber doch so wichtigen Theils, als der Schädel ist, nicht unwichtig wäre. Anfangs werden die Fortschritte in diesem für mich so fremden Felde freilich langsamer seyn, aber ich rechne auf fortdauernden Fleiss, und ich kann es Ihnen nicht beschreiben, welche Freude Sie mir durch die Erlaubniss gemacht haben, Ihnen auf Ihrem Gange folgen zu dürfen.«56

Nicht nur in Jena und im Beisein seines Bruders oder Goethes beschäftigte sich Wilhelm mit anatomische Untersuchungen, auch in Berlin und Tegel versuchte er seine Studien fortzusetzen – und beschwerte sich bitterlich bei Goethe, dass 54 Vgl. dazu auch: Berglar (1991), S. 136 ff. 55 An Friedrich August Wolf, Brief vom 22. Dezember 1794. In: Wilhelm von Humboldt: Werke. Berlin 1846. Bd. 5. S. 118. 56 Geiger (1887), 8. Bd., S. 63. Brief Wilhelm von Humboldts an Johann Wolfgang Goethe von Ende Januar 1795. Dass hier von Humboldt die Bedeutung des Schädels besonders hervorgehoben wird, dürfte mit dem zeitgenössischen Interesse am Gehirn liegen. (Vgl. dazu das Kapitel III.1. zu Samuel Thomas von Soemmerring; sowie Hagner (1994) und Hagner (2008).)

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man in der Berliner »Êcole v¦t¦rinaire« kein Verständnis für seine Fragen zur Anatomie der dort aufbewahrten Skelette aufbrachte.57 Goethe war sehr angetan von der Begeisterung, die auch der ältere von Humboldt für eines seiner Lieblingsthemen zeigte. An Friedrich Schiller äusserte er im März 1795 seine Freude über Wilhelm von Humboldts anatomisches Interesse: »Herr von Humboldt [Wilhelm] wird recht fleissig gewesen sein; ich hoffe auch mich mit ihm über a n a t o m i c a wieder zu unterhalten. Ich habe ihm einige, zwar sehr natürliche, doch interessante Präparate zurechtgelegt.«58

Schiller dürfte wenig Freude an den naturwissenschaftlichen Forschungen seiner Freunde gehabt haben und erleichtert gewesen sein, dass Wilhelm wie viele andere Vorhaben dieser Zeit auch die geplanten physiologischen und anatomischen Werke nicht verwirklicht hat.59 Daraus jedoch zu schliessen, die naturwissenschaftlichen Prämissen jener Zeit hätten auf Wilhelm von Humboldt keinen Einfluss gehabt, wäre verfehlt. Sein Bruder Alexander lobt an mehreren Orten in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« die mehrjährigen ernsthaften Forschungen Wilhelms an Tierpräparaten, die für ihn eine wertvolle Unterstützung bei der Überprüfung seiner Resultate bedeuteten.60 Und in einem Brief an Marcus Herz merkt er etwas spöttisch an: »Wilhelm lebt und webt in den Cadavern. Er hat sich einen ganzen Bettelmann gekauft und (wie Göthe ihm schreibt) frisst menschliches Gehirn.«61

Wilhelm von Humboldt hat seine naturwissenschaftlichen Studien also sehr ernsthaft und intensiv betrieben, um sie als Grundlage für seine Arbeiten zur Anthropologie nutzen zu können. Diese wenigen hier angeführten Beispiele liessen sich noch beliebig ergänzen. Sie zeigen deutlich, wie kritisch man Wilhelms Selbsteinschätzung (und eigenes Wunschbild) aus späteren Tagen unter die Lupe nehmen muss.62 Erst dann lassen sich seine bis heute von der Litera57 Bratranek (1876), S. 7. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 22. August 1795. 58 Ibid. S. 330. Goethe an Schiller, Brief vom 18. März 1795. 59 Der Grund für Schillers Reserviertheit gegenüber Alexander von Humboldt lag möglicherweise darin, dass dieser befürchtete, der jüngere Humboldt könnte Goethes und Wilhelm von Humboldts Interessen zu sehr auf die Naturwissenschaften lenken und die beiden dadurch von ihm entfremden. Siehe dazu auch den auf Seite 208 f. zitierten Brief Schillers an Körner, in dem er sich äusserst abschätzig über Alexander auslässt. 60 Zum Beispiel: Bd. 1: S. 76 f, 305, 341, 342. Bd. 2: S . 276. 61 Brief vom 15. Juni 1795. In: Lessing, G. (1915), Bd. 2, S. 112. 62 Ein Beispiel für eine totale Ausblendung der naturwissenschaftlichen Interessen Wilhelm von Humboldts während der Jenaer Jahre gibt uns Andreas Wachsmuth. Obwohl er die damalige Vorliebe Goethes für die Naturforschung sowie Alexander von Humboldts Besuche der loderschen Vorlesungen erwähnt, geht er mit keiner Silbe auf Wilhelms anatomische und

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turwissenschaft oft vernachlässigten frühen Schriften in ihrer ganzen Komplexität und mit ihren Bezügen zur Situation der Naturforschung im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts angemessen untersuchen.

III.3. Wilhelm von Humboldts Horenaufsätze vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Naturgeschichte Nicht zufällig entstanden gerade zu der Zeit, als Wilhelm von Humboldt anatomische und physiologische Studien anstellte, seine beiden Aufsätze über das Thema des Geschlechtsunterschiedes. Sowohl seine Abhandlung »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur«63 als auch diejenige »Über die männliche und weibliche Form«64 wurden 1795 anonym im ersten Band von Schillers neu gegründeter Zeitschrift »Die Horen« publiziert. Schon bald jedoch wurde Wilhelm als Autor ausgemacht. Wilhelm sieht in den beiden Aufsätzen die Einheit der gesamten Natur im Wesentlichen von zwei Kräften bestimmt: einer männlichen und einer weiblichen Kraft. Diese beiden Grundkräfte ermöglichen den unendlichen Fortschritt der Natur, indem sie in dialektischer Weise aufeinander einwirken und dadurch aus dem Zusammenspiel der endlichen Individuen neues Leben erzeugen. Die ununterbrochene Kette von Zeugung, Erhaltung und Tod wird durch das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit in Gang gehalten und dem Ideal des harmonischen Ganzen entgegengeführt. Dabei reduziert Wilhelm aber die männliche und weibliche Kraft nicht auf die jeweiligen körperlichen Eigenschaften von männlichen und weiblichen Lebewesen, sondern überträgt sie auch auf ihre moralischen und intellektuellen Ausprägungen, insbesondere beim Menschen. Dem Prinzip der männlichen Kraft werden die Eigenschaften der Selbsttätigkeit, Rastlosigkeit, Energie, Form, Vernunft und Wirkung zugeschrieben, dem der weiblichen hingegen diejenigen der empfangenden Fülle, Stetigkeit, Dasein, Stoff, Fantasie und Rückwirkung. Somit wird das gesamte Leben der Menschen physiologische Studien ein. Dadurch entsteht der Eindruck, der ältere von Humboldt habe sich zu dieser Zeit nur mit Kant und der griechischen Antike beschäftigt. Auch sei seine »Bildungsquelle« lediglich aus »der Welt der Bücher mit ihren Überlieferungen von der Antike« gesprudelt, was für die preussische Bildungsreform im 19. Jahrhundert folgenreich gewesen sei. (Wachsmuth (1968), S. 446 – 464.) 63 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 268 – 295. Erstveröffentlichung in: Die Horen, eine Monatsschrift herausgegeben von Schiller. Erster Band, 2. Stück, S. 99 – 132. Tübingen: Cotta 1795. 64 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 296 – 336. Erstveröffentlichung in: Die Horen, eine Monatsschrift herausgegeben von Schiller. Erster Band, 3. Stück, S. 80 – 103; Zweiter Band, 4. Stück, S. 14 – 40. Tübingen: Cotta 1795.

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durch diese zwei Prinzipien geprägt, sowohl deren Körperlichkeit als auch deren intellektuellen und kulturellen Tätigkeiten. Auch Dichtung und Kunst werden im Grunde durch die Wechselwirkung einer männlichen und einer weiblichen Kraft erschaffen: das Geniale zeichnet sich aus durch eine harmonische Durchdringung der männlichen Vernunft mit der weiblichen Fantasie. Allerdings ist Männliches und Weibliches nie strikt voneinander getrennt, sondern diese sind in einem Lebewesen in unterschiedlichem Masse enthalten. Denn die männliche Selbsttätigkeit endete in ihrer eigenen Zerstörung, würde sie nicht durch das weiblich Empfangende gemildert. Umgekehrt bedarf der weibliche Stoff einer männlichen Energie, um nicht im Stillstand zu enden. Im zweiten Horenaufsatz untersucht Wilhelm die speziellen Ausprägungen des Männlichen und Weiblichen bei den Menschen, wobei er insbesondere das jeweilige Schönheitsideal im Auge hat. Entsprechend seinen Ausführungen im ersten Aufsatz entwirft er für jedes Geschlecht eigene Kriterien der Schönheit. Das Ideal-Weibliche zeichnet sich aus durch Anmut, Grazie, Weichheit, Fülle und Empfindung. Versinnbildlicht wird es durch die griechische Göttin Aphrodite. Im Gegensatz dazu ist Apoll der Inbegriff männlicher Schönheit, welche mit den Attributen Kraft, Stärke, Form und Vernunft ausgestattet wird. Das Ideal der rein menschlichen Schönheit aber ist eine Verbindung beider Geschlechter, die männliche und weibliche Schönheit in einem harmonischen Gleichgewicht vereinigt. Dieses Ideal menschlicher Schönheit wird allerdings in der Realität nie erreicht, es gilt jedoch als Ziel der Menschheitsentwicklung. Doch beziehen sich die von Humboldt beschriebenen Schönheitsideale für Mann und Frau nicht nur auf die äussere, körperlich-sinnliche Erscheinung. Vielmehr sind sie allumfassend und gelten ebenso für den inneren Charakter, die Moral und den Intellekt. Aufgrund dieser Überlegungen entwickelt Wilhelm in Ansätzen eine ästhetische Theorie, die für Kunst, Musik und Literatur Gültigkeit beansprucht. Obwohl nun die sexuellen Konnotationen in beiden Geschlechteraufsätzen nicht von der Hand zu weisen sind, vermeidet es Wilhelm von Humboldt geradezu hartnäckig, konkret auf das Sexuelle einzugehen. Stattdessen behilft er sich mit vagen Formulierungen, die die eigentliche Grundaussage der Texte verschleiern. Er verlässt so die biologisch-naturgeschichtliche Basis seiner Argumentation, um das Thema der Zweigeschlechtlichkeit metaphysisch und ästhetisch zu behandeln. Infolgedessen ›schweben‹ Humboldts Aufsätze schwer greifbar zwischen Naturwissenschaft und Ästhetik. Gerade die »Horen« schienen auf den ersten Blick ein geeigneter Ort für Themen zu sein, die die Grenze zwischen Naturwissenschaft und Ästhetik zu eliminieren versuchten. Denn Friedrich Schiller erläuterte den Zweck des neuen Journals in der Einleitung zum ersten Band folgendermassen:

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»Soweit es thunlich ist, wird man die Resultate der Wissenschaft von ihrer scholastischen Form zu befreyen und in einer reizenden, wenigstens einfachen, Hülle dem Gemeinsinn verständlich zu machen suchen. Zugleich aber wird man auf dem Schauplatze der Erfahrung nach neuen Erwerbungen für die Wissenschaft ausgehen, und da nach Gesetzen forschen, wo bloss der Zufall zu spielen und die Willkühr zu herrschen scheint. Auf diese Art glaubt man zu Aufhebung der Scheidewand beyzutragen, welche die s c h ö n e Welt von der g e l e h r t e n zum Nachtheile beyder trennt, gründliche Kenntnisse in das gesellschaftliche Leben, und Geschmack in die Wissenschaft einzuführen.«65

Doch Schillers Unternehmung, an der zahlreiche berühmte »humanistische Schriftsteller« mitarbeiteten, war nicht von Erfolg gekrönt.66 Die Monatsschrift erschien lediglich von 1795 bis 1798 und war von Anfang an grosser Kritik ausgesetzt. Auch ist in den Beiträgen von den »neuen Erwerbungen für die Wissenschaft« nur wenig zu finden. Für Schiller stand die Ästhetik im Vordergrund, eine Vorliebe, die später Alexander von Humboldt noch zu spüren bekommen sollte. Auch Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätze standen schnell im Zentrum der Kritik. Viele Zeitgenossen bekundeten grosse Mühe mit den beiden Abhandlungen, einige äusserten auch unverhohlen ihren Hohn und Spott. Immer wieder wurde insbesondere der Stil des älteren von Humboldt bemängelt, der es den Lesern oft verunmöglichte, den Inhalt der Aufsätze zu verstehen. So meinte ein Rezensent in den »Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes« zu Wilhelms erstem Aufsatz: »Rec. gesteht, dass er nicht zu den Adepten gehört, die den geheimen Sinn dieses Aufsatzes zu deuten vermögen. Der V. scheint genau zu wissen, was die Natur eigentlich bey Aufstellung zwey verschiedener Geschlechter im Sinne gehabt hat.«67

Etwas wohlwollender, wiewohl auch Sprache und Stil Humboldts kritisierend, äusserte sich ein Rezensent in der »Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste«: »Die Abhandlungen über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur und eine andere über männliche und weibliche Form sind beyde in dem Geist der ästhetischen Briefe geschrieben und überheben uns einer weitern Beurtheilung. Wir sind überzeugt, dass die erste viele recht gute Ideen enthält, die, in einer gefälligen Sprache vorgetragen, würden gefallen haben. Aber freylich hätten sie dann 65 Schiller (1795a), S. V. 66 An Körner schrieb Schiller über die in Frage kommenden Autoren: »Hier in loco [Jena] sind unserer 4: Fichte, [Wilhelm von] Humboldt, Woltmann und ich. An Goethe, Kant, Garve, Engel, Jacobi, Gotter, Herder, Klopstock, Voss, Maimon, Baggesen, Reinhold, Blankenburg, v. Thümmel, Lichtenberg, Matthisson, Salis und einige andere ist teils schon geschrieben worden, teils wird es noch geschehen.« (Berghahn (1973), S. 223. Brief vom 12. Juni 1794.) 67 Abgedruckt in: Braun (1882). 1. Abteilung; 2. Bd. S. 48.

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nicht so fremd und ungewöhnlich geschienen, als itzt, und grösstentheils den blendenden Schimmer der Neuheit verloren; und ungehört und ungesagt soll alles seyn, was die Speculation in unserm Zeitalter hervorbringt.«68

Am meisten jedoch dürfte es Wilhelm geschmerzt haben, von Immanuel Kant, auf dessen Meinung er besonderen Wert legte, wenig Beifall für seine Abhandlungen gefunden zu haben.69 Denn dieser fand den Aufsatz über den Geschlechtsunterschied in der organischen Natur zwar vom Thema her interessant, aber in seiner Ausführung zu unverständlich.70 Zeugnis von Wilhelms Enttäuschung darüber gibt uns ein Brief Friedrich Schlegels an seinen Bruder August Wilhelm: »Humbold grämt sich, weil Kant geschrieben hat, sein Aufsatz über die Geschlechter, welchen man nun wirklich nicht wohl verstehen kann, möge wohl von einem sehr scharfsinnigen Kopf seyn, es sey ihm auch wohl dergleichen durch den Sinn gefahren, aber es l a s s e s i c h n i c h t s d a m i t m a c h e n . Das wurmt ihn.«71

Dass viele von Humboldts Zeitgenossen so wenig mit den Geschlechteraufsätzen anfangen konnten, dürfte jedoch nicht nur an der umständlichen Sprache und den inhaltlichen Unklarheiten gelegen haben. Die auf den ersten Blick rein philosophisch-ästhetische Betrachtungsweise der weiblichen und männlichen Kräfte, die Wilhelms Meinung nach nicht nur für die Fortpflanzung von Bedeutung sind, sondern das gesamte Streben der Natur in Gang halten, entbehrt nicht einer naturwissenschaftlichen Grundlage. Doch anstatt zuerst die empirischen Ergebnisse seiner zur selben Zeit praktizierten anatomischen und physiologischen Studien darzustellen – Schiller wäre über einen solchen Beitrag zu den »Horen« wohl wenig glücklich gewesen –, beschränkte er sich auf eine metaphysische Interpretation eines in erster Linie naturwissenschaftlichen Gegenstandes. Allerdings sollte man in diesem Punkt Wilhelm von Humboldt nicht vorschnell verurteilen. Denn vor der Publikation des ersten Geschlechteraufsatzes, im Januar 1795, bat Schiller den Verleger Cotta sehr nachdrücklich, die offenbar von Humboldt ursprünglich angeführten Zitate von Blumenbach und seinem Bruder Alexander wegzulassen!72 Was sonst, wenn nicht natur68 Ibid. S. 78. 69 Im Brief an Christian Gottlieb Körner vom 7. Mai 1795 gesteht Wilhelm: »Kants Urtheil geht mir sehr durch den Kopf. Zwar sucht mich Schiller zu trösten, aber besser ists immer keinen Trost zu bedürfen.« (Humboldt, W. (1940), S. 26.) 70 Siehe Kants Brief an Schiller vom 30. März 1795. Abgedruckt in: Humboldt, W. (1917), S. 182 f. 71 Schlegel (1890), S. 236. 69. Brief vom 17. August 1795. 72 »In dem Aufsatz über den Geschlechts-Unterschied werden die beyden Citate von Blumbach und Alex. von Humboldt weggelassen. Vergessen Sie das ja nicht.« (Brief Schillers an Cotta vom 30. Januar 1795. Abgedruckt in: Humboldt, W. (1917), S. 172.) Leitzmanns Kommentar die Weglassung der beiden Zitate betreffend ist nicht ganz korrekt. Er behauptet, dass sie auf

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wissenschaftlicher Art, sollte der Inhalt dieser Zitate gewesen sein? Es ist also anzunehmen, dass Wilhelm erst durch die Intervention Schillers die empirische Grundlage seiner Abhandlungen unterschlagen und somit deren metaphysischspekulativen Charakter verstärkt hat.73 Bald schon erkannte Humboldt diesen Mangel seiner Aufsätze und äusserte verschiedentlich, dass er zu abstrakt und für den Leser zu unverständlich geschrieben habe.74 Doch seine damalige enge Zusammenarbeit mit Schiller, die sich nicht nur auf die Mitarbeit bei den »Horen« beschränkte, sondern auch ausführliche Diskussionen über beider Arbeiten beinhaltete, haben möglicherweise dazu geführt, dass Humboldt die Früchte seiner eigenen Forschungen zu wenig in den Vordergrund rückte.75 Trotzdem scheinen die Horenaufsätze gerade in Kreisen der Naturhistoriker einige Beachtung gefunden zu haben. Nach etlichen entmutigenden Rezensionen schrieb Wilhelm im September 1795 erleichtert an Schiller : »Ich weiss nicht, ob ich Ihnen schon schrieb, dass in Ludwigs Naturgeschichte des Menschen bei der Kenntniss der Geschlechter auf meine Aufsätze verwiesen ist? Sie sehn, dass die Horen in naturhistorischen Büchern Glück machen.«76

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Anraten Goethes gestrichen worden seien, um die Anonymität des Verfassers zu wahren. (Humboldt, W. (1903 – 1939), 1. Bd. Werke 1785 – 1795. A.a.O. S. 435 f.) In dem von Leitzmann erwähnten Brief Goethes an Schiller wird aber lediglich die Streichung des Zitates von Alexander von Humboldt verlangt, nicht aber desjenigen von Blumenbach. (Goethe (1998). Bd. 4, Teil 1; S. 57. Brief Goethes an Schiller vom 27. Januar 1795.) Offenbar war es Schiller selbst, der die Weglassung des Blumenbach-Zitates verlangte. Diese Forderung lässt sich jedoch kaum mit einer Gefährdung der Anonymität erklären! Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch ein Brief Wilhelm von Humboldts an Christian Gottfried Körner vom 1. Oktober 1811. Darin bittet Wilhelm ausdrücklich darum, in Körners Biografie über Schiller nicht im Zusammenhang mit den »Horen« genannt zu werden. Zwar betont er die Wichtigkeit Schillers für seine damalige Lebensepoche, doch dessen »Horen« bezeichnet Humboldt rückblickend als ein Vorhaben, welches man Schiller »ausreden musste«. (Humboldt, W. (1940), S. 85.) Siehe zum Beispiel die Briefe an Schiller vom 11. Juni 1796 oder vom 9. Juli 1796. (Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 67 ff; 75 f.) Ohne explizit Schiller zu nennen, urteilt Friedrich Schlegel in einem Brief an seinen Bruder sehr kritisch über Humboldts serviles Verhalten in Jena: »Wenn er [Wilhelm von Humboldt] sich nur nicht immer selbst verläugnete. Er ist ein philosophischer Hofmann. Ich kann es nicht leiden, dass er einem jeden gerecht seyn will. Auch wird es ihn theuer zu stehen kommen, eine geistige E c h o seyn zu wollen, alle einzelnen Persönlichkeiten in sich zu vereinigen. Er wird seine Bestandheit zuletzt verlieren, wenn es nicht schon geschehen ist, und entmannt, keinen Ton mehr geben können, als einen fremden. Er wird aus sittlicher Unmässigkeit Bankrott machen.« (Schlegel (1890), S. 211 f. 60. Brief vom 20. Januar 1795.) Humboldt, W. (1917). Brief vom 28. September 1795, S. 189. Die Rede ist von Christian Friedrich Ludwig: Grundriss der Naturgeschichte der Menschenspecies. Leipzig 1796. Erwähnt wird Humboldts Aufsatz auf Seite 303, allerdings nur der zweite Horenaufsatz »Ueber die männliche und weibliche Form«. Auch geht Ludwig nur kurz in Kapitel XII auf die äusserlichen Geschlechtsunterschiede von Mann und Frau ein. Im Antwortbrief wenige Tage später zeigt sich Schiller amüsiert über Wilhelms Mitteilung, bezieht jedoch dessen Erfolge in naturwissenschaftlichen Kreisen auch auf seine eigenen Aufsätze! (Vgl. den Brief vom 5. Oktober 1795. Ibid. S. 189 f.).

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Zwei Jahre später beteuerte Wilhelm von Humboldt, es sei ihm in den Geschlechteraufsätzen in erster Linie um »naturhistorische Treue« und um die trockene Wahrheit bei der Beobachtung und Schilderung des Menschen gegangen, nur sei es ihm nicht gelungen, den eigentlichen Zweck adäquat darzustellen.77 Aufgrund dieser Situation ist es meiner Ansicht nach nicht nur legitim, Humboldts Horenaufsätze im Zusammenhang mit seinen naturwissenschaftlichen Studien in Jena zu sehen, sondern eine solche Sichtweise darf bei der Beurteilung nicht ausser Acht gelassen werden. Gerade die Nichtbeachtung der empirischen Basis der Aufsätze führt noch heute dazu, dass sie als etwas merkwürdige, pubertäre Erzeugnisse oder lediglich als eigene Ausführungen zu einigen Gedanken in Schillers Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« betrachtet werden. Die Ausführungen in Kapitel III.2. und die unten folgende Textanalyse sollen zeigen, dass die Entstehungsgeschichte der Horenaufsätze und deren Inhalt eng mit naturgeschichtlichen Fragen der Zeit verknüpft sind. Worauf Wilhelm seine Betrachtungen stützte, erfahren wir zwar nicht von ihm selbst, aber von seinem Bruder Alexander. Überraschenderweise gibt dieser im ersten Band seiner »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt« zwei Hinweise auf Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätze. Wie wir gesehen haben beschäftigte sich Alexander von Humboldt zu jener Zeit, als er mit seinem älteren Bruder Loders Vorlesungen in Jena besuchte, intensiv mit der Erforschung des Galvanismus. Gemeinsam mit seinem Bruder beobachtete er, dass weibliche Frösche reizbarer und deshalb für die galvanischen Experimente geeigneter sind als männliche Tiere. In einer Anmerkung zu seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« führt der jüngere von Humboldt aus: »Wer recht viel Frösche secirt, oder den Geschlechtscharakter derselben, wenigstens in der Begattungszeit, aus ihren Händen bestimmen kann, wird die Behauptung, dass die weiblichen Frösche reizbarer, als die männlichen sind, auf Experimente gegründet finden, die nicht, wie manche chemische, a priori oder ex anticipatione mentis, angestellt sind. Bei der r a n a e s c u l e n t a L . war es mir deutlicher, als bei der r a n a t e m p o r a r i a L . Ueberhaupt wäre es interessant, den wundersamen Geschlechtsunterschied durch die ganze organische Natur physiologisch zu verfolgen, und ihn nicht, wie bisher in der Naturbeschreibung geschieht, blos in der Configuration gewisser Theile aufzusuchen. Selbst die Pflanzen mit getrennten Geschlechtern, die Arten der Salix, Populus, Juniperus, Ruscus, Brucea, Schinus und andere, könnten in dieser Hinsicht Objecte merkwürdiger Untersuchungen werden. Vergleiche meines ältern 77 Humboldt, W. (1917). Brief Humboldts an Schiller vom 4. September 1797, S. 198.

Wilhelm von Humboldts Horenaufsätze

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Bruders, W i l h e l m v. H u m b o l d t Abhandlungen ü b e r d e n G e s c h l e c h t s Un t e r s c h i e d u n d d e s s e n E i n f l u s s au f d i e o r g a n i s c h e N a t u r, u n d über die männliche und weibliche Form, in den Horen. 95. Bd. I. S t . 2 . S . 9 9 . S t . 3 . S . 8 0 . (besonders S. 100.) S t . 4 . S . 1 4 . « 78

Auch später, im zweiten Band seines Werkes, streicht Alexander die unterschiedliche Reizbarkeit der männlichen und weiblichen Frösche noch einmal hervor und verweist bei dieser Gelegenheit auf jene Seite im ersten Band, die diesen Hinweis auf die Schriften seines Bruders enthält.79 Es waren offenbar die festgestellten physiologischen Geschlechtsunterschiede, die Wilhelm zu seinen Horenaufsätzen anregten. Natürlich war die Idee, die männliche und weibliche Form als zwei Grundprinzipien zu betrachten, keineswegs neu, sondern gründete sich auf eine bis in die Antike zurückgehende Tradition. Doch der hier von Alexander gemachte Hinweis erhellt, dass es seinem Bruder darauf ankam, seine philosophischen Betrachtungen über den Geschlechtsunterschied auf empirische Versuche und exakte Beobachtungen zu stützen. Interessant ist die Anmerkung von Alexander von Humboldt aber noch aus einem weiteren Grund: Die hier besonders hervorgehobene Seite 100 des zweiten Aufsatzes beinhaltet nämlich eine Fussnote, in welcher Wilhelm eine Physiognomik der Tiergattungen vorschlägt. Diese Anmerkung wiederum bildet eine Ergänzung zu einer höchst interessanten Passage des Textes.80 Auf etwas mehr als zwei Seiten beschreibt Wilhelm von Humboldt die Stellung des Menschen in der Natur. Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine Paraphrasierung verschiedener Textstellen aus Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Dass nun Alexander ausgerechnet diese Stelle in der Schrift seines Bruders akzentuiert, dürfte kein Zufall sein. Deshalb ist es meiner Meinung nach nicht abwegig, aus der Parallelität dieser mit denjenigen Stellen der herderschen »Ideen« zu schliessen, dass Alexander um die Abhängigkeit beider Texte wusste, ja, vielleicht sogar seinen Bruder auf Herder hinwies. Wenn dies zutrifft, würden wir somit auch in den frühen naturwissenschaftlichen Schriften des jüngeren von Humboldt einen weiteren Anhaltspunkt für dessen Wertschätzung der herderschen »Ideen« finden! Doch betrachten wir die erwähnte Passage im Aufsatz »Über die männliche und weibliche Form« etwas genauer. 78 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 24 f, Anm.*. 79 Ibid. Bd. II, S. 173. 80 Die von Alexander von Humboldt hervorgehobene Seite 100 des vierten Stückes der »Horen« entspricht in der Ausgabe von Flitner und Giel ungefähr der Seite 312 des 1. Bandes. Sie beginnt in Zeile fünf mit dem Satzanfang »Zwar offenbart sich…« und endet in der drittletzten Textzeile mit den Worten »…der Materie Zwang«. Ebenfalls zur Seite 100 des Originals gehört, bis auf die drei ersten Wörter, die Anmerkung 1. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben auf die Ausgabe von Flitner und Giel.

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Zuerst stellt Wilhelm fest, dass besonders in der Gestalt des Menschen eine bildende Kraft sichtbar sei, die auf eine unbeschränkte, nicht eindeutig determinierte Kraft und auf eine Materie, welche ihr entgegenkomme, weise. Mit den Ausdrücken ›Kraft‹ und ›Materie‹ verbindet er in den Horenaufsätzen die Unterscheidung zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht, indem er den männlichen Geschöpfen mehr aktive Tätigkeit der Kraft, den weiblichen hingegen mehr passive Empfänglichkeit der Materie zuschreibt. Dieser Geschlechtsunterschied, der nach Humboldt in der gesamten organischen Natur zu beobachten ist und einen Dualismus tätiger und empfangender Kräfte bildet, der den Gang der Natur aufrecht erhält, soll also beim Menschen von herausragender Bedeutung sein. Denn diese bildenden Kräfte im Menschen, durch deren Verteilung sich die Geschlechtsunterschiede manifestieren, weisen eine wichtige Differenz zu denen in der übrigen tierischen Schöpfung auf.81 Was unterscheidet uns Menschen vom Tier? Humboldt deutet die Eigentümlichkeit der tierischen Schöpfung nur kurz an: »Durch die ganze übrige thierische Schöpfung sehen wir, dass jedem Wesen eine bestimmte Anzahl von Wegen zu verfolgen angewiesen, alle übrigen hingegen versagt sind. Nicht genug aber, dass es die letzteren nicht wirklich einzuschlagen vermag, so ist es nicht einmal im Stande, diess zu begehren, und seine Neigung ist, wie sein Vermögen gefesselt.«82

Die Tiere können sich also, im Gegensatz zu den Menschen, nicht beliebig entfalten. Da ihre Neigungen und Fähigkeiten »gefesselt« sind, bleiben sie auf ihre Instinkte reduziert und verhalten sich den Naturgesetzen gemäss. Nun lassen sich aber zwischen dem instinktgebundenen Verhalten verschiedener Tiergattungen durchaus Unterschiede feststellen. Einem Hund zum Beispiel stehen offensichtlich sehr viel mehr Verhaltensweisen zur Verfügung als einer Biene, deren Verhalten mehr Automatismen aufweist und der deshalb eine kleinere »Anzahl von Wegen« offen stehen. Diese Feststellungen, die Instinktgebundenheit der Tiere und deren fortschreitende Abnahme zugunsten grösserer Wahlmöglichkeit innerhalb der Kette der Wesen, sind fundamentale Pfeiler der herderschen Naturgeschichte. Auch Herder thematisiert im dritten Buch der »Ideen«, basierend auf einer Ausein81 In der Tat spricht Wilhelm hier von der »übrigen thierischen Schöpfung«, woraus zu schliessen ist, dass er die Menschen ebenfalls zur tierischen Schöpfung zählt. (Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 311.) Auch Herder bezeichnet den Menschen als ein »Erdtier«, (Zum Beispiel: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; 2. Buch; S. 67.) 82 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 311.

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andersetzung mit Buffon, Monboddo und Reimarus,83 die zunehmende Organisiertheit innerhalb der Natur und die damit verbundene Abnahme der Instinktgebundenheit: »Wir sehen also auch, warum, je höher die Geschöpfe steigen, der unaufhaltbare Trieb so wie die Irrtumfreie Fertigkeit abnehme? Je mehr nämlich das Eine organische Principium der Natur, das wir jetzt b i l d e n d , jetzt t r e i b e n d , jetzt e m p f i n d e n d , jetzt k ü n s t l i c h b a u e n d nennen, und im Grunde nur Eine und dieselbe organische Kraft ist, in mehr Werkzeuge und verschiedenartige Glieder verteilt ist: je mehr es in jedem derselben eine eigne Welt hat, also auch eignen Hindernissen und Irrungen ausgesetzt ist, desto schwächer wird der Trieb, desto mehr kömmt er unter den Befehl der Willkür, mithin auch des Irrtums. Die verschiednen Empfindungen wollen gegen einander gewogen und dann erst mit einander vereinigt sein: lebe wohl also hinreissender Instinkt, unfehlbarer Führer.«84

Aber die Parallelen zu den »Ideen« lassen sich noch weiterführen, denn auch Herder weist auf den entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier hin. Bei aller zunehmenden Willkür innerhalb der »Reihe aufsteigender Formen und Kräfte« in der »Schöpfung unserer Erde«85 gibt es eine Grenze, die es auch den höchstentwickelten Tieren nicht erlaubt, sich zu vervollkommnen. So sehr zum Beispiel der Orang-Utan in seiner inneren und äusseren Organisation dem Menschen ähnlich ist,86 so ist es ihm trotzdem unmöglich, diese Grenze zu überschreiten: »Der Affe dagegen [im Gegensatz zum Biber] hat keinen determinierten Instinkt mehr : seine Denkungskraft steht dicht am Rande der Vernunft; am armen Rande der Nachahmung. Er ahmt alles nach und muss also zu tausend Combinationen sinnlicher Ideen in seinem Gehirn geschickt sein, deren kein Tier fähig ist: denn weder der weise Elephant, noch der gelehrige Hund tut, was er zu tun vermag; e r w i l l s i c h v e r v o l l k o m m n e n . Aber er kann nicht: die Tür ist zugeschlossen; die Verknüpfung fremder Ideen zu den Seinen und gleichsam die Besitznehmung des Nachgeahmten ist seinem Gehirn unmöglich.«87

83 Siehe dazu den Kommentar von Wolfgang Pross zum dritten Buch, Kapitel IV in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2; S. 213 – 225. Ebenfalls zu Herders Anknüpfung an die Naturgeschichte: Stolpe (1964). 84 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 95. 85 So die Überschrift des fünften Buches, Kapitel I. (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 154.) Das fünfte Buch beinhaltet eine Zusammenfassung des ersten Teils der »Ideen« (Bücher I – V). 86 Herder weist hier auf Edward Tysons »Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pygmie Compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man« (London 1699, 17512), hin. Ibid. Teilband 1; S. 107. 87 Ibid. Teilband 1; S. 107.

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Herder stützt sich bei seinen Ausführungen zur Stellung des Bibers und des Affen zum Menschen auf die Beschreibungen des Lord Monboddo.88 Allerdings lehnt er Monboddos Annahme ab, den beiden Tieren aufgrund ihrer Formen der Vergesellschaftung ein entstehendes Bewusstsein und damit die Voraussetzung der Sprachentwicklung zu attestieren. Wilhelm von Humboldt nimmt diese schärfere Trennung zwischen Mensch und Tier auf und spitzt sie noch zu, indem er deutlich macht, dass die höchstentwickelten Tiere eine Perfektionierung ihrer Fähigkeiten nicht einmal wollen, das heisst, sich eines Mangels gar nicht bewusst sind. Jene wenigen Zeilen in Wilhelms Aufsatz verbergen folglich hinter ihrer verklausulierten Sprache und unpräzisen Formulierungen eine breit angelegte Naturgeschichte. Nur vermeidet es Humboldt, explizit von der Instinktgebundenheit der Tiere und der Instinktreduktion des Menschen zu sprechen. Doch ist dieser Bezug zur organischen Schöpfung erst einmal hergestellt, erstaunt es nicht mehr, dass für Alexander gerade jene Stelle von Interesse war. Er richtete ja selbst sein Augenmerk besonders auf die Manifestationen organischer Kräfte in Pflanzen und Tieren. So stellte auch der jüngere von Humboldt mithilfe seiner galvanischen und chemischen Versuche fest, dass sich die Qualität und Quantität der Reizempfänglichkeit mit zunehmender Komplexität der Organisation diversifiziert. Der Mensch als komplexestes Wesen ist daher auf vielfältige Art und Weise für innere und äussere Reize empfänglich: »Welch ein Abstand von der Unerregbarkeit der Steinflechte ( P s o r a ) bis zu der Incitabilität des Menschen hinauf! Dürfen wir von einem Vorzuge der physischen Menschennatur vor den Thier- und Pflanzenstoffen reden, so müssen wir diesen Vorzug in unsere z a r t e r e E r r e g b a r k e i t , in diese gleichzeitige Empfänglichkeit für I d e e n r e i z , und a l l e R e i z e d e r ä u s s e r e n S i n n e n w e l t setzen. Auf alles einwirkend, und von allem erregt, wird der Mensch gleichsam der Mittelpunkt der Schöpfung, und mit der Bildung selbst steigt das Maass seiner Erregbarkeit.«89

Den Leser wird es kaum mehr überraschen, dass sich auch zu dieser Passage aus den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« eine parallele Stelle in den »Ideen« findet. Ohne Herders Ausführungen wäre Alexanders Gleichnis vom Menschen als »Mittelpunkt der Schöpfung« unverständlich. Denn Humboldts Interesse richtete sich in den frühen naturwissenschaftlichen Schriften in erster Linie auf Pflanzen und niedere Tiere, an denen physiologische und chemische Experimente einfacher durchzuführen waren. Schon aus ethischen 88 Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache. Riga 1784. Siehe dazu auch den Kommentar von Wolfgang Pross, in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2; S. 246 f. 89 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 134.

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Gründen lehnte Humboldt physiologische Experimente an Menschen ab – es sei denn, er testete chemische und elektrobiologische Reaktionen an sich selbst – und ermahnte auch andere Forscher, keine unnötigen Versuche mit lebenden Tieren auszuführen.90 Er äusserte zwar an mehreren Orten die Hoffnung, dass die Resultate seiner Forschungen dereinst der Medizin zu Gute kommen werden, doch war ihm durchaus bewusst, dass noch allzu viele Fragen nicht beantwortet werden konnten, um sie bereits für die Menschheit nutzbringend anzuwenden.91 Wenn Alexander hier nun den Menschen ins Visier nimmt und ihn in fast philosophischer Manier als »Mittelpunkt der Schöpfung« bezeichnet, so stützt er sich kaum auf eigene empirische Studien. Warum aber ist nach Herder »der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren der Erde«?92 Im letzten Kapitel des zweiten Buches der »Ideen« postuliert er, dass der Mensch als »Mittelpunkt der Erdeschöpfung«93 alle Anlagen der verschiedenen Organisationsformen in sich vereint und sich deshalb in allen Geschöpfen, die um ihn herum leben, studieren kann. Überblickt man nämlich die Gesamtheit der lebendigen Wesen, so fällt dem Betrachter mancherlei ins Auge: Zunächst erweist sich immer deutlicher, dass es weniger Arten der Säugetiere gibt als der Amphibien und Vögel. Noch zahlreicher vertreten sind die Arten der 90 »Alle Thiere, mit denen ich je experimentirt, habe ich durch Abschneiden des Kopfes und Durchbohren des Rückenmarkes z u t ö d t e n g e s u c h t . Ich füge diese Anmerkung einmal für immer bei, um den unangenehmen Eindruck zu mildern, den eine Sammlung zootomischer Versuche bei einer gewissen Klasse reizbarer Leser erregen muss. Nach meiner eigenen Art zu empfinden, würde ich ohne diese Vorsicht, die Thiere vorher zu tödten, auch nicht einen einzigen Galvanischen Versuch je habe anstellen können. – Ob aber einzelne abgeschnittene Theile eines nicht zusammengesetzten, nicht polypenartigen Thieres für sich empfinden, mögen die Psychologen entscheiden. Mit unsern Ideen von Einfachheit des Gefühls stimmt es wohl nicht überein, dass aus e i n e m Frosch ohne Kopf, der in der Gegend des Beckens in zwei Hälften geschnitten wird, von denen sich jede für sich Tage lang schauderhaft umher bewegt, z w e i empfindende Wesen werden können. Ja! die Bewegung dauert ja in jeder Cubiklinie Muskelfleisch fort, in welche das Thier zerfetzt wird! – Dieser Trostgrund scheint doch etwas sicherer, als der, welchen einige ältere Entomologen von der Stupidität und dunkeln Empfindung der gespiesten Käfer hernahmen!« Ibid. Bd. I, S. 202 f. Anm.**) Trotzdem hat Alexander an nicht weniger als 3000 Tieren galvanische Experimente durchgeführt! (Ibid. Bd. II, S. 173). 91 »Ueber alle diese Fragen giebt uns die Chemie bisher keine Auskunft, und da dieselbe nur so wenige beantwortet, thut der praktische Arzt besser, auf seinem bisherigen empirischen Wege fortzuschreiten, a l s d a s L e b e n d e r M e n s c h e n d u r c h A n w e n d u n g u n v o l l e n d e t e r T h e o r i e n i n G e f a h r z u s e t z e n . Wenn nicht alle Bedingungen aufgefunden sind, unter denen eine Erscheinung erfolgt, kann das Uebersehen einer einzelnen, oft unwichtig scheinenden Bedingung den Gang der Natur so abändern, dass gerade das Gegentheil von dem eintritt, was die Kunst herbeiführen wollte!« Ibid. Bd. II, S. 57. 92 So die Überschrift von Kapitel IV des zweiten Buches. (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 65.) Dieses Kapitel leitet das Thema des dritten Buches ein. 93 Ibid. S. 69.

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Fische, Insekten und Würmer. Mit Berufung auf Linn¦, Buffon und Georg Forster stellt Herder somit fest, dass eine Gattung zahlenmässig desto weniger vertreten ist, je mehr sie sich der Organisationsform des Menschen annähert. Des Weiteren entwirft er die These, dass alle Landtiere eine gewisse Einförmigkeit, eine Hauptform aufweisen. Diese Hauptform tritt in unzähligen Variationen auf, indem die Natur je nach Bestimmung des Wesens gewisse Merkmale mehr oder weniger ausbildet, ohne jedoch die Harmonie insgesamt zu stören. Diese Variationen lassen sich stufenweise anordnen, da sich zwischen ihnen stets Übergangsformen entwickeln.94 Herder hält es sogar für wahrscheinlich, dass sich aufgrund dieser Übergangsformen auch die Wassertiere, Pflanzen und sogar die anorganische Natur »nach Einem Hauptplasma der Organisation«95 gebildet haben könnten. Der Mensch ist nun dasjenige Wesen, in dem sich die meisten und feinsten Merkmale in einem mittleren Masse vereinen, das heisst, wenn auch nicht in der vollkommensten Form, so doch in ihrer Anlage dazu. Er ist zwar weder das stärkste, schnellste noch am besten hörende »Erdentier«, aber er ist in der Lage, seine Defizite mithilfe seiner Fähigkeit zur Kulturentwicklung zu kompensieren. Im dritten Buch stellt Herder diese Sonderstellung des Menschen gegenüber Pflanzen und Tieren eingehender dar. Wesentlich ist dabei, dass er die Antinomie zwischen Mensch und Tier nicht mit dem Eingreifen eines Schöpfergottes zu überwinden versucht, sondern den Menschen aus der Natur hervorgehen lässt. Aus diesem Grund vergleicht er die anatomischen und physiologischen Ausprägungen sowohl der Pflanzen als auch der Tiere und stellt diese mithilfe von Analogiebildungen dem Menschen gegenüber. Dabei hilft ihm die Annahme einer Hauptform des Organischen, die verschiedenen Formen des Lebens in ein Kontinuum einzufügen und ihre Komplexität zu reduzieren. Es ist jenes »Hauptplasma der Organisation«, welches durch die ganze Lebenskette hindurchgeht, jene ›Lebenskraft‹, die Herder den drei grundlegenden Kräften Hallers – Elastizität, Irritabilität und Sensibilität – zugrunde legt.96 Sie ist in der 94 Vergleiche dazu Alexander von Humboldt: »Da das ganze Leben organischer Wesen auf einer ununterbrochenen Folge von Reizen beruht, so ist für die Physiologie und praktische Heilkunde nichts sehnlicher zu erwarten, als die N a t u r beider Klassen von Stoffen, der r e i z e n d e n u n d r e i z e m p f ä n g l i c h e n enträthselt zu sehen.« (Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 137.) Gerade die zahlreichen chemischen und galvanischen Experimente an verschiedenartigsten Tieren und Pflanzen führten den jüngeren von Humboldt zur Überzeugung, dass die These einer ununterbrochenen Kette der Wesen – jener oft zitierten ›Chain of being‹ – verifizierbar sei. 95 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 66. 96 Im zweiten Kapitel des dritten Buches erörtert Herder die Frage, ob nicht eine einzige Kraft den hallerschen Kräften der Elastizität der Faser, der Reizbarkeit des Muskels und der Empfindbarkeit des Nervs zugrunde liegt. Er kommt dabei zum Schluss: »Da alles in der

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gesamten lebenden Natur auffindbar und generiert die verschiedenen Organisationsformen. Hier treffen wir erneut auf die sogenannte ›Lebenskraft‹, welche Alexander von Humboldt in seinen Aphorismen zur »Florae Fribergensis specimen« nachweisen wollte und welcher er gerade in den Jahren 1794 / 95 so beharrlich auf den Grund gehen wollte. Dieselbe ›Lebenskraft‹ hatte aber auch für Wilhelm von Humboldts Auffassung des Naturganzen eine grosse Bedeutung. Das bestätigt uns ein Blick auf seinen ersten Horenaufsatz. Dort geht er nämlich kurz auf die ›Lebenskraft‹ ein, wobei seine knappen Erläuterungen stark an die Definition der vis vitalis in den »Aphorismen« und im »Rhodischen Genius« seines Bruders erinnern: »Denn da die Gesetze der Materie, hier vorzüglich die chemischen Verwandtschaften, den Gesetzen des Lebens, d. i. der Organisation, immerfort entgegenarbeiten, und das Leben, wie die Resultate neuerer Untersuchungen zeigen, nichts anderes ist, als der Sieg der letzteren über die ersteren; so ist ein unaufhörlicher Kampf nöthig, diese Oberherrschaft zu behaupten. Das Princip, das hier thätig ist, pflegt man die Lebenskraft zu nennen, und von ihr macht der Bildungstrieb (im engern Verstande) nur eine besondre Modification aus.«97

Es ist sehr naheliegend, dass Wilhelm hier mit den neueren Forschungsresultaten auf die Studien seines Bruders – und seine eigenen – anspielt. Damit stellt er seine Argumentation für die Wechselwirkung der männlichen und weiblichen Kräfte als Triebfeder für den Fortschritt der gesamten Natur erneut auf eine naturgeschichtliche Basis – aber wiederum ohne diese genauer darzulegen. Den wenig belesenen und oberflächlichen Lesern bleiben die hier dargestellten Bezüge verborgen. Wir können also vor dem Hintergrund der Werke Herders und Alexander von Humboldts feststellen, dass unter dem Begriff der »Kräfte‹« bei Wilhelm von Humboldt auch die physiologischen Kräfte zu verstehen sind, die sich mithilfe von Experimenten objektiv messen lassen. Seine eigenen Versuche sowie diejenigen, welche er zusammen mit seinem Bruder durchführte, und die anatomischen Studien bei Loder stellten also keine naturwissenschaftliche ›Verirrung‹ dar, sondern sollten ihm ein sicheres Fundament für die Bestimmung des Menschen liefern. Erst die physiologischen und anatomischen Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen Mensch und Tier erlaubten ihm, das spezifisch Menschliche zu erfassen. Vernunft und Sprache sind darum auch bei Humboldt keine von den naturalen Bedingungen losgelösten Kategorien, denn sonst wäre es unmöglich, die Menschen als in das Naturganze integrierte Wesen zu sehen. Natur verknüpft und diese drei Wirkungen im belebten Körper so innig und vielfach verbunden sind: so lässt sich daran kaum zweifeln.« (Ibid. S. 78.) 97 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 288.

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Den zeitgenössischen Naturgelehrten war dieses empirische Fundament für seine Beschreibung des Geschlechtsunterschiedes offenbar nicht verborgen geblieben. Wie bereits gesehen, nahmen gerade diese Wilhelms Horenaufsätze am gnädigsten auf. Humboldts Vorhaben, die moralische Natur mit der physischen zu verbinden, war denn auch Ziel der Geschlechteraufsätze. Das äusserst knappe Eingehen auf die Instinkte und Triebe der tierischen Lebewesen verhinderte jedoch, dass die meisten Kritiker diesen Zusammenhang gesehen haben. Wie sehr es aber Wilhelm auf diesen Zusammenhang ankam, verdeutlicht ein Brief an Schiller, den er drei Jahre (!) nach der Publikation der Horenaufsätze verfasst hat. Darin bemängelt er seine Neigung, die gewonnenen Ansichten zu allgemein zu formulieren und Beispiele aus der Erfahrung, die seine Aussagen stützen könnten, wegzulassen: »Ich erinnere mich, dass ich in einem Horenaufsatz für ich weiss nicht welchen sehr transcendenten Satz einen Elephanten zum Beispiel angeführt hatte, über den Sie so sehr lachten. Ich strich ihn damals aus der Stelle weg, aber aus meinem Gedächtniss habe ich ihn nie vertilgen können. Noch täglich finde ich Veranlassung, mich an ihn zu erinnern.«98

Was Humboldt hier als eigenes Problem empfindet, die Kluft zwischen allgemeingültigen Sätzen und erläuternden Beispielen, die sich auf Tatsachen gründen, zu überwinden, hat seine tieferen Ursachen jedoch auch in der rasanten Entwicklung der Naturwissenschaften am Ende des 18. Jahrhunderts. Eine monistische Weltbetrachtung, die Herder noch in seinen »Ideen« versuchte, wurde nun durch die immense Fülle von Daten der experimentellen Physiologie und der aufkommenden Neurologie verunmöglicht. Wilhelm sah durchaus die Gefahr, in rein transzendente Betrachtungen abzuschweifen, wenn die Daten der Naturgeschichte ausser Acht gelassen werden.99 Denn gerade die Spannung zwischen experimenteller Naturwissenschaft und der sich in Deutschland formierenden idealistischen Naturphilosophie löste jenes Unbehagen aus, das er hier im Brief an Schiller artikuliert. Wir sehen diese Tendenz zu allgemeinen Formulierungen, die die Beobachtungen der physischen Natur beiseite zu lassen scheinen, auch in der weiteren 98 Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 12. Juli 1798. Abgedruckt in: Humboldt, W. (1917), S. 199. Die Spitze gegen Schiller ist an dieser Stelle kaum zu überhören. Was Humboldt am Beispiel des Elefanten verdeutlichen wollte, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Doch bleibt anzumerken, dass auch Herder den Elefanten öfter als Exempel anfügt! 99 »Man scheint zu glauben, dass ich die Sache transcendent genommen habe. Leid thut es mir, dass man die Charakterschilderung und vorzüglich die Methode, die Charakterseiten in systematischer Vollständigkeit aufzuzählen, so übersieht. Gewiss ist es, dass er [der erste Horenaufsatz] im Vortrag grosse Fehler haben muss.« (Brief Wilhelm von Humboldts an Körner vom 7. März 1795. Ibid. S. 187.)

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Argumentation von Wilhelms Horenaufsatz »Über die männliche und weibliche Form«. Nach der kurzen Behandlung der tierischen Schöpfung geht er auf die besonderen Vorzüge des Menschen ein. Obwohl er nun die Eigentümlichkeiten der bildenden Kräfte im Menschen etwas ausführlicher darstellt, werden deren empirischen Grundlagen kaum deutlich: »Dagegen ist der Thätigkeit des Menschen schlechterdings keine einzelne Richtung ausschliesslich vorgeschrieben; was seiner Natur unmittelbar versagt scheint, dazu kann er die innern Schwierigkeiten durch Uebung, die äussern durch allerlei Hülfsmittel entfernen und das gänzlich Unmögliche selbst kann er wenigstens verlangend versuchen. Diese Eigenthümlichkeit nun verräth auch unmittelbar seine Gestalt, und das unterscheidende physiognomische Merkmal derselben ist eine solche Beschaffenheit der Bildung, mit welcher selbst der Gedanke des Zwangs unverträglich, und die nur durch Freiheit erklärbar ist.«100

Der Leser dieser Zeilen kann nur erahnen, was Wilhelm mit der »Beschaffenheit der Bildung« des Menschen meinen könnte, die nur durch die »Freiheit« erklärbar sei. Nirgends geht er konkret auf dessen anatomische Gestalt ein, sondern meint nur sehr vage, dass der Habitus des Körpers und dessen freie Zusammenstimmung aller Teile die Freiheit des menschlichen Baus lediglich empfinden lassen. Einschränkend fügt er jedoch an, dass diese Freiheit den Menschen »noch nicht aus den Gränzen der Natur« entlässt, sondern dass diese nur »weiter gerückt« seien.101 Wie wir bereits aus dem Vergleich mit Herder gesehen haben, besteht die Freiheit des Menschen in der Reduktion der Instinktgebundenheit, die es ihm erlaubt, frei zu wählen, ohne jedoch die Naturgesetze ausser Kraft setzen zu können. Infolgedessen muss der Mensch aber seine Mängel, die er aufgrund fehlender Instinkte hat, kompensieren, denn andernfalls würde er nicht überleben können. Wenn hier Humboldt also von »Uebung« und »allerlei Hülfsmitteln« spricht, die es dem Menschen erlauben, die inneren und äusseren »Schwierigkeiten« zu überwinden, so rekurriert er direkt auf Herders »Ideen«. Da der Mensch Vernunft und Sprache besitzt sowie seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektieren kann, ist er in der Lage, künstliche Hilfsmittel zu erfinden, aus eigenen Fehlern sowie aus denjenigen anderer zu lernen, zukünftige Gefahren zu meiden und zu kommunizieren. Vernunft, Sprache und die Fähigkeit, Kulturtechniken zu entwickeln, hängen nun gemäss Herder mit einer anatomischen Besonderheit zusammen, die den Menschen vom Tier unterscheidet: der aufrechte Gang. Dieser gewährt ihm erst die Möglichkeit, seine freien Hände zu benutzen und seine Umwelt zu überblicken: 100 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 311 f. 101 Ibid. S. 312.

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»Das Tier ist nur ein gebückter Sklave; wenn gleich einige edlere derselben ihr Haupt empor heben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muss notdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage.«102

Erst vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wird klar, wie eng der geistige und physische Habitus des Menschen zusammenhängen. Die Freiheit des Menschen und dessen aufrechte Haltung gehören unmittelbar zusammen. Zwar galt der aufrechte Gang bereits seit der Antike – zu nennen wären hier insbesondere Xenophon, Cicero, Ovid, Plinius, Juvenal und Galen – als entscheidendes anatomisches Merkmal des Menschen, doch eine neue wissenschaftliche Grundlage erhielt die These von dessen Sonderstellung durch Daubenton.103 Die entscheidende Tatsache, dass nämlich das Hinterhauptsloch des Schädels, wo dieser mit der Wirbelsäule verbunden ist, beim Menschen eine singuläre Stellung, ungefähr im Zentrum der Schädelbasis, einnimmt, die seine aufrechte Haltung erst erlaubt, ja, geradezu bedingt, dürfte auch Wilhelm von Humboldt aus eigenen Untersuchungen bekannt gewesen sein. Wie wir gesehen haben, teilte er selbst in einem Brief an Goethe seine Vorliebe für den Schädel als Hauptobjekt seiner Forschungen mit. Somit dürfte klar sein, wie wichtig die Anatomie für Humboldts anthropologische Studien war. Doch Wilhelm unterlässt es in seiner Abhandlung, auf die aufrechte Körperhaltung explizit aufmerksam zu machen. Den zeitgenössischen Naturforschern war dieser Zusammenhang offenbar bewusst, nicht jedoch der übrigen Leserschaft der »Horen«. Denn wer konnte schon bei der Lektüre von Humboldts Ausführungen über eine träge und schwerfällige Materie, die die freie Tätigkeit des Geistes beschränkt, vermuten, dass sich dahinter unumstössliche Fakten der vergleichenden Anatomie verbergen? Wie wir schon wissen, war es gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht opportun, Herders Namen zu erwähnen. Wenn hier Humboldt also nur andeutet, dass 102 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 135. 103 Herder erwähnt im vierten Buch, Kapitel I Daubentons M¦moire »Sur la situation du grand trou occipital dans l’homme et dans les animaux« (1764), allerdings mit dem Hinweis, es nicht gelesen zu haben. (Ibid. Teilband 1; S. 111) Er kannte den Inhalt aber sehr wohl durch ein Referat von Eberhard August Wilhelm Zimmermann (1778). Siehe dazu den Kommentar von Wolfgang Pross (Ibid. Teilband 2; S. 260 ff.) und das im dokumentarischen Anhang abgedruckte Referat Zimmermanns unter dem Titel »Der aufrechte Gang des Menschen«. (Ibid. Teilband 1; S. 1095 – 1103).

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die Freiheit des Menschen mit dessen anatomischen Bau zusammenhängt, dass also der Mensch mit all seinen geistigen Fähigkeiten aus der Natur hervorgeht, so könnte das mit seiner Scheu, die wahre Quelle seines Wissens anzugeben, zu erklären sein. Zudem war Humboldt auf eine positive Rezension Kants erpicht, mit der er bei einer Erwähnung Herders oder einer ausführlicheren Darstellung des Zusammenhanges zwischen der Anatomie und der Freiheit des Menschen kaum rechnen konnte. Wenn wir uns nun aber an Kants Äusserung erinnern, Humboldts Horenaufsätze seien ihm unverständlich, gewinnt dieses Urteil plötzlich eine neue Dimension. Denn Kant beschäftigte sich selbst mit den anatomischen Besonderheiten des Menschen, sodass er zumindest wissen musste, auf welche physiologische Eigentümlichkeit des Menschen Humboldt abzielte. Für ihn blieb es aber unbestritten, dass der Mensch seine Freiheit zu wählen von Gott und nicht, wie Herder meinte, zusammen mit seinen natürlichen Anlagen erhalten hatte. Diese Freiheit steht jedoch nach Ansicht Kants im Gegensatz zu den anatomischen und physiologischen Gegebenheiten. Ausgehend von Moscatis Theorie geht er nämlich davon aus, dass der Mensch gar nicht für den aufrechten Gang geschaffen ist. Dass er trotzdem aufrecht geht, ist für Kant Beweis seines freien Willens. Nur indem das menschliche Wesen seine natürlichen Triebe, die es zum Gang auf allen Vieren nötigen würden, unterdrückt, ist es ihm möglich, sich zu erheben und infolgedessen seine Hände frei zu gebrauchen. Die Vorteile, die es aus dem aufrechten Gang erzielt, werden ihm ersichtlich, weil es Vernunft besitzt. Mithilfe der gottgegebenen Vernunft vermag es sich als gesellschaftliches Wesen zu organisieren und seine Sprachfähigkeit zu entwickeln. Das bedeutet aber, dass der traditionelle Dualismus zwischen Körper und Geist nicht überwunden wird – eine Theorie, gegen die sowohl Herder als auch die beiden von Humboldt klar Stellung beziehen. Aus dem auf der Seite 191 angeführten Zitat von Wilhelm von Humboldt geht deutlich hervor, dass sich der Mensch wesentlich durch seine Freiheit vom Tier unterscheidet, die nicht mit Zwang vereinbar ist. Undenkbar ist es deshalb, dass er diese Freiheit nur durch Unterdrückung seiner natürlichen Triebe erlangen kann. Es ist gerade umgekehrt: Die Freiheit des Menschen ist durch seine Natur bedingt. Seine Humanität ist ihm von Natur aus gegeben. In diesem entscheidenden Punkt unterscheidet sich Wilhelm von Humboldts Theorie des Menschen von derjenigen Kants. Liegt hierin eventuell ein weiterer Grund für seine äusserst knappen Ausführungen über die Stellung des Menschen in der Natur? Wollte er vielleicht ganz bewusst seine Abhängigkeit von Herder verschleiern? Auf jeden Fall dürfte die bisher aufgezeigte Parallelität der Textstellen von Wilhelm und Herder kaum ein Zufall sein. Als Beweis für die Übereinstimmung von äusserer Gestalt und innerer Freiheit dient Wilhelm von Humboldt die Physiognomie, auch wenn er zugibt, dass

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sich das Innere des Menschen nicht in einzelnen Zügen ausdrückt, sondern in der Gesamterscheinung.104 Trotzdem fügt er in der bereits erwähnten Fussnote zu eben jener auf der Seite 182 zitierten Stelle an, dass eine Physiognomik der Tiergattungen möglich wäre, das heisst, dass man aus der äusseren Gestalt der Tiere ihre charakteristischen Eigenschaften herleiten könnte. Allerdings darf man die vorhandenen Schwierigkeiten nicht unterschätzen: »Auf ähnliche Weise, als hier, wenn gleich nur in den ersten Grundzügen, beim Menschen geschehn ist, liesse sich eine Physiognomik aller Thiergattungen entwerfen, bei der nur vorzüglich die beiden Klippen zu vermeiden wären, weder der Willkühr einer spielenden Einbildungskraft, noch dem mit den innren Eigenschaften des Geschöpfs vertrauten Verstande ein einseitiges Uebergewicht einzuräumen; folglich 1., nicht blossen Grillen zu folgen, sondern überall, an der Hand der Naturgeschichte, von dem eigentlichen Körperbau, insofern er auf die Gestalt Einfluss hat, auszugehen; 2., dem Begriff der innren Vollkommenheit des Geschöpfs, wie schon oben erinnert ist, auf diese physiognomische Beurtheilung seiner Gestalt keinen Einfluss zu verstatten, und es sich anfangs wenigstens nicht stören zu lassen, wenn auch vollkommnere Thiere in Absicht ihrer Gestalt einen niedrigeren Platz erhielten, oder umgekehrt. Von dem Thierreich dürfte man hernach den Uebergang zu den Pflanzen um vieles erleichtert finden.«105

Es ist die richtige Anordnung innerhalb der traditionellen ›scala naturae‹, die Wilhelm hier im Visier hat. Eine jeweils bildende Kraft steht in ausgewogenem Verhältnis zu einem bildsamen Stoff. Diese Proportionalität lässt sich im gesamten organischen Bereich, von der einfachsten Pflanze bis zum Menschen, feststellen. Um die richtige Reihenfolge der organischen Wesen, die sich als hierarchische Abstufung darstellt, aufzudecken, bedarf es der Naturgeschichte. In dieser Anmerkung tritt die Nähe von Wilhelm von Humboldts Horenaufsätzen zur Naturwissenschaft am deutlichsten zutage. Der Mensch ist wie die übrige Schöpfung durch das Verhältnis seiner inneren Kraft und seiner äusseren Gestalt bestimmt. Die ihm zukommende Freiheit ist nichts Hinzugefügtes, sondern Endprodukt der immer komplexer werdenden Natur. Der Terminus »Naturgeschichte« im obigen Zitat ist dabei auch im Sinne einer zeitlichen Abfolge zu verstehen. Der an Blumenbach, Georg Forster und Alexander von Humboldt geschulte Wilhelm musste sich der zeitlichen Perspektive dieses Begriffs bewusst sein. Die zunehmende Komplexität der Lebewesen hat deshalb 104 Dass Humboldt sehr kritisch gegenüber einer Physiognomik war, die behauptet, jedes äussere Merkmal einer Person deute auf deren inneren Charakter hin, geht bereits aus seinem Tagebucheintrag über den Besuch bei Lavater im Oktober 1789 hervor. Siehe: Wilhelm von Humboldt: Charakteristiken aus den Reisetagebüchern. Lavater. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 24 – 28. 105 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 312.

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auch eine genetische Komponente. Die bildende Kraft, die sich in jedem Geschöpf individuell ausprägt, setzt einen Entwicklungsprozess in Gang, der im Menschen seine vollkommenste Gestalt erhalten kann. Die Idee einer Perfektibilität des Menschen hat nur dann einen Sinn, wenn der Bildungsprozess jener grundlegenden Kraft nicht abgeschlossen ist. Auch wenn hier nicht von einer Evolutionstheorie im darwinschen Sinn die Rede ist, so wird aus dem Zusammenhang dieser Anmerkung mit dem Thema der Geschlechteraufsätze doch ersichtlich, dass die Naturgeschichte einen dynamischen Aspekt enthält. Es erstaunt deshalb nicht, dass Alexander von Humboldt in seinen »Versuchen über die gereizten Muskel- und Nervenfaser« ausgerechnet diejenige Seite des zweiten Horenaufsatzes hervorhebt, auf der die hier zitierte Fussnote zu finden ist. Bereits in der Einleitung zu seiner »Florae Fribergensis specimen« betonte er, welche zeitliche Dimension eine ›historia telluris‹ zu berücksichtigen hat – eine Erdgeschichte, die nach seinem Verständnis auch die Naturgeschichte einschliesst.106 Sehen wir uns nun Herders »Ideen« genauer an, so finden wir im Kapitel IV des zweiten Buches eine ähnliche Vorstellung einer physiognomischen Stufenleiter im Naturreich. Nachdem Herder argumentiert hat, warum der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren ist, eine Meinung, die, wie wir gesehen haben, auch der jüngere von Humboldt vertritt, setzt er noch einmal auseinander, wie er seine Analogiebildungen von Mensch und Tier verstanden haben will: »Wie manche Tiere, die uns von aussen so unähnlich scheinen, sind uns im Innern, im Knochenbau, in den vornehmsten Lebens- und Empfindungsteilen, ja in den Lebensverrichtungen selbst auf die auffallendste Weise ähnlich! Man gehe die Zergliederungen Daubentons, Perraults, Pallas und andrer Akademisten durch; und der Augenschein zeiget es deutlich. Die Naturgeschichte für Jünglinge und Kinder muss sich, um dem Auge und Gedächtnis zu Hülfe zu kommen, an einzelnen Unterscheidungen der äussern Gestalt begnügen; die männliche und philosophische Naturgeschichte suchet den Bau des Tiers von innen und aussen, um ihn mit seiner Lebensweise zu vergleichen und den Charakter und Standort des Geschöpfs zu finden. Bei den Pflanzen hat man diese Methode die natürliche genannt und auch bei den Tieren muss die vergleichende Anatomie Schritt vor Schritt zu ihr führen. Mit ihr bekommt der Mensch natürlicher Weise an sich selbst einen Leitfaden, der ihn durch das grosse Labyrinth der lebendigen Schöpfung begleite und wenn man bei irgend einer Methode sagen kann, dass unser Geist dem durchdenkenden vielumfassenden Verstande Gottes nachzudenken wage, so ists bei dieser.«107

Die Gemeinsamkeiten der beiden letzten Zitate sind augenfällig. Sowohl Wilhelm von Humboldt als auch Herder plädieren für eine komparatistische Ana106 Vergleiche hierzu Seite 102 f. 107 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 67 f.

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tomie, die die Gemeinsamkeiten und Differenzen der einzelnen Tiergattungen (und des Menschen) aufzeigt. Es genügt aber nicht, anhand von einzelnen Teilen eine Typologie, in der Weise wie sie Linn¦ erstellt hat, zu entwerfen. Eine solche Methode würde nur an den äusseren Merkmalen haften bleiben. Vielmehr geht es Herder und Humboldt darum, sowohl die äussere Gestalt eines Lebewesens als auch seine innere Bildung, seinen Charakter, seine Verhaltens- und Lebensweise zu berücksichtigen, um ein adäquateres Kriterium für seinen Standort innerhalb der natürlichen Ordnung zu erhalten. Doch nicht nur Herder und Wilhelm von Humboldt thematisieren das komplizierte Verhältnis von innerer und äusserer Struktur in der organischen Schöpfung. Auch Alexander von Humboldt stellt fest, dass bereits in einfachen Organismen innere Struktur und äussere Anatomie einander keineswegs immer entsprechen. Anhand seiner anatomischen und physiologischen Studien an niederen Tieren und Pflanzen ist er in der Lage zu zeigen, dass zwei Lebewesen, die sich von ihrer Gestalt her sehr ähnlich sind, in ihrer inneren Bildung ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können.108 Diese Feststellung ist Alexander sehr wichtig, da sie ihn in seiner Überzeugung bestätigt, dass man keine zu vorschnellen Hypothesen aufstellen darf, die lediglich eine Idee der Naturforscher veranschaulichen, ohne einen Bezug zur Realität zu haben.109 Erst eine exakte empirische Untersuchung kann verhindern, dass man unterschiedliche Orga108 Im Jahr 1795 veröffentlichte Georges Cuvier sein bahnbrechendes »M¦moire sur la structure externe et interne et sur les affinit¦s des animaux auxquels on a donn¦ le nom de vers«, in dem er die grosse Klasse der Würmer nach neuen Kriterien systematisierte. Das primäre Klassifikationsmerkmal war für ihn die Organisationsstufe des Gehirn- und Nervensystems, das heisst also die innere Struktur. (Vgl. Cuvier (1807).) Sehr wahrscheinlich kannte Alexander von Humboldt zurzeit der Veröffentlichung seiner »Versuche« Cuviers Abhandlung noch nicht, da er sie nicht als Quelle angibt. Doch offensichtlich verfolgte Humboldt eine ähnliche Spur wie Cuvier und erkannte wie dieser die grosse Bedeutung des Nervensystems. (Siehe dazu auch: Jahn (2000), S. 325 ff. Ebenso: Kanz (1997), S. 31 f.) Zu Cuviers neuem Klassifikationssystem der Würmer vergleiche auch Kapitel III.5. Seite 251 ff. 109 Bei aller Kritik gesteht Alexander von Humboldt beispielsweise Albrecht von Haller zu, dass dieser nie aufgrund der fälschlicherweise angenommenen Nervenlosigkeit der Vegetabilien und Würmer annahm, Irritabilität und Sensibilität seien zwei verschiedene Grundkräfte: »Die Nervenlosigkeit der Vegetabilien und Würmer wurde als eine Hauptstütze des Satzes, dass Reizbarkeit und Empfindlichkeit zwei verschiedene Grundkräfte wären, betrachtet. Wenn man H a l l e r s Schriften nachlieset, so findet man, dass der grosse Mann, der die Natur, mit welcher er so innigst vertraut war, nie nach seinen Lieblingsideen ummodelte, sich dieser Beweisart nur immer mit Bescheidenheit und Schüchternheit bediente.« (Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 251.) Gerade diese später nicht mehr eingehaltene Vorsicht Hallers bei der Frage, ob es sich bei der Elastizität, Irritabilität und Sensibilität eventuell nicht doch um drei Ausprägungen einer einzigen Grundkraft handeln könnte, führten Herder dazu, von einer einzigen essentiellen Kraft in der Natur auszugehen, auf die sich die übrigen Kräfte zurückführen lassen. Auch Alexander von Humboldt hielt diese Annahme nicht für abwegig. Siehe dazu zum Beispiel: Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 33 f. Anm.*).

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nismen nach Merkmalen klassifiziert, die aufgrund ihrer zufällig gewählten Kriterien zu einem künstlichen System führen, welches die realen Gegebenheiten vernachlässigt: »Wenn man die N a i s p r o b o s c i d e a und N a i s v e r m i c u l a r i s 110 mit einander vergleicht, so wird es auffallend, wie v e r s c h i e d e n a r t i g e Thiere unser künstliches, nach äusserer Form classificirendes System unter e i n e n Gattungscharakter zwängt. Was kann dem innern Bau nach heterogener seyn, als jene beiden Species? Die eine hat zwei grosse schwarze Augen, die andere gar keine bisher entdeckten, obgleich sie nach meinen Versuchen dieselbe Empfindlichkeit für’s Licht äussert. Die eine hat einen durchsichtigen, einförmigen Körper, die andere ein langes schwärzliches Eingeweide, welches fast das ganze Innere ausfüllt und sich w e l l e n f ö r m i g bewegt. […] Was ich oben von Uebereinstimmung in den äussern Formen organischer Geschöpfe, bei völliger Verschiedenheit der innern Structur, erwähnte, ist bei den Pflanzen fast noch auffallender, als bei den Thieren. Ich habe in dieser Hinsicht ähnliche Vegetabilien mikroskopisch untersucht. Was scheint sich näher verwandt, als der Wersingkohl dem Braunkohl, die B r a s s i c a S a b a u d a der B r a s s i c a S e l e n i s i a S p i e l m . und betrachten wir die A u s d ü n s t u n g s g e f ä s s e der Oberhaut, so finden wir dieselben bei diesen einzeln, sich nie berührend, klein, sehr gedehnt und mit höchstens 2 bis 3 zuführenden Gefässen versehen, bei jenen hingegen gepaart aneinanderstossend, doppelt so gross, rundlich und in 4 bis 5 zuführende Gefässe ( v a s a l y m p h a t i c a H e d w i g i i ) eingemündet! Wie unendlich verschieden sind die Ausdünstungsgefässe der Cactusarten!«111

Erinnern wir uns nun wieder an die oben zitierte Fussnote des zweiten Horenaufsatzes, so wird ihr Inhalt um vieles verständlicher. Wenn Wilhelm von Humboldt postuliert, dass man vom »eigentlichen Körperbau« »an der Hand der Naturgeschichte« ausgehen muss, um zu einer Physiognomik der Tiergattungen zu gelangen, so rekurriert er gewiss auch auf die mikroskopischen Untersuchungen und Sektionsbefunde seines jüngeren Bruders. Diese lesen sich wie eine Bestätigung von Herders Theorie, und es scheint, dass nicht zuletzt aus diesem Grunde dessen »Ideen« so wirkungsmächtig für Wilhelms Anthropologie gewesen sind. Erst die parallele Lektüre der hier konsultierten Werke der drei Autoren lässt erkennen, wie stark sowohl die Wechselbeziehungen der Humboldttexte untereinander als auch deren Abhängigkeit von Herders »Ideen« sind! Für Herder muss aber das natürliche Ordnungssystem der Natur, das uns der Naturforscher darlegen soll, an einem zentralen Punkt ausgerichtet werden, um überhaupt eine Orientierung bieten zu können. Herder sagt nun explizit, dass der Mensch selbst jener Orientierungspunkt sein muss, mit dem die übrige 110 Die Nais gehört zur Familie der Ringelwürmer. [Anm. A.M.] 111 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 267 ff. Anm.**). Cactus ist die Bezeichnung für Glockenpolypen. [Anm. A.M.]

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Schöpfung verglichen wird. Allein aus erkenntnistheoretischen Gründen kann der Mensch nur ein anthropozentrisches Modell entwickeln, denn alles was er wahrnimmt, nimmt er stets in Relation zu sich selbst wahr. Ebenso bleibt für Wilhelm von Humboldt der Mensch Leitfaden einer vergleichenden Anatomie und Physiologie.112 Nach der oben zitierten Fussnote über eine Physiognomik der Tiergattungen wendet er sich ausschliesslich dem Menschen zu, insbesondere der Differenz zwischen Mann und Frau. Je nach Geschlecht ist im Menschen das Verhältnis zwischen materiellen und geistigen Kräften zwar unterschiedlich gewichtet, doch jeder Einzelne sollte danach streben, ihr harmonisches Gleichgewicht zu erlangen. Die träge Materie des menschlichen Körpers, welche sich gemäss den Naturgesetzen verhält, und die »ungestüme Gewalt, mit welcher die Willkühr sich äussert«, setzen einen dynamischen Prozess in Gang, der nach einem Ausgleich sucht, indem diese sich gegenseitig begrenzen: »Da der Mensch als ein gemischtes Wesen Freiheit mit Naturnothwendigkeit verknüpft, so erreicht er nur durch das vollkommenste Gleichgewicht beider das Ideal reiner Menschheit.«113

Dieses Ideal reiner Menschheit bleibt aber Utopie. Der freie Wille des Menschen sollte zwar stets im Einklang mit der Natur herrschen. In der Realität gelingt dies auf Dauer jedoch kaum, denn immer wieder entstehen Situationen, in denen die Natur jenem Willen widerstrebt. Ob sich im Laufe der Geschichte die Menschheit dem »vollkommensten Gleichgewicht« annähern wird, lässt Humboldt an dieser Stelle offen. Doch unter Berücksichtigung seiner bisherigen Darstellungen zur Anthropologie und Philosophie der Menschheitsgeschichte ist es meiner Meinung nach sehr wahrscheinlich, dass er diese Möglichkeit bejahen würde. Zumindest sieht er die Entwicklung der Menschheit im Grossen und Ganzen positiv. Damit eröffnet sich eine weitere Parallele zu Herders »Ideen«. Wie wir bereits aus dem Vergleich des Fragmentes »Ueber die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« mit dem fünfzehnten Buch des herderschen Werkes gesehen haben, sieht der Autor der »Ideen« im bisherigen und zukünftigen Fortschreiten der Menschheitsgeschichte ebenfalls eine Zunahme des Gleichgewichts unter allen Kräften, die im Menschen wirken. Das vollkommene Gleichgewicht zwischen der Freiheit des Menschen und der Naturnotwendigkeit, die nicht aufgehoben werden kann, ist auch für Herder das Ziel, auf welches 112 Die Methode der Komparatistik skizzierte Wilhelm von Humboldt auch in seinem »Plan einer vergleichenden Anthropologie«, dessen erster Entwurf wohl auch in das Jahr 1795 zurückreicht. 113 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 313.

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die Menschheit zusteuert. Trotz aller Rückschläge, die der Gang der Geschichte immer wieder aufweist, sieht er optimistisch in die Zukunft. Als »verbindendes Mittelglied zweener Welten«114 ist dem Menschen das göttliche Schicksal bestimmt, dereinst ein harmonisches Gleichgewicht, das »Ideal reiner Menschheit«, zu erreichen, denn: »Nach Gesetzen ihrer innern Natur muss mit der Zeitenfolge auch die Vernunft und Billigkeit unter den Menschen mehr Platz gewinnen und eine daurendere Humanität befördern.«115

Jene Freiheit aber, die Humboldt und Herder als sichtbares Zeichen in der Erscheinung des menschlichen Körperbaus ausgewiesen haben, ist nicht grenzenlos. Der freie Wille des Menschen ist an die Naturgesetze gebunden, da er andernfalls seine physische Grundlage selbst zerstören würde. Denn, so Wilhelm von Humboldt: »[…] indem die Materie die freie Thätigkeit des Geistes durch ihre Schwerfälligkeit und Trägheit beschränkt, so mildert sie auch durch ihre ruhige Stätigkeit die ungestüme Gewalt, mit welcher die Willkühr sich äussert; und indem der Geist durch seine strenge Gesetzmässigkeit der Materie Zwang anthut, so beschränkt er zugleich ihren Ueberfluss, der unaufhörlich bestrebt ist, die Form zu vernichten.«116

Das heisst also wohl, dass der Mensch selbst das richtige Verhältnis seiner bildenden Kräfte und trägen Materie austarieren muss. In diesem selbsttätigen Streben nach dem optimalen Gleichgewicht scheint die Freiheit des Menschen zu bestehen. Denn andernfalls entstünde hier ein Widerspruch zu der auf der Seite 191 zitierten Textstelle, in der Humboldt ausdrücklich sagt, dass selbst der Gedanke eines Zwangs mit dem nur durch Freiheit erklärbaren Bau des menschlichen Körpers unvereinbar ist. Nicht die bildenden Kräfte oder der Geist des Menschen besitzen offenbar eine unbegrenzte Freiheit, sondern seine Möglichkeit der Perfektionierung. Wir begegnen hier erneut Wilhelm von Humboldts Credo, dass der Mensch nach der »proportionirlichsten« Ausbildung aller seiner Kräfte streben muss, allerdings mit der wichtigen Erweiterung, dass diese Kräfte ebenfalls mit dem Körper in ein harmonisches Verhältnis gebracht werden müssen. Der Einfluss von Schillers Ästhetik, die sich an den Begriffen von Form und Stoff festmachen lässt, ist hier nicht zu übersehen. Doch auch Herders »Ideen« müssen wir an dieser Stelle erneut zum besseren Verständnis der ›begrenzten Freiheit‹ heranziehen. Bleiben die Ursache sowie 114 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 179. 115 Ibid. Teilband 1; S. 604. 116 Wilhelm von Humboldt: Über die männliche und weibliche Form. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 312.

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die Art und Weise der Beschränkung der Materie in Wilhelm von Humboldts Ausführungen noch ziemlich unklar, so erfahren wir bei Herder : »Vor dem Allsehenden, der diese Kräfte in ihn legt, ist freilich sowohl seine Vernunft als Freiheit begränzt und sie ist glücklich begränzt, weil der die Quelle schuf, auch jeden Ausfluss derselben kennen, vorhersehen und so zu lenken wissen musste, dass der ausschweifenste Bach seinen Händen nimmer entrann; in der Sache selbst aber und in der Natur des Menschen wird dadurch nichts geändert. Er ist und bleibt ein freies Geschöpf, obwohl die allumfassende Güte ihn auch in seinen Torheiten umfasset und diese zu seinem und dem allgemeinen Besten lenket. […] wenn noch nicht vernünftig, so doch zu einer bessern Vernunft fähig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei und Newton sind Geschöpfe Einer und der derselben Gattung.«117

Herder betont hier einmal mehr die Einheit des Menschengeschlechts, das heisst ihre monogenetische Abstammung. Für beide Brüder von Humboldt war die Monogenese der Menschheit ebenfalls nie umstritten. In diesem Punkt fanden sie schon in frühen Jahren Gewissheit bei Georg Forster, der die Meinung vertrat, alle Menschenrassen bilden zusammen eine Menschengattung und entstammen deshalb einer einzigen Wurzel. Für das Problem der Begrenzung der Freiheit wichtiger aber ist im obigen Zitat Herders Hinweis, dass diese Begrenzung der Wahlfreiheit des Menschen im Grunde nur aus der Sicht Gottes erkennbar ist. Dieser beschränkt die Handlungsweise aller Menschen, um ihre Perfektionierung zu leiten – jene Perfektionierung, zu der der Mensch von Natur aus fähig ist. Wie wir bereits an anderer Stelle gesehen haben, geht Wilhelm nie ausführlicher auf die Rolle Gottes in der Geschichte der Menschheit ein und lässt ihn als Ursache für die Entwicklung des Menschen ausser Acht.118 Diese Weglassung ist vermutlich kein unbedeutender Grund für Humboldts Schwierigkeiten, die Vereinbarkeit von Naturzwang und Freiheit der geistigen Kräfte deutlicher zu erklären. Stattdessen weicht er der an sich berechtigten Frage aus, wie diese Antinomie aufzuheben wäre, und lässt den Leser darüber im Ungewissen. Wilhelm übergeht stillschweigend Herders ›Lösung‹, ohne jedoch eine eigene anbieten zu können. Sein Hinweis auf die gegenseitige Begrenzung von Materie und freiem Willen vermag nicht so recht zu überzeugen. Auch ist nicht klar, wie die »freie Thätigkeit des Geistes« mit dessen »strenger Gesetzmässigkeit« auf einen Nenner gebracht werden könnte. Hier taucht das Problem wieder auf, wie die Gültigkeit der Naturgesetze und der freie 117 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 135 f. 118 Zumindest in seinen frühen Schriften. Gerade Wilhelms stärkere Gewichtung der Rolle Gottes für die Menschheitsgeschichte in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts hatte aber bezeichnenderweise einen ernsthaften Konflikt mit seinem Bruder Alexander zur Folge.

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Wille des Menschen gleichzeitig wirksam sein können. Auf diesen Widerspruch in sich selbst geht Wilhelm mit keiner Silbe ein. Sehr wahrscheinlich spielten bei seinem Dilemma auch Schillers Haltung in dieser Frage, besonders in den Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, keine geringe Rolle. Denn für Friedrich Schiller bleibt die Antinomie zwischen der natürlichen Basis des Menschen und dessen freiem Geist bestehen. Die Überwindung dieser Kluft vermag der Mensch nur künstlich, mithilfe des ästhetischen Geschmacks zu überwinden.119 Wie Jean Jacques Rousseau und Kant – und im Gegensatz zu Herder – vertritt Schiller nämlich die Meinung, dass zwischen Körper und Geist, zwischen Natur und Kultur, ein Dualismus besteht. Die Schwierigkeiten, die Wilhelm von Humboldt an dieser Stelle mit der »freien Thätigkeit des Geistes« offenbart, liegen also möglicherweise auch an seiner ›ungemütlichen‹ persönlichen Situation, als enger Freund und Mitarbeiter Schillers die Thesen von dessen Antipoden Herder zu vertreten. Unklar bleibt des Weiteren, woraus nun Wilhelm den Unterschied zwischen den bildenden Kräften, an denen auch die Tiere teilhaben, und der »freien Thätigkeit des Geistes« ersichtlich machen will. Vielleicht erhalten wir mithilfe des ersten Horenaufsatzes »Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« Aufschluss darüber. Die Schwierigkeit, jenen Unterschied zu bestimmen, hat zwei Ursachen. Zum einen bilden gemäss Humboldts monistischem Konzept die moralische und die physische Natur eine Einheit: »Dennoch ist unläugbar, dass die physische Natur nur Ein grosses Ganze mit der moralischen ausmacht, und die Erscheinungen in beiden nur einerlei Gesetzen gehorchen.«120

Wie also könnte der moralische Teil dieser Einheit, ohne den physischen zu berücksichtigen, betrachtet und seine Differenzen in Mensch und Tier untersucht werden? Die »innere Beschaffenheit der Wesen«121 kann lediglich mit »vereinigten Kräften verstanden werden«. Dazu müssen nun »das Gefühl mit dem Gedanken gemeinschaftlich thätig seyn«. Dieser innere Charakter muss in seiner Einheit 119 »Die Schönheit ist allerdings das Werk der freyen Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen – aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bey Erkenntniss der Wahrheit geschieht. Diese ist das reine Produkt der Absonderung von allem, was materiell und zufällig ist, reines Objekt, in welchem keine Schranke des Subjekts zurückbleiben darf, reine Selbstthätigkeit ohne Beymischung eines Leidens.« (Schiller (2001). Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Fünfundzwanzigster Brief. Bd. 20; S. 396. 120 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 271. 121 Ibid. S. 270.

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erfasst werden, was allerdings nur durch »innere Anschauung« gelingt, welche man durch ein »ahndendes Gefühl« gewinnt. Auf welche Art und Weise nun diese innere Anschauung auf Begriffe des Verstandes zurückgeführt werden kann, legt Wilhelm leider nicht dar. Ein analytisches Vorgehen stünde geradezu im Widerspruch zu demjenigen der Anschauung.122 Wie schon im Fragment »Ueber die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« bleibt auch hier die Methode der geforderten Untersuchung unklar. Und es dürfte auch diese Unklarheit sein, die das verständnislose Kopfschütteln seiner Rezensenten zur Folge hatte. Eine weitere Schwierigkeit, die spezifisch menschliche Tätigkeit der moralischen Natur zu bestimmen, ist erkenntnistheoretischer Art. Wie soll der Mensch selbst dasjenige analysieren, was ihn überhaupt erst dazu befähigt, sich selbst wahrzunehmen? Bei dieser Frage bleibt der Mensch in seiner Selbstreflexion verhaftet. Humboldt ist sich dieses Problems durchaus bewusst: »Denn vorzüglich in dem Felde der menschlichen Empfindung und Begierde giebt es Tiefen, welche der Forscher nie zu ergründen vermag, wenn er den Blick unmittelbar und allein auf sie heftet. Wo die Verwandtschaft mit der schlechterdings physischen Natur des Menschen zu nah ist, hört die Möglichkeit auf, alles durch seine bloss moralische zu erklären.«123

Trotzdem sucht Wilhelm nach einem Ausweg aus diesem Dilemma und sieht ihn gerade in der engen Verwandtschaft zwischen der moralischen und physischen Natur. Der Forscher soll zuerst die gröbere Organisation der Physis untersuchen. Denn diese weist aufgrund ihrer Einfachheit eine grössere Ökonomie auf und ist mit dem moralischen Teil der Natur nicht unmittelbar verbunden: Aus ihr [der grössern Oekonomie] muss der Mensch sich besser verstehn lernen, und bei ihr den Stamm aufsuchen, von dem nur die feinste Blüthe in ihm sprosst. Hat er diesen entdeckt, so ist es nun weniger schwer, den wunderbaren Bau bis in seine äussersten Zweige zu verfolgen. Hier ist der Standpunkt, auf welchem der Kenner der physischen und der Erforscher der moralischen Natur einander gegenseitig die Hand bieten, um die steile Höhe zu ersteigen, von welcher jedes sein eignes Gebiet in einer neuen und nun erst in der wahren Gestalt erblickt.«124

Erst ein monistischer Gesamtanblick lässt uns die wahre Gestalt des Menschen erkennen. Um diesen zu erreichen, bedarf es zuerst einer empirischen Untersuchung der physischen Natur. Diese Feststellung gibt uns somit eine Antwort auf die Frage, worin der Anlass für Wilhelms Studien der Anatomie und Physiologie bestand. Möglicherweise dachte er daran, zusammen mit seinem Bruder 122 Wir werden später sehen, dass Alexander von Humboldt in den »Ansichten der Natur« eine andere Lösung suchte, um Analyse und Anschauung zu vereinbaren. 123 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 272. 124 Ibid. S. 172.

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Alexander jene wahre Sicht des Menschen zu erörtern, die sowohl die physischen als auch die psychischen Gegebenheiten verbindet und dadurch den herkömmlichen Körper–Geist–Dualismus zu eliminieren vermag. Wie dem auch sei, das erstrebte Ideal einer Naturgeschichte des Menschen tritt hier deutlich zu Tage. Besonders jener Übergang zwischen physischer und moralischer Natur interessierte Wilhelm von Humboldt, wo im Menschen – und nur im Menschen – »die feinste Blüthe« aus seinem »Stamm« sprosst. Diese metaphorische Sprache erscheint auf den ersten Blick unverständlich. Doch auch hier hilft ein Vergleich mit Herders »Ideen«. Im erstem Kapitel des vierten Buches, unter der Überschrift »Der Mensch ist zur Vernunftfähigkeit organisieret«, finden wir folgende Zeilen über die Stellung und Bildung des menschliches Hauptes: »Das kleinere Gehirn, die sprossende Blüte des Rückens und der sinnlichen Lebenskräfte trat, da es bei den Tieren herrschender war, mit dem andern Gehirn in ein untergeordnetes milderes Verhältnis. […] Mit der aufrechten Gestalt des Menschen stand ein Baum da, dessen Kräfte so proportioniert sind, dass sie dem Gehirn, als ihrer Blume und Krone, die feinsten und reichsten Säfte geben sollten. […] Kurz, der Mensch ist was er sein soll (und dazu wirken alle Teile) ein aufstrebender Baum, gekrönt mit der schönsten Krone einer feinern Gedankenbildung.«125

Das Bild eines Baumes, der sich in immer feinere Äste verzweigt und zum Schluss die feinsten Blumen bildet, übernahm Herder von Gassendi, der die Seele des Menschen als ›flos materiae‹ bezeichnete.126 Damit verdeutlichte Herder die organische Natur des Menschen, die sich in ihm so weit verfeinert, bis sie in Vernunft übergeht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass auch Humboldt die moralische Natur des Menschen, die die Emotionen, die Vernunft und die Seele umfasst, als aus der organischen entstanden betrachtet. Doch im Gegensatz zu Herder liefert er uns keine ausführliche Darstellung dieser organischen Natur. Bisher habe ich zu zeigen versucht, wie eng die Themen von Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätzen mit den damaligen empirischen Forschungen der Naturwissenschaften verknüpft sind. Dabei spielt Herders Konzept einer universalen Naturgeschichte eine entscheidende Rolle, denn dieses ist in der Lage, zwischen den physischen und psychischen Belangen des Menschen zu vermitteln. Ohne die Kenntnis der herderschen »Ideen« bleiben zahlreiche Stellen der Texte unverständlich. Auf den ersten Blick scheint vielleicht die Abhängigkeit Wilhelms angesichts der prekären Stellung Herders überraschend 125 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1; S. 120 f. 126 Siehe dazu auch den Kommentar von Wolfgang Pross, der an dieser Stelle die Parallelen zu Haller aufzeigt: Ibid. Teilband 2; S. 264 f.

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

zu sein. Doch wenn wir bedenken, dass es sowohl Humboldt als auch Herder um eine monistische Konzeption des Naturganzen ging, ist die ›Gefolgschaft‹ des Jüngeren nur folgerichtig. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Wilhelm von Humboldt keine eigenständige Position bezog, umso weniger, als er nach wie vor viel zu sehr als Adept der beiden ›Dioskuren‹ des Weimarer Klassizismus, Goethe und Schiller, betrachtet wird. Gerade die Eigenständigkeit seiner frühen Schriften während der Jenaer Zeit wird meiner Ansicht nach noch viel zu wenig beleuchtet. Die hier dargestellten Bezüge der Horenaufsätze zur zeitgenössischen Naturforschung lassen sich keineswegs mit der Auffassung vereinen, Wilhelm sei nur Schüler und ›ausführender Arm‹ Schillers gewesen. Trotz aller Rede vom Ideal der Menschheit – die realen Grundlagen des Menschen liess Humboldt nicht ausser Acht. Einen wichtigen Punkt, der Humboldts Abweichen von Herders Philosophie verdeutlicht, betrifft ausgerechnet eine grundsätzliche Intention der Horenaufsätze. Die Rede ist von der Zweiteilung der organischen Natur in das männliche und weibliche Geschlecht. Da gemäss Wilhelm die Menschheit wie auch die übrige Schöpfung die Dichotomie der zwei Geschlechter aufweist, besteht jeweils ein Überfluss an Kraft, beziehungsweise Materie. Als Ideal müsste man sich ein androgynes Wesen denken, das in der Realität jedoch nicht existieren kann. Aufgrund dieser Dichotomie ist nun das Streben der Natur »auf etwas Unbeschränktes gerichtet«, wodurch die Kräfte jedes einzelnen Wesens ihre Endlichkeit überwinden und das Räderwerk der Natur in Gang halten. Doch Wilhelm beschränkt den Geschlechtsunterschied nicht nur auf »ein zur Erzeugung nothwendiges Mittel«127, sondern fasst ihn »in seiner völligen Allgemeinheit«128. Das heisst also, dass die Zweigeschlechtlichkeit ein fundamentales Prinzip der Schöpfung ist. Jedem Geschlecht ordnet Humboldt ein Merkmal zu, nämlich Form und Stoff: »Diese beiden Merkmale sind aber gerade auch die einzigen, welche der Geschlechtsbegriff in sich fasst.«129

Beide Merkmale sind wiederum mit einer spezifischen Kraftausübung verbunden, die wechselseitig Einseitigkeit und Vielseitigkeit erzeugen. Auf dieser Wechselwirkung allein beruht nun das Geheimnis der Natur. Nur ein solcher Dualismus gewährt für Wilhelm ihre Unbeschränktheit. Unschwer ist in dieser Vorstellung der Einfluss des Platonismus zu erkennen.130 Doch dürfte eine derartige Reduktion der Natur auf die Dichotomie von 127 Wilhelm von Humboldt: Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 268. 128 Ibid. S. 269. 129 Ibid. 130 Robert Leroux erkennt in Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätzen die Traditions-

Wilhelm von Humboldts Horenaufsätze

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männlich und weiblich, von Form und Stoff, kaum auf Herders Einfluss zurückzuführen sein. Möglicherweise folgte Humboldt mit seiner Idee einem damals gängigen Modell. Von seinem Bruder Alexander erfahren wir nämlich, dass es zu dieser Zeit, vor der Wende zum 19. Jahrhundert, auch in den Naturwissenschaften die Modeerscheinung gab, alle physischen Eigenschaften auf zwei Grundprinzipien zurückzuführen. Tatsächlich kennen wir dieses Phänomen bereits vom Brownianismus, der alle Krankheiten auf »Sthenie« und »Asthenie« zu reduzieren versuchte. Ich habe bereits Alexanders Skepsis gegenüber John Browns Theorie dargelegt. Für ihn als Empiriker war es viel zu simpel, alle Phänomene der Natur in ein bipolares System zu zwängen, da er um die Komplexität wusste, die ein detailliertes und exaktes Studium der Objekte eröffnete. Warnend schreibt er denn auch in seinen »Versuchen über die gereizte Muskelund Nervenfaser«: »Auffallend ist es, wie man in dem jetzigen Jahrzehend geneigt ist, alle physische Erscheinungen auf den Begriff der Polarität, oder entgegengesetzter Stoffe zu reduciren. Die neue Theorie vom männlichen und weiblichen Brennstoff ist ganz auf eine solche Reduction gegründet, und Herr Vo i g t erklärt den Galvanischen Versuch durch eine P a a r u n g d e r m ä n n l i c h e n u n d w e i b l i c h e n E l e k t r i c i t ä t . Schade, dass wir uns bei solchen Vorstellungsarten auf eine Analogie beziehen, die ein n i c h t m i n d e r u n e r k l ä r t e s F a c t u m i n v o l v i r t ! Wir wissen, dass + E durch Vertheilung – E erregt; wir wissen, dass ein schwarzes seidenes Band, gegen ein weisses gerieben, von diesem angezogen wird; durch welche chemische Modification aber sich die positiv-elektrische Materie von der negativen unterscheidet, davon ahnden wir heute nicht mehr, als man zu D u F a y ’ s und Wa t s o n ’ s Zeiten ahnden durfte. Der Grund, warum man dennoch in der Theorie von der Elektricität, von dem Magnetismus und selbst in der Physiologie, so gern auf Begriffe der Polarität zurück geht, scheint mir in dem d u n k l e n S t r e b e n zu liegen, qualitative Verhältnisse auf quantitative zu reduciren, oder Mathematik auf chemische Wirkungen anzuwenden. Herr L i c h t e n b e r g hat durch Einführung der Zeichen + E und + M diese Anwendung glücklich zu Stande gebracht. Die verwickelten elektrischen und magnetischen linien des Platonismus und Vitalismus. Wilhelm schliesse sich dem Mythos der Androgynität der Menschen in Platons »Symposion«, fortgesetzt von Giordano Bruno, Jakob Boehme, Leibniz, Hemsterhuis, Herder und Schiller, an und verbinde ihn mit dem Vitalismus. Ausgehend von Haller, stehe er in der Tradition von Bordeu, Barthez, Blumenbach, Reil und Alexander von Humboldt, die ein höheres Prinzip der Lebenskraft annähmen. Diese beiden Traditionslinien übertrage er auf das Gebiet des Geistigen, der reinen Schöpfungskraft. Leroux geht in seinen Ausführungen sogar so weit zu behaupten, in den Horenaufsätzen nehme Wilhelm die Naturphilosophie Schellings und Fichtes vorweg. Er übersieht aber, mit welcher Unsicherheit die Suche nach der Lebenskraft gerade zu dieser Zeit bei den Brüdern von Humboldt verhaftet war. Auch Leroux weist zwar darauf hin, dass die beiden von Humboldt zu dieser Zeit gemeinsame empirische Studien betrieben, doch berücksichtigt er nicht, dass sie das Vorhandensein einer Lebenskraft nicht beweisen konnten. Die tiefe Verunsicherung darüber hatte auch Folgen für Wilhelms Metaphysik, und die Grundlagen der Naturwissenschaft, auf die sich Wilhelm hier stützt, bleiben nicht zuletzt deswegen nur vage formuliert. (Siehe dazu: Leroux (1945), S. 23 – 51.)

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Aufgaben vereinfachen sich jetzt, wie analytische Formeln, aber man vergisst bei der Arbeit, dass man mit unbekannten Grössen (x und y) zu thun hat!«131

In Bezug auf die Geschlechtsmerkmale lesen wir bei Alexander von Humboldt nirgends, dass alle lebenden Organismen entweder in eine männliche oder weibliche Form aufgeteilt werden können.132 Er wusste um die Schwierigkeiten einer solchen Aufteilung bei Pflanzen oder Insekten. Selbst die Fortpflanzung der Blumen konnte am Ende des Jahrhunderts noch nicht restlos geklärt werden. Nach wie vor war die Meinung verbreitet, diese müssten – wie die Säugetiere – in zwei Geschlechter unterteilt sein, ohne allerdings angeben zu können, woran man eine männliche beziehungsweise weibliche Blume erkennen könnte. Diese Schwierigkeiten hielten den jüngeren von Humboldt davon ab, die Natur apodiktisch in männliche und weibliche Geschlechter zu klassifizieren – die »unbekannten Grössen« liessen ihn wohlweislich davon absehen. Die Unbedenklichkeit, mit der sein Bruder Wilhelm die Zweigeschlechtlichkeit auf die gesamte Natur überträgt, ist vielleicht Ausdruck des Bestrebens, seine Vorstellung der Bildung des Menschen auf ein vermeintlich sicheres Fundament zu stellen. Doch die Ausweitung der männlichen und weiblichen Form des Organischen auf das Moralische verwischt die Konturen seines Bildungsbegriffs, eines Begriffs, der bis heute im deutschsprachigen Raum keine eindeutige Definition erfahren hat. Die hier aufgezeigten Parallelen zwischen Herders »Ideen«, Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätzen und Alexander von Humboldts »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« liessen eine nähere Betrachtung aller dieser Texte als sinnvoll erscheinen. Die Frage drängt sich nun auf, warum Wilhelm sowohl Herders als auch Alexanders Schriften offensichtlich als Bezugspunkte ins Visier nahm? Lag es vielleicht daran, dass der ältere Humboldt die herderschen Betrachtungen brauchte, um den Brückenschlag zwischen den empirischen Studien seines Bruders und seinen eigenen anthropologischen machen zu können? Die entstehende moderne Naturwissenschaft mit ihrem Anspruch auf exakte Ausführung und Nachprüfbarkeit der Experimente liess sich aber nicht mehr ohne Weiteres in literarischer Form zur Darstellung bringen. So geriet Wilhelms Vorhaben, die physische mit der moralischen Natur des Menschen zu verbinden, in eine prekäre Ausgangslage. Die oben angeführten Rezensionen seiner Zeitgenossen machten dies offenbar : Seine Bemühungen um eine Synthese von 131 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 385 f. 132 Leroux reiht Alexander von Humboldt – wie auch Herder – fälschlicherweise unter diejenigen Denker ein, die die Natur auf eine grundsätzliche Polarität zurückführen. Als weitere Vertreter dieser philosophischen Richtung nennt er Leibniz, Kant, Jacobi und Mesmer. (Leroux (1945), S. 44.)

»Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius«

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philosophischen, anthropologischen und physiologischen Betrachtungen des Menschen ernteten nur Spott und Unverständnis. Alexander von Humboldt versuchte Mitte der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts ein ähnliches Unternehmen. Doch sein Horenbeitrag »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« wurde von den Rezipienten sehr viel wohlwollender aufgenommen.

III.4. »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« – Alexander von Humboldts physiologische Idee in mythischem Gewand Als einziger Naturforscher wurde Alexander von Humboldt von Friedrich Schiller eingeladen, einen Beitrag für die »Horen« zu verfassen. Dies ist angesichts der in der Einleitung jener neu gegründeten Zeitschrift geforderten Aufhebung der Scheidewand zwischen der schönen und gelehrten Welt auf den ersten Blick sehr erstaunlich.133 Es wäre zu erwarten gewesen, dass auch andere Beiträge aus dem Bereich der Naturwissenschaften Eingang in das Journal gefunden hätten. Die Ursache für die – entgegen Schillers Ankündigung – weitgehende Nichtbeachtung naturforschender Autoren ist vermutlich in der Naturauffassung des Herausgebers zu suchen, die bereits die Naturphilosophie des deutschen Idealismus ankündigte. Ein Brief Friedrich Schillers an Körner, geschrieben nach Alexander von Humboldts Zustimmung, einen Beitrag für die »Horen« zu verfassen, gibt uns erste Anhaltspunkte für diese Vermutung. Noch hielt Schiller ausserordentlich viel von dem jungen Bergrat und entsprechend hoch waren seine Erwartungen gesteckt: »Von Humboldt’s Bruder, der preussischer Oberbergmeister ist, haben wir über Philosophie des Naturreichs sehr gute Aufsätze zu erwarten. Er ist jetzt in Deutschland gewiss der vorzüglichste in diesem Fache und übertrifft an Kopf vielleicht noch seinen Bruder, der gewiss sehr vorzüglich ist.«134

Doch Schillers Erwartungen wurden jäh enttäuscht, als ihm der Hochgelobte seine kurze Erzählung »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius«135 zusandte,

133 Schiller (1795a), S. V. Vgl. dazu auch meine Ausführungen auf Seite 179. 134 Brief vom 12. September 1794. Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 205. [Hervorhebung von mir]. 135 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Die Horen, eine Monatsschrift herausgegeben von Schiller. Zweiter Band, 5. Stück. Tübingen: Cotta 1795. S. 90 – 96. (Wiederabgedruckt in: Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 319 – 325.) Im weiteren Verlauf der Arbeit werden die Textstellen aus dem »Rhodischen Genius« nach dem Original in Schillers »Horen« zitiert. Der Wiederabdruck bei Hanno Beck folgt der von Alexander von Humboldt überarbeiteten Version

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

einen Versuch, die bereits in der »Florae Fribergensis specimen« gegebene Definition der Lebenskraft literarisch zu gestalten. Im Allgemeinen fand zwar Alexanders Beitrag bei den Rezensenten grossen Beifall und wurde weitaus besser beurteilt als die Horenaufsätze seines Bruders, aber ausgerechnet Schiller war mit seinem Aufsatz sehr unzufrieden. Missgelaunt schrieb er Goethe nach der Lektüre einer positiven Rezension des »Rhodischen Genius«: »Ich lese soeben eine Recension der Horen in [Reinhardt’s] Journal Deutschland… Das fünfte Stück (das schlechteste von allen) ist als das interessanteste vorgestellt. Vossens Gedichte, der Rhodische Genius, von Humboldt sehr herausgestrichen, und was des Zeuges mehr ist.«136

Was aber fand Schiller an Alexander von Humboldts Aufsatz so schlecht? Leider kennen wir keine detaillierte inhaltliche Kritik des Dichters. Auf jeden Fall blieb der »Rhodische Genius« der einzige Beitrag, der vom jüngeren von Humboldt in den »Horen« veröffentlicht wurde. Man kann jedoch vermuten, dass neben einer gewissen Eifersucht, die Schiller womöglich wegen Humboldts konkurrierender Freundschaft zu Goethe hegte, die von Alexander dargelegte Naturauffassung seinen Unmut erregte. Schon bald bemängelte Schiller an Humboldts objektiver Forschungsmethode das vermeintlich fehlende Anschauungsvermögen, welches seiner Meinung nach unabdingbar ist, um die Natur philosophisch zu betrachten. Offenbar erwartete er rein abstrakt-metaphysische Reflexionen über die Natur, welche von naturwissenschaftlichen Theorien und Definitionen, die aus der Empirie gewonnen wurden, ›gereinigt‹ waren.137 Denken wir zurück an Wilhelm von Humboldts Geschlechteraufsätze, bei denen Schiller die Streichung der Zitate Blumenbachs und Alexander von Humboldts verlangte, oder an seine Kritik an Beispielen aus der Naturgeschichte, gewinnt diese Hypothese an Überzeugungskraft. Auch bei Wilhelm beanstandete Schiller die zu enge Verquickung der philosophischen Anschauungen mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen. Ein späterer Brief an Körner gibt uns weitere Hinweise für die Ursachen von Friedrich Schillers ablehnender Haltung, die sich offensichtlich nicht mehr nur auf Alexanders Arbeit, sondern auch auf dessen Person bezog: »Eine zu kleine, unruhige Eitelkeit beseelt noch sein ganzes W i r k e n . Ich kann ihm keinen Funken eines reinen, objektiven Interesses abmerken, – und wie sonderbar es auch klingen mag, so finde ich in ihm, bei allem ungeheuren Reichthum des Stoffes, eine Dürftigkeit des Sinnes, die bei dem Gegenstande, den er behandelt, das schlimmste Übel ist. Es ist der nackte, schneidende Verstand, der die aus dem Jahre 1849 und weist etliche Abweichungen auf. Die entsprechenden Seitenangaben bei Beck stehen in eckigen Klammern []. 136 Bratranek (1876), S. 376. Brief vom 21. Januar 1796. 137 Zu Schillers Ablehnung einer Vermengung von didaktischer und ästhetischer Literatur um 1795 siehe: Hey’l (2007), S.146 ff.

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Natur, die immer unfasslich und in allen ihren Punkten ehrwürdig und unergründlich ist, schamlos ausgemessen haben will und mit einer Frechheit, die ich nicht begreife, seine Formeln, die oft nur leere Worte und immer nur enge Begriffe sind, zu ihrem Massstabe macht.«138

In völliger Verkennung der Objektivität, die von einem Naturwissenschaftler gefordert wird, der seinen Forschungsgegenstand analysieren, messen und formalisieren muss, kritisiert hier Schiller gerade Humboldts Qualitäten. Dass seiner Meinung nach den Fakten in einer »Philosophie des Naturreichs« keine Bedeutung zukommt, lässt das Ausmass der Ignoranz erahnen, mit der die nachfolgende Generation der Naturphilosophen im Fahrwasser des deutschen Idealismus empirische und induktive Methoden ausblendete. Doch bleibt es bei seiner Missbilligung des »Rhodischen Genius« auch abgesehen von der Abneigung gegen die empirische Erforschung der Natur immer noch erstaunlich, dass Schiller nicht einmal für Alexanders poetische Schreibweise lobende Worte fand. Denn im »Rhodischen Genius« ist Humboldts literarisches Talent, das später so viele Leser für die »Ansichten der Natur«, die »Relation historique« und den »Kosmos« begeistern konnte, bereits zu erkennen. Dass anderen Zeitgenossen Alexander von Humboldts literarisches Talent nicht verborgen geblieben war, beweist ein Schreiben Gustav von Brinkmanns an Rahel Varnhagen, die sich im Sommer 1795 gerade zur Kur in Karlsbad aufhielt: »Wenn sich irgendeine ›Hore‹ nach Böhmen verlaufen sollte, so versäumen Sie ja nicht, in dem neuesten Stück einen Aufsatz zu lesen, welcher »Die Lebenskraft oder der rhodische Genius« heisst. Er hat einen tiefen Sinn und ist, wie mir deucht, sehr schön geschrieben. Und nun wissen Sie, dass es von Humboldt ist; aber von dem Ersten! das heisst von dem Zweiten; denn so ein Mensch wie dieser existirt nun offenbar nicht mehr. Er hat dem Herz [Marcus Herz] einen Brief voll fixer Luft und Lebenskraft und Nervenfluidum geschrieben, dass einem alle Luft vergeht, alle Lebenskraft erlischt und alle Nerven zittern – solche Gelehrsamkeit!«139

Dieser etwas skurrile, unveröffentlicht gebliebene Brief, von dem eine Abschrift in Humboldts Nachlass gefunden wurde, dokumentiert, wie sehr schon der junge Alexander von Humboldt bewundert wurde. Aber nicht nur seine »Ge138 Brief Friedrich Schillers an Christian Gottfried Körner vom 6. August 1797. In: Schiller (18?), Bd. 5. S. 234. Schillers Kritik zielt hier vermutlich in erster Linie auf die in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« angewandte Methode, Versuchsanordnungen aus Metallen, Nerven und Muskeln mithilfe von Buchstabenkombinationen und mathematischen Zeichen als Formeln darzustellen. Alexander von Humboldt erfuhr sehr viel später von Schillers abfälligen Bemerkungen über ihn (und über Herder), tat diese aber als »augenblickliche Aufwallungen« ab. (Humboldt, A. (1860), S. 289. Brief vom 9. Juli 1854.) 139 Brief Gustav von Brinkmanns an Rahel Varnhagen vom 27. Juni 1795. Abgedruckt in: Bruhns (1872), Bd. 1. S. 210 f.

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lehrsamkeit« fand grosse Beachtung, auch seine Fähigkeit zur anschaulichen Darstellung der Naturobjekte, der Funktionen und Prozesse in der Natur sowie der Zusammenhänge des Naturganzen in seinen ersten Publikationen wurde bereits mit lobenden Worten bedacht. Besonders der »Rhodische Genius« wurde sehr positiv aufgenommen, gerade auch ausserhalb naturwissenschaftlich interessierter Kreise.140 Der grosse Erfolg seines Horenbeitrages war für Alexander später Anlass zur Aufnahme des »Rhodischen Genius« in die zweite und dritte Ausgabe der »Ansichten der Natur«. Eine überarbeitete Version seines Aufsatzes erschien erstmals 1826 in der zweiten Ausgabe der »Ansichten der Natur«, die Humboldt schliesslich erneut, mit Erläuterung und Zusatz erweitert, in der dritten Ausgabe von 1849 veröffentlichte. Ebenfalls erst 1849 wurde die Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe abgedruckt.141 Worum geht es nun aber inhaltlich im »Rhodischen Genius« und in welcher Beziehung steht dieser Aufsatz zur praktischen wissenschaftlichen Tätigkeit seines Verfassers und dessen Freundeskreises? Alexander von Humboldt kleidet seine Definition der Lebenskraft, wie er sie noch Anfang der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts vertreten hat, in eine Allegorie. Geschildert wird die Auslegung zweier Bilder aus der Malerschule des Kallimachus, die in der Poikile von Syrakus zu sehen sind und von denen angenommen wird, dass sie ursprünglich aus Rhodos stammen. Das erste und zunächst alleinige Bild, an dessen Interpretation sich schon über Jahre hinweg zahlreiche Kunstkenner versuchten, zeigt einen in der Mitte schwebenden, von lichtem Schimmer umgebenen Jüngling – von den Syrakusern ›Rhodischer Genius‹ genannt. In der rechten Hand hält er eine lodernde Fackel empor, während auf seiner Schulter ein Schmetterling sitzt. Sein Körper ist kindlich weich geformt. Mit lebhaftem und gebieterischem Blick sieht er auf einige nackte, wohlgebildete, aber nicht eben schlanke Jünglinge und Mädchen herab, die in einer dichten Gruppe zusammengedrängt sich verlangend zu umarmen versuchen. Doch angstvoll blicken sie zum Genius empor und sind trotz ihrer mühevollen Anstrengungen nicht in der Lage, sich ihrem Verlangen hinzugeben. Der menschliche Ausdruck ihrer Sehnsucht und ihres Kummers, ihre mit Feldblumen geschmückten Haare und ihr grober Körperbau, der sie von allem Gottähnlichen unterscheidet, scheint sie an das Irdische zu fesseln. Die Bedeutung dieses Gemäldes offenbart sich erst, als ein zweites Bild, ein offensichtliches Gegenstück zum ersten, nach Syrakus gebracht wird. Auf die140 Siehe dazu die Rezensionen in: Braun (1882). 1. Abteilung; 2. Bd. S. 86; 110. 141 Es entbehrt keiner geringen Ironie, dass sich Humboldt in der Vorrede zur zweiten und dritten Ausgabe der »Ansichten der Natur« ausgerechnet auf die »Vorliebe, welche Schiller für den ›rhodischen Genius‹ hatte«, beruft, die ihn bewogen haben soll, seinen Horenaufsatz erneut zu veröffentlichen. (Humboldt, A. (1987 – 1997). Ansichten der Natur. Bd. V, S. XI.)

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sem ist ebenfalls der Rhodische Genius zu sehen, doch diesmal mit gesenktem Haupt und zur Erde gerichteter, erloschener Fackel.142 Der Schmetterling ist verschwunden. Die Mädchen und Jünglinge jedoch stürzen sich in ihre Umarmungen. Dem Genius nicht mehr gehorchend und wild entfesselt geben sie sich der Befriedigung ihrer lange genährten Sehnsucht hin. Als dem Greis Epicharmus, einem vom Volk und den Tyrannen gleichermassen verehrten Philosophen aus der pythagoreischen Schule, die beiden Bilder gezeigt werden, entschlüsselt sich diesem ihr geheimer Sinn. Seit Jahrzehnten mit naturgeschichtlichen Fragen beschäftigt, sieht er in den Gemälden die organische und anorganische Natur als Allegorien dargestellt und findet in den beiden Abbildungen den Schlüssel zur Erklärung des fundamentalen Unterschiedes dieser zwei Bereiche: das Vorhandensein beziehungsweise Nichtvorhandensein der Lebenskraft. Erst die Lebenskraft ist zeitweise in der Lage, die Urstoffe der anorganischen Materie in neue Mischungsverhältnisse zu zwingen und das Organische hervorzubringen. Grundsätzlich bestehen die anorganische und organische Natur aus denselben Urstoffen oder Elementen. Jedoch sind diese Urstoffe nirgends isoliert vorhanden, es sei denn, der Mensch trennt sie mithilfe chemischer Verfahren. Der anhaltende Trieb zur freundschaftlichen Verbindung oder feindlichen Abstossung dieser Urstoffe führt in der anorganischen Natur zu einem Gleichgewicht, zu einer gleichmässigen Ruhe, die sich auch nach einer zwischenzeitlichen Störung durch ein drittes Element oder durch Kräfte irgendwelcher Art stets wieder einstellt.143 Dieser Zustand der toten Natur ist im zweiten Bild dargestellt. Der gesenkte Kopf und die erloschene Fackel des Genius symbolisieren den Tod und das Fehlen der Lebenskraft. Die sich umarmenden Mädchen und Jünglinge weisen auf die Kräfte der irdischen Materie, die sich nun gemäss ihrer chemischen Verwandtschaften verbindet: »Aufwärts weggeflohen ist der Schmetterling, ausgelodert die umgekehrte Fackel, gesenkt das Haupt des Jünglings. Der Geist ist in andere Sphären entwichen, die Lebenskraft erstorben. Nun reichen sich Jünglinge und Mädchen frölich die Hände. Nun 142 Vermutlich stützte sich Alexander von Humboldt bei der Schilderung des Genius auf Gotthold Ephraim Lessings Untersuchung »Wie die Alten den Tod begingen«. Lessing weist darin nach, dass im antiken Griechenland der Tod nicht als Gerippe, sondern als junger Genius, der sich auf eine erloschene Fackel stützt, dargestellt wurde. (Lessing, G.E. (1996). Wie die Alten den Tod gebildet. 6. Bd.) 143 Die Chemie der Zeit spricht bei chemischen Verbindungen von ›Affinitäten‹ oder ›Verwandtschaften‹. Anthropomorphe Bezeichnungen waren in den damaligen Naturwissenschaften durchaus üblich und wurden auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen – man denke hier nur an Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften«, in dem ein Modell aus der Chemie auf eine soziale Konstellation angewendet wird. Ausserdem erkennen wir hier, wie universal der Begriff ›Gleichgewicht‹ verwendet wurde, ein Begriff, dem wir ja auch in Wilhelm von Humboldts Werken immer wieder begegnen!

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treten die irrdischen Stoffe in ihre Rechte ein. Der Fesseln entbunden folgen sie wild nach langer Entbehrung ihrem geselligen Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein bräutlicher Tag.«144

Die anorganische Natur wird als durchaus harmonisches Ganzes dargestellt, in dem die Elemente frei und zwanglos vereinigt sind. Das »fröliche« Händereichen des Männlichen und Weiblichen an ihrem »bräutlichen Tag« erzeugt positive Assoziationen, sodass der Tod seinen Schrecken verliert. Aus diesem Grund kann ich Manfred Geiers Interpretation dieses Bildes überhaupt nicht zustimmen.145 Geier sieht in der Beschreibung der zweiten Abbildung des Genius eine Parallele zu Rubens Darstellung des jüngsten Gerichts, welche Humboldt, zusammen mit Georg Forster, 1790 in der Düsseldorfer Gemäldegalerie gesehen habe. Beide seien zutiefst erschreckt und angewidert vom Anblick dieses Rubensgemäldes gewesen. Forster schreibt dazu in den »Ansichten vom Niederrhein«: »Nein! es war keine der Musen, die den Künstler zu solchen Ausgeburten begeisterte. An der dithyrambischen Wuth, die durch das Ganze strömt, an diesen traubenähnlichen Gruppen von Menschen die, als ekelhaftes Gewürm in einander verschlungen, eine verworrene Masse von Gliedern, und – schaudernd schreib’ ich, was ich sehe – einen kannibalischen Fleischmarkt vorstellen, erkennt man die wilde, bacchantische Mänas, die alle Bescheidenheit der Natur verläugnet und, voll i h r e s Gottes, den Harmonienschöpfer O r p h e u s zerreisst«.146

Aber ganz abgesehen davon, dass wir aus Forsters Bericht nicht erfahren, ob auch Alexander von Humboldt beim Anblick von Rubens Gemälde Abscheu empfand, finde ich Geiers Interpretation des »Rhodischen Genius« sehr abwegig. Humboldts Beschreibung der Jünglinge und Mädchen auf dem zweiten Bildnis ist durchaus nicht abstossend, denn diese personifizierten Urstoffe gehören zum harmonischen Ganzen der Natur. Deshalb ist für mich Geiers Lesart des »Rhodischen Genius« als »Beitrag zur Sexualtheorie« oder gar als »sexualpathologische Abwehr« von Alexanders homosexuellen Neigungen nicht nachvollziehbar.147 Auch ist eine derartige Psychologisierung viel zu spekulativ und trägt nichts zum Verständnis der wissenschaftshistorischen Bezüge bei. Die zeitgenössische Chemie mit ihren Affinitätsgesetzen bietet hier einen verlässlicheren Zugang zum Verständnis des Textes und gibt uns einen Hinweis auf die

144 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 96. [322] 145 Geier (2009), S. 188 ff 146 Forster (1791); 1. Theil; Kapitel VII; S. 136 f. 147 Nach Manfred Geier handelt »Der Rhodische Genius« von »Begierde und Befriedigung, von Trieben und Versagungen«. (Geier (2009), S. 189.)

»Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius«

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enge Verzahnung von Naturwissenschaften und Ästhetik im Denken Alexander von Humboldts. Im organischen Naturreich aber werden diese Gesetze aufgehoben, denn die Lebenskraft gebietet nun, zumindest eine Zeit lang, über die Materie: »Anders ist die Mischung derselben Stoffe im Thier- und Pflanzenkörper. Hier tritt die Lebenskraft gebieterisch in ihre Rechte ein; sie kümmert sich nicht um die demokritische Freundschaft und Feindschaft der Atome; sie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur sich ewig fliehen, und trennt, was in dieser sich unaufhaltsam sucht.«148

Der Rhodische Genius des ersten Bildes ist somit Symbol der Lebenskraft, »wie sie jeden Keim der organischen Schöpfung beseelt«.149 Diese stellt also eine eigene Kraft dar, die das Leben als solches erst definiert und die Materie strikt in Anorganisches und Organisches trennt. Obwohl sowohl die belebten als auch die unbelebten Körper aus denselben Elementen bestehen – eine Feststellung, die Alexander in eigenen Experimenten immer wieder bestätigt fand – ist die hier postulierte ›vis vitalis‹ in der Lage, die Wirkung der ursprünglichen Kräfte aufzuheben. Beinahe gewaltsam verschafft sich die Lebenskraft Geltung, und es entsteht der Eindruck, als sei das ›Leben‹ ein quasi ›unnatürlicher‹ Zustand. Zumindest gelingt es der Lebenskraft nur zeitweise, diesen Zustand im individuellen Lebewesen aufrecht zu erhalten – im Zeitpunkt des Todes erstirbt sie. Als Ganzes jedoch scheint sie unvergänglich zu sein und den grossen Kreislauf der lebendigen Natur in Gange zu halten: »So gieng die todte Materie von Lebenskraft beseelt durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern, und derselbe Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geist des Pythagoras, in dem vormals ein dürftiger Wurm im augenblicklichen Genusse sich seines Daseins erfreute!«150

Die Natur ist also im fortwährenden Wandel begriffen. Symbol dieser Verwandlung ist der Schmetterling auf der Schulter des Genius – dieser versinnbildlicht die Metamorphose von Leben, Tod und Wiedererstehen.151 An dieser Stelle ist es notwendig, erneut auf Herder hinzuweisen. Der Einbezug von Herder enthüllt uns nämlich ein Dilemma, in welches Alexander von Humboldt just während der Abfassung des »Rhodischen Genius« geraten war. 148 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 95. [322] 149 Ibid. 150 Ibid. S. 96. [322] 151 Schon seit der Antike gilt der Schmetterling als Symbol der Seele und in christlicher Umdeutung als Symbol der Wiederauferstehung. Man beachte daher die sorgfältige symbolische Verwendung der Fackel und des Schmetterlings, die deutlich macht, dass Humboldt die Lebenskraft und die Seele keineswegs als identisch betrachtet!

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In der ersten Fassung der Spinoza-Gespräche »Gott. Einige Gespräche«152 von 1787 thematisierte Herder ebenfalls den ewigen Kreislauf in der Natur. Ausdrücklich hält er fest, dass in der Natur kein Tod existiert, da in ihr stete Bewegung vorhanden ist. Gäbe es einen wahren Tod, müsste die Natur stillstehen: »Es muss also Fortgang sein im Reiche, da in ihm kein Stillstand, noch weniger ein Rückstand sein kann. Übrigens darf unser Auge sich an den Gestalten des Todes nicht stossen: denn ist kein Tod in der Schöpfung, so gibt es auch keine Gestalt des Todes. Heisse diese Verwesung, Nahrung, Zermalmung; sie ist Übergang zur neuen Organisation, das Einspinnen der alten abgelebten Raupe, damit sie als ein neues Geschöpf erscheine.«153

Herder deutet den ewigen Kreislauf in der Natur – und die Metamorphose der Raupe macht dies deutlich – als Verwandlung. Im Wesentlichen gründet sich der Zusammenhang des Naturganzen auf eine Hauptkraft, die sowohl die Elemente der anorganischen als auch diejenigen der organischen Materie miteinander verbindet. Alexander von Humboldt, beziehungsweise Epicharmus, spricht ebenfalls von einem ewigen Wandel der Materie, die sich immer wieder zu belebten Körpern organisiert, um anschliessend wieder in unbelebte Elemente zu zerfallen. Organische und anorganische Materien bestehen aus denselben Elementen oder Urstoffen. Diese werden nicht neu geschaffen, sondern lediglich neu formiert. Das Beispiel des Wurmes, den vielleicht einst dieselbe Materie umhüllte wie Pythagoras, veranschaulicht diesen Kreislauf sehr schön. Auch in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« postuliert Herder, dass ein Gesetz oder ein Trieb durchgängig die anorganische mit der organischen Natur verbindet und dass die Übergänge zwischen belebter und unbelebter Materie nur graduell seien.154 Gemäss Herder ist also die gesamte Natur von denselben Gesetzmässigkeiten durchwirkt, sodass im Grunde die Unterscheidung zwischen Organischem und Anorganischem hinfällig ist. Gerade in dieser Auffassung gründet auch der Monismus Herders. Dieser stellte sich damit in die Tradition von Charles Bonnet, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massgeblich das Bild einer aufsteigenden Reihe der Organisationskräfte in den drei Naturreichen – Mineralien, Vegetabilien und Tiere – prägte, wobei deren Übergänge fliessend sind. Der Naturforscher Charles Bonnet spricht in seinem Werk »Contemplation de 152 Herder (1984 – 2002). Gott. Einige Gespräche. Bd. II. 153 Ibid. S. 840 f. 154 Zum Beispiel im zweiten Buch, Kapitel I und im fünften Buch, Kapitel I – III. (Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 49 ff. und S. 154 ff.) Siehe dazu auch die Kommentare von Wolfgang Pross (Ibid. Teilband 2. S. 113 ff und S. 309 ff.) in denen er insbesondere auf die Beziehungen von Herders »Ideen« zu Charles Bonnets »Contemplation de la nature« eingeht.

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la nature«155 ebenfalls von »transformations«, welche die Elemente der Natur durchlaufen und die sich deshalb in ständiger Metamorphose befinden. Die Substanz der Materie bleibt dieselbe, jedoch sind ihre Ausprägungen in den drei Naturreichen in stufenweiser Komplexität vorhanden. Die organisierten Körper erfahren dadurch einen ständigen Kreislauf der Auflösung und Neubildung, wobei dieser einer bestimmten Gesetzmässigkeit folgt. Unter dem Titel »Les Transformations que subissent diverses matieres, sur-tout par l’action des machines organiques« [»Verwandlungen, denen verschiedene Materien, besonders durch die Wirkung der organischen Maschinen, unterworfen sind«]156 beschreibt er im 17. Kapitel des fünften Teiles seines berühmten Werkes diesen Vorgang eingehender : »Tout n’est que m¦tamorphose dans le monde physique. Les formes changent sans cesse. La quantit¦ de la matiere est seule invariable. La mÞme substance passe successivement dans les trois rÀgnes. Le mÞme compos¦ devient tour-—-tour min¦ral, plante, insecte, reptile, poisson, oiseau, quadrup¦de, homme. […] Par une loi — laquelle nous ne faisons pas assez attention, tous les corps organis¦s se d¦composent, et se changent insensiblement en terre. Pendant qu’ils subissent cette espÀce de dissolution, leurs parties les plus volatiles passent dans l’air, qui les transporte par-tout. […] Toutes ces particules dispers¦es ŗ et l— rentrent bientút dans de nouveaux Touts organiques, appell¦s aux mÞmes r¦volutions que les premiers. Et cette circulation qui continue depuis le commencement du monde, ne finira qu’avec lui.«157

Sowohl die Schriften Herders als auch diejenigen Bonnets dürften Alexander von Humboldt mit grosser Wahrscheinlichkeit bekannt gewesen sein.158 Wenn 155 Bonnet (1770) 156 Bonnet (1783). 1. Bd.; 5. Teil; 17. Hauptstück; S. 222 ff. 157 Bonnet (1770). T. 1, p. V, chap. 17. S. 181 ff. [»In der physischen Welt ist alles Verwandelung. Die Gestalten wechseln unaufhörlich; die Menge der Materie ist allein unwandelbar. Einerley Substanz geht nach und nach durch alle drey Naturreiche. Einerley zusammengesetztes Ding wird nach und nach Mineral, Pflanze, Insect, kriechendes Thier, Fisch, Vogel, vierfüssiges Thier, Mensch. […] Alle organische Körper lösen sich auf, und verwandeln sich unmerklicher Weise in Erde nach einem gewissen Gesetze, bey welchem wir noch nicht genug aufmerksam sind. Während dieser Auflösung, gehen ihre flüchtigen Theile in die Luft, und werden überall hin zerstreuet. […] Alle diese hin und her zerstreueten Theilgen, gehen gar bald in neue organische Körper zusammen, denen eben dergleichen Zerstörungen, wie den ersten, bevorstehen; und dieser Kreislauf, der vom Anfange der Welt gewesen ist, wird erst mit ihrem Ende aufhören.« Bonnet (1783). 1. Band; 5. Teil; 17. Hauptstück; S. 222 ff.] 158 Auf die engen Bezüge zwischen den Schriften Herders und Alexander von Humboldts habe ich bereits im Kapitel II.3.b) hingewiesen. Dass der jüngere Humboldt zumindest einige Werke Bonnets kannte, ist zweifelsfrei nachweisbar. Schon in seinen Aphorismen zur »Florae Fribergensis specimen« von 1793 wird Bonnet öfter erwähnt. Die oben zitierte Stelle enthält auch Gedanken, die bei Georg Forster, einem der ›Lehrmeister‹ Alexander von Humboldts, wieder auftauchen. Vergleiche dazu Seite 72.

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dieser also das Werden und Vergehen in der Natur als ewigen Kreislauf darstellte, rekurrierte er damit ganz bewusst auf die gängige Theorie einer ›scala naturae‹, in die auch der Mensch eingebunden ist. Wir haben bereits erwähnt, wie wichtig für Herder die Integration des Menschen in den Gesamtzusammenhang der Natur war, um diesen als ein von Natur aus zur Humanität geschaffenes Wesen zu begreifen. Für Charles Bonnet war die Stellung des Menschen in der Natur allerdings nicht so unproblematisch wie für Herder und in dessen Nachfolge noch für Humboldt, denn er gestand dem Menschen nach wie vor eine Sonderstellung zwischen den Tieren und Gott zu. Als tiefgläubiger Gelehrter war es für Bonnet inakzeptabel, den Menschen als vollkommenen Teil der Natur zu begreifen. Denn die von Gott verliehene unsterbliche Seele markiert den Unterschied zwischen dem Menschen und dem höchstentwickelten Tier. Doch in Bonnets Nachfolge wurde auch der Mensch, nicht zuletzt wegen der zahlreichen neuen Erkenntnisse in den Naturwissenschaften, in die drei Naturreiche integriert. Dass dieser Integrationsprozess nicht so ohne Weiteres vollzogen werden konnte, dafür geben uns gerade die Schriften der Brüder von Humboldt ein gutes Beispiel. Besonders Alexander musste sich aufgrund seiner monistischen Naturauffassung immer wieder gegen den Vorwurf des Atheismus verteidigen. Doch auch im unmittelbaren Jenaer Umfeld der beiden Brüder finden wir einen Vertreter der hier geschilderten Naturauffassung, denn Johann Wolfgang von Goethe beschrieb 1783 die Natur in einem gleichnamigen Fragment ebenfalls als ewigen Kreislauf.159 Zwar erinnerte er sich 1828, als er das Bruchstück in die Gesamtausgabe seiner Werke aufnahm, »faktisch« nicht mehr daran, diese »Betrachtungen« geschrieben zu haben, aber er bestätigte in einem Brief an Friedrich von Müller zumindest, dass diese mit seinen damaligen »Vorstellungen« übereinstimmten.160 Diese »Vorstellungen« gründen in erster Linie auf Buffons Naturauffassung, wie sie in dessen »Histoire naturelle« beschrieben werden.161 Die gesamte Natur besteht demnach aus sogenannten ›moules int¦rieurs‹, deren Anordnung in Anzahl, Erhaltung und Gleichgewicht unwandelbar bleiben und im dynamischen Prozess der Zusammensetzung und Auflösung der Materie eine Konstanz gewährleisten. Auch Goethe beschreibt in seinem Aufsatz »Die Natur« den steten Wandel belebter und unbelebter Materie, in dem der Tod offenbar keinen Platz findet:

159 Goethe (1989). Bd. 13. Die Natur. Fragment. Aus dem »Tiefurter Journal« 1783. S. 45 ff. 160 Goethe (1989). Bd. 13. Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz »Die Natur«. Goethe an den Kanzler v. Müller. S. 48 f. 161 Siehe hierzu: Gusdorf (1972). Vor allem der zweite Teil, »Les sciences de la vie«, gibt einen guten Überblick über die europäische Entwicklung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert und zeigt die vielfältigen Bezüge zwischen den Schriften verschiedener Autoren auf.

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»Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar.«162

Auch wenn Ende 1794, zum Zeitpunkt der persönlichen Bekanntschaft zwischen Goethe und Alexander von Humboldt, mehr als zehn Jahre seit der Abfassung des Fragmentes zurücklagen, so zeigt diese Analogie doch, wie sehr beide in ihrer Betrachtung der Natur übereinkamen. Gerade Humboldt war ja derjenige, der in Goethe die Leidenschaft für die Naturforschung wieder erweckte und zu fortgesetzten Naturstudien anregte. Überdies treffen die Begegnung der beiden Männer und die Abfassung des »Rhodischen Genius« zeitlich exakt zusammen – was also liegt näher, als eine zumindest teilweise Übereinstimmung und Beeinflussung ihres Naturverständnisses, welches in ihren Schriften zum Ausdruck kommt? Es ist meiner Meinung nach sogar anzunehmen, dass Alexander um 1795 das noch unveröffentlichte Fragment bereits kannte, da er zu dieser Zeit mit Goethe intensive Gespräche über die Anschauung und Erforschung der Natur führte.163 Wie anhaltend zudem Goethes Fragment »Die Natur« auf Humboldt gewirkt hat, zeigt eine Paraphrasierung jener oben zitierten Stelle in der Einleitung zum ersten Band des »Kosmos«, also fast dreissig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung.164 Es wäre jedoch irrig anzunehmen, erst im 18. Jahrhundert sei die Idee, die Natur durchlaufe einen immerwährenden Kreislauf, manifest geworden. Wir finden sie bereits bei Epikur, und der wichtigste Vertreter der epikureischen Tradition, Lukrez, wurde über Jahrhunderte hinweg rezipiert. Bonnet, Herder und Goethe stehen also in einer langen Traditionslinie. Der klassisch gebildete Alexander von Humboldt kannte gewiss Lukrez’ berühmtestes Werk »De rerum natura« seit früher Jugend. Deshalb scheint es mir nicht abwegig zu sein, dass das an die Antike angelehnte Dekor des »Rhodischen Genius« eine Reminiszenz an jene epikureische Tradition sein könnte. Inhaltlich geht es in »De rerum natura« um die Ausführung des fundamentalen Satzes, dass ›nichts aus nichts‹ entsteht. Die Urstoffe des Universums sind unvergänglich und so kann in der Natur nichts zugrunde gehen: 162 Goethe (1989). Bd. 13. Die Natur. Fragment. Aus dem »Tiefurter Journal« 1783. S. 46. 163 Muthmann erwähnt, dass Carl Gustav Carus in seinem Buch über Goethe berichtet, er habe mit Alexander von Humboldt zuerst über Goethes Fragment »Die Natur« gesprochen. Sie beide hätten dieses als eines der wichtigsten Dokumente auf dem Gebiet der Naturbetrachtung gewürdigt. Aus Carus’ Erinnerung an das Gespräch mit Alexander schliesst Muthmann, Humboldt müsse das Fragment spätestens nach dem Erscheinen 1828 bekannt gewesen sein. Muthmann ist allerdings der Ansicht, dass nicht Goethe, sondern sein Freund Johann Georg Tobler der Verfasser der Schrift sei. (Siehe dazu: Muthmann (1955), S. 34 f.) 164 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 35 f.

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»Huc accedit uti quicque in sua corpora rursum dissolvat natura neque ad nihilum interemat res. Nam siquid mortale e cunctis partibus esset, ex oculis res quaeque repente erepta periret; nulla vi foret usus enim, quae partibus eius discidium parere et nexus exsolvere posset. Quod nunc, aeterno quia constant semine quaeque, donec vis obiit, quae res diverberet ictu aut intus penetret per inania dissolvatque, nullius exitium patitur natura videri.«165

Ähnliches lesen wir im »Rhodischen Genius«. Dort wird die Natur ebenfalls als in ständiger Auflösung und Komposition begriffen dargestellt, und wie Lukrez befasste sich auch Epicharmus »unablässig mit der Natur der Dinge«166 – reflektierte also ›de rerum natura‹! In einem wichtigen Punkt aber unterscheidet sich Humboldts Naturauffassung im »Rhodischen Genius« von derjenigen Herders. Die Idee nämlich, dass in der gesamten Natur nichts sterblich ist, finden wir bei Alexander von Humboldt nicht. Was die Unsterblichkeit in der Natur betrifft, steht Herder Lukrez näher, denn dieser schrieb ja ausdrücklich, dass es keinen Tod in der Natur gibt. Der junge Alexander folgt diesem Gedanken jedoch nicht, denn zu strikt ist bei ihm die Trennung zwischen toter und belebter Materie. Wohl bleiben seiner Meinung nach die Urstoffe der Materie erhalten, doch da er die anorganische Natur als nicht von »Lebenskraft beseelt« definiert, entstünde ein unlösbares Problem, wenn er dem Anorganischen das Attribut der Unsterblichkeit verleihen würde. Betrachtet man den »Rhodischen Genius« indes eingehender, so muss man feststellen, dass eine grosse Frage offen bleibt, die ebenfalls mit Humboldts anfänglicher strikter Trennung zwischen Anorganischem und Organischem zusammenhängt. Die allegorische Erzählung verhüllt nämlich das Problem, was genau mit der Lebenskraft geschieht, wenn ein lebender Körper in den toten Zustand übergeht, also sozusagen seinen ›Aggregatszustand‹ ändert. Die Fackel ist nun »erloschen«, der Geist »in andere Sphären entwichen« und »die Le165 Titus Lucretius Carus: De rerum natura. Liber primus, v. 215 – 224. Das Zitat und die Übersetzung folgen: Lucretius (1972), S. 46 – 49. [»Dazu kommt, dass die Natur alles wieder in seine Urkörper auflöst, nicht aber die Dinge zu nichts vernichtet. Denn wenn alles in allen seinen Teilen sterblich wäre, könnte jedes Ding plötzlich unseren Augen entrafft zugrunde gehen; keine Kraft wäre da nämlich notwendig, um seinen Teilen die Trennung bewirken und seine Verknüpfung lösen zu können. Weil aber nun jedes Ding aus ewigem Samen besteht, lässt die Natur uns keines Dinges Vernichtung sehen, bis eine Gewalt ihnen von aussen entgegentritt, um mit ihrem Schlag die Dinge zu sprengen, oder durch Leeres hindurch in sie eindringt und auflöst.«] 166 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 93. [321]

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benskraft erstorben« – doch wie sollte eine Kraft im Gesamtzusammenhang der Natur einfach aufhören zu existieren? Und wie beginnt sie danach erneut zu wirken? Werfen wir einen Blick auf den Artikel »Na„tre« in der »Encyclop¦die«, so finden wir dort eine weitere interessante Stellungnahme zum Problem der ewig wirkenden Lebenskraft.167 Diderot denkt nämlich, dass sich das Leben nach der Auflösung eines Lebewesens in den einzelnen, isolierten Atomen fortsetzt. So betrachtet gibt es keine absolute Trennung zwischen Leben und Tod.168 Alexander hingegen berührt dieses Problem im »Rhodischen Genius« wohl mit Absicht nicht. Jedenfalls finden wir keine Antwort zu dieser grundsätzlichen Frage. Nun stellt Alexander von Humboldt in seinen Erläuterungen zum »Rhodischen Genius«, welche in der dritten Ausgabe der »Ansichten der Natur« enthalten sind, selbst die Verbindung dieses Aufsatzes zu den Aphorismen der »Florae Fribergensis specimen« her und zitiert daraus die ersten beiden Paragrafen, deren Lehrsätze er dem Epicharmus in den Mund gelegt hat.169 Im ersten Paragrafen spricht er von einer gewissen inneren Kraft, welche die Bestandteile der belebten Materie daran hindert, ihre Form zu verändern: »Rerum naturam, si totam consideres, magnum atque durabile, quod inter elementa intercedit, discrimen perspicies, quorum altera affinitatum legibus optemperantia, altera vinculis solutis, varie juncta apparent. Quod quidem discrimen in elementis ipsis eorumque indole neutiquam positum, quum ex sola distributione singulorum petendum esse videatur. Materiam segnem, brutam, inanimam eam, vocamus, cujus stamina secundum leges chymicae affinitatis mixta sunt. Animata atque organica ea potissimum corpora appellamus, quae, licet in novas mutari formas perpetuo tendant, vi interna quadam continentur, quo minus priscam sibique insitam formam relinquant.«170 167 Herder kannte den Artikel »Na„tre« von Diderot im elften Band der »Encyclop¦die«. Siehe dazu den Kommentar von Wolfgang Pross in: Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 2; S. 340 ff. 168 »Les termes de vie et de mort n’ont rien d’absolu: ils ne designent que les ¦tats successifs d’un mÞme Þtre; […]«. 169 »Ich hatte 1793, in den meiner ›Unterirdischen Flora‹ angehängten lateinischen ›Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen‹, die Lebenskraft als die unbekannte Ursache definiert, welche die Elemente hindert, ihren ursprünglichen Ziehkräften zu folgen.« (Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 323.) Humboldt unterläuft hier ein Fehler in der Angabe des Werkes, das die »Aphorismen« enthält. Sie müsste lauten: »Florae Fribergensis specimen«. Der hier erwähnte Aufsatz »Plantas subterraneas descriptae« erschien bereits 1792 in den »Annalen der Botanik«. 170 Humboldt, A. (1793), § 1, S. 133. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir]. [»Wenn man die Natur mit e i n e m Blick umfasst, so findet man in ihren Elementen eine grosse und bleibende Verschiedenheit. Einmal sehen wir Körper, die den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gehorchen, ein andermal solche, die, frei von diesen Banden, auf mannichfache Art, mit einander verbunden sind. Diese Verschiedenheit nun, scheint nicht sowohl in den Elementen selbst, und in ihrer natürlichen Beschaffenheit, als vielmehr blos in ihrer

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Alexander von Humboldt übergeht in den Erläuterungen zum »Rhodischen Genius« Girtanners tautologische Definition des belebten Körpers, die diejenige Materie für belebt erklärt, welche das Prinzip des Lebens oder der Irritabilität enthält,171 und fügt sogleich den Anfang des zweiten Paragrafen an: »Vim internam quae chymicae affinitatis vincula rusolvit atque obstat, quo minus elementa corporum libere conjungantur, vitalem vocamus. Itaque nullum certius mortis criterium putredine datur, qua primae partes vel stamina rerum, antiquis juribus revocatis, affinitatum legibus parent. Corporum inanimorum nulla putredo esse potest.«172

Wir haben weiter oben bereits gesehen, wie unsicher für Alexander von Humboldt das Kriterium der Fäulnis schon vor der Abfassung des »Rhodischen Genius« geworden war.173 Die in den »Aphorismen« noch unproblematisch scheinende Unterscheidung zwischen Anorganischem und Organischem führte in der Folge zu Schwierigkeiten, wenn man sie empirisch überprüfen wollte. Humboldts anfängliche Überzeugung, dass zum Beispiel Holz und Knochen zur anorganischen Materie gehören, wich allmählich Zweifeln ob dieser Hypothese. Mitte der Neunzigerjahre war die in den »Aphorismen« gemachte Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Körpern, das »magnum atque durabile discrimen«, also bereits fraglich geworden und wurde mit der Zeit durch die Annahme eines graduellen Überganges von der toten zur belebten Materie ersetzt.174

171 172

173 174

Vertheilung zu liegen. Träge, unbelebte Materie nennen wir diejenige, deren Bestandtheile nach den Gesetzen der chemischen Verwandtschaft gemischt sind; belebte und organisirte Körper hingegen diejenigen, welche, des ununterbrochnen Bestrebens ihre Gestalt zu ändern ungeachtet, durch eine gewisse innere Kraft gehindert werden, ihre erste, ihnen eigenthümliche Form, zu verlassen.« Humboldt, A. (1794), §. 1. S. 3.] Siehe dazu auch Kapitel II.1.b). Humboldt, A. (1793), § 1, S. 135 f. [»Diejenige innere Kraft, welche die Bande der chemischen Verwandtschaft auflöst, und die freie Verbindung der Elemente in den Körpern hindert, nennen wir L e b e n s k r a f t . Daher giebt es kein untrüglicheres Zeichen des Todes, als die Fäulniss, durch welche die Urstoffe in ihre vorigen Rechte eintreten, und sich nach chemischen Verwandtschaften ordnen. Unbelebte Körper können nicht in Fäulniss übergehn.« Humboldt, A. (1794), §. 2. S. 9.] Siehe dazu das Kapitel II.1.b) sowie die Fussnote 192 zu dem auf den Seiten 142 f. zitierten Brief Alexander von Humboldts an Friedrich Schiller vom 6. August 1794 (!). 1797 nimmt Alexander seine frühere Behauptung, Holz und Knochen seien anorganische Stoffe, endgültig zurück: »Die Schnelligkeit, mit welcher organische Theile ihren Mischungszustand ändern, ist sehr verschieden, das Blut der Thiere erleidet frühere Umwandlungen als die Säfte der Pflanzen. Schwämme faulen leichter, als Baumblätter, Muskelfleisch leichter als Cutis. Knochen, Haare, Holz der Gewächse, Fruchtschaalen und Federkronen (welche ich ehemals irrig für völlig unorganisch erklärte) n ä h e r n sich schon im Leben dem Zustande, welchen sie nach ihrer Trennung vom Ganzen zeigen. Man darf daher wohl das Gesetz feststellen! d a s s j e h ö h e r d e r G r a d d e r V i t a l i t ä t , o d e r Re i z f ä h i g ke it e i n e s b el eb t en St of f es is t , d es t o auf f a l l en d er, o d e r

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Aber das eigentliche Problem obiger Definition der ›vis vitalis‹ liegt vor allem darin, dass sie sich auf eine »gewisse innere Kraft«, auf eine »vis interna quaedam« bezieht, eine Kraft also, die Alexander letztlich eben doch nicht näher definieren kann. Aufgrund dieser Unbestimmtheit steht folglich auch seine strikte Unterscheidung zwischen organischer und anorganischer Natur auf schwachen Füssen, denn diese stützt sich ja gerade auf das Vorhandensein beziehungsweise Nichtvorhandensein der Lebenskraft. Diese im Laufe der Zeit manifest gewordene Unsicherheit ist das grundlegende Problem in Humboldts Bestimmung, die Fäulnis sei das einzige sichere Kriterium des Todes. Die beim Eintritt des Todes zu beobachtenden Veränderungen der Materie erklärt er in der »Florae Fribergensis specimen« mit der nun fehlenden Lebenskraft, wodurch die ursprünglichen Ziehkräfte wieder wirksam werden. Humboldt bestimmt somit eine »gewisse Kraft« zur Ursache eines beobachtbaren Phänomens, ohne sie empirisch nachweisen und ohne sicher sein zu können, ob das beobachtbare Phänomen tatsächlich auf die a priori gesetzte Ursache zurückführbar ist. Eine solche ›Beweisführung‹ lässt sich aber mit einem modernen Wissenschaftsverständnis nicht mehr vereinbaren. Alexander von Humboldt legt denn auch in seinem Kommentar zum »Rhodischen Genius« von 1849, also mehr als fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, den Finger genau auf diesen wunden Punkt und meint nun rückblickend: »Nachdenken und fortgesetzte Studien in dem Gebiet der Physiologie und Chemie haben meinen früheren Glauben an eigene sogenannte Lebenskräfte tief erschüttert. Im Jahr 1797 am Schluss meiner ›Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt‹ (Bd. II, S. 430 – 436), habe ich bereits erklärt, dass ich das Vorhandensein jener eigenen Lebenskräfte keineswegs für erwiesen halte. Ich nenne seitdem nicht mehr eigene Kräfte, was vielleicht nur durch das Zusammenwirken der einzeln längst bekannten Stoffe und ihrer materiellen Kräfte bewirkt wird.«175

Tatsächlich erörtert Humboldt an der hier angegebenen Stelle in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« eingehend das Problem der Lebenskraft und ihres empirischen Nachweises. Gerade mit dem Beispiel der Fäulnis als Kriterium des Todes eröffnet er die fundamentale Kritik an seiner eigenen früheren Theorie. Um die ganze Tragweite von Alexanders Erschütterung Mitte der Neunzigerjahre zu begreifen, genügt es jedoch nicht, lediglich seine modifizierte Definition der Lebenskraft, wie er sie in den Erläuterungen von 1849 anführt, als neuen Status quo seiner wissenschaftlichen Erkenntnis zu betrachten. Seine Überlegungen in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und s c h n e l l e r d e r M i s c h u n g s z u s t a n d n a c h d e r Tr e n n u n g g e ä n d e r t w i r d .« Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 434. 175 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 323 f.

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Nervenfaser« zeigen, wie sehr er sich des spekulativen Charakters seiner früheren Annahme bewusst geworden ist. Ausgehend von den durch chemische und galvanische Reizungen vielfach beobachteten Mischungsveränderungen in der belebten Materie, welche die Elemente und Kräfte während des chemischen Prozesses des Lebens im Gleichgewicht erhalten, nimmt er das Problem des Überganges zwischen Leben und Tod zum wiederholten Male auf: »Woher nun dieser Wechsel der Erscheinungen, dies Verschwinden des organischen Gewebes, diese eintretende Fäulniss? Warum zeigen sich auf einmal chemische Z i e h k r ä f t e wirksam, welche vorher gleichsam a u f g e h o b e n schienen? Diese Veränderung kann, meiner jetzigen Einsicht nach, in d r e i e r l e i Ursachen gegründet seyn; die willkührliche Muskelbewegung und andere physiologische Erscheinungen lehren uns, das etwas A u s s e r s i n n l i c h e s , Vorstellungen, auf die Materie wirken, ja die relative Lage der Elemente modificiren können. Es ist daher denkbar, dass etwas Aussersinnliches (eine Vorstellungskraft) die Grundkräfte der Materie im Gleichgewicht hält, und die chemischen Affinitäten der Stoffe, welche bloss von jenen Grundkräften der Anziehung und Abstossung abgeleitet sind, während des Lebens anders determinire, als wie sie sich uns in der todten Natur offenbaren. Es ist aber auch eben so denkbar, dass der Grund jenes inneren Gleichgewichts i n d e r M a t e r i e s e l b s t liegt, und zwar in einem u n b e k a n n t e n E l e m e n t e , welches der belebten Thierund Pflanzenschöpfung ausschliessend eigenthümlich ist, und dessen Beimischung die Affinitätsgesetze ändert, oder in dem Ve r h ä l t n i s s , dass in einem Aggregat thätiger Organe jedes derselben dem andern perpetuirlich neue Stoffe a b g i e b t , wodurch die älteren (im e w i g e r n e u e r t e n Spiel zusammengesetzter Affinitäten) g e h i n d e r t werden, den Sättigungspunkt zu erreichen, zu dem sie bei der grössern innern Ruhe*) der todten Natur ungehindert gelangen. In dem tiefen Dunkel, welcher noch über dem Mischungszustand der organischen Materie schwebt, scheint es mir vorsichtiger, von den erstern beiden Annahmen zu schweigen, so lange die letztere uns eine Aussicht gewährt, physische Erscheinungen nicht nur physisch, sondern auch ohne Zuflucht zu einer unbekannten Materie zu erklären. Wenn ich daher ehemals in den Aphorismen**) aus der chemischen Physiologie der Pflanzen, die Lebenskraft als die unbekannte Ursach betrachtete, welche die Elemente hindert, ihren natürlichen Ziehkräften zu folgen, so glaube ich in diesem Satze ein Factum ausgedrückt zu haben, welches ich, nach meinen jetzigen Einsichten, k e i n e s w e g s f ü r e r w i e s e n h a l t e . Ich füge diese Erklärung um so ausdrücklicher bei, da mir meine Definition der Lebenskraft, die seit 4 Jahren in so viele andere, zum Theil wichtige Lehrbücher übergegangen ist, in den Schriften der Herren R e i l , Ve i t , A c k e r m a n n , und R ö s c h l a u b gründlich und scharfsinnig w i d e r l e g t zu seyn scheint.«176 * Diese Idee habe ich bereits an einem anderen Orte (S. Schillers Horen 1795. St. 5. S. 90.) im Rhodischen Genius entwickelt, einen Versuch physiologischer Gegenstände ästhetisch zu behandeln. ** S. Florae Friberg. Specimen etc.

176 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 431 ff.

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Die Verunsicherung darüber, ob eine Lebenskraft die chemischen Affinitäten der Elemente in belebter Materie beeinflusst, ist also spätestens im Jahre 1797, zum Zeitpunkt der Publikation seiner »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«, so gross geworden, dass er die ehemals in den »Aphorismen« gegebene Definition wieder zurücknimmt! Nun erfahren wir aber aus der Einleitung zu seinem zweibändigen Werk, dass Humboldt die »Versuche« bereits im Frühjahr 1795 in grossen Teilen abgeschlossen und das Manuskript Blumenbach und Soemmerring zur Durchsicht übergeben hatte. Doch genau zu diesem Zeitpunkt kam ihm Christoph Heinrich Pfaff mit einer Veröffentlichung über denselben Gegenstand zuvor.177 Somit sah sich Alexander zu einer erneuten Überprüfung seiner Resultate gezwungen, wollte er nicht hinter Pfaffs vorgelegter Arbeit zurückstehen.178 Ganze zwei Jahre nahm seine Revision des Werkes also in Anspruch, während denen jedes Experiment »vor mehreren erfahrenen, alle Nebenumstände sorgsam prüfenden Zeugen wiederholt worden ist«.179 Im letzten Abschnitt der Einleitung insistiert er noch einmal auf »die Bitte, meine geringen Versuche nicht mit den theoretischen Muthmassungen zu vermengen, welche ich mir hier und da einzustreuen erlaubt habe«.180 Doch war tatsächlich nur Pfaffs Veröffentlichung für Humboldts Überarbeitung des Manuskriptes verantwortlich? Leider können wir heute die Publikation von 1797 nicht mehr mit dem ursprünglichen Manuskript vergleichen, da dieses nicht erhalten geblieben ist. So wissen wir nicht, ob Alexander nicht vielleicht schon 1795 seine Annahme einer eigenen Lebenskraft revidierte. Aufgrund der bereits in den »Aphorismen« aufgetauchten Zweifel, welche ich in Kapitel II.2. erörtert habe, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass Alexander bereits zum Zeitpunkt der Niederschrift des »Rhodischen Genius«, Ende 1794, nicht mehr von seiner früheren Definition überzeugt war. Denn in seinen da177 Ibid. Bd. I. S. 8. Es handelt sich um Pfaffs Schrift »Ueber die thierische Electricität und Reizbarkeit« (Pfaff (1795)). Bereits 1795 teilte Alexander von Humboldt Blumenbach in einem publizierten Brief mit, dass Pfaff unabhängig von ihm zu sehr ähnlichen Ergebnissen gekommen sei. Da es ihm aber in erster Linie darum gehe, die Wissenschaft zu erweitern, werde er infolgedessen weitere Experimente vornehmen. (Humboldt, A. (1795a), S. 115.) Obwohl sich Humboldt und Pfaff persönlich nicht ausstehen konnten, bemühte sich Alexander stets um eine sachliche Auseinandersetzung mit Pfaffs Werk und zollte ihm durchaus Respekt angesichts seiner Leistungen auf dem Gebiet der Physiologie. (Siehe dazu: Rothschuh (1959). Bd. 43, S. 97 – 112; besonders S. 104. 178 Wohl nicht zufällig zitiert Alexander von Humboldt als Motto des ersten Bandes eine Stelle aus Francis Bacons »de augmentis scientiarum«, Liber I (1652): »alius error est praematura atque proterva reductio doctrinarum in artes et methodos, quod cum fit plerumque scientia aut parum aut nil proficit.« [»Ein anderer Fehler ist die zu frühe und dreiste Zurückführung der Lehre auf Theorien und Methoden, da dadurch gewöhnlich die Wissenschaft entweder zu wenig oder gar nicht vorwärts kommt.«] 179 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 13. 180 Ibid. Bd. I. S. 14.

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maligen physiologischen und chemischen Experimenten, die er ja schon seit seiner Ausbildung in der Bergakademie in Freiberg fast ohne Unterbruch vornahm, richtete er sein Augenmerk auf die beobachtbaren Phänomene des chemischen Lebensprozesses von Pflanzen und Tieren. Dabei war ausschlaggebend, dass jeder Versuch mehrmals wiederholt sowie von anderen Personen bezeugt und nachgeprüft werden musste. Weder ein einzelnes gelungenes noch ein misslungenes Experiment waren Grund genug, eine Hypothese als bewiesen zu erklären. Unter diesen Voraussetzungen, die den Beginn naturwissenschaftlicher Standards in der Physiologie und Chemie ankündigen, liess sich konsequenterweise eine nicht nachgewiesene Lebenskraft nicht mehr als Prämisse aufrechterhalten.181 Die tiefe Erschütterung des Glaubens an eine eigene Lebenskraft, von der im Kommentar zum »Rhodischen Genius« von 1849 die Rede ist, dürfte Alexander deshalb schon Anfang der Neunzigerjahre ergriffen haben. Zudem ist diese tiefe Erschütterung laut Alexander nicht plötzlich erfolgt, sondern durch »Nachdenken und fortgesetzte Studien in dem Gebiet der Physiologie und Chemie«. Die Zweifel am Vorhandensein einer eigenen Lebenskraft scheinen bei ihm also allmählich, als Resultat jahrelanger Erfahrungen, aufgekommen zu sein.182 Somit drängt sich die Vermutung auf, dass Alexander von Humboldt im »Rhodischen Genius« eine »physiologische Idee« veranschaulicht, die er selbst bereits in Frage gestellt hat. Nun könnte man sich fragen, warum Humboldt seinen Horenaufsatz überhaupt veröffentlicht hat, wenn er doch sehr wahrscheinlich am Vorhandensein einer eigenen Lebenskraft zweifelte? Um darauf eine Antwort zu finden, muss man sich vor Augen halten, dass sich in der Physiologie dieser Zeit ein begriffliches Instrumentarium, um Prozesse zu beschreiben, die das Leben betreffen, erst noch herausbilden musste. Noch nicht einmal die Bezeichnung ›Biologie‹, unter welche am ehesten die experimentellen Studien der Brüder von Humboldt und ihrer Jenaer Freunde zu subsumieren wären, war Mitte der 181 Auf dem Gebiet der Geologie und Botanik trennte Humboldt bereits in jungen Jahren schärfer zwischen Fakten und Hypothesen. So beginnt er 1792 seine Untersuchung über die grüne Farbe unterirdischer Pflanzen mit den Worten: »Ich werde suchen, die T h a t s a c h e n , die sich mir darboten, von den H y p o t h e s e n zu trennen, welche ich darüber entwarf, damit ich ›die Geschichte der Natur nicht mit der Geschichte meiner Meinungen vermenge‹.« (Humboldt, A. (1792a). Bd. 5. 1. Heft. S. 195.) 182 Man erinnere sich an dieser Stelle auch an das Spinoza-Zitat, welches bereits in den »Aphorismen« davor warnt, unsere an die Wahrnehmung gebundenen Erklärungen der Natur als objektive Tatsachen zu behandeln: »Videmus enim omnes rationes, quibus natura explicari solet, modos esse tantummodo imaginandi, nec nullius rei naturam, sed tantum imaginationis constitutionem indicare.« [»Wir sehen, dass alle Gründe, aus denen wir die Natur zu erklären pflegen, nur die Art und Weise, wie wir uns die Sache vorstellen, und nicht die Natur der Sache selbst, sondern die Beschaffenheit unserer Einbildung, anzeigen.« Humboldt, A. (1794), S. 128.]

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Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts in Gebrauch.183 Das Problem, dass der empirische Wissenschaftler auch den Bedürfnissen der Sprache gerecht werden muss, wird Alexander von Humboldt später denn auch bewusst. So finden wir beispielsweise in den »Versuchen« einen interessanten Exkurs zum Begriff der »Erregbarkeit«, der zeigt, wie behutsam Alexander im Umgang mit der Sprache geworden ist. Der Begriff muss sorgfältig vom Forschungsobjekt unterschieden werden, um als angemessenes Hilfsmittel dem Verstand dienen zu können. Die Sprache bezeichnet lediglich die vom Wissenschaftler beobachtbare Erscheinung, nicht aber die Sache selbst: »Hier ist der Punkt, wo wir den Begriff der E r r e g b a r k e i t näher entwickeln müssen. Weit davon entfernt, andere Grundkräfte, als die der primitiven Anziehung und Abstossung anzuerkennen, glaube ich vielmehr, dass die Erregbarkeit eine a b g e l e i t e t e Eigenschaft der Materie ist, von deren Untersuchung uns die ignava ratio so vieler ältern, und die Machtsprüche so vieler neuern Physiologen nicht abmahnen, oder zurückschrecken dürfen. Wenn es ein Gewinn für die Wissenschaften ist, oft wiederkehrende Erscheinungen, deren Zusammenhang wir nicht einsehen, durch abstracte Ausdrücke zu bezeichnen, so führt dagegen diese Bezeichnung auch den Nachtheil mit sich, dass sie den Forschungsgeist einschläfert, da man, (um mich eines analytischen Gleichnisses zu bedienen) durch den langen Gebrauch x und y nach und nach als bekannte Grössen betrachtet, und mit dem B e d ü r f n i s s d e r S p r a c h e auch das B e d ü r f n i s s d e s Ve r s t a n d e s befriediget wähnt. Eine gewisse Ausbildung der Sprache, eine solche nemlich, welche der Ausbildung der Ideen v o r e i l t , kann daher oft den Fortschritten des Denkens h i n d e r l i c h seyn, und so paradox dieser Satz auch zu seyn scheint, so wird er durch den Einfluss, den gewisse Zeichen auf die verzögerten Fortschritte empirischer Wissenschaften gehabt haben, nur zu sehr gerechtfertiget. Ich erinnere an die Worte: Magnetismus, Elektricität, Lebenskraft, Irritabilität, vitale Reaction u.s.w.«184

Der Begriff ›Lebenskraft‹ bezeichnete also, wie Alexander an dieser Stelle betont, eine Sache, deren eigentlicher Gehalt noch gar nicht klar definiert war. Das Vorgreifen der Sprache führte dazu, dass man mit dem Terminus ›Lebenskraft‹ dasjenige zu bezeichnen wähnte, was erst noch untersucht werden musste. Auf diese Weise verhinderte eine inadäquate Bezeichnung die Ausbildung einer 183 Das Wort ›Biologie‹ wurde zum ersten Mal in der Vorrede von Theodor Gustav August Rooses Schrift »Grundzüge der Lehre von der Lebenskraft« von 1797 verwendet. Allerdings taucht dieser Begriff bei Roose nur an einer einzigen Stelle des Werkes und ohne weitere Erklärung auf. (Roose (1797), S. III). Alexander von Humboldt hatte zu diesem Zeitpunkt seine ›biologischen‹ Studien im Wesentlichen schon beendet, da er sich nach dem Tod seiner Mutter Ende 1796 konsequent auf seine westindische Reise vorbereitete. Die »Biologe oder Philosophie der lebenden Natur«, 1802 von Gottfried Reinhold Treviranus verfasst, trägt den Begriff erstmals im Titel und erläutert ihn gleichfalls als »Lebenslehre«. Mit Jean Baptiste de Lamarck setzt sich dann der Begriff ›Biologie‹ als Disziplinbezeichnung endgültig durch. (Siehe dazu: Jahn (2000), S. 283 ff.) 184 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 125 f.

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adäquaten Bezeichnung, die dem durchaus erzielten Fortschritt der Physiologie gerecht geworden wäre. Alexander von Humboldts Verunsicherung sowohl in der Wahrnehmung der Forschungsobjekte als auch in der sprachlichen Bewältigung des Beobachteten lässt sich in den frühen Texten besser erkennen, wenn man diese miteinander vergleicht. Stützen wir uns auf die Erläuterungen des »Rhodischen Genius aus den »Ansichten der Natur«, müssen wir davon ausgehen, dass der Philosoph Epicharmus Humboldts Ansichten über die Lebenskraft aus den »Aphorismen« vertritt.185 In der Tat sind die Parallelen augenfällig. Epicharmus findet den Schlüssel zur Erklärung des ersten Gemäldes in der ›Lebenskraft‹ und beschreibt ihre Wirkungsweise analog zu ihrer Definition in den »Aphorismen« zur »Florae Fribergensis specimen«: »Tretet näher um mich her, meine Schüler, und erkennet im Rhodischen Genius, in dem Ausdruck seiner jugendlichen Stärke, im Schmetterling auf seiner Schulter, im Herrscherblick seines Auges, das Symbol der L e b e n s k r a f t , wie sie jeden Keim der organischen Schöpfung beseelt. Die irrdischen Elemente, zu seinen Füssen, streben gleichsam, ihrer eigenen Begierde zu folgen, und sich mit einander zu mischen. Befehlend droht ihnen der Genius mit aufgehobener, hochlodernder Fackel, und zwingt sie, ihrer alten Rechte uneingedenk seinem Gesetze zu folgen.«186

Wie in den »Aphorismen« scheint die Lebenskraft die chemischen Affinitäten der Elemente im Organischen zu zwingen, ihren natürlichen Gesetzmässigkeiten vorübergehend nicht zu folgen. Doch ist hier lediglich von einem Symbol der Lebenskraft die Rede. Wir erfahren genauso wenig wie in den »Aphorismen« von 1793, woraus sie denn nun eigentlich besteht. Das Wesen der Lebenskraft bleibt undefiniert. Offenbar ist sie in der belebten Materie – und nur in dieser – enthalten. Aber ist sie eine Substanz, ein Fluidum oder eine immaterielle Kraft? Diese Frage beantwortet uns Alexander von Humboldt nicht.187 Festzuhalten 185 Auch in einem Gespräch mit Friedrich Althaus im Februar 1850 stellte Alexander eine enge Verbindung zwischen diesen beiden Texten her : »In einer lateinischen Schrift aus dem vorigen Jahrhundert (Flora Fribergensis subterranea, 1793) habe ich Definitionen des Organischen und Anorganischen gegeben, welche, als die ersten stichhaltigen, einiges Verdienst haben. Ausserdem haben Sie wohl in den ›Ansichten der Natur‹ den ›Rhodischen Genius‹ gelesen. Er ist wieder mit abgedruckt, weil er als literarische Komposition den Leuten gefallen. Meine Ansicht, wie auch die Noten erklären, ist die dort ausgesprochene nicht mehr.« (Humboldt, A. (1861), S. 35.) Gemeint ist hier Humboldts »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum« von 1793. 186 Alexander von Humboldt: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. In: Schiller (1795b), S. 95. [322] 187 Humboldt war mit seiner Unsicherheit in Bezug auf das Wesen der Lebenskraft durchaus nicht allein. Schon seit Albrecht von Hallers physiologischen Untersuchungen wurde der Begriff ›Lebenskraft‹ sehr unterschiedlich interpretiert. Dies liegt einerseits an Hallers eigenen, nicht immer klaren Definitionen und Abgrenzungen der Kräfte in den organischen

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bleibt indes, dass ihr Vorhandensein sowohl in den »Aphorismen« als auch im »Rhodischen Genius« noch auf eine Art und Weise postuliert wird, als wäre sie ein unbestrittenes Faktum, um als Grundlage für die Definition der belebten Körper dienen zu können. Nun gibt uns Humboldt aber in der auf der Seite 222 zitierten Passage der »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« einen Hinweis auf den »Rhodischen Genius«. Danach versuchte er in dieser Schrift, »physiologische Gegenstände ä s t h e t i s c h zu behandeln«,188 und zwar gemäss einer bestimmten Idee. Diese besagt, dass die Ursache für die permanente Änderung der chemischen Ziehkräfte in belebten Körpern in den Verhältnissen ihrer tätigen Organe liegt. Mehrere Organe bilden zusammen ein Aggregat, sind also Teile eines Ganzen. Sie tauschen unablässig bestimmte Stoffe untereinander aus und beeinflussen sich so gegenseitig. Das heisst, der Lebensprozess wird als stetiges chemisches Agieren und Reagieren beschrieben. Diese Hypothese über die Ursache der Veränderungen in einem lebenden Körper ist allerdings nur eine von drei Möglichkeiten, die Alexander von Humboldt an dieser Stelle beschreibt. Jedoch hält er sie für die wahrscheinlichste, da sie physische Erscheinungen rein physisch erklärt, ohne Zuflucht zu einer unbekannten Materie zu nehmen. Nachdrücklich weist er am Ende des Zitates die Annahme einer Lebenskraft als unbekannte Ursache für die Veränderung der natürlichen Ziehkräfte in belebten Organismen zurück, da er diese »keineswegs für erwiesen« hält. An dieser Stelle wird die Verunsicherung Alexander von Humboldts sehr deutlich. Einerseits soll der »Rhodische Genius« diejenige Erklärungsmöglichkeit für den Unterschied zwischen Organischem und Anorganischem ästhetisch veranschaulichen, welche in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« als die wahrscheinlichste vorgeschlagen wird, da sie physische Erscheinungen nur physisch zu begründen versucht. Doch gleichzeitig weist er ausdrücklich die in den »Aphorismen« gegebene Definition der Lebenskraft Körpern, andererseits an der besonders von Stahl vertretenen Tradition einer immateriellen Lebenskraft, einer Anima, die auf den Organismus einwirken soll. In der Folge überschnitten sich in vielfältiger Weise verschiedene Theorieansätze, die sich auf beide Traditionslinien stützten. Siehe dazu die fundierte Dissertation von Walter Botsch, die dem Begriff der Lebenskraft insbesondere im Bereich der Chemie nachgeht (Botsch (1997)). Eve-Marie Engels unterscheidet grundsätzlich zwischen einem methodologischen und einem metaphysischen Vitalismus und ordnet Blumenbach, Medicus und Kielmeyer der ersten Richtung zu. Doch das Problem des methodologischen Vitalismus liegt meiner Meinung nach nicht so sehr in dessen Ablehnung eines immateriellen Prinzips, sondern in dessen Unterfütterung mit empirischen Fakten. Die Schwierigkeiten bei der genaueren Definition der Lebenskraft lassen dieses grundlegende Problem gut erkennen. (Vgl. Engels (1994), S. 128 ff.) Simone de Angelis untersucht Hallers problematische Dichotomie von Irritabilität und Sensibilität im Hinblick auf die Physiologie Ernst Platners. (Vgl. De Angelis (2007)) 188 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 432.

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zurück, obwohl ja der »Rhodische Genius« gerade diese Definition der Lebenskraft symbolisch darstellt! Alexander befindet sich Mitte der Neunzigerjahre offensichtlich in einem Dilemma, wenn es um das Problem der ›vis vitalis‹ geht. Als exakter Wissenschaftler ist er dazu gezwungen, alles Spekulative aus seinen Werken zu verbannen oder es zumindest als solches kenntlich zu machen. So schliesst er seine Einleitung zu den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« unmissverständlich mit dem Wunsch: »Zum Schlusse dieser, nur zu langen Einleitung, wage ich die Bitte, meine geringen Versuche nicht mit den theoretischen Muthmassungen zu vermengen, welche ich mir hier und da einzustreuen erlaubt habe. Jene stehen fest, wenn auch diese, welche ich für ganz unbedeutend halte, längst widerlegt sind. Ich trenne daher gern beide von einander, nicht aus Unglauben an eine rationale Naturlehre überhaupt, nicht als gehörte ich zu einer Classe von Menschen, die (nach Seneca’s Ausspruch) tam sunt umbratiles, ut putent, in turbido esse, quicquid in luce est, sondern weil in den hier bearbeiteten Gegenständen der Physiologie b i s j e t z t n o c h genugsame Erfahrungen fehlen, um auch nur mit einiger Zuversicht die Ursachen der Erscheinungen bestimmen zu können.«189

Wer nun aber denkt, Alexander von Humboldt habe in den folgenden Jahren seine einstige Annahme einer ›vis vitalis‹ zugunsten einer streng wissenschaftlichen Theorie endgültig aufgegeben, liegt falsch. Vielmehr können wir in den späteren Schriften sowohl Äusserungen eines Glaubens an eine grundlegende Lebenskraft als auch eine strenge Reduktion auf reine Fakten finden. Bereits das letzte Zitat aus den »Versuchen« lässt erkennen, dass er durchaus noch die Hoffnung hegte, man könnte vielleicht in Zukunft die Ursachen des Lebensprozesses finden. Was man aber in Humboldts späteren Zeugnissen feststellen kann, ist ein sorgfältigerer Umgang mit dem Begriff ›Lebenskraft‹. Denn bei genauem Lesen der einschlägigen Texte sehen wir, dass Alexander das Vorhandensein einer sogenannten Lebenskraft nicht generell ablehnt, sondern nur, dass er »das Vorhandensein jener eigenen Lebenskräfte keineswegs für erwiesen« hält.«190 Die Frage ist nun, was er unter jenen eigenen Lebenskräften versteht, die er in seinem Kommentar zum »Rhodischen Genius« als Faktum so kategorisch ablehnt? In den Aufzeichnungen von Friedrich Althaus über seinen Besuch bei Humboldt im Februar 1850 kommen wir der Antwort etwas näher. Althaus zitiert den über achtzigjährigen Naturforscher mit den Worten:

189 Ibid. Bd. I. S. 14. [»die solche Stubengelehrte sind, dass sie glauben, es sei verworren, was nur immer im Licht ist«] 190 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 324.

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»Das Dunkle in der Materie ist der spezifische Zustand der Körper, nämlich zu erklären wie in der Materie die einzelnen Stoffe: Erden, Metalle, Urgestein u. s. w. vorhanden sind. Aus Gold wird nicht Silber und aus Silber nicht Gold. So lange wir Körper im Mischungszustande vorfinden, operiren wir mit der analytisch-chemischen Methode. Zuletzt aber kommt man von dem Gemischten auf das Einfache, Ursprüngliche, Spezifische; das ist das Unaufgehellte. Ich habe früher an eine besondere Lebenskraft in jedem Körper geglaubt; ich bin jedoch seit lange von diesem Glauben zurückgekommen.«191

Wenn Alexander von Humboldt also vom Nichtvorhandensein eigener Lebenskräfte spricht, so meint er offenbar, dass ein organischer Körper keine ihm spezifische Lebenskraft besitzt, die ihn für die Zeit seines Lebens beseelt, um am Ende unterzugehen. Diese früher vertretene Auffassung symbolisiert der »Rhodische Genius«; und wir haben bereits gesehen, dass die dort dargestellte spezifische Lebenskraft die Frage offen lässt, wohin diese im Augenblick des Todes entschwindet. Offensichtlich hat nun Humboldt das »Unaufgehellte« einer solchen ›vis vitalis‹ eingesehen und beschränkt deshalb seine neue Definition belebter und unbelebter Stoffe in den »Versuchen« von 1797 auf die einzig sichere Aussage, die er aus seinen chemischen Versuchen deduzieren kann: »B e l e b t n e n n e i c h d e n j e n i g e n S t o f f , d e s s e n w i l l k ü h r l i c h g e t r e n n t e T h e i l e , n a c h d e r Tr e n n u n g , u n t e r d e n v o r i g e n ä u s s e r e n Ve r h ä l t n i s s e n i h r e n M i s c h u n g s z u s t a n d ä n d e r n .«192

Dieser modifizierten Definition bleibt Alexander von Humboldt zeit seines Lebens grundsätzlich treu. Denn er hält sie für so weit begründet, dass er sie noch im »Kosmos« vertreten kann und sie im Kommentar zum »Rhodischen Genius« als blossen Ausspruch einer Tatsache bezeichnet. Vergleicht man allerdings die weiteren Ausführungen zu dieser neuen Definition, so kann man durchaus kleine Nuancen feststellen, die die Auslegung der Mischungsverhältnisse in den belebten Körpern betreffen. Am Ende des 18. Jahrhunderts betont Alexander den dynamischen und zeitlichen Aspekt der belebten Materie, deren Lebensdauer begrenzt ist: »Das Gleichgewicht der Elemente in der belebten Materie erhält sich nur so lange und dadurch, dass dieselbe Theil eines G a n z e n ist. Ein Organ bestimmt das andere, eines giebt dem andern die Temperatur, in welcher diese und keine andere Affinitäten wirken. Ein Metall, oder ein Stein kann zertrennt werden, und bleiben die äusseren Bedingungen dieselben, so werden die zertrennten Stücke auch die Mischung behalten, welche sie v o r d e r Tr e n n u n g hatten. Nicht so jedes Atom der belebten Materie, es sey starr, oder tropfbar flüssig. Die gegebene D e f i n i t i o n schliesst sich unmittelbar 191 Humboldt, A. (1861), S. 34. 192 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 433.

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an die Idee des unsterblichen Denkers an, ›d a s s i m O r g a n i s m u s a l l e s w e c h s e l s e i t i g M i t t e l u n d Z w e c k s e y ?‹«193

Mit dem »unsterblichen Denker« ist natürlich Immanuel Kant gemeint. Dessen Bestimmung in der »Kritik der Urteilskraft«, dass im Organismus alles wechselseitig Mittel und Zweck ist,194 gilt um 1800 als unbestrittenes Paradigma und wird von Humboldt auch später nie angezweifelt. Interessanterweise kommentiert er aber die in den »Versuchen« gegebene Definition fünfzig Jahre später sehr viel pointierter : »Das Gleichgewicht der Elemente erhält sich in der belebten Materie dadurch, dass sie Teile eines Ganzen sind. Ein Organ bestimmt das andere, eines gibt dem anderen gleichsam die Temperatur, die Stimmung, in welcher diese und keine andere Affinitäten wirken. So ist im Organismus alles wechselseitig Mittel und Zweck.«195

Nun werden also lediglich die Elemente der belebten Materie als Teile eines Ganzen bezeichnet, nicht mehr die belebte Materie selbst. Dadurch geraten die chemischen Prozesse stärker ins Blickfeld und die Frage, was denn unter ›belebt‹ zu verstehen sei, wird ausgeblendet. Infolgedessen spielt auch der zeitliche Aspekt des Lebens keine Rolle mehr. Wann ein lebender Körper in den Zustand des Todes übergeht, ist nicht mehr Gegenstand der Forschung. Nach den Gründen, warum ein Körper belebt und der andere unbelebt ist, wird nicht mehr gefragt – sie liegen ausserhalb des für den Wissenschaftler Erfahrbaren. Mit dieser neuen, restriktiveren Definition löst sich das Problem der zeitlich begrenzten Lebenskraft, wie es sich im »Rhodischen Genius« ergeben hat, in Luft auf. Die Schwierigkeiten von Alexanders früherer Bestimmung der belebten Körper liegen nun in einem Bereich, der sich ausserhalb der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis befindet, in jenem Dunkel, welches Humboldt aus seinen wissenschaftlichen Erörterungen heraushalten will. Diese über die Jahre zu beobachtende Tendenz zur Reduktion auf überprüfbare Fakten war für Alexander selbst zwar unabdingbar, wollte er seinen Ruf als Wissenschaftler in der sich im 19. Jahrhundert formierenden ›scientific community‹ nicht aufs Spiel setzen, doch spürte er durchaus das Unbefriedigende dieser Entwicklung. Zu erkennen ist Humboldts persönliche Gespaltenheit in den anonymen Aufzeichnungen von Friedrich Althaus. Auch ihm gegenüber äusserte er die bereits zitierten Definitionen des Anorganischen und Organischen, schloss aber seine Erläuterungen mit dem lakonischen Satz: 193 Ibid. Bd. II. S. 434. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.] 194 […] »dass die Teile desselben [des Naturproduktes, das nur als Naturzweck möglich ist] sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.« (Kant (1968). Kritik der Urteilskraft. Bd. X. S. 321.) 195 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 324. [Hervorhebung von mir.]

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»Ob man aber mit diesen Definitionen einen Hund aus dem Ofenloch ziehen kann, ist eine andere Frage.«196

Deshalb wäre es falsch zu behaupten, Alexander von Humboldt habe nicht mehr an die Existenz einer Lebenskraft geglaubt. Vielmehr grenzte er die hypothetischen Annahmen konsequenter von den empirisch gewonnenen Fakten ab und setzte sie nicht mehr a priori voraus. So treffen wir auch in seinen Werken nach 1800 öfter auf Bemerkungen zum Problem einer Lebenskraft. Nun wird diese aber nicht mehr als eine jedem belebten Körper spezifisch zukommende Kraft verstanden, sondern als allgemein wirkende ›vis vitalis‹. Wir können diese Entwicklung zur allgemeineren Verwendung des Begriffs ›Lebenskraft‹ bereits in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« feststellen. Nur noch in der Einleitung zu seinem zweibändigen Werk spricht Alexander ohne nähere Erläuterungen von ›Lebenskraft‹. Gebraucht er diesen Begriff auf den restlichen 400 Seiten, so nur im Zusammenhang mit der Kritik an seiner eigenen früheren Definition der Lebenskraft, in kritischen Betrachtungen von physiologischen Schriften anderer Autoren, als Beispiel für einen zu wenig angemessenen Sprachgebrauch oder in einem Zitat – mit Anführungszeichen versehen! Insgesamt verwendet er den Terminus weniger als zehnmal. Lediglich einmal benutzt er den Begriff in der Pluralbildung, wenn er ganz allgemein von den erhöhten Lebenskräften in den Tropenländern spricht. Humboldt betrachtet diese Lebenskräfte aber nicht als Ur- oder Grundkräfte. Für ihn gibt es weiterhin nur die beiden von Newton entdeckten elementaren Kräfte der Attraktion und Gravitation. Die Lebenskraft könnte höchstens eine Modifikation dieser Kräfte sein: »Es giebt nur e i n e Materie, welche durch ihre besondere bewegende Kraft den Raum erfüllt. Die Verschiedenheit in der Verbindung der ursprünglichen Kräfte der Zurückstossung und Anziehung bringt das hervor, was uns in der äusseren Wahrnehmung, als innerer Unterschied der Elemente erscheint. Deshalb ist es sehr denkbar, dass wir nie durch Zerlegung der Stoffe dahin gelangen werden, wohin wir durch Zerlegung der Begriffe gelangen«.197

Dieses Resultat ist wenig überraschend, wenn wir bedenken, welch tiefe Erschütterung 1797, im Erscheinungsjahr der »Versuche«, hinter Humboldt lag. In einer so dezidiert naturwissenschaftlichen Schrift erschien der problematisch gewordene Begriff der Lebenskraft nicht mehr angemessen zu sein. Anders verhält es sich jedoch in Alexander von Humboldts privaten Schreiben, in den »Ansichten der Natur« und im »Kosmos«. Hier spricht er nach wie vor von einer Lebenskraft, wobei er diesen Begriff allerdings nur in einer allge196 Humboldt, A. (1861), S. 35. 197 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 34; Anm.*.

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meinen Bedeutung verwendet. Somit kann die oben gemachte Beobachtung auch in den späteren Schriften nachgewiesen werden. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang ein Brief Alexanders an Karoline von Wolzogen, den er im Mai des Jahres 1806 schrieb. In Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit in Jena mit Goethe und Schiller erwähnt er Goethes Naturansichten, die ihn schon damals, also 1795, beeinflusst und ihn für dessen monistische Naturauffassung empfänglich gemacht haben: »Liegen auch gleich grosse Bergmassen und Meere, ja, was höher und tiefer noch ist, die Vergegenwärtigung einer fast schauderhaft lebendigen Natur zwischen jener Zeit und dieser, sprechen auch seitdem tausend wunderbare Gestalten zu meinen Sinnen, so ›wurde das Neue doch immer heimisch wieder‹, das äusserlich Fremde knüpfte sich doch gefällig den ältern Gesichten an, und in den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von Einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur Ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Thieren und in des Menschen schwellender Brust. Ueberall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethe’s Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war!«198

Auf geradezu poetische Weise schildert Humboldt hier den grossen Zusammenhang in der Natur, in welcher die Trennung zwischen Anorganischem und Organischem aufgehoben ist. Nicht nur Pflanzen, Tiere und Menschen sind von Leben beseelt, sogar die Steine werden zur belebten Materie gezählt. Mit dieser Naturauffassung rückt Alexander in die Nähe von Herder, dessen Aufhebung der Scheidewand zwischen Anorganischem und Organischem er vorher abgelehnt hat. Herder beginnt das erste Kapitel des fünften Buches mit der Aufzählung der »Reihe aufsteigender Formen und Kräfte«.199 Er beschreibt kurz, wie »die Form der Organisation« von den Mineralien – Steinen, Kristallen und Metallen – bis zu den Pflanzen, Tieren und Menschen durchgehend vorhanden und in zunehmendem Masse ausgebildet ist. Zusammen mit diesen steigenden Organisationsformen vervielfältigen sich auch die »Kräfte und Triebe des Geschöpfs«. Wir erkennen hier erneut Bonnets ›scala naturae‹, die in Herders geschichtsphilosophischem Denken einen so bedeutsamen Platz einnimmt. Doch das für Herder Typische hierbei ist die Einordnung des Mineralreiches unter die lebenden Geschöpfe. Sogar die Steine sind nach seinem Verständnis mit Kräften und Trieben ausgestattet. Herder vertritt diese Einschätzung allerdings nicht immer so eindeutig wie an dieser Stelle. So spricht er manchmal auch von einer Lebenskraft oder genetischen Kraft in der organischen Natur und grenzt diese 198 Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 417 f. [Hervorhebung von mir.] 199 Herder (1984 – 2002). Bd. 3. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teilband 1. S. 154.

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offenbar wieder von der toten Natur ab.200 Trotzdem muss es seiner Meinung nach eine durchgängige Kraft in der gesamten Schöpfung geben. Auch im fünften Kapitel des dritten Buches geht er von »innigen Kräften« der Teile in der toten Natur aus, in der noch alles »in Einem dunkeln aber mächtigen Triebe« liegt. Dabei versuche »jedes Geschöpf« Gestalt zu gewinnen und sich zu formen. Herder verfolgt diese »Fortbildung der Geschöpfe« weiter durch das Pflanzenund Tierreich bis zum Menschen.201 Aufschlussreich ist im Hinblick auf Alexander von Humboldts Brief an Karoline von Wolzogen Herders Verwendung des Begriffs »Geschöpf« im Zusammenhang mit der toten Natur. Wir können also auch bei Herder unscharfe Bezeichnungen für das Phänomen einer irgendwie gearteten Lebenskraft, genetischen Kraft oder eines dunklen Triebes finden, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass sich diese Bezeichnungen stets auf die wahrnehmbaren Wirkungen einer Kraft beziehen. Über das Wesen einer Kraft äussert sich Herder nie, denn auch er versucht, alles Spekulative zu vermeiden. Der Grund für seine schwankenden Ausdrücke für die Erscheinungen von Kräften oder Trieben liegt sicherlich einerseits – wie bei Humboldt – im Ungenügen der Sprache, die noch keine geeigneten Termini zur Verfügung stellen kann. Doch andererseits mag bei Herder auch eine gewisse Scheu vor der Schilderung einer Naturauffassung vorhanden sein, die ihn in allzu grosse Nähe zum Spinozismus oder Pantheismus rücken könnte. Doch wie dem auch sei, die hier angeführten Stellen zeigen auf jeden Fall, dass eine Trennlinie zwischen Anorganischem und Organischem nach Herders Verständnis nicht existent ist. Alexander von Humboldt hatte Anfang der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts eine so weitgehende monistische Naturauffassung noch verneint. Wirkten seiner Meinung nach die physikalischen Urkräfte der Anziehung und Abstossung auch in der organischen Natur, so trennte er doch ganz entschieden zwischen lebender und toter Materie. Die nur den organischen Körpern zukommende Lebenskraft war ja gerade das entscheidende Unterscheidungsmerkmal. Doch nun, nach seinen langjährigen Erfahrungen mit physiologischen Experimenten, die ihn am Vorhandensein einer jedem organischen Körper spezifisch zukommenden Lebenskraft zweifeln lassen, greift er Herders Monismus auf. Wie das oben stehende Zitat aus dem Brief an Karoline von Wolzogen zeigt, basiert dieser neuartige Monismus bei Alexander jedoch nicht auf empirischen Fakten, sondern auf subjektiven Erfahrungen, auf Gefühlen und sinnlichen Eindrücken. Der subjektive Charakter des Briefes wird noch dadurch verstärkt, dass Humboldt ganz pauschal von den Wäldern des Amazonas spricht, obwohl er selbst den Amazonas nur aus der Ferne, von den Höhen der Kordilleren herab, gesehen hat. In einer wissenschaftlichen Abhandlung hätte er eine 200 Ibid. S. 245 ff. 201 Ibid. S. 96.

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so ungenaue Formulierung gewiss vermieden. Der Zusammenhang im Kosmos lässt sich denn auch nur dunkel erahnen. Doch auch im dritten Band des »Kosmos« scheint noch ein ähnlich monistischer Weltentwurf wie im Brief an die Wolzogen durch: »Es ist allerdings eine glänzende, des menschlichen Geistes würdige Aufgabe, die ganze Naturlehre von den Gesetzen der Schwere an bis zu dem Bildungstriebe in den belebten Körpern als ein organisches Ganzes aufzustellen; aber der unvollkommene Zustand so vieler Theile unseres Naturwissens setzt der Lösung jener Aufgabe unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Die Unvollendbarkeit aller Empirie, die Unbegrenztheit der Beobachtungssphäre macht die A u f g a b e , das Veränderliche der Materie aus den Kräften der Materie selbst zu erklären, zu einer u n b e s t i m m t e n . Das Wahrgenommene erschöpft bei weitem nicht das Wahrnehmbare.«202

Bleibt das Erstellen einer monistischen Theorie, die die Einheit von Anorganischem und Organischem beweisen könnte, auch eine »würdige Aufgabe«, so ist sie aufgrund der Menge empirischer Daten trotzdem nicht ausführbar. Unter diesen Umständen muss der Naturwissenschaftler auf eine solche Theorie verzichten. Die Kehrseite von Humboldts dezidiertem Festhalten an einer strikten Trennung zwischen wissenschaftlichen Theorien, die durch induktive Verfahren gewonnen werden und überprüfbar sind, und Spekulationen, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit besitzen, ist das Nebeneinander von beiden Erfahrungsebenen, die sich gegenseitig weder ausschliessen noch bedingen. Das bedeutet in Bezug auf das Phänomen der Lebenskraft, dass deren Vorhandensein zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann. Die dadurch erzeugte Spannung lässt Alexander von Humboldt jedoch gelten, ohne einem reinen Positivismus oder einer idealistischen Naturphilosophie zu huldigen.203 Zusammenfassend können wir somit feststellen, dass Alexander stets bemüht war, sowohl empirische Forschung als auch echte naturphilosophische Betrachtungen zu berücksichtigen. Die Verknüpfung beider Bereiche wurde allerdings immer schwieriger und betraf auch das Problem der Lebenskraft. Diese zu definieren lag ausserhalb der Grenzen der Wissenschaft und ihr Vorhandensein konnte nur geglaubt, nicht aber bewiesen werden. Für Humboldts Schriften bedeutete dies, dass trotz dem darin zu findenden Bemühen, den 202 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. III. S. 23 f. 203 Zu einer anderen (marxistischen) Ansicht gelangt Paul Möller, der in Alexander von Humboldts Auseinadersetzung mit dem Problem der Lebenskraft zu erkennen glaubt, dass dieser zu einem abgerundeten materialistischen Weltbild gelange, in dem für immaterielle Kräfte kein Platz mehr bleibe. Er verneint somit ein hier von mir postuliertes Nebeneinander von Empirie und philosophischen Betrachtungen, die eine Lebenskraft zwar nicht für erwiesen, aber doch immerhin für möglich halten. Für Möller gilt Humboldt als Wegbereiter des dialektischen Materialismus, der dann später die Lösung des Lebensproblems fand. (Möller, P. (1960), S. 287 – 310.)

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Zusammenhang in der Natur darzustellen, im Grunde doch eher ein Nebeneinander von Empirie und philosophischen Betrachtungen zu finden sind. Die Lebenskraft, der in den frühen humboldtschen Werken eine so grosse Beachtung geschenkt wurde, vermochte den angestrebten Zusammenhang nicht mehr herzustellen. Sie rückte endgültig in jenen Bereich, der nur spekulativ erschlossen werden konnte. Im »Kosmos« wird sie als eine der komplizierten »Bedingungen« betrachtet, welcher die organischen Stoffe unterworfen sind. Diese Bedingungen werden »unergründet unter der sehr unbestimmten Benennung von W i r k u n g e n d e r L e b e n s k r ä f t e nach mehr oder minder glücklich geahnten Analogien systematisch gruppirt«.204 Die Grenze des Erkennbaren ist also erreicht, und so bleibt am Schluss die Frage nach den Lebenskräften unbeantwortet: »Auf eben diese Art [aus einem dumpfen Gefühl] schafft sich der Physiolog sogenannte Lebenskräfte, um organische Erscheinungen zu erklären, weil seine Kenntniss der physischen, in der sogenannten todten Natur waltenden Kräfte ihm nicht ausreichen, dies Spiel der lebenden Organismen zu erklären. Sind darum Lebenskräfte erwiesen?«205

Was jedoch bleibt, ist die Möglichkeit, die Lebenskraft ästhetisch zu betrachten. Alexander ergreift sie, indem er den Aufsatz »Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius« in der zweiten und dritten Ausgabe der »Ansichten der Natur« wieder veröffentlicht. Zwar begründet er die Wiederveröffentlichung an mehreren Orten mit der etwas lapidaren Begründung, der »Rhodische Genius« habe dem Publikum gefallen und sei in literarischer Hinsicht erfolgreich gewesen. Doch es darf bezweifelt werden, dass Alexander diese Begründung allein genügt hat, den Aufsatz in sein Lieblingsbuch aufzunehmen. Vielmehr scheinen die »Ansichten der Natur« der geeignete Ort gewesen zu sein, um seinen Glauben an eine Lebenskraft in einem vertretbaren Rahmen bekräftigen zu können – in einem Buch nämlich, das sich an den interessierten, aber wissenschaftlich nicht gebildeten Leser richtet, dem es »einen Teil des Genusses gewähren« soll, »welchen ein empfänglicher Sinn in der unmittelbaren Anschauung«206 der Natur findet. Die in diesem Kapitel aufgezeigte tiefe Erschütterung in der Mitte des letzten Dezenniums des 18. Jahrhunderts bewahrte Alexander von Humboldt ohne Zweifel davor, die sichere Basis empirischer Fakten zu verlassen und sich allzu sehr ins Spekulative zu verlieren. Dadurch gelang es ihm, eine Sonderstellung innerhalb des Kreises deutscher Naturforscher einzunehmen, die es ihm er204 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 367. 205 Humboldt, A. (1860), S. 40. Brief vom 10. Mai 1837. Sehr interessant – und meine These der bei Humboldt nicht mehr vorhandenen Gewissheit einer exakten Grenze zwischen Leben und Tod untermauernd – ist hier die Formulierung: »in der s o g e n a n n t e n todten Natur«! 206 Humboldt, A. (1987 – 1997). Ansichten der Natur. Bd. V, S. IX.

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laubte, das bereits im 18. Jahrhundert gesammelte Wissen zu bewahren und an eine Generation von Naturwissenschaftlern weiterzugeben, die nach den Jahrzehnten der Verirrungen durch die idealistische deutsche Naturphilosophie wieder zu den sicheren Grundlagen zurückkehrte. Ein weiterer Grund für Humboldts herausragende Stellung in der Naturforschung des 19. Jahrhunderts, die ihm nicht nur in Europa, sondern auch in Übersee zuerkannt wurde, wird uns im Folgenden noch intensiver beschäftigen müssen: seine enge Verbindung zur modernen und gegen Ende des 18. Jahrhunderts führenden Naturwissenschaft in Frankreich.

III.5. »Überhaupt ist es unglaublich, was es heisst, ein einziges Object der Natur zu erforschen«207 – wissenschaftliche Skepsis und Differenzierung der Wissensgebiete Im vorhergehenden Kapitel haben wir gesehen, wie gross die Schwierigkeiten für Alexander von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts wurden, als das Auseinanderbrechen der empirischen Wissenschaften und der in Deutschland erstarkenden spekulativen Naturphilosophie nicht mehr aufzuhalten war. Trotzdem hielt Alexander an seinem Vorhaben fest, die Empirie mit der Philosophie zu vereinen, denn eine ganzheitliche Naturbetrachtung war ja das eigentliche Ziel seiner grossen Reise nach Süd- und Mittelamerika. Noch in einem seiner letzten Briefe, den Humboldt vor seiner Abreise am 5. Juni 1799 aus La CoruÇa an David Friedländer schrieb, betonte er dies nachdrücklich: »Ich werde Pflanzen und Thiere sammeln, die Wärme, die Elasticität, den magnet [ischen] und electr[ischen] Gehalt der Atmosphäre untersuchen, sie zerlegen, geograph[ische] Längen und Breiten bestimmen, Berge messen – aber dies alles ist nicht Zweck meiner Reise. Mein eigentlicher, einziger Zweck ist, das Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte zu untersuchen, den Einfluss der toten Natur auf die belebte Thier- und Pflanzenschöpfung. Diesem Zwekke gemäss habe ich mich in a l l e n Erfahrungskenntnissen umsehen müssen. […] Ich weiss wohl, dass ich meinem grossen Werke, über die Natur, nicht gewachsen bin, aber dieses ewige Treiben in mir (als wären es 10000 Säue) wird nur durch die stete Richtung nach etwas Grossem und Bleibendem erhalten.«208

Im gleichen Jahr als Humboldt im Begriffe war, seine grosse Südamerikareise anzutreten, erschien erstmals Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings »Ein207 Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom Frühjahr 1798. In: Bratranek (1876), S. 46. 208 Jahn / Lange (1973), S. 657 f. (Brief Nr. 469 vom 11. April 1799.) [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.]

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leitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie«.209 Gerade die Haltung gegenüber der Naturphilosophie eines Schelling oder Fichte zeigt, wie differenziert sich der jüngere von Humboldt nach seiner Rückkehr mit dieser in Deutschland so populär werdenden Disziplin auseinandersetzte.210 Zunächst stimmte er den Prämissen des schellingschen Systems durchaus zu, da auch er die Ansicht vertrat, dass das Sammeln wissenschaftlicher Fakten allein für eine wahre Naturforschung nicht genüge, sondern mit der Suche nach einem höheren Prinzip, das diese Fakten erst in ein sinnhaftes Ganzes zusammenfügt, ergänzt werden müsse. Die ersten Äusserungen Humboldts über Schellings Naturphilosophie fielen im Grossen und Ganzen positiv aus.211 Ein frühes Zeugnis darüber liegt uns in einem Brief Alexander von Humboldts an Schelling vom 1. Februar 1805 vor. Zuvor schrieb Schelling an Alexander im Januar desselben Jahres, um ihn für sein naturphilosophisches System zu gewinnen. Er glaubte in dem gerade von seiner Amerikareise zurückgekehrten Naturforscher einen Gleichgesinnten zu erblicken, dessen Geist »schon mitten im Zeitalter des Empirismus so mächtig über die Schranken der damaligen Physik hinausgestrebt« ist. Deshalb war er überzeugt, Humboldt werde »in vielen Punkten die überraschendste Uebereinstimmung der Theorie mit der Erfahrung in der neuen Lehre nicht verkennen«.212 Eine öffentliche Parteinahme Alexanders für Schellings naturphilosophisches System hätte diesem sicherlich auch eine grosse, vielleicht über die Grenzen Deutschlands hinausreichende Popularität eingebracht, denn der heimgekehrte Naturforscher genoss zu dieser Zeit ein immenses internationales Renommee.213 Im oben erwähnten Antwortbrief geht Alexander von Humboldt zwar kurz auf Schellings »neue Lehre«, die »Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie«, ein, doch da diese wie bereits erwähnt 1799, zeitgleich zu seiner Abreise nach Übersee, erschienen war, bleibt es sehr fraglich, ob er jenes Werk tatsächlich gelesen hat. Doch scheint er über Schellings Naturphilosophie informiert gewesen zu sein: »Nein, ich halte die Revolution, welche Sie in den Naturwissenschaften veranlasst, für eine der schönsten Epochen dieser raschen Zeiten. Zwischen Chemismus und Erregungstheorie schwankend, habe ich stets geahnt, dass es noch etwas Besseres und 209 Schelling (1799) 210 Wir sahen bereits in Kapitel II.3.a), dass sich auch Wilhelm von Humboldt zwischenzeitlich mit der Philosophie Fichtes auseinandersetzte. 211 Siehe dazu auch: Engelhardt, D. (2003). 212 Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings Brief an Alexander von Humboldt vom Januar 1805. Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 228. 213 Bekanntlich überragte die triumphale Rückkehr Alexander von Humboldts und Aim¦ Bonplands aus Amerika im August 1804 noch die Vorbereitungen zu den Krönungsfeierlichkeiten Napoleons, was dieser den beiden nie verzeihen konnte.

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Höheres geben müsse, auf das alles zurückgeführt werden könne, und dies Höhere verdanken wir nun Ihren Entdeckungen.«214

Wenn auch Humboldt Schellings Naturphilosophie hier im Wesentlichen zustimmt, da dieser wie er selbst versucht, von den empirischen Erfahrungen ausgehend zum universalen Zusammenhang in der Natur vorzudringen, so darf man trotzdem nicht übersehen, dass er bereits an dieser Stelle diejenigen Wissenschaftler tadelt, welche die Empirie vernachlässigen und sich nur noch um theoretisch gewonnene Prinzipien kümmern. Aber noch glaubt er die Naturphilosophie vor deren schädlichen Einflüssen gefeit: »Steht dabei eine Menschenklasse auf, welche es für bequemer hält, die Chemie durch die Kraft des Hirns zu treiben, als sich die Hände zu benetzen, so ist das weder Ihre [Schellings] Schuld, noch die der Naturphilosophie überhaupt.«215

Noch zwei Jahre später bekennt sich Alexander in der Vorrede zur deutschen Ausgabe der »Ideen zu einer Geographie der Pflanzen« grundsätzlich zu Schellings naturphilosophischem System. Nachdem er zugegeben hat, in seiner Schrift lediglich die empirischen Resultate seiner Reise darzulegen, ohne bereits in die Natur der Dinge, in ihr inneres Zusammenwirken vorgedrungen zu sein, fährt er zuversichtlich fort: »Dieses Geständnis, welches den Standpunkt bezeichnet, von welchem ich beurteilt zu werden hoffen darf, soll zugleich auch darauf hinweisen, dass es möglich sein wird, einst ein Naturgemälde ganz anderer und gleichsam höherer Art naturphilosophisch darzustellen. Eine solche Möglichkeit nämlich, an der ich vor meiner Rückkunft nach Europa fast selbst gezweifelt,216 eine solche Reduktion aller Naturerscheinungen, aller Tätigkeit und Gebilde, auf den nie beendigten Streit entgegengesetzter Grundkräfte der Materie, ist durch das kühne Unternehmen eines der tiefsinnigsten Männer unseres Jahrhunderts begründet worden. Nicht völlig unbekannt mit dem Geiste des Schellingschen Systems, bin ich weit von der Meinung entfernt, als könne das echte naturphilosophische Studium den empirischen Untersuchungen schaden, und als sollten ewig Empiriker und Naturphilosophen als streitende Pole sich einander abstossen.«217 214 Alexander von Humboldts Brief an Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling vom 1. Februar 1805. Zitiert nach Bruhns (1872), Bd. 1. S. 228 f. 215 Ibid. S. 229. 216 Diese Darstellung scheint dem auf Seite 236 zitierten Brief an David Friedländer zu widersprechen, in dem Humboldt gerade ein Naturgemälde höherer Art als eigentlichen Zweck seiner Reise bezeichnete. Denkbar wäre aber, dass die ungeheure Menge an gesammelten Objekten und Aufzeichnungen Alexander zwischenzeitlich an der Durchführbarkeit des geplanten Reisewerkes zweifeln liess. 217 Alexander von Humboldt: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer. Tübingen und Paris 1807. (In: Humboldt, A. (1987 – 1997). Schriften zur Geographie der Pflanzen. Bd. I, S. 44 f.) Humboldt hatte die deutsche Bearbeitung Goethe gewidmet und sie mit einer Vignette nach einer Zeichnung von Bertel Thorwaldsen versehen.

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Bemerkenswert aber ist, dass Alexander dieses Bekenntnis zu Schellings Naturphilosophie nur in der Vorrede seiner deutschen Bearbeitung abgibt. In der französischen Originalschrift »Essai sur la g¦ographie des plantes«, die von 1805 bis 1807 erschienen ist,218 fehlt diese Passage. Sehr wahrscheinlich war Humboldt der Meinung, die in Deutschland sehr bekannte schellingsche Naturphilosophie werde in Frankreich nicht verstanden. Aber deswegen lässt sich aus Humboldts anfänglich wohlwollender Haltung gegenüber der schellingschen Naturphilosophie in der deutschen Ausgabe der »Ideen zur einer Geographie der Pflanzen« keineswegs ein Gegensatz zu dessen Einschätzung der »französischen Naturphilosophie« konstruieren. Offensichtlich war sich Alexander der Gefahren schon früh bewusst, die die schellingsche Naturphilosophie in sich birgt. Nur eine sehr selektive Lektüre der frühen humboldtschen Schriften führt zum (falschen!) Schluss, Alexander von Humboldt sei ein Anhänger Schellings gewesen. Michael Dettelbach geht gar so weit zu behaupten, Humboldt hätte die ›französische‹ Naturwissenschaft abgelehnt. Doch übersieht er dabei, dass die Belegstelle, welche er zur Untermauerung seiner These zitiert, nicht aus einer Originalschrift Alexanders, sondern aus den Tagebüchern seines Bruders Wilhelm stammt!219 Besonders nach dem Tode Fichtes 1814 wurde die Naturphilosophie in Deutschland immer mehr durch reines Denken betrieben und die empirischen Grundlagen gerieten in Vergessenheit. Diese Entwicklung verurteilte Humboldt aufs Schärfste und er distanzierte sich von Wissenschaftlern wie Nees von Esenbeck, Lorenz Oken, Ignaz Christoph Döllinger, Gotthilf Heinrich von Schubert oder Carl Gustav Carus.220 Rückblickend betrachtete er später die Epoche der deutschen Naturphilosophie in einem Brief an Varnhagen von Ense sehr kritisch: »Es ist eine bejammernswürdige Epoche gewesen, in der Deutschland hinter England und Frankreich tief herabgesunken ist. Eine Chemie, in der man sich die Hände nicht nass machte.«221

218 Zum bibliografischen Wirrwarr in Bezug auf diese Ausgabe siehe auch den Kommentar von Hanno Beck. Ibid. S. 295 ff. 219 Dettelbach (2001), S. 145. Siehe dazu auch meine Ausführungen auf Seite 368 f. dieser Arbeit. 220 So nennt Humboldt Carus in einem Brief an Emil du Bois-Reymond den »Dresdner Phantasten«. (Humboldt, A. (1997), S. 132.. Brief vom 19. April 1853.) Bereits in einem Schreiben vom 17. Januar 1851 an Georg von Bunsen bemerkt Alexander spöttisch: »Durch den Lebensmagnetismus von Carus habe [ich] gelernt, dass, werde [man] von dem bösen Blick einer Katze getroffen, man sich durch den milden Blick eines Meerschweinchens heilen kann.« (Zitiert nach: Ibid. S. 133; Anm.1.) 221 Humboldt, A. (1860), S. 90. (Brief vom 28. April 1841.)

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Eine Chemie, in der man sich die Hände nicht nass macht – diese Formulierung kennen wir bereits aus Humboldts Brief an Schelling Anfang des 19. Jahrhunderts. Betraf sie dort nur einige wenige Auswüchse der neuen naturphilosophischen Schriften, so galt sie jetzt als Metapher für die gesamte Epoche. Diese deutliche Absage an die deutsche Naturphilosophie resultierte also aus deren Entwicklung zu einer spekulativen Metaphysik, die Alexander von Humboldt nicht akzeptieren konnte. Der sich an empirischen Fakten orientierende Naturwissenschaftler besass zu profunde Kenntnisse und zu zahlreiche eigene Erfahrungen, um sich der zunehmenden Komplexität der wissenschaftlichen Disziplinen einfach verschliessen zu können und sich nur noch mit deduktiv gewonnenen Hypothesen zu beschäftigen. Die Jahre vor 1800 waren dabei für Alexanders Erkenntnisprozess entscheidend. Trotz aller, oder gerade wegen der Unsicherheiten in seiner Auseinandersetzung mit den Problemen in Hinsicht auf die Thematik der Lebenskraft erkannte er sehr früh, dass die Ausdifferenzierungen in den naturwissenschaftlichen Disziplinen einfache monistische ›Lösungen‹ nicht mehr zuliessen. Warum aber betrachtete Schelling Alexander von Humboldt als empirischen Naturforscher, der stets den Gesamtzusammenhang in der Natur im Blick hat, und deshalb für die idealistische Naturphilosophie gewonnen werden könnte? Eine Antwort auf diese Frage finden wir in den frühen Schriften des jüngeren von Humboldt. Nicht erst während der Reisevorbereitungen machte sich Alexander Gedanken über das »Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte«, auch die »Versuche« enthalten bereits interessante Textpassagen zum Problem der Einheit in der Vielheit. Das mögliche Vorhandensein einer einzigen grundlegenden Kraft schien dem jungen Forscher einen Weg zur Beweisbarkeit des Zusammenhangs im Kosmos zu eröffnen. Obwohl Humboldt stets betonte, dass er spekulative Betrachtungen aus seinen empirischen Ergebnissen heraushalte, erklärte er an einer Stelle: »Die Materie hat eine einzige bewegende Kraft, welche sich durch Anziehung und Ausdehnung äussert. Alle Erscheinungen, die sie giebt, sind Folgen dieser innern Kraft. Das unmaterielle Princip kann diese modificiren, es kann auf die Materien einwirken, indem es bald die Expansionskraft auf Kosten der Attractionskraft, bald diese auf Kosten jener zu hemmen im Stande ist – aber es kann den Stoffen nicht neue Kraft geben, sie nicht aufhören lassen etwas Bewegliches im Raum zu seyn. Alles also, was in der organischen Materie vorgeht, kann (wie die Veränderungen der todten Natur) nach mechanischen und chemischen Gesetzen beurtheilt werden.«222

Ohne Bedenken spricht Alexander hier von einem immateriellen Prinzip und spricht ihm lediglich eine modifizierende Fähigkeit der einzigen bewegenden Kraft zu, deren Existenz er hier a priori postuliert. Auch das Vorhandensein 222 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 48 f.

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dieses immateriellen Prinzips, welches, da es auf die Materie einwirkt, ebenfalls eine Kraft sein muss, scheint unbestritten zu sein. Es dürften solche Ausführungen in den »Versuchen« gewesen sein, die Schelling dazu veranlassten, in Humboldt einen Vertreter der idealistischen Naturphilosophie zu sehen. Wie wir aber bereits in Bezug auf die Lebenskraft gesehen haben, ist Alexanders Position in den »Versuchen« nicht eindeutig zu bestimmen. Auch das Postulat einer einzigen grundlegenden Kraft weist ganz ähnliche Unsicherheiten auf, denn einige Seiten weiter wiederholt Humboldt seinen Grundsatz, wonach man streng zwischen Metaphysik – er gebraucht manchmal die Bezeichnung »Hyperphysik« – und empirischer Naturwissenschaft trennen muss, und betont, alle Experimente sorgfältig überprüft zu haben. Wir können also feststellen, dass die Behauptung einer Einheit der Natur bereits Mitte der Neunzigerjahre schwierig geworden war, wollte man sie rein wissenschaftlich untermauern. Analog zur Untersuchung der Frage nach dem Vorhandensein einer ›vis vitalis‹ versucht Alexander von Humboldt den daraus resultierenden Schwierigkeiten mit einer – nur scheinbar – strikten Trennung zwischen Metaphysik und Naturphilosophie, im damaligen Verständnis des Terminus, zu entgehen. Deshalb stösst man immer wieder auf Textstellen, die sein Bemühen zeigen, jeden Anschein von Metaphysik im Voraus zu bestreiten, gleichzeitig aber auch den Vorwurf des Materialismus heftig von sich zu weisen. Sehr aufschlussreich ist zum Beispiel die Stelle, wo er auf das Problem eines möglichen unmittelbaren Impulses der Vorstellungskraft auf die Materie eingeht. Seine Mutmassungen über das Zusammenwirken der Hirnfunktionen und des Denkens scheinen bereits Pierre-Jean-Georges Cabanis‹ These des Denkens als ›Verdauungsprozess‹ des Gehirns vorwegzunehmen:223 »Der Naturphilosoph kann dreist noch kühnere Schritte wagen. Er kann die Frage aufwerfen: welche Bewegung oder welcher chemische Process geht im Hirne g l e i c h z e i t i g mit der Idee des Wollens vor? wird das Blut beim Schrecken stärker, bei der Freude schwächer entsäuert (desoxydirt)? wird beim angestrengten Nachdenken mehr Wärmestoff entbunden? Es gab eine Zeit, wo man das Anathem des groben Materialismus über solche Fragen ausgestossen hätte. Jetzt, da die Critik geschieden, was Object menschlicher Wahrnehmung, was ausserhalb derselben ist, jetzt darf man solche Missverständnisse nicht mehr besorgen. Das D e n k e n selbst ist freilich kein chemischer Process, aber es ist mir sehr wahrscheinlich, dass gleichzeitig mit demselben materielle Veränderungen im Hirn vorgehen; es ist mir sogar wahrscheinlich, dass angestrengtes Nachdenken eben deshalb den Functionen der Eingeweide so nachtheilig ist, w e i l w ä h r e n d d e s s e l b e n S t o f f e i m H i r n e c o n s umirt (gebunden) werden, welche den Abdominalner ven, von denen die Thätigkeit des Magens z. B. hauptsächlich abhängt, 223 Auf Pierre-Jean-Georges Cabanis und die ›Id¦ologues‹ in Frankreich werde ich weiter unten in Kapitel IV.3. noch näher eingehen.

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z u g e f ü h r t w e r d e n s o l l t e n . Wer mich dieser Vermuthungen wegen des Materialismus beschuldigt, muss diese Anklage auf den erhabenen Stifter der critischen Philosophie selbst ausdehnen, wenn dieser gleichzeitig mit den Ideen von Licht und Schall die Feuchtigkeit der Hirnhöhlen (Sömmerings Seelenorgan) neu organisiren lässt.«224

Diese Passage macht auf exemplarische Weise das Dilemma der sich neu formierenden Wissenschaft der Biologie deutlich. Innerhalb weniger Zeilen spricht Alexander einerseits von dem nicht mehr berechtigten Vorwurf des Materialismus, da die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der menschlichen Wahrnehmung genau geklärt und die von ihm gemachten Aussagen überprüfbar seien. Doch andererseits gebraucht er Wörter wie »wahrscheinlich« oder »Vermuthung«, die seine Unsicherheit hinter der postulierten Gewissheit wieder offenbaren. Wenn er sich gegen den Vorwurf des Materialismus mit dem Hinweis auf Kant zu verwahren sucht, verdeutlicht dies umso mehr Alexanders eigenes Unbehagen. Wäre er von seinen Thesen selbst überzeugt, bräuchte er den Philosophen nicht als Gewährsmann. Zudem zeigt die entsprechende Stelle in Kants Rezension von Soemmerrings Seelenschrift, dass auch dessen Position sehr vage bleibt und das eigentliche Problem als unlösbar ausgewiesen wird.225 Denn gerade Kants strikte Trennung zwischen Körper (Materie) und Bewusstsein (Geist) macht es unmöglich, eine Verbindung zwischen Gehirn und Seele, wie sie Soemmerring versucht hat, herzustellen. Humboldts Schwanken zwischen einer wissenschaftlichen Beschränkung auf physiologische und chemische Vorgänge im Organismus und seinen Spekulationen über eine Einheit von Körper und Geist führt dazu, dass die Grenzen der empirischen Wissenschaften deutlicher werden. Am Ende seiner »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« hegt Alexander zwar noch die Hoffnung,

224 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 51 f. 225 »Wenn man nun als Hypothese annimmt: dass dem Gemüth im empirischen Denken, d. i. im Auflösen und Zusammensetzen gegebener Sinnenvorstellungen, ein Vermögen der Nerven untergelegt sey, nach ihrer Verschiedenheit das Wasser der Gehirnhöhle in jene Urstoffe zu zersetzen, und so, durch Entbindung des einen oder des andern derselben, verschiedene Empfindungen spielen zu lassen (z. B. die des Lichts, vermittelst des gereizten Sehenervens, oder des Schalls, durch den Hörnerven, u.s.w.), so doch, dass diese Stoffe, nach aufhörendem Reiz, so fort wiederum zusammenflössen: so könnte man sagen, dieses Wasser w e r d e continuirlich organisirt, ohne doch jemals organisirt zu seyn: wodurch dann doch eben dasselbe erreicht wird, was man mit der beharrlichen Organisation beabsichtigte, nämlich die collective Einheit aller Sinnenvorstellungen in einem gemeinsamen Organ (sensorium commune), aber nur nach seiner chemischen Zergliederung begreiflich zu machen.« (Immanuel Kant: Rezension von Soemmerrings »Über das Organ der Seele«. In: Soemmerring (1796), S. 85.) Im weiteren Verlauf seiner Argumentation sagt Kant unmissverständlich, dass die von Soemmerring gestellte Frage nach dem Sitz der Seele unmöglich zu beantworten sei. (Siehe zu Soemmerring auch Kapitel III.1.)

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dass das Problem des »Zusammenhangs zwischen der materiellen und moralischen Welt« lösbar sei, doch überlässt er dieses der Nachwelt: »Fischnahrung*) erweckt den frühen Geschlechtstrieb. Völker, welche bloss von Fischoder Fleischspeise und Schwämmen leben, zeichnen sich durch Rauheit, Zügellosigkeit der Begierden, und Muskelstärke aus. Die Kasten der Hindostaner, welche bloss Kräuter geniessen, die der Braminen, Tschechteries und Beia sind milderer Gemüthsart und unerregbarer zum Zorne. Dieselben einfachen Stoffe, die in ewigem Wechsel der Bindung und Trennung den Schauplatz der todten Natur umwandeln, üben, der belebten Materie angeeignet, ihre Herrschaft auch über die Sitten und Schicksale der Völker aus. Möge es der Nachwelt glücken, diesen geahndeten Zusammenhang zwischen der materiellen und moralischen Welt in ein helleres Licht zu setzen!«226 *) Die Ideen meines verewigten Lehrers und Freundes G e o r g F o r s t e r , die derselbe in der Einleitung zu den Plantis esculentis insularum australium 1786, s o w i e i n s e i n e m A u f s a t z ü b e r d i e L e c k e r e i e n geäussert, verdienen hiebei besonders nachgelesen zu werden.

Hier tritt uns Alexanders bereits vertraute frühere Definition der Lebenskraft entgegen, allerdings sowohl mit einer Einschränkung als auch mit einer bemerkenswerten Erweiterung versehen. Auffallend ist zunächst, dass Humboldt an dieser Stelle den Begriff ›Lebenskraft‹ gar nicht verwendet, sondern lediglich von der Bindung und Trennung einfacher Stoffe spricht. Diese sind gemäss Alexander von Humboldt die das Leben konstituierenden Komponenten und werden wohl mithilfe der ›vis vitalis‹ in Bewegung gehalten. Doch wird hier nur noch von einer »belebten Materie« gesprochen, und so bestätigt auch diese Stelle die vordem postulierte These, wonach im Laufe der Jahre Alexanders Glaube an die Existenz einer jedem Körper zukommende spezifischen Lebenskraft tief erschüttert wurde und nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Demgegenüber erstaunt es, dass Humboldt trotzdem von einem »geahndeten Zusammenhang« zwischen der anorganischen, toten Natur und den »Sitten und Schicksalen der Völker« spricht. Ein derartiger Zusammenhang ginge weit über denjenigen zwischen der anorganischen und organischen Natur hinaus. Der Gedanke, dass die Nahrung den menschlichen Charakter beeinflussen könnte, war zur damaligen Zeit vor allem in Frankreich, bei den ›Observateurs de l’homme‹ oder ›M¦decins philosophes‹, anzutreffen. Deshalb ist es meiner Meinung nach notwendig, auch den Einfluss französischer Gelehrter auf das Denken des jungen Alexander von Humboldt zu berücksichtigen. Zwar nur angedeutet, aber unmissverständlich wird hier von Humboldt zur Diskussion gestellt, dass die Materie Einfluss auf die Psyche des Menschen haben könnte. Mithilfe der gesammelten Daten und Beobachtungen seines Freundes und frü226 Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 387.

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heren Reisegefährten Georg Forster wagt er eine These, die ihn der Gefahr aussetzt, als Materialist oder gar Atheist angesehen zu werden. Doch der preussische Wissenschaftler schreckt letztlich vor den Konsequenzen zurück, welche die vorsichtig angedeutete These haben müsste. Würde das Postulat, die Materie beeinflusse die Seele, zu Ende gedacht, müssten die Seelenkräfte des Menschen ihre Sonderstellung verlieren und letztlich gar als materieller Teil im Gesamtorganismus der Natur eine sekundäre Rolle spielen. Die Seele wäre lediglich noch eine Modifikation der einzigen elementaren Urkraft, ähnlich wie die physikalischen Kräfte der Anziehung und Abstossung. Doch mit dem Hinweis auf die Nachwelt schiebt Humboldt die weitere Behandlung des Themas wieder beiseite. Die eigenen Unsicherheiten Alexander von Humboldts in Bezug auf die Definition der organischen Kräfte und der ›vis vitalis‹ führen dazu, dass er Hypothesen anderer Naturwissenschaftler ebenfalls sehr kritisch beurteilt. Sind ihm selbst seine eigenen widersprüchlichen Äusserungen vielleicht nicht bewusst, so bemerkt er doch mit scharfem Auge die heiklen Punkte in den Theorien seiner Kollegen. Gut erkennbar ist Humboldts differenziertes Urteilsvermögen in seiner Auseinandersetzung mit Carl Friedrich Kielmeyers berühmter Rede »Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältnisse« von 1793.227 Der vier Jahre ältere Medizinprofessor und Zoologe Carl Friedrich Kielmeyer erregte Ende des 18. Jahrhunderts mit seiner Rede an der Stuttgarter Karlsschule grosse Aufmerksamkeit, und seine Darstellung des Verhältnisses organischer Kräfte fand breite Zustimmung. Kielmeyer stellte das Gesetz auf, dass die tierischen Lebewesen entsprechend ihrem Anteil der fünf organischen Kräfte hierarchisch geordnet sind: »[…] die Empfindungsfähigkeit wird in der Reihe der Organisationen allmählig durch Reizbarkeit und Reproductionskraft verdrängt, und endlich weicht auch Irritabilität der leztern, je mehr die eine erhöht ist, desto weniger ist es die andere, und am wenigsten vertragen sich Sensibilität und Reproductionskraft zusammen, ferner, je mehr eine dieser Kräfte auf einer Seite ausgebildet worden, desto mehr wurde sie auf einer andern Seite vernachlässigt. Kenntlich ist aber auch auf der andern Seite nicht weniger, dass ungeachtet dieser Compensationen nicht allein die einzelne[n] Kräfte auf Unkosten der andern, sondern auch die Summe der Kräfte in unbekannten Verhältnissen, die sich weder nach dem Medium, in dem die Thiere leben, noch nach andern Umständen erklären lassen, abnehme.«228

227 Kielmeyer (1993). Zu Kielmeyer siehe: Kanz (1994). Ebenso: Bach (2001). 228 Kielmeyer (1993), S. 35 f.

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Ohne nähere Begründung nimmt er die Sensibilität, Irritabilität, Reproduktionskraft, Sekretionskraft und Propulsionskraft als grundlegende Kräfte des Organischen an, wobei er sie zueinander in Beziehung setzt. Allerdings geht Kielmeyer in seiner Rede auf die beiden letzten Kräfte, die Sekretions- und Propulsionskraft, kaum ein.229 Die höchste Kraft, die Sensibilität oder Empfindungskraft, die an Gehirn und Nerven, also an das Vorhandensein eines Zentralnervensystems gebunden ist, nimmt auf der Stufenleiter der Organismen kontinuierlich ab, je niedriger ein Tier in dieser Hierarchie platziert ist. Die abnehmende Sensibilität wird aber durch eine zunehmende Reizbarkeit und Reproduktionskraft kompensiert. Reproduktion beinhaltet jedoch nicht nur die Fortpflanzung, sondern auch die Fähigkeit, verletzte oder verlorene Körperteile neu zu bilden, so wenn beispielsweise bei Polypen abgeschnittene Arme nachwachsen.230 Doch diese Kompensation ist nicht nur in Bezug auf die Abstufung nach der Komplexität der Arten gültig, sondern auch in Bezug auf die Entwicklung eines Individuums. Ist also im Anfangsstadium eines sich entwickelnden Lebewesens die Reproduktionskraft vorherrschend, wird sie im Laufe der Zeit zunehmend von der Irritabilität und Sensibilität verdrängt. Bezogen auf den Menschen bedeutet dies, dass ein Kind eine grössere Regenerationsfähigkeit besitzt als ein Erwachsener, umgekehrt jedoch über ein weniger ausgeprägtes Empfindungs- und Denkvermögen verfügt als Letzterer. Kielmeyer wandte also sein Gesetz der Kompensation der Kräfte ebenfalls auf die Ontogenese an. Aus diesem Grund wird er von manchen Wissenschaftshistorikern als Begründer des 229 Reinhard Löw weist darauf hin, dass Kielmeyer in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Botanik, Pharmazie und Materia medica, in seiner »Expositio discrepantiarum quarundam quo corpora organica et anorganica quod mixtionem intercedere videntur«, im Dezember 1801 eine neue Kraft, die »Lebenskraft«, herausstellte. Er verstehe diese aber nicht spirituell, sondern als bildende Kraft. Somit habe Kielmeyer bereits 1801 die Umwandlung der Sensibilität in den nisus formativus Blumenbachs vollzogen und damit eine Hierarchisierung der Kräfte eingeleitet. (Löw (1979), S. 101; S. 111, Anm. 83.) Löw sieht einen ähnlichen Gedanken bereits in einem Werk Schellings von 1798: »Also kann Mischung so wenig als Form der Organe Ursache des Lebensprocesses seyn, sondern umgekehrt, der Lebensprocess selbst ist Ursache der Mischung sowohl als der Form der Organe.« (Schelling (1856 – 1861). Von der Weltseele. Bd. I,2; S. 575.). 230 Kielmeyer studierte wie die Brüder von Humboldt zeitweise bei Blumenbach in Göttingen und war deshalb mit dessen Experimenten an Polypen und der daraus resultierenden Theorie über den Bildungstrieb bestens vertraut. Bereits Blumenbach hat festgestellt, dass höher entwickelte Organismen über weniger Reproduktionskräfte verfügen. Er verglich zum Beispiel die fast unerschöpfliche Reproduktionsfähigkeit von Pflanzen, die abgestorbene Blätter ständig durch neue ersetzen können, mit der unvollständigen Wiederherstellung des Bindegewebes bei einem Menschen, dem ein Geschwür operativ entfernt wurde. Auch nach dem Heilungsprozess einer solchen Wunde bleibt eine sichtbare Delle zurück. Doch während Blumenbach seine Beobachtungen mit den unterschiedlichen Ausprägungen des Bildungstriebes erklärte, begründete Kielmeyer seine Theorie mit den unterschiedlichen Verhältnissen der organischen Kräfte untereinander.

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biogenetischen Grundgesetzes betrachtet, andere gehen sogar so weit, in Kielmeyer einen frühen Vertreter der (darwinschen) Evolutionstheorie zu sehen.231 Uns soll an dieser Stelle jedoch eine andere Frage beschäftigen, nämlich diejenige, wie Alexander von Humboldt Kielmeyers Argumentation beurteilt hat und welche Wirkung dessen Rede auf seine eigenen Untersuchungen gehabt haben könnte? Der jüngere Humboldt war einer der Ersten, der sich kritisch mit dem Inhalt von Kielmeyers Rede auseinandersetzte, und erwähnte diese öfter in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«. Diese Feststellung verdient hervorgehoben zu werden, da der junge Medizinprofessor zwar schon kurze Zeit nach Veröffentlichung seiner Rede zum Geburtstag des Herzogs Carl Eugen an der Stuttgarter Hohen Karlsschule überschwänglich gelobt wurde, doch wenige seiner Lobredner gingen inhaltlich auf seine Theorie ein. Auch Alexander konnte sich den allgemeinen Lobeshymnen nicht entziehen. Er nennt Kielmeyer in seinem zweibändigen Werk geradezu emphatisch »einer unsrer tiefsinnigsten Physiologen«, »der grosse Physiologe« oder »der vortreffliche Physiologe«232 und glaubt, dass »wir von Herrn K i e l m e y e r noch manche Aufklärung über Anatomie der Schaalthiere zu erwarten [haben].«233 Dessen Werk bezeichnet er als »vortreffliche Rede«234 und nichts deutet zunächst darauf hin, dass Alexanders Urteil die Theorie Kielmeyers in ihren Grundfesten erschüttert. Carl Friedrich Kielmeyer stützt seine Thesen in erster Linie auf die grosse Reproduktionskraft der Würmer, die seiner Meinung nach nervenlos sind und deshalb keine Empfindungskraft besitzen können: »Dass bei Muscheln, Seeigeln, und den noch einfacher gebauten Würmern, und folglich bei der grössern Zahl und Gattungen dieser Klasse, kein Gehirn und Nerve mehr demonstrabel, oder bis jetzt demonstrirt worden sei, ergiebt sich aus Monros und anderer Untersuchungen über Thiere, wie die genannte sind.«235

Anzumerken ist an dieser Stelle, dass man noch Ende des 18. Jahrhunderts praktisch alle weissblütigen Tiere zur Klasse der Würmer zählte, also auch Mollusken, Krustentiere, Insekten oder Zoophyten. Auch Alexander von Humboldt setzt sich in seinen »Versuchen« eingehender mit der Frage, ob Würmer Nerven besitzen, auseinander. Seine eigenen Experimente und diejenigen anderer Wissenschaftler, vornehmlich italienischer Forscher, ergeben nun aber ein völlig anderes Bild. Für Humboldt ist es erwie231 232 233 234 235

Siehe dazu die Einleitung von Kai Torsten Kanz in: Kielmeyer (1993), S. 63 ff. Humboldt, A. (1797c), Bd. I, S. 252, Anm.*; S. 454; Bd. II, S. 278. Ibid. Bd. I, S. 259, Anm.*. Ibid. Bd. I, S. 267, Anm.*. Kielmeyer (1993), S. 15; Anm.*.

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sen, dass die Würmer ebenfalls ein Nervensystem haben. Gegen entgegengesetzte Behauptungen führt er aus: [S. 257] »P r e s c i a n i ’ s und M a n g i l i ’ s grosse Entdeckungen haben diesen Fehlschlüssen ein Ziel gesetzt. P r e s c i a n i , Professor der Physiologie zu Pavia, entdeckte bereits vor zwei Jahren das Nervensystem der zweischaaligen Conchylien. Wir haben ein grosses anatomisches Werk von ihm hierüber zu erwarten, und Herr S c a r p a versicherte mich mündlich, dass unsre Kenntniss von den Nerven menschlicher Theile kaum weiter gediehen sey, als jener Beobachter die Neurologie einzelner Schaalthiere vollendet habe. Er mache sich jetzt an die Untersuchung der Asterien und Zoophyten, und es sey höchst wahrscheinlich, dass auch diese Bemühung nicht fruchtlos bleiben werde. J o s e p h M a n g i l i , **) **) De systemate nerveo hirudinis, lumbrici terrestris aliorumque vermium Josephi Mangili epistola, Ticini 1795. apud. hered. Petri Galealii. p. 5. Herr R e i l , dem ich diese Schrift mitgetheilt, hat uns im e r s t e n H e f t e d e s 2 t e n B a n d e s s e i n e s P h y s i o l o g i s c h e n A r c h i v s , S. 109. bereits mit einer deutschen Uebersetzung beschenkt. [S. 258] ein Schüler von S c a r p a , hat das Rückenmark und die Bewegungsnerven der Blutigel und Regenwürmer mit Walterscher Genauigkeit und Wahrheit abgebildet. Die Nerven dieser Thiere haben ein wunderbares Schicksal gehabt. Schon im vorigen Jahrhundert beschrieb sie P o u p a r t *) bei der H i r u d o und zählte ihre feinsten Nebenzweige. Aber die späteren, D i l l e n i u s und M o r a n d u s , leugneten ihre Existenz. W i l l i s **) bildtete das Gehirn des L u m b r i c u s ab, und H a l l e r , (der P o u p a r t ’ s und W i l l i s Beobachtungen wohl kennen konnte,) berief sich bei dem Streite über Unabhängigkeit der Reizbarkeit von der Sensibilität, kühn auf die Nervenlosigkeit der Blutigel, der Regenwürmer und der Schaalthiere. Hätte der grosse Mann P r e s c i a n i ’ s und M a n g i l i ’ s Entdeckungen erlebt, er würde die einförmigen Gesetze der thierischen Natur mit uns angestaunt haben, wie vom Elephanten bis zum gallertartigen Bewohner des Meeresbodens herab, die Materien in Fibern aneinander gereiht und überall die reizbare Faser von der sensiblen begleitet ist! Ohne von diesen Fortschritten der Anatomie jenseits der Alpen zu wissen, machte Herr A b i l g a a r d ***) im Norden ähnliche Entdeckungen.«236 *) Journal des Scavans. 1697. n. 28. **) De anima brutorum, 1675. tab. 4.f.t. ***) Meine Behauptung über die S e p i a in der Flora Friberg. p. 152. ist irrig. Herr A b i l g a a r d hat auf meine Bitte die S e p i a abermals anatomirt, und erkennt nun für Hirn und Nerven, w a s S w a m m e r d a m m und S c a r p a dafür ausgeben. Während meines Aufenthalts in Ve n e d i g hatte ich ebenfalls Gelegenheit, mich im verflossenen Sommer selbst davon zu überzeugen.

236 Humboldt, A. (1797c), Bd. I; S. 257 ff.

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Der methodische Zweifel am »Zusammenhang«

Eindrücklich dokumentieren diese Erörterungen, wie ausgedehnt Alexanders Bücherstudien waren. Nicht nur, dass er auch die zeitgenössischen ausländischen Arbeiten offenbar gründlich studiert und mit deren Verfasser persönliche Kontakte geknüpft hat, auch sehr viel ältere Werke werden von ihm noch gelesen und gewürdigt. Wenn er hier dem ansonsten sehr geschätzten Albrecht von Haller vorhält, wichtige Schriften über Nerven und Gehirne der Tiere von Poupart und Thomas Willis, die hundert Jahre vor dem Göttinger Anatomen lebten, nicht gekannt zu haben,237 so zeigt das, mit welcher Vorurteilslosigkeit Humboldt die ihm zur Verfügung stehenden Quellen benützt. Zusammen mit seinem Geständnis, sich in der »Florae Fribergensis« geirrt zu haben, ergibt sich für uns ein aufschlussreiches Bild vom wissenschaftlichen Selbstverständnis Alexanders. Für ihn zählen primär die empirischen Resultate, deren Richtigkeit immer wieder überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden müssen, und die höher zu werten sind als eine vorher aufgestellte Hypothese. Unter diesen Voraussetzungen gerät sogar der grosse Haller ins Zwielicht, denn zwischen den Zeilen wirft ihm Humboldt vor, seine Ansichten über Irritabilität und Sensibilität zu wenig empirisch abgestützt zu haben. Dieselbe Kritik wie Haller müsste nun eigentlich auch Kielmeyer treffen, der ja ebenfalls die Nervenlosigkeit der Würmer behauptet. Und tatsächlich erwähnt Alexander seinen Stuttgarter Zeitgenossen zehn Seiten weiter just an der Stelle, wo er über die Reproduktionsfähigkeit der Würmer spricht: »Die Beobachtung, dass die Wiederersetzung verlorner Theile leichter bei den Würmern, die man für nervenlos hielt, als bei den sogenannten vollkommenern, das heisst, mehr nach dem Sinne der Naturforscher gebaueten Thieren vor sich geht, hat die Idee in Umlauf*) gebracht, als wenn der Einfluss der sensiblen Fiber der Reproduction nachtheilig sey.«238 *) Kielmeyer’s vortreffliche Rede über die Verh. der org. Kräfte, S. 35 und 15.

Trotz des vordergründigen Lobes von Kielmeyers Schrift enthalten die wenigen Zeilen ein vernichtendes Urteil. Implizit sagt Alexander von Humboldt nämlich, dass sich dessen Gesetz über die Kompensation der organischen Kräfte lediglich auf eine Idee stützt! Denn besitzen die Würmer tatsächlich ein Nervensystem, muss man ihnen auch Sensibilität zubilligen. Doch wie lässt sich dann Kielmeyers These von der Kompensation der Sensibilität durch die Reproduktionskraft noch aufrechterhalten? Alexander von Humboldt verwirft zwar nicht explizit das Kompensationsgesetz seines Kollegen, aber die von ihm so detailliert präsentierte Komplexität der Physiologie und Neurologie der Organismen verbietet ihm eine Reduktion der empirischen Fakten auf eine solch einfache Idee. 237 Zum problematischen Status der »vis nervosa« siehe: De Angelis (2007), S. 252 ff. 238 Humboldt, A. (1797c), Bd. I; S. 267.

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Dementsprechend weist Humboldt am Ende des ersten Bandes seiner »Versuche« den einzig gangbaren Weg der Naturwissenschaften: »Doch wir verweilen nicht selbstgefällig bei dem, was in diesem Jahrzehend geleistet ist, und wenden nützlicher unsren Blick auf die reiche Erndte, die noch v o r u n s liegt, und die wir auf dem Weg des Experimentirens und der Beobachtung grossen Theils erringen werden.«239

Mit dem Nachweis der Nerven und Gehirne beziehungsweise der Medullarsubstanz bei Würmern wurde aber nicht nur Kielmeyers Kompensationsgesetz in Frage gestellt. Die Entdeckung, dass auch die weissblütigen Tiere in ihrer inneren Struktur eine grössere Vielfalt aufweisen als angenommen, liess ihre Einordnung in eine einzige Klasse fragwürdig und schwierig erscheinen. Folgerichtig führte dies erneut zu Diskussionen über die Verwandtschaft der verschiedenen Arten von Lebewesen und deren Klassifikation. Bereits 1783 versuchte Johannes Hermann in seiner »Tabula Affinitatum Animalium« ein neues Klassifikationsmodell der Tierarten auszuarbeiten.240 Er befand, dass sich aufgrund der anatomischen Merkmale keine Kette der Lebewesen bilden liesse, die eine lineare Zunahme der organischen Komplexität repräsentiere: »Nam non una recta linea, qualem Bonnetiana scala primo simplicissimi schematis tentamine expressa sistit, excurrere corporum seriem, sed plurimos per laterales ramos spargi & diffundi affinitates, colligi rursus & implicari mutuis nexibus, quod ab aliis jam recte observatum est, deprehendent.«241

Nicht also gemäss einer Stufenleiter wie Charles Bonnet sie konzipiert hat, sondern mit einem gitterartig verzweigten Modell muss die Verteilung der Arten dargestellt werden. Erst auf diese Weise können sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen verschiedener Tiere berücksichtigt werden, da eine Tierart durchaus in einigen ihrer Merkmale einer anderen ähneln kann, obwohl sie gleichzeitig in anderen Charakteristiken mit einer dritten Tierart übereinstimmt. Ein solches Netz von Verwandtschaftsbeziehungen der Lebewesen, welches Hermann auf drei Tafeln am Ende seines Werkes schematisch darstellt,242 bildet

239 Ibid. Bd. I, S. 456. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.] 240 Hermann (1783) 241 Ibid. S. 24 ff. [»Denn die Verwandtschaften werden nicht als eine gerade Linie, wie sie die Bonnetsche Stufenleiter zuerst versuchsweise, in sehr einfachen Schemata ausdrückt, sondern sie werden als mehrere seitlich zerstreute und verbreitete, umgekehrt verbundene und mit gegenseitigen Verbindungen verknüpfte Zweige, wahrgenommen, welches schon von anderen richtig beobachtet wurde.«] Hermann nennt in einer Fussnote Buffon als Beispiel für jemanden, der Ähnliches bereits beobachtet hatte. 242 So platziert Hermann beispielsweise den Menschen (homo) über den Affen (simia) und Satyr (satyrus), setzt ihn aber gleichzeitig zwischen die Menschenfresser (anthropophagi)

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seiner Meinung nach die realen Gegebenheiten besser ab als eine einfache, eindimensionale Stufenleiter. Die Komplexität der Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert auch Alexander von Humboldt in seinen »Versuchen«. Wir haben im Zusammenhang mit den Horenaufsätzen seines Bruders Wilhelm schon darauf hingewiesen, dass beide von Humboldts auf mögliche Unterschiede von äusseren Merkmalen und inneren Strukturen bei Pflanzen und Tieren aufmerksam machten. Am Beispiel der Naiden legte Alexander die Schwierigkeiten bei der herkömmlichen Klassifizierung dar. Denn untersucht man die weissblütigen Tiere detaillierter, so erkennt man ihre immense Komplexität. Die besseren technischen Hilfsmittel führten zwar zu exakteren Untersuchungsergebnissen, aber sie liessen auch erkennen, wie wenig die bisher gültigen Klassifikationssysteme die Wirklichkeit abzubilden vermochten. Eine einfache Stufenleiter der Lebewesen, die sich an einzelnen, genau zu bestimmenden anatomischen Kennzeichen orientiert, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, sobald man auch deren physiologische Funktionen berücksichtigen muss: »Die Bewegung dieses merkwürdigen Theils [des Eingeweides der Nais proboscidea], den ich sorgfältig beobachtet, scheint mir die eines unwillkührlichen Muskels zu seyn. […] Ich bin weit davon entfernt, jenen pulsirenden Theil für ein eigentliches Herz zu halten. Ich glaube vielmehr mit Herrn F o r d y c e […] dass er Herz und Magen zugleich ist. Zubereitung der Säfte und Umtrieb durch die Gefässe scheinen bei diesen Geschöpfen durch e i n Organ bewirkt zu werden. G a l l e r t a r t i g e M u s k e l n (wie der der Krystalllinse am Menschen) bedürfen, um der Fäulniss zu widerstehen, einer noch schnelleren Erneuerung ihrer Bestandtheile, als die festern, erdigern Fibern der grössern Thiere. Kein Wunder daher, dass jene kleinern Wassergewürme fast unaufhörlich fressen, dass der Speisekanal in steter Bewegung ist, um den in ihn eingemündeten Gefässen stets neuen Stoff der Aneignung zu zu treiben! Wie bei vielen von ihnen das Organ des Gefühls und Gesichts in eins zusammenschmilzt, wie bei den Actinien und Polypen z. B. die ganze O b e r h a u t specifike Reizbarkeit für das Licht hat, so ziehen sich auch vom Elephanten bis zur Steinflechte herab, die Eingeweide einfacher zusammen, und was in jener ungeheuern Masse organischen Stoffs in mehrern Behältern bereitet wird, bringt hier die Energie einiger wenigen hervor. Man wird nie zu deutlichen Begriffen über Nutrition der Pflanzen gelangen, bevor man nicht tiefere Blicke in die Physiologie der Mollusken gethan hat!«243

Das Vordringen in immer kleinere Strukturen stellte die Biologie und Physiologie vor immer schwierigere Aufgaben bei der Bewältigung des Datenmaterials. Wie sollte unter dieser Voraussetzung eine monistische Weltsicht noch möglich sein, ohne die empirischen Grundlagen zu vernachlässigen? Für Alexander von Humboldt wurde die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse immer deutund Patagonier (patagones) einerseits sowie die Kamtschadalen (kamtschadalae) und Pygmäen (pygmaea longimana natio madagascaria) andererseits. 243 Humboldt, A. (1797c), Bd. I, S. 267 ff.

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licher sichtbar und die prinzipielle Unbegrenztheit des zu erforschenden Kosmos liessen einfache Modelle wie Bonnets ›scala naturae‹ oder Kielmeyers Gesetz der Kompensation brüchig werden. Auch Georges Cuvier, der einstige Kommilitone Carl Friedrich Kielmeyers an der Hohen Karlsschule in Stuttgart, erkannte ungefähr zur gleichen Zeit wie Humboldt, wie unzulänglich die traditionellen Klassifikationssysteme waren. Kaum zufällig bereitete auch ihm die Klasse der Würmer einiges Kopfzerbrechen. In seinem »M¦moire sur la structure interne et externe, et sur les affinit¦s des animaux auxquels on a donn¦ le nom de Vers«, gelesen 1795 vor der ›Soci¦t¦ d’Histoire-Naturelle‹ in Paris, schilderte er seine Schwierigkeiten bei der Untersuchung der Würmer : »En travaillant — un ouvrage dans lequel je compare la structure anatomique de tous les organes dans les diverses classes d’animaux, je m’aperÅus un peu de tems qu’il ¦tait assez facile d’exprimer cette structure par des propositions g¦n¦rales, relativement aux mammif¦res, aux oiseaux, aux reptiles, aux poissons, et mÞme aux insectes; mais quand je voulais passer — la classe des vers, je ne trouvais plus de g¦n¦ralit¦, et j’¦tais oblig¦ d’indiquer en particulier la structure propre — chaque genre. Dans les autres classes, je trouvais bien quelques exceptions: ici, tout ¦tait exception, si j’ose m’exprimer ainsi; les Þtres les plus raproch¦s dans les systÞmes connus jusqu’— ce jour, diff¦raient ¦norm¦ment par leur structure, tandis que j’apercevais — chaque instant des rapprochemens frappans entre plusieurs de ceux que les auteurs syt¦matiques ont ¦loign¦s, mÞme en les plaÅant dans des ordres diff¦rens.«244

Diese Schwierigkeiten führten schliesslich dazu, dass Cuvier nach einer neuen Methode der Klassifizierung suchte. Nicht mehr die äusseren anatomischen Merkmale allein genügten dem französischen Zoologen für die Klärung der Verwandtschaftsbeziehungen der Tierarten, sondern erst die Ähnlichkeiten und Differenzen der inneren Strukturen erlaubten eine adäquate Einordnung: »Je me vis donc oblig¦ de chercher une espÀce de division des vers, qui m’¦vit–t ces nombreux renvois, et me perm„t d’exprimer d’un seul mot, ceux dont la structure ¦tait —-peu-prÀs identique. En cherchant la base de cette division, je m’aperÅus bientút que 244 Cuvier (1807), S.1. [»Während ich an einem Werk arbeitete, in dem ich die organischen Strukturen der Organe in den verschiedenen Klassen der Tiere verglich, erkannte ich nach kurzer Zeit, dass es sehr einfach war, diese Strukturen durch allgemeine Verhältnisse auszudrücken, in Hinsicht auf die Säugetiere, Vögel, Reptilien, Fische und sogar Insekten; als ich aber weitergehen wollte in die Klasse der Würmer, fand ich keine Gemeinsamkeiten mehr, und ich war gezwungen, bei jeder Art die ihr besonders zukommende Struktur anzugeben. In den anderen Klassen fand ich wohl einige Ausnahmen: hier war alles Ausnahme, wenn ich es wagen darf, mich so auszudrücken; die sich in den bis heute bekannten Systemen am nächsten stehenden Lebewesen unterschieden sich gewaltig in ihrer Struktur, während ich jeden Augenblick erstaunliche Annäherungen zwischen mehreren von denjenigen erblickte, welche die systematischen Autoren voneinander entfernt oder sogar in verschiedene Ordnungen platziert haben.«]

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mes divers renvois me la fournissaient eux-mÞmes; que les diff¦rences que j’avais remarqu¦es, n’¦taient pas diss¦min¦es au hasard dans toute la classe; mais qu’ici, comme dans tout le reste de son ouvrage, la Nature a travaill¦ sur un certain plan, a form¦ des grouppes sensiblement rapproch¦s, et qu’elle a subordonn¦ les organes les uns aux autres; de sorte que l’identit¦ des principaux entra„ne une grande ressemblance dans la plupart des autres.«245

Cuvier schlug eine neue Einteilung der Klasse der Würmer vor, welche die jeweiligen Ausprägungen der Herz- und Blutgefässe, der Atmungsorgane, des Verdauungssystems sowie des Gehirns und Nervensystems berücksichtigte. Auf diese Weise konnte er die umfangreiche Klasse in weitere sechs Untergruppen gliedern, die analog zu den rotblütigen Tieren geordnet waren. Die Mollusken setzte er an die Spitze der Klasse der Würmer, da sie über das am meist entwickelte Gehirn verfügen. Diese Sichtweise erlaubte ihm nun sogar den Vergleich zwischen Mollusken und Menschen, den beiden höchstentwickelten Vertreter ihrer Klasse. Denn sowohl Mollusken als auch Menschen besitzen ein komplexes, kugelförmig zusammengedrängtes Gehirn. Unter diesen Voraussetzungen war es nicht mehr möglich, die Lebewesen in eine lineare, hierarchisch geordnete ›scala naturae‹ einzustufen. Ähnlich wie Alexander und Wilhelm von Humboldt kam also auch Georges Cuvier Mitte der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts zum Schluss, dass der Plan, nach dem die Natur ›arbeitet‹, nur enthüllt werden kann, wenn deren einzelne Geschöpfe zuerst empirisch erforscht werden. Doch ging Cuvier nicht nur davon aus, dass ein solcher Plan vorhanden ist, sondern er war zudem der Meinung, dass ein zukünftiger ›Newton der Naturgeschichte‹246 diesen auch entdecken wird. Erst 245 Ibid. S. 1 f. [»Ich sah mich daher gezwungen, eine Art Unterteilung der Würmer zu suchen, die mich diese zahlreichen Verweise vermeiden liess, und mir erlaubte mit einem Wort auszudrücken, was in ihrer Struktur ungefähr identisch war. Bei der Suche nach der Grundlage dieser Unterteilung erkannte ich bald, dass mir meine verschiedenen Verweise selbst diese Grundlage lieferten; dass die Unterschiede, die ich bemerkt hatte, nicht zufällig in der ganzen Klasse zerstreut waren; sondern dass hier, wie im ganzen Rest ihres Werkes, die Natur nach einem gewissen Plan gearbeitet, merklich aneinander gerückte Gruppen gebildet hat, und dass sie die Organe der einen den anderen untergeordnet hat; so dass die Identität der hauptsächlichen eine grosse Ähnlichkeit mit den meisten anderen nach sich zog.«] 246 In seinen »Recherches sur les ossemens fossiles«, die in einer ersten Auflage 1812 erschienen, äusserte sich Cuvier sehr zuversichtlich in Hinsicht auf die Fortschritte der Naturgeschichte: »Sans doute les astronomes ont march¦ plus vite que les naturalistes, et l’¦poque o¾ se trouve aujourd’hui la th¦orie de la terre resemble un peu — celle o¾ quelques philosophes croyaient le ciel de pierres de taille et la lune grande comme le P¦loponÀse; mais, aprÀs les Anaxagoras, il est venu des Copernic et des Kepler qui on fray¦ la route — Newton; et pourquoi l’histoire naturelle n’aurait-elle pas aussi un jour son Newton?« (Cuvier (1821). Tome I; S.11.) [»Sicher sind die Astronomen rascher vorgeschritten als die Naturforscher, und die Epoche, in der sich jetzt noch die Theorie der Erde befindet, gleicht in etwa der Zeit, wo einige Philosophen den Himmel in Stein gewölbt und den Mond so gross wie den Peloponesus sich dachten. Aber nach dem A n a x a g o r a s kamen die C o p e r n i c u s , die K e p l e r , sie

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wenn auch die Gesetzmässigkeiten der organischen Natur bekannt sind, lassen sich dereinst die Zusammenhänge im ganzen Kosmos erfassen. Doch bis es soweit ist, bedarf es noch unzähliger Erforschungen auf allen wissenschaftlichen Gebieten. Die beträchtliche Zunahme und Komplexität der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen am Ende des 18. Jahrhunderts führte zu einer Ausdifferenzierung der einzelnen Disziplinen, die die Suche nach der Einheit in der Vielfalt erschwerten. Humboldt und Kielmeyer standen Mitte der Neunzigerjahre aufgrund dieser Situation an einem entscheidenden Scheideweg in der Geschichte der Wissenschaften. Viele Anhänger Kielmeyers entschieden sich für eine Naturphilosophie, die sich vom Idealismus vereinnahmen liess, und folgten einer Wissenschaftskonzeption, wie sie Schelling und Fichte in Deutschland vorzeichneten.247 Ob Kielmeyer selbst zu den idealistischen Naturphilosophen gezählt werden kann, ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt weil dieser in der Veröffentlichung seiner Werke äusserst zögerlich war.248 Doch nicht zu bestreiten ist, dass viele Anhänger der für Deutschland so typischen Entwicklung zu einer metaphysischen Naturforschung Kielmeyers berühmte Rede kannten und sich in ihren eigenen Arbeiten auf sie beriefen. Wie bereits eingangs dieses Kapitels geschildert, äusserte Alexander von Humboldt von Anfang an eine gewisse Skepsis gegenüber dem schellingschen System, da er die Gefahren erkannte, die dessen ideologischen Implikationen enthielten. Seine kritische Auseinandersetzung mit Kielmeyer muss meiner Meinung nach ebenfalls in diesem Horizont gesehen werden. Obwohl auch er sich stets bemühte, seine Forschungen als Beiträge zur Ergründung des grossen Zusammenhangs in der Natur zu sehen, hinderten ihn seine Anforderungen an eine exakte und empirisch überprüfbare Naturwissenschaft am Überschreiten der Grenze zur »Hyperphysik«.

bahnten für N e w t o n den Weg; und warum sollte die Naturgeschichte nicht auch einmal ihren N e w t o n erhalten?« Cuvier (1830). Bd. 1; S. 5.] Diese Stelle ist eine direkte Anspielung auf Immanuel Kant, der in seiner »Kritik der Urteilskraft« heftig bestritt, dass dereinst ein Newton aufstehen könnte, um die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen zu erklären. (Kant (1968). Kritik der Urteilskraft. Bd. X. S. 352.) Siehe dazu auch Kapitel II.2. dieser Arbeit, Seite 99, Anm. 53 247 Zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Theorien Kielmeyers und Schellings siehe: Bach (2001). Ebenso: Bach (1994), S. 232 – 251. 248 Kai Torsten Kanz: Carl Friedrich Kielmeyer (1765 – 1844) – Leben, Werk, Wirkung. Perspektiven der Forschung und Edition. In: Kanz (1994), S. 13 – 32.

IV. Die Situation in Frankreich – die Wissenschaften zwischen Revolution und Restauration

Wir haben gesehen, dass sich der Kreis von Gelehrten und Wissenschaftlern um Wilhelm und Alexander von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts eingehend mit den sich neu formierenden Naturwissenschaften beschäftigte. Biologie, Physiologie, Neurologie oder Chemie waren jene wissenschaftlichen Disziplinen, die mit atemberaubender Schnelligkeit neue Erkenntnisse lieferten und am meisten zum Fortschritt der Menschheit beizutragen versprachen. Das damals führende Zentrum der modernen Wissenschaften lag aber nicht in Göttingen, Weimar oder Jena, sondern in Paris. Die französische Hauptstadt besass die weitaus grösste Anziehungskraft für Naturwissenschaftler aus ganz Europa und verfügte über die am besten ausgestatteten Institute und Laboratorien der damaligen Zeit.1 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts, im Umfeld der französischen Aufklärer und Enzyklopädisten, etablierte sich in Paris – und hinsichtlich der Medizin auch in Montpellier – eine neue Form der Naturbetrachtung, die sich von mechanistischen und dualistischen Modellen und Theorien zu lösen versuchte. Eine ganze Generation von Gelehrten, beispielsweise Buffon, Diderot, d’Alembert, Condillac, Helv¦tius, d’Holbach, Maupertuis oder La Mettrie, um hier nur einige wenige zu nennen, forderte eine neue Untersuchung des Menschen, die sich nicht mit metaphysischen Problemen beschäftigte, sondern sich auf Fragen beschränkte, die sich voraussichtlich mit einiger Gewissheit oder Evidenz beantworten liessen. Die Natur des Menschen sollte in den Blickpunkt rücken, da dieser nun in erster Linie als Teil der gesamten organischen Welt begriffen wurde. Die von Descartes im 17. Jahrhundert herbeigeführte Unterscheidung zwischen einer ›res cogitans‹ und einer ›res extensa‹ genügte nun nicht mehr, um die besondere Stellung des Menschen in der Natur zu erklären, weil sich sein Vergleich der Physis, sowohl der Menschen als auch der Tiere, mit einer Maschine kaum mehr auf befriedigende Weise aufrechterhalten liess. Ebenso wenig konnte 1 Zur wissenschaftlichen Vormachtstellung Frankreichs um 1800 siehe: Kanz (1997).

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Die Situation in Frankreich

die Seele a priori als höheres Prinzip postuliert werden, da diese Annahme nicht zu beweisen war. Unbestritten hatten die sich auf Descartes Philosophie stützenden Analogien des menschlichen Körpers mit einem Uhrwerk oder einer hydraulischen Pumpe eine Erweiterung der Einsichten über die Motorik beziehungsweise über den Blutkreislauf zur Folge und lieferten zunächst neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Laufe der Zeit empfand man jedoch mehr und mehr die Unzulänglichkeit dieser rein mechanistischen Sichtweise. Der Mensch liess sich nicht auf die von Newton entdeckten Naturgesetze und auf mechanisch-mathematische Formeln reduzieren.2 Einen Ausweg aus dieser unbefriedigenden Situation bot die Naturgeschichte, in die sich nun auch der Mensch integrieren liess. Voraussetzung dafür war aber die Zurückweisung der Metaphysik und Theologie aus dem Bereich der Anthropologie und die Zuwendung zum empirisch Erfassbaren der sensitiven und kognitiven Ausstattung des Menschen. Anstelle von spekulativen Theorien über die Seele rückten nun das Sammeln empirischer Fakten und das genaue Beobachten des ›homo sapiens‹3 in den Mittelpunkt, die eine vorurteilsfreie Beschreibung der Natur des Menschen liefern sollten. Die so zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen entdeckten Analogien ermöglichten es nun, das menschliche Wesen in die organische Welt der Tiere und Pflanzen zu integrieren. Zu erkennen ist dieser Einbezug des Menschen in die Naturgeschichte bereits bei Edward Tyson, Linn¦ und Buffon. Sie lieferten erste Ansätze zu einer Anthropologie im wissenschaftlichen Sinne und bereiteten den Weg für eine ›Science de l’homme‹ vor. Mitte des 18. Jahrhunderts öffnete diese Neubewertung der Naturgeschichte des Menschen auch den Blick für fremde Kulturen, untergegangene Zivilisationen und ›wilde‹ Völker. Die zunehmend auch unter ethnografischen Gesichtspunkten durchgeführten Forschungsreisen lieferten immer mehr Kenntnisse über aussereuropäische Völker und stellten traditionelle (Vor-) Urteile in Frage. Exakte empirische Datensammlungen und vorurteilsfreie Beobachtungen sollten Antworten zu einem vor der Reise erstellten Fragenkatalog4 geben und aufgrund von Vergleichen das Verstehen der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen geografischen, sozialen und ethnisch-kulturellen Gegebenheiten ermöglichen.5 2 Siehe dazu die Ausführungen in: Moravia (1978), S. 45 – 60. 3 Die Bezeichnung ›homo sapiens‹ stammt von Carl von Linn¦, der entscheidend dazu beigetragen hat, den Menschen als eine natürliche Spezies des Tierreichs zu betrachten. 4 Der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis war für die Entwicklung der französischen Ethnografie nicht unbedeutend. Noch Volney und Cabanis bewunderten Ende des 18. Jahrhunderts seine streng methodisch angelegten Fragenkataloge und übernahmen viele seiner grundlegenden Fragestellungen. 5 Einen Überblick über die französische Ethnografie im 18. Jahrhundert bietet: van Gennep

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Weniger Jean Jacques Rousseau, der die Kulturentwicklung des Menschen als Bruch mit dessen ›Naturzustand‹ bewertete, ermöglichte eine Integration der Kulturgeschichte in die Naturgeschichte, sondern vielmehr Gelehrte wie Charles de Brosses, Yves Goguet oder Antoine Court de G¦belin.6 So übernahm de Brosses die bereits von Lafitau zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelte Methode der vergleichenden Ethnografie und widerlegte Rousseaus Theorie vom ›guten Wilden‹. Nicht zu unterschätzende Bedeutung für den Wandel von der philosophischen zu einer historischen Wissenschafts- und Kulturgeschichte kommt aber Yves Goguet zu.7 Er postulierte, dass nicht nur grosse politische Ereignisse und Ideen betrachtet werden dürfen, um eine adäquate Geschichte der Menschheit schreiben zu können, sondern auch die Kulturentwicklungen, Zivilisationen, Sprachen und Religionen berücksichtigt werden müssen. Nur wenn man sich auf Daten in Bezug auf den Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften stützt – so Goguet –, sei man in der Lage, den Ursprung des menschlichen Geistes zu erhellen. Die Kulturgeschichte des Menschen wurde dadurch mit einer genetischen Anthropologie verknüpft. Einen Schritt weiter ging Antoine Court de G¦belin, der die Auffassung vertrat, der Mensch sei ein natürliches Wesen und müsse deshalb in erster Linie seine Selbsterhaltung sichern.8 Dieses für alle Menschen stets gültige Prinzip bildet seiner Meinung nach die Grundlage für die Entwicklung von Kulturtechniken. Natur und Kultur des Menschen stellen somit ein kohärentes System dar. Diese wenigen Beispiele zeigen, wie sehr der Mensch nicht nur ins Blickfeld der Naturgeschichte rückte, sondern zugleich auch Gegenstand einer Kulturgeschichte wurde. In Frankreich fiel diese sowohl räumliche als auch zeitliche Erweiterung der Wissenschaft vom Menschen auf sehr fruchtbaren Boden. So unterschiedlich die Ansätze eines Buffon, Condillac, Diderot, Goguet oder auch La Mettrie waren, so hatten sie doch im Wesentlichen eine und dieselbe Stossrichtung: die Abkehr von einem theokratischen Weltmodell zu einer anthro-

(1914), S. 93 – 215. Leider berücksichtigt van Gennep die Ethnoanthropologie der ›Id¦ologues‹ und der »Soci¦t¦ des Observateurs de l’homme« nicht. Er kommt sogar zum Schluss, dass die von Lafitau und de Brosses entwickelte vergleichende Ethnografie im Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht weitergeführt worden sei! Dieses Ergebnis ist typisch für die weiter unten festgestellte Vernachlässigung der ›Id¦ologues‹ durch die französische Historiografie. 6 Auch in Deutschland gab es während des 18. Jahrhunderts zahlreiche Versuche, Anthropologie, Geschichte und Kulturgeschichte miteinander zu verbinden. Lucas Gisi rekonstruiert in seiner Studie »Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert« deren Bedingungen, konzeptuellen Entwürfe sowie ›praktische‹ Durchführung sehr fundiert und detailliert. (Vgl. Gisi (2007).) 7 Yves Goguet: De l’origine des loix, des arts et des sciences et leur progrÀs chez les anciens peuples. (1758; anonym erschienen) 8 G¦belin (1774 – 1782). Zum Einfluss Court de G¦belins auf Herder siehe auch Seite 124 f. sowie den Aufsatz von: Pross (2003), S. 64 ff.

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Die Situation in Frankreich

pomorphen Sichtweise der organischen Natur.9 Noch am Ende des 18. Jahrhunderts, dem ›Jahrhundert der Aufklärung‹, sollten diese Neuansätze in der Erforschung des Menschen ihre Früchte tragen.

IV.1. Die ›Idéologues‹ und die neue Wissenschaft vom Menschen Als im Jahre 1799 Louis-FranÅois Jauffret in Paris zusammen mit anderen Naturforschern, Linguisten, Philosophen, Ärzten, Geistlichen, Geografen, Forschungsreisenden, Archäologen, Historikern, Ökonomen, Gräzisten und Publizisten die »Soci¦t¦ des Observateurs de l’homme« gründete, war dies ein Zeichen des in Frankreich dominierenden Interesses an einer neu konzipierten ›Wissenschaft vom Menschen‹. Diese ›Science de l’homme‹ sollte die Geografie, Soziologie, Ethnologie und Anthropologie verbinden, um so Aufschluss über die Menschen, ihre Ethnien, Lebensweisen, Gesellschaftsformen und geografischklimatischen Bedingungen zu erlangen. Jauffret erläuterte in seiner »Introduction aux m¦moires de la Soci¦t¦ des Observateurs de l’homme« diese Ziele folgendermassen: »La Soci¦t¦, par son titre seul, annonce de quelle maniÀre elle croit pouvoir arriver — une connaissance plus approfondie de l’homme. Son plan est surtout de recueillir beaucoup de faits, d’¦tendre et de multiplier les observations, et laissant de cút¦ toutes ces vaines th¦ories, toutes ces sp¦culations hasard¦es, qui ne serviraient qu’— envelopper de nouvelles t¦nÀbres une ¦tude d¦j— si obscure par elle-mÞme. Elle se propose d’observer l’homme sous ses diff¦rents rapports physiques, intellectuels et moraux, en ayant soin toutefois de se renfermer dans de certaines bornes.«10

Nicht um fachspezifische Studien der Anatomie, Physiologie oder Chemie ging es der »Soci¦t¦«, sondern um eine Betrachtungsweise, die sämtliche Perspektiven, die den Menschen ins Zentrum stellten, umfasste. Der Mensch sowohl als Individuum als auch als soziales Wesen sollte stets das Objekt ihrer Untersuchungen sein. 9 Zu diesem bedeutenden Wandel in der Spätaufklärung siehe: Gusdorf (1966); Gusdorf (1972); Gusdorf (1973). Ebenso: Moravia (1989a); Ders.: From »Homme Maschine« to »Homme Sensible«: Changing Eighteenth-Century Models of Man’s Image. A.a.O. 10 Louis-FranÅois Jauffret: Introduction aux m¦moires de la Soci¦t¦ des observateurs de l’homme. (1801). Abgedruckt in: Copans / Jamin (1978), S. 73. [»Die Gesellschaft verkündet, allein schon durch ihren Namen, auf welche Weise sie glaubt, zu einem vertiefteren Wissen über den Menschen gelangen zu können. Ihr Plan ist es vor allem, viele Fakten zu sammeln, die Beobachtungen zu erweitern und zu vervielfältigen, und alle diese unnützen Theorien beiseite zu lassen, alle diese zufälligen Spekulationen, welche nur dazu dienen, in einem von sich aus schon dunklen Studium neue Finsternis zu entwickeln. Sie setzt sich zum Ziel, den Menschen unter seinen physischen, intellektuellen und moralischen Beziehungen zu beobachten, wobei sie dennoch Sorge trägt, innerhalb bestimmter Grenzen zu bleiben.«]

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Die bestimmten Grenzen, welche bei der Beobachtung des Menschen eingehalten werden mussten, verliefen dort, wo die verschiedenen Naturwissenschaften, die bei der Erforschung berücksichtigt wurden, noch auf die Naturgeschichte des Menschen, auf die »histoire naturelle de l’homme«, Bezug nehmen konnten. Die ›Observateurs‹ lehnten jegliche Metaphysik und Spekulation in der Wissenschaft ab. Stattdessen versuchten sie, über den Weg der Beobachtung, Analyse und anschliessenden Reflexion den ›wahren‹ Menschen, sowohl seine physische, moralische und intellektuelle Konstitution als auch seine ihn umgebende Umwelt, sein ›Milieu‹, zu erkennen. Dieses ausgedehnte anthropologische, ethnografische und soziologische Forschungsfeld stellte hohe Anforderungen an die Mitglieder der Sozietät und erklärt das breite Spektrum der daran beteiligten Disziplinen. Einerseits sollte ein ›Observateur‹ eine fachspezifische Ausbildung besitzen, da der damalige Kenntnisstand – insbesondere in den Naturwissenschaften – bereits eine Spezialisierung notwendig machte, andererseits musste er aber auch die Grenzen seines Faches überschreiten, um die Zusammenhänge zwischen dem Menschen und seiner Umwelt erkennen zu können.11 Nicht zufällig bezeichneten sich deshalb fast alle Mitglieder der Gesellschaft auch als ›Id¦ologues‹.12 Der im heutigen Sprachgebrauch, sowohl im deutschen als auch im französischen, pejorativ verwendete Ausdruck ›Ideologie‹, der aus dem Griechischen stammend zunächst nur ›die Lehre von den Ideen‹ bedeutet, wurde noch bis ins 19. Jahrhundert als neutrale Bezeichnung verwendet. ›Id¦ologues‹ nannten sich in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts die Vertreter einer sensualistischen philosophischen Richtung. Der Name ›Id¦ologues‹ geht auf Antoine Louis Claude Destutt de Tracy zurück, der in einem Ende 1796 am ›Institut National‹ gelesenen Memoire forderte, es bedürfe einer neuen Wissenschaft, die »Id¦ologie« oder »Science des id¦es« genannt werden sollte, um sie von der alten Metaphysik abzugrenzen.13 De Tracy verband mit dem Begriff ›Id¦ologie‹ eine Methode, die die Kenntnisnahme von Ideen bis zu ihren Ursprüngen kritisch verfolgen sollte. Anstelle einer Ontologie wollte er genau und 11 Jean-Luc Chappey stellt diesbezüglich fest, dass viele zweitrangige ›Observateurs‹ diese Anforderungen nicht erfüllen konnten. Zu weit war die Spezialisierung der Wissenschaften bereits fortgeschritten, sodass eine universale Betrachtung des Menschen und seiner Umwelt dilettantisch erscheinen musste. Die ›Soci¦t¦ des Observateurs de l’homme‹ wurde denn auch im Jahre 1804 wieder aufgelöst. (Siehe dazu: Chappey (2000), S. 47 – 54.) 12 In der neueren Forschung zu den ›Observateurs de l’homme‹ werden diese meist zugleich den ›Id¦ologues‹ zugeordnet. Jean-Luc Chappey weist jedoch seit Neuestem darauf hin, dass beide Gruppen viel differenzierter betrachtet und deren intellektuellen, sozialen und politischen Voraussetzungen berücksichtigt werden müssen, welche sich innerhalb eines kurzen Zeitraumes ständig veränderten. Eine Gleichsetzung von ›Observateurs‹ und ›Id¦ologues‹ ist seiner Meinung nach nicht zulässig. (Siehe dazu: Chappey (2002).) 13 Siehe dazu: Picavet (1891), S. 20 ff.

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systematisch erforschen, wie Ideen erzeugt werden, welche erst die physiologische und psychologische Wahrnehmung der Welt ermöglichen. Bis zu einem gewissen Grad pflichtete er Condillac bei, der postulierte, all unsere Ideen kämen von unseren Empfindungen (»sensations«), wobei der Tastsinn grundlegend für unsere Beziehung zur Aussenwelt sei.14 Auch war für de Tracy Condillac »le fondateur de la science que nous ¦tudions« [»der Begründer der Wissenschaft, die wir studieren«] und er räumte ein, dass »avant Condillac, nous n’avons guÀre, sur les op¦rations de l’esprit humain, que des observations ¦parses, plus ou moins fautives; le premier il les a r¦unies et en a fait un corps de doctrine; ainsi ce n’est que depuis lui que l’id¦ologie est vraiment une science«15,

aber letztlich gingen ihm Condillacs Untersuchungen zu wenig weit. Denn gemäss Destutt de Tracy sind die Empfindungen lediglich innere Modifikationen unseres Seins, welche allein noch keine Ursache für unser Bewusstsein enthüllen. Erst die Fähigkeit zur Bewegung und ihrer bewussten Wahrnehmung gibt uns einen Hinweis auf den Körper als Ursache unserer Empfindungen. Diese Fähigkeit oder »motilit¦« als Teil einer allgemeinen Fähigkeit, die wir ›Sensibilität‹ nennen, steht nicht in direkter Verbindung zu unseren einzelnen fünf Sinnen, aber sie umfasst sie alle und ist die einzige Verbindung zwischen unserem ›Ich‹ und den restlichen Lebewesen. Die neue, besser gesicherte Grundlagen schaffende Methode sollte den ›Id¦ologues‹ eine wahrhaft experimentelle Wissenschaft vom Menschen erlauben. Gemäss de Tracy hätten die klassischen Philosophen nur über die Natur der Seele ›dogmatisiert‹, die Metaphysiker aber lediglich über Prinzipien sinniert sowie über den Ursprung und die Bestimmung der Welt gerätselt. Doch nun sei man in der Lage, die Quelle unserer Erkenntnis, deren Gewissheit und deren Grenzen zu entdecken. Die ›Ideologie‹ operiere nämlich auf einem anderen Gebiet als die Metaphysik. Sie erforsche kritisch die Grundlagen der kognitiven Fähigkeiten und frage nach deren Entstehung: »On n’a qu’une connaissance incomplÀte d’un animal, si l’on ne conna„t pas ses facult¦s intellectuelles. L’Id¦ologie est une partie de la zoologie, et c’est surtout dans l’homme que cette partie est importante et m¦rite d’Þtre approfondie.«16 14 Zur Bedeutung von Condillac für die ›Id¦ologie‹ im Allgemeinen siehe: Williams (1994), S. 81 ff. 15 Destutt de Tracy : El¦ments d’Id¦ologie. 3. Aufl. 1817 [1801]; S. 214. (Zitiert nach: Gusdorf (1960), S. 282.) [»…wir vor Condillac über die Wirkungsweise des menschlichen Geistes kaum mehr als zerstreute Beobachtungen hatten, mehr oder weniger fehlerhafte; er hat sie als Erster gesammelt und daraus ein Lehrgebäude gemacht; deshalb ist die Ideologie erst seit ihm eine echte Wissenschaft.«] 16 Ibid. S. XVI. (Gusdorf (1960), S. 283.) [»Man hat nur eine unvollkommene Kenntnis von einem Tier, wenn man seine intellektuellen Fähigkeiten nicht kennt. Die Ideologie ist ein Teil

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Diese neue Ideenlehre muss das Kernstück einer Anthropologie sein, einer Anthropologie, die wiederum nur Teil einer Zoologie ist.17 Sie soll die epistemologischen Grundlagen für sämtliche Wissenschaften vom Menschen bieten, handle es sich nun um Medizin, Ethnografie, Geschichte oder Geografie. Gleichzeitig soll sie aber auch die Überwindung fachspezifischer Grenzen ermöglichen, da sie stets die Beziehung des Menschen zur Aussenwelt im Visier behält. Weder auf die mathematisch-physikalischen Wissenschaften, die sich auf abstrakte Theorien beziehen, noch auf die Metaphysik, die sich in die Transzendenz verflüchtigt, setzten die ›Id¦ologues‹ ihre Hoffnungen für den Fortschritt der Zivilisation, sondern auf eine experimentelle ›Science de l’homme‹. FranÅois Picavet unterteilt die ›Id¦ologues‹ im Wesentlichen in drei Gruppen, wobei weniger die Lebensdaten der jeweiligen Vertreter von Bedeutung sind, als vielmehr die Zeit ihrer grössten Wirkungskraft.18 Die erste Generation umfasst Persönlichkeiten wie Condorcet, Volney, SieyÀs, Garat, Pinel und Laplace, welche bereits vor dem Ende des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatten. Auch gehörten sie zu den wichtigsten Wegbereitern der französischen Revolution. Die Vertreter der zweiten Generation hingegen erreichten ihre Blütezeit vor allem während der Zeit des Direktoriums und des Konsulats in Frankreich. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch sind meist sie gemeint, wenn man von den ›Id¦ologues‹ spricht, sicherlich nicht zuletzt deswegen, weil einer ihrer wichtigsten Repräsentanten, Destutt de Tracy, derjenige war, welcher dem Begriff ›Id¦ologie‹ eine neue Bedeutung gab. Zur zweiten Generation der ›Id¦ologues‹ gehörten aber auch so einflussreiche Personen wie Cabanis, Benjamin Constant, Bichat und Lamarck. Die letzte Generation schliesslich wird vor allem durch Deg¦rando, LaromiguiÀre und Sicard vertreten. Ihre grösste Wirkungskraft entfalteten sie gegen Ende des Napoleonischen Kaiserreichs und während der Restauration. Die ›Id¦ologues‹ repräsentieren somit eine Epoche von rund fünfzig Jahren, welche sich von so einschneidenden Ereignissen wie der französischen Revolution bis zum Wiener Kongress und der darauf folgenden Restauration erstreckt. Allerdings sind die ›Id¦ologues‹ stark in der französischen Spätaufklärung verwurzelt und können ohne deren Berücksichtigung kaum adäquat beurteilt werden. Philosophie- und geistesgeschichtlich bedeutet deshalb ein politisches Ereignis wie die französische Revolution keine Zäsur, sondern erklärt

der Zoologie, und vor allem beim Menschen ist dieser Teil wichtig und verdient, vertieft zu werden«] 17 Die Anthropologie als Teil der Zoologie zu betrachten ist nur konsequent, wenn man den Menschen in die Ordnung der Primaten integriert. 18 Picavet (1891)

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sich vielmehr aus der Wirkung und Umsetzung aufklärerischer Ideen, die gerade auch von den ›Id¦ologues‹ getragen wurden. Nach wie vor wird aber in der französischen Historiografie die im vorangegangenen einführenden Kapitel kurz beleuchtete Epoche der Aufklärung mit dem Ausbruch der Revolution im Jahre 1789 als beendet betrachtet. Der darauf folgende Aufstieg der ›Id¦ologues‹, die mit der Philosophie und Politik der Revolutionsjahre und der Zeit des ›Directoire‹ eng verbunden waren, findet noch heute kaum Beachtung und wird oft als unbedeutend oder gar als rückwärtsgerichtet gewertet. Doch ist die Generation der ›Id¦ologues‹ tatsächlich nur ein Interludium zwischen zwei bedeutenden geschichtlichen Epochen Frankreichs, lediglich ein Übergang von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zum Positivismus des 19. Jahrhunderts? Zwischen einer Epoche, die die Erforschung des Menschen als natürliches Wesen ins Zentrum stellte, und jener, deren Vertreter, wie zum Beispiel Claude Henri de Saint-Simon, Alexis de Tocqueville oder Auguste Comte, besonders den gesellschaftlichen Bedingungen der Menschen Beachtung schenkten, unterlagen die ›Id¦ologues‹ schon sehr früh dem Verdacht des reinen Materialismus und Atheismus.19 Bereits Chateaubriand und Napoleon hatten für die Protagonisten der französischen Revolution nach 1800 nur noch Verachtung übrig. Doch abgesehen von der Bewertung der Generation um 1800 und der Frage, wie sinnvoll die Unterteilung der Geschichte in Epochen generell ist, stellt sich das Problem, ob eine streng epistemologische Trennung zwischen dem Denken der Aufklärer und der ›Id¦ologues‹ überhaupt berechtigt ist. Begründet wird die scharfe Zäsur zum einen mit den Sterbedaten der grossen Persönlichkeiten der französischen Spätaufklärung, zum andern mit der häufigen Kritik der ›Id¦ologues‹ an Buffon und Condillac oder – paradoxerweise – mit ihrer angeblich einseitig an Condillac ausgerichteten Wissenschaft vom Menschen, weshalb sie lediglich als deren Epigonen zu werten seien. Die philosophiehistorische Erforschung der ›LumiÀres‹ endet meist mit dem Zeitraum von 1770 bis 1789.20 In den rund zwanzig Jahren verstarben Helv¦tius (1771), Voltaire, Rousseau (1778), Condillac (1780), Turgot (1781), d’Alembert (1783), Diderot (1784), Buffon (1788) und d’Holbach (1789). So beeindruckend diese ›Totenliste‹ aber auch sein mag, es wäre trotzdem verfehlt, mit ihr alle Nachwirkungen und Fortführungen der Ideen der französischen Aufklärung zu begraben. Denn das kulturelle, politische und intellektuelle Leben Frankreichs blieb nach wie vor sehr stark von ihnen geprägt. Allein schon die Tatsache, dass 19 FranÅois Picavet war einer der Ersten, der darauf hinwies, wie unberechtigt die Missachtung der ›Id¦ologues‹ ist. (Picavet (1891), S. VII. 20 Siehe dazu: Moravia (1989a), S. 7; Moravia (1976), S. 1465 – 1486.

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sich im Salon der Witwe Helv¦tius in Auteuil bei Paris seit den Siebzigerjahren zahlreiche Vertreter der späteren ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ mit den bedeutendsten Philosophen der Aufklärung trafen, zeigt die enge Verbindung dieser beiden Generationen. In Auteuil besprach man die jüngsten politischen und sozialen Entwicklungen ebenso wie die Ideen einer Wissenschaft vom Menschen. Als Schüler der Aufklärer nahmen die ›Id¦ologues‹ deren Konzepte wieder auf, führten sie weiter und veröffentlichten sie teilweise.21 Insbesondere fanden die Ansätze von Diderot, d’Holbach, Condillac und Helv¦tius ihr Interesse. Bereits Diderot und d’Holbach vereinten rigoroser die Physis und die ›Moral‹ miteinander und fanden deshalb grösseren Anklang bei den Jüngeren, die ebenso versuchten, den cartesianischen Dualismus zu überwinden, indem sie die Metaphysik strikt von der Wissenschaft des Menschen ausschlossen. An Condillac und Helv¦tius hingegen kritisierten sie, dass die nicht-körperlichen Prinzipien noch zugelassen wurden. So spielen bei Helv¦tius das Milieu und bei Condillac das Milieu sowie die Seele noch eine grössere Rolle für die psychophysische Konstitution des Menschen. In den Augen der ›Id¦ologues‹ unterschätzten sie zu sehr die Fähigkeiten des lebenden Organismus und sahen ihn zu statisch und zu passiv. Damit war der cartesianische Dualismus noch nicht endgültig überwunden. Die Haltung gerade gegenüber Condillac zeigt, wie genau das Erbe der Aufklärung unter die Lupe genommen wurde. Weder euphorische Zustimmung noch völlige Ablehnung prägte den Umgang der ›Id¦ologues‹ mit ihren Vordenkern. Ihr Bemühen um eine differenzierte Auseinandersetzung zeigt zum Beispiel eine Stellungnahme von Destutt de Tracy kurz nach 1802: »Les Allemands, nous croient tous, en m¦taphysique, disciples de Condillac comme ils sont disciples de Kant ou de Leibnitz…Ils ne savent pas que, parmi ceux qui se restreignent comme lui — l’examen des id¦es et de leurs signes, — la recherche de leurs propri¦t¦s dont ils tirent quelques cons¦quences, il n’y en a peut-Þtre pas un seul qui adopte sans restriction les principes de grammaire de Condillac, ou qui soit pleinement satisfait de la maniÀre dont il analyse nos facult¦s intellectuelles, ou qui ne trouve rien — reprendre — ce qu’il dit sur le raisonnement… C’est de la m¦thode et non des d¦cisions de Condillac que nous faisons grand cas… Cette m¦thode nous montre pourquoi nous ne pouvons pas faire de systÀme… Elle consiste — observer les faits avec le plus grand scrupule, — n’en tirer des cons¦quences qu’avec pleine assurance, — ne jamais donner — de simples suppositions la consistance des faits, — n’entreprendre de lier entre elles les v¦rit¦s que quand elles s’encha„nent tout naturellement et sans lacune, — avouer 21 Auch Georges Gusdorf betont, wie wichtig die Generation der Spätaufklärer für die ›Id¦ologues‹ war. Insbesondere Condillacs Psychologie stellte ihnen ein Programm zur Wissenschaft des Menschen zur Verfügung, an welches sie anknüpfen konnten. (Gusdorf (1960), S. 281 f.)

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franchement ce qu’on ne sait pas et — pr¦f¦rer constamment l’ignorance absolue — toute assertion qui n’est que vraisemblable… Aujourd’hui nous autres FranÅais, dans les sciences id¦ologiques, morales et politiques, nous n’avons aucun chef de secte, nous ne suivons la banniÀre de qui que soit. Chacun de ceux qui s’en occupent a ses opinions personnelles trÀs ind¦pendantes, et s’ils s’accordent sur beaucoup de points, c’est toujours sans en avoir le projet, souvent sans le savoir et quelquefois mÞme sans le croire autant que cela est.«22

Die Distanz zu Condillacs Metaphysik bei gleichzeitiger Akzeptanz seiner Methode können wir auch auf dem Gebiet der Medizin beobachten. Als Wissenschaft die sich per definitionem mit dem menschlichen Körper beschäftigt, gehörte diese zu einer Kerndisziplin der Wissenschaft vom Menschen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Frankreich und insbesondere in Montpellier eine Reform der Medizin angestrebt.23 Unter dem Einfluss von Stahls Vitalismus und der Physiologie Hallers versuchte man der Medizin einen autonomen Status unter den anderen Disziplinen zu geben und sie von den mechanistischen Gesetzen der Physik und Mathematik zu befreien. Sie sollte nun vermehrt auf empirische Methoden und sensualistische Konzepte gestützt werden. Ihre neuen Vorbilder hiessen deshalb Bacon, Locke, Bonnet und Condillac. Nicht mehr die Suche nach einer ›prima causa‹, nach ›ersten Prinzipien‹, ›Substanzen‹ oder ›Essenzen‹ war jetzt das Ziel einer objektiven Medizin, sondern die empirischen, ›positiven‹ Fakten. Die Einflüsse des Empirismus und Sensualismus führten aber auch dazu, dass nicht nur Beobachtungen und Experimente im Vordergrund standen, sondern auch Fragen nach der Sensibilität 22 Zitiert nach: Picavet (1891), S. 22 ff. [»Die Deutschen halten uns, in der Metaphysik, alle für Schüler von Condillac wie sie Schüler von Kant oder Leibniz sind. Sie wissen nicht, dass es unter denjenigen, die sich wie jener auf die Prüfung der Ideen und ihrer Zeichen beschränken, auf der Suche nach ihren Eigenschaften, aus denen sie einige Schlussfolgerungen ziehen, vielleicht nicht einen einzigen gibt, der ohne Einschränkungen die Prinzipien von Condillacs Grammatik übernimmt; oder der mit der Art und Weise, wie dieser unsere intellektuellen Fähigkeiten analysiert, voll und ganz zufrieden wäre; oder nichts zu tadeln findet an dem, was er über die Urteilskraft sagt. Es ist die Methode und nicht die Entscheidungen von Condillac, auf die wir grossen Wert legen… Diese Methode zeigt uns, warum wir keine Systeme machen können… Sie besteht darin, die Fakten mit den grössten Skrupeln zu beobachten, daraus nur mit vollster Gewissheit Schlüsse zu ziehen, die Stichhaltigkeit der Fakten niemals einfachen Vermutungen preiszugeben, die Wahrheiten aus der Verbindung zwischen ihnen nur dann herzuleiten, wenn sie sich natürlich und lückenlos ergeben, freimütig zuzugeben, was man nicht weiss und stets die absolute Unwissenheit jeder Behauptung, die nur wahrscheinlich ist, vorzuziehen… Heute haben wir übrigen Franzosen in den ideologischen, moralischen und intellektuellen Wissenschaften keinen Sektenführer, wir folgen nicht irgendeinem Banner. Jeder von denen, die sich damit beschäftigen, hat seine persönlichen, sehr unabhängigen Meinungen, und wenn sie in vielen Punkten übereinstimmen, dann immer ohne einen Plan zu haben, oft ohne darum zu wissen und manchmal sogar ohne zu glauben, dass einer existiert.«] 23 Zur Bedeutung der Medizin im Denken der ›Id¦ologues‹ siehe: Moravia (1972), S. 1089 – 1151.

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und den psychophysischen Vorgängen im Menschen an Bedeutung gewannen. Aus diesem Grund wurde der Psychologie Condillacs besondere Beachtung geschenkt, denn diese erlaubte die Anbindung der Medizin an die Philosophie. Immer stärker setzte sich nämlich die Einsicht durch, dass die Beobachtung allein nicht genügt. Auch die Analyse des Beobachteten wurde verlangt, weshalb Condillacs Methode der Dekomposition, Rekomposition und Reflexion bedeutsam wurde. Erst wenn die Komplexität des menschlichen Organismus mittels systematischer Analyse reduziert worden war, liessen sich dessen einzelne Elemente erkennen. Die Ähnlichkeiten und Beziehungen der physischen und psychischen Vorgänge wurden auf diese Weise besser ersichtlich. Die Mediziner unter den ›Id¦ologues‹ legten ebenfalls grossen Wert auf die Analyse des Beobachteten und räumten ihr immer mehr Platz ein. Sie knüpften an die Reformbewegungen seit Mitte des Jahrhunderts und die Annäherung der Medizin an die Philosophie an. Wie sehr sich die ›M¦decins philosophes‹ in dieser Traditionslinie sahen, zeigt exemplarisch eine Stelle aus Cabanis’ »Êloge de Vicq-d’Azyr« aus dem Jahre 1805: »Mais, vers le milieu du siÀcle dix-huitiÀme, l’esprit humain prit tout — coup un essor nouveau. Des m¦thodes plus s˜res furent appliqu¦es — tous les objets de nos recherches. On ne se contenta plus d’approximations incertaines dans les observations et dans les exp¦riences. La physique ne fut plus une science d’hypothÀses, mais une science de faits. La chimie, cr¦¦e en quelque sorte par Becker et par Staahl (sic), cessa d’Þtre parmi nous un recueil informe de manipulations et de recettes. L’Êcole de Rouelle, qui s’honorait d’Þtre aussi celle de Locke, pr¦para ces grandes d¦couvertes que nous avons vues se succ¦der si rapidement. L’anatomie continua — suivre, et avec plus de m¦thode, l’impulsion que lui avaient imprim¦e Harv¦e, Ruisch (sic) et quelques autres. D¦j— l’on peut entrevoir, dans un avenir assez prochain, le moment o¾ la vraie philosophie, en dissipant toutes les fausses id¦es qu’on s’¦tait successivement faites des forces vitales et de leur action dans l’¦tat de sant¦ et de maladie, achÀvera la r¦forme de la m¦decine, que sans un tel secours les plus grands g¦nies eussent toujours tent¦e vainement.«24 24 Cabanis (1956). Tome 2; S. 370 f. [»Aber, gegen Mitte des 18. Jahrhunderts, hat der menschliche Geist plötzlich einen neuen Schwung genommen. Sicherere Methoden wurden auf alle Gegenstände unserer Forschungen angewandt. Man begnügte sich nicht mehr mit ungewissen Annäherungen in den Beobachtungen und Erfahrungen. Die Physik war nicht mehr eine Wissenschaft der Hypothesen, sondern eine Wissenschaft der Fakten. Die Chemie, gewissermassen von Becker und Stahl begründet, hörte auf, unter uns eine unförmige Sammlung von Versuchen und Rezepten zu sein. Die Schule von Rouelle, die sich die Ehre erwies, auch diejenige von Locke zu sein, bereitete diese grossen Entdeckungen vor, die wir schnell folgen sahen. Die Anatomie folgte weiterhin, und mit mehr Methode, der Anregung, welche ihr Harvey, Ruysch und einige andere eingeflösst hatten. Schon konnte man in einer sehr nahen Zukunft den Augenblick erahnen, in dem wahre Philosophie, indem man alle falschen Ideen zerstreute, die man sich nach und nach über vitale Kräfte und ihre Wirkung im Zustand der Gesundheit und der Krankheit gemacht hatte, die Neuordnung der Medizin vervollkommnen wird, welche ohne eine solche Hilfe der grössten Genies immer vergeblich versucht werden würde.«]

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Diese Ausführungen zeigen deutlich, wie unsinnig eine epistemologische Trennung zwischen der Aufklärung und den ›Id¦ologues‹ ist. Weder kann man die Generation um 1800 als Epigonen der Spätaufklärung noch als Begründer des Positivismus bezeichnen. Die Verbindungen sind viel zu komplex, als dass man sich für die eine oder andere Festschreibung entscheiden könnte. Unbestritten gab es in Frankreich unter dem Einfluss der Revolution und der Herrschaft Napoleons eine stärkere Trennung zwischen den Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften, eine Entwicklung, die in Deutschland später einsetzen sollte. Im Zuge der französischen Bildungsreformen kam es zu zahlreichen Neugründungen und Neuausrichtungen von Schulen, Akademien und Instituten. Gefordert waren nun neue wissenschaftliche Standards, die auf exakten empirischen Methoden und breit abgestützten Theorien beruhten. Die grossen Fortschritte in den Naturwissenschaften erschwerten zudem die systematische Integration aller Wissensgebiete in ein universales System – ein Vorhaben, wie es noch die Enzyklopädisten in der Mitte des Jahrhunderts unternommen hatten, war nun vollends unmöglich geworden. Trotzdem versuchten gerade die ›Id¦ologues‹, unter Ausschluss der Metaphysik, die Naturwissenschaften mit der Philosophie und verstärkt auch mit den Sozialwissenschaften zu verbinden. Wir haben gesehen, dass gerade die Aufklärung ganz ähnliche Ziele verfolgte. Der Aufstieg der Naturgeschichte, Anthropologie und Ethnografie, die neue Sichtweise der Geschichte als evolutionären und dynamischen Prozess sowie die Zurückdrängung der Metaphysik und Theologie haben ihre Wurzeln in der Zuwendung der Aufklärung zum ›ganzen Menschen‹. Die ›Id¦ologues‹ führten dieses Erbe weiter und radikalisierten noch die Forderung nach einer einheitlichen Erforschung von Körper und Geist des Menschen. Zwangsläufig führte dies zu einer materialistischeren Sichtweise des Menschen, die jedes immaterielle Prinzip verbannte. Der ›Id¦ologue‹ und ›Observateur de l’homme‹ Volney verkündete diese neue Maxime in seinem wohl bekanntesten Werk, geschrieben unter dem Eindruck der Ereignisse während der französischen Revolution.25 Seine allegorische Schilderung »Les Ruines ou M¦ditation sur les r¦volutions des Empires« schliesst mit dem pathetischen Aufruf:

25 Bereits am Ende von Volneys »Voyage en Êgypte et en Syrie« findet sich die Ankündigung eines Werkes, die sich vermutlich auf die »Ruines« bezieht. Sehr wahrscheinlich begann Volney bereits vor der französischen Revolution mit der Arbeit an den »Ruines«, intensiv arbeitete er jedoch in den Jahren 1790 / 91 an der Niederschrift. Das Werk wurde 1791 veröffentlicht und bald schon in mehrere Sprachen übersetzt. Zu Volneys Leben und Werk siehe ausführlicher das nächste Kapitel.

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»Alors le l¦gislateur ayant repris la recherche et l’examen des attributs physiques et constitutifs de l’homme, des mouvements et des affections qui le r¦gissent dans l’¦tat i n d i v i d u e l et s o c i a l , d¦veloppa en ces mots les lois sur lesquelles la nature ellemÞme a fond¦ son bonheur.«26

IV.2. Der reisende ›Idéologue‹ Volney: Die Integration des Menschen in seine Umwelt »J’ai lu avec grand int¦rÞt ce que Vous [d.i. Albert Gallatin] observez sur l’ouvrage de Volney. Il est difficile de peindre en grand quand on n’est pas ma„tre des couleurs. Mais je le trouve trÀs sage et prudent par un FranÅais de ne parler que de roches, de vents et des eaux.«27

Mit diesen spöttischen Worten bedachte Alexander von Humboldt ein von Volney veröffentlichtes Werk über dessen Reise durch die USA, das Fragment gebliebene »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis«28 von 1803. Dass sich der jüngere von Humboldt zu diesem Werk seines französischen Zeitgenossen geäussert hat, ist nicht weiter erstaunlich, war Volney doch ebenfalls ein Reisender, der mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit in fernen Ländern Daten sammelte, ihre Wahrhaftigkeit überprüfte und sie danach zu einem möglichst vollständigen Ganzen zusammenfügen wollte. Wer aber war dieser Volney, der eigentlich Constantin-FranÅois de Chasseboeuf hiess? Über sein Leben sind nur wenige Einzelheiten bekannt und seine Werke sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Die biografischen Daten zu Volney sind nur lückenhaft überliefert und gaben deshalb wiederholt zu Spekulationen Anlass. So erstaunt es nicht, dass Darstellungen zu Volneys Leben – so wenige es auch leider davon gibt – manchmal sehr widersprüchlich ausfallen.29 Erklärbar ist die spärliche Datenlage vor allem mit der politischen Situation der damaligen Zeit. Als aktiver Mitstreiter der französischen Revolution 26 Volney (1837)). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. S. 71. [»Die Gesetzgeber schritten nun wieder zur Untersuchung und Prüfung der physischen, sein Wesen ausmachenden Eigenschaften des Menschen, der Bewegungen und Neigungen, die im vereinzelten und geselligen Zustande ihn regieren, und entwickelten Gesetze, worauf die Natur selbst sein Glück gegründet hat.« Volney (1834). Die Ruinen. S. 212.] 27 Alexander von Humboldt an Albert Gallatin, Philadelphia, 27. Juni 1804. In: Humboldt, A. (1993), S. 303. [»Ich habe mit grossem Interesse gelesen, was Sie am Werk von Volney beobachten. Es ist schwierig im grossen Stil zu malen, wenn man der Farben nicht Meister ist. Aber ich finde es sehr artig und vorsichtig für einen Franzosen, von nichts ausser Felsen, Winden und Gewässern zu sprechen.«] Alexander von Humboldt lernte den amerikanischen Finanzminister Albert Gallatin während seines Aufenthaltes in den USA im Jahre 1804 kennen. 28 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 630 – 699. 29 Siehe vor allem die biografischen Angaben von: Adolphe Bossange: Notice sur la vie et les ¦crits de C.F. Volney. In: Volney (1837), S. 1 – 9; Picavet (1891), S. 128 – 140; Gaulmier (1980).

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war Volney, wie viele seiner Freunde, immer wieder Verdächtigungen ausgesetzt, die dazu führten, dass wichtige Dokumente vernichtet wurden. Nach seinem Tod 1820 verbrannte zudem seine Witwe viele nachgelassene Schriften. Deshalb bleiben viele Fragen zu seinem Leben wohl für immer ungeklärt. Geboren wurde Volney im Jahre 1757 in Craon und verlor bereits im Alter von zwei Jahren seine Mutter. Nach seiner Schulzeit und im Besitz des mütterlichen Erbes studierte er in Paris neben Medizin auch Jurisprudenz und orientalische Sprachen. Seit ungefähr 1777 war er mit dem damaligen Medizinstudenten und späteren Arzt Pierre-Jean-Georges Cabanis befreundet, der ihn in den berühmten Salon der Witwe Helv¦tius einführte. Dort, in Auteuil bei Paris, verkehrten Gelehrte wie d’Holbach, Diderot, Garat, Condorcet, d’Alembert, Morellet und Malesherbes, die seinen weiteren Werdegang wesentlich prägen sollten. Durch sie kam er früh mit der Philosophie der ›Id¦ologues‹ in Berührung und wurde selbst einer ihrer wichtigsten Vertreter. Wie viele ›Id¦ologues‹ gehörte Volney später auch zu den Mitgliedern der »Soci¦t¦ des Observateurs de l’homme«. Anhand seiner Reisebeschreibungen des Nahen Ostens und der USA wollen wir nun versuchen, Volneys Umsetzung der ›ideologischen‹ Methode der Beobachtung und den daraus resultierenden Schwierigkeiten nachzugehen.

IV.2.a) »Voyage en Égypte et en Syrie« – eine analytische Bestandesaufnahme des Nahen Ostens Gegen Ende des Jahres 1782 entschloss sich Volney zu einer Orientreise, die ihn nach Ägypten und Syrien, wozu damals auch Palästina und der Libanon gehörten, bis in das Grenzgebiet des Osmanischen Reiches führte. Seine Reiseroute lässt sich heute im Einzelnen nicht mehr vollständig rekonstruieren.30 Die wichtigsten Stationen seiner Reise waren Alexandria, Kairo, Damiette, Aleppo, Tripolis, das Kloster Mar-Hanna, Jerusalem, Gaza und Jaffa. Im Frühling des Jahres 1785 kehrte er nach Frankreich zurück. Ungeklärt sind bis heute die näheren Umstände dieser Reise. Oft wurde spekuliert, Volney habe in geheimer Mission des Ministers Vergennes Erkundigungen über Ägypten und den Nahen Osten eingeholt, um die kolonialen Bestrebungen der französischen Regierung zu unterstützen. In seiner Reisebeschreibung »Voyage en Êgypte et en Syrie«,31 die 1787 publiziert wurde, finden sich allerdings keine Hinweise, die darauf schliessen lassen, Volney sei als Spion unterwegs gewesen. Vielmehr sind zahlreiche Schriften von ihm erhalten ge30 Siehe dazu den Aufsatz von: Gaulmier (1978b), S. 55 – 60. 31 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 115 – 210.

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blieben, die seine strikte Ablehnung jeglichen Kolonialismus belegen. Andere Annahmen gehen davon aus, Volney habe aufgrund einer reichen Erbschaft seine lang ersehnte Orientreise unternehmen können. Weiterhin ungeklärt ist auch die Frage, ob er seinen Namen ConstantinFranÅois de Chasseboeuf bereits vor oder erst während seiner Reise abgelegt hatte und aus welchen Gründen er dies tat. In Frage kämen neben politischen Gründen – der Tarnung seiner angeblichen Spionagetätigkeit – und ideologischen Motiven – zur Betonung seines Selbstverständnisses als aufgeklärten ›Citoyen‹ – auch Volneys Bewunderung für Voltaire und Ferney, die er in seinem Namen ausdrücken wollte. Doch eindeutige Beweise gibt es für keine dieser Hypothesen. Die »Voyage en Êgypte et en Syrie« war sehr erfolgreich und machte Volney auf einen Schlag berühmt. Bereits im selben Jahr ihrer Publikation wurde sie ins Englische übersetzt, in den folgenden Jahren ebenfalls ins Holländische, Deutsche und Italienische.32 Dieser Erfolg hatte wohl auch nicht wenig Einfluss auf die weitere politische Karriere des ›Id¦ologue‹. Offenbar traf die Schrift den Geschmack des Publikums, welches sich damals sehr für den Orient interessierte. Nicht nur Destutt de Tracy und Cabanis, Volneys engste Freunde unter den ›Id¦ologues‹, lobten dieses Werk, auch Napoleon Bonaparte zollte dem Autor grossen Beifall für seine genaue Beschreibung Ägyptens und Syriens – konnte er sich doch später auf seinem Ägyptenfeldzug vertrauensvoll darauf stützen! Trotzdem mag es erstaunen, dass die »Voyage en Êgypte et en Syrie« so grosses Interesse zu erregen vermochte. Denn im Grossen und Ganzen handelt es sich um eine ausgesprochen nüchterne Beschreibung der geografischen und politischen Lage des Nahen Ostens. Systematisch unterteilt Volney sein Werk in vier grosse Abschnitte. Die ersten fünf Kapitel des ersten Teils beschreiben den »Êtat physique de l’Êgypte«, während der zweite Teil – »Êtat politique de l’Êgypte« – die Bevölkerung und ihre Lebensweise, die Geschichte und Kultur, die sozialen und politischen Institutionen sowie die Ökonomie des Landes schildert. Entsprechend zweigeteilt sind die Abhandlungen über Syrien. Die Syrien betreffenden Teile umfassen allerdings fast zwei Drittel des gesamten Werkes. Die einzelnen Kapitel sind mit 32 Gelesen haben das Werk nachweislich Goethe und Wieland. (Siehe dazu: Gaulmier (1980), S. 120 f.) Ebenso besassen Benjamin Franklin und Katharina II. von Russland ein Exemplar dieses Werkes. Die russische Zarin zeichnete Volney gar mit einer Goldmedaille aus. Als sie jedoch 1791 die Gegenrevolution der französischen Royalisten unterstützte, schickte ihr Volney den Orden empört zurück! Von Friedrich Schiller erfahren wir aus einem Brief an Goethe, dass auch er, wenn auch erst Anfang 1798, Volneys Reisebericht gelesen hatte. Er schöpfte daraus den tröstlichen Gedanken, dass es trotz aller nachrevolutionären politischen Wirren in Deutschland doch eine Wohltat sei, in Europa geboren zu sein, da es ausserhalb Europas offenbar »sowohl an moralischen als an ästhetischen Anlagen gänzlich fehlt«. (Beetz (2005). Bd.1; S. 505 f. Brief vom 26. Januar 1798.)

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kurzen, sachlichen Titeln überschrieben und lediglich in Paragrafen unterteilt. Insgesamt scheint es, als nehme Volney wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner Leser. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstützt, dass der Autor immer wieder in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« betont, dass es ihm nur um eine wahrhafte Darstellung seiner Reiseerlebnisse gehe. Keine romantische und verführerische Schilderung einer Welt wie aus »Tausendundeiner Nacht« will er dem Leser präsentieren, sondern ein möglichst genaues Abbild der Realität. Um dies zu erreichen, wendet Volney verschiedene Strategien an. Zum einen versucht er, die in Europa vorherrschenden irrtümlichen Vorstellungen über Ägypten und Syrien zu zerstören. Desillusionierung und Demystifizierung sind daher seine oft verwendeten Methoden, dem Leser vor Augen zu führen, wie der aktuelle Zustand der bereisten Regionen wirklich ist. So zum Beispiel enttäuscht er die Erwartungen derjenigen Leser, die in Ägypten einen Garten Eden vorzufinden erhoffen: »En vain c¦lÀbre-t-on les jardins de Rosette et du Kaire; l’art des jardins, cet art si cher aux peuples polic¦s, est ignor¦ des Turks, qui m¦prisent les champs et la culture. Dans tout l’empire, les jardins ne sont que des vergers sauvages o¾ les arbres, jet¦s sans soin, n’ont pas mÞme le m¦rite du d¦sordre. En vain se r¦crie-t-on sur les orangers et les c¦drats qui croissent en plein air : on fait illusion — notre esprit, accoutum¦ d’allier — ces arbres les id¦es d’opulence et de culture qui chez nous les accompagnent. En Êgypte, arbres vulgaires, ils s’associent — la misÀre des cabanes qu’ils couvrent, et ne rappellent que l’id¦e de l’abandon et de la pauvret¦. En vain peint-on le Turk mollement couch¦ sous leur ombre, heureux de fumer sa pipe sans penser : l’ignorance et la sottise ont sans doute leurs jouissances, comme l’esprit et le savoir; mais, je l’avoue, je n’ai pu envier le repos des esclaves, ni appeler bonheur l’apathie des automates. Je ne concevrais pas mÞme d’o¾ peut venir l’enthousiasme que des voyageurs t¦moignent pour l’Êgypte, si l’exp¦rience ne m’en e˜t d¦voil¦ les causes secrÀtes.«33

33 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 168. [»Vergeblich bejubelt man die Gärten von Rosette und Kairo; die Gartenkunst, die den gesitteten Völkern so teuer ist, ist den Türken unbekannt, die die Kultivierung des Bodens verachten. Im ganzen Reich sind die Gärten nichts als wilde Obstgärten, wo die Bäume, ohne Sorgfalt hingeworfen, nicht einmal das Verdienst der Unordnung haben. Vergeblich beruft man sich auf die Orangen- und Zedernbäume, die in den freien Himmel wachsen; gewohnt, mit diesen Bäumen Vorstellungen von Überfluss und Gartenkultur zu verbinden, unterliegen wir einer Täuschung. In Ägypten stehen sie, nur gewöhnliche Bäume, mit dem Elend der Hütten in Verbindung, die sie beschatten, und sie rufen nichts als Ideen der Verlassenheit und der Armut hervor. Vergeblich malt man den Türken weich gebettet unter ihren Schatten, glücklich seine Pfeife rauchend ohne zu denken: die Unwissenheit und die Dummheit bieten ohne Zweifel ihre Freuden wie der Verstand und das Wissen; aber ich gebe zu, ich kann weder die Ruhe der Sklaven beneiden noch die Apathie von Automaten Glück nennen. Ich würde nicht einmal begreifen, woher die Begeisterung kommt, die Reisende für Ägypten bezeugen, wenn die Erfahrung mir darüber nicht die geheimen Ursachen enthüllt hätte.«]

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Für Volneys zeitgenössische französische Leser war offensichtlich, dass die hier zitierte Passage eine ironische Anspielung auf den berühmten Reiseschriftsteller Claude-Etienne Savary enthält, der 1786 seine »Lettres sur l’Egypte trÀs fournies« herausgab. Im Gegensatz zu dessen idyllischen Schilderungen Ägyptens, die mehr mit der Fantasie als der Realität zu tun haben, will Volney seine Leser darüber aufklären, was ein Reisender tatsächlich am Nil zu erwarten hat. Aber Volney wäre kein ›Id¦ologue‹, wenn er nicht selbstkritisch darüber nachdenken würde, auf welche Weise die schmeichelhaften und übertriebenen Reiseberichte über fremde Länder zustande kommen. Er ist sich nämlich durchaus bewusst, dass Personen, welche längere Zeit in der Fremde gelebt haben, einer Art ›Gedächtnisschwund‹ erliegen. Sind die Unannehmlichkeiten und Entbehrungen im Ausland auch noch so gross, zurückgekehrt in die Heimat verblassen die negativen Eindrücke sehr schnell und die schönen Erlebnisse erhalten in der Erinnerung immer glänzendere Züge. Gegen die dadurch drohenden Verzerrungen in der späteren Darstellung der Reiseerlebnisse versucht sich Volney zu wappnen: »Je l’avoue, des causes si g¦n¦rales et si puissantes n’eussent pas ¦t¦ sans effet sur moimÞme; mais j’ai pris un soin particulier de m’en d¦fendre, et de conserver mes impressions premiÀres, pour donner — mes r¦cits le seul m¦rite qu’ils pussent avoir, celui de la v¦rit¦.«34

Volneys Sorge darüber, in seiner Schilderung des Nahen Ostens nicht bei der Wahrheit zu bleiben und dadurch seine Glaubwürdigkeit als wissenschaftlicher Reisender einzubüssen, führt ihn dazu, sich zumeist auf objektiv nachprüfbare Fakten zu beschränken. Anders aber als Alexander von Humboldt, der später mit einem Barometer in den Händen die Höhe des Chimborazo oder mit Zollstock und Chronometer die Fliessgeschwindigkeit des Orinoko messen sollte, beschränkt sich der Franzose vornehmlich auf die genaue Beobachtung von Land und Leuten.35 Volney, der keine naturwissenschaftliche Ausbildung im engeren Sinn genossen hatte, bereitete sich auf seine Reise mit der Lektüre historischer, ethnografischer und linguistischer Schriften vor, um sein so erworbenes Wissen anhand eigener Beobachtungen zu überprüfen. Zwar hatte er die »Histoire naturelle« von Buffon36 gelesen, doch waren seine physikalischen, meteorologischen 34 Ibid. S. 169. [»Ich gebe es zu, so allgemeine und mächtige Ursachen konnten nicht ohne Wirkung auf mich selbst sein; aber ich habe besondere Sorge dafür getragen, mich dagegen zu wappnen und meine ersten Eindrücke zu bewahren, um meinen Schilderungen das einzige Verdienst zu geben, das sie haben sollen, das der Wahrheit.«] 35 Um die Distanz zwischen zwei Orten zu ›berechnen‹, übte Volney vor seiner Reise nach Ägypten in den Sanddünen der Cúte d’Azur das Gehen in gleichmässigem Tempo und mit stets gleicher Schrittlänge. Mithilfe der daraus gewonnenen Erfahrungswerte und der für die Strecke gebrauchten Zeit errechnete er die Länge der zurückgelegten Distanz. 36 Buffon galt Volney als grosses Vorbild, da jener Menschen und Tiere sehr detailliert be-

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und geologischen Detailkenntnisse sehr gering. Auch wenn er oft statistische Methoden anwendete, um Bevölkerungszahlen oder Einfuhr und Ausfuhr der Handelsgüter anzugeben, so wäre Volney ohne Zweifel überfordert gewesen, die Längen- und Breitenmeridiane astronomisch zu berechnen oder den Sauerstoffgehalt der Luft auf einer bestimmten Höhe eines Gebirges zu überprüfen.37 Zwar detailliert, aber ohne wissenschaftliche Daten fallen zum Beispiel seine Beschreibungen der Gebirge Syriens aus. Er belässt es bei der Schilderung des visuell Wahrgenommenen und verzichtet darauf, genaue Höhenangaben oder mineralogische Befunde zu liefern: »En quittant le pays des D r u z e s , les montagnes perdent de leur hauteur, de leur asp¦rit¦, et deviennent plus propres au labourage; elles se relÀvent dans le sud-est du Carmel, et se revÞtent de futaies qui forment d’assez beaux paysages; mais en avanÅant vers la J u d ¦ e , elles se d¦pouillent, resserrent leurs vall¦es, deviennent sÀches, raboteuses, et finissent par n’Þtre plus sur la mer M o r t e qu’un entassement de roches sauvages, pleines de pr¦cipices et de cavernes; pendant qu’— l’est du Jourdain et du lac, une autre cha„ne de rocs plus hauts et plus h¦riss¦s offre une perspective encore plus lugubre, et annonce dans le lointain l’entr¦e du d¦sert et la fin de la terre habitable.«38

Wie anders stellt uns Alexander von Humboldt seine Eindrücke Südamerikas dar. Im Unterschied zu Volney präsentiert er dem Leser nicht nur eine naturwissenschaftlich exakte Beschreibung der Gebirge, die sowohl topografische, mineralogische als auch botanische Angaben umfasst, sondern legt auch Wert auf die Schilderung des ästhetischen Empfindens, welches der Anblick einer Landschaft im Reisenden hervorruft. So berichtet er beispielsweise über seine Eindrücke des Guanaguana, eines Berges südöstlich von Cuman‚, folgendermassen: schrieb. Dass Buffon selbst nie gereist war, sondern einer der sonst von Volney verachteten Stubengelehrten war, übersah der Reisende grosszügig. 37 Zu bedenken ist allerdings auch, dass die Umstände seiner Reise anders geartet waren als diejenigen Humboldts. Volney reiste nicht in ein Kolonialgebiet, sondern in Länder mit einer eigenen hochentwickelten Kultur. Die Gefahren, denen sich ein europäischer Ägyptenreisender aussetzte, waren sehr vielfältig und zwangen ihn, seine Reiseroute sorgfältig zu planen. Nicht wenige Maghrebreisende kehrten nie wieder in ihre Heimat zurück! Nicht zuletzt verhinderte Volneys Religionszugehörigkeit eine freie Betätigung als Forscher. Als Franzose wurde er zudem misstrauisch beobachtet, da man das imperialistische Machtstreben seiner Heimat kannte. 38 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 182. [»Verlässt man das Land der Drusen, verlieren die Berge an Höhe, an Schroffheit, und eignen sich mehr für den Ackerbau; im Südosten von Karmel erheben sie sich wieder und bedecken sich mit Hochwäldern, die einigermassen schöne Landschaften bilden; aber gegen Judäa zu werden sie kahl, ihre Täler verengen sich, werden trocken, verwittert, und enden am Toten Meer in nichts als einer Anhäufung wilder Felsen, voller Abgründe und Höhlen; während im Osten des Jordans und des Sees eine andere, höhere und zerklüftetere, Felsenkette einen noch schauerlicheren Anblick bietet, und in der Ferne den Anfang der Wüste und das Ende der bewohnbaren Erde ankündigt.«]

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»Lorsque nous e˜mes atteint le point le plus ¦lev¦ de la crÞte ou Cuchilla de Guanaguana, un spectacle int¦ressant s’offrit — nos yeux. Nous embrass–mes d’un coup d’oeil les vastes prairies ou savanes de Maturin et du Rio Tigre, le piton du Turimiquiri et une infinit¦ de cha„nons parallÀles qui, vus de loin, ressemblent aux lames de la mer. Vers le nord-est s’ouvre la vall¦e qui renferme le couvent de Caripe. Son aspect est d’autant plus attrayant, qu’ombrag¦e par les forÞts, cette vall¦e contraste avec la nudit¦ des montagnes voisines qui sont d¦pourvues d’arbres et couvertes de gramin¦es. Nous trouv–mes la hauteur absolue de la Cuchilla de 548 toises: elle est par cons¦quent de 329 toises plus ¦lev¦e que la maison du missionaire de Guanaguana. En descendant l’arrÞte par un chemin tortueux, on entre dans un pays entiÀrement bois¦. Le sol est couvert de mousse et d’une nouvelle espÀce de Drosera qui, par son port, rapelle le Drosera de nos Alpes. […] Les couches calcaires deviennent plus minces; elles forment des assises qui s’alignent en murailles, en corniches et en tours, comme dans les montagnes du Jura, dans celles de Pappenheim en Allemagne, et prÀs d’OiÅow, en Gallicie. La couleur de la pierre n’est plus gris de fum¦e et gris-blen–tre, elle devient blanche: sa cassure est unie, quelquefois mÞme imparfaitement conchode. «39

Wir erkennen in dieser Beschreibung sehr gut, wie Humboldt sich bemüht, literarische und naturwissenschaftliche Anforderungen zu erfüllen. Im Gegensatz dazu vermag Volney mit seinem Bericht den Ansprüchen eines naturwissenschaftlichen Forschungsreisenden nicht zu genügen. Dies liegt sicherlich auch daran, dass es die in Frankreich weiter fortgeschrittenen Reformen und Spezialisierungen der Wissenschaften einem Laien wie ihm nicht mehr erlaubten, fundierte Kenntnisse und Methoden autodidaktisch zu erlernen. Als ›Id¦ologue‹ steht für Volney der psycho-physische Vorgang während und nach der Beobachtung eines ›Objektes‹ im Mittelpunkt. Seine Vorgehensweise stützt sich dabei auf Condillacs Methode der Dekomposition, Rekomposition 39 Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 406 f. In zahlreichen Fussnoten ergänzt Humboldt seine Beschreibung noch mit wissenschaftlichen Detailinformationen! [»Als wir den höchsten Punkt des Bergrückens oder der Cuchilla von Guanaguana erstiegen hatten, öffneten sich unseren Blicken ein anziehendes Schauspiel. Wir übersahen mit einem Mal die ausgedehnten Wiesengründe oder Savannen von Matur†n und des R†o Tigre, den Spitzberg des Turimiquiri und eine Menge paralleler Gebirgsketten, die von weitem her den Meereswellen gleichen. Nordöstlich öffnet sich das Tal, worin das Kloster von Caripe liegt. Sein Anblick erscheint um so gefälliger, als das von Wäldern beschattete Tal gegen die Nacktheit der benachbarten, von Baumwuchs entblössten und mit Gras überdeckten Berge absticht. Wir fanden die absolute Höhe der Cuchilla 548 Toisen; sie ist also 329 Toisen höher als die Wohnung des Missionars von Guanaguana.Beim Hinabsteigen vom Bergeskamm auf einem krummen Pfad gelangt man in ein gänzlich bewaldetes Land. Der Boden ist mit Moos und einer neuen Art Drosera überwachsen, deren Gestalt an die Drosera unserer Alpen erinnert. […] Die Kalkschichten werden dünner; sie bilden Schichten, die sich in Mauern, Simsen und Türmen aufreihen, wie im Juragebirge, in den Pappenheimer Bergen in Deutschland und bei OjÅow in Galizien. Die Farbe des Steins ist nicht mehr rauchgrau oder graubläulich; sie wird weiss. Sein Bruch ist glatt, bisweilen sogar unvollkommen muschelartig.« Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 1. S. 265.]

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und Reflexion des Wahrgenommenen.40 Es spielt im Grunde keine Rolle, was beobachtet wird: ob Menschen, Gesellschaften, geologische Formationen oder Flusssysteme – die Methode bleibt immer dieselbe. Man erkennt aufgrund dieser Methode in den Reiseberichten Volneys bereits Ansätze, welche Auguste Comte später zu einer Wissenschaft der Soziologie entwickeln sollte. Volneys betont nüchterne Beschreibungen, die jegliche Idealisierung und Romantisierung zu vermeiden versuchen,41 stellen deshalb keinen inneren Zusammenhang der Natur dar, sondern sind ein Versuch, die Wirkungen der Naturgesetze, worunter auch das gesellschaftliche Zusammenleben und individuelle Verhalten der Menschen zu zählen sind, möglichst realitätsnah abzubilden. Mit den eigenen Beobachtungen überprüft er gleichzeitig den Wahrheitsgehalt historischer Quellen. Ohne sich von grossen Namen wie Herodot, Strabo oder Carsten Niebuhr beeindrucken zu lassen, vergleicht er deren Angaben mit seinen eigenen Beobachtungen und gibt diese exakt, selbstkritisch, emotionslos und wahrheitsgetreu wieder. Wie ein Anatom zerteilt der ›Observateur de l’homme‹ ein komplexes Gesamtbild in seine einzelnen Elemente und liefert uns eine Aufzählung der Einzeleindrücke. Der Reisende nimmt zum Beispiel die Stadt und die Einwohner von Alexandria zuerst nur als Ansammlung einzelner physiognomischer Merkmale wahr : »[…] il [le voyageur] regarde avec surprise ces visages brul¦s, arm¦s de barbe et de moustaches; cet amas d’¦toffe roul¦e en plis sur une tÞte rase; ce long vÞtement qui tombant du cou aux talons, voile le corps plutút qu’il ne l’habille; et ces pipes de six pieds; et ces longs chapelets dont toutes les mains sont garnies; et ces hideux chameaux qui portent l’eau dans des sacs de cuir ; et ces –nes sell¦s et brid¦s, qui transportent l¦gÀrement leur cavalier en pantoufles; et ce march¦ mal fourni de dattes et de petits pains ronds et plats; et cette foule immonde de chiens errants dans les rues; et ces espÀces de fantúmes ambulants qui, sous une draperie d’une seule piÀce, ne montrent d’humain que deux yeux de femme.«42

40 Siehe dazu: Moravia (1989a), Kapitel II.3.: Zwischen Geographie und Ethnosoziologie: Volneys Lektion. S. 133 – 137. 41 »Les ruines«, das wohl populärste Werk Volneys, stellen in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme dar. Aber es handelt sich hier im Wesentlichen um eine allegorische Darstellung der Menschheitsgeschichte und der politischen Forderungen der französischen Revolution. Obwohl die Ruinen von Palmyra den Ausgangspunkt der Reflexionen bilden, werden sie nicht genau beschrieben. Dies überrascht umso weniger, als Volney gar nie in Palmyra war! (Gaulmier (1978b), S. 59.) In seiner »Voyage en Êgypte et en Syrie« stützte er sich bei der Beschreibung von Palmyra auf Zeichnungen und Berichte anderer Reisender, vor allem auf Robert Woods »Ruines de Palmyre« (London 1753). 42 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 116. [»…er (der Reisende) betrachtet verwundert die braungebrannten Gesichter mit Bart oder Schnurrbart; die um die rasierten Köpfe geschlagenen Stoffe; das lange Gewand, das vom Hals bis zu den Fersen reicht und den Körper eher verhüllt als bekleidet; die sechs Fuss langen Pfeifen; die langen Rosenkränze, die ihre Hände schmücken; die schrecklichen Kamele, die in Ledersäcken Wasser

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Diese Aufzählung zeigt, wie genau Volney seine Umwelt beobachtet. Durch die Aneinanderreihung der Details entsteht am Ende ein neu komponiertes Bild, das dem Leser einen lebendigen Eindruck des vom Autor Wahrgenommenen vermittelt. Volneys Technik erinnert an das sorgfältige Zusammensetzen winziger Steine zu einem opulenten Mosaik, dessen Wirkung sich erst in der Totalansicht voll entfaltet. Da Volney ein Reisender ist, der sich über die fremden Erscheinungen nicht durch Messen und selten durch Kommunikation mit den Einheimischen, sondern durch Beobachtung informiert, verwendet er auffällig oft Wörter wie »regarder«, »observer« oder »Observation« in seiner »Voyage en Êgypte et en Syrie«. Neben der Analyse und Beurteilung des Menschen, seiner Gesellschaft und Geschichte als Elemente eines objektiven Ganzen, erkennen wir hierin das zweite wichtige Moment, das Volney zu einem ›Observateur de l’homme‹ prädestinierte. Die Betonung des Blicks ist eine Eigenart, welche er mit vielen ›Id¦ologues‹ in Frankreich teilte. Das Auge, jenes Sinnesorgan, welches als das ›kälteste‹ und ›objektivste‹ betrachtet wurde, schien den ›Observateurs‹ das geeignetste Instrument zu sein, um unvoreingenommen und ohne Beeinflussung durch Gefühle die Wirklichkeit adäquat zu erfassen und zu analysieren. Auge und Blick ermöglichten ihnen ein positives Studium der Realität, umso mehr, als sie gegenüber Intuitionen und synthetisch-allgemeinen Ideen sehr misstrauisch waren. Auch Volney dient der Blick gleichsam als Seziermesser des wahrgenommenen Gegenstandes.43 Doch genügt es nicht, wie das Beispiel des Ägyptenreisenden Savary zeigt, ein fremdes Land mit eigenen Augen zu sehen. Die Autopsie ist zwar ein wichtiges Korrektiv bei der Überprüfung von anderen Reiseberichten, doch muss sie ›richtig‹ angewendet werden. Wer lediglich das Schöne wahrnimmt und das die Harmonie Störende ausblendet (oder umgekehrt), kann keine wahrheitsgetreue und vollständige Beschreibung eines Landes verfassen. Konsequenterweise versucht Volney, die von ihm bereisten Länder emotionslos und in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Der für ihn so typische Schreibstil ist Ausdruck seines Bemühens, eine selektive, und daher falsche Sichtweise des objektiv Gegebenen zu vermeiden. Die im obigen Zitat aufgezeigte Aneinanderreihung der Details muss daher nicht nur exakt, sondern auch möglichst vollständig durchgeführt werden. Das Ausklammern der Emotionen und der Verzicht auf Idealisierung sind tragen; die gesattelten und gezäumten Esel, die mühelos ihre Pantoffel tragenden Reiter transportieren; den mit Datteln und kleinen runden und flachen Broten knapp versorgten Markt; den Haufen schmutziger, in den Strassen herumirrender Hunde; jene Art wandelnde Gespenster, die unter einem aus einem Stück bestehenden Kleid nichts Menschliches ausser zwei weiblichen Augen zeigen.« Übersetzung nach Moravia (1989a), S. 135 f.] 43 Siehe dazu die Ausführungen in: Moravia (1989b), S. 21 ff.

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wohl die markantesten Unterschiede zu den in Deutschland fast zeitgleich angestellten Versuchen der Brüder von Humboldt, den Zusammenhang des Naturganzen zu erfassen. Deren Bestreben, den inneren Zusammenhang der Natur und ihre universale Harmonie zu erforschen, zeigt die Differenz zu den Forderungen der französischen ›Id¦ologues‹ am deutlichsten. Wie die Untersuchung zu Wilhelms geschichtsphilosophischen und anthropologischen Schriften gezeigt hat, wollte der ältere von Humboldt nicht auf ein naturwissenschaftliches Fundament seines idealen Menschenbildes verzichten. Umgekehrt versuchte Alexander in seinen wissenschaftlichen Werken eine ästhetische Naturbetrachtung stets zu berücksichtigen. Besonders die »Ansichten der Natur« und seine »Relation historique«, auf die wir in den Kapiteln V.4.b) und V.4.c) noch eingehen werden, stellen Versuche dar, künstlerischen und naturwissenschaftlichen Ambitionen zu genügen. Ein Verzicht auf einen der beiden Ansprüche würde zwangsläufig zu einer in den Augen der Brüder von Humboldt unstatthaften Reduzierung des »Totalanblicks« führen und der von ihnen angestrebten monistischen Sichtweise der Natur nicht entsprechen können. Die auf Seite 267 zitierte Briefstelle des jüngeren von Humboldt gibt uns Aufschluss darüber, welche Defizite in Volneys Sicht der Natur ausgemacht wurden. Dessen Rekomposition der einzeln beobachteten Gegenstände zu einer zusammenhängenden Gesamtheit, zu einer wirklichen Synthese, gelingt nicht mehr. Gerade in dem dort kritisierten »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« misslingt die Darstellung Amerikas als physikalisches und politisches Ganzes, das mehr sein soll als nur eine topografische Beschreibung des Landes.44 Wir werden weiter unten auf dieses bemerkenswerte Fragment des ›Id¦ologue‹ noch näher eingehen. Aber bereits in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« ist es für Volney nicht so einfach zu erkennen, wie die wirkenden Naturgesetze in ihrer Gesamtheit real zusammenhängen. Der Franzose versucht in diesem Werk, die geografischen, klimatischen, ökonomischen, kulturellen und politischen Gegebenheiten des Nahen Ostens als komplexes System zu analysieren. Der an Montesquieu geschulte Reisende kennt natürlich dessen These vom Einfluss des Klimas auf die Staatsform und den Charakter der Bevölkerung. Das trockene und heisse Klima des Orients beeinflusst laut Montesquieu den Charakter seiner Einwohner dahingehend, dass diese eine Neigung zu Despotien entwickeln, welche von den trägen und gleichgültigen Untertanen widerspruchslos hingenommen werden. 44 Zwar lobt Alexander von Humboldt Volneys Werk in seiner Einleitung zur »Relation historique«, aber dieses Lob bezieht sich einzig auf die wahrheitsgetreue Darstellung der Indianer Nordamerikas, nicht aber auf die Schilderung der Natur. Zu berücksichtigen gilt zudem, dass Humboldt seine Reisebeschreibung in Frankreich – auf Französisch – veröffentlichte und daher kaum öffentlich Kritik an dem Franzosen üben wollte. (Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 33.)

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Doch Volney kritisiert die Unwissenschaftlichkeit und das Spekulative dieser These aufs Schärfste.45 Zunächst wendet er gegen den Autor der »Esprit des lois«46 ein, dass dieser seine These nur auf Berichte antiker Historiker stütze, deren Glaubwürdigkeit meist zweifelhaft sei. Ohne seine Quellen zu überprüfen, welche allzu oft Widersprüchlichkeiten aufweisen würden, habe Montesquieu die darin überlieferten Angaben bedenkenlos übernommen. Auch Volney beruft sich auf historische Überlieferungen, doch im Gegensatz zu Montesquieu überprüft er diese kritisch auf ihren Wahrheitsgehalt. Aufgrund seiner grossen Belesenheit weiss der ›Id¦ologue‹ ausserdem, dass historische Berichte die Völker des Orients durchaus nicht immer als indolent und der Sklaverei wehrlos ausgeliefert schildern. Die antike Geschichte kennt zahlreiche Beispiele von Aufständen, Revolutionen und Eroberungskriegen im Morgenland. Wie wäre es also möglich, dass sich der Charakter ein und desselben Volkes so fundamental geändert hätte und aus seiner früheren Aktivität in vollkommene Apathie gefallen sei? Oder sollte sich etwa das Klima in der Zwischenzeit so sehr geändert haben, dass es den Charakter eines Volkes in sein Gegenteil zu kehren vermochte? Doch eine solche Annahme ist sehr unwahrscheinlich, denn Anhaltspunkte darüber liegen uns keine vor. Weitere Argumente gegen Montesquieu bringt Volney in Hinsicht auf die physische Ausstattung des Menschen vor: »L’on invoque un fait physique, et l’on dit: La chaleur abat nos forces; nous sommes plus indolents l’¦t¦ que l’hiver : donc les habitants des pays chauds doivent Þtre indolents. Supposons le fait; pourquoi, sous un mÞme ciel, la classe des tyrans aura-t-elle plus d’¦nergie pour opprimer, que celle du peuple pour se d¦fendre? Mais qui ne voit que nous raisonnons comme des habitants d’un pays o¾ il y a plus de froid que de chaud? Si la thÀse se soutenait en Êgypte ou en Afrique, l’on y dirait: Le froid gÞne les mouvements, arrÞte la circulation. Le fait est que les sensations sont relatives — l’habitude, et que les corps prennent un temp¦rament analogue au climat o¾ ils vivent, en sorte qu’ils ne sont affect¦s que par les extrÞmes du terme ordinaire. Nous hassons la sueur ; l’Êgyptien l’aime, et redoute de se voir sec. Ainsi, soit par les faits historiques, soit par les faits naturels, la proposition de Montesquieu, si importante au premier coup d’œil, se trouve — l’analyse un pur paradoxe, qui n’a d˜ son succÀs qu’— la nouveaut¦ des esprits sur ces matiÀres, lorsque l ’ E s p r i t d e s L o i s parut, et — la flatterie indirecte qui en r¦sulte pour les nations qui l’ont admis.«47 45 Moravia (1967), S. 999 ff. 46 Montesquieu (1748) 47 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 303. [»Man beruft sich dabei auf eine physische Tatsache und sagt: Die Hitze schwächt unsere Kräfte, wir sind im Sommer träger als im Winter, also müssen die Bewohner der heissen Länder träge sein. Nehmen wir diese Tatsache als gegeben an; warum sollte, unter demselben Himmel, die Klasse der Tyrannen mehr Energie haben zu unterdrücken als diejenige des Volkes sich zu verteidigen? Aber wer

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Obwohl auch Volney den geologischen und klimatischen Faktoren eines Landes grosse Bedeutung für die moralische und physische Konstitution der Bewohner zuschreibt, sind für ihn Montesquieus Thesen zu einfach und berücksichtigen zu wenig deren wechselseitige Relativität. Dessen oberflächliche Scheinbegründungen halten seiner Meinung nach einer vernünftigen Analyse nicht stand. Deshalb will der ›Id¦ologue‹ die elementaren Bedürfnisse des Menschen erforschen, denn diese sollen Aufschluss geben über dessen Charakter und Verhaltensweisen. Wiederum ist es die exakte Beobachtung, die zu diesem Ziel führen kann: »Pour ¦tablir quelque chose de pr¦cis dans la question de l’activit¦, il ¦tait un moyen plus prochain et plus s˜r que ces raisonnements lointains et ¦quivoques: c’¦tait d’en consid¦rer la nature mÞme; d’en examiner l’origine et les mobiles dans l’homme. En proc¦dant par cette m¦thode, l’on s’aperÅoit que toute activit¦, soit de corps, soit d’esprit, prend sa source dans les besoins; que c’est en raison de leur ¦tendue, de leurs d¦veloppements, qu’elle-mÞme s’¦tend et se d¦veloppe: l’on en suit la gradation depuis les ¦l¦ments les plus simples jusqu’— l’¦tat le plus compos¦. C’est la faim, c’est la soif qui, dans l’homme encore sauvage, ¦veillent les premiers mouvements de l’–me et du corps; ce sont ces besoins qui le font courir, chercher, ¦pier, user d’astuce ou de violence: toute son activit¦ se mesure sur les moyens de pourvoir — sa subsistance.«48

sieht nicht, dass wir wie Bewohner eines Landes urteilen, wo es häufiger kalt als heiss ist? Wenn die These in Ägypten oder Afrika unterstützt werden müsste, würde man dort sagen: Die Kälte behindert die Bewegungen, lähmt den Kreislauf. Tatsache ist, dass die Empfindungen von der Gewohnheit abhängig sind und dass die Körper eine dem Klima entsprechende Temperatur annehmen, in welchem sie leben, sodass sie nur von den Extremen des gewöhnlichen Verlaufs affiziert werden. Wir hassen den Schweiss; der Ägypter liebt ihn und fürchtet sich davor, trocken zu sein. Also, sei es durch historische, sei es durch natürliche Tatsachen, der Vorschlag von Montesquieu, so wichtig er auf den ersten Blick auch ist, stellt sich bei der Analyse als reines Paradox heraus, das seinen Erfolg nur der Neuheit der Gedanken über diese Materie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der › E s p r i t d e s L o i s ‹ und der indirekten Schmeicheleien, welche daraus für die Nation resultieren, welche sie gelten liessen, verdankte.«] 48 Volney (1989). Voyage en Êgypte et en Syrie. Tome III. S. 303. [»Um etwas Genaues in der Frage nach der Aktivität zu begründen, gäbe es ein näherliegenderes und sichereres Mittel als diese entfernten und zweideutigen Argumente: das wäre, die Natur selbst zu beobachten; darin den Ursprung und die Beweggründe im Menschen zu überprüfen. Im Fortgang dieser Methode erkennt man, dass jede Aktivität, sei sie körperlich, sei sie geistig, ihre Quelle in den Bedürfnissen hat; dass sie aufgrund ihres Umfangs und ihrer Entwicklungen sich selbst ausdehnt und entwickelt; man verfolgt dabei ihre Abstufung von den einfachsten Elementen bis zu ihrem komplexesten Zustand. Das ist der Hunger, das ist der Durst, die im noch wilden Menschen die ersten Bewegungen der Seele und des Körpers wecken; das sind diese Bedürfnisse, die ihn rennen, suchen, ausspähen, Schlauheit oder Gewalt gebrauchen lassen: Seine ganze Aktivität misst sich an den Mitteln, sich selbst erhalten zu können.«] In diesen Ausführungen über die Grundbedürfnisse des Menschen wird auch der Einfluss Condillacs sehr deutlich.

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Hunger und Durst sind also die primären Ursachen, die den Menschen zur Selbsterhaltung antreiben. Das Vorteilhafte suchen und das Schädliche meiden sind die wichtigsten Grundregeln zur Wahrung der eigenen Unversehrtheit. Dieses Verhaltensmuster ist jedem Lebewesen angeboren und ist die Grundbedingung für den Fortbestand seiner Art. In Bezug auf den Menschen bedeutet dies nun, dass auch seine kulturellen Leistungen letztlich auf dem Selbsterhaltungstrieb beruhen. Doch nicht nur der Fortschritt, die Zivilisierung der Menschheit, ist unabdingbar an die Natur gebunden, auch die politischen Forderungen nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit lassen sich mit den natürlichen Anlagen des Menschen legitimieren und müssen für die gesamte Menschheit gelten. Doch offensichtlich gibt es Faktoren, die die ›natürliche‹ Entwicklung der Menschheit behindern oder gar in die Irre laufen lassen, denn andernfalls wäre der Fortschritt determiniert. Gerade das Beispiel des Nahen Ostens zeigt Volney aber, dass eine einstmals blühende Kultur in den Ruin stürzen kann. Für Frankreich sollte dieses Beispiel eine Warnung und gleichzeitig Ansporn sein, wissenschaftlich zu ergründen, warum eine Hochkultur in einen Zustand der Dekadenz übergehen kann. Zu diesem Zweck vergleicht der ›Observateur de l’homme‹ die verschiedenen Völker und Religionsgemeinschaften im Einflussbereich des Osmanischen Reiches sowie dessen Zustand mit demjenigen Frankreichs. Die genauere Analyse zeigt nun, dass zwischen Christen und Muslimen, Landbewohnern und Städtern oder Türken und Armeniern durchaus Unterschiede auszumachen sind. Obwohl genannte Volksgruppen alle im gleichen Klima beheimatet sind, lassen sie sich nicht alle als indolent oder unterwürfig bezeichnen. Offenbar muss es also andere Gründe als das heisse, trockene Klima für die Charakterbildung eines Menschen geben. Diese Gründe sieht der ›Id¦ologue‹ Volney vornehmlich in den sozialen und religiösen Voraussetzungen einer Gesellschaft: »Il faut le reconna„tre; le moral des peuples, comme celui des particuliers, d¦pend surtout de l’¦tat social dans lequel ils vivent: puisqu’il est vrai que nos a c t i o n s sont dirig¦es par les lois civiles et religieuses, puisque nos habitudes ne sont que la r¦p¦tition de ces a c t i o n s , puisque notre caractÀre n’est que la disposition — a g i r de telle maniÀre en telle circonstance; il s’ensuit ¦videmment que tout d¦pend du gouvernement et de la religion: dans tous les faits dont j’ai voulu me rendre compte, j’ai toujours vu cette double cause revenir plus ou moins imm¦diate; l’analyse de quelques-uns pourra en faire la d¦monstration.«49 49 Ibid. S. 305. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.] [»Man muss es anerkennen; die Moral der Völker, wie diejenige der Individuen, hängt vor allem vom sozialen Zustand ab, in dem diese leben: da es wahr ist, dass unsere H a n d l u n g e n durch die bürgerlichen Gesetze sowie denen der Religion geleitet sind, da unsere Gewohnheiten nichts als die Wiederholung dieser Handlungen sind, da unser Charakter nichts als die Bestimmung ist, auf gewisse Weise

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Verwaltung und Religion sind in Volneys Augen die entscheidenden Faktoren für die kulturelle und, wenn man so will, die völkerpsychologische Entwicklung einer Nation. Obwohl von den natürlichen Anlagen des Menschen abhängig, lassen sie sich aber durchaus beeinflussen. Hier liegt der Anknüpfungspunkt für den politischen und sozialen Einsatz des Autors im Sinne der Forderungen der französischen Revolution. Die Missstände in Frankreich, verursacht durch das Regierungssystem einer absoluten Monarchie, die Privilegien der Aristokratie und die autoritäre Herrschaft des oberen Klerus, lassen sich durch die Einführung einer Demokratie und die Ausgrenzung der Religion aus allen staatlichen Angelegenheiten beheben. Die Schlagworte der Revolution – »libert¦, egalit¦ et justice« – sollen also nicht nur die politischen Zustände verändern, sondern erhalten darüber hinaus ihre Legitimation durch die Natur des Menschen. Volneys »Voyage en Êgypte et en Syrie« ist somit sehr viel mehr als ein traditioneller Reisebericht. Die Zweiteilung seiner Länderbeschreibung in einen »Êtat physique« und einen »Êtat politique« entspricht genau seiner Sichtweise des Menschen. Dessen Grundlagen werden einerseits durch die Natur, sowohl die psychophysischen Bedingungen als auch die klimatischen, topografischen und geologischen Gegebenheiten der Umwelt, determiniert, andererseits aber durch die veränderbaren Strukturen der Verwaltung und religiösen Institutionen bestimmt. Tatsächlich sagt Volney am Ende seines Werkes explizit, dass der Reisende, wenn er denn seine Reise gemäss den Anforderungen der ›Id¦ologie‹ durchführt, mehr leisten kann als nur eine oberflächliche Beschreibung eines Landes. Wenn er die physikalischen und sozialen Bedingungen in einem Staat genau beobachtet und deren Gesetzmässigkeiten umfassend analysiert, ist er in der Lage, Bedeutendes zum Fortschritt der Gesellschaft beizutragen. Mehr noch als der Historiker, der sich auf unsichere Quellen stützen muss, kann der reisende ›Id¦ologue‹ die Zukunft des Menschengeschlechts mitbestimmen und in die richtigen Wege leiten: »Tel est le m¦rite de l’histoire, que par le souvenir des faits pass¦s, elle anticipe aux temps pr¦sents les fruits co˜teux de l’exp¦rience. Les voyages en ce sens atteignent au but de l’histoire, et ils y marchent avec plus d’avantage; car traitant d’objets pr¦sents, l’observateur peut mieux que l’¦crivain posthume saisir l’ensemble des faits, d¦mÞler leurs rapports, se rendre compte des causes, en un mot, analyser le jeu compliqu¦ de toute la machine politique. En exposant, avec l’¦tat du pays, les circonstances d’administration qui l’accompagnent, le r¦cit du voyageur devient une indication des mobiles de grandeur ou de d¦cadence, un moyen d’appr¦cier le terme actuel de tout empire. Sous ce point de vue, la Turkie est un pays trÀs-instructif: ce que j’en ai expos¦ unter gewissen Bedingungen zu h a n d e l n , folgt offensichtlich daraus, dass alles von der Verwaltung und der Religion abhängt: bei allen Tatsachen, über die ich berichten wollte, sah ich immer wieder diese doppelte Ursache mehr oder weniger unmittelbar zum Vorschein kommen; die Analyse einiger davon wird es aufzeigen können.«]

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d¦montre assez combien l’abus de l’autorit¦, en provoquant la misÀre des particuliers, devient ruineux — la puissance d’un Êtat; et ce que l’on en peut pr¦voir ne tardera pas de prouver que la ruine d’une nation rejaillit tút ou tard sur ceux qui la causent, et que l’imprudence ou le crime de ceux qui gouvernent, tire son ch–timent du malheur mÞme de ceux qui sont gouvern¦s.«50

Im Optimismus dieser Zeilen können wir einen entscheidenden Unterschied zwischen Volneys und Wilhelm von Humboldts Einschätzung der staatlichen Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen eines Landes festmachen. Wie wir in Kapitel II.3.a) gesehen haben, ging es dem älteren von Humboldt im Entwurf »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« ebenfalls um die Frage, wie man die Erkenntnisse der gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen der Menschen nutzbringend anwenden kann. Die Einsicht in die inneren Kräfte eines Individuums, gepaart mit Untersuchungen der Menschheitsgeschichte, könnte es Regierenden ermöglichen, die freie Entfaltung aller Staatsbürger zu gewährleisten. Doch Wilhelm schränkt am Ende seines Fragmentes den Nutzen seiner projektierten Analysen sogleich wieder ein: »Diese Einsicht aber muss überhaupt jedem denkenden Menschen, und vorzüglich demjenigen, der auf andre, vielleicht auf ganze Nationen wirken will, unendlich wichtig sein. Denn wenn sie sich auch nicht anmaassen darf, ihnen die Mittel genau anzuzeigen, welche ihnen die Erreichung ihrer Absichten sichern; so wird sie sie doch hindern, nach dem Unmöglichen zu haschen, ihnen Ehrfurcht für dasjenige einflössen, was sie zum Gegenstande ihrer Thätigkeit machten, und sie vielleicht gar veranlassen, die Zügel aus den Händen zu legen, und selbstthätige Kräfte der Freiheit zu übergeben, die allein ihrer würdig ist.«51

50 Ibid. S. 310. [»So gross ist das Verdienst der Geschichte, dass sie durch die Erinnerung vergangener Tatsachen die kostbaren Früchte der Erfahrung in die gegenwärtigen Zeiten vorwegnimmt. In diesem Sinne erreichen die Reisen das Ziel der Geschichte, und sie gelangen mit grösserem Vorteil dorthin; denn indem sie die gegenwärtigen Objekte behandeln, kann der Beobachter besser als der posthume Schriftsteller die Gesamtheit der Fakten verstehen, ihre Zusammenhänge entwirren, über die Ursachen Bericht erstatten, in einem Wort, das komplizierte Zusammenspiel der ganzen politischen Maschinerie analysieren. So dargelegt, mit dem Zustand des Landes, den Umständen der Verwaltung, die sie begleiten, wird der Bericht des Reisenden ein Indikator der Triebfedern zur Grösse oder Dekadenz, ein Mittel, um den aktuellen Punkt in der Entwicklung des ganzen Reiches einzuschätzen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Türkei ein sehr lehrreiches Land: Wie ich zur Genüge gezeigt habe, wird der Missbrauch der Obrigkeit, der das Elend der Einzelnen hervorruft, zerstörerisch für die Macht eines Staates; und das, was man davon vorhersehen kann, wird innerhalb kurzer Zeit zu beweisen sein, dass nämlich der Zerfall einer Nation früher oder später auf diejenigen zurückfällt, die ihn verursachen, und dass die Fahrlässigkeit oder das Verbrechen derjenigen, die verwalten, ihre Bestrafung des Unglücks sogar von denjenigen nach sich zieht, die verwaltet werden.«] 51 Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 54 f. [Hervorhebung von mir.]

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Solche vorsichtigen Erwägungen über die Möglichkeiten, staatliche und gesellschaftliche Zwänge dereinst überwinden zu können, sind dem französischen Revolutionär fremd. Ihm geht es um die konkrete Beseitigung einer Regierung, welche Ungerechtigkeit und Unfreiheit toleriert oder gar fördert. Volney betrachtet den Staat nicht wie Wilhelm von Humboldt als ein organisches System »selbstthätiger Kräfte«, sondern als komplizierte »machine politique«. Ist diese Maschine defekt, so bedarf sie einer Reparatur oder muss möglicherweise sogar ersetzt werden. Bereits in positivistischer Manier versucht der ›Id¦ologue‹, die Mittel für die nötigen Veränderungen aufzuzeigen. Es geht ihm nicht darum, falsche Entwicklungen in die richtigen Bahnen umzuleiten, sondern um die Zerstörung fehlerhafter Strukturen. Wilhelm von Humboldt hingegen verficht bereits in seinen 1792 fertiggestellten »Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen«52 die Ansicht – gerade auch unter dem Eindruck der Auswüchse der französischen Revolution –, dass dem Entwicklungsstand eines Landes angepasste Reformen besser seien als gewaltsame Umbrüche. Insbesondere die von Volney, der seit 1789 »D¦put¦ — l’Assembl¦ Nationale« war, mitgestaltete neue Verfassung Frankreichs behagte dem Preussen nicht, da sie seiner Meinung nach lediglich aufgrund von abstrakten Vernunftregeln ausgearbeitet wurde.53 Ein solch künstliches Gebilde, das nicht ›organisch‹ aus dem Volkswillen gewachsen ist, vermag die freie Entfaltung der inneren Kräfte des Menschen nicht adäquat zu unterstützen. Obwohl sowohl Volney als auch Humboldt, wie im Übrigen auch Herder, die Befreiung des Menschen von staatlichen Zwängen als Ziel der Gesellschaft anvisieren, sind die von ihnen bevorzugten Methoden zur Erlangung dieses Zieles sehr unterschiedlich. Es ist die vom ›Id¦ologue‹ Volney in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« angewendete Methode, welche Wilhelm von Humboldt als zu stark von der reinen Vernunft geleitet betrachtet. Einige Jahre später, nachdem der als Royalist verdächtigte Volney aus dem Gefängnis entlassen wurde, beschrieb er dieses methodische Vorgehen ausführlich in der »LeÅon d’histoire«, die 1795 veröffentlicht wurde. In der sechsten Vorlesung, die er als Professor für Geschichte an der »Ecole normale« gehalten hatte, geht er noch einmal auf seinen Reisebericht über Ägypten und Syrien ein: »Oblig¦ de chercher une m¦thode pour r¦diger mon voyage en Syrie, je fus conduit, comme par instinct, — ¦tablir d’abord l’¦tat physique du pays, — faire conna„tre ces circonstances de sol et de climat si diff¦rents du nútre, sans lesquels l’on ne pouvait bien entendre une foule d’usages, de coutumes et de lois. Sur cette base, comme sur un canevas, vint se ranger la population, dont j’eus — consid¦rer les diverses espÀces, — 52 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. 53 Siehe dazu auch Kapitel II.3.a).

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rappeler l’origine, et — suivre la distribution: cette distribution amena l’¦tat politique consid¦r¦ dans la forme du gouvernement, dans l’ordre d’administration, dans la source des lois, dans leurs instruments et moyens d’ex¦cution. Arriv¦ aux articles des mœurs, du caractÀre, des opinions religieuses et civiles, je m’aperÅus que sur un mÞme sol, il existait tantút des contrastes de secte — secte et de race — race, et tantút des points de ressemblance communs. Le problÀme se compliquait, et plus je le sondai, plus j’en aperÅus l’¦tendue et la profondeur.«54

Für Wilhelm von Humboldt, der stets die »proportionirlichste Ausbildung aller Kräfte« propagiert, ist dieses Vorgehen zu einseitig, auch wenn der ›Id¦ologue‹ in der »LeÅon d’histoire« für eine komplexere Betrachtungsweise fremder Kulturen, als sie Montesquieu und Buffon geliefert haben, plädiert. Die persönliche Entwicklung eines Individuums findet bei Volney nämlich keine Beachtung. Er sucht nach den Umständen, welche den Charakter, die Sitten, die Regierungsformen sowie die physische und moralische Konstitution eines Volkes beeinflussen. Auf diese Weise hofft er, allgemeine Regeln für das friedliche Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft zu finden. Das Einhalten dieser Regeln gewährleistet, so seine Überzeugung zum damaligen Zeitpunkt, die Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit und Gerechtigkeit. Ohne Rücksicht auf die Entfaltung des einzelnen Menschen abstrahiert Volney seine allgemeinen Grundsätze von den natürlichen Bedürfnissen aller menschlichen Lebewesen. Die mit diesem rationalen Vorgehen herausgearbeiteten Grundsätze sollen also dazu dienen, das Fundament einer allgemeingültigen Staatsverfassung zu entwerfen. Nicht die persönliche Freiheit, sondern der Staat, der die Freiheiten garantiert, steht im Vordergrund. Gerade in der damaligen Bedrohung Frankreichs von Anarchie und Gegenrevolution sieht Volney die Dringlichkeit für eine solide, allseits anerkannte Verfassung. Aber nicht die aktuellen Ereignisse des

54 Volney (1989). LeÅon d’histoire. Tome I; S. 586. [»Genötigt eine Methode für die Überarbeitung meiner Reise nach Syrien zu suchen, wurde ich, wie aus Instinkt, dahin geführt, zuerst den physikalischen Zustand des Landes festzusetzen, die von den unsrigen so verschiedenen Bedingungen des Bodens und des Klimas bekannt zu machen, ohne die man eine Menge der Gewohnheiten, Gebräuche und Gesetze nicht verstehen könnte. Auf diesem Fundament, wie auf einem Stamm, liess sich nachher die Bevölkerung ordnen, von der ich die verschiedenen Geschlechter zu betrachten, den Ursprung wachzurufen und die Verteilung zu verfolgen hatte; diese Verteilung führte zum politischen Zustand, betrachtet in der Gestalt der Regierung, in der Ordnung der Verwaltung, in der Herkunft ihrer Gesetze, in ihren Werkzeugen und Mitteln der Ausführung. Angelangt bei den Abhandlungen über die Sitten, den Charakter, die religiösen und bürgerlichen Ansichten, bemerkte ich, dass auf demselben Boden bald Unterschiede von Religionsgemeinschaft zu Religionsgemeinschaft und von Rasse zu Rasse vorhanden waren, bald Punkte gemeinsamer Ähnlichkeiten. Das Problem wurde komplizierter, und je mehr ich darüber nachforschte, desto mehr erkannte ich dessen Umfang und Tiefe.«]

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Tages, die von Emotionen geleitet werden, sondern nur ein auf Vernunftregeln aufgebautes Staatswesen kann letztlich die Freiheit der Menschen gewährleisten. Wilhelm von Humboldt erachtet ein solches Vorgehen als zu abstrakt. Erst die körperliche, moralische und geistige Entfaltung eines Menschen kann seine Soziabilität ermöglichen. Es ist die in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts so populäre Idee eines ›Bildungstriebs‹, die hier besonders zum Tragen kommt. Die jedem Lebewesen immanente Kraft bedarf keiner Leitung durch die Vernunft, sondern muss sich frei entfalten können. Jede Verfassung, die diese Voraussetzung missachtet, wird deshalb dem Individuum nicht gerecht und schränkt seine persönliche Freiheit ein. Bestätigt sieht Wilhelm seine Ansicht durch das Abdriften der französischen Revolution in Gewalt und Terror. Doch gerade dieses primäre Interesse Wilhelm von Humboldts an der freien Entfaltung des Einzelnen, welches schon in den sogenannten »Staatsschriften« zum Ausdruck kommt, stellte auch immer wieder ein Hindernis in dessen politischer Karriere dar. Denn letztlich war es Wilhelms Sichtweise des der Gesellschaft stets übergeordneten Menschen, die ihn an der konsequenten Mitwirkung im preussischen Staatsdienst hinderte.

IV.2.b) »Les ruines« – Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche Wie die Betrachtungsweise einer Gesellschaft und die politischen Forderungen nach demokratischer Mitbestimmung mit der Methode der ›Id¦ologues‹ zusammenhängen, lässt sich aus Volneys wahrscheinlich berühmtestem Werk, »Les ruines, ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires«, ersehen.55 Obwohl erst im Jahre 1791 publiziert, begann Volney dieses Werk wohl bereits unmittelbar nach der Niederschrift der »Voyage en Êgypte et en Syrie«. Der Ausbruch der französischen Revolution hinderte ihn aber vorerst daran, seine Reflexionen über das Schicksal der Völker zu Ende zu bringen, denn diese forderte vorrangig seine aktive Teilnahme an der politischen Neugestaltung Frankreichs. So verzögerte sich die Veröffentlichung um einige Jahre, doch umso aktueller waren nun die darin enthaltenen Forderungen. Überschwänglich war denn auch die Zustimmung der Revolutionäre zu Volneys Werk. Warum Anfang der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts die »Ruines« als so bedeutend angesehen wurden, erläutert Claude Emmanuel de Pastoret in seinem »Discours de r¦ception — l’Acad¦mie«: »Dans ce bel ouvrage, il [Volney] nous ramÀne — l’¦tat primitif de l’homme, — sa condition n¦cessaire dans l’ordre g¦n¦ral de l’univers; il recherche l’origine des so55 Volney (1989). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. Tome I.

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ci¦t¦s civiles et les causes de leurs formations, remonte jusqu’aux principes de l’¦l¦vation des peuples et de leur abaissement, d¦veloppe les obstacles qui peuvent s’opposer — l’am¦lioration de l’homme.«56

Es sind also die fundamentalen Bedingungen, die das friedliche Zusammenleben der Menschen beeinflussen, welche erneut in Volneys Blickfeld stehen. Eingekleidet in eine allegorische Erzählung, entwirft der ›Id¦ologue‹ eine Utopie, die den Forderungen der französischen Revolution Nachdruck verleiht. Geschildert wird das Zusammentreffen eines Reisenden mit dem »fantúme« der Ruinen von Palmyra. Doch zunächst stellt der Orientreisende düstere Betrachtungen über den Aufstieg und Untergang früherer Kulturen an. Den Ellenbogen auf das Knie und den Kopf auf die Hand gestützt – die klassische Pose des Melancholikers – beklagt er sich über die Zerstörung der einst blühenden Stadt Palmyra: »Ici, me dis-je, ici fleurit jadis une ville opulente; ici fut le si¦ge d’un empire puissant. Oui! ces lieux maintenant si d¦serts, jadis une multitude vivante animait leur enceinte; une foule active circulait dans ces routes aujourd’hui solitaires. En ces murs o¾ rÀgne un morne silence, retentissaient sans cesse le bruit des arts et les cris d’all¦gresse et de fÞte: ces marbres amoncel¦s formaient des palais r¦guliers; ces colonnes abattues ornaient la majest¦ des temples; ces galeries ¦croul¦es dessinaient les places publiques. L—, pour les devoirs respectables de son culte, pour les soins touchants de sa subsistance, affluait un peuple nombreux; l—, une industrie cr¦atrice de jouissances appelait les richesses de tous les climats, et l’on voyait s’¦changer la pourpre de Ty r pour le fil pr¦cieux de la S ¦ r i q u e , les tissus moelleux de K a c h e m i r e pour les tapis fastueux de la Ly d i e , l’ambre de la Baltique pour les perles et les parfums arabes, l’or d’O p h i r pour l’¦tain de T h u l ¦ . Et maintenant voil— ce qui subsiste de cette ville puissante, un lugubre squelette!«57 56 Claude Emmanuel de Pastoret: Discours de r¦ception — l’Acad¦mie. Zitiert nach Adolphe Bossange in: Volney (1837)). Notice sur la vie et les ¦crits de C.F. Volney. S. 4 f. [»In diesem schönen Werk führt er [Volney] uns zum ursprünglichen Zustand des Menschen zurück, zu dessen notwendiger Voraussetzung in der allgemeinen Ordnung des Universums; er erforscht den Ursprung der bürgerlichen Gesellschaften und die Ursachen ihrer Bildungen, er steigt bis zu den Prinzipien der Erhebung der Völker und ihres Niedergangs hinab, legt die Hindernisse dar, die sich der Verbesserung des Menschen entgegenstellen können.«] 57 Volney (1837)). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. S.10. [in der deutschen Ausgabe von Georg Forster : »Hier, sagte ich zu mir selbst, hier blühte ehemals eine begüterte Stadt; hier war der Sitz eines mächtigen Reichs. Eine lebendige Menge beseelte vormahls diese jetzt so verödeten Plätze, und belebte ihren Lebenskreis. In diesen Mauern, wo jetzt todtes Schweigen herrscht, ertönte unaufhörlich das Geräusch der Künste, das Geschrei der Festlichkeit und Freude. Dieser zusammengehäufte Marmor bildete regelmässige Paläste; diese umgestürzten Säulen schmückten die Majestät der Tempel; diese eingesunkenen Galerien bezeichneten die öffentlichen Plätze. Hier versammelte sich ein zahlreiches Volk, um die ehrwürdigen Pflichten seines Glaubens zu verrichten, um der rührenden Sorge für seinen Unterhalt obzuliegen; hier rief eine an Genüssen schöpferische Erfindungskraft die Reichthümer aller Himmelsgegenden herbei. Der Purpur von Tyrus wurde gegen die kostbare Seide

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Angesichts dieser trostlosen Situation fragt sich der Betrachter, was denn diese einstmals blühende Metropole zum Einsturz brachte. Ist es das Schicksal jeder hochstehenden Zivilisation, früher oder später unterzugehen? Aufklärung erhält er vom Geist der Ruinenstadt, der ihn auffordert, die Geschicke der Menschheit aus der Distanz zu betrachten58 und vernünftig zu beurteilen. Am Beginn der Menschheitsgeschichte beschränkte sich jeder Einzelne auf seine Selbsterhaltung. Nahrung, Kleidung und Fortpflanzung waren die dringlichsten Bedürfnisse für den hungrigen und nackten Naturmenschen. Nur mithilfe der Selbstliebe, der »amour de soi«, gelang ihm also das Überleben. Durch die Befriedigung seiner primären Bedürfnisse und die dadurch gewonnenen Eindrücke war er in der Lage, die ihm angeborenen Fähigkeiten (»facult¦s«) zu entfalten: »Ainsi l’a m o u r d e s o i , l’a v e r s i o n d e l a d o u l e u r , le d ¦ s i r d u b i e n - Þ t r e , furent les mobiles simples et puissants qui retirÀrent l’homme de l’¦ t a t s a u v a g e et b a r b a r e o¾ la NATURE l’avait plac¦; et lorsque maintenant sa vie est sem¦e de jouissances, lorsqu’il peut compter chacun de ses jours par quelques douceurs, il a le droit de s’applaudir et de se dire: ›C’est moi qui ai produit les biens qui m’environnent, c’est moi qui suis l’artisan de mon bonheur: […]‹«59

Als »homme cr¦ateur« erkannte das Einzelwesen aber, dass ihm die Befriedigung seiner Bedürfnisse viel einfacher gelingt, wenn es sich zu anderen Menschen gesellt. Die Selbstliebe war es somit auch, die die Entwicklung zur Vergesellschaftung und Zivilisation initiierte. So wurde sie zum Prinzip der Gesellschaftsordnung sowie zum Antrieb zur Kunst und zu allen Annehmlichkeiten. Doch war es ebenfalls die Selbstliebe, die die gesellschaftlichen Missstände generierte, dann nämlich, wenn sie in die Irre geleitet wurde. Denn wird der Mensch bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse unersättlich, ist er versucht, seine schwächeren Mitmenschen mit Gewalt zu unterdrücken, um eigene Vorteile daraus zu ziehen: von Serica, die reichen Gürtel von Kaschemir gegen die prächtigen Teppiche von Lydien, der Ambra des Baltischen Meeres gegen die Perlen und Wohlgerüche aus Arabien, das Gold von Ophir gegen das Zinn von Thule vertauscht. Und was bleibt jetzt von dieser mächtigen Stadt? – ein trauriges Skelett!« Volney (1834). Die Ruinen. S. 10 f.] 58 Dies nicht nur im übertragenen Sinne. Der Geist hebt den Betrachter in die Lüfte empor, damit dieser die gesamte Hemisphäre überblicken kann! 59 Volney (1837)). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. S.16. [»Auf solche Weise waren Selbstliebe, Abneigung vor Schmerz, Verlangen nach Wohlgenuss, die einfachen und mächtigen Triebfedern, die den Menschen aus dem wilden, barbarischen Zustande, worein die Natur ihn gesetzt hatte, herausrissen; und wenn jetzt sein Leben mit Wohlgenuss bestreut ist, wenn er jeden seiner Tage durch Annehmlichkeiten bezeichnen kann, so hat er das Recht, sich selbst Beifall zuzurufen und zu sich zu sagen: Ich selbst habe das Gute, was mich umgiebt, hervorgebracht: ich bin der Werkmeister meines Glücks; […]« Volney (1834). Die Ruinen. S. 31.]

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»Ainsi c e m Þ m e a m o u r d e s o i qui, m o d ¦ r ¦ et p r u d e n t , ¦tait un p r i n c i p e d e b o n h e u r et de p e r f e c t i o n , devenu a v e u g l e et d ¦ s o r d o n n ¦ , se transforma en un poison corrupteur ; et la c u p i d i t ¦ , fille et compagne de l’i g n o r a n c e , s’est rendue la c a u s e d e t o u s l e s m a u x qui ont d¦sol¦ la terre. Oui, l’IGNORANCE et la CUPIDITÊ! voil— la double source de tous les tourments de la vie de l’homme!«60

Auf dem einfachen Prinzip der Selbstliebe, auf welches sowohl das Glück als auch alle Übel der Menschheit reduziert werden können, beruht nun also der Fortschritt und Untergang der Völker. Die erste Voraussetzung für eine bessere Zukunft ist somit diese Erkenntnis der natürlichen Grundlage aller Menschen. Zwei Prämissen werden hier von Volney als unerschütterliche Tatsachen postuliert. Zum einen geht er davon aus, dass alle Menschenrassen derselben Art angehören und dieselben Grundbedürfnisse haben. Trotz ihrer Unterschiede in Aussehen, Hautfarbe oder Sprache ist die Menschheit monogenetischen Ursprungs. Deshalb sind die Forderungen des ›Id¦ologue‹ nach Freiheit und Gleichheit auch für alle Menschen gültig. Sind aber alle Menschen von Natur aus gleich, dürfen Tyrannenherrschaft, Privilegien und Sklaverei niemals toleriert werden. In diesem Punkt ist sich der Franzose einig mit den Brüdern von Humboldt, die ebenfalls jegliche Art der Unterdrückung mit Hinweis auf die gemeinsamen naturalen Bedingungen aller Menschen ablehnen. Zum anderen ist diese Grundvoraussetzung rational einsichtig, sodass sich die Geschicke der Nationen mit Vernunft leiten lassen. Da die natürlichen Bedingungen zudem unveränderlich sind, bleiben die einmal gefundenen Vernunftregeln immer und überall gültig. Zwar sind die Leistungen einer Gesellschaft entwicklungsfähig, das heisst Wissenschaften, Technologien, Künste und Institutionen werden sich weiter verbessern können, doch die Regeln, welche das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft bestimmen müssen, bleiben stets dieselben. Wilhelm von Humboldts und Herders Auffassung, dass sich die Verfassung eines Staates dem Entwicklungsstand des Volkes anpassen müsse, wird deshalb von Volney – und ebenso von den meisten französischen Revolutionären – nicht geteilt. Dieser sieht Frankreich und die USA als Vorreiter in der Schaffung einer gerechten und freien Gesellschaftsordnung, die für alle übrigen Nationen und für alle Zeiten Gültigkeit hat.61 In den »Ruines« werden dieser Einsicht entsprechend die Forderungen von 60 Ibid. S. 17. [»Also hat eben diese Selbstliebe, welche, gemässigt und weise, Quelle von Glück und Vollkommenheit war, sobald sie blind und regellos wurde, sich in ein verderbliches Gift verwandelt; und Gierigkeit, die Tochter und Gefährtin der Unwissenheit, ist die Quelle aller Übel geworden, welche die Erde verheert haben. Ja, Unwissenheit und Gierigkeit! Seht da die doppelte Quelle aller Leiden im Leben des Menschen!« Ibid. S. 31 f.] 61 Die Selbsteinschätzung Frankreichs als »grande nation« findet in dieser Auffassung ihre Wurzeln.

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einem Gesetzgeber in der »Assembl¦e g¦n¦rale des peuples« verkündet. »Les l¦gislateurs« sind die von allen Menschen gewählten Volksvertreter, welche nur auf Zeit gewählt sind und keine besonderen Vorrechte besitzen. Sie müssen stets die Interessen ihrer Wähler vertreten, ohne Rücksicht auf eigene Vorteile. Auf der Versammlung aller Völker der Erde, welche der Geist von Palmyra dem melancholischen Reisenden zeigt, um ihm Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen, soll nun herausgefunden werden, auf welche Grundsätze sich die bestmögliche Gesellschaftsordnung stützen muss: »›Habitants de la terre, dit-il [le l¦gislateur], une n a t i o n l i b r e et p u i s s a n t e 62 vous adresse des paroles de j u s t i c e et de p a i x , et elle vous offre de s˜rs gages de ses intentions dans sa conviction et son exp¦rience. Longtemps afflig¦e des mÞmes maux que vous, elle en a recherch¦ la source; et elle a trouv¦ qu’ils d¦rivaient tous de la violence et de l’injustice, ¦rig¦es en lois par l’inexp¦rience des races pass¦s, et maintenues par les pr¦jug¦s des races pr¦sentes: alors annulant ses institutions factices et arbitraires, et remontant — l’origine de tout droit et de toute raison, elle a vu qu’il existait dans l’o r d r e m Þ m e d e l ’ u n i v e r s , et dans la constitution physique de l’homme, des lois ¦ternelles et immuables, qui n’attendaient que ses regards pour le rendre heureux. […] O nations! bannissons toute tyrannie et toute discorde; ne formons plus qu’une mÞme soci¦t¦, qu’une grande famille; et puisque le genre humain n’a qu’une mÞme constitution, qu’il n’existe plus pour lui qu’une loi, celle de la n a t u r e ; qu’un mÞme code, celui de la r a i s o n ; qu’un mÞme trúne, celui de la j u s t i c e ; qu’un mÞme autel, celui de l’u n i o n .‹«63

62 Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, wer mit der freien und mächtigen Nation gemeint ist. In Frage kämen sowohl Frankreich als auch die USA. Falls Volney diese Passage nach 1789 verfasst hat, ist vermutlich von der französischen Republik die Rede, vor allem da von der Zerstörung der herkömmlichen Institutionen gesprochen wird. Es könnte aber auch eine Anspielung auf die Gründung der USA sein, welche Volney zum damaligen Zeitpunkt sehr bewunderte. Später allerdings, als er die USA selbst bereiste, war er ernüchtert von den dort angetroffenen Zuständen. 63 Volney (1837)). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. S. 37. [»Bewohner der Erde, sagten sie [die Gesetzgeber; richtig müsste es heissen ›sagt er‹, da nur ein Gesetzgeber spricht. A.M.], eine freie und mächtige Nation richtet Worte der Gerechtigkeit und des Friedens an euch: sie bietet euch sichere Pfänder ihrer Absichten in ihrer Überzeugung und der Erfahrung dar. Lange Zeit, von gleichen Übeln niedergedrückt, wie ihr, hat sie ihrer Quelle nachgespürt, und gefunden, dass sie alle aus Gewalt und Ungerechtigkeit entsprangen, durch die Unerfahrenheit vergangener Geschlechter zu Gesetzen gestempelt, und durch die Vorurtheile der jetzigen erhalten wurden: diese Nation hat jetzt ihre gemachten und willkührlichen Stiftungen vernichtet, ist zum Ursprunge alles Rechts und aller Vernunft hinaufgestiegen, und hat gesehen, dass in der Ordnung des Weltalls selbst, und in dem physischen Bau des Menschen ewige und unbewegliche Gesetze vorhanden sind, die er nur zu erkennen braucht, um glücklich durch sie zu werden. […] O Nationen! lasst uns alle Tyrannei und alle Zwietracht verbannen; lasst uns nur eine Gesellschaft ausmachen, Eine grosse Familie, und so wie das menschliche Geschlecht dieselbe Einrichtung hat, so lasst es auch nur Ein Gesetz der Natur, nur Ein Gesetzbuch, das der Vernunft, nur Einen Thron, den Thron der Gerechtigkeit, nur Einen Altar, den der Eintracht, haben.« Volney (1834). Die Ruinen. S. 100 f.]

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Diese auf das Naturrecht gestützten Grundsätze gelten auch für die Belange der Religion. Doch Volney aufgrund der »Ruines« als Atheisten zu bezeichnen wäre nicht gerechtfertigt.64 Zwar lehnt er jegliche Macht- und Wahrheitsansprüche irgendeiner Religion ab, trotzdem leugnet er die Existenz Gottes nicht. Aber der Ursprung der Idee eines Gottes liegt ebenfalls in der physischen Natur des Menschen begründet.65 Der wilde Naturmensch sah sich bedroht von Naturphänomenen, die er nicht zu deuten wusste. Den Naturgewalten – Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Dürreperioden usw. – schutzlos ausgeliefert, versuchte er diese zu besänftigen, indem er sie personifizierte und ihnen Opfer brachte. Er bewältigte sie dadurch auf rationale Weise und setzte die so geschaffenen göttlichen Mächte in Analogie zu Vorgängen, welche ihm aus seinem Alltag vertraut waren. Somit verloren sie ihren Schrecken und wurden quasi ›auf die Erde‹ geholt, wo mit ihnen ein Stück weit verhandelt werden konnte. Mit der Erschaffung mehrerer Götter, die sehr menschliche Züge trugen, wurden aber bereits erste Quellen für Fehlinterpretationen geschaffen. Kritisch wurde es allerdings erst, als die in Gemeinschaft lebenden Menschen einzelnen Männern das Vorrecht einräumten, den göttlichen Willen zu deuten sowie als Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen aufzutreten. Auf diese Weise konnten sich privilegierte Kasten von Priester-Magiern etablieren, die die Herrschaft über die Gemeinschaft an sich rissen und nach ihrem Gutdünken regierten. Für Volney stellt somit jede Religion, die sich zu institutionalisieren beginnt, die Ursache einer Fehlentwicklung zu Aberglauben, Betrug und Tyrannei dar. Die Religionen, entstanden aus dem Unwissen und den unzulänglichen Sinneswahrnehmungen der Menschen, dürfen keine Wahrheitsansprüche stellen, da ihre Glaubenssätze nicht beweisbar sind. Hier liegt das entscheidende Problem der Theologen: Sie können sich lediglich auf den Glauben, auf sogenannte Offenbarungen berufen, ohne die Evidenz ihrer Dogmen nachweisen zu können. Doch ein Glaubenssatz, der keine Gewissheit besitzt und nicht von allen Menschen akzeptiert wird, gehört ins Reich der Fantasien. Was lediglich vom menschlichen Geist erschaffen wird und nicht an der Realität überprüft werden 64 Im Jahre 1797 attackierte der in den USA im Exil lebende Chemiker John Priestley seinen langjährigen Freund Volney äusserst heftig, als dieser sich in den Vereinigten Staaten aufhielt. Er warf dem Autor der »Ruines« in einem öffentlichen Brief Atheismus vor. Volney parierte die Angriffe Priestleys, indem er darlegte, dass er nie die Existenz Gottes geleugnet habe. Er zeigte sich erstaunt darüber, dass man ihm im Land der Freiheit verweigern wollte, seine Meinung frei zu äussern. Volney fühlte sich berechtigterweise als Sieger der Auseinandersetzung. (Siehe dazu: Gaulmier (1980), S. 385 ff.) 65 Volneys Überlegungen zum Ursprung der Religionen richten sich nach Antoine Court de G¦belin. Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, die ebenfalls eine natürliche Anlage des Menschen für religiöse Vorstellungen postulieren, waren Volney mit grosser Wahrscheinlichkeit unbekannt. Er war wie die meisten seiner französischen Zeitgenossen der deutschen Sprache nicht mächtig.

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kann, entbehrt jeglicher Legitimation, die Grundrechte der Menschen zu bestimmen: »D’o¾ il faut conclure que, p o u r v i v r e e n c o n c o r d e e t e n p a i x , il faut consentir — ne point prononcer sur de tels objets, — ne leur attacher aucune importance; en un mot, q u ’ i l f a u t t r a c e r u n e l i g n e d e d ¦ m a r c a t i o n e n t r e l e s o b j e t s v ¦ r i f i a b l e s et ceux q u i n e p e u v e n t Þ t r e v ¦ r i f i ¦ s , et s¦parer d’une barriÀre inviolable le m o n d e d e s Þ t r e s f a n t a s t i q u e s du monde des r¦alit¦s; c’est-—-dire qu’il faut ú t e r t o u t e f f e t c i v i l a u x o p i n i o n s t h ¦ o l o g i q u e s e t r e l i g i e u s e s .«66

Aufgrund dieser Überzeugung erlaubt Volney nicht, dass irgendeine Religion die Staatsangelegenheiten beeinflussen darf. Seine strikte Trennung zwischen Wahrheit und Fantasie führt ihn dazu, sich auf die für ihn evidenten Aussagen über die Natur des Menschen zu beschränken. Deshalb liegen auch ein ›Bildungstrieb‹, eine ›Lebenskraft‹ oder eine ›Seele‹, die eine Verbindung zwischen der empirisch erforschbaren Physis und den rein geistigen Vorgängen herstellen könnten, ausserhalb seiner Betrachtung, denn Aussagen über eine solche Verbindung wären rein hypothetisch. Entsprechend dieser strikten Zäsur bleibt bei Volney auch die Charakterbildung des Menschen ein Resultat äusserer Bedingungen. Geformt wird der Charakter durch klimatische und topografische Gegebenheiten, durch das gesellschaftliche Milieu sowie die institutionellen und politischen Strukturen eines Landes. Somit kommt dem ›Charakter‹ lediglich die Bedeutung von ›Nationalcharakter‹ zu, der zudem keine a priori gegebene Grösse ist, sondern stets verändert – und verbessert – werden kann. Im Grunde liessen sich alle Menschen zu demselben Charakter bilden, vorausgesetzt, die äusseren Bedingungen wären überall die gleichen.67 Die zu dieser Zeit in Deutschland so intensiv diskutierte ›innere Bildung‹ des Menschen, die nicht nur die intellektuelle Ausbildung und moralische Erziehung beinhalten soll, sondern in erster Linie die Persönlichkeitsbildung fördern muss, findet bei Volney keine Beachtung. Gerade Wilhelm von Humboldt, der unter der Bildung des Individuums eine harmonische Ausbildung der physischen, psychi66 Volney (1837)). Les ruines ou m¦ditation sur les r¦volutions des empires. S. 71. [»Um demnach in Frieden und Eintracht zu leben, muss man sich’s gefallen lassen, über solche Gegenstände nicht zu urtheilen, ihnen keine Wichtigkeit beizulegen; man muss, mit einem Worte, eine Grenzlinie ziehen zwischen den Gegenständen, welche zu erweisen stehen, oder nicht, und die Welt der Fantasie von der Welt der Wirklichkeiten durch eine unverletzliche Scheidewand trennen, das heisst: den theologischen und religiösen Meinungen allen Einfluss auf die bürgerliche Verfassung nehmen.« Volney (1834). Die Ruinen. S. 211.] 67 Volney ist davon überzeugt, dass sich sogar die Hautfarbe eines Menschen ändern würde, wenn er nur lange genug in anderen klimatischen Verhältnissen leben könnte, Er sieht diese Annahme bei den ursprünglich aus Europa stammenden Kolonialisten Süd- und Mittelamerikas bereits bestätigt, die im Laufe der Jahrhunderte eine dunklere Hautfarbe angenommen haben.

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schen und geistigen Kräfte versteht, muss sich von einer auf reine Vernunftsätze gestützte Bildungstheorie abgestossen fühlen. Für ihn, den Vertreter einer monistischen ›Weltanschauung‹, haftet den Ansichten des ›Id¦ologue‹ der Makel der Oberflächlichkeit an. Die Untersuchung des ›ganzen Menschen‹ darf nicht nur von der »raison« geleitet werden, sondern erfordert auch die Fähigkeit zur Empathie. Das Sich-Hineinfühlen-Können in andere Lebewesen ermöglicht seiner Meinung nach erst das Erkennen ihrer allgemeinen natürlichen Grundlagen.68 Demgegenüber spielt die Vernunft in Volneys Konzept eine eminent wichtige Rolle, da ja nur sie die Realität erkennen kann. Wie wir schon in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« festgestellt haben, empfand der ›Id¦ologue‹ ein tiefes Misstrauen gegenüber Intuitionen und allgemeinen Ideen. Seiner Ansicht nach sind sie ungeeignete Instrumente für das Erkennen der Wirklichkeit und müssen deshalb aus einem positiven Studium verbannt werden. Trotzdem fehlt in Volneys theoretischen Überlegungen eine Erörterung des Problems, wie der Mensch seine sinnlichen Wahrnehmungen geistig verarbeitet, und wie seine geistige Tätigkeit die sinnliche Wahrnehmung beeinflussen kann. Da der Trieb zur Selbsterhaltung das Grundprinzip für das natürliche und richtige Verhalten des Menschen bildet, müsste er auch mit der menschlichen Vernunft in Einklang gebracht werden. Doch obwohl Volney der Meinung ist, dass uns die reine Vernunft keine richtigen Erkenntnisse liefert, sondern, im Gegenteil, uns in die Irre führt, unterschlägt er die Antwort auf die wichtige Frage, wie denn unsere Vernunft mit den Sinneseindrücken zusammenhängt. Auf diese Weise bleibt die Vernunft eine abstrakte Kategorie, die aufgrund ihrer Abstraktheit eigentlich keine Berechtigung haben dürfte, uns die allgemeingültigen Regeln für das soziale Leben vorzugeben. Denn gerade die einseitige Fokussierung der ›ratio‹ war ja einer von den ›Id¦ologues‹ am schärfsten kritisierten Punkte an den Theorien der Aufklärer. Deshalb verblüffen uns heute an den »Ruines« wohl auch am meisten der ›naive‹ Optimismus des Franzosen, der noch 1791 der festen Überzeugung war, die beste Regierung liesse sich mithilfe weniger ›vernünftiger‹ Gesetze konstruieren. Erst später nahm er resigniert zur Kenntnis, dass Leidenschaft und Irrationalität die vernünftigen Entscheidungen der Menschen stets unterlaufen und nicht einfach zu eliminieren sind. Das »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« wird uns von Volneys Ernüchterung ein eindrückliches Zeugnis liefern. 68 »Allein, wenn wir gleich alle Dinge, uns selbst nicht ausgenommen, nur als Erscheinung und nicht ihrem Wesen nach kennen, so vermögen wir doch – unsre Vorstellung sei nun richtig oder nicht – uns gleichsam in die Natur jedes lebendigen Wesens zu versezen, uns nicht bloss vorzustellen, wie es uns erscheint, sondern auch, wie es wohl sich selbst in sich fühlt. Mit jedem lebendigen Wesen sind wir gleichsam verwandt, und erwarten in ihm nichts, als wovon wir wenigstens analoge Empfindungen haben.« (Wilhelm von Humboldt: Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 48 f.).

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Das Fehlen epistemologischer Überlegungen in Volneys Werk liegt möglicherweise an der vermehrten Arbeitsteilung der ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ im Rahmen der Reorganisationen des französischen Bildungswesens. Denn die Ausdifferenzierung der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen führte zwangsläufig zu einer verstärkten Spezialisierung der einzelnen Wissenschaftler. Auch Volney war treibende Kraft in der Umbildung der alten »Acad¦mie Royale« in das »Institut National« und der Gründung der »Ecole normale«. Die Unterteilung des Unterrichts an der »Ecole normale« in zwölf Sektionen gibt auch äusserlich die in Frankreich bereits weit gediehene Arbeitsteilung in den wissenschaftlichen Institutionen wieder.69 Gerade diese Arbeitsteilung machte die Modernität der naturwissenschaftlichen Forschung aus und wurde zu einem Garant für deren Fortschritt. Nicht zufällig bereitete sich Alexander von Humboldt in Paris auf seine grosse Amerikareise vor, und Paris wurde nach seiner Rückkehr für zwei Jahrzehnte der Mittelpunkt seines Schaffens. Denn selbst der so umfassend gebildete Alexander bedurfte zur Auswertung seiner gesammelten Daten eines Heeres von Spezialisten, da ihm das dazu notwendige detaillierte Wissen auf vielen Fachgebieten fehlte. Wie also sollte Volney das Ziel der »Soci¦t¦ des observateurs de l’homme« erreichen, die physischen, intellektuellen und moralischen Bedingungen des Menschen in ihrer Gesamtheit zu erforschen, wenn ihm das Wissen der meisten Disziplinen – verständlicherweise – fehlte? Seine eigenen Ansprüche, die er noch in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« an sich stellte, konnte er immer weniger erfüllen.

IV.2.c) »Tableau du climat et du sol des Etats-Unis« – die Menschheit am Rande der Geschichte Das »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis«70 war das Resultat von Volneys dreijähriger Reise durch die junge amerikanische Union, wo er anfänglich sein weiteres Leben verbringen wollte. In diesem Werk über die USA verschärft sich 69 Als Professoren an die neu gegründete »Ecole normale« wurden berufen: Lagrange und Laplace (Math¦matique), Hauy (Physique), Monge (G¦om¦trie descriptive), Daubenton (Histoire naturelle), Berthollet (Chimie), Thouin (Agriculture), Buache und Mentelle (G¦ographie), Volney (Histoire), Bernardin de Saint-Pierre (Morale), Sicard (Grammaire), Garat (Analyse de l’entendement), Laharpe (Litt¦rature). Trotz diesem illustren Kreis von Gelehrten existierte die »Ecole normale« nur wenige Jahre. (Siehe: Gaulmier (1980). Chapitre V; S. 308 f.) 70 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 630– 699. Bereits 1804 erschien eine deutsche Übersetzung von Theophil Friedrich Ehrmann, doch dieser hat den Text stark gekürzt und sehr frei übersetzt. Da ihm vor allem die Schilderungen der Indianer wichtig waren, liess er grosse Teile der physikalischen Beschreibung der USA weg. (Volney (1804).)

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das Problem in Bezug auf die mangelhafte Verknüpfung der verschiedenen physischen, intellektuellen und moralischen Bedingungen des Menschen. Die Motive für Volneys Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika sind bis heute nicht ganz geklärt. Als er im Juni 1795 Frankreich verliess, hatte seine Heimat eine Zeit fast anarchistischer Zustände hinter sich. Die Machtkämpfe zwischen Jakobinern, Royalisten und Thermidor-Aufständischen, die letztlich zur Entmachtung von Robespierre führten, hatten das Land in blutigen Terror gestürzt. Im Vorwort zu seinem »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« nennt Volney denn auch die Situation in Frankreich als Grund für seine Reise. Anders als 1783, als er seine friedliche Heimat in Richtung Ägypten verliess, um in jugendlicher Frische eine neue ›barbarische‹ Welt zu sehen, waren die Umstände seiner Amerikareise ganz anderer Art: »Dans l’an 3, au contraire (en 1795), lorsque je m’embarquais au Havre, c’¦tait avec le d¦go˜t et l’indiff¦rence que donnent le spectacle et l’exp¦rience* de l’injustice et de la pers¦cution. Triste du pass¦, soucieux de l’avenir, j’allais avec d¦fiance chez un peuple l i b r e , voir si un ami sincÀre de cette libert¦ profan¦e trouverait pour sa vieillesse un asile de paix dont l’Europe ne lui offrait plus d’esp¦rance.«71 * J’avais ¦t¦ dix mois dans les prisons, jusqu’aprÀs le 9 thermidor.

Ob tatsächlich nur die politischen Zustände in Frankreich ausschlaggebend waren für Volneys Abreise, ist nicht mehr eindeutig zu klären. Nachdem dieser sein Landgut ›Confina‹ auf Korsika verloren hatte, mit welchem er die landwirtschaftlich rückständige Insel reformieren wollte, hatte er offenbar grosse Geldsorgen. Möglicherweise waren es seine auf Korsika angehäuften Schulden, die zu seiner Inhaftierung im Winter 1793 / 94 führten, auch wenn Volney selbst seine Gefangennahme stets mit politischen Intrigen begründete. Eine weitere

71 Ibid. S. 630. [»Als ich mich im Gegensatz dazu im Jahre 3 (1795) in Le Havre einschiffte, geschah dies mit dem Ekel und der Gleichgültigkeit, welche das Schauspiel und die Erfahrung* der Ungerechtigkeit und Verfolgung boten. Traurig über die Vergangenheit, besorgt über die Zukunft, ging ich mit Misstrauen zu einem freien Volk, um zu sehen, ob ein aufrichtiger Freund dieser geschändeten Freiheit für sein Alter eine Zuflucht des Friedens finden würde, auf die ihm Europa keine Hoffnung mehr bot. (* Ich war zehn Monate lang im Gefängnis gewesen, bis nach dem 9. Thermidor.)«] Volney wurde am 16. November 1793 inhaftiert, aber wohl bereits im Februar 1794 wieder freigelassen. Die wahren Gründe für seine Inhaftierung sind nicht geklärt. Offenbar verbrachte er die letzten Monate seiner Haft auf relativ angenehme Weise bei Freunden in Paris, um sich von einer Krankheit zu erholen. Seine offizielle Entlassung erfolgte zwar erst am 16. September 1794 (30 fructidor an II), doch durfte er sich wahrscheinlich schon vorher frei bewegen. Jean Gaulmier ist der Ansicht, dass Volney die Umstände und Dauer seines Arrestes masslos übertrieben habe, um sich als zu Unrecht Verfolgter interessant zu machen. Er vermutet, Volney wurde nicht inhaftiert, weil er unter dem Verdacht royalistischer Gesinnung stand, sondern weil er Schulden hatte. (Siehe dazu: Gaulmier (1980). Chapitre V; S. 285 ff.)

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Erklärung für die fast fluchtartige Abreise72 des ›Id¦ologue‹ lässt sich vielleicht in den damals aufflammenden Konflikten zwischen Frankreich und den USA finden. Möglicherweise sollte Volney im Auftrag der französischen Regierung eine Annäherung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Grossbritannien, dem Kriegsfeind Frankreichs, verhindern. Doch auch ein landwirtschaftliches Projekt könnte der Grund für seine Reise gewesen sein, denn er beteiligte sich offenbar mit dem in den USA im Exil lebenden Talleyrand an Landspekulationen in Amerika. Wie dem auch sei, zunächst einmal hatte der optimistisch gestimmte Volney umfangreiche Reisepläne: »Ce fut dans ces dispositions que je visitai successivement presque toutes les parties des Êtats-Unis, ¦tudiant le climat, les lois, les habitants et leurs mœurs, principalement sous le rapport de la vie sociale et du bonheur domestique… et tel fut le r¦sultat de mes observations et de mes r¦flexions, que consid¦rant d’une part la perspective orageuse et sombre de la France et de l’Europe entiÀre; les probabilit¦s de guerres longues et opini–tres, — raison de la lutte ¦lev¦e entre des pr¦jug¦s au d¦clin et des lumiÀres croissantes; entre des despotismes vieillis et de jeunes libert¦s insurgentes;… d’autre part, l’avenir pacifique et riant des Êtats-Unis, de la facilit¦ — devenir propri¦taire, — raison de l’immense ¦tendue des terres — peupler ; de la n¦cessit¦ et des profits du travail; de la libert¦ des personnes et de l’industrie; de la douceur du gouvernement, fond¦e sur sa faiblesse mÞme; par tous ses motifs, j’avais pris la r¦solution de rester aux Êtats-Unis, lorsqu’au printemps de 1798, une ¦pid¦mie d’animosit¦ contre les FranÅais, et la menace d’une rupture imm¦diate, m’imposÀrent la loi de me retirer.«73

Die hier von Volney im Vorwort angesprochenen Schwierigkeiten zwischen Frankreich und den USA führten dazu, dass dieser im Juni 1798 fluchtartig den amerikanischen Kontinent verlassen musste. Bereits mit der Wahl von John 72 Volney hatte zwar seine Amerikareise schon länger vorbereitet, doch die endgültige Umsetzung seiner Pläne kam dann doch überraschend, nachdem es zunächst schien, als werde er seine politische Karriere in Frankreich erfolgreich fortsetzen. 73 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 630. [»Es war unter diesen Voraussetzungen, dass ich nach und nach fast alle Teile der Vereinigten Staaten besuchte und dabei das Klima, das Gesetz, die Bewohner und ihre Sitten, hauptsächlich in Bezug auf ihr soziales Leben und ihr häusliches Glück studierte… und so war das Ergebnis meiner Beobachtungen und meiner Überlegungen, dass ich einerseits die stürmischen und düsteren Aussichten Frankreichs und ganz Europas betrachtete: die Wahrscheinlichkeit langer und zäher Kriege aufgrund des erhabenen Kampfes zwischen den im Verfall begriffenen Vorurteilen und der zunehmenden Aufklärung; zwischen dem veralteten Despotismus und der jungen, sich erhebenden Freiheit; … andererseits die friedliche und frohe Zukunft der Vereinigten Staaten, die Einfachheit, Eigentümer zu werden aufgrund der enormen Grösse des zu besiedelnden Landes; die Notwendigkeit und der Nutzen der Arbeit; die Freiheit der Personen und des Gewerbes; die auf ihre eigene Schwachheit gegründete Milde der Regierung; aus all diesen Motiven hatte ich beschlossen, in den Vereinigten Staaten zu bleiben, als im Frühjahr 1798 eine Welle der Feindseligkeiten gegen die Franzosen und die Bedrohung durch einen unmittelbaren Bruch mir das Gebot auferlegte, mich zurückzuziehen.«]

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Adams zum amerikanischen Präsidenten im Dezember 1796 verschärfte sich die Stimmung gegen die Franzosen. Nun galt die konstitutionelle Monarchie Grossbritanniens als Vorbild für die Verfassung der USA, wodurch die französischen Kolonien in Gefahr gerieten. Zwangsläufig blieb auch Volney von Verdächtigungen nicht verschont. Die Amerikaner argwöhnten, er spioniere im Auftrag des »Directoire«, um den östlich vom Mississippi gelegenen Teil von Louisiana, der zum britischen Kolonialgebiet gehörte, wieder für Frankreich zu erwerben.74 Als im April 1798 der französische Aussenminister Talleyrand in der sogenannten »Affäre XYZ« unter den Verdacht der Erpressung amerikanischer Abgeordneter geriet, drohte gar ein Krieg zwischen den beiden einst freundschaftlich verbundenen Nationen.75 Auch Volney bekam die Konsequenzen dieser Affäre zu spüren und verlor das Vertrauen vieler seiner Freunde in Amerika. Ihn schützte nur noch die Freundschaft mit Thomas Jefferson, George Washington und dem Architekten William Thornton, und sogar Jefferson riet Volney zum Verlassen der USA. Amerika war für ihn kein Land der Freiheit mehr. Hingegen bot ihm Frankreich wieder eine neue Perspektive, denn während seiner Abwesenheit wurde Volney als Professor für die »Analyse des sensations et des id¦es«, an das ›Institut National‹ berufen – und die Hinterlassenschaften seines zwischenzeitlich verstorbenen Vaters und seines Stiefvaters76 befreiten ihn von seinen finanziellen Problemen. Enttäuschung und Ernüchterung prägten also die Heimreise des ›Id¦ologue‹. Seine vormaligen Hoffnungen, die USA böten ihm, dem von seiner Heimat Enttäuschten, eine Zukunft in Frieden und Prosperität, zerschlugen sich jäh. Diese persönlichen Erlebnisse blieben nicht ohne Wirkung auf das 1803 veröffentlichte »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis«. Der ursprüngliche Plan, den amerikanischen Reisebericht wie die »Voyage en Êgypte et en Syrie« in eine physische und politische Geografie des Landes aufzuteilen, wurde nie ausgeführt.77 So wirkt die Abhandlung, die in das eigentliche »Tableau« und die an74 Angesichts der von Volney stets bekämpften kolonialen Bestrebungen Frankreichs war dieser Verdacht absurd. Volney vertrat die Ansicht, dass sich Kolonialbesitz auf lange Sicht ökonomisch nicht auszahlt. Zudem wäre der Besitz von Kolonien mit der Forderung nach Freiheit und Gleichheit aller Menschen nicht vereinbar. Ausdrücklich verteidigt sich Volney gegen diesen Vorwurf in einer Fussnote des Vorwortes. (Siehe: Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 630 f; Anm. 1.) 75 Siehe dazu auch: Gaulmier (1980), S. 395 ff. 76 Gemeint ist der zweite Ehemann seiner Stiefmutter. 77 »Dans le plan que je traÅai, je posais d’abord pour base le climat et le sol; puis suivant la m¦thode que je crois la plus riche en r¦sultats (celle par ordre de matiÀres), je consid¦rais la quantit¦ de la population; sa r¦partition sur le territoire, sa distribution en genres de travail et d’occupation: les habitudes, c’est-—-dire les m œ u r s , r¦sultant de ces occupations; la combinaison de ces habitudes avec les id¦es et les pr¦jug¦s de l’origine premiÀre.« (Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 631.) [»In dem Plan, den ich entworfen habe, setzte ich zuerst das Klima und den Boden als Grundlage fest; danach, der Methode

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gehängten »Êclaircissements sur divers articles indiqu¦s dans l’ouvrage qui pr¦cÀde«78 zerfällt, lückenhaft und eigentümlich zerrissen.79 Volneys Reisewerk enthält im Wesentlichen klimatische und topografische Beschreibungen Nordamerikas, von den grossen Seen im Norden bis Florida im Süden. Er konzentriert sich dabei vor allem auf Untersuchungen der Windverhältnisse, Meeresströmungen und Gebirgszüge im Osten des Halbkontinents. Hingegen beschränkt sich die Schilderung der Bevölkerung, ihrer sozialen und moralischen Lebensbedingungen, der politischen Verwaltung oder kulturellen Institutionen auf ein Minimum. Lediglich in fünf Artikeln der »Êclaircissements« geht er auf historische, soziale, kulturelle und politische Themen ein. In den beiden kurzen Beiträgen »Sur la Floride«80 und »Sur l’histoire de NewHampshire«81 rezensiert er verschiedene Berichte über den Einfluss des Klimas und der Umwelt auf die Krankheiten der Menschen sowie über die ersten Siedler in Nordamerika. Die Artikel drei und vier – »Gallipolis, ou colonie des FranÅais sur l’Ohio«82 und »De la colonie du Poste-Vincennes sur la Wabash; et des colonies franÅaises sur le Mississipi et le lac Êrie«83 – schildern die mehrheitlich negativen Eindrücke Volneys von den französischen Siedlungen, welche die von ihren Gründern anfänglich in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben. Nur der letzte Artikel, »Observations g¦n¦rales sur les Indiens ou sauvages de L’Am¦rique-Nord, suivies d’un vocabulaire de la langue des M i – m i s , tribu ¦tablie sur la Wa b a s h «,84 greift eine soziale Problematik, diejenige der vom Aussterben bedrohten Ureinwohner Nordamerikas, etwas ausführlicher auf.

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folgend, die ich für die an Ergebnissen reichste halte (diejenige nach der Ordnung der Gegenstände), betrachtete ich die Menge der Bevölkerung; ihre Aufteilung auf das Territorium, ihre Verteilung nach Art der Arbeit und Beschäftigung: Die Gewohnheiten, das heisst die Sitten, die aus diesen Beschäftigungen resultieren; die Verknüpfung dieser Gewohnheiten mit den Ideen und Vorurteilen über den ersten Ursprung.«] Volney (1989). Êclaircissements sur divers articles indiqu¦s dans l’ouvrage qui pr¦cÀde. Tome II. S. 699 – 731. Auch Anne Deneys sieht im enttäuschenden Verlauf und dem abrupten Ende der Amerikareise einen Grund dafür, dass das »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« Fragment geblieben ist. (Anne Deneys: G¦ographie, Histoire et Langue dans le Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. In: C.-F. Volney : (1757 – 1820) / textes, ¦tudes, documents et notes r¦unis et pr¦sent¦s par Henry Deneys et Anne Deneys, A. (1989), S. 73.) Volney (1989). Êclaircissements sur divers articles indiqu¦s dans l’ouvrage qui pr¦cÀde. Tome II. S. 699 – 701. Ibid. S. 701 f. Ibid. S. 702 – 704. Ibid. S. 704 – 709. Ibid. S. 709 – 731. Das Wörterverzeichnis mit der französischen Übersetzung und der, nur auf der ersten Seite, englischen Schreibweise der Sprache der Miami-Indianer umfasst nicht einmal drei Seiten. Ähnlich wie schon in früheren Publikationen betonte Volney bei dieser Gelegenheit seinen Standpunkt, dass es angesichts der unterschiedlichen französischen und englischen Schreibweise der Wörter in der Miami-Sprache eines neuen, einheitlichen Alphabets bedürfe. Ein universales Alphabet, welches die Phoneme aller Sprachen in gleich-

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Doch waren wirklich nur persönliche Enttäuschungen über die Zustände in den USA dafür verantwortlich, dass Volney sein Werk nicht wie geplant vollendete? Gewiss, die Erfahrung, dass auch der auf ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ gegründete Staat eine neue ökonomische und politische Elite hervorbrachte, die sich sehr bald Privilegien zu sichern wusste, dass das Bildungssystem der USA nicht besser war als dasjenige von Frankreich, dass auch in Übersee nationale und konfessionelle Vorurteile bestehen blieben oder dass die Verelendung und ›Verrohung‹ der indianischen Urbevölkerung dramatische Ausmasse angenommen hatten,85 bewirkten bei Volney eine ablehnende Haltung gegenüber der amerikanischen Gesellschaft. So ist es nachvollziehbar, dass er sich auf die Darstellung objektiver Fakten und stichhaltiger Hypothesen beschränkte. Weitere Gründe für die Nichtvollendung des Werkes lagen womöglich auch in einer Erkrankung des ›Id¦ologue‹ während der Veröffentlichung des »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« im Jahre 1803, in der Befürchtung vor Repressionen seitens Napoleon Bonapartes, mit dem Volney gebrochen hatte, nachdem sich dieser zum Konsul auf Lebenszeit ernennen liess,86 und in der Rücksichtförmiger Weise wiedergibt, war eine Lieblingsidee des ›Id¦ologue‹. Es zeigt sich darin ein gewisser kultureller Imperialismus, denn Volneys Vorbild und Massstab war selbstredend die französische Aussprache. Deshalb forderte er stets von den anderen Sprachen eine ›Verbesserung‹ ihrer Schreibweise, manchmal gar ein neues Alphabet. Selbst im »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« änderte er die englische Orthografie der Namen, indem er sie gemäss der französischen Aussprache niederschrieb. Zum Beispiel schrieb er in der ersten Ausgabe die englischen Wörter »street« oder »white« nach ihrer ›wahren‹ Aussprache in der Form »strit« und »ouat«! Der Herausgeber Adolphe Bossange machte diese Änderungen in den späteren Ausgaben wieder rückgängig, da sie nur Verwirrung stifteten. 85 Ganz nüchtern prognostiziert Volney, dass die Indianer wohl bald vom nordamerikanischen Kontinent verschwunden sein werden. Seine Idee, die Sprachen der indianischen Stämme in Wörterverzeichnissen zu erfassen, hatte zum Ziel, die noch vorhandenen Überreste für die vergleichende Sprachwissenschaft zu erhalten. Die traditionelle Lebensweise der Indianer hingegen hielt er nicht für erhaltenswert. Seiner Meinung nach hatten die amerikanischen Ureinwohner nur die Wahl zwischen der Anpassung an die sesshafte Lebensweise der Europäer oder ihrem unwiederbringlichen Untergang. 86 Volney gibt uns im Vorwort nur vage Andeutungen darüber : »Tel ¦tait le plan dont j’avais trac¦ l’esquisse, et dont quelquels parties d¦j— ¦taient assez avanc¦es: mais entrav¦ par les affaires tantút priv¦es et tantút publiques, arri¦r¦ surtout depuis un an par de graves incommodit¦s, j’ai senti que le temps et les forces me manquaient pour porter le travail — son terme, et je me suis d¦cid¦ — ne publier que le Ta b l e a u d u c l i m a t e t d u s o l , qui, sans nuire au reste, peut en Þtre s¦par¦.« (Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 632.) [»So war der Plan, den ich als Skizze entworfen hatte und von dem bereits einige Teile sehr fortgeschritten waren: Aber gehindert sowohl durch private als auch durch öffentliche Angelegenheiten, vor allem seit einem Jahr wegen schwerer Unpässlichkeiten in Rückstand geraten, habe ich gespürt, dass mir die Zeit und die Kräfte fehlten, um die Arbeit zu ihrem Abschluss zu bringen, und ich habe entschieden, nur das ›Tableau du climat et du sol‹ zu veröffentlichen, welches, ohne dem Rest zu schaden, auch abgetrennt werden kann.«] Mit den »affaires publiques« dürfte Volney auf die unter Napoleon Bonaparte eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit anspielen.

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nahme auf seinen Freund Thomas Jefferson, der sich damals in einer heiklen politischen Situation befand.87 Aber neben diesen äusseren Gründen dürfte es noch andere Veranlassungen für das Fehlen der ›politischen Geografie‹ über die USA gegeben haben. Erinnern wir uns an Volneys früher angewandte Methode der Analyse, Rekomposition und Reflexion bei der Schilderung eines Landes und seiner Bewohner, so wird augenfällig, dass die Rekomposition im »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« nicht mehr gelingt. Der umfassende Zusammenhang von Natur und Kultur, wie er noch in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« und in den »Ruines« dargestellt wird, scheint endgültig zerbrochen zu sein. Mag sein, dass Volney angesichts des blutigen Terrors in Frankreich, der immer wieder aufflammenden Zwistigkeiten zwischen den Parteien, der ständigen Koalitionskriege in Europa und der despotischen Herrschaft Napoleon Bonapartes88 den Glauben an einen letztlich positiven Verlauf der französischen Revolution verloren hatte und vorerst nicht mehr gewillt war, sich mit politischen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit auseinanderzusetzen. Doch scheint mir, dass der Bruch zwischen der Naturbeschreibung Amerikas und den lediglich als kurze Erläuterungen angehängten historischen und kulturellen Streiflichter auf die amerikanische Gesellschaft tiefere Ursachen hat. Wird in den früheren Werken die zukünftige freie und gerechte Gesellschaft als logische Konsequenz der Naturgesetze aufgefasst, so zeigt sich nun ein anderes Bild. Die Geschichte der Menschheit erscheint jetzt ohne eigentliche Entwicklung, gleichsam zersplittert in immerwährende Kämpfe der Menschen untereinander oder gegen die Natur. Der Einzelne sowie die Gesellschaft sind stets vom Untergang bedroht. Nicht nur der Indianer, der sich aufgrund seiner traditionellen Lebensweise gegen die in sein Land vordringenden Kolonialisten nicht zur Wehr setzen kann, oder der im ungesunden Klima siedelnde französische Kolonialist in Gallipolis, sondern auch der ›freie‹ US-Bürger in Philadelphia oder Boston ist stets in Gefahr, seine erkämpften Rechte durch Parteikämpfe, Vorurteile und Habgier zu verlieren. Bereits im Vorwort schildert 87 1803 kauften die USA im sogenannten »Louisiana Purchase« das gesamte Territorium des damaligen Louisiana von Frankreich. Durch den Kauf hatten die USA ihre Fläche mehr als verdoppelt. Napoleon entschied sich aber erst zu diesem Verkauf, nachdem Frankreich durch die Aufstände in seinen Kolonien und dem drohenden Krieg mit Grossbritannien in eine aussenpolitisch höchst prekäre Lage geraten war. 88 Die Freundschaft zwischen Volney und Napoleon Bonaparte, die sich aus gemeinsamen Zeiten auf Korsika kannten, zerbrach endgültig, als sich Napoleon zum Konsul auf Lebenszeit ernennen liess und damit seine praktisch absolute Herrschaft begründete. Volney versagte ihm von nun an jegliche Unterstützung seiner Regentschaft und zog sich aus seinen politischen Ämtern zurück. Angeblich hat ein heftiger Streit zwischen Napoleon und Volney, bei dem Ersterer dem ›Id¦ologue‹ einen Fusstritt in den Bauch versetzt haben soll, unwiderruflich zu diesem Rückzug geführt. Belegen lässt sich diese Anekdote allerdings nicht.

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Volney, wie innerhalb kürzester Zeit die Amerikaner ihre blutig erkämpfte Unabhängigkeit zu verlieren drohten, da sie sich, durch ihre europäische Abstammung noch immer geprägt von nationalen und kulturellen Unterschieden, nicht einig waren über die politische Zukunft des Landes. Die kurze Geschichte der USA, die in den »Ruines« noch als leuchtendes Vorbild für die gesamte Menschheit gelten konnte, verliert im »Tableau du climat et du sol des ÊtatsUnis« offenbar ihre Bedeutung. Die in Amerika erfahrenen Intrigen und Ungerechtigkeiten führen den Autor dazu, seine frühere Ideologie kritisch zu überdenken. Da seine Vorstellung eines freien und gerechten Amerika der Wirklichkeit nicht standhält, werden seine gesammelten Erfahrungen belanglos, scheinen sie doch irrelevant für die angestrebte bessere Gesellschaft zu sein. Die Einsicht in die ›Fehler der Geschichte‹ hat nicht automatisch deren Aufhebung zur Folge. Der Traum einer besseren Gesellschaft hat sich noch lange nicht erfüllt, mehr noch, die Möglichkeit einer Erfüllung dieses Traumes ist fragwürdig geworden. Stattdessen verdrängt eine andere Geschichte die Menschheitsgeschichte – nämlich die jahrtausendealte Geschichte der Erde. Volney beginnt sein »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« mit einer topografischen Beschreibung des bereisten Landes, wobei er zunächst einmal die Grenzen seines Untersuchungsgegenstandes skizziert. Das erste Kapitel beginnt unter dem Titel »Situation g¦ographique des Êtats-Unis, et superficie de leur territoire« mit dem nüchternen Satz: »Pour donner l’id¦e la plus simple de la situation g¦ographique des Ê t a t s - U n i s , je devrais dire que leur territoire occupe cette partie de l’Am¦rique du nord, qui a pour bornes, — l’orient, l’oc¦an d’Afrique et d’Europe; au midi, la mer des Antilles et le golfe du Mexique; au couchant, le g r a n d f l e u v e de la Louisiane; au nord enfin, celui du Canada, et les cinq grands lacs dont il tire ses eaux.«89

Emotionslos, ohne sprachliche Brillanz, vermittelt Volney dem Leser einen Überblick über die Geografie der USA, indem er in langen, parataktischen Sätzen die Charakteristiken des Landes aufzählt. Das Geschilderte wird systematisch unterteilt, handelt es sich nun um Bodenverhältnisse, Windströmungen, Vegetationszonen oder Temperaturverhältnisse. Die farblosen Aufzählungen bieten keinen Raum für anschauliche Landschaftsbeschreibungen oder gar ro-

89 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 633. [»Derjenige Strich Landes von Nordamerika, welcher gegen Morgen an den Afrikanischen und Europäischen Ocean, gegen Mittag an das Meer der A n t i l l e n und den Mexikanischen Meerbusen, gegen Abend an d e n g r o s s e n F l u s s v o n L u i s i a n a , gegen Mitternacht an den Fluss von Kanada und die fünf grossen Seen, aus denen er sein Wasser empfängt, gränzt, sind die v e r e i n i g t e n S t a a t e n . Dies ist der einfachste Begriff von der geographischen Lage derselben.« Volney (1804), S. 3 f.]

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mantische Natureindrücke. Noch vehementer als in der »Voyage en Êgypte et en Syrie« schliesst der Autor gefühlvolle Übertreibungen aus.90 Sehr aufschlussreich ist zum Beispiel die Schilderung der Niagarafälle. Obwohl fasziniert von dem einmaligen Naturschauspiel, verzichtet er auf eine Berichterstattung seiner persönlichen Eindrücke. Stattdessen zitiert er eine Passage aus dem amerikanischen Reisebericht des Engländers Isaac Weld,91 vermutlich deshalb, weil er einer Preisgabe seiner eigenen Emotionen entgehen wollte. Es scheint, als fürchte sich Volney geradezu vor ›unwissenschaftlichen‹, die Wirklichkeit verzerrenden Gefühlsäusserungen. So beginnt er das Kapitel »De la chute de Niagara et de quelques autres chutes remarquables« mit den distanzierenden Worten: »Quelques voyages publi¦s r¦cemment ont d¦j— donn¦ sur la chute de Niagara des d¦tails propres — faire conna„tre ce ph¦nomÀne gigantesque; mais parce qu’ils me paraissent s’Þtre attach¦s — en d¦crire plutút l’imposant spectacle que les circonstances topographiques, dont n¦anmoins il n’est que l’effet, je crois devoir m’occuper sp¦cialement de cette derniÀre partie, qui a son genre d’int¦rÞt.«92

Beinahe abfällig wischt Volney das Spektakuläre des Naturschauspiels beiseite. Viel wichtiger ist es ihm, die Ursache des Phänomens zu erklären und die Zusammenhänge zwischen dem kleinen Gefälle des 700 Meter breiten Flusses, bedingt durch das riesige Plateau zwischen Ohio und Eriesee, und dem abrupten tektonischen Bruch vor dem Ontariosee, welcher etwa 50 Meter tiefer liegt als das Plateau, aufzuzeigen. Bei der Beschreibung der Niagarafälle stehen also die 90 So mokiert er sich beispielsweise über die zu poetische Beschreibung Floridas des englischen Botanikers Bartram: »A mesure que l’on remonte vers l’int¦rieur [de la Floride], le pays devient plus collineux, le sol plus rocailleux, et aussi moins fertile, comme l’attestent les arbres de sa fúret, l’ilex, le pin, le sapin, les chÞnes rouge et noir, le magnolia, les cÀdres rouge et blanc, le cyprÀs, et une foule d’arbustes indigÀnes des pays chauds. Un voyageur botaniste anglais en a fait un vrai paradis terrestre; mais en renvoyant ses descriptions po¦tiques aux romans sentimentaux, ce sera traiter raissonablement ce pays, que de le comparer au Portugal ou — la cúte de Barbarie, et assur¦ment ce lot est beau.« (Ibid. S. 636 f.) [»So wie man aber weiter ins Innere kommt, so wird der Boden bergigter, steinigter und weniger fruchtbar. Dies beweisen die Bäume, die hier wachsen, die Stechpalme, Fichte, Tanne, roth und weisse Eiche, Magnolia, rothe und weisse Ceder, Cypresse und eine Menge Sträuche, die in diesem warmen Lande einheimisch sind. Man könnte es mit Portugall oder den Küsten der Barbarei vergleichen, woraus man sehen kann, in wie fern die Beschreibungen des Englischen Botanikers Bartram gegründet sind, der diese Gegend als ein irdisches Paradies schildert.« Ibid. S. 21 f.] 91 Ibid. S. 653 f. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem Kapitel VI von Isaac Welds »Voyage au Canada«. 92 Ibid. S. 652. [»Der Wasserfall bei N i a g a r a ist zwar schon von vielen Reisenden beschrieben worden, allein ihre Beschreibungen sind immer nur so, dass sie durch das Wunderbare und Grosse auf die Phantasie des Lesers wirken. Ich werde mich hingegen bloss auf das Topographische einschränken, das meiner Ueberzeugung nach nicht minder interessant ist.« Ibid. S. 70.] Volney weist auf die Reisebeschreibungen von La Rochefoucauld-Liancourt und Isaac Weld hin.

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topografischen und hydrologischen Bedingungen im Vordergrund. Volney ist deshalb nicht bestrebt, dem Leser Impressionen seiner Reise zu vermitteln, sondern will ihm lediglich eine möglichst präzise Wiedergabe der vorgefundenen Sachverhalte unterbreiten. Völlig unbeteiligt rapportiert der ›Id¦ologue‹ das Gesehene, als ginge es ihm darum, ein Inventar des Landes zu erstellen. Auch für die exakte Prüfung der Fakten tritt Volney noch nachdrücklicher ein als in der »Voyage en Êgypte et en Syrie«. Immer wieder überprüft er kritisch die in den Schriften über Amerika geäusserten Behauptungen und errechneten Messdaten. Ungenaue Angaben oder vorschnell aufgestellte Hypothesen werden aufs Schärfste zurückgewiesen. Das Studium der Literatur, sowohl vor, während und nach der Reise,93 ist zwar ein wichtiger Bestandteil von Volneys wissenschaftlicher Arbeit, doch viel wichtiger ist die eigene Erfahrung und Autopsie. Besonders deutlich wird dies an jener Stelle des »Tableau«, wo der ›Id¦ologue‹ die Behauptung Cornelis de Pauws zurückweist, die Luftfeuchtigkeit sei in den USA grösser als in Europa. Bei dieser Gelegenheit übt Volney scharfe Kritik an den Stubengelehrten, welche aus wenigen ungeprüften Daten allgemeine Systeme herleiten: »C’est un ¦trange livre que les Recherches de M. Paw [sic] sur les Am¦ricains. A mon retour d’Am¦rique, j’ai voulu le lire pour profiter de tant de lumiÀres dont on lui fait honneur ; mais lorsque j’ai vu avec quelle confiance il adopte des faits faux, avec quelle hardiesse il en tire des cons¦quences chim¦riques, ¦tablit et soutient des paradoxes divergents, et avec quelle acrimonie il attaque d’autres ¦crivains, j’avoue que le livre m’est tomb¦ des mains. Je ne conÅois pas comment du fond d’un cabinet on ose ¦crire avec assertion sur des faits qu’on a pas vus, sur des t¦moignages insuffissants ou contradictoires; pour moi, plus j’ai vu le monde et multipli¦ mes observations, plus je suis convaincu q u e r i e n n ’ e s t p l u s d ¦ l i c a t e t p l u s r a r e q u e d e s a i s i r l e s objets, surtout compliqu¦s, sous leurs v¦ritables faces et sous leurs vrais rapports : qu’il est presque impossible de parler raisonnablement du systÀme g¦n¦ral d’un pays ou d’une nation sans y avoir v¦cu : qu’il en est de mÞme, est encore pis, pour les temps pass¦s, et que le plus grand obstacle aux progrÀs des lumiÀres est l’esprit de certitude, qui jusqu’ici a fait la base de l’¦ducation c h e z p r e s q u e t o u s l e s p e u p l e s . «94 93 Siehe dazu: Gaulmier (1980), S. 466 f. Überraschend ist, dass Volney auf das wohl wichtigste Werk des 18. Jahrhunderts über Amerika, William Robertsons »History of America« von 1777, nicht eingeht. Doch ist kaum anzunehmen, dass er es nicht kannte. Wahrscheinlich erwähnt er Robertson absichtlich nicht, um allzu augenfällige Parallelen zu verschleiern. Zum möglichen Einfluss von Robertson auf Volneys »Tableau« siehe auch: Moravia (1989a), S. 193 ff. 94 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 680; Anm. 1. [»Die Untersuchungen über die Amerikaner von Herrn de Pauw sind ein seltsames Buch. Nach meiner Rückkehr aus Amerika wollte ich es lesen, um aus den grossen Einsichten, für die man es gewürdigt hat, Nutzen zu ziehen; aber als ich gesehen habe, mit welchem Vertrauen er

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Wir können aus dieser Fussnote ersehen, dass Volney auch in seinem Werk über Amerika den Vorgaben der ›Id¦ologues‹ verpflichtet ist, wie sie Destutt de Tracy formuliert hat. Er verficht nach wie vor eine kritische Haltung gegenüber dem »esprit de systÀme«, da dieser zu voreiligen Theorien verführt, die der Realität nicht standhalten. Nur derjenige, der eigene Erfahrungen gemacht hat und seine Ergebnisse immer wieder selbstkritisch in Zweifel zieht, darf sich als Wissenschaftler bezeichnen.95 falsche Tatsachen übernommen hat; mit welcher Kühnheit er daraus trügerische Schlüsse gezogen, festgesetzt und voneinander abweichende Widersprüche behauptet hat, und mit welcher Schärfe er andere Schriftsteller angegriffen hat, da, ich gebe es zu, ist mir das Buch aus den Händen gefallen. Ich verstehe nicht, wie man es in der Tiefe eines Kabinetts wagt, über Dinge, die man nicht gesehen hat, zu schreiben, gestützt auf ungenügende oder widersprüchliche Zeugnisse; je mehr ich die Welt gesehen und meine Beobachtungen vervielfacht habe, desto mehr bin ich überzeugt, dass nichts heikler und seltener ist als die Gegenstände zu begreifen, vor allem die, deren wahren Gesichter und deren wahren Beziehungen verwickelt sind: Dass es fast unmöglich ist, über allgemeine Systeme eines Landes oder einer Nation vernünftig zu sprechen, ohne dort gelebt zu haben: dass dasselbe gilt, und noch in grösserem Masse, für die vergangenen Zeiten; und dass das grösste Hindernis für den Fortschritt der Aufklärung der Geist der Gewissheit ist, der bis jetzt fast bei allen Völkern den Grundstein der Bildung ausgemacht hat.«] 95 In einem Brief an den französischen Minister Bourgoing in Dänemark vom 20. Februar 1801 (1er ventúse an 9) bedankt sich Volney für dessen Unterstützung bei der Erforschung der Windverhältnisse in Schweden, die einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie der Windsysteme liefern sollte. Bei dieser Gelegenheit erläutert der ›Id¦ologue‹ erneut die Grundlagen seines wissenschaftlichen Denkens: »Quant au reproche d ’ e s p r i t s y s t ¦ m a t i q u e , j’en suis peu affect¦, parce que je ne me sens point du tout atteint de l’engouement qui en fait le vice et le ridicule. – A vingt ans j’avais des systÀmes dont j’¦tais trÀs-persuad¦. – Nos maitres, vous le savez, citoyen ministre, nous enseignaient — ne point douter, — tout prouver par a t q u i et e r g o , — tout expliquer sans demeurer — q u i a ; mais — mesure que l’exp¦rience a refait mon ¦ducation, j’ai vu qu’il fallait renoncer — l’esprit doctoral, et s’il m’est rest¦ une doctrine — suivre et — prÞcher, c’est celle de douter beaucoup, de ne pas Þtre press¦ d’ a s s u r e r , et d’Þtre toujours prÞt — revoir la question et — ¦couter d’autres faits. AprÀs cela, je n’ai pas n¦anmoins la duperie d’accorder — mes adverses plus d’infaillibilit¦ qu’— moi; et quel que soit d’ailleurs leur m¦rite, s’ils n’ont pas fait une ¦tude particuliÀre de la question en d¦bat, s’ils pr¦tendent en juger par aperÅu et analogie, je leur r¦torque — mon tour l’esprit de systÀme, et j’invoque le jury des faits; car je suis, selon l’expression de S***, de l a f a c t i o n d e s f a i t s .« Ibid. S. 698 f; Appendix. [»Was den Tadel des Systemgeists betrifft, bin ich davon kaum berührt, weil ich mich überhaupt nicht von der Schwärmerei betroffen fühle, die den Mangel und das Lächerliche daran ausmacht.– Mit zwanzig Jahren hatte ich Systeme, von denen ich sehr überzeugt war.– Unsere Lehrmeister, sie wissen es, Bürger-Minister, lehrten uns nicht zu zweifeln, alles zu beweisen mit ›und dazu‹ und ›also‹, alles zu erklären, ohne sich mit dem ›weil‹ aufzuhalten; aber in dem Masse wie die Erfahrung meine Bildung verbessert hat, habe ich gesehen, dass man den doktrinären Geist aufgeben muss, und wenn mir eine Doktrin zu befolgen und zu predigen bleibt, dann diejenige, vieles zu bezweifeln, sich mit Versicherungen nicht zu beeilen, und immer bereit zu sein, die Frage zu überprüfen und andere Tatsachen zu belauschen. Demgemäss begehe ich dennoch nicht den Betrug, meinen Feinden mehr Unfehlbarkeit zuzugestehen als mir ; und wie auch immer ihr Verdienst sei, wenn sie keine spezielle Untersuchung der zur Debatte stehenden Frage gemacht haben, wenn sie behaupten, darüber mit Überblick und Analogie zu urteilen, dann unterstelle ich ihnen meinerseits

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Trotz dieser strengen Grundsätze kann auch Volney nicht auf Hypothesen verzichten, die noch nicht geprüft worden sind. Nachdem er die Gebirge, Flüsse und Bodenverhältnisse der USA skizziert hat, wendet er sich dem Gebiet der Meteorologie sowie diversen Untersuchungen der Meeresströmungen und Windverhältnissen zu. Hier zeigt sich, dass auch Volney seine Beschreibungen auf Mutmassungen stützen muss. Sobald er keine sichtbaren und greifbaren Objekte mehr erforschen kann, sieht er sich gezwungen, seine ›objektive‹ Darstellung anhand ungesicherter Theorien zu erläutern. Wir sehen dies sehr deutlich am Beispiel seiner Erklärung, wie Gewitter entstehen: »Il est encore assez bien d¦montr¦ que lorsque des nuages diversement charg¦s s’approchent et se touchent, il se produit entre eux une action tendante — mettre en ¦quilibre le fluide ¦lectrique ou ign¦ et tout autre gaz; que dans cette action le fluide ¦lectrique ne se conduit pas aussi lentement que l’air ou l’eau; qu’— raison de son excessive t¦nuit¦ toutes ses parties se mÞlent — la fois, et que leur d¦gagement de toute autre combinaison est subit et simultan¦; l’effet de ce d¦gagement sur l’eau qui est combin¦e, et de l’abandonner — sa pesanteur naturelle; de l— ces gouttes de pluie plus ou moins grosses qui suivent — la fois, et l’¦clair dont la lumiÀre montre le pur fluide ign¦ au moment o¾ il se d¦gage, et le coup de tonnere dont le bruit est le choc de l’air qui se pr¦cipite dans le vide form¦ par la condensation o¾ r¦duction de la vapeur en eau.«96

Die Zuhilfenahme eines elektrischen Fluidums, eines »pur fluide ign¦«, zeigt, wie Volney die Grenzen des Beobachtbaren überschreitet. Obwohl er den Eindruck erweckt, seine Aussagen enthalten nichts, was nicht bereits bewiesen sei, so kann er diese trotzdem nicht mit wissenschaftlichen Quellen untermauern. Woher er sein Wissen – oder Halbwissen – hat, erfährt der Leser nicht. Doch sicher ist, dass der ›Id¦ologue‹ selbst keine physikalischen Experimente durchgeführt hat. Ein ähnliches Vorgehen sehen wir, wenn Volney etwa den Golfstrom beschreibt, den er ebenfalls nicht selbst untersucht hat. Er liefert dem Leser zwar eine Reihe von Messdaten und Beobachtungen anderer Forschungsreisender, dennoch überschreitet er die Grenzen des empirisch Erforschten und Evidenten. Volney Systemgeist, und ich rufe das Preisgericht der Tatsachen an; denn ich bin, nach der Äusserung von S***, von der Partei der Tatsachen.«] 96 Ibid. S. 672. [»Es ist schon ausreichend gezeigt worden, dass, wenn verschieden geladene Wolken sich nähern und berühren, sie zwischen sich eine Spannung erzeugen, um das elektrische oder brennbare Fluidum und alle anderen Gase ins Gleichgewicht zu bringen; dass sich in dieser Aktion das elektrische Fluidum nicht so langsam verhält wie die Luft oder das Wasser ; dass sich aufgrund seiner übermässigen Dünne alle seine Teile auf einmal miteinander vermischen, und dass seine Freisetzung aller anderen Verbindungen augenblicklich und gleichzeitig erfolgt; die Wirkung dieser Freisetzung auf das Wasser, das zusammengesetzt ist, und dessen Abtreten an die natürliche Schwerkraft; daher diese mehr oder weniger schweren Regentropfen, die zugleich folgen, und der Blitz, dessen Licht in dem Augenblick das reine brennbare Fluidum zeigt, wo es sich freisetzt, und der Donnerschlag, dessen Lärm aus dem Zusammenstoss der Luft entsteht, die sich in die Leere fortsetzt, welche durch die Kondensation gebildet wird, wobei sich der Dampf in Wasser reduziert.«]

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beteiligt sich entgegen seiner stets geäusserten Versicherung, sich nur auf überprüfte Fakten zu verlassen, an den Spekulationen über die Einflüsse des Golfstroms auf das Klima der Erde. Auf noch unsichereres Terrain begibt er sich schliesslich, wenn er das Phänomen von Ebbe und Flut zu analysieren versucht. Seine Annahme, dass der Mond dabei eine gewisse Rolle spielt, ist zwar richtig, doch begründen kann er sie nicht. Die Theorien über die Entstehung der Gezeiten waren zur damaligen Zeit noch heftig umstritten und oft wurden sie in der breiten Öffentlichkeit wie Glaubensfragen diskutiert. Wir können also feststellen, dass der Autor im Laufe der Abhandlung das Gebiet gesicherter Erkenntnisse verlässt und sich in den Bereich des Spekulativen vorwagt. Der Beschreibung der sichtbaren Oberfläche des Landes widmet er immer weniger Aufmerksamkeit. Stattdessen gewinnt die Darstellung der unterirdischen Erdschichten und der prähistorischen Gestalt des amerikanischen Kontinents mehr Raum. Der Rahmen der anfangs auf die Gegenwart bezogenen Untersuchung wird dadurch sowohl räumlich als auch zeitlich gesprengt. Volney versucht immer öfter, das gegenwärtige Erscheinungsbild der Erde aus früheren Vorkommnissen zu erklären. In den Blickpunkt geraten somit die Revolutionen in der Erdgeschichte, so zum Beispiel die gigantischen Veränderungen der Gebirgsformationen, die Klimaveränderungen oder Meereseinbrüche. Exemplarisch für die Erweiterung des Zeithorizontes im »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« ist die Beobachtung des ›Id¦ologue‹, dass die meisten Gebirge der USA in Nord-Süd-Richtung, die grösseren Flüsse jedoch in West-Ost-Richtung verlaufen. Daraus zieht der Autor die Schlussfolgerung, die Flüsse müssten in früheren Zeiten riesige Seen gebildet haben, welche die heutigen Gebirgstäler überflutet hätten: »Plus j’ai consid¦r¦ ce local et ses circonstances, plus je me suis persuad¦ que jadis le sillon de B l u e - r i d g e , dans son int¦grit¦, fermait absolument tout passage au Potúmac, et qu’alors toutes les eaux du cours sup¦rieur de ce fleuve, priv¦es d’issue et accumul¦es au sein des montagnes, formaient plusieurs lacs consid¦rables. […] Avec le secours des tremblements de terre trÀs-fr¦quents sur toute la cúte atlantique, ainsi que je l’expliquerai, les eaux, qui ne cessÀrent d’attaquer et de miner les sommets qui leur servaient de digues, s’y formÀrent des issues; du moment que des volumes plus consid¦rables purent s’¦chapper, les brÀches s’accrurent davantage et plus rapidement; et l’action puissante des cascades d¦molissant le sillon du haut en bas, finit par livrer passage — la plus forte masse du lac:[… ]«97

97 Ibid. S. 648. [»Je mehr ich das Lokale dieser Gegend betrachtete, desto fester wurde meine Ueberzeugung, dass die Strecke des B l u e - r i d g e , vordem, ehe sie durchbrochen war, dem Potomack seinen Lauf versperrte, wodurch sein Wasser mitten in Bergen sich anhäufte und mehrere beträchtliche Seen bildete. […] Häufige Erdbeben und das ununterbrochene Bestreben des Wassers sich einen Durchgang zu verschaffen, mussten endlich eine Oeffnung bewirken. So wie nun die beträchtlichen Wassermassen durchbrachen, mussten sich auch die

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Der Mensch mit seiner kurzen Entwicklungsgeschichte wird neben dieser Naturgeschichte – im Sinne einer Geschichte der Natur – zum belanglosen Nebendarsteller degradiert. Was bedeuten eine französische Revolution und eine amerikanische Unabhängigkeitserklärung angesichts von Erdrevolutionen, die riesige Seen oder gar Meere zum Verschwinden brachten? Der Historiker, Orientalist und Arzt Volney begeistert sich in Amerika so sehr für die neuen wissenschaftlichen Disziplinen der Meteorologie, Erdgeschichte und Paläontologie, dass er seine ursprünglichen Pläne einer rein topografischen Darstellung Amerikas vergisst. Das Werk entwickelt dadurch eine beachtliche Eigendynamik, die den üblichen Rahmen eines »Tableau« sprengt.98 Entsprechend seiner neuen Interessen wendet sich der Autor nun auch vermehrt den Naturwissenschaftlern unter den ›Id¦ologues‹ zu, die während dieser Zeit zu den bedeutendsten Persönlichkeiten in Paris zählen und zum Teil Mitglieder der »Acad¦mie franÅaise« sind. Cuvier, Fourcroy oder Lamarck gehören zu den Wissenschaftlern, aus deren berufenem Mund er seine Hypothesen bestätigt sehen möchte. So erwähnt Volney stolz in einer Fussnote des »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis«, wie er in Cincinnati, in der Böschung des Ohio, fossile Muscheln gefunden hatte, die er von seinem Freund Jean Baptiste de Lamarck in Paris untersuchen liess. Dieser bestätigte anhand der paläontologischen Funde seine Annahme, dass das Innere der USA früher von einem Meer bedeckt wurde: »›N o t a . D’aprÀs la consid¦ration de ces trois morceaux, il me parait ¦vident que les r¦gions de l’Am¦rique septentrionale o¾ ces morceaux ont ¦t¦ recueillis, ont fait autrefois partie du fond des mers, ou du moins qu’elles montrent actuellement — d¦couvert la portion de leur sol qui a fait partie du fond des mers et non de ses rives, car les fossiles qu’on y trouve maintenant sont des cocillages p¦lagiens (voyez mon H y d r o g ¦ o l o g i e , pages 64, 70 et 71), qui, comme les gryphytes, les ammonites (les cornes d’Ammon), les orthoc¦ratites, les b¦lemnites, les encrinites (les palmiers marins), etc. vivent constamment dans les grandes profondeurs des mers, et jamais sur les rivages. Aussi la plupart de ces coquillages et de ces polypiers ne sont-ils connus que dans l’¦tat fossile. Vos observations, monsieur, d¦terminent la nature des fossiles que l’int¦rieur d’Am¦rique septentrionale laisse maintenant — d¦couvert, et il y a apparence que parmi ces fossiles l’on y chercherait vainement des c o q u i l l e s l i t t o r a l e s . LAMARCK‹«99 Schluchten sehr schnell vergrössern, und die Kraft der Wasserfälle die Berge zerreissen, so dass das Wasser des Sees einen freien Ausgang erhielt.« Volney (1804), S. 59 f.] 98 Die Bezeichnung des Werkes als »Tableau« steht in Diskrepanz zum erdgeschichtlichen Inhalt. Zwar enthält es sowohl Tabellen als auch Beschreibungen oder ›Ansichten‹ der amerikanischen Landschaften, aber Volneys Hypothesen über die prähistorische Gestalt der Erde liessen sich eigentlich nicht unter dem Titel »Tableau« präsentieren. 99 Volney (1989). Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis. Tome II. S. 644 f; Anm. 1. [»Anmerkung. Nach der Betrachtung dieser drei Stücke scheint es mir offensichtlich zu sein, dass die Regionen von Nordamerika, wo diese Stücke zusammengetragen wurden, früher Teil des

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Erst durch die Öffnung des Zeithorizontes lässt sich aber die Entwicklung der Erde vollumfänglich erkennen. Die zahlreichen Katastrophen in der Erdgeschichte lassen sich auf diese Weise in einen kontinuierlichen dynamischen Prozess einordnen, der aus dem scheinbaren Chaos eine gesetzmässige Ordnung generiert. Die Revolutionen der Erdgeschichte lassen sich dadurch in ein sinnhaftes Ganzes integrieren. Aber erst mit der Distanz mehrerer Jahrtausende werden die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen, zwischen Ursachen und Wirkungen, sichtbar – mit anderen Worten: die Geschichte der Erde wird erklärbar. Im Gegensatz dazu erscheint nun die Geschichte der Menschheit als ein nicht zu durchdringendes Chaos. In ihren Katastrophen wie Kriege, Krankheiten, Hungersnöte, Revolutionen u.s.w. lassen sich keine Gesetzmässigkeiten mehr erkennen. Zu disparat präsentieren sich die einzelnen Ereignisse, sodass sie sich nicht mehr als Ursachen oder Wirkungen erkennen lassen. Wäre es möglich, wie in den »Ruines«, die Gesamtheit der geschichtlichen Ereignisse zu überblicken, liesse sich eventuell auch davon ein »Tableau« erstellen. Doch zu sehr ist der Mensch selbst in die aktuelle Geschichte eingebunden, sodass er sie nur in Bruchstücken zu erkennen vermag. Theoretisch böte sich eine Lösung für dieses Problem an, wenn man etwas Drittes, welches einen Zusammenhang zwischen Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte zu stiften vermag, voraussetzten würde. Denkbar wären zum Beispiel eine spezielle Kraft, eine Lebenskraft wie sie uns in Alexander von Humboldts »Rhodischem Genius« entgegentritt oder eine das Anorganische mit dem Organischen verbindende Kraft, wie sie Herder postuliert. Auch ein Weltgeist, wie ihn später Hegel fordern wird, könnte die Menschheitsgeschichte als zielgerichteten, sinnhaften Prozess erscheinen lassen. Doch dem französischen ›Id¦ologue‹ bietet sich in dieser Hinsicht kein Ausweg. Jede nicht beweisbare Prämisse muss er gemäss seiner Philosophie in den Bereich der Metaphysik verweisen, die in einer wissenschaftlichen Behandlung eines Sujets keinen Platz mehr beanspruchen darf. Volney stösst in seinem »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« an die Grenzen seiner ›Id¦ologie‹. Eingeholt von den Turbulenzen der französischen Revolution glückt ihm die Rekomposition der beobMeeresgrundes waren, oder zumindest, dass sie heute den zu entdeckenden Anteil ihres Bodens zeigen, der Teil eines Meeresgrundes und nicht von dessen Küste war, denn die Fossilien, welche man jetzt findet, sind frei im Wasser lebende Muscheln (sehen sie meine ›Hydrog¦ologie‹, Seiten 64, 70 und 71), die, wie die Gryphiten, die Ammoniten (die Ammonshörnchen), die Orthoceratiten, die Belamniten, die Encriniten (die Meerespalmen), usw. ständig in den grossen Tiefen der Meere leben, und niemals an den Küsten. Auch sind die meisten dieser Muscheln und dieser Polypen nur im fossilen Zustand bekannt. Ihre Beobachtungen, Monsieur, legen die Natur der Fossilien fest, welche das Innere Nordamerikas jetzt entdecken lässt, und es macht den Anschein, dass man unter diesen Fossilien vergeblich Strandmuscheln sucht. Lamarck.«]

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achteten menschlichen Gegebenheiten nicht mehr. Er ist nach seiner Amerikareise nicht mehr in der Lage, die Geschichte, Gesellschaft und Kultur der USA als sinnstiftendes Ganzes zu begreifen, das sich als »G¦ographie politique« harmonisch mit einer »G¦ographie physique« verbinden lässt. Die Konsequenz hiervon ist eine fragmentarische Behandlung der im eigentlichen Sinn anthropologischen Teile des Reiseberichts und ihre Verbannung in die »Êclaircissements«. Das Ungleichgewicht zwischen dem »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« und den »Êclaircissements« spiegelt ein in Amerika erkennbar gewordenes Ungleichgewicht: jenes zwischen der Unermesslichkeit der Erdgeschichte und der Belanglosigkeit der Menschheitsgeschichte. Symptomatisch für die hier festgestellte Unausgewogenheit ist die Reaktion der Leser auf Volneys letztes grosses Reisewerk. Sowohl in Frankreich als auch in den USA wurde das »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« heftig kritisiert. Es galt als langweilig und wenig informativ. Obwohl sich in Frankreich damals viele für die Vereinigten Staaten von Amerika interessierten, konnte der Autor die Erwartungen der Leser nicht erfüllen. Weder unterstützte er mit seinen kurzen desillusionierenden Beschreibungen der französischen Kolonien die imperialistischen Bestrebungen seiner Heimat, noch konnte er das von Rousseau geprägte Bild des ›guten Wilden‹ bestätigen.100 Seine Vorliebe für die ›Fakten‹ liessen keine literarischen Ambitionen zu, weswegen er keinen Wert auf einen attraktiven Stil legte. Bereits der Titel des Werkes schreckte viele Zeitgenossen von der Lektüre ab. Die Philosophen konnten sich wenig für Volneys 100 Charles Minguet behauptet, dass Alexander von Humboldt aufgrund von Volneys Darstellung der Indianer von Nordamerika dessen »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« mit »beaucoup de sympathie et d’admiration« bewertete. (Minguet (1969), S. 333 ff.) Tatsächlich erwähnt Humboldt das Amerikawerk des ›Id¦ologue‹ in seiner Einleitung zu der »Forschungsreise in den Tropen Amerikas« und lobt dessen Darstellung der »amerikanischen Wilden« als »Beobachtungen voller Weisheit und Gerechtigkeit«. (Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 1; S. 16.) Allerdings ist dies die einzige Stelle in seinem Reisewerk, wo Alexander den Namen Volneys explizit nennt. Da zudem die Schilderungen der Indianer in Volneys Werk nur einen geringen Teil ausmachen, halte ich es für unangebracht, von Humboldt als grossem Bewunderer des »Tableau« zu sprechen. Vielmehr spricht sein eingangs des Kapitels IV.2. zitierter Brief an Gallatin eher für eine Geringschätzung Volneys. Ausserdem hebt Alexander in einem Schreiben an William Thornton dessen gerade erschienenes Werk über die Sklaverei im Vergleich zu Volneys Darstellung der USA lobend hervor: »Dans un tems o¾ Volney n’a cru pouvoir parler que r o c h e et Ve n t je me ferai gloire de le [le M¦moire sur l’Esclavage] traduire en franÅais et en allemand.« (Alexander von Humboldt an William Thornton, Philadelphia, 20. Juni 1804. In: Humboldt, A. (1993), S. 300.) [»In einer Zeit, in der Volney geglaubt hat, nur über F e l s und W i n d sprechen zu können, werde ich mich rühmen, sie [die Abhandlung über die Sklaverei] ins Französische und Deutsche zu übersetzen.«] Spricht aus diesen Worten nicht eine deutliche Kritik an Volneys allzu spärlichen Beschreibungen der Amerikaner? Bei Humboldts offiziellem Lob des »Tableau« dürfte es sich auch eher um eine indirekte Kritik an Rousseaus »bon sauvage« handeln.

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zahlreiche geografische Exkurse erwärmen, die ihnen überflüssig und deplatziert erschienen, und für die Geografen wiederum war die Abhandlung zu philosophisch und zu wenig wissenschaftlich.101 Einzig die ›Id¦ologues‹ fanden lobende Worte für das »Tableau du climat et du sol des Êtats-Unis« ihres Kollegen und Freundes. Die letzten Jahre bis zu seinem Tod am 25. April 1820 verbrachte Volney meist krank und zurückgezogen auf seinem kleinen Landgut. Von dem unter Kaiser Napoleon wieder erstarkten reaktionären Katholizismus enttäuscht, zog er sich mehr und mehr aus der Politik zurück. Er, der noch im Jahre 1799 Napoleon Bonapartes Staatsstreich am 18. Brumaire (9. November) unterstützte und angesichts der chaotischen Zustände in Frankreich eine ›Despotie der Aufklärung‹ gutgeheissen hatte, verlor das Vertrauen in die politischen Führer des Volkes. Zwar war er noch bis 1804, dem Krönungsjahr Napoleons, Senator, sein politisches Amt führte er jedoch kaum aus. Stattdessen wollte er das Volk durch eine politische Bildung in den Schulen zu mündigen Bürgern und Demokraten erziehen. Doch seine Schulprojekte hatten wenig Erfolg, da diese durch eine reaktionäre Politik behindert wurden. Bis zu seinem Tod beschäftigte sich der ›Id¦ologue‹ vor allem mit der vergleichenden Sprachwissenschaft. Sein Augenmerk richtete sich aber nicht so sehr auf die Sprachgeschichte und die dynamischen Prozesse der Sprachentwicklung, sondern auf die ›Verbesserung‹ und ›Angleichung‹ von Schrift- und Sprachsystemen.102 Für ihn stand der praktische Nutzen einer Sprache im Vordergrund, denn er sah in der Reinigung und Simplifizierung ›rückständiger‹ Sprachen, zu denen er auch das Korsische, Bretonische und Provenzalische rechnete, ein Mittel, die politischen Ziele der Revolution doch noch zu erreichen. Gleichheit der Menschen setzte für ihn auch Gleichheit oder Gleichwertigkeit der Sprachen voraus. Denn eine rückständige Sprache hindert nämlich seiner Ansicht nach die Menschen daran, ihrer gesellschaftlichen Ungleichheit bewusst zu werden oder gar ihr Recht auf Gleichheit und Gerechtigkeit durchzusetzen. Da Volney die Sprachen als Produkt der Geschichte betrachtete, glaubte er nun an ihre Formbarkeit, wie er früher von der Formbarkeit der Geschichte überzeugt war. 101 Das wird auch durch eine Notiz in der »Jenaer Literarischen Zeitung« bestätigt. Kurz nach Alexander von Humboldts Ankunft in Paris, schrieb sein Bruder Wilhelm an Caroline, die sich zu dieser Zeit ebenfalls in Paris aufhielt: »Sage Alexandern, dass in den Jenaer (der besten) Literarischen Zeitung bei Gelegenheit des Buches von Volney über Amerika steht: ›Wir können den ersten Teil dieses Werkes (den wissenschaftlichen) bloss Männern empfehlen wie Humboldt und Steffens, deren Geist und Energie über der Erde schwebt und von ihrer Finsternis Licht zu scheiden sucht.‹« (Humboldt, W. (1907 – 1916), 2. Bd., S. 248. (Brief Wilhelms an Caroline vom 11. September 1804.) Für Alexander dürfte dies alles andere als eine Empfehlung gewesen sein! 102 Siehe dazu den Aufsatz von Jean Gaulmier in: Gaulmier (1978c), S. 73 – 80.

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Doch auch als Linguist geriet Volney bald in Vergessenheit.103 Seine Arbeiten auf diesem Gebiet waren zurzeit ihrer Veröffentlichung bereits überholt. Besonders an den deutschen Universitäten wurde eine vergleichende Sprachwissenschaft gelehrt, die diejenige des ›Id¦ologue‹ an Modernität übertraf. Einer der bedeutendsten Sprachwissenschaftler dieser Zeit war zweifellos Wilhelm von Humboldt. Der ältere Humboldtbruder lernte Volney während seines Aufenthaltes in Paris am Ende des 18. Jahrhunderts sogar persönlich kennen,104 doch als Gelehrten und Wissenschaftler hat er ihn bezeichnenderweise nicht wahrgenommen. Für ihn war der ›Id¦ologue‹ lediglich ein langweiliger französischer Revolutionär.

IV.3. Pierre-Jean-Georges Cabanis: Die Integration der Psyche in die Physiologie des Menschen Zum engsten Kreis der ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ gehörte auch Volneys Freund Pierre-Jean-Georges Cabanis, der neben Destutt de Tracy wohl bekannteste ›M¦decin philosophe‹ zwischen der französischen Revolution und der Restauration. Geboren wurde Cabanis im Jahre 1757 auf Schloss Salaignac bei Cosnac.105 Sein Vater Jean-Baptiste – er besass den Titel eines »avocat au Parlement« – beschäftigte sich vornehmlich mit Agrikultur. Als einer der Wegbereiter für die moderne Landwirtschaft und Anhänger der Physiokraten im Frankreich des 18. Jahrhunderts machte er die persönliche Bekanntschaft mit dem Ökonomen und Staatsmann Turgot, der sich später in Paris für das Fortkommen des jungen Cabanis einsetzen sollte. Die Mutter Marie-H¦lÀne d’Escarolle de Souleyrace entstammte einem Adelsgeschlecht. Sie verstarb jedoch bereits 1764, sodass Cabanis während des grössten Teils seiner Kindheit als Halbwaise aufwuchs. Die ersten Lebensjahre des Knaben begannen nicht eben vielversprechend und schienen die Erwartungen seiner Familie zunächst nicht zu erfüllen. Weder der Vater noch die Lehrer in der Klosterschule von Brive vermochten den aufsässigen Jungen zu erziehen. Deshalb schickte der Vater seinen Sohn nach Paris, 103 Ibid.: Orientalisme et humanisme. S. 49 – 53. 104 Wilhelm von Humboldt traf Volney am 24. Juli 1798 bei einem Mittagessen im Hause von de Lam¦therie. (Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. S. 551 f.) Vgl. auch seine auf Seite 367 zitierte negative Charakterisierung des ›Id¦ologue‹. 105 Zur Biografie von Cabanis siehe: Durand (1939); Labrousse (1903); Claude Lehec: Introduction. Biographie. In: Cabanis (1956). Tome I; S. V – XXI; Picavet (1891), S. 172 – 292; Schiff (1886); Hirsch (1962). 1. Bd.; S. 792. (Der Artikel »Cabanis« von L. Stieda im »Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte« ist wenig ergiebig und enthält zahlreiche falsche Angaben!)

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wo er ihn ohne Aufsicht – obwohl erst vierzehnjährig – sich selbst überliess. Doch in der französischen Hauptstadt fand der junge Cabanis schliesslich einen Mentor im Dichter Antoine Roucher und zeigte bald Eifer und Talent für vielfältige Studien.106 Um einer Rückkehr in sein Vaterhaus zu entgehen, reiste er im Jahre 1773 als Sekretär des Prinzbischofs von Wilna, Massalski, nach Polen. In dem von Kriegen zerrütteten Land wurden jedoch seine Erwartungen enttäuscht, als er feststellen musste, dass er in Wilna nicht wie versprochen Französisch unterrichten durfte. So kehrte Cabanis im August 1775 wieder nach Paris zurück. Die Gründe für seine vorzeitige Heimreise sind nicht ganz geklärt. Vermutlich spielte auch seine Enttäuschung über die politische Situation in Polen eine grosse Rolle, denn hautnah erlebte er in Warschau die Zustände der Anarchie mit, als sich Russland, Preussen und Österreich das Königreich Polen Stück für Stück aufteilten.107 Immerhin konnte er seinen Aufenthalt in Polen zum Erlernen der deutschen Sprache nutzen. Dies ermöglichte ihm die Lektüre deutscher naturwissenschaftlicher Schriften in der Originalsprache.108 Später übte er sich sogar als Übersetzer literarischer Werke.109 In den folgenden Jahren war Cabanis vor allem mit einer Übertragung der homerischen »Illiade« in französische Verse beschäftigt. Allerdings kam er bald zur Erkenntnis, dass sein Talent für herausragende Leistungen auf literarischem Gebiet nicht ausreichend war. Beachtung fand er hingegen im Salon der Madame Helv¦tius, in den er von seinem väterlichen Freund Turgot eingeführt wurde. Seine Beziehung zu der 106 Sein damaliger Lektürekanon ist sehr beeindruckend. Er umfasst Werke von Platon, Plutarch, Epiktet, Charron, Montaigne, Cicero, Tacitus, Bourdaloue, Bossuet, Augustin, Hieronymus, Buffon, Rousseau, Pascal, Montesquieu, Voltaire und Locke. (Picavet (1891), S. 177.) 107 In einem Brief an Antoine Roucher beschreibt Cabanis das polnische Elend: »La comparaison que j’en ai faite avec les pays du Nord me l’ont rendue bien chÀre, nos abus valaient mieux que les lois de ces malheureux pays. Heureuse nation, ma chÀre patrie!« (Zitiert nach: Durand (1939), S. 14.) [»Der Vergleich, den ich mit den Ländern des Nordens gemacht habe, haben sie [die Nation] mir sehr wertvoll gemacht; unsere Missbräuche sind besser als die Gesetze dieser unglücklichen Länder. Glückliche Nation, mein teures Vaterland!«] 108 Auffallend ist, wie wenig Beachtung Cabanis’ Deutschkenntnisse in der – fast ausschliesslich französischen – Forschungsliteratur findet. Die Einflüsse deutscher naturwissenschaftlicher Schriften auf das Werk von Cabanis dürften jedenfalls nicht gering gewesen sein. Seine Vermittlerrolle im deutsch–französischen Wissenstransfer ist besonders wichtig, da die wenigsten französischen Zeitgenossen die deutsche Sprache beherrschten. (Siehe dazu auch: Kanz (1997).) 109 Während der »terreur«, in den Jahren 1793 / 1794, übersetzte Cabanis in Auteuil sechs literarische Werke von August Gottlieb Meissner und Goethes »Stella« ins Französische. (Durand (1939), S. 24.) Veröffentlicht wurden die Übersetzungen erst 1797 in den »M¦langes de Litt¦rature allemande« (Paris, l’an V de la R¦publique).

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verwitweten alten Dame scheint sehr eng gewesen zu sein. In ihrer Obhut lernte er Persönlichkeiten kennen, die für seinen weiteren Lebensweg von entscheidender Bedeutung waren. Zu seinen Gesprächspartnern in Auteuil gehörten ebenso die Vertreter der französischen Spätaufklärung – Voltaire, d’Holbach, d’Alembert, Diderot und Condillac – wie auch die damals in Paris lebenden und hoch angesehenen Amerikaner Thomas Jefferson und Benjamin Franklin. Eine zweite wichtige Gruppe der Salonbesucher bildeten die ›Id¦ologues‹, unter denen Cabanis bald eine führende Rolle einnahm. Besonders mit Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet verband ihn eine tiefe Freundschaft.110 Der spätere Verfasser der »Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain«111 vertrat dieselben Ideale der französischen Revolution wie Cabanis und bemühte sich wie dieser um die Reformierung der Bildungsinstitutionen. Beide waren der Ansicht, dass Gesellschaft und Wissenschaft sich perfektionieren und zum Fortschritt der Humanität beitragen würden. Doch Condorcet überlebte die »grande terreur« nicht. Er verstarb 1794 im Gefängnis, nachdem man ihn im Dorf Clamart bei Paris, wo er sich versteckt gehalten hatte, gefangen genommen hatte.112 Seit seiner Rückkehr aus Polen war Cabanis’ gesundheitlicher Zustand instabil. Hilfe fand er schliesslich bei Dubreuil, der sich nebst seiner praktischen Tätigkeit als Arzt auch mit Medizingeschichte und Philosophie beschäftigte. Dieser verordnete dem vermutlich an Neurasthenie erkrankten Schützling der Witwe Helv¦tius eine ›mentale Hygiene‹, indem er ihm zum Aufgeben der literarischen Studien riet. Unter Dubreuils Anleitung entschied sich Cabanis 1777 zu einem Studium der Medizin. Zusammen übersetzten Schüler und Mentor die Schriften von Hippokrates und Galenus, da sie die Meinung vertraten, deren Auffassung der Heilkunst als empirische Wissenschaft bedürfe mehr Beachtung. Von grossem Einfluss auf Dubreuils und Cabanis’ theoretische Überlegungen zur Medizin war zudem die Schule von Montpellier, die besonders unter Bordeu eine Hochblüte erlebte.113 Die Ärzte in Montpellier reformierten die Medizin in Frankreich, indem sie sich auf die methodischen Ansätze des stahlschen Vita110 Auch verwandtschaftlich waren die beiden ›Id¦ologues‹ miteinander verbunden. Cabanis heiratete 1796 Charlotte de Grouchy, die Schwägerin des bereits verstorbenen Condorcet. Cabanis und Charlotte de Grouchy hatten bereits seit 1793 eine gemeinsame Tochter, GeneviÀve-Amanthine. Ihre Geburt hielten sie zunächst geheim, da sie während der blutigen Revolutionsjahre nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollten. Zudem war Cabanis’ Schwiegervater, der Marquis de Grouchy, der Verbindung seiner Tochter feindlich gesinnt. (Siehe dazu Claude Lehec: Introduction. Biographie. In: Cabanis (1956). Tome I; S. XI.) 111 Condorcet (1794 / 1795) 112 Angeblich soll Cabanis seinem Freund das Stramonium, welches dieser stets bei sicht trug, um sich notfalls das Leben nehmen zu können, besorgt haben. (Picavet (1891), S. 181.) 113 Diderot skizziert in »Le rÞve de d’Alembert« (1769) sehr anschaulich die theoretischen Grundsätze des berühmten Mediziners Bordeu.

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lismus und der Irritabilitätslehre Albrecht von Hallers stützten und diese miteinander verbanden. Sie legten vor allem grossen Wert auf die Empirie und die Beobachtung, die sie als unabdingbare Voraussetzungen für jede erfolgreiche medizinische Behandlung erachteten. Über Dubreuil und Cabanis erhielt die Schule von Montpellier gegen Ende des 18. Jahrhunderts grossen Einfluss auf die Philosophie der ›Id¦ologues‹. Schon während seines Studiums, welches er 1783 beendete, wurden somit die ersten Weichen für Cabanis späteres Konzept einer ›Science de l’homme‹ gestellt. Zahlreiche Ansichten, die er in seinen »Rapports du physique et du moral de l’homme«114 formulieren wird, haben ihre Wurzeln in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts. Die Beschäftigung mit den Schriften Hippokrates’ und Galens, die medizinischen Theorien der Schule von Montpellier und die genaue Selbstbeobachtung des eigenen labilen Gesundheitszustandes führten Cabanis zur Überzeugung, dass einzig die eingehende Beobachtung des Körpers und der Psyche sowie die anschliessende Analyse des Beobachteten die richtige Diagnose und Behandlung einer Krankheit ermöglichen.115 Im Kreis der ›Id¦ologues‹ fand er zudem gleichgesinnte Freunde, die ihn in seinen Ansichten und Denkweisen unterstützen. Mit dem Sturm der Bastille und dem darauf folgenden Ausbruch der französischen Revolution wurde Cabanis zu einer politischen Leitfigur des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts. Er war derjenige, der seinen Freunden und ›Id¦ologues‹ Garat und Volney am 15. Juli 1789 die revolutionären Ereignisse in Paris meldete. Bei dieser Gelegenheit lernte er auch Honor¦ Gabriel du Riqueti, Comte de Mirabeau kennen. Mirabeau nahm schon bald eine herausragende Stellung in der französischen Nationalversammlung ein. Obwohl von adliger Herkunft, vertrat er bis zu seinem Tod 1791 die Interessen des Dritten Standes. Cabanis wurde ein enger Freund Mirabeaus und unterstütze ihn sowohl als Arzt als auch in der politischen Arbeit. So befassten sich die beiden ›Id¦ologues‹ intensiv mit den Reformen des öffentlichen Erziehungs- und Gesundheitswesens. Cabanis ist der Meinung, der Staat müsse gesellschaftliche Aufgaben der ›Sozialhygiene‹ übernehmen. Diese beinhalten die Unterstützung und Fürsorge derjenigen Personen, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Jedoch sind damit keine Abgaben von Almosen gemeint, denn diese würden das soziale Ungleichgewicht eher verschärfen sowie Armut und Kriminalität fördern. Wie der Körper eines kranken Menschen muss auch der Körper der ›zivilisierten‹ Gesellschaft wieder in ein Gleichgewicht gebracht 114 Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 105 – 631. 115 Zum Einfluss der Schule von Montpellier und den Schriften Hippokrates’ auf die ›Id¦ologues‹ siehe auch: Williams (1994), S. 73 ff.

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werden. Dies ist nur durch einen Ausgleich der politischen Kräfte und eine Beseitigung der ungleichen Verteilung der Reichtümer zu erreichen, welche nach Meinung von Cabanis allein schon die Gerechtigkeit, Vernunft und Natur verlangen – eine Ansicht, die wie bereits geschildert auch Volney vertritt. Nur wenn der Mensch und die Gesellschaft durch die Menschen selbst perfektioniert werden – und von ihrer Perfektionierbarkeit geht Cabanis aus –, sind die Ziele der französischen Revolution überhaupt realisierbar. Durch ›sozialhygienische‹ Massnahmen und politische Erziehung werden laut Cabanis‘ Prognose mit der Zeit Freiheit und Gleichheit aller Menschen Realität. Auch in diesem Punkt erkennt man die Gemeinsamkeit in der Denkweise von Cabanis und Volney. Beide betrachten den Menschen als ein in die Gesamtheit der Natur integriertes und veränderbares Wesen, das ein Recht auf Freiheit, Gerechtigkeit und Glückseligkeit besitzt.116 Doch erst eine vernünftige Verfassung, gute Gesetze sowie eine fähige Regierung können die erforderlichen Bedingungen für den erhofften sozialen Fortschritt schaffen. Voraussetzung dafür ist zudem eine ›wirkliche‹ Teilung des Bodens, wobei aber Cabanis – so wenig wie Volney – den Grundbesitz nicht ablehnt. Vielmehr ist es sein Anliegen, dass jeder, der arbeitswillig ist, auch Land erwerben und seinen Lebensunterhalt sichern kann. Auf diese Weise kann auch den Bedürftigen geholfen werden, ihre Bedürfnisse aus eigener Initiative zu befriedigen, also Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden. Das Arbeiten ist in seinen Augen eine Art Therapie, die dem sozialen Unfrieden vorbeugen kann. Ein weiterer Bereich der Reformtätigkeit Cabanis’ betraf die öffentlichen Bildungsinstitutionen. Sein Projekt sah vor, die drei alten Akademien in Paris zu einer »Acad¦mie nationale« zusammenzufassen, welche drei Sektionen enthalten sollte: die philosophische, literarische und wissenschaftliche. Ergänzt sollte sie mit fünf Sektionen der »Acad¦mie des arts« werden, welche Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik und dramatische Kunst beinhalten. Des Weiteren plante er, die theologischen Schulen in einheitliche Seminare zusammenzuschliessen, in denen ausschliesslich in französischer Sprache unterrichtet werden sollte. Zwar wollte Cabanis dadurch die vormals dominante Stellung der Theologie im hierarchischen Gefüge der Wissenschaften zurückstufen, trotzdem kann keine Rede davon sein, er hätte die Theologie eliminieren wollen. Es ist deshalb falsch zu behaupten, Cabanis sei ein Gegner der Religion oder gar ein Atheist gewesen. Auch wenn er stets bestrebt war, Metaphysik und Religion aus 116 Im Vorwort zur Ausgabe von 1805 der »Rapports« erwähnt Cabanis ausdrücklich seinen Freund Volney. Er weist in einer Fussnote auf ihre gemeinsam vertretene Annahme hin, dass jeder Mensch in sich die natürlichen Anlagen zur Erlangung der Glückseligkeit trägt. Sowohl Volney als auch Cabanis gehen von physischen Voraussetzungen der ›moralischen‹ Verhaltensweisen aus. (Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 119; Anm. 1.)

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seinen wissenschaftlichen Schriften fernzuhalten, lässt sich nirgends eine Textstelle finden, wo er die Existenz Gottes leugnet.117 Ferner versah der ›Id¦ologue‹ eine wichtige Aufgabe in der »Commission des Húpitaux de Paris«, für die er zahlreiche Berichte zur Reform der Krankenhäuser schrieb. Darin verlangte er so grundlegende Forderungen wie die Unterbringung eines einzigen Kranken pro Bett – damals war es durchaus üblich, dass sich drei bis vier Patienten ein Bett teilen mussten –, die Isolierung von Patienten mit ansteckenden Krankheiten oder die klinische Ausbildung der angehenden Ärzte in den Krankenhäusern.118 Denn, so die Beobachtung von Cabanis: »Aujourd’hui les jeunes m¦decins suivent rarement les húpitaux avec quelque constance. Ils se jettent dans la pratique, sans avoir vu les objets qu’ils doivent reconno„tre. Il faut pourtant se donner l’air d’avoir tout vu; il faut cacher son inexp¦rience par le babil et par de grands mots. Ainsi, dans la matiÀre la plus grave, ils s’exercent — l’art de tromper, ou du moins ils s’habituent — ces manÀges de charlatanerie qui d¦gradent toujours le caractÀre.«119

Mit dem Beginn der »terreur« endeten Cabanis’ offizielle Tätigkeiten schlagartig. Durch den Sturz der Girondisten gerieten viele Republikaner unter Verdacht, die regierenden Jakobiner stürzen zu wollen. Zwar floh Pierre-Jean-George Cabanis nicht wie viele seiner Freunde ins Ausland, doch zog er sich zusammen mit Destutt de Tracy nach Auteuil zurück, wo er vorübergehend als praktischer Arzt tätig war. Nach dem Fall von Robespierre setzte er sich erneut für die Reform der medizinischen Ausbildung ein. Seiner Ansicht nach bedurfte die Medizin eines ›philosophischen Geistes‹ und besserer Begriffe, um Ungenauigkeiten bei der Bezeichnung der Krankheiten sowie daraus resultierende falsche Diagnosen und Behandlungen auszuschliessen. Vor allem betonte er immer wieder die Wichtigkeit, die der Beobachtung einer Krankheit, ihrer Analyse und der anschlies117 Der Wahrheitsgehalt der Anekdote, wonach Cabanis am 3. Juli 1798 während einer Vorlesung von Bernardin de Saint-Pierre im »Institut National« ausgerufen haben soll: »Je jure qu’il n’y a pas de Dieu et je demande que son nom ne soit pas prononc¦ dans cette enceinte!«, ist deshalb sehr zu bezweifeln. (Picavet (1891), S. 214.) [»Ich schwöre, dass es keinen Gott gibt und ich verlange, dass sein Name in diesem Raum nicht ausgesprochen wird.«] 118 Die klinische Ausbildung der Ärzte wurde in Frankreich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingeführt, als sie in vielen anderen Ländern Europas schon längst zum Standard gehörte. Diese Verspätung ist bezeichnend für die an den französischen Universitäten lange beibehaltene dogmatische Lehre der Medizin, die sich am reinen Buchwissen orientierte. 119 Cabanis (1956). Observations sur les húpitaux [1790]. Tome I; S. 26. [»Heute besuchen die jungen Ärzte die Spitäler selten einigermassen regelmässig. Sie werfen sich in die Praxis, ohne die Objekte, die sie erkennen müssten, gesehen zu haben. Man muss dabei so tun, als hätte man alles gesehen, man muss seine Unerfahrenheit hinter Geplapper und grossen Worten verstecken. So üben sie in der schwierigsten Materie die Kunst des Irrens aus, oder sie gewöhnen sich zumindest an diese Manegen der Scharlatanerie, die immer den Charakter entwürdigen.«]

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senden Reflexion durch den ›philosophischen Arzt‹ zukommt. Indem Cabanis die »sensibilit¦« als grundlegendes Kriterium für das Prinzip des Lebens erachtete, distanzierte er sich vehement von mechanistischen Modellen der Natur. Auch genügten ihm chemische Analysen nicht als Erklärung für physiologische Vorgänge, sondern er beurteilte diese eher skeptisch als lediglich ergänzende Verfahren für die Suche nach der Wahrheit. Vielmehr sah sich Cabanis in der Tradition von Locke, Buffon und Condillac, ohne allerdings deren Theorien kritiklos zu akzeptieren. An Condillacs Lehre tadelte er die nach wie vor zu mechanistische und dualistische Auffassung des Menschen. Zwar richtete auch dieser sein besonderes Augenmerk auf die Sensibilität als Grundlage für den gesamten lebenden Organismus, jedoch war ihm dessen Modell einer Statue viel zu einfach. Condillac versuchte am Beispiel einer Statue, die plötzlich zum Leben erwacht, aufzuzeigen, auf welche Weise sich die einzelnen Sinneseindrücke im Menschen entwickeln. Nach Meinung von Cabanis war dieses Modell aber zu statisch und der Wirklichkeit nicht adäquat, da es die Zusammenhänge der Empfindungen und des Denkens mit dem gesamten organischen System nicht zu zeigen vermochte. Das Denkvermögen erschien bei Condillac noch allzu sehr als unabhängige Kraft.120 Der ›Id¦ologue‹ Cabanis macht schon sehr früh auf die Bedeutung der Sensibilität für den gesamten Organismus aufmerksam. Diese ermöglicht erst das Zusammenwirken von Gehirn und Organen, die den Menschen dazu befähigen, Objekte kennenzulernen. Denn seine Empfindungen sind die direkte Ursache, seine Organe die unmittelbaren Instrumente für seine kontinuierliche physische und psychische Entwicklung. Sie sind Teil eines lebenslangen Lernprozesses, der bereits im embryonalen Stadium des Menschen beginnt. 120 Auch in den »Rapports« wird Cabanis auf diese Schwachstelle in Condillacs »Trait¦ des Sensations« hinweisen: »Rien ne ressemble moins encore — la maniÀre dont les sensations se perÅoivent, dont les id¦es et les desirs se forment r¦ellement, que ces op¦rations partielles d’un sens, qu’on fait agir dans un isolement absolu du systÀme, qu’on prive mÞme de son influence vitale, sans laquelle il ne sauroit y avoir de sensation. Rien, sur-tout, n’est plus chim¦rique que ces op¦rations de l’organe pensant, qu’on ne balance point — faire agir comme une force ind¦pendante; qu’on s¦pare, sans scrupule, pour le mettre en action, de cette foule d’organes sympathiques dont l’influence sur lui, n’est pas seulement trÀs-¦tendue, mais dont les nerfs lui transmettent une grande partie des mat¦riaux de la pens¦e, ou des mouvemens qui contribuent — sa production.« (Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 552.). [»Nichts gleicht noch weniger der Art, wie die Empfindungen sich wahrnehmen, wie sich die Ideen und Begehren wirklich bilden, als diese Teiloperationen eines Sinnes, welchen man in absoluter Absonderung vom System handeln lässt, den man sogar von seinem vitalen Einfluss absondert, ohne welchen er keine Empfindung haben würde. Vor allem ist nichts schimärenhafter als diese Operationen des Denkorgans, das man nur ausgewogen handeln lässt wie eine unabhängige Kraft, das man, um es in Aktion zu setzen, ohne Skrupel von dieser Menge sympathischer Organe abtrennt, deren Einfluss auf dieses nicht nur sehr weitreichend ist, sondern deren Nerven ihm auch einen grossen Teil des Denkmaterials oder der Bewegungen, die teilhaben an seiner Herstellung, übermitteln.«]

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Von der sukzessiven Vervollkommnung der Empfindung und der Empfindungsorgane hängt nun wiederum die Vervollkommnung des einzelnen Menschen sowie des ganzen Menschengeschlechts ab. Die Idee der Perfektibilität ist für Cabanis also unmittelbar an die Sensibilität gebunden. Möglich ist dies deshalb, weil nicht nur die organischen, sondern auch alle moralischen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen auf der physischen Sensibilität beruhen. Somit ist also der Fortschritt der Menschheit in ihrer Natur begründet und bedarf keines immateriellen Prinzips.121 Mit der Sensibilität gelingt es Cabanis, den Menschen in ständige Wechselbeziehung zu seiner Umwelt zu setzen. Als formbares – und damit auch erziehbares Wesen bekommt der Mensch die Möglichkeit, sich selbst, seine Gesellschaft, seinen Staat und ein Stück weit sogar seine klimatischen Grundlagen zu perfektionieren. Als beeinflussendes und beeinflussbares Wesen ist er in die gesamte Natur eingebettet, die eine Art Koordinatensystem bildet, in dem alle Punkte direkt oder indirekt miteinander verbunden sind. Der Mensch steht also bei Cabanis in doppelter Hinsicht im Mittelpunkt. Zunächst als Individuum, dessen einzigartige Lebenssituation im Krankheitsfalle besonders der Arzt zu berücksichtigen hat. Immer wieder weist der ›Id¦ologue‹ darauf hin, dass jeder Mensch als Einzelwesen zu betrachten ist, auf das keine abstrakten, allgemeingültigen Regeln applizierbar sind. Es sind die individuellen Bedingungen des Patienten, die der Arzt beachten muss, um eine richtige Diagnose stellen und eine wirksame Therapie anwenden zu können. Andererseits ist jeder Mensch von Natur aus in die Gesellschaft eingebunden und von ihr abhängig, da er zu unvollkommen auf die Welt kommt, um ohne sie überleben zu können. Schon als Embryo wird er von der Aussenwelt beeinflusst und erhält durch die Wechselbeziehung zu seiner Umwelt gewisse Dispositionen für seine weitere Entwicklung. Das Bewusstsein des Neugeborenen ist also keineswegs eine »tabula rasa« wie Locke behauptete, sondern wird vom ersten Moment seiner Bildung an von seiner Umwelt geprägt. Auf diesen Voraussetzungen beruht auch die politische Intention Cabanis‘. Nur weil der Mensch und die Gesellschaft durch die Menschen selbst perfektionierbar sind, können die Ziele der französischen Revolution überhaupt realisierbar sein. Der Glaube an den sozialen und politischen Fortschritt der Menschheit wird somit ebenfalls aus der wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Natur genährt. Die Verbindung von Physis und Moral durch die zugrunde liegende Sensi121 Ganz ähnliche Vorstellungen äusserte schon Herder in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Vgl. Seite 123 f.). Ob Cabanis Herders Werk gekannt hat, ist nicht nachzuweisen. Zwar zitiert er ihn nicht, aber da er der deutschen Sprache mächtig war, könnte er seine Schriften durchaus gekannt haben.

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bilität bildet die Basis in allen philosophischen und medizinischen Arbeiten von Cabanis. Die Medizin ist für ihn deshalb so bedeutsam, weil sie das empirische Material für die Erforschung der physischen Sensibilität liefern kann: »L’¦tude de l’homme physique est ¦galement int¦ressante pour le m¦decin et pour le moraliste: elle est presque ¦galement n¦cessaire — tous les deux. En s’efforÅant de d¦couvrir les secrets de l’organisation, en observant les ph¦nomÀnes de la vie, le m¦decin cherche — reconno„tre en quoi consiste l’¦tat de parfaite sant¦; quelles circonstances sont capables de troubler ce juste ¦quilibre; quels moyens peuvent le conserver, ou le retablir. Le moraliste s’efforce de remonter jusqu’aux op¦rations plus obscures, qui constituent les fonctions de l’intelligence et les d¦terminations de la volont¦. Il y cherche les rÀgles qui doivent diriger la vie, et les routes qui conduisent au bonheur.«122

Medizin und Moral, die beide in der physischen Sensibilität ihre gemeinsame Grundlage besitzen, können somit durch ihre Erkenntnisse zu einer besseren Zukunft der Menschheit beitragen. Hier wird besonders deutlich, warum die Bezeichnung ›M¦decin philosophe‹ für Cabanis so zutreffend ist. Mehr als vorherige Philosophen betont er die physische und psychische Konstitution des Menschen und verlangt eine Verbindung von empirisch ermittelten Tatsachen und philosophischen Betrachtungen in Bezug auf den Menschen. Nur auf diese Weise ist es möglich, die wahre Natur des Menschen zu erkennen und seine Beziehungen zum Universum zu ergründen – eine Forderung, die seiner Meinung nach weder Helv¦tius noch Condillac erfüllen konnten. Noch in den »Rapports« übt Cabanis deshalb Kritik an ihnen: »Enfin notre admiration pour l’esprit sage, ¦tendu, profond d’Helv¦tius, pour la raison lumineuse et la m¦thode parfaite de Condillac, ne nous empÞchera pas de reconno„tre qu’ils ont manqu¦ l’un et l’autre de connoissances physiologiques, dont leurs ouvrages auroient pu profiter utilement. S’ils eussent mieux connu l’¦conomie animale, le premier auroit-il pu soutenir le systÞme de l’¦galit¦ des esprits? Le second n’auroit-il pas senti que l’–me, telle qu’il l’envisage, est une facult¦, mais non pas un Þtre; et que, si c’est un Þtre, — ce titre elle ne sauroit avoir plusieurs des qualit¦s qu’il lui attribue?«123 122 Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 109. Das Zitat stammt aus dem Vorwort, das erst der Ausgabe von 1802 beigefügt wurde. Grundlegend sind die darin enthaltenen Gedanken aber für das gesamte philosophisch-medizinische Werk von Cabanis. [»Das Studium des physischen Menschen ist gleich wichtig für den Arzt und den Moralisten: es ist beinahe gleich notwendig für beide. Indem sich der Arzt bemüht, die Geheimnisse des Organismus zu entdecken und die Erscheinungen des Lebens zu beobachten, versucht er zu erkennen, worin der Zustand der vollkommenen Gesundheit besteht, welche Umstände fähig sind dieses Gleichgewicht zu stören, welche Mittel es erhalten oder wieder herstellen können. Der Moralist bemüht sich, bis zu den dunkelsten Operationen hinaufzusteigen, welche die Wirkungen der Intelligenz und die Bestimmungen des Willens ausmachen. Er sucht darin die Regeln, welche das Leben leiten müssen, und die Wege, welche zum Glück führen.«] 123 Ibid. S. 141. [»Schliesslich hat uns unsere Bewunderung für den weisen, umfassenden, tiefen

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Schon zu Beginn der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts findet man in Cabanis’ Schriften die grundlegenden Elemente seiner progressiven Sichtweise des Menschen, die vor allem durch seine späteren ›M¦moires‹ in den »Rapports du physique et du moral de l’homme« Berühmtheit erlangen sollten. Ihm geht es um eine Wissenschaft vom Menschen, die sich nicht nur auf Teilaspekte beschränkt, und in der die Medizin eine wichtige Rolle spielen soll. In der Einleitung zum »Premier M¦moire« bringt er seine Ansicht über die Zusammengehörigkeit der physiologischen und intellektuellen Funktionen des Menschen deutlich zum Ausdruck: »Permettez donc, citoyens, que je vous entretienne aujourd’hui des rapports de l’¦tude physique de l’homme avec celle des proc¦d¦s de son intelligence; de ceux du d¦veloppement systematique de ses organes avec le d¦veloppement analogue de ses sentimens et de ses passions: rapports d’o¾ il r¦sulte clairement que la physiologie, l’analyse des id¦es et la morale, ne sont que les trois branches d’une seule et mÞme science, qui peut s’appeler, — juste titre, l a s c i e n c e d e l ’ h o m m e .«124

Diesen Grundsatz äussert Cabanis zum ersten Mal in einer Vorlesung am »Institut National« vom 27. Januar 1798 (7 pluviúse an IV),125 die seinen »Rapports« zugrunde liegt. Später, in der zweiten Ausgabe der »Rapports« von 1805, fügt er noch eine interessante Fussnote an: »C’est ce que les Allemands appellent l’A n t h r o p o l o g i e ; et sous ce titre, ils comprennent en effet les trois objets principaux dont nous parlons.«126

Möglicherweise spielt hier Cabanis auf Kant an, dessen »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« 1798 erschienen ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er hier in erster Linie an Ernst Platners »Anthropologie für Ärzte und Weltweise« von 1772 beziehungsweise an dessen »Neue Anthropologie für Ärzte und WeltGeist von Helv¦tius, für den glänzenden Verstand und die vollkommene Methode von Condillac nicht daran gehindert zu erkennen, dass der eine wie der andere mangelhafte physiologische Kenntnisse hatten, aus denen sie hätten Nutzen ziehen können. Wenn sie die tierische Ökonomie besser gekannt hätten, hätte der Erstere das System von der Gleichheit der Sinne erstellen können? Hätte der Zweite nicht geahnt, dass die Seele, so wie er sie betrachtet, eine Fähigkeit ist, nicht aber ein Wesen, und, wenn sie ein Wesen wäre, aus diesem Grunde mehrere Eigenschaften nicht hätte, die er ihr zuschreibt?«] (Siehe dazu auch: Moravia (1989a), S. 54 ff.) 124 Ibid. S. 126. [»Erlaubt also, Bürger, dass ich euch heute die Beziehungen des physischen Studiums des Menschen mit demjenigen der Verfahrensweisen seiner Intelligenz unterbreite; von denjenigen der systematischen Entwicklung seiner Organe mit der analogen Entwicklung seiner Empfindungen und seiner Leidenschaften: Beziehungen, aus denen klar hervorgeht, dass die Physiologie, die Analyse der Ideen und die Moral nichts anderes sind als drei Zweige von ein und derselben Wissenschaft, die man mit vollem Recht Wissenschaft des Menschen nennen kann.«] 125 Manche Quellen geben auch den »27 pluviúse an IV« als Datum der ersten Vorlesung an. 126 [»Das ist das, was die Deutschen Anthropologie nennen, und unter dieser Bezeichnung verstehen sie letztlich die drei Hauptobjekte, von denen wir sprechen.«]

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weise« von 1790 denkt.127 Auf jeden Fall aber erkennen wir in dieser Fussnote einen wichtigen Beleg für Cabanis’ Kenntnis und Wertschätzung der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur in Deutschland. Sie dokumentiert exemplarisch deren Einfluss auf das Denken des ›Id¦ologue‹. Aber nicht erst im Jahr 1805 nahm Cabanis auf deutsche Zeitgenossen Bezug. Schon zehn Jahre früher mischte er sich in seinen ersten medizinischen Schriften in eine Debatte über die Frage ein, ob der Tod durch die Guillotine mit grossen Schmerzen verbunden sei, und ob diese vom abgetrennten Kopf noch bewusst wahrgenommen werden können. Dieses Problem beschäftigte damals die Gelehrten in ganz Europa, besonders aber in Deutschland, und gibt uns Aufschluss darüber, wie die damaligen Kontroversen in den medizinisch-anthropologischen Disziplinen auch die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen beeinflussten. In der französischen Revolutionszeitschrift »Magasin encyclop¦dique« veröffentlichten verschiedene Autoren Artikel für oder gegen den Einsatz der Guillotine als ›humane‹ Tötungsmaschine,128 darunter auch Konrad Engelbert Oelsner und Samuel Thomas von Soemmerring.129 Oelsner befand sich seit 1790 in Paris, wo er als politischer Schriftsteller tätig war und der deutschsprachigen Leserschaft als unmittelbarer Augenzeuge über 127 Platner (1772); Platner (1790). Der geplante zweite Teil von Platners Anthropologie ist nicht erschienen. Die Annahme, dass Cabanis hier auf Platner anspielt, lässt sich meiner Meinung nach mit einer Textstelle aus der Vorrede zur »Anthropologie für Aerzte und Weltweise« stützen, in der der Deutsche ebenfalls von »drey Wissenschaften« spricht, in welche sich »die Erkenntnis des Menschen« unterteilen lasse: »Die Erkenntnis des Menschen wäre, wie mir dünkt, in drey Wissenschaften abzutheilen. Man kann erstlich die Theile und Geschäffte der Maschine allein betrachten, ohne dabey auf die Einschränkungen zu sehen, welche diese Bewegungen von der Seele empfangen, oder welche die Seele wiederum von der Maschine leidet; das ist Anatomie und Physiologie. Zweytens kann man auf eben diese Art die Kräfte und Eigenschaften der Seele untersuchen, ohne allezeit die Mitwirkung des Körpers oder die daraus in der Maschine erfolgenden Veränderungen in Betrachtung zu ziehen; das wäre Psychologie, oder welches einerley ist, Logik, Aesthetik und ein grosser Theil der Moralphilosophie. […] Endlich kann man Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachten, und das ist es, was ich Anthropologie nenne.« (Platner (1772), S. XV ff.) Der letzte Teilsatz findet sich in der Fussnote von Cabanis fast wörtlich übersetzt! Die Vorrede fehlt allerdings in der »Neuen Anthropologie« von 1790. Gegen eine Bezugnahme auf Kant spricht aber zudem, dass dieser seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« kritisch gegen Platners psychophysische Anthropologie konzipierte. 128 Die nach ihrem Erfinder Joseph-Ignace Guillotin benannte Enthauptungsvorrichtung galt zunächst als fortschrittlich, da sie den Tod des Delinquenten schneller und weniger qualvoll als frühere Hinrichtungsmethoden herbeiführen würde. Siehe dazu: Arasse (1988). 129 Die beiden Artikel »Oelsner aux r¦dacteurs du Magasin encyclop¦dique« und »Lettre de M. Soemmerring — M. Oelsner« wurden 1795 im 3. Band des »Magasin encyclop¦dique« unter dem Titel »Sur le supplice de la Guillotine« veröffentlicht. Die Texte sind wieder abgedruckt in: Wagner, R. (1986). Bd. II; S. 270 – 279.

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die Revolutionsereignisse berichtete. Er entrüstet sich vor allem über die unmenschliche und unmoralische Art und Weise der Hinrichtung durch die Guillotine, welche einem Volk, das sich mit den Athenern und den Olympischen Göttern vergleiche, völlig unangemessen sei. Nach seinem Verständnis ist es auch unangebracht, dass sich ein Scharfrichter – anders als in Deutschland, wo dieser wegen seines Metiers rechtlich benachteiligt war – als Bürger bezeichnen und auch alle bürgerlichen Rechte ausüben darf: »Vous n’avez pas eu honte de la loi absurde qui accorde les droits de citoyen — vos b o u r r e a u x ! Il ne doit point y avoir de bourreau dans un gouvernement bien organis¦, et s’il en existe, ces Þtres sont justement marqu¦s d’infamie. Je ne serai jamais citoyen d’un pays o¾ le bourreau pourra Þtre mon repr¦sentant et mon juge!«130

Des Weiteren beruft er sich auf den berühmt gewordenen Fall der Charlotte Corday, welche durch die Guillotine geköpft wurde, da sie den Arzt und Revolutionär Jean Paul Marat 1793 im Bad erdolcht hatte. Von mehreren Augenzeugen wurde beschrieben,131 dass diese aussergewöhnliche Frau die Hinrichtung völlig ruhig über sich ergehen liess. Doch als der Scharfrichter den abgeschlagenen, blutenden Kopf dem johlenden Pöbel zeigte und ihm eine Ohrfeige verpasste, errötete Charlotte Corday aus Schamgefühl über diese öffentliche Blossstellung. Für Oelsner ist das Erröten des abgetrennten Kopfes ein Beweis dafür, dass nach der Hinrichtung durch die Guillotine eine moralische Empfindung des Opfers noch möglich ist.132 Auch Soemmerring, der, wie er stolz versichert, noch nie eine Hinrichtung durch die Guillotine mit eigenen Augen gesehen hat, findet die in Frankreich angewandte Tötungsmethode barbarisch. Doch versucht der berühmte deutsche Arzt und Anatom seine Gegenargumente auf wissenschaftliche Fakten zu stützen.133 Für ihn ist es unbestritten, dass die vitalen Kräfte und die Empfindungen 130 »Oelsner aux r¦dacteurs du Magasin encyclop¦dique«. Ibid. S. 272. Die nationalistischen Töne sind in Oelsners Aufsatz nicht zu überhören. [»Ihr habt euch nicht für das absurde Gesetz geschämt, das euren Henkern die Bürgerrechte zubilligt! In einer gut organisierten Verwaltung müsste man keine Henker haben, und wenn doch welche existieren, sind diese Wesen zu Recht wegen Ehrlosigkeit gebrandmarkt. Ich wäre niemals Bürger in einem Land, wo der Henker mein Repräsentant oder mein Richter sein könnte!«] 131 Aus Oelsners Brief ist nicht eindeutig zu ersehen, ob er selbst Augenzeuge der Hinrichtung von Charlotte Corday war. Es ist zu vermuten, dass dem nicht so ist, da er dies wahrscheinlich besonders herausgestrichen hätte. (Ibid. S. 271.) 132 »Ce mouvement ne pourroit r¦sulter et ne peut s’expliquer que d’un principe moral.« (Ibid. Anm. 1.) [»Diese Bewegung könnte nicht entstehen und lässt sich nicht erklären, ausser durch ein moralisches Prinzip.«] 133 Cabanis’ Behauptung, Soemmerring stütze seine These vor allem auf das Beispiel der Charlotte Corday, ist unrichtig. Soemmerring erwähnt diesen spektakulären Fall mit keiner Silbe. (Cabanis (1956). Note sur l’opinion de MM. Oelsner et Soemmering, et du citoyen Sue, touchant le supplice de la guillotine. Tome II; S. 493 f.) Auch Emil Schiff übernimmt

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des menschlichen Körpers nach der Abtrennung des Kopfes nicht sogleich zerstört sind: »Ce que nous avanÅons est fond¦, non sur des suppositions et sur des hypothÀses, mais sur des faits. Ceux qui sont convaincus: 18. Que le si¦ge du sentiment et de son apperception est dans le cerveau; 28. Que les op¦rations de cette conscience des sentimens, peuvent se faire, quoique la circulation du sang par le cerveau soit suspendue ou foible, ou partielle; N’ont besoin que de ces donn¦es, pour en tirer la conclusion, que la guillotine doit Þtre un genre de mort horrible. Dans la tÞte, s¦par¦e du corps par ce supplice, l e s e n t i m e n t , l a p e r s o n n a l i t ¦ , le m o i reste vivant pendant quelque temps, et ressent l ’ a r r i À r e - d o u l e u r dont le col est affect¦.«134

Die Auffassung, dass sich der Sitz des Empfindungsvermögens und des ›sensorium commune‹ ausschliesslich im Gehirn befindet, ist nach Soemmerring eine unanfechtbare Tatsache. Wie wir bereits gesehen haben, versucht er später diese These in seiner Abhandlung »Ueber das Organ der Seele« zu beweisen, ein Versuch, der nicht zuletzt wegen Kants skeptischer Rezension zum Scheitern verurteilt war.135 Das Gehirn behält aufgrund dieser postulierten Eigenschaft noch längere Zeit nach dem Tode das Bewusstsein, sofern dieser nicht nach einem allmählichen Einschlafen eintritt. Daraus lässt sich nun folgern, dass ein abgetrennter Kopf, in dem sich zudem wegen der anatomischen Lage der Arterien und Venen im zervikalen Bereich das Blut staut und infolgedessen einen grossen Druck auf das Gehirn ausübt, noch während längerer Zeit Schmerzen empfinden muss. Als Beweis für diese These führt Soemmerring verschiedene Beobachtungen und Experimente an, die er selbst während seiner praktischen Tätigkeit als Arzt und Forscher gemacht hat, und die ihn zum Schluss kommen lassen: »Si donc le principe, q u e l e s i ¦ g e d e l a f a c u l t ¦ d e s e n t i r e s t d a n s l e c e r v e a u ne peut Þtre contest¦, voici la cons¦quence qui en r¦sulte. A u s s i l o n g temps que le cer veau conser ve sa force vitale, le supplici¦ a le s e n t i m e n t d e s o n e x i s t e n c e . Des ph¦nomÀnes frappans, remarqu¦ par un kritiklos die Behauptung von Cabanis und unterlässt es infolgedessen, Soemmerrings Argumente detailliert darzustellen. (Schiff (1886), S. 32 f.) 134 »Lettre de M. Soemmerring — M. Oelsner«. In: Wagner, R. (1986). Bd. II; S. 274. [»Das, was wir behaupten, ist nicht auf Vermutungen oder Hypothesen gegründet, sondern auf Fakten. Diejenigen, die überzeugt sind: 1. Dass der Sitz der Empfindung und ihrer Wahrnehmung im Gehirn ist; 2. Dass die Wirkungen von diesem Bewusstsein der Empfindungen ausgeübt werden können, auch wenn der Blutkreislauf durch das Gehirn abgetrennt, schwach oder partiell ist; brauchen nur diese Gegebenheiten, um daraus den Schluss zu ziehen, dass die Guillotine eine schreckliche Tötungsart sein muss. Im Kopf, durch die Folter abgetrennt vom Körper, bleiben die Empfindung, die Persönlichkeit, das Ich während einiger Zeit am Leben, und fühlen den nachwirkenden Schmerz, von dem der Hals betroffen ist.«] 135 Siehe dazu Kapitel III.1.

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grand nombre d’observateurs, dignes de foi, et dont vous avez ¦t¦ vous-mÞme le t¦moin, prouvent q u e l a t Þ t e c o n s e r v e s a f o r c e v i t a l e , l o n g - t e m p s a p r À s Þ t r e s ¦ p a r ¦ e d u c o r p s .«136

Soemmerring ergänzt seine eigenen Beobachtungen mit denjenigen anderer Zeugen. Insbesondere beruft er sich auf Experimente von Haller und Galvani, die bezeugen würden, dass das Durchtrennen der Nerven nicht das unmittelbare Ende der Irritabilität und Sensibilität zur Folge habe.137 Doch im Grunde beruht sein ›Beweis‹ auf einer petitio principii. Der Sitz des Empfindungsvermögens im Gehirn soll das Schmerzempfinden eines abgetrennten Kopfes beweisen. Diese Schlussfolgerung ist aber nur dann richtig, wenn die angeblich unbestrittene Behauptung zutreffend ist. Nicht zuletzt ist aber die Hinrichtung durch die Guillotine auch für Soemmerring aus moralischen Gründen abzulehnen, und so schliesst er seinen Artikel mit den eindringlichen Worten: »Des spectacles aussi abominables ne devoient pas avoir lieu parmi les sauvages: et ce sont des r¦publicains qui les donnent et qui y assistent!!!«138

Cabanis’ Entgegnung auf die Aufsätze von Oelsner und Soemmerring verdeutlicht uns in nuce dessen grundsätzlichen Annahmen über die Beziehungen zwischen Sensibilität, Irritabilität und Bewusstsein.139 Auch Cabanis stützt sich in seiner Argumentation auf die Experimente Albrecht von Hallers, aber anders als Soemmerring übernimmt er dessen strikte Unterscheidung zwischen Irritabilität und Sensibilität. Zwar wird er später in den »Rapports« nachweisen, dass auch die Muskeln von Nerven durchzogen sind, aber er unterscheidet stets klar zwischen den Fähigkeiten zu irritablen und sensiblen Wirkungsweisen. Deshalb sind für ihn heftige Muskelkontraktionen noch kein Beweis dafür, dass 136 »Lettre de M. Soemmerring — M. Oelsner«. In: Wagner, R. (1986). Bd. II; S. 275. [»Wenn also der Grundsatz, dass der Sitz der Fähigkeit zu empfinden im Gehirn ist, nicht bestritten werden kann, so ist das die Folge, die sich daraus ergibt. Solange das Gehirn seine vitale Kraft behält, hat der Hingerichtete das Gefühl seiner Existenz. Auffallende Erscheinungen, bemerkt von einer grossen Anzahl glaubwürdiger Beobachter, und von denen ihr selbst ein Zeuge gewesen seid, beweisen, dass der Kopf, noch lange nachdem er vom Körper abgetrennt ist, seine vitale Kraft behält.«] 137 Ernst Platner versucht etwa zur gleichen Zeit die absolute Trennung zwischen Irritabilität / Muskeln und Sensibilität / Nerven in seinen »Quaestiones physilogicae« aufzuheben. Siehe dazu: De Angelis ( 2007), S. 243 – 273. 138 »Lettre de M. Soemmerring — M. Oelsner«. In: Wagner, R. (1986). Bd. II; S. 279. [»So abscheuliche Schauspiele dürfen unter den Wilden nicht stattfinden: und diese sind Republikaner, welche sie darbieten und hier unterstützen!!!«] 139 Cabanis geht ebenfalls auf die Argumente von Jean Joseph Sue, einem Professor für Medizin und Botanik, ein, der in einem weiteren Artikel des »Magasin encyclop¦dique« behauptet hat, das Schmerzempfinden würde nicht nur im abgetrennten Kopf, sondern auch im Rumpf des Hingerichteten noch eine Zeit lang vorhanden sein.

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zugleich auch Schmerzen oder andere Empfindungen von einem Lebewesen wahrgenommen werden. Um seine Überzeugung zu untermauern, listet Cabanis zahlreiche Krankheitsfälle auf, die er aus der eigenen Praxis kennt oder die seit der Antike in der medizinischen Literatur überliefert werden. Darunter sind zum Beispiel Beschreibungen von Menschen, die nach der Amputation eines Armes oder Beines noch immer Schmerzen in den abgetrennten Gliedmassen empfunden haben. Umgekehrt kennt Cabanis auch Fälle, in denen der Kranke seine Körperteile ohne Schwierigkeiten bewegen konnte, obwohl er völlig unempfindlich gegen Schläge auf die entsprechenden Gliedmassen war. Selbst Stichverletzungen verursachten bei diesen Patienten keinerlei Gefühlsregungen. Auf jeden Fall aber hat eine Durchtrennung der Nerven oder des Rückenmarks stets den Verlust der Sensibilität in den abgetrennten Teilen zur Folge. Da nun nach Cabanis der Mensch und alle höher entwickelten Tiere verschiedene Nervenzentren im Körper haben, wobei das Gehirn, das Rückenmark und die Nerven der Verdauungs- und Geschlechtsorgane die wichtigsten sind, hat eine Läsion im Zentralnervensystem weitreichende Konsequenzen. Denn ein solcher Eingriff verhindert die Weiterleitung von Sinneseindrücken, die somit auch nicht mehr bewusst empfunden werden können. Deshalb kommt der ›Id¦ologue‹ zum Schluss: »On voit que les observations pr¦c¦dentes r¦pondent tour — tour — M. Soemmering et au citoyen Sue. Il en r¦sulte qu’un homme guillotin¦ ne souffre ni dans les membres ni dans la tÞte; que sa mort est rapide comme le coup qui le frappe: et si l’on remarque dans les muscles des bras, des jambes et de la face, certains mouvemens ou r¦guliers ou convulsifs, ils ne prouvent ni douleur ni sensibilit¦; ils d¦pent seulement d’un reste de facult¦ vitale, que la mort de l’individu, la destruction du m o i , n’an¦antit pas sur-lechamp dans ces muscles et dans leurs nerfs.«140

Für Cabanis ist unbestritten, dass das Gehirn nicht der alleinige Sitz des Empfindungsvermögens ist. Das Organ des Denkens und Wollens ist zwar als Organisator oder Verwalter die höchste Instanz des menschlichen Organismus und besitzt als einziges die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung, doch es wird seinerseits von den übrigen physiologischen Vorgängen im eigenen Körper sowie über die äusseren Sinnesorgane von den Objekten der Aussenwelt be140 Cabanis (1956). Note sur l’opinion de MM. Oelsner et Soemmering, et du citoyen Sue, touchant le supplice de la guillotine. Tome II; S. 501 f. [»Man sieht, dass die vorhergehenden Beobachtungen abwechselnd Herrn Soemmerring und dem Bürger Sue antworten. Es ergibt sich daraus, dass ein guillotinierter Mensch weder in seinen Gliedern noch in seinem Kopf leidet; dass sein Tod so schnell erfolgt wie ein Schlag, der ihn trifft; und wenn man in den Muskeln der Arme, Beine und des Gesichts gewisse Bewegungen, entweder regelmässige oder konvulsive, bemerkt, diese weder Schmerz noch Empfindung beweisen; sie hängen letztlich von einem Rest der vitalen Fähigkeit ab, den der Tod des Individuums, die Zerstörung des Ichs nicht sofort in den Muskeln und deren Nerven vernichtet.«]

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einflusst. Wird dieses diffizile System, in dem sozusagen alles mit allem in Verbindung steht, durch eine schnelle Trennung des Kopfes vom Rumpf ›gestört‹, hat dies den unverzüglichen, schmerzlosen Tod zur Folge: »Un simple ¦branlement du cervelet ou de la moelle allong¦e, un coup violent — l’occiput ou sur les vertrÀbres cervicales, suffisent pour donner la mort. Si le coup ne fait qu’enlever momentan¦ment la connoissance, le malade, en revenant — lui, n’en garde aucun souvenir : il ne l’a pas senti.«141

Was den Fall der Charlotte Corday betrifft, ist Cabanis der Meinung, dass die Berichte über die besonderen Umstände von deren Hinrichtung schlicht und einfach erfunden sind. Weder er selbst noch ihm vertrauenswürdig genug erscheinende Personen seien Augenzeugen gewesen. Allerdings lenkt Cabanis insofern von der These Soemmerrings über den schmerzhaften Tod durch die Guillotine ab, als er behauptet, dieser versuche sie mithilfe des Falles von Charlotte Corday zu beweisen. Doch in Wahrheit erwähnt Soemmerring diesen überhaupt nicht. Zudem fällt auf, dass Cabanis sehr viel mehr Aufwand für die Widerlegung der These von Jean Joseph Sue betreibt als auf die soemmerringschen Argumente einzugehen. Das dürfte kein Zufall sein, denn der Behauptung von Sue, dass nach der Zerlegung eines lebenden Körpers jeder Teil noch ein Bewusstsein und die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, besitzt, ist einfacher zu entgegnen: »Les d¦couvertes microscopiques ont appris que la vie est partout; que, par cons¦quent, il y a partout plaisir et douleur : et, dans l’organisation mÞme de nos fibres, il peut exister des causes innombrables de vies particuliÀres, dont la correspondance et l’harmonie avec le systÀme entier, par le moyen des nerfs, constitue le m o i . Il ne r¦sulterait de l— rien de ce que pr¦tend le citoyen Sue; car le m o i n’existe que dans la vie g¦n¦rale: et la sensibilit¦ des fibres, lorsqu’elles en sont isol¦es, ne correspond pas plus avec lui, que celle des animaux qui peuvent se d¦velopper dans diff¦rentes parties du corps.«142 141 Ibid. S. 500. [»Eine einfache Erschütterung des Kleinhirns oder des verlängerten Rückenmarks, ein kräftiger Schlag auf das Hinterhaupt oder die Halswirbeln genügen, um den Tod herbeizuführen. Wenn der Schlag nur zu einem vorübergehenden Verlust des Bewusstseins führt, behält der Kranke keine Erinnerung daran zurück, wenn er wieder zu sich kommt: er hat ihn nicht gespürt.«] In der Fussnote zu dieser Stelle fügt Cabanis an, dass für das Empfinden von Schmerzen sowohl Aufmerksamkeit als auch genügend Zeit vorhanden sein müssen. Er beweist diese Aussage mit einer eigenen Erfahrung in seiner Jugend. Bei einem Sturz vom Pferd brach er sich den Ellenbogen, der seitdem verstümmelt blieb. Doch trotz der starken Verwundungen verspürte er erst nach einer Viertelstunde Schmerzen: Das Denken rief sie sozusagen ins Bewusstsein. 142 Ibid. S. 499; Anm. 1. [»Die mikroskopischen Entdeckungen haben gelehrt, dass das Leben überall ist; dass es folglich überall Lust und Schmerz gibt: und in der Organisation unserer Fibern selbst können unzählige Ursachen für besondere Leben existieren, denn Verbindung und Harmonie mit dem ganzen System, mittels der Nerven, machen das Ich aus. Daraus folgt überhaupt nichts von dem, was Bürger Sue behauptet; denn das Ich existiert nur im allge-

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Letztlich vermag jedoch auch Cabanis nichts Endgültiges über den diskutierten Sachverhalt mitzuteilen.143 Der Grund dafür liegt in seiner »amour pour la v¦rit¦« [»Wahrheitsliebe«],144 die es ihm nicht erlaubt über Phänomene zu urteilen, die der menschlichen Erkenntnis verborgen bleiben müssen. Jenes Lebensprinzip, welches empirisch nicht nachzuweisen ist, darf ihn als Naturwissenschaftler nicht interessieren: »Je n’ai absolument aucune id¦e — cet ¦gard: et je ne vois pas que, depuis quatre mille ans, les plus grands g¦nies en aient eu une seule qui puisse soutenir l’examen de la raison. Je ne crois point, je ne nie point, je n’examine mÞme pas; car ici, la nature nous a refus¦ les moyens d’examiner: j’ignore absolument; mais j’ignore, je l’avoue, en homme qui n’a pas un grand respect pour les conjectures, encore moins pour les assertions ou pour les n¦gations positives, dans les matiÀres auxquelles nous ne pouvons absolument point appliquer les v¦ritables instruments de nos connoissances.«145

Im Grunde aber lehnt auch Cabanis die öffentlichen Hinrichtungen durch die Guillotine ab und betrachtet solche Mittel als der Menschheit unwürdig. Er widerspricht Soemmerring, Oelsner und Sue nur insofern, als er deren Einschätzung der Todesart in Frage stellt. In seiner Argumentation urteilt er stets ›objektiv‹ als Arzt und Wissenschaftler, nicht als ›homo politicus‹. Doch nur wenige Jahre später, nun zum Professor am ›Institut National‹ in der Klasse für moralische und politische Wissenschaften gewählt, versucht er ausführlich die Physis und Psyche des Menschen als ein System darzustellen, welches in Wechselbeziehung zum gesamten Universum steht. Pierre-Jean-Georges Cabanis versucht in seinem zwölf ›M¦moires‹146 umfassenden Hauptwerk »Rapports du physique et du moral de l’homme« den Menschen als ein Lebewesen darzustellen, welches aus verschiedenen Teilsystemen besteht. Diese einzelnen Teilsysteme stehen wiederum miteinander in wech-

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meinen Leben: und die Empfindsamkeit der Fibern, wenn diese abgesondert sind, entspricht ihm nicht mehr als diejenige der Tiere, die sich in verschiedenen Teilen des Körpers entwickeln können.«] Lakonisch bemerkt Cabanis, dass bisher noch nie ein Enthaupteter ins Leben zurückgekehrt sei, um von seinen Erfahrungen während seiner Enthauptung zu berichten. Ibid. S. 502. Ibid. Ibid. S. 503 f. [Hervorhebung von mir.] [»Ich habe in dieser Hinsicht überhaupt keine Vorstellung und sehe nicht, dass, seit viertausend Jahren, die grössten Genies eine einzige darüber gehabt hätten, die der Überprüfung durch den Verstand standgehalten hätte. Ich glaube nicht, ich verneine nicht, ich überprüfe nicht einmal; denn hier hat uns die Natur die Mittel zur Überprüfung verweigert: ich kenne überhaupt nichts; aber, ich gebe es zu, ich kenne im Menschen nichts, was nicht einen grossen Respekt für Mutmassungen, nicht weniger für Versicherungen oder für positive Verneinungen hat auf den Gebieten, auf welche wir die wahren Instrumente unserer Kenntnisse absolut nicht anwenden können.«] Die ersten sechs ›M¦moires‹ erschienen bereits in den Bänden I und II der »M¦moires de l’Institut national« von 1799 (thermidor an VI) und 1800 (fructidor an VII). 1802 erfolgte dann die erste Ausgabe, welche alle zwölf ›M¦moires‹ umfasste. Eine zweite überarbeitete und erweiterte Edition erschien 1805.

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selseitiger Beziehung und bilden zusammen ein übergeordnetes System seiner Teile.147 Der gesamte menschliche Organismus mit seiner physischen und psychischen Ausstattung bildet eine Einheit, die aus sich selbst heraus das Leben, das heisst die vitalen Kräfte, generiert. Es bedarf dazu also keines autonomen Prinzips oder gar einer immateriellen Kraft. Aus diesem Grund beschäftigt sich Cabanis auch nicht mit metaphysischen Fragen.148 Für eine ›wirkliche‹ ›Science de l’homme‹ ist die Metaphysik irrelevant. Der ›M¦decin philosophe‹ erachtet es daher als überflüssig, nach den ›primae causae‹ oder den Endzwecken zu fragen. Keine Wissenschaft ist in der Lage, so die Überzeugung des ›Id¦ologue‹, solche Fragen zu beantworten, da sie empirisch nicht zu erforschen sind. Cabanis beschränkt sich in seinen Untersuchungen also nur auf die materielle Substanz und die ihr zugehörigen Vermögen (facult¦s). Auf diese Weise ist er in der Lage, das zentrale Nervensystem, hauptsächlich Gehirn, Nerven und Rückenmark, mit seiner Eigenschaft der ›Sensibilit¦‹ nicht nur als Grundlage für das Empfindungsvermögen, sondern auch für alle Aktivitäten des Denkens und Wollens zu betrachten: »En supposant qu’il nous f˜t permis de r¦pondre par l’affirmative aux diverses questions ¦nonc¦es ci-dessus, les op¦rations de l’intelligence et de la volont¦ se trouveroient confondues, — leur origine, avec les autres mouvemens vitaux: le principe des sciences morales, et par cons¦quent ces sciences elles-mÞmes, rentreroient dans la domaine de la physique; elles ne seroient plus qu’un branche de l’histoire naturelle de l’homme: l’art d’y v¦rifier les observations, d’y tenter les exp¦riences, et d’en tirer tous les r¦sultats certains qu’elles peuvent fournir, ne diff¦reroit en riens des moyens qui sont journellement employ¦s avec la plus entiÀre et la plus juste confiance, dans les sciences pratiques dont la certitude est le moins constat¦e: les principes fondamentaux des unes et des autres seroient ¦galement solides: elles se formeroient ¦galement par l’¦tude s¦vÀre et par la comparaison des faits; elles s’¦tendroient et se perfectionneroient par les mÞmes m¦thodes de raisonnement.«149 147 Wie wir gesehen haben, findet sich diese Vorstellung auch in den wissenschaftlichen Schriften Alexander von Humboldts. Dieser beruft sich, wie viele seiner deutschen Zeitgenossen, auf Kants »Kritik der Urteilskraft«, so zum Beispiel im zweiten Band der »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« (siehe dazu die Ausführungen auf Seite 230 sowie Anm. 194). Cabanis erwähnt Kant nirgends namentlich, aber er kannte die »Versuche« von Humboldt und zitiert sie sogar in seinen »Rapports«. 148 »On ne trouvera point encore ici, ce qu’on avoit appel¦ long-temps, de la m ¦ t a p h y s i q u e : ce seront de simples recherches de p h y s i o l o g i e , mais dirig¦es vers l’¦tude particuliÀre d’un certain ordre de fonctions.« (Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 121.) [»Man wird hier auch nichts von dem finden, was man lange Metaphysik nannte: es werden einfache Untersuchungen der Physiologie sein, aber gerichtet auf das besondere Studium über eine bestimmte Ordnung der Funktionen.«] 149 Ibid. S. 114 f. [»Angenommen, es wäre uns erlaubt auf die verschiedenen, oben formulierten Fragen mit Ja zu antworten, so fänden sich die Wirkungen der Intelligenz und des Willens in ihrem Ursprung vermischt mit den anderen vitalen Bewegungen vor : Der Grundsatz der moralischen Wissenschaften, und folglich diese Wissenschaften selbst, würden in das Gebiet

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Da sich alle geistigen Phänomene im Menschen auf körperliche Ursachen zurückführen lassen, muss man das Denken und Wollen mit denselben empirischen Methoden untersuchen wie die physiologischen Vorgänge im Körper. Auch wenn die Ergebnisse der Untersuchung einer absoluten Gewissheit entbehren, so erhalten sie doch durch sorgfältiges Beobachten, Vergleichen und vernünftiges Schlussfolgern mehr Aussagekraft als durch spekulatives Räsonieren. Es geht Cabanis auch nicht um die ›letzte Wahrheit‹, denn diese ist sowieso für jedes menschliche Wesen unerreichbar, sondern um eine Annäherung an die gegebene Realität. Denn wie die anderen ›Id¦ologues‹ seiner Zeit wollte Cabanis den Fortschritt der Menschheit mithilfe von positiven Erkenntnissen fördern. Gerade diese Haltung brachte ihm jedoch den Vorwurf des Materialismus oder gar Atheismus ein. Liest man die »Rapports« aber genauer, so kann man nirgends feststellen, dass er das Vorhandensein einer Seele bestreiten würde. Aber als Wissenschaftler erachtet er diese für die Erklärung organischer Phänomene als irrelevant. Wenn Cabanis die Sensibilität und das damit verbundene Nervensystem zur Grundlage aller physischen und psychischen Aktivitäten jedes Lebewesens erklärt, so setzt er sie jedoch nicht nur zur Wahrnehmungsfähigkeit äusserer Eindrücke in Beziehung. Genauso wichtig sind in Cabanis Augen die inneren Eindrücke, welche die Nerven, das Rückenmark und das Gehirn von den Organen, Muskeln, Drüsen und dergleichen empfangen. Denn auch die Eindrücke, die ein Körper von seinen eigenen inneren Aktivitäten erhält, spielen für das physische und psychische Gleichgewicht eines Lebewesens eine immense Rolle. Dabei müssen weder die inneren noch die äusseren Eindrücke bewusst wahrgenommen werden, denn – wie der ›Id¦ologue‹ hellsichtig konstatiert – spielen sich viele Vorgänge auf einer unbewussten Ebene ab. Beispielsweise werden die meisten Sekretions- und Nutritionsvorgänge vom Gehirn nicht bewusst wahrgenommen. Trotzdem können Störungen dieser physischen Aktivitäten andere Beeinträchtigungen der Organe, Sinneswahrnehmungen oder sogar geistiger Denkprozesse im Gehirn zur Folge haben. Grosse Beachtung widmet Cabanis insbesondere den Geschlechtsorganen.150 der Physik zurückkehren; sie wären nicht mehr als ein Zweig der Naturgeschichte des Menschen: Die Kunst, darin die Beobachtungen zu verifizieren, Experimente zu versuchen und daraus alle sicheren Ergebnisse zu folgern, die sie erbringen könnten, würde sich in nichts von den Mitteln unterscheiden, welche täglich mit dem grössten und angemessensten Vertrauen in den praktischen Wissenschaften angewendet werden, deren Gewissheit am wenigsten gesichert ist: Die grundsätzlichen Prinzipien der einen und der anderen wären gleich solide: Sie würden gleicherweise durch das strenge Studium und den Vergleich der Fakten gebildet; sie würden sich durch dieselbe Methode der Beweisführung erweitern und vervollkommnen.«] 150 Diesem wichtigen Thema widmet Cabanis das ganze fünfte ›M¦moire‹: »De l’influence des sexes sur le caractÀre des id¦es et des affections morales«. (Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 273 – 315.)

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Für ihn ist es unbestritten, dass sich während der Pubertät einer jungen Frau oder eines jungen Mannes nicht nur die Entwicklung der Fortpflanzungsorgane zu ihrer vollen Reife und Funktionsfähigkeit vollzieht – von der Bedeutung der Hormone wusste man zu dieser Zeit noch nichts –,151 sondern sich auch der Charakter, das Temperament, die Art der Vorstellungen sowie die Lebensführung und Verhaltensweisen ändern. Minutiös verfolgt der Arzt die unterschiedlichen Veränderungen, die sich im Laufe des Lebens bei Mann und Frau feststellen lassen und in Beziehung zum jeweiligen Geschlecht stehen. Denn die Geschlechterdifferenz ist auch ein wichtiger Faktor für die verschiedenen gesellschaftlichen Aufgaben. So ist für Cabanis die Frau aufgrund ihrer physischen Voraussetzungen prädestiniert für die Rolle als Hausfrau und Mutter, hingegen ist sie für Aufgaben in den Bereichen Wissenschaft, Kunst und Politik nicht geeignet. Führt eine Frau trotzdem eine ›männliche‹ Lebensweise, hat dies negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit ihrer Geschlechtsorgane. Oder letztere können umgekehrt, im Falle einer krankhaften Störung, ein ›männliches‹ Aussehen oder Verhalten der Frau zur Folge haben.152 Wegen der besonders engen Verbindung zwischen den Geschlechtsorganen und dem Gehirn nimmt Cabanis sogar an, dass sich die hysterischen Zustände vieler unverheirateter Frauen mit deren unterdrückter Libido erklären lassen. Die strenge Sexualmoral, die besonders in der Bourgeoisie ausgeprägt sei und von den ledigen Frauen Keuschheit bis zur Hochzeitsnacht verlange, habe eine Überreizung der Fortpflanzungsorgane zur Folge, welche wiederum zu einer Art geistigen Überhitzung führe, die schlimmstenfalls im Wahnsinn enden könne. Auf ähnliche Weise sieht Cabanis auch andere Geisteskrankheiten als Folge physiologischer Veränderungen. Er behauptet des Weiteren, dass sich jede Form von Wahnsinn oder Debilität zugleich als Veränderung im Gehirn ablesen lasse, welches in diesen Fällen Abweichungen in der Grösse, Konsistenz, Farbe oder Struktur aufweise. In jenen Fällen von Geisteskrankheiten, in denen man noch keine solchen Veränderungen feststellen konnte, sei es nur eine Frage der Zeit, bis der medizinische und technologische Fortschritt den Beweis dafür erbringen werde. Die Fähigkeit zur Sinneswahrnehmung besitzt ein Lebewesen aber nicht von Anfang an. Obgleich es nicht, wie Locke behauptete, als »tabula rasa« auf die Welt kommt, müssen sich die Sinne erst entwickeln. Dies beginnt bereits im 151 Als einer der Ersten untersuchte der französische Arzt und Physiologe Charles Edouard Brown-S¦quard (1817 – 1894) körperliche Substanzen, die man heute als Hormone bezeichnet. Er entdeckte unter anderem auch die Bedeutung der Nebennieren. 152 Wilhelm von Humboldt entwickelte in den Geschlechteraufsätzen ähnliche Ansätze. Er schreckte aber letztlich vor einer solchen biologistischen Festschreibung von männlich und weiblich zurück und versuchte, das materialistische Fundament seiner Theorie mit einer Sublimierung durch das Geistige wieder zu verbergen. (Siehe dazu auch Kapitel III.3.)

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vorgeburtlichen Stadium. Der Embryo empfängt zunächst von seinem eigenen, sich allmählich ausbildenden Nervensystem erste innere Eindrücke. Diese inneren Eindrücke, die der Embryo zwar nicht bewusst, aber immer öfter wahrnimmt, ermöglichen die Differenzierung der Sinne. Mit dem sich zuerst entwickelnden Tastsinn erforscht der Fötus schon im Mutterleib seine Umwelt. Zumindest ist dies beim Menschen der Fall, den Cabanis in den »Rapports« in den Mittelpunkt stellt. Die weitere Entfaltung des Kindes ist ein stetiger Lernprozess, der schliesslich auch die bewusste Wahrnehmung und das willentliche Handeln zur Folge hat. Im Unterschied zu den Tieren sind beim Menschen das bewusste Wahrnehmen und Handeln ausgeprägter und treten häufiger an die Stelle der unbewussten Instinkte. Dadurch gewinnt der Mensch aber keine Sonderstellung gegenüber den Tieren, sondern bleibt ein Teil der Natur. Wie wir gesehen haben, ist diese Auffassung ein typisches Merkmal der ›Id¦ologie‹: Die Anthropologie ist nur ein Teil der Zoologie. Die enge Verquickung der geistigen und moralischen Phänomene mit der Physiologie führt Cabanis dazu, mittels Analogien von körperlichen Prozessen auf sinnliche und geistige Vorgänge zu schliessen. Sein kühnes Vorgehen brachte dem ›Id¦ologue‹ denn auch manche Kritik ein, zumal zum Zeitpunkt der ersten Publikation der »Rapports« im Jahre 1802 die empirisch-antimetaphysischen Anthropologen unter Napoleons Diktatur einen schweren Stand hatten. Als Cabanis 1797 am ›Institut National‹ seine ›M¦moires‹ erstmals in der »Section de l’analyse des sensations et des id¦es« vortrug, fand er noch grosse Zustimmung zu seinen an faktenreichem Material orientierten Thesen. Die damals enge Verbindung zwischen den Wissenschaftlern des ›Institut National‹ und der Regierung des ›Directoire‹ begünstigte die Akzeptanz seiner Sichtweise des Menschen, die auch Eingang fand in die offizielle zeitgenössische Politik.153 Doch die Machtergreifung Napoleons am 18. Brumaire an VII (9. November 1799) änderte die Ausgangslage abrupt. Die wieder erstarkten konservativen und kirchlichen Kreise nahmen insbesondere Anstoss an einer Stelle im zweiten ›M¦moire‹, die die Sekretionsvorgänge der Verdauungsorgane mit der Gehirntätigkeit während des Denkens vergleicht: »Dira-t-on que les mouvemens organiques par lesquels s’ex¦cutent les fonctions du cerveau nous sont inconnus? Mais l’action par laquelle les nerfs de l’estomac d¦terminent les op¦rations diff¦rentes qui constituent la digestion; mais la maniÀre dont ils imprÀgnent le suc gastrique de la puissance dissolvante la plus active, ne se d¦robent pas moins — nos recherches. Nous voyons les alimens tomber dans ce viscÀre, avec les qualit¦s qui leur sont propres; nous les en voyons sortir avec des qualit¦s nouvelles: et nous concluons qu’il leur a v¦ritablement fait subir cette alt¦ration. Nous voyons ¦galement les impressions arriver au cerveau, par l’entremise des nerfs: elles sont alors 153 Siehe dazu die Ausführungen bei: Chappey (2002), S. 56 ff.

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isol¦es et sans coh¦rence. Le viscÀre entre en action; il agit sur elles: et bientút il les renvoie m¦tamorphos¦es en id¦es, que le langage de la physionomie et du geste, ou les signes de la parole et de l’¦criture, manifestent au-dehors. Nous concluons, avec la mÞme certitude, que le cerveau digÀre en quelque sorte les impressions; qu’il fait organiquement la s¦cr¦tion de la pens¦e.«154

Solche Analogien waren verantwortlich dafür, dass Cabanis in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts als Materialist geächtet wurde; und dies, obwohl der Materialismus in Frankreich schon vor Cabanis eine Tradition besass. Auch La Mettrie, d’Holbach und Marat führten die geistigen Aktivitäten konsequent auf den Körper zurück.155 Aber der ›M¦decin philosophe‹ hat als Erster einen wissenschaftlich bedeutsamen Versuch einer physiologischen Psychologie und Anthropologie vorgelegt. Trotzdem geriet er in Frankreich schnell in Vergessenheit. Eine Berufung auf Cabanis galt als Hindernis für die berufliche Karriere, und so kam es dazu, dass selbst diejenigen Wissenschaftler, die seine Ansätze weiterentwickelten, ihre Quellen nicht preisgaben. Ein wichtiger Punkt in Cabanis Theorie über die Beziehung zwischen Körper und Moral betrifft die Auswirkung der individuellen Komponenten eines jeden Lebewesens. Es geht dem ›Id¦ologue‹ nicht um die Suche nach allgemeingültigen Prinzipien, die auf jeden Menschen überall und jederzeit angewendet werden können. Die Individualität eines Lebewesens ist bereits in seiner physischen Ausstattung nach Alter und Geschlecht begründet. Zusätzlich können auch Anatomie, Muskeln, Nerven, Organe usw. ihre besonderen Strukturen aufwei154 Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 196. [Hervorhebung von mir]. [»Wird man sagen, dass die organischen Bewegungen, durch welche die Wirkungen des Gehirns ausgeführt werden, uns unbekannt sind? Aber die Aktion, mit welcher die Magennerven die verschiedenen Wirkungsweisen bestimmen, welche die Verdauung ausmachen; aber die Art und Weise, wie sie den Magensaft mit der aktiven auslösenden Kraft erfüllen, entziehen sich nicht weniger unseren Untersuchungen. Wir sehen die Nahrungsmittel in dieses innere Organ fallen, mit den Eigenschaften, die ihnen zukommen, wir sehen sie bald mit neuen Eigenschaften herauskommen: Und wir schliessen daraus, dass nur dieses Organ sie diesen Wechsel wirklich unterziehen liess. Wir sehen auf gleiche Weise die Eindrücke durch Vermittlung der Nerven ins Gehirn gelangen: Sie sind also isoliert und ohne Zusammenhang. Das Organ tritt in Aktion; es wirkt auf sie ein: Und bald schickt es sie in Ideen verwandelt zurück, die sich ausserhalb als Ausdrucksweise der Physiognomie und der Gestik, oder als Zeichen der gesprochenen Sprache und der Schrift manifestieren. Wir schliessen daraus mit derselben Gewissheit, dass das Gehirn in gewisser Weise die Eindrücke verdaut, dass es auf organische Weise die Sekretion des Gedankens vollzieht.«] 155 Julien Offray de La Mettrie: Histoire naturelle de l’–me (1745); ders.: L’homme machine (1749); Paul-Henry Thiry d’Holbach: SystÀme de la nature (1770); Jean Paul Marat: De l’homme ou des principes, et des loix de l’influence de l’–me sur le corps et du corps sur l’–me (1775). Das Werk des Arztes Marat erschien in Amsterdam und wurde von den Aufklärern in Frankreich heftig kritisiert, da dieser wieder auf den descartschen Dualismus zurückgriff. Marat postulierte, Körper und Seele seien zwei voneinander getrennte Substanzen.

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sen, die von Individuum zu Individuum variieren. Neben diesen natürlichen Abweichungen der physischen Konstitution können zudem Krankheiten zu weiteren Veränderungen führen. Dazu treten nun noch die zahlreichen äusseren Einflüsse, die jedes Lebewesen zu formen vermögen. Ausführlich behandelt Cabanis die verschiedenen Faktoren, die auf die Physis des Menschen einwirken und indirekt dessen Charakter und Moral modifizieren. Diese äusseren Einflüsse reichen von den klimatischen Bedingungen (Jahreszeit, Wärme, Trockenheit, Luftdruck…) über die Nahrungsmittel (Menge und Art der Speisen, Genussmittel, Alkoholkonsum…) bis zu den Lebensgewohnheiten (Schlaf, Bewegung, Wohnverhältnisse…). So weisen zum Beispiel Personen, die sich vorwiegend im Sitzen betätigen, geringere Muskelkräfte auf als solche, die sich in der frischen Luft aufhalten und ständig in Bewegung sind. Als Konsequenz davon wird aber ihre Sensibilität des Nervensystems lebhafter und meist auch irregulärer. Die Zahl der inneren Sinneseindrücke nimmt somit um ein Vielfaches zu, während parallel dazu die Muskelkraft geschwächt wird. Diese beiden Vorgänge können im Extremfall zu spastischen und hypochondrischen Krankheiten führen und die moralische Disposition eines Menschen verändern. Eine sitzende Tätigkeit modifiziert somit gleichzeitig die physische und psychische Verfassung eines Individuums. Cabanis lenkt seine Aufmerksamkeit auch auf die verschiedenen Temperamente der Menschen. Ausgehend von der hippokratischen Medizin übernimmt er zwar ihre vier traditionellen Typen – den Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker –, aber er definiert sie nicht im Sinne der antiken Säftelehre. Nicht die Mischungsverhältnisse der Körpersäfte sind von Bedeutung, sondern die verschiedenen Temperamente werden auf physiologische Merkmale bezogen. Insbesondere die Eigenschaften der Organe und des Blutes sowie der Grad der Empfänglichkeit für sensible Eindrücke bestimmen das Temperament eines Individuums. Cabanis betont aber, dass die vier klassischen Temperamente, denen er noch zwei weitere hinzufügt, lediglich Idealtypen darstellen, die in der Wirklichkeit nicht vorzufinden sind. Die alltägliche Erfahrung zeigt uns, dass die meisten Individuen eine Mischform verschiedener Typen darstellen. Wir sehen also auch am Beispiel der Temperamente, wie eng der Charakter, der wiederum das Denken und die Moral beeinflusst, mit der Physis verbunden ist. Ein interessanter Aspekt von Cabanis’ Temperamentenlehre ist seine Auffassung, dass das Temperament im Laufe der Zeit veränderbar ist. Neben den äusseren Einflüssen wie Klima, Nahrungsmittel oder verschiedene Krankheiten spielt dabei auch die Vererbung eine grosse Rolle. Diese Annahme muss in einem grösseren Zusammenhang betrachtet werden. Bereits vor Lamarck ist Cabanis von der Veränderlichkeit der Arten überzeugt und formuliert im zehnten ›M¦moire‹ der »Rapports« eine moderne Transformationstheorie. Den Aus-

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gangspunkt dafür bildet seine Überzeugung, dass es zwischen der toten und lebenden Materie keinen wesentlichen Unterschied gibt.156 Die Pflanzen leben und wachsen allein von Luft und Wasser, also von anorganischen Substanzen. Im Austausch mit ihrer Umwelt findet eine stetige Komposition und Dekomposition der anorganischen Elemente statt.157 Nichts lässt darauf schliessen, dass der Prozess des Lebens letztlich nicht auch auf einfache, uns bekannte physikalische Prinzipien zurückgeführt und mit denselben methodischen Mitteln erforscht werden kann.158 Ganz ähnlich sieht Cabanis die Wechselbeziehung zwischen pflanzlichen und tierischen Organismen, denn jede pflanzliche Substanz besitzt das Vermögen, sich zu ›animalisieren‹: »Ici, nous voyons avec ¦vidence, la nature, qu’on appelle m o r t e , li¦e, par une cha„ne non interrompue, avec la nature vivante; nous voyons les ¦l¦mens inorganiques se combiner, pour produire diff¦rens corps organis¦s; et les produits de la v¦g¦tation, sortent la vie et le sentiment, avec leurs principaux attributs. Ainsi donc, — moins qu’on ne suppose que la vie est r¦pandue par-tout, et seulement d¦guis¦e par les circonstances ext¦rieures des corps, ou de leurs ¦l¦mens (ce qui seroit ¦galement contraire — l’hypothÀse), il faut n¦cessairement avouer que, moyennant certaines conditions, la matiÀre inanim¦e est capable de s’organiser, de vivre, de sentir.«159 156 Explizit weist Cabanis Buffons Unterscheidung zwischen toter und lebender Materie zurück. (Siehe : Cabanis (1956). Rapports du physique et du moral de l’homme. Tome I; S. 515 f.) 157 Zur Unterstützung seiner These weist Cabanis auch auf Alexander von Humboldts »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« hin. (Ibid. S. 525; Anm. 1.) 158 Cabanis war beispielsweise überzeugt davon, dass sich das galvanische Fluidum, dessen Existenz er ausschliesslich in den organischen Substanzen vermutete, letztlich als besondere Modifikation des elektrischen Fluidums herausstellen würde. Die bisherigen Experimente, die das Gegenteil beweisen sollten, genügten ihm noch nicht. Alexander von Humboldts Versuche machten da keine Ausnahme: »Il y a plus de deux ans que j’ai hasard¦ ces conjectures sur le ph¦nomÀne appel¦ g a l v a n i s m e . Plusieurs savans ont aussi cherch¦ — prouver l’identit¦ de sa cause, avec le fluide ¦lectrique. Les derniÀres exp¦riences faites par les commissaires de l’Institut, et surtout celles de M. Humboldt, paroissent ¦branler fortement cette doctrine. J’attends un ensemble de faits plus concluans pour fixer mon opinion: jusquesl—, j’ai cru devoir ne rien changer — ce que j’avois ¦crit sur cet objet.« (Ibid. S. 329; Anm. 1.) [»Es ist mehr als zwei Jahre her, dass ich diese Mutmassungen über das Phänomen, genannt Galvanismus, gewagt habe. Mehrere Gelehrte haben ebenfalls versucht, die Identität seiner Ursache mit der Elektrizität zu beweisen. Die zuletzt von den Beauftragten des Instituts gemachten Experimente, und besonders diejenigen von Herrn Humboldt, scheinen diese Lehre stark zu erschüttern. Ich warte auf eine Menge schlüssiger Fakten, um meine Meinung festzulegen: Bis dahin glaube ich nichts von dem ändern zu müssen, was ich über diesen Gegenstand geschrieben habe.«] 159 Ibid. S. 516. [»Hier sehen wir die Natur, die man tot nennt, mit Deutlichkeit durch eine ununterbrochene Kette mit der lebenden Natur verbunden; wir sehen, wie sich die anorganischen Elemente verbinden, um verschiedene organische Körper zu erschaffen; und die Erzeugnisse der Pflanzenwelt bringen das Leben und die Empfindung mit ihren Hauptmerkmalen hervor. Daher also, zumindest wenn man nicht annimmt, dass das Leben überall ausgebreitet und durch die äusseren Gegebenheiten der Körper oder durch ihre Elemente nur

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Der stetige Wechsel von Bildung und Zerfall der Organismen vollzieht sich aber nicht als ewige Wiederkehr des Gleichen, sondern lässt durch äussere Einflüsse mit der Zeit länger andauernde Modifikationen zu. Das heisst, parallel zu einer Ontogenese kommt es auch zu einer Phylogenese. Die Pflanzen- und Tierarten durchlaufen ebenfalls eine Entwicklung. Weitere wichtige Ausgangspunkte für seine Transformationstheorie sind für Cabanis die Arbeiten von Maupertuis, de Maillet, Robinet, Buffon und vor allem Bonnet. Die Präformationslehre des Letzteren lehnt er zwar ab, hingegen findet er in dessen empirischen Forschungsergebnissen die Bestätigung für seine eigene Theorie. Darauf aufbauend sieht er eine graduelle Entwicklung von den einfachsten Organismen bis zum Menschen, die sich aber erst über eine immense Zeitspanne hinweg vollziehen kann. Die einzelnen Arten werden also nicht nach einem konstanten Muster ausgebildet, sondern verändern sich im Laufe der Zeit. Analog zu der ununterbrochenen Reihe zwischen toter und lebender Materie existiert somit eine ununterbrochene Reihe von Ausprägungen verschiedener Lebewesen innerhalb einer Art, deren Komplexität sich nur graduell unterscheidet. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist hierbei, dass die Modifikationen und Veränderungen, die eine Entwicklung im eigentlichen Sinn erst ermöglichen, auch zu Verbesserungen führen können. Die alte Vorstellung von Heraklit, wonach das Universum aufgrund der Komposition und Dekomposition seiner Elemente in einer ständigen Metamorphose begriffen ist, wird von Cabanis mit dem Gedanken des Fortschritts verbunden. Das bedeutet konkret, dass sich auch die Physis des Menschen verbessern kann. Entscheidend für die körperlichen und – damit zwangsläufig verbundenen – moralischen Veränderungen sind die über lange Zeiträume währenden Einflüsse von Klima, Lebensweisen, Nahrungsmitteln, Gesellschaftsordnungen und ähnlichen Faktoren. Diese vermögen zwar nicht immer die Physis und Psyche eines einzelnen Menschen nachhaltig zu verändern, über mehrere Generationen hinweg können aber die erworbenen, nun zur Gewohnheit gewordenen Modifikationen durchaus hereditär werden und ›rassenspezifische‹ Eigenschaften hervorbringen: »Mais l’empire des habitudes ne se borne pas — ces profondes et ineffaÅables empreintes, qu’elles laissent chez chaque individu: elles sont encore, du moins en partie, susceptibles d’Þtre transmises par la voie de la g¦n¦ration. Une plus grande aptitude — mettre en jeu certains organes, — leur faire produire certains mouvemens, — ex¦cuter certaines fonctions; en un mot, des facult¦s particuliÀres, d¦velopp¦es — un plus haut degr¦, peuvent se propager de race en race*: et si les causes d¦terminantes de l’habitude premiÀre ne discontinuent point d’agir, pendant la dur¦e de plusieurs g¦n¦rations verkleidet ist (was gleichermassen der Hypothese widersprechen würde), muss man notwendigerweise zugeben, dass mittels gewisser Umstände die unbelebte Materie fähig ist sich zu organisieren, zu leben, zu fühlen.«]

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successives, il se forme une nouvelle nature acquise, laquelle ne peut, — son tour, Þtre chang¦e, qu’autant que ces mÞmes causes cessent d’agir pendant longtemps, et surtout que des causes diff¦rentes viennent imprimer — l’¦conomie animale, une autre suite de d¦terminations.«160 * George le Roi, dans ses lettres sur les animaux, observe que quoique le chien n’arrÞte point naturellement, les excellentes chiennes d’arrÞt font des petits qui, trÀs-souvent, arrÞtent sans leÅon pr¦alable, la premiÀre fois qu’on les met en pr¦sence du gibier.

Die Vererbung erworbener Eigenschaften bietet eine Chance, die Menschheit zu verbessern. Indem man die nachhaltig wirkenden Bedingungen dahingehend verändert, dass sie positive Effekte hervorbringen, kann mit der Zeit eine Veredelung der ›Menschenrassen‹ erreicht werden. Zudem könnten durch eine allmähliche, kontrollierte Vermischung der verschiedenen Rassen die positiven Eigenschaften gezielt weitervererbt und die schlechten ausgemerzt werden. Auch wenn Cabanis in diesem Zusammenhang nicht explizit von Menschenzucht spricht, so legt die oben zitierte Fussnote eine solche Intention doch nahe.161 Die Aufgabe der ›Science de l’homme‹ ist es nun, die Verbesserungsmöglichkeiten durch die einzelnen Faktoren zu erforschen. Nicht immer lassen sich diese den Menschen beeinflussenden Faktoren verändern, aber ein gewisser Spielraum ist durchaus vorhanden. Selbst das Klima kann bis zu einem gewissen Grad beeinflusst werden, beispielsweise durch Waldrodungen, Kanalsysteme und Kultivierung des Bodens. Einfacher ist der Fortschritt der Menschheit durch das Vermeiden schlechter Nahrungsmittel, gesundheitsschädigender Wohnund Arbeitsverhältnisse oder despotischer Regierungen, die die geistige und 160 Ibid. S. 468. [»Aber der Bereich der Gewohnheiten beschränkt sich nicht auf diese tiefen und unauslöschlichen Eindrücke, die sie bei jedem Individuum hinterlassen: Sie sind auch fähig, zumindest teilweise, über den Weg der Generation weitervermittelt zu werden. Eine grössere Tauglichkeit gewisse Organe ins Spiel zu bringen, ihre bestimmten Bewegungen hervorbringen zu lassen, gewisse Funktionen auszuführen; mit einem Wort, besondere Fähigkeiten, zu einem höheren Grad entwickelt, können sich von Rasse zu Rasse verbreiten*: Und wenn die determinierenden Ursachen der ersten Gewohnheit nicht aufhören zu wirken, während der Dauer von mehreren aufeinanderfolgenden Generationen, bildet sich eine neue erworbene Natur ; welche ihrerseits nicht geändert werden kann, ausser wenn dieselben Ursachen aufhören, während längerer Zeit zu wirken, und vor allem, wenn verschiedene Ursachen die animalische Ökonomie beeinflussen werden; es bildet sich eine andere Folge von Bestimmungen. (* König Georg, in seinen Briefen über die Tiere, beobachtet, dass, obwohl der Hund von Natur aus nicht arretiert, die ausgezeichneten Vorsteherhündinnen Junge bekommen, die sehr oft ohne vorherige Unterweisung arretieren, wenn man sie das erste Mal dem Wild gegenübertreten lässt.)«] 161 Solche Analogien empörten die konservativen Zeitgenossen von Cabanis in nicht geringem Masse und trugen dazu bei, ihn als gottlosen Materialisten zu brandmarken. Die These einer natürlichen Selektion, wie sie rund fünfzig Jahre später von Charles Darwin formuliert wird, ist aber in den »Rapports« bereits vorgezeichnet.

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körperliche Passivität der Untertanen fördern,162 zu erreichen. Insbesondere betont der ›Id¦ologue‹ immer wieder, wie wichtig die Erziehung der Bürger zur Hygiene ist. Der Mensch bildet also nicht nur ein eigenständiges psycho-physisches System, er ist zugleich eingebunden in ein umfassenderes Umweltsystem. In Wechselbeziehung zum ihn umgebenden anorganischen und organischen Umfeld ist er ein stets beeinflussendes und beeinflusstes Wesen. Doch auch das gesamte Universum ist nicht unabhängig vom Menschen und dessen Planeten, sondern stellt ein grösseres, alles umfangendes System dar. Der Mensch ist somit eingebunden in ein zusammenhängendes Ganzes, verknüpft sowohl mit dem kleinsten Staubkorn als auch mit dem entferntesten Sonnensystem. Wie schon erwähnt fanden die »Rapports du physique et du moral« bei ihrer Veröffentlichung keinen besonders guten Anklang bei Cabanis’ Zeitgenossen. Der zu dieser Zeit vorherrschende politische Wind blies den progressiven Wissenschaftlern in Frankreich stark ins Gesicht. Viele Leser der Schrift von Cabanis fürchteten deshalb, eine wohlmeinende Kritik könnte ihrem Ruf schaden. Eine Ausnahme stellten zunächst dessen Mitstreiter unter den ›Id¦ologues‹ dar. Sie verteidigten und lobten das Werk ihres Freundes, verfochten sie doch ihrerseits ähnliche Ansätze einer ›Sience de l’homme‹. Aber bald schon wandten sich auch einige ›Id¦ologues‹, zum Beispiel Biran, AmpÀre, Deg¦rando und LaromiguiÀre, gegen den Verfasser. Die Kritik von Joseph-Marie Deg¦rando zeigt auf exemplarische Weise die Transformation eines ›Id¦ologue‹ der dritten Generation, die sich mehr und mehr vom anfänglich propagierten Monismus entfernte. Unter den geänderten politischen, sozialen und intellektuellen Voraussetzungen der Konsulatsregierung wurde die Reduktion der Vernunft und Moral auf rein physiologische Erscheinungen allmählich in Frage gestellt. So verteidigte Deg¦rando im Rückgriff auf Descartes und Buffon nun erneut die Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten, die ihn grundlegend vom Tier unterscheiden, eine Sonderstellung innerhalb der Schöpfung einnimmt. Die Rückkehr zum ›homo duplex‹ war somit vollzogen. Folgerichtig war Deg¦rando empört über die in den »Rapports« präsentierten materialistischen Ansichten von Cabanis. Ein Brief Deg¦randos an Madame de StaÚl belegt dies sehr deutlich: »Nous avons ¦t¦ bien m¦contents, Camille Jordan et moi, de l’ouvrage de Cabanis. Voil— ce qui discr¦dite la philosophie, ce qui la fait consid¦rer comme l’ennemi de toutes les id¦es consolantes. Non, des hommes qui ne croient qu’— la fatalit¦ et — la matiÀre ne peuvent Þtre les amis sincÀres de la libert¦. […] Faites-nous toutefois la gr–ce de

162 Auch in dieser Forderung können wir eine Übereinstimmung des Denkens von Cabanis und seinem Freund Volney erkennen.

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partager notre indignation contre la d¦sastreuse influence de son ouvrage. En r¦duisant tout ainsi en matiÀre brute, n’est-ce pas inviter — nous p¦trir comme on veut?«163

Immerhin erhielten die »Rapports« von Benjamin Constant eine positive Rezension. Dieser sah darin seine eigenen Vorstellungen über den Zusammenhang von Körper und Geist im Grunde bestätigt und lobte zudem Cabanis’ stilistisches Können: »Je lis le livre de Cabanis et j’en suis enchant¦. Il y a une nettet¦ dans les id¦es, une clart¦ dans les expressions, une fiert¦ contenue dans le style, un calme dans la marche de l’ouvrage, qui en font, selon moi, une des plus belles productions du siÀcle. Le fond du systÀme a toujours ¦t¦ ce qui m’a paru le plus probable, mais j’avoue que je n’ai pas une grande envie que cela me soit d¦montr¦. J’ai besoin d’en appeler — l’avenir contre le pr¦sent, et surtout — une ¦poque o¾ toutes les pens¦es qui sont recueillies dans les tÞtes ¦clair¦es n’osent en sortir, je r¦pugne — croire que, le moule ¦tant bris¦, tout ce qu’il contient serait d¦truit. Je pense, avec Cabanis, qu’on ne peut rien faire des id¦es de ce genre comme institutions. Je ne les crois pas mÞmes n¦cessaires — la morale. Je suis convaincu que ceux qui s’en servent sont le plus souvent des fourbes, et que ceux qui ne sont pas des fourbes jouent le jeu de ces derniers, et pr¦parent leur triomphe. Mais il y a une partie myst¦rieuse de la nature que j’aime — conserver comme le domaine de mes conjectures, de mes esp¦rances, et mÞme de mes impr¦cations contre quelques hommes.«164

163 Lettres in¦dites et souvenirs biographiques de Mme R¦camier et de Mme de StaÚl publi¦es par le baron Deg¦rando. Paris, Renouard, 1868. S. 46 (Brief vom November 1802). Zitiert nach: Chappey (2002), S. 322. [»Wir sind sehr unzufrieden mit dem Werk von Cabanis gewesen, Camille Jordan und ich. Das ist es, was die Philosophie in Verruf bringt, was sie als Feindin jeglicher tröstlicher Ideen betrachten lässt. Nein, Menschen, die nur an das unabwendbare Schicksal und an die Materie glauben, können keine aufrichtigen Freunde der Freiheit sein. […] Erweisen Sie uns indessen den Gefallen, unsere Empörung über das unheilvolle Werk zu teilen. Heisst es nicht dazu einzuladen, uns zu kneten wie man will, indem man alles auf die rohe Materie reduziert?«] 164 Zitiert nach: Picavet (1891), S. 263; Anm. 1. Die Rezension ist datiert auf den 3 frimaire an XI (23. November 1803). [»Ich lese das Buch von Cabanis und bin entzückt. Es hat eine Deutlichkeit in den Ideen, eine Klarheit in den Ausdrücken, einen zurückhaltenden Stolz im Stil, eine Ruhe im Fortgang des Werkes, die es meiner Meinung nach zu einem der schönsten Erzeugnisse des Jahrhunderts machen. Die Grundlage des Systems ist immer diejenige gewesen, die mir als die wahrscheinlichste erschienen ist, aber ich gebe zu, dass ich keine grosse Lust habe, dass mir diese bewiesen wird. Ich muss hierin an die Zukunft und gegen die Gegenwart appellieren, und vor allem an ein Zeitalter, wo alle Gedanken, die, gesammelt in den aufgeklärten Köpfen, nicht wagen aus ihnen hinauszugehen, mir widerstrebt zu glauben, dass, nachdem die Form zerbrochen ist, alles, was diese enthalten hat, zerstört wäre. Ich denke wie Cabanis, dass man nicht Ideen dieser Art wie Einrichtungen hervorbringen kann. Ich finde sie nicht einmal nötig für die Moral. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die sich dieser bedienen, sehr oft Narren sind, und dass diejenigen, die keine Narren sind, das Spiel dieser Letzteren spielen und ihren Triumph vorbereiten. Aber es gibt einen geheimnisvollen Teil der Natur, den ich bewahren möchte, wie den Bereich meiner Mutmassungen, meiner Hoffnungen und sogar meiner Verwünschungen gegen einige Menschen.«]

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Bemerkenswert an dieser Kritik von Benjamin Constant ist, dass dieser trotz allen Lobes im Grunde der Meinung ist, dass das, wonach Cabanis sucht, von diesem nicht analysiert wird. Doch dieser »mysteriöse Teil der Natur« möchte auch Constant vor dem forschenden Auge des Naturwissenschaftlers geheim halten. Die Furcht, die er insgeheim vor einem zu grossen Wissen über den Menschen hegt, zeigt deutlich, wie innovativ die Theorie von Cabanis um 1800 war. Mit seiner physiologischen Psychologie war er seiner Zeit weit voraus und blieb für viele seiner Zeitgenossen unverstanden. Einzig Bichat165 und Broussais führten seine Ansätze weiter, während Auguste Comte die Psychologie vollständig in die Physiologie integrierte. In Deutschland fanden die beiden ersten ›M¦moires‹166 von Cabanis aus den »M¦moires de l’Institut national« von 1799 (thermidor an VI) bereits 1801 in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen« Erwähnung.167 Im selben Jahr wurden die beiden ›M¦moires‹ auszugsweise von Karl Adolph Cäsar im dritten Band seiner Zeitschrift »Pragmatische Darstellung des Geistes der Neuesten Philosophie des In- und Auslandes« übersetzt und kommentiert.168 Darin lobt der Professor für Philosophie und Kantianer Cäsar zwar die Beobachtungen des französischen ›M¦decin philosophe‹ als »lehrreich« und »sehr schätzbar«, jedoch bricht er die Übersetzung des zweiten ›M¦moire‹ mit den Worten ab: »[…] so glaube ich doch hier abbrechen, und den Schluss dieser Vorlesung mit Stillschweigen übergehen zu müssen, da er nichts als grobe materialistische Schlüsse enthält.«169

Diese Einschätzung ist typisch für die deutsche Sichtweise der ›Id¦ologie‹. Ebenso wie die Werke von Destutt de Tracy, Deg¦rando oder LaromiguiÀre gelten diejenigen von Cabanis als zu empiristisch und materialistisch.170 Insgesamt werden die ›Id¦ologues‹ als zu sehr der Philosophie von Locke und Condillac verhaftet beurteilt, die man in Deutschland mit Kant überwunden zu haben glaubt.

165 Der Arzt Marie FranÅois Xavier Bichat starb, erst 31jährig, bereits 1802. Seine Schüler führten die angefangenen Studien zu Ende und veröffentlichten sie posthum. Zur Wirkung von Cabanis’ »Rapports« siehe auch: Picavet (1891), S. 263. 166 Es handelt sich dabei um die »Consid¦rations g¦n¦rales sur l’¦tude de l’homme, et sur les rapports de son organisation physique avec ses facult¦s intellectuelles et morales« sowie um die »Histoire physiologique des Sensations«. 167 Zur Rezeption der ›Id¦ologie‹ in Deutschland siehe: Dräxler (1996). Zu Cabanis insbesondere S. 167 – 173. 168 Cäsar (1801) 169 Ibid. S. 269. Zitiert nach: Dräxler (1996), S. 168. 170 Angesichts der oben zitierten Kritik von Deg¦rando am Materialismus von Cabanis können wir hier feststellen, wie oberflächlich die Kenntnisse der ›Id¦ologie‹ in Deutschland waren.

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So kritisiert auch ein Rezensent die »Rapports du physique et du moral de l’homme« 1803, also bereits ein Jahr nach deren Erscheinen, in den »Göttingischen gelehrten Anzeigen« sehr scharf: »Hr. Cabanis, dem man in Frankreich den Titel eines philosophischen Arztes nicht streitig macht, ist mit seiner Philosophie auf dem Puncte stehen geblieben, wo der speculative Empirismus Locke’s und Condillac’s dem speculativen und moralischen Materialismus des Helvetius begegnete.«171

Neben der Rückständigkeit von Cabanis’ Philosophie beanstandet der Rezensent auch die vielen Wiederholungen, die trotz aller Eleganz des Stils zu Weitschweifigkeiten führen würden. Zudem biete die Schrift dem deutschen Publikum nichts Neues, da die angeführten Tatsachen schon hinlänglich bekannt seien. Der Hauptkritikpunkt liegt jedoch erneut im einseitigen Materialismus der Philosophie des Franzosen, die letztlich inkonsequenterweise vom Empirischen ins Spekulative gerate: »Von nun an aber nimmt seine Philosophie einen Regress zu den Principien. Er verlässt den ebenen Weg der anthropologischen Empirie, der ihn bey seiner Art zu raisonniren, zu practischen Schlüssen führen konnte. Er will, wie alle Materialisten, empirisch in das Reich der Kräfte eindringen. Was für eine Art von Natur=Philosophie dabey herauskommen kann, lässt sich leicht voraussehen. Muthmassungen, Machtsprüche, und halbe Ideen müssen die Stelle des Raisonnements vertreten.«172

Trotz dieser massiven Kritik wurden die »Rapports« als erstes Werk eines ›Id¦ologue‹ bereits 1804, zwei Jahre nach der ersten französischen Veröffentlichung, vollständig ins Deutsche übersetzt. Der Übersetzer war Ludwig Heinrich Jakob, der das Werk zusätzlich mit einer Vorrede und einer eigenen Abhandlung versah.173 Auch Jakob bemängelt an der Schrift von Cabanis, obschon er deren Originalität lobt, den materialistischen Ansatz sowie den Versuch, alles auf die Einheit eines Prinzips reduzieren zu wollen. Er betrachtet Cabanis’ Abhandlung vornehmlich als Untersuchung auf dem Gebiet der Physiologie und empirischen Psychologie, also als Hilfswissenschaften der Anthropologie. Doch lehnt es Jakob vehement ab, die geistigen Tatsachen auf organische zurückzuführen. Eine monistische Erklärung ist für ihn inakzeptabel. Aber nicht nur die gängigen Vorwürfe des Materialismus und der Nichtbeachtung (oder des Nichtverstehens) der kritischen Philosophie Kants verhinderten eine vorurteilsfreie Aufnahme von Cabanis’ Werk in Deutschland. Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren auch geprägt von politischen Spannungen zwischen Frankreich und den übrigen europäischen Ländern. Die 171 Göttingische gelehrte Anzeigen. 1803; Bd. 19 / 20, S. 186. Zitiert nach: Dräxler (1996), S. 172. 172 Göttingische gelehrte Anzeigen. 1803; Bd. 58, S. 577 f. Zitiert nach, Dräxler (1996), S. 173. 173 Cabanis (1804)

Pierre-Jean-Georges Cabanis

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Feldzüge und Besatzungen durch Napoleons Truppen und die anschliessenden Befreiungskriege erschwerten eine objektive wissenschaftliche Auseinandersetzung. Der aufkommende Nationalismus trübte den neutralen Blick so mancher Kritiker. Die letzten Jahre seines Lebens widmete Pierre-Jean-George Cabanis erneut seinen Studien zu Homer. Obwohl er Napoleons Staatsstreich gegen das Direktorium am 18. Brumaire des Jahres VII (9. November 1799) unterstützte und in dessen Pläne eingeweiht war, missfiel ihm schon bald das Machtgebaren des ersten Konsuls. Wie viele ›Id¦ologues‹, die anfänglich in Napoleon einen Retter der französischen Revolutionsideen sahen, liess er sich von dessen angeblichem Interesse für die neuen Wissenschaften blenden. Enttäuscht und als Verräter diskreditiert zog er sich kurz nach der Machtergreifung des Generals aus der Politik zurück und verlebte die letzten Jahre krank und zurückgezogen in der Nähe von Paris. Im Mai 1807 erlitt er einen ersten Schlaganfall, von dem er sich zunächst noch einigermassen erholte. Ein Jahr später, am 5. Mai 1808, erfolgte die zweite, nunmehr tödliche Attacke. Er wurde im Pariser Pantheon beigesetzt, sein Herz aber haben seine Freunde in Auteuil, neben der letzten Ruhestätte von Madame Helv¦tius, begraben.

V. Die Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft an der Schwelle zum 19. Jahrhundert

Die vorangehenden Kapitel sollten aufzeigen, welches geistige Klima am Ende des 18. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Kreisen von Paris herrschte. So bedeutende Gruppen von Gelehrten wie die ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹, exemplarisch aufgezeigt an Volney und Cabanis, prägten Theorie und Methode in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen. Doch nicht nur in Frankreich fanden die ›Id¦ologues‹ damals grosse Beachtung, sondern in ganz Europa wurden sie zumindest zur Kenntnis genommen. Da allerdings die Gruppe der ›Id¦ologues‹ sehr heterogen war, fällt es nicht leicht, deren Einfluss auf die Vielzahl der wissenschaftlichen Disziplinen zu beurteilen. So lässt es sich vielleicht erklären, warum noch heute die Wirkungsgeschichte der ›Id¦ologie‹ in Deutschland als eher unbedeutend eingestuft wird.1 Bedenkt man aber, dass die wissenschaftlichen Methoden der ›Id¦ologie‹ auch von ›Nicht-Id¦ologues‹ übernommen wurden, so zeigt sich ein etwas anderes Bild. Namentlich in den Natur- und Sozialwissenschaften setzte sich der moderne wissenschaftliche Standard durch. Die zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen gerade der naturwissenschaftlichen Schriften, welche meist schon kurze Zeit nach den Veröffentlichungen der französischen Originale angefertigt wurden, zeigen deutlich, wie gross das internationale Interesse an den wissenschaftlichen Diskursen in Paris war. Zudem durchliefen die meisten französischen Wissenschaftler die von den ›Id¦ologues‹ forcierten und auch auf politischer Ebene unterstützen reformierten Institute des Bildungswesens – und nicht zuletzt waren es hauptsächlich die französischen Bildungs- und Forschungseinrichtungen, welche auch ausserhalb Frankreichs eine grosse Anziehungskraft aus1 So erachtet zum Beispiel Hans-Dieter Dräxler die Rezeption der ›Id¦ologie‹ in Deutschland als gering. Da er sich aber auf die Rezeption sprachwissenschaftlicher Texte beschränkt und den Kreis der ›Id¦ologues‹ relativ eng zieht, gibt seine Untersuchung kein adäquates Bild des tatsächlichen Einflusses wieder. Zudem sind Rezeptionsgeschichte und Wirkungsgeschichte nicht kongruent. Auch wenn in einem deutschsprachigen Werk nicht ausdrücklich der Begriff ›Id¦ologie‹ oder der Name eines ›Id¦ologue‹ fällt, kann die Wirkung der ideologisch geprägten Wissenschaften dennoch beträchtlich sein. (Dräxler (1996).)

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

übten. Umso unverständlicher ist es deshalb, dass heute die ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ in der Forschung so wenig Beachtung finden. Hier gäbe es noch einiges zu entdecken, das uns nicht zuletzt einen besseren Einblick in die Entwicklung der modernen Wissenschaften innerhalb ihres kulturellen Kontextes geben könnte. Ein weiteres noch allzu unerforschtes Gebiet sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen nationalen Entwicklungen.2 Ein Blick auf die ›Id¦ologues‹ könnte zeigen, wie eng beispielsweise der Kontakt zwischen den französischen und deutschen Wissenschaftlern war. Auch wenn sich in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts die Naturphilosophie zusehends von der Basis empirischer Fakten entfernte, gab es doch auch unter den deutschen Forschern einige, die sich stärker an der sogenannten ›französischen Wissenschaft‹ orientierten. Umgekehrt interessierten sich ebenfalls Franzosen, wenn auch in geringerer Zahl, für die wissenschaftlichen Arbeiten im östlichen Nachbarland. In Frankreich hatte sich die eigene Nationalsprache bereits viel stärker als Wissenschaftssprache durchgesetzt als in Deutschland. So war es für die französischen Wissenschaftler nicht mehr selbstverständlich, lateinisch verfasste Abhandlungen lesen zu können. Dies führte im Verlauf des 19. Jahrhunderts dazu, dass von ihnen die wissenschaftliche Entwicklung ausserhalb Frankreichs immer weniger zur Kenntnis genommen wurde. Erste französische Wissenschaftler erkannten diese Gefahr schon vor der Jahrhundertwende – und Cuvier forderte seine Kollegen am »Institut National« gar auf, Deutsch zu lernen, um die Entwicklung der deutschen Wissenschaften besser verfolgen und neue Kenntnisse gewinnen zu können. Für die deutschen Gelehrten hingegen war es selbstverständlich, dass sie die französische Sprache, zumindest passiv, beherrschten und so die Entwicklungen in Frankreich verfolgen konnten. Es wäre also unrichtig, am Ende des 18. Jahrhunderts einfach von einer ›typisch deutschen‹ beziehungsweise ›typisch französischen‹ Wissenschaft zu sprechen. Denn es existierten nicht nur zwischen den französischen, englischen, deutschen und italienischen Gelehrten während der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts enge Beziehungen, auch die Wissenschaftler der jüngeren Generation hatten gemeinsame ›Netzwerke‹ des Wissens. So betätigte sich Alexander von Humboldt bereits vor seinem Parisaufenthalt im Jahre 1799 als Vermittler der modernen französischen Naturwissenschaften in Deutschland und war unter anderem Wegbereiter für Lavoisiers quantitative Chemie. Und zu den von Volney und Cabanis am meisten bewunderten Gelehrten gehörten auch

2 Eine der wenigen Ausnahmen diesbezüglich stellt die Arbeit von Kai Torsten Kanz dar. Sie bietet eine materialreiche Übersicht über die deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen. (Kanz (1997))

Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

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Johann David Michaelis, Albrecht von Haller, Peter Simon Pallas und Carsten Niebuhr. Paris als wichtigster Ort des Wissenstransfers war deshalb für Wilhelm und Alexander von Humboldt von grosser Bedeutung. Waren ihre Ziele und Erfahrungen in Frankreich auch unterschiedlicher Art, so gaben sie doch für das weitere Leben und Werk der beiden Brüder wichtige Impulse. Nicht nur Alexander, der später von vielen preussischen Zeitgenossen misstrauisch als ›Franzosenfreund‹ tituliert oder gar als ›Vaterlandsverräter‹ verunglimpft wurde, sondern auch Wilhelm empfing in der französischen Hauptstadt Anregungen und nutzte seinen dortigen Aufenthalt zum Überdenken seines bisherigen und zukünftigen Werdeganges. Doch während sich der jüngere von Humboldt problemlos an den Lebensstil in Paris anpasste, fühlte sich Wilhelm in der französischen Metropole nie so ganz heimisch. Obwohl er zahlreiche Kontakte mit berühmten und interessanten Persönlichkeiten, die damals eine wichtige Rolle im Pariser Gesellschaftsleben spielten, knüpfte, fehlte ihm der vertrauliche Umgang mit engen Freunden, den er in Deutschland gepflegt hatte. Der intensive Austausch über Kunst, Literatur und Philosophie war für ihn zwar auch in der französischen Hauptstadt von grosser Bedeutung, doch blieben Wilhelm die Ansichten seiner Pariser Kollegen letztlich fremd. Dieses Gefühl der Fremdheit hatte seinen Grund wohl darin, dass sich der ältere von Humboldt, anders als sein Bruder Alexander, nicht mit einer ›science communitiy‹ auseinandersetzen konnte, die weitgehend unabhängig von lokalen und sozialen Bedingungen einen eigenen Diskurs führte. Auf dem Gebiet der modernen Naturwissenschaften begannen sich objektive Methoden und Normen als Standard durchzusetzen, die bis heute prägend sind. Wilhelm von Humboldt jedoch fehlte als philosophisch, historisch und juristisch gebildetem Intellektuellen der Zugang zum innersten Bereich der naturforschenden Gemeinschaft. Ausschlaggebend dafür war seine fehlende Vertrautheit mit den Fortschritten in den Naturwissenschaften, die für einen Laien bereits problematisch wurde. Obwohl er sich ebenfalls sehr für die naturwissenschaftlichen Einrichtungen im nachrevolutionären Paris sowie für deren Fachgelehrte interessierte, blieben ihm, dem Geisteswissenschaftler, viele ihrer neusten Erkenntnisse und Errungenschaften letztlich nicht mehr nachvollziehbar.3 Wie zur Bestätigung meiner These der schon in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts sich soweit vollzogenen Trennung der naturwissenschaftlich3 So bezeichnet Wilhelm in einem Brief an Goethe Georges Cuvier zwar als den »gefälligsten und thätigsten« Mann im Museum des ›Jardin des plantes‹, aber dessen Physiologie der kaltblütigen Tiere nennt er lediglich »sehr interessant«. Auch lobt er den mündlichen Vortrag des Chemikers Fourcroy als »ausserordentlich schön«, doch geht er überhaupt nicht auf den Inhalt desselben ein. (Bratranek (1876), S. 49 f. Brief von Wilhelm von Humboldt an Goethe, Paris, Frühjahr 1798.)

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empirischen und kulturwissenschaftlich-philosophischen Disziplinen, welche deren Überwindung realiter nicht mehr ermöglichte, lesen wir in einem Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 1. März 1799: »Wie Sie sogar die Beschränktheit meiner Natur kennen, müssen Sie fühlen, dass mir alles, was mich ausserhalb Deutschlands umgeben kann, doch immer heterogen bleibt, und was mich an Deutschland knüpft, was ist das anderes, als was ich aus dem Leben mit Ihnen, mit Schiller, mit dem Kreise schöpfte, dem ich nun schon seit beinahe zwei Jahren entrissen bin. Wer sich mit Philosophie und Kunst beschäftigt, gehört seinem Vaterlande eigenthümlicher als ein anderer an, dies habe ich auch noch hier an Alexander und mir erfahren. Ich war vielleicht ebenso gern, vielleicht noch lieber in Paris, als er, allein er war unendlich weniger fremd hier. Mittheilung und Erwiderung fanden für ihn kaum nur ein Hinderniss. Philosophie und Kunst sind mehr der eigenen Sprache bedürftig, welche die Empfindung und die Gesinnung sich selbst gebildet haben, und durch die sie wieder gebildet worden sind.«4

Was aber die Brüder von Humboldt mit vielen französischen Forschern verband, war ihr Interesse am Menschen, also an der Anthropologie oder ›Science de l’homme‹. Wir haben bereits gesehen, dass der ›Id¦ologue‹ Cabanis eben diese Parallele zwischen dem französischen und deutschen Fachbereich zog. Nicht von ungefähr war es gerade Cabanis, der diesen Vergleich anzustellen vermochte, denn kaum ein anderer Franzose – Cuvier ausgenommen – kannte gegen Ende des 18. Jahrhunderts die in Deutschland publizierten naturwissenschaftlichen Schriften so gut wie er. Die Anthropologie bildete somit den gemeinsamen Nenner für die Auseinandersetzung der Humboldts mit der französischen Wissenschaft, insbesondere mit den Theorien und Methoden der ›Id¦ologie‹. Wie unterschiedlich aber Wilhelm und Alexander mit den Forschungsergebnissen ihrer Pariser Kollegen umgingen, sollen die nächsten Kapitel zeigen.

V.1. Wilhelm von Humboldts Beschäftigung mit der Anthropologie vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Situation in Frankreich Gegen Ende des Jahres 1797 traf Wilhelm von Humboldt mit seiner Familie in Paris ein, wo er, unterbrochen durch einige mehrmonatige Reisen durch Frankreich und Spanien, bis August 1801 seinen weiteren Wohnsitz nahm. Ursprünglich plante Wilhelm eine langersehnte Reise über Dresden und Österreich nach Italien. Doch in Wien angekommen, verhinderten der Erste Koalitionskrieg zwischen Frankreich und Österreich sowie Napoleon Bonapartes Italien4 Ibid. S. 58 f. Brief von Wilhelm von Humboldt an Goethe, Paris, 1. März 1799.

Wilhelm von Humboldts Beschäftigung mit der Anthropologie

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feldzug die Weiterreise. Oberitalien war zum Schauplatz heftiger Gefechte geworden, sodass sich die Humboldts vorerst für eine Reise über die Schweiz nach Frankreich entschieden. Die französische Hauptstadt war also nicht die Wunschdestination Wilhelm von Humboldts. Ausserdem bedeutete für ihn die vereitelte Italienreise eine weitere Enttäuschung während einer langanhaltenden Schaffenskrise. Die Hoffnung auf eine neue Inspiration durch die Begegnung mit der römischen Antike war verflogen, und so erstaunt es nicht, dass die Stimmung des älteren von Humboldt auf einem Tiefpunkt angelangt war. Kaum in Paris eingetroffen, zog Wilhelm ein missmutiges Resümee der letzten zweieinhalb Jahre seines Lebens: »Im Ganzen also entstand in diesem ganzen Jahre nichts, gar nichts, als der fertige Theil des Agamemnon. Die Idee des Jahrhunderts und der Anthropologie ist nun beinah ein Jahr alt, und noch ist nichts aufzuweisen! im Umgang verlor ich in diesem Jahr, statt zu gewinnen. Eine Trägheit neuen interessanten zu suchen, und schon vorhandenen zu benutzen, verdarb mir vieles. Der Umgang mit Schiller selbst war weniger gehaltreich, als sonst. Das Einzige, was ich hierin als Zuwachs ansehen kann, ist dass ich mit Göthe vertrauter wurde, und mit Körner in engere Verbindung trat. — Also im Ganzen genommen eine schlechte und die schlimmste Periode meines Lebens von der Zeit an, da wir zu meiner Mutter von Jena nach Tegel gingen, bis zu den letzten Wochen dieses Jahrs, vom Sommer 1795 bis späten Herbst 1797.«5

Der Misserfolg seiner ersten Veröffentlichungen und der qualvolle Tod seiner Mutter Elisabeth von Humboldt im November 1796 hinterliessen ihre Spuren bei Wilhelm. So vermochte er die oben erwähnten Werke nicht zu Ende zu bringen. Es handelt sich dabei um die Fragmente »Das achtzehnte Jahrhundert«6 und den »Plan einer vergleichenden Anthropologie«7. Sie lassen erkennen, dass Wilhelm auch nach seinen ›missglückten‹ Geschlechteraufsätzen das Interesse an der Anthropologie nicht verloren hatte. Ganz im Gegenteil, denn er wollte ja nun den Parisaufenthalt dazu nutzen, seine »wichtigen Arbeiten über Menschenkenntnis und Menschenbildung vorzubereiten«.8 Die pulsierende Grossstadt versprach ihm, mehr Erkenntnisse über das individuelle und gesellschaftliche Leben der Menschen liefern zu können als dies die Abgeschiedenheit von Schloss Tegel oder Jena vermocht hätte. Wie wichtig ihm dieses anthropologische Vorhaben war, lässt sich schon daraus erahnen, dass er immerhin fast vier Jahre in Paris 5 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 391. 6 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 376 – 505. 7 Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 337 – 375. 8 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 362. Der Eintrag erfolgte wahrscheinlich im Dezember 1797.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

blieb, obwohl er dort seine Freunde in Deutschland, insbesondere Schiller, sehr vermisste. So erwähnte er auch in einem Brief an Goethe vom Frühjahr 1798, dass er seinen Aufenthalt in Paris dafür nutzen wolle, seine anthropologischen Kenntnisse zu vermehren, und obgleich seine Reise »eine ziemlich zufällige Veranlassung hatte, so musste ich suchen, sie dafür und so systematisch als möglich zu benutzen.«9 Auch seine eher distanzierte Haltung gegenüber dem weiteren Verlauf der französischen Revolution und seine kritische Auseinandersetzung mit den ›Id¦ologues‹ verhinderten nicht, dass er am Pariser Gesellschaftsleben sehr rege teilnahm. Darüber geben uns Wilhelm von Humboldts Tagebuchaufzeichnungen Aufschluss und gewähren uns einen interessanten Einblick in dessen Befindlichkeit während des Aufenthaltes in der französischen Hauptstadt. Trotz seines fehlenden Enthusiasmus für die Anliegen der ›Citoyens‹ setzte er sich engagiert mit der ›zivilisiertesten Nation‹ der Welt auseinander und verglich sie mit der deutschen. Denn erst die Begegnungen mit den Vertretern der zeitgenössischen französischen Anthropologie und ›Id¦ologie‹ erlaubten es ihm – so meine These – seinen eigentlichen Wirkungsbereich zu finden: denjenigen der vergleichenden Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie. In Frankreich versuchte Humboldt also noch einmal, die bei der Beschäftigung mit der Anthropologie aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden. Wir haben bereits in Kapitel III.3. gesehen, wie Wilhelms Plan, die natürlichen, empirisch erfassbaren Grundlagen des Menschen mit dessen geistigen und moralischen Vermögen in Einklang zu bringen, gescheitert war. Trotzdem schrieb er Ende November 1797 noch durchaus hoffnungsfroh an Friedrich Gentz, seinen engen Freund aus den Berliner Jahren: »Ich gestehe gern, dass mir mehr als je die Schilderung des Jahrhunderts und die vergleichende Anthropologie, zu der ich den Plan ohngefähr seit der gleichen Zeit im Kopf trage, am Herzen liegt. Für beides ist mir der hiesige Aufenthalt überaus nützlich. Der moderne Geist, in seinen Extremen und Extravaganzen vorzüglich, ist nirgends so sehr zu Hause als hier ; der Denkungsart des Schlusses unsres Jahrhunderts hat Frankreich sogar die Richtung gegeben, man kann daher nicht leicht besser zu diesem Unternehmen eingeweiht werden, als durch das anschauliche Bild dieses Schauplatzes, der nun überdiess so verschiedne Nationen und Individuen darstellt, dass schon diess bunte Gewimmel allein mir wichtig seyn würde.«10

Paris sollte Wilhelm also neue Anregungen für seine wissenschaftlichen Arbeiten geben, denn inmitten der pulsierenden Metropole fand er zahlreiche Gelegenheiten, den modernen Menschen zu beobachten. Doch betrachten wir 9 Bratranek (1876), S. 46. (Brief vom Frühjahr 1798.) 10 Humboldt, W. (1835b). Bd. 240; Heft 1. S. 18. (Wilhelm von Humboldt an Friedrich Gentz, Brief vom 29. November 1797.)

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zuerst die beiden anthropologischen Fragmente, mit welchen sich Wilhelm von Humboldt in Paris erneut intensiv beschäftigen wollte, etwas genauer.

V.1.a) Der »Plan einer vergleichenden Anthropologie« Der Beginn der Niederschrift von Wilhelm von Humboldts »Plan einer vergleichenden Anthropologie« wird von Leitzmann, der das Fragment erstmals 1903 veröffentlichte, auf August oder September 1795 datiert. Aufgrund des Wasserzeichens, welches sowohl das Manuskript als auch die Briefe seiner damaligen Korrespondenz aufweisen, geht er davon aus, dass Wilhelm den »Plan einer vergleichenden Anthropologie« innerhalb der kurzen Zeit zu Papier brachte, während der er sich in Tegel aufhielt, um sich dort um die Druckanordnungen für den schillerschen »Musenalmanach« zu kümmern. Doch da ihn seine Aufzeichnungen nicht befriedigten, legte er sie für längere Zeit beiseite.11 Leitzmanns Datierung ist jedoch umstritten. So nimmt zum Beispiel Ernst Howald12 aufgrund der auf Seite 345 dieser Arbeit zitierten Jahresschlussbetrachtung von Ende 1797 an, dass Humboldt das Fragment erst Anfang 1797 verfertigte.13 Auch einen Brief an Friedrich August Wolf von Ende 1796 gibt er als Beleg für seine Annahme an.14 Diese Ansicht vertreten ebenfalls Andreas Flitner und Klaus Giel. Sie verweisen in ihrem Kommentar zum »Plan einer vergleichenden Anthropologie« auf einen weiteren Brief an Friedrich August Wolf vom 23. Dezember 1796, der Howalds Vermutung stützen soll.15 Darin spricht Wilhelm von seinem eigentlichen Arbeitsfeld, zu dem er sich berufen fühle, nämlich die »Kenntniss und Beurtheilung des menschlichen Charakters in seinen verschiedenen Formen«.16 Auch nennt er dieses Studium eine »vergleichende Anthropologie« und entwirft eine grobe Skizze, was diese neue Wissenschaft beinhalten sollte. Jedoch geht aus dem Brief nicht hervor, seit wann sich Wilhelm mit seinem Plan zu einer vergleichenden Anthropologie beschäftigte und wie weit dieser schon gediehen war. Wichtiger als die genaue Datierung der Niederschrift scheint mir indessen die Feststellung zu sein, dass Humboldt mit seinem Fragment thematisch wieder an die beiden Geschlechteraufsätze anschliesst, die 1795 in den »Horen« veröffentlicht wurden. Dies zeigt meiner Meinung nach deutlich, dass sich der ältere von Humboldt während der letzten fünf Jahre des 18. Jahrhunderts fortgesetzt 11 12 13 14 15 16

Humboldt, W. (1903 – 1939), 1. Bd. Werke 1785 – 1795. A.a.O. S. 437. Howald (1944), S. 98; 182, Anm. 1). Humboldt bezeichnet an dieser Stelle seine Idee der Anthropologie als beinahe ein Jahr alt. Humboldt, W. (1841 – 1852). Bd. V, S. 391. Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. V. S. 334 f. Humboldt, W. (1990), S. 170.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

mit Fragen zur Anthropologie und Menschenkenntnis auseinandersetzte. Er selbst äussert sich dahingehend in einem bereits erwähnten Brief an Goethe: »Wir haben gewöhnlich so viel von interessantern Gegenständen gesprochen, dass ich, glaube ich, nie gegen Sie meine beiden grossen Plane, eine Schilderung unsers Jahrhunderts und die Gründung einer eigentlich neuen Wissenschaft: einer vergleichenden Anthropologie, erwähnt habe. Aber auf alle Fälle kann es Ihnen nicht entgangen sein, dass ich überall hauptsächlich auf die Kenntniss des Menschen im Einzelnen, und zwar auf eine solche ausgehe, die empirisch genug ist, um vollkommen wahr zu sein, und philosophisch genug, um für mehr als den jedesmaligen Augenblick zu gelten.«17

Im hier erwähnten »Plan einer vergleichenden Anthropologie« sehen wir aber nicht nur eine Sammlung von Beobachtungen der Menschen, sondern in erster Linie einen Versuch, die reiche Materialsammlung, das heisst vor allem Wilhelms eigene Beobachtungen, auch theoretisch zu durchdringen. Das Fragment ist in acht Abschnitte gegliedert und bricht nach rund vierzig Seiten ab, wobei meiner Ansicht nach nicht zu ersehen ist, ob der achte Abschnitt bereits beendet ist. Zunächst aber ist beachtenswert, dass Wilhelm die neu zu konzipierende Wissenschaft einer vergleichenden Anthropologie in Analogie zur vergleichenden Anatomie setzt, einer Disziplin also, welche vollumfänglich in den Bereich der Naturgeschichte gehört. Indem Humboldt davon ausgeht, dass sich »die Eigenthümlichkeiten des moralischen Charakters der verschiedenen Menschengattungen«18 ebenso miteinander vergleichen lassen wie diejenigen des menschlichen Körperbaus mit dem tierischen, setzt er eine naturwissenschaftlich-empirische Grundlage der vergleichenden Anthropologie voraus. Doch im Unterschied zu den Geschlechteraufsätzen19 lässt er im Folgenden die Einordnung des Menschen in ein Naturganzes beiseite und beschränkt sich – wie der Titel des Fragmentes schon besagt – auf den Menschen allein. Aber trotz des naturgeschichtlichen Ausgangspunktes seiner Untersuchung heisst das nicht, dass er philosophische Betrachtungen vollkommen ausschliesst. Wie er auch später im oben zitierten Brief an Goethe erklären wird, geht es ihm um die Verbindung von Empirie und Philosophie auf dem Gebiet der Menschenkenntnis: »Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophirende Geist gemeinschaftlich thätig seyn.«20 17 Bratranek (1876), S. 46. Brief vom Frühjahr 1798. 18 Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 337. 19 Siehe dazu meine Ausführungen in Kapitel III.3. 20 Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 338.

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Wilhelm sieht die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen der Empirie und der reinen Spekulation herzustellen, in der Erfahrung. Diese Erfahrung gewinnt der vergleichende Anthropologe einerseits durch die Untersuchung der äusseren Bedingungen des Menschen oder der Menschenklassen, andererseits aber durch die Beobachtung der inneren Beschaffenheit eines Individuums. Die Data der äusseren Bedingungen lassen sich relativ einfach anhand objektiver Kriterien eruieren. Sie umfassen sowohl anatomische, physiologische und physiognomische Merkmale des Menschen als auch dessen Lebensweise, so zum Beispiel seine alltäglichen Arbeiten oder seine Wohnsituation. Ebenfalls zu den äusseren Bedingungen, die auf den ersten Blick dem Innern des Menschen völlig heterogen erscheinen, aber dennoch vom Untersuchenden berücksichtigt werden müssen, gehören das Klima, die Bodenverhältnisse, die Nahrungsmittel usw., welche den Charakter der Menschen beeinflussen. Hier erkennen wir eine deutliche Parallele zu den Ansätzen der ›Id¦ologues‹, die, wie wir in den vorigen Kapiteln gesehen haben, bei ihrer ›Science de l’homme‹ ebenfalls grossen Wert auf die äusseren Einflüsse legen. Möglicherweise nimmt Wilhelm von Humboldt sogar direkt Bezug auf die Deszendenztheorie von Jean Baptiste de Lamarck, wenn er feststellt: »Durch ein physisches Mittel, durch Zeugung und Abstammung, wird die einmal erworbene moralische Natur übertragen und fortgepflanzt, und dadurch nehmen die intellectuellen und moralischen Fortschritte, die sonst vielleicht vorübergehend und wechselnd seyn würden, gewissermaassen an der Stätigkeit und der Dauer der Natur Theil. Die physische Beschaffenheit der Menschen spielt daher bei der Bildung seines Charakters eine in jeder Rücksicht bedeutende Rolle.«21

Der letzte Satz dieses Zitates könnte man ebenso gut auch in den »Rapports du physique et du moral de l’homme« von Cabanis lesen! Indem Wilhelm hier die Physis des Menschen als so bedeutend für die Charakterbildung erachtet, stützt er sich offenbar auf die zeitgenössische französische Naturwissenschaft. Dass er dabei seine Quellen nicht preisgibt, spricht durchaus nicht gegen diese These. Wie wir schon in seinen früheren Schriften gesehen haben, erwähnt Humboldt in den seltensten Fällen, worauf er seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse stützt. Wenn auch der »Plan einer vergleichenden Anthropologie« im Wesentlichen vor seinem Parisaufenthalt geschrieben wurde, so ist es trotzdem möglich, dass der ältere von Humboldt die einschlägigen Schriften der ›Id¦ologues‹ schon in 21 Ibid. S. 351 f. Auch auf Seite 349 scheint Wilhelm von Humboldt auf Lamarck anzuspielen: »Denn nichts wirkt so lebendig rund um sich her, als die menschliche Individualität. Vorzüglich wirkt in dieser Hinsicht die Abstammung, welche dasjenige, was bisher erworben ist, dem neuen Individuum als fertige Anlage überliefert, und so jedesmal das in ein sichres Eigenthum verwandelt, was solange nur ein minder sichrer Besitz schien.«

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Deutschland zur Kenntnis genommen hatte. Seine anatomischen Studien in Jena sowie der intensive Austausch mit Goethe und seinem Bruder Alexander über naturwissenschaftliche Fragestellungen unterstützen jedenfalls diese Annahme.22 Damit aber die vergleichende Anthropologie zu einer »philosophisch-praktischen Menschenkenntniss«23 erhoben wird, bedarf es weiterer Schritte. Denn da der Zweck der Untersuchung darin liegt zu zeigen, wie »das menschliche Ideal, dem niemals Ein Individuum adäquat ist, durch viele dargestellt werden kann«24, genügt es nicht, die Menschen wie ein Naturforscher zu klassifizieren. Wilhelm setzt nämlich voraus, dass sich die Menschheit zu ihrem Ideal entwickelt, das heisst also, dass sie sich historisch, im Laufe der Zeit entfaltet. Auch wenn die Menschheit ihr Ideal nie erreichen wird, so lässt sich doch immerhin feststellen, dass sie sich darauf zubewegt, also Fortschritte gemacht hat und machen wird. Erst nach und nach kann man aber deutlicher erkennen, welche Charakteristika der Menschen massgeblich an dieser Entwicklung beteiligt sind. Im Überblick über die Jahrhunderte kristallisieren sich die Merkmale langsam heraus, die insgesamt betrachtet das Ideal der Menschheit ausmachen. Gleichzeitig lässt sich das rein Zufällige aussondern, welches nicht essentiell für dieses Ideal ist. Damit wird jedoch auch einsichtig, dass die Erfahrung eines Menschenalters bei Weitem nicht ausreicht, um das für dieses Ideal Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Diese zeitliche Dimension bedeutet nun aber, dass sich eine vergleichende Anthropologie nicht allein auf die Erfahrung stützen kann, um zu beurteilen, worin die charakteristischen Züge der Menschen, sozusagen deren Parameter, liegen: »Ihre Eigenthümlichkeit besteht daher darin, dass sie einen empirischen Stoff auf eine speculative Weise, einen historischen Gegenstand philosophisch, die wirkliche Beschaffenheit des Menschen mit Hinsicht auf seine mögliche Entwicklung behandelt.«25

Damit ist bereits eine erste Stufe der Abstraktion erreicht. Eine weitere kommt hinzu, wenn es darum geht festzustellen, wie die innere Beschaffenheit eines menschlichen Charakters, um die es in der vergleichenden Anthropologie vorzüglich gehen soll, aussieht. Doch hier kommt Wilhelm von Humboldt an einen Punkt, wo er die Grenze des wissenschaftlich Nachprüfbaren überschreitet, oder 22 Wilhelm versichert in einem Brief an Schiller aus dem Jahr 1796, dass er »in den Naturwissenschaften kein Fremdling« sei. Zwar spricht er nicht ausdrücklich von den zeitgenössischen Naturwissenschaften in Frankreich, aber er rühmt sich seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse im Allgemeinen. (Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 64. Brief vom 31. Mai 1796.) 23 Wilhelm von Humboldt: Plan einer vergleichenden Anthropologie. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 354. 24 Ibid. S. 350. 25 Ibid. S. 352 f.

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besser gesagt überschreiten muss. Denn der vergleichende Anthropologe kann sich nun nicht mehr auf die Wirklichkeit beziehen, sondern muss diese auch philosophisch betrachten, wenn er zu allgemeingültigen Aussagen über den Charakter der Menschen oder der Menschheit überhaupt gelangen will. Erneut sind wir an einer kritischen Grenze angekommen, an der zwar noch eine Verbindung von Empirie und Philosophie gefordert wird; aber wie schon im Fragment »Ueber die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte« ist Wilhelm nicht mehr in der Lage genauer zu erklären, wie diese Verbindung bewerkstelligt werden kann. Er bleibt bei dem allgemeinen Hinweis stehen, dass der Bearbeiter einer vergleichenden Anthropologie ein genauer Beobachter der Wirklichkeit, aber zugleich auch ein strenger philosophischer Betrachter derselben sein muss. Das heisst, er muss sowohl die ungeheure Masse der gefundenen Tatsachen ordnen als auch die beobachteten Charaktere praktisch nach Gesetzen beurteilen: »Wer hierin glücklich seyn, und die individuelle Menschenkenntniss wahrhaft erweitern will, der muss gewissermaassen die verschiedenen Geistesstimmungen des Naturbeobachters, des Historikers und des Philosophen in sich vereinigen.«26

Wie aber hängen die drei verschiedenen »Geistesstimmungen« zusammen? Auf diese Frage erhält der Leser keine schlüssige Antwort. Das hier zugrunde liegende Problem besteht nämlich darin, dass der Mensch »ein freies Wesen in der Kette der Natur ist«,27 eine Formulierung, die einen unauflösbaren Widerspruch in sich enthält. Dieser Widerspruch beruht auf dem alten Dualismus zwischen den Zwängen der Naturgesetze einerseits und dem a priori gesetzten freien Willen des Menschen andererseits. Zwar behauptet Wilhelm von Humboldt einige Zeilen vorher, dass dieser Gegensatz durch die menschliche Freiheit der Vernunft aufgehoben werden kann, aber trotzdem bleibt dieser Antagonismus bestehen. Denn auch wenn die Vernunft nach Gesetzen handelt, die sie sich selbst gibt, und somit – nach Meinung Wilhelms – der Freiheit keinen Zwang antut, so lassen sich diese ›Gesetze‹ nur philosophisch und ästhetisch beurteilen – überprüfen lassen sie sich trotzdem nicht. Wie aber lassen sich nun die Gesetze der organischen Natur, die empirisch erforschbar sind, mit jenen Gesetzen, auf denen der moralische Charakter des Menschen beruhen soll, verknüpfen? Humboldt selbst erkennt das Problem der von ihm verlangten »philosophischen Beurtheilung«. Zwar wird diese »einzelne Verhältnisse unfehlbar richtig bestimmen und aufklären, aber da diese nie ganz allein und vereinzelt vorhanden, also die Fälle nie rein gegeben sind, so werden die

26 Ibid. S. 360. 27 Ibid. S. 360 f.

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innern intellectuellen und moralischen Verhältnisse nie ganz fehlerlos dargestellt, oder vollständig erschöpft werden können.«28

Daraus folgt nun aber : »Der Stoff, den die vergleichende Anthropologie darbietet, ist daher nicht gerade einer wissenschaftlichen, ja nicht einmal durchaus einer theoretischen Behandlung fähig.«29

Wieder befindet sich Wilhelm in der unbefriedigenden Situation, die an sich selbst gestellten Ansprüche nicht erfüllen zu können. Auf jeden Fall wird uns nun begreiflich, warum er den »Plan einer vergleichenden Anthropologie« nicht zu Ende geschrieben hat. Trotzdem scheint Wilhelm noch einige Jahre von der Durchführbarkeit seines Vorhabens überzeugt gewesen zu sein, denn sonst hätte er in dem auf Seite 348 zitierten Brief an Goethe aus dem Jahre 1798 nicht ausdrücklich von einer Wissenschaft der vergleichenden Anthropologie gesprochen. Die fehlende theoretische Fundierung des »Plans« kommt auch im letzten Abschnitt, in dem er die »hauptsächlichste Thatsache, auf welche der Gedanke einer vergleichenden Anthropologie sich vorzüglich stützt«,30 behandelt, zum Ausdruck. Zunächst fällt auf, dass er hier bloss noch von einem »Gedanken« der vergleichenden Anthropologie und nicht mehr von einer ›Wissenschaft‹ oder ›Theorie‹ ausgeht. Es scheint, als habe Humboldt kurz vor dem Abbruch seiner Arbeit sein anfänglich konzipiertes wissenschaftliches Projekt selbst in Frage gestellt. Inhaltlich geht er in diesem Abschnitt auf den Unterschied der Geschlechter ein, den er als massgeblich für die augenfälligsten Charakterunterschiede der Menschen ansieht. Mit dem Thema des Geschlechtsunterschiedes knüpft er an seine beiden Horenaufsätze »Ueber den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« und »Ueber die männliche und weibliche Form« an, wobei er nun in erster Linie den Charakter der Frauen behandelt. Doch wie schon in den früheren Abhandlungen wird Wilhelm auch in diesem Teil des »Plans« wenig konkret. In vier Items zählt er die Hauptmerkmale der weiblichen Natur auf. Beschreibt er unter Punkt eins noch die unbestreitbaren Unterschiede im Körperbau zwischen Mann und Frau, so behandelt er im weiteren Verlauf der Aufzählung weibliche Attribute, welche empirisch kaum zu überprüfen sind. Im Wesentlichen sieht Humboldt die Unterschiede in der weiblichen Natur, vor dem Hintergrund des nicht thematisierten männlichen Charakters, bezüglich ihrer intellektuellen Fähigkeiten, ihres Schönheitssinnes sowie ihres Empfindungsvermögens. Gerade die letzten drei Punkte seiner Aufzählung offenbaren den subjektiven und oberflächlichen Charakter des 28 Ibid. S. 359 29 Ibid. 30 Ibid. S. 363.

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»Plans einer vergleichenden Anthropologie«. Zur Veranschaulichung hierfür diene folgender kurzer Auszug: »Lebhafte Reizbarkeit der Empfindung und Anhänglichkeit an die einmal gefasste Meynung bringen natürlich einen leidenschaftlichen, leicht erregbaren und heftigen Charakter hervor. Da aber die intellectuelle Cultur die Einseitigkeit des Verstandes, und die ästhetische die Materialität der Empfindung vermindert; so verschwindet diese Leidenschaftlichkeit auch in gebildeten Frauen wiederum bis auf ihre letzten kaum noch erkennbaren Spuren.«31

Welche Erkenntnisse lassen sich aus diesen Beschreibungen des weiblichen Geschlechts gewinnen? Humboldt hat wohl bald eingesehen, dass er seine neue Wissenschaft auf eine solche »hauptsächlichste Thatsache« wie den Geschlechtsunterschied kaum bauen kann. So vielversprechend sich sein Vorhaben einer vergleichenden Anthropologie zu Beginn auch präsentierte, in der konkreten Ausführung dieser Theorie manifestierte sich bald schon die Unmöglichkeit, einem so weit gefassten Konzept gerecht zu werden. Dennoch versuchte Wilhelm von Humboldt seine Lieblingsidee, ein Werk über die Menschenkenntnis zu schreiben, noch in einer weiteren Schrift zu realisieren. Doch auch seine ambitiöse Abhandlung »Das achtzehnte Jahrhundert« kam über die ersten fünf Kapitel nicht hinaus.

V.1.b) »Das achtzehnte Jahrhundert« Im Dezember des Jahres 1797, also kurz nach der Übersiedelung Wilhelm von Humboldts nach Paris, schrieb Novalis an seinen Dichterfreund Friedrich Schlegel: » H u m b o l d t sen. ist in Paris – zum Behuf einer C h a r a k t e r i s t i k d e s Z e i t a l t e r s ! ! Was sagst Du dazu? Der schwerfällige Humboldt Mimus dieses unendlichen Proteus?«32

Diese spöttische Bemerkung erweckt vielleicht den Eindruck, als handelte es sich bei Wilhelms Vorhaben, eine Charakteristik des 18. Jahrhunderts zu verfassen, lediglich um einen augenblicklichen, tollkühnen Einfall. Aber auch der Abhandlung über »Das achtzehnte Jahrhundert«, auf welche hier Novalis anspielt, liegen über Jahre gesammelte Beobachtungen und Materialien zugrunde, welche Humboldt mithilfe verschiedener Konzeptionen zu bewältigen versuchte. Vermutlich entstanden die ersten Skizzen zeitgleich mit dem »Plan einer vergleichenden Anthropologie«. Dies wäre wenig erstaunlich, gehören doch 31 Ibid. S. 373. 32 Preitz (1957), S. 110. Brief vom 26. Dezember 1797.

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beide Fragmente zu demselben grossen Themenkomplex, zu demjenigen der Menschenkenntnis. Ein erstes Zeugnis über Wilhelm von Humboldts Beschäftigung mit dem Charakter seines Jahrhunderts finden wir in einem Brief an Schiller : »Bei Gelegenheit eines sehr mittelmässigen Buches, das mir neulich in die Hände fiel, über den Geist des 18. Jahrhunderts, ist mir eine Idee eingekommen, die vielleicht den ›Horen‹ eine Reihe zugleich wichtiger und interessanter Aufsätze von mehreren geben könnte, wenn Sie ihr länger nachdächten, ihr Ihren Beifall schenkten und selbst zuerst Hand ans Werk legten. Es scheint mir jetzt nämlich mehr als je der wahre Zeitpunkt, Rechnung über die Fortschritte zu halten, welche der menschliche Geist und Charakter teils gemacht, teils noch erst machen muss. Ausserdem dass das vage, ungeordnete Umtreiben in der politischen und literarischen Welt eine Rechenschaft zum Bedürfnis macht, ist auch dasjenige jetzt vorgearbeitet, was die Möglichkeit einer solchen Kritik voraussetzt.«33

Dachte Wilhelm hier zuerst noch an ein Werk, das er mit anderen Autoren zusammen – vornehmlich mit Schiller – schreiben und in fortgesetzten Teilen in den »Horen« veröffentlichen lassen wollte, so rückte er schon bald von diesem Plan ab.34 Er gelangte zur Ansicht, dass er das Vorhaben, ein Zeitalter zu charakterisieren, auch allein bewältigen könnte und nahm zügig die Einleitung zu dieser Abhandlung in Angriff. Doch wie so oft in Humboldts literarischem Schaffen geriet die Arbeit schon bald ins Stocken. Das lag nicht nur an den äusseren Umständen wie etwa Krankheiten in seiner Familie, Besuche von Freunden oder kleinen Reisen, sondern auch an seinem Selbstzweifel und seiner inkonsequenten Arbeitsweise. Selbstkritisch erörtert er in einem Brief an Schiller im Sommer 1796,35 also nur wenige Monate nach dem Beginn an der Einleitung zum »Achtzehnten Jahrhundert«, seine Schwierigkeiten, wenn es darum gehe, seine Gedanken und Ideenverbindungen zu Papier zu bringen. Es dürfte aber gewiss auch an dem viel zu weit gefassten und zu unbestimmten 33 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 22. Brief vom 2. Februar 1796. 34 Ibid. S. 63 ff. Brief Wilhelm von Humboldts an Friedrich Schiller vom 31. Mai 1796. 35 »Auch ging meine Arbeit anfangs schnell und gut vonstatten. Aber seit 14 Tagen ist wieder eine solche Mutlosigkeit, ein solches ängstliches Zweifeln an der Tauglichkeit des Hervorgebrachten zurückgekehrt, dass ich kaum habe von der Stelle rücken können. Ich befinde mich dann immer in einem schlimmen Dilemma. Gebe ich der Stimmung nach, so weiss ich schon, was geschieht, die unterbrochne Arbeit bleibt für ewig liegen; eine Zeitlang verstreicht müssig und mit dem Anfange eines neuen Unternehmens fängt der alte Kreislauf wieder an. Suche ich sie zu besiegen, so mag der moralische Gewinn ganz gross sein, aber gewiss ist es auch ebensosehr die Gefahr für das Produkt, das unter solchem Zwange geboren wird. Ich fühle sehr wohl, woran es mir fehlt. An der Kraft, die ihren Gegenstand mit Leidenschaft angreift, die von ihm fortgerissen wird und dauernd an ihm festhängt – an Genie.« (Ibid. S. 79. Brief vom 16. Juli 1796.) Trotzdem schreibt Humboldt an demselben Tag an Friedrich August Wolf, dass die Einleitung zum »Achtzehnten Jahrhundert« an Ostern oder Michaelis 1797 »gewiss« erscheinen soll! (Humboldt, W. (1990), S. 158. Brief vom 16. Juli 1796.)

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Thema seines geplanten Werkes gelegen haben – worauf die oben zitierte Bemerkung von Novalis ja ebenfalls zielt –, dass Wilhelm von Humboldts Schaffensprozess zeitweilig zum Erliegen kam. In einem Brief an Karl Gustav von Brinkmann gesteht Wilhelm die zu grosse Themenwahl auch teilweise ein. Etwa ein Jahr nach der ersten Anregung zum »Achtzehnten Jahrhundert« lag erst das erste Kapitel vor : »Am Jahrhundert ist eine einzige Abhandlung fertig geworden, und so unaufhörlich es mich in Gedanken beschäftigt, so kann ich seitdem nicht recht vorwärts kommen. Zum Theil, aber nur zum Theil liegt wohl die Schuld am Stoff. Es ist eine ungeheure Masse, die zu bewegen ganz eigner Hebel bedarf, die ich leider noch nicht genug gefunden habe. Daher denke ich soll auf diese Krise eine desto bessere Epoche folgen.«36

Die Zuversicht, die aus den letzten Zeilen dieses Zitates spricht, schien zunächst gerechtfertigt zu sein. Im Verlaufe des Frühjahrs und Sommers 1797 schrieb Humboldt weitere vier Kapitel seiner Abhandlung nieder.37 Doch im Herbst geriet die Arbeit erneut ins Stocken. In Paris dürfte sie endgültig zum Erliegen gekommen sein, obwohl gerade die französische Hauptstadt eine Vielzahl von Anschauungsmaterial für eine Charakteristik des Jahrhunderts geboten hätte.38 Betrachtet man »Das achtzehnte Jahrhundert« inhaltlich genauer, so kann man erkennen, dass es neben der zu grossen Fülle an Materialien und dem zu weitgefassten Sujet noch einen anderen Grund für Wilhelms Nichtvollendung seines Vorhabens gibt. Man fragt sich nämlich zuweilen, wen oder was der Verfasser eigentlich charakterisieren will. Zu Beginn der Abhandlung ist die Ausgangslage für die gestellte Aufgabe noch klar ersichtlich: »An dem Schluss eines vollendeten Jahrhunderts bietet sich unserm Nachdenken sehr natürlich die Frage dar : wo stehn wir? welchen Theil ihres langen und mühevollen Weges hat die Menschheit zurückgelegt? befindet sie sich in der Richtung, welche zum letzten Ziel hinführt? und wie weit ist es ihr gelungen, in dieser Richtung bereits fortzuschreiten?«39

Um diese Fragen beantworten zu können, bedarf es laut Wilhelm von Humboldt einer »Charakteristik der Zeit« und einer »Schilderung des Jahrhunderts«, gezeichnet als »lebendiges Glied einer zusammenhängenden Kette«. Doch schon bald scheint es, als wolle Humboldt die ganze Menschheit in ihrer Totalität 36 Humboldt, W. (1939), S. 96. 51. Brief vom 13. Februar 1797. 37 Siehe dazu den Kommentar von Leitzmann in: Humboldt, W. (1903 – 1939), 2. Bd. Werke 1796 – 1799. A.a.O. S. 492. 38 »Das achtzehnte Jahrhundert« blieb unvollendet und wurde zum ersten Mal 1904 von Albert Leitzmann veröffentlicht. (Humboldt, W. (1903 – 1939), 2. Bd. Werke 1796 – 1799. A.a.O.) 39 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 376.

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charakterisieren, denn deren Charakter müsse man von allen möglichen Seiten kennen, um vor diesem Hintergrund den Charakter seines eigenen Zeitalters bestimmen zu können. Gleichzeitig versucht er aber noch, die Unterschiede der Nationalcharaktere, zumindest diejenigen zwischen den Franzosen, Engländern, Deutschen und Italienern, zu erforschen. Sein Ansinnen, diese modernen Nationalcharakteren zudem mit demjenigen der antiken Griechen zu vergleichen, und nebenbei auch noch die Entwicklung des Menschheitscharakters von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit aufzuzeigen, macht sein Vorhaben noch komplizierter und lässt Zweifel an seiner Durchführbarkeit aufkommen. Doch auch damit gibt sich Humboldt noch nicht zufrieden. Zusätzlich geht es ihm ebenfalls darum, die Hilfsmittel zur Bestimmung eines individuellen Charakters zu erarbeiten. Da nun der Charakter eines Individuums durch zahlreiche Faktoren geformt wird, gilt es auch diese zu berücksichtigen. Wiederum legt Wilhelm Wert darauf, alle anthropologischen Konstanten dabei in Betracht zu ziehen, das heisst sowohl die physischen als auch die psychischen und sozialen. Wir sehen hier, wie seine Ausführungen zum »Plan einer vergleichenden Anthropologie« unvermittelt in »Das achtzehnte Jahrhundert« einfliessen – Ausführungen wohlgemerkt, die er auch in dieser zeitgleich entstehenden Schrift nicht zu Ende bringt. Nicht immer wird dabei deutlich, ob Wilhelm gerade über den individuellen oder den allgemeinen Charakter der Menschen spricht, oder ob er, wie es eigentlich sein Plan wäre, den Charakter seines Zeitalters analysiert. So befindet sich der Leser ständig in der Situation, sich darüber orientieren zu müssen, worüber der Autor im Augenblick spricht. Ausserdem stiftet das Schwanken der Erörterungen zwischen allgemeinen, eher oberflächlichen Aussagen und konkreten, an Beispielen dargelegten Erläuterungen nicht selten Verwirrung. Humboldt ahnte wohl schon im Voraus, dass es zu solchen Schwierigkeiten kommen könnte. In einem Schreiben an Schiller erörtert er seine Absicht, sein geplantes Werk in zwei Teile zu gliedern: »In dem einen muss meinem Plan nach der Charakter der Menschheit in unserm Jahrhundert allgemein nach seinen einzelnen Seiten geschildert und durch Beispiele aus der Lage unserer Verfassungen, Wissenschaften, usf. bewiesen werden. Im zweiten müssen diese einzelnen Fächer eine genauere Prüfung erfahren, die Lage eines jeden im Anfange dieses Jahrhunderts und seine Veränderungen während desselben müssen einzeln gezeigt werden. Diese beiden Teile stehen in einer sonderbaren Beziehung aufeinander. Ich halte es für unmöglich, den zweiten zweckmässig auszuarbeiten, ohne den ersten schon vollendet zu haben. Wenn der Blick nicht durch allgemeine Aussichten geleitet ist, so muss er sich in dem Chaos einzelner Gegenstände, das der zweite Teil darbietet, notwendig verwirren. Dagegen kann auch der erste kaum etwas anders als das Resultat des zweiten sein. Ich denke daher zwar den ersten zuerst fertigzumachen, aber während der Bearbeitung des zweiten beide gegenseitig durch einander zu

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verbessern und nach Vollendung des zweiten den ersten noch einmal von neuem umzuarbeiten. Ich weiss kein kürzeres Mittel, allen Unbequemlichkeiten auf einmal zu begegnen.«40

Doch bis zum zweiten Teil der Abhandlung sollte Wilhelm von Humboldt gar nicht mehr gelangen. Wir können nur anhand des hinterlassenen Fragmentes vermuten, dass er mit der ausufernden Menge des Materials nicht mehr zu Rande kam. Die grösste Schwierigkeit dürfte aber darin bestanden haben, die von Humboldt gegebene Definition des Charakters auf ein Jahrhundert oder eine Nation anzuwenden. Denn ungeachtet seiner Absicht, das 18. Jahrhundert zu charakterisieren, definiert er den zentralen Terminus ›Charakter‹ immer nur in Bezug auf den Menschen: »Was sich in der Seele des Menschen bewegt, seine Gedanken, Empfindungen, Neigungen und Entschlüsse, und wie, in welcher Folge und Verknüpfung sie wirken, sind also die Punkte, worin sein Charakter besteht – das Verhältniss und die Bewegung seiner Kräfte, zugleich und als Eins gedacht.«41

Wie lassen sich aber die Bewegungen der Seelenkräfte eines Menschen, die nach dieser Festlegung den Charakter ausmachen, auf diejenigen Kräfte applizieren, welche ein Zeitalter charakterisieren? Nirgends sagt uns Humboldt, was er konkret unter dem »Charakter eines Jahrhunderts« versteht. Er unterstellt jedoch apodiktisch, dass seine Definition eines individuellen Charakters auch für ganze Gesellschaftsschichten, Nationen und Epochen gilt. Wie man aber diese Definition anwenden soll, welche »Kräfte« man beachten muss, geht aus seinen Ausführungen nicht hervor. Zwar ist Wilhelm der Meinung, dass man den Charakter der Menschheit erkennen kann, wenn man zunächst einmal prüft, wie sich der eigene Charakter bildet. Von diesem könne man in einem weiteren Schritt den allgemeinen Menschheitscharakter abstrahieren und untersuchen, welche seiner Eigentümlichkeiten jeweils während einer bestimmten Epoche besonders ausgeprägt sind. So entsteht jedoch eine Charakteristik des 18. Jahrhunderts, die letztlich auf einer individuellen Selbstbeobachtung fusst, die aber zwangsläufig die gesellschaftlichen und historischen Faktoren vernachlässigen muss, auf denen sie eigentlich beruhen sollte. Gerade das Übertragen der bei sich selbst vorgefundenen Kräfte auf andere Menschen ist sehr problematisch. Denn Humboldt betont stets, wie wichtig die freie Ausbildung der individuellen Kräfte, die erst die Eigentümlichkeit des Charakters ausmachen, sei. Schon aus einer der frühesten Äusserungen Wil40 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 65 f. Brief vom 31. Mai 1796. 41 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 453.

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helms zu den Anforderungen einer Anthropologie, einer Tagebuchnotiz aus der Zeit seines Aufenthaltes 1789 in Bern, geht hervor, dass er die Erkenntnis des Charakters für die eigentliche Aufgabe einer Anthropologie hält. Diese erfordere aber Untersuchungen zum Denken und Empfinden des Menschen sowie über den Zusammenhang von Körper und Seele.42 Diesem ersten Ansatz entsprechend entwickelt Humboldt auch in den früheren Fragmenten »Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte«, »Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur« und »Über die männliche und weibliche Form« seine Theorie, dass nur die Selbstbeobachtung zu einiger Gewissheit über die inneren Kräfte des Menschen führen kann. Da sich diese inneren Kräfte zudem in einem dynamischen Prozess befinden, ihre Ausbildung also nie abgeschlossen sein kann, liefert die Selbstbeobachtung nur vorläufige Ergebnisse, die stets modifiziert werden müssen. Zwar geht auch Humboldt davon aus, dass jeder Mensch in einer Wechselbeziehung zu seiner Umwelt und zu seinen Mitmenschen steht, doch sind diese äusseren Einflüsse nicht primär bestimmend – die »idealische Ausbildung des einzelnen Menschen« beruht »einzig und allein auf der reinen und strengen Entwicklung der innern Eigenthümlichkeit«.43 Analog dazu sieht Wilhelm von Humboldt die ideale Vollkommenheit der ganzen Menschheit in einer Vereinigung aller idealisch ausgebildeten Individuen, da »die idealische Vollkommenheit des Ganzen nur von dem stärksten und thätigsten Zusammenwirken der grössesten Menge solcher Individuen«44 abhängt. Wenn auch das Ideal nie erreicht werden kann, so ist es aber doch notwendig, dass sich zunächst jeder einzelne Mensch so vollkommen, das heisst so eigentümlich wie möglich ausbilden muss. Offen bleibt indes die Frage, wie sich die Charaktere der Individuen verändern, wenn sie als Ganzes zusammenwirken. Denn offensichtlich ist der Charakter der Menschheit nicht einfach die Summe ihrer einzelnen Teile, sprich Individuen. Doch über diesen komplexen Sachverhalt geht Wilhelm von Humboldt stillschweigend hinweg. Vermutlich war ihm bewusst, auf welche Schwierigkeiten er bei der Klärung 42 »Immer aber ist mirs, als wäre man noch vorzüglich darin in der anthropologie zurük, den menschen in der that als ein ganzes anzusehn, alle seine verschiednen seiten – des geistes, des herzens, des körpers – in ihrem zusammenhange zu kennen, in dem sie nichts als Ein nur verschieden modificirtes ganze sind. Ehe das nicht geschieht, wird d i e c h a r a k t erkenntniss – der eigentliche zwek aller anthropolog ie, oder vielm e h r d i e e i g e n t l i c h e a n t h r o p o l o g i e s e l b s t – nie eine wissenschaft werden können. Und dazu würden wieder sehr viele feine untersuchungen über die natur dessen vorhergehn müssen, was wir empfinden und denken nennen, ferner über den zusammenhang, in dem das körperliche mit dem unkörperlichen steht.« (Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 211; 27. Brief vom 30. Oktober 1789.) [Hervorhebung von mir.] 43 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 419. 44 Ibid. S. 419 f.

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dieses Problems stossen würde. Letztlich wäre er wohl dazu genötigt gewesen, im »Achtzehnten Jahrhundert« nicht eigentlich den Charakter seines Zeitalters zu erörtern, sondern bestenfalls denjenigen seiner Mitmenschen – ein Ergebnis, welches das ganze Unternehmen vollends ad absurdum geführt hätte. Man könnte sich nun fragen, warum für Wilhelm das unerreichbare Ideal der Menschheit so bedeutend ist, da er ja doch den Charakter seines Zeitalters, das heisst also die vorgefundene Realität, schildern möchte? Das Ideal dient dem Autor als Orientierungspunkt, mit dessen Hilfe man beurteilen kann, wie weit ein Individuum, das eigene Zeitalter oder die Menschheit allgemein auf dem Weg zur Vervollkommnung fortgeschritten ist. Unausgesprochen liegt somit dem Vorhaben, eine Charakteristik des 18. Jahrhunderts zu entwerfen, ein teleologisches Konzept zugrunde. Wie schon in seinen früheren Abhandlungen zeichnet Humboldt ein durchaus optimistisches Bild der Menschheitsentwicklung. Im Grossen und Ganzen strebt die Geschichte der Menschheit einem positiven Ziel entgegen. Wenn der Prozess im Einzelnen auch ins Stocken geraten oder gar Rückschritte erleiden kann, so ist im umfassenden Überblick dennoch ein Fortschritt zu erkennen. Um Abweichungen oder Stagnationen auf diesem Weg zu vermeiden, bedarf es von Zeit zu Zeit einer Standortbestimmung der Menschheit. Sie dient dazu, den Grad der Entwicklung zu beurteilen und Rechenschaft über das Erreichte und Unerreichte abzulegen. Der Grad der momentan erreichten Stufe in der Entwicklung der Menschheit bestimmt sich aus dem Verhältnis zum Ideal und im Vergleich zu den vorangegangenen Epochen. In der Rückschau erkennt man gemäss Wilhelm, dass die Neuzeit, beginnend mit der Renaissance, die Leistungen zweier Zeitabschnitte in sich vereinigt: diejenigen der griechischen und römischen Antike sowie diejenigen des Mittelalters. Am Ende des 18. Jahrhunderts nun können wir die gesamte Entwicklung überblicken: »Wir geniessen daher in unserm Standpunkte den grossen Vorzug, die beiden ersten Zeiträume, deren eigentliche Folgen und zweckmässiges Zusammenwirken erst der dritte recht anschaulich macht, ganz und vollständig zu übersehn, und auch in diesem letzten weit genug vorgerückt zu seyn, um über seinen Charakter nicht länger zweifelhaft bleiben zu können.«45

Hier erkennen wir ein Entwicklungsmodell, welches bereits die hegelsche Dialektik ankündigt. Im Unterschied zu Hegel ist jedoch bei Wilhelm von Humboldt der dialektische Prozess der Menschheit zwar als auf ein ideales Endziel gerichtet, aber dennoch als im Prinzip endlos gedacht, da sich das Ideal nie erreichen lässt. Das Ende der Geschichte wird deswegen nie erreicht. Auch in der Abhandlung »Das achtzehnte Jahrhundert« erörtert Wilhelm von 45 Ibid. S. 402.

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Humboldt die Frage, ob für die beabsichtigte neue Wissenschaft der Menschenkenntnis eher eine empirische oder eine spekulative Methode angemessen sei. Eine empirische Menschenkenntnis beruht auf Analyse und Beobachtung des real Gegebenen, also in erster Linie auf einer Naturgeschichte des Menschen. Die spekulative Menschenkenntnis hingegen gründet auf der Tätigkeit des Verstandes. Sie stellt logische Schlussfolgerungen darüber an, was der Mensch ist oder sein könnte, und abstrahiert von der Realität nach den Gesetzmässigkeiten der Vernunft. Weder die eine noch die andere Methode allein genügt aber den Forderungen der praktischen Menschenkenntnis. Die praktische Menschenkenntnis versucht Beobachtung und Räsonnement zu verbinden, wenn auch eine vollkommen harmonische Verbindung nie erreicht werden kann. Der entscheidende Begriff, den Humboldt in diesem Zusammenhang verwendet, ist erneut die Erfahrung: »Die wahre Menschenkenntniss beruht auf Erfahrung. Die Erfahrung aber setzt eine zwiefache Thätigkeit der Seele voraus, die Beobachtung des Vorhandnen oder Geschehnen, und die Bearbeitung dieses Stoffes zu einem Resultat des Verstandes. Die einzelne Erscheinung für sich ist immer etwas Unvollständiges und Abgerissenes, Unerklärtes und Unverständliches; erst durch Verknüpfung mit andern Erscheinungen oder Begriffen wird sie in unserm Geiste zu einem theoretischen oder praktischen Satze verarbeitet, welcher unsre Kenntniss oder unsre Weisheit bereichert.«46

Wichtig ist nun hierbei, dass die Beobachtung des real Gegebenen die Basis für eine praktische Menschenkenntnis bilden muss. Erst auf den Ergebnissen dieser empirischen Grundlage soll der praktische Menschenkenner spekulieren, das heisst dasjenige folgern, welches nicht beobachtet werden kann, und mithilfe der Einbildungskraft das Fehlende ergänzen, um es zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dabei überprüft er fortwährend seine Ergebnisse wechselseitig anhand der empirischen und spekulativen Methoden, um so zu einer grösstmöglichen Gewissheit zu gelangen. Die »Kunst der Menschenbeobachtung« besteht also darin, dass »der Verstand und die Phantasie in Einer und derselben Seelenthätigkeit gegenseitig auf einander bezogen werden müssen«47 – eine Kunst, die eingestandenermassen mit grossen Schwierigkeiten verbunden ist. Zunächst also ist eine empirische Untersuchung des Menschen vonnöten, welche die Anatomie, Physiologie und Physiognomik umfasst. In einer Fussnote kritisiert Wilhelm von Humboldt die physiognomischen Theorien von Lavater und Camper. Er bemängelt, dass diese direkt von den äusseren Merkmalen auf innere, das heisst moralische, schliessen würden. Auch sei Campers Physiognomik zu sehr an der Mathematik orientiert, da dieser zum Beispiel Vergleiche über den Winkel zwischen Augen und Mund bei Menschen und verschiedenen 46 Ibid. S. 427. 47 Ibid. S. 453.

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Tieren anstellte. Grundsätzlich lehnt Wilhelm von Humboldt eine Physiognomik ab, welche die Ähnlichkeit der Gestalt als alleiniges Kriterium für Schlussfolgerungen über die ›Moral‹ betrachtet. Viel wichtiger sind ihm auch auf empirischer Basis die dynamischen Prozesse in der physischen Natur : »Die Gleichförmigkeit des Baues der ganzen animalischen und zum Theil auch der vegetablen Natur ist allerdings bewundernswürdig, aber sie muss in der physischen und chemischen Beschaffenheit der Theile und ihren physiologischen Verrichtungen, nicht in der Aehnlichkeit ihrer Gestalt aufgesucht werden.«48

Entsprechend bevorzugt Wilhelm die Beobachtung der körperlichen Bewegungen eines Menschen, um Aufschluss über die Bewegungen der Seelenkräfte zu erhalten. Seiner Meinung nach scheint die Bewegung der Seelenkräfte »sehr tief in dem Wesen des Individuums, und selbst in der Beschaffenheit seines Körpers gegründet«49 zu sein. Bei der Erörterung der Physiognomik und ihrem Zusammenhang mit der Erkenntnis des Charakters spricht Humboldt stets vom Individuum. Auch hier ist es, wie oben bereits ausgeführt, nicht klar, wie die physiognomische Methode von der Beobachtung eines einzelnen Menschen auf ein ganzes Zeitalter oder gar die Menschheit übertragen werden könnte. Prädestiniert für die Aufgabe der empirischen Menschenbeobachtung ist der »philosophische Arzt«.50 Denn der ›philosophische‹, ›denkende‹ oder ›vernünftige‹ Arzt versucht stets, die beiden Wissenschaften der Medizin und der Philosophie miteinander zu verbinden, um auf diese Weise eine psychophysische Sichtweise des Menschen, oder anders gesagt eine ›Anthropologie‹ zu entwerfen. Doch selbst in der Frage nach der Zuständigkeit für die grundlegende empirische Menschenbeobachtung scheint sich Wilhelm von Humboldt nicht sicher zu sein. Obwohl er die Programmatik der »vernünftigen Ärzte« skizziert, die Ende des 18. Jahrhunderts bereits allgemein anerkannt und von vielen seiner Zeit48 Ibid. S. 466; Anm. 1. Diese Sichtweise beruht nicht zuletzt auf den galvanischen Versuchen seines Bruders Alexander. Wie wir gesehen haben, legt auch der jüngere von Humboldt besonderen Wert auf die physiologischen und chemischen Prozesse in vegetabilischen und animalischen Körpern. Diese Fussnote widerlegt auch die Auffassung von Lydia Dippel, Wilhelm von Humboldt stütze seine Abhandlung »Das achtzehnte Jahrhundert« im Wesentlichen auf Goethes Morphologie der Pflanzen. Dippel argumentiert, dass Humboldt den idealen Charakter eines Menschen oder der Menschheit gemäss Goethes Suche nach der Urpflanze finden will. Sie sieht eine Analogie zwischen Wilhelms idealischem Charakter und Goethes Urtypus. Für beide gelte, dass sie vom empirisch Vorgefundenen mithilfe der Einbildungskraft das Vollkommene abstrahieren würden. Doch Humboldt geht in seiner Charakterologie stets von den inneren Kräften des Menschen aus und wendet sich hier explizit gegen die Vergleichbarkeit der Gestalt verschiedener Pflanzen oder Tiere. Im Übrigen beruht auch Goethes Morphologie auf widersprüchlichen Annahmen, wie wir in Kapitel V.2. noch sehen werden. (Vgl. Dippel (1990), S. 107 ff.) 49 Ibid. S. 451. 50 Ibid. 467.

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genossen unterstützt wurde,51 zieht Wilhelm deren Erfolgsaussichten wieder in Zweifel. Einerseits fordert er zwar, dass »der philosophische Arzt« sich »mit dem allgemeinen Charakter eines Subjects« beschäftigen und sein Augenmerk auf die Bewegungen und Verhältnisse der organischen Kräfte sowie »der Geneigtheit zu Krankheiten« richten solle, andererseits jedoch stellt er die Möglichkeit einer Erfolg versprechenden Untersuchung sofort wieder in Frage. Wilhelm glaubt nicht daran, dass es der philosophische Arzt je weit auf diesem Gebiet bringen könne und warnt diesen sogar vor der Gefahr einer »blossen speculativen Beschäftigung«.52 Stattdessen gelangt er zu der Überzeugung, dass die beste Methode der empirischen Untersuchung des Charakters darin bestehe, sich selbst die nötigen anatomischen und physiologischen Kenntnisse des menschlichen Körpers zu erwerben, um anschliessend sorgfältige Versuche und Beobachtungen am eigenen Körper anstellen zu können. Wiederum fordert Humboldt, selbst auf der physischen Basis einer Charakterologie, die Selbstbeobachtung. Nun sind aber Anatomie, Physiologie und Physiognomik lediglich Hilfsmittel zur Menschenkenntnis. Sie ermöglichen es dem Beobachter, sich besser in die Lage eines Individuums hineinzuversetzen, um »die anderswoher gefundnen Resultate zu prüfen, und sich anfangs einigermaassen zu orientiren«.53 Doch wo findet der Menschenkenner diese anderen Resultate? Auf welche Weise kann er zu ihnen gelangen? Über diesen wichtigen, um nicht zu sagen wesentlichen Teil der Charakterkunde erfährt der Leser so gut wie nichts! Zwar spricht Wilhelm von Humboldt in diesem Zusammenhang vom »Takt, von dem in der Menschenkenntniss so viel abhängt«,54 aber leider erklärt er uns überhaupt nicht, was er unter diesem »Takt« versteht. Anstatt zu erläutern, wozu die oben genannten Hilfsmittel eigentlich gebraucht werden, geht Humboldt nochmals kurz auf die Bedeutung des »Naturcharakters« ein, der von der physischen Natur (Geschlecht, Alter, sinnliche Kräfte, Temperament…) gebildet wird. Doch dieser »Naturcharakter« reicht noch nicht zur Bildung des »wirklichen Charakters« aus: »Was in diesen Fällen vom Naturcharakter auch nur schwach durchscheint, wird der gute Beobachter sich immer merken; denn der wirkliche Charakter ist nicht und darf 51 Siehe dazu: Zelle (2001a). Am Ende des 18. Jahrhunderts gehörten die ›vernünftigen Ärzte‹ zu den Protagonisten in der sich etablierenden Disziplin der wissenschaftlichen Anthropologie. Wilhelm von Humboldt pflegte gute Beziehungen zu einigen Vertretern dieser ganzheitlichen Medizin, zum Beispiel zu Marcus Herz, und kannte insbesondere die Schriften von Samuel Thomas von Soemmerring. (Siehe auch Kapitel III.1.) 52 Wilhelm von Humboldt: Das achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 467. Als Ausnahme hiervon lobt Humboldt an anderer Stelle die »Aphorismen« Ernst Platners, welche »überaus glückliche Charakterschilderungen« enthielten, die »eben so viel feine Beobachtungsgabe, als philosophischen Scharfsinn verrathen« würden. (Ibid. S. 433.) 53 Ibid. S. 469. 54 Ibid. S. 468.

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nicht der blosse und reine Willenscharakter, er ist und muss immer ein Zusammengesetztes von beiden seyn: die ursprüngliche Natur berichtigt und gebilligt durch die Vernunft und die Freiheit.«55

Wie aber findet der Beobachter des Menschen den reinen Willenscharakter? Diese Frage bleibt unbeantwortet, ebenso diejenige, wie denn Vernunft und Freiheit den Naturcharakter berichtigen können oder müssen. Es ist meiner Meinung nach kaum anzunehmen, dass sich Wilhelm dieser Defizite seiner Ausführungen nicht bewusst war. Vielmehr scheint mir, er wollte den unvermeidlichen Schwierigkeiten bei einer wissenschaftlichen Behandlung dieser Fragen aus dem Weg gehen. Dafür spricht auch der etwas lapidare Satz im Anschluss an das obige Zitat: »Der Begriff einer ächten Charakterschilderung ist nunmehr zur genüge entwickelt.«56

Diese Behauptung allein dürfte wohl kaum genügen, die von Humboldt in diesem Kapitel selbst gestellte Frage, worin der Charakter eigentliche bestehe, zu beantworten. Auch das folgende fünfte und letzte Kapitel der Abhandlung weicht dem Problem aus. Denn darin diskutiert er die eher nebensächliche Frage, wie das Zufällige vom Wesentlichen im Charakter zu unterscheiden sei. Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, dass es nur darauf ankomme, »die wahre und die ganze Individualität des Subjects«57 zu kennen. Ist dies der Fall, so lasse sich einfach entscheiden, was den wesentlichen Charakter ausmache und was als zufällig ausser Acht gelassen werden kann. Für den Leser ist diese Erkenntnis nach seitenlangen Erörterungen ein doch eher unbefriedigendes Resultat. Am Ende der über hundert Seiten umfassenden Abhandlung stellt man ernüchtert fest, dass Wilhelm von Humboldt sich hoffnungslos in seinen zahlreichen Versuchen, das methodische Vorgehen zur Schilderung einer Charakteristik des 18. Jahrhunderts darzulegen, verheddert hat. Es fehlt vor allem an der Schärfe seiner Begrifflichkeit und an der Konzentrierung auf die wesentlichen Fragen, die immer wieder zu Missverständnissen führen. Nicht selten findet man im »Achtzehnten Jahrhundert« auch offensichtliche Widersprüche. So zum Beispiel, wenn Humboldt davon spricht, dass die Menschenbeobachtung eine Kunst sei und daher nicht nach Regeln gelernt werden könne. Nur das »Genie« beherrsche diese Kunst und sei in der Lage, eine Operation, »bei welcher der Verstand und die Phantasie in Einer und ebenderselben Seelenthätigkeit gegenseitig auf einander bezogen werden müssen«,58 auszufüh55 56 57 58

Ibid. S. 470 f. Ibid. S. 471. Ibid. S. 503. Ibid. S. 453. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Wilhelm in einem Brief an Schiller vom 16. Juni 1796 sein fehlendes Genie beklagt, welches ihn an der Ausführung seiner Arbeit zum »Achtzehnten Jahrhundert« hindere. (Vgl. Anm. 35 auf Seite 354 dieser Arbeit.)

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ren. Trotzdem fährt Wilhelm gleich anschliessend mit einer Aufzählung von Regeln für jede Charakterschilderung fort! Schwierigkeiten solcher Art machen es dem Leser unmöglich, den eigentlichen Untersuchungsgegenstand zu begreifen. Letztlich ist auch nicht mehr klar ersichtlich, was Wilhelm von Humboldt unter einem ›Charakter‹ versteht. Es scheint, als ob er sich nicht festlegen kann oder will. Im letzten Kapitel seines Fragmentes gelangt er nämlich zur Einsicht, dass das ursprüngliche Ich, der wahre Charakter, durch eine primitive Kraft geformt wird, um deren Erforschung man sich vergeblich bemüht: »Wie tief man eindringen, wie nah man zur Wahrheit gelangen möchte, so bleibt immer doch Eine unbekannte Grösse zurück; die primitive Kraft, das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebene Persönlichkeit. Auf ihr beruht die Freiheit des Menschen, und sie ist daher sein eigentlicher Charakter.«59

Diese zwei Sätze machen das Kernproblem der Abhandlung augenfällig. Wenn der Hauptgegenstand, den man erforschen will, empirisch gar nicht nachzuweisen ist, so ist es schlichtweg unmöglich, eine neue Wissenschaft darauf zu gründen. Das ehrgeizige Projekt Wilhelm von Humboldts muss zwangsläufig scheitern, da es nicht vom empirisch Fassbaren ausgehen und danach zu den daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen, die nach logischen Regeln des Verstandes gezogen werden, fortschreiten kann. Stattdessen wird denjenigen Tatsachen, die zunächst evident zu sein scheinen, das sichere Fundament wieder entzogen, indem sie letzten Endes doch in Frage gestellt werden. Eine »unbekannte Grösse« kann wohl das anvisierte Ziel einer Untersuchung sein – aber wie soll eine wissenschaftliche Erforschung gelingen, wenn diese auf der »unbekannten Grösse« beruht? Es scheint, als bekenne sich Humboldt letztlich wieder zur Ansicht Schillers, dass sich der wahre Mensch mit den Methoden der Wissenschaft nie erfassen lassen werde. In einem Gedicht der »Tabulae votivae« über »Metaphysiker und Physiker« ist Schiller der Überzeugung: »Alles will jetzt den Menschen von innen, von aussen ergründen, Wahrheit, wo rettest du dich hin vor der grausamen Jagd? Dich zu greifen, ziehen sie aus mit Netzen und Stangen, Aber mit leisem Tritt schreitest du mitten hindurch.«60

59 Ibid. S. 479. 60 Schiller (1991), S. 350. Interessant ist, dass dieses Gedicht von Schiller wahrscheinlich 1796 entstanden ist, also genau zu der Zeit, als Wilhelm von Humboldt die ersten Kapitel des »Achtzehnten Jahrhunderts« niederschrieb. Möglicherweise hatte hier Schiller sogar Wilhelms Bruder Alexander im Visier, über den er sich bereits in einem Brief an Körner so despektierlich geäussert hatte. (Vgl. Seite 208 f.)

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Dieses Ergebnis meiner näheren Untersuchungen von Wilhelm von Humboldts anthropologischen Schriften erklärt, warum diese nicht beendet werden konnten. Die Probleme, die beim Entwerfen eines gross angelegten, monistischen Konzeptes auftauchten, wurden unüberwindlich.61 Das mag zum einen auch an der Unfähigkeit Humboldts gelegen haben, seine Gedankengänge klar und für den Leser nachvollziehbar zu Papier zu bringen. Doch ein Blick auf die Schriften seiner Zeitgenossen lässt erkennen, dass das Problem tiefer liegt. Wilhelm von Humboldt war nicht der einzige Gelehrte am Ende des 18. Jahrhunderts, der versucht hatte, den alten cartesianischen Dualismus zu überwinden und das Körperliche und Seelische als Einheit zu begreifen. Doch die Suche nach dem verbindenden Element von Leib und Seele, dem ›commercium mentis et corporis‹, stellte eine Herausforderung dar, der letztlich niemand gewachsen war. Bevor jedoch Wilhelm von Humboldt seine Beschäftigung mit der Anthropologie und Menschenkenntnis zugunsten der vergleichenden Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie aufgab, unternahm er in Paris noch einmal einen Versuch, dem inneren Charakter der Menschen auf die Spur zu kommen.

V.1.c) Wilhelm von Humboldts Tagebücher aus den Jahren 1797 bis 1799 und seine Briefe aus Paris Noch hoffte Wilhelm von Humboldt, seinen Aufenthalt in der französischen Hauptstadt dazu nutzen zu können, Materialien für sein lange geplantes und in wiederholten Anläufen in Angriff genommenes anthropologisches Werk zu sammeln. Vornehmlich zu diesem Zweck legte er ab Dezember 1797, also seit seiner Ankunft in Paris, eine Sammlung von Tagebuchnotizen an, die er später nach inhaltlichen Gesichtspunkten ordnen wollte. Die Intention für die Sammlung seiner Notizen führt Wilhelm gleich zu Beginn der Aufzeichnungen explizit an: »Diese Blätter sollen eine kurze Anzeige alles dessen enthalten, was ich von Tage zu Tage gesehen, erfahren, gelesen und gedacht habe, das mir des Aufbewahrens würdig scheint. Sie sollen mir zu einem Repertorium von Materialien zu meinen Arbeiten über 61 Die aufgezeigten Probleme und Widersprüchlichkeiten in den anthropologischen Schriften lassen sich auch dadurch nicht eliminieren, dass man eklektizistisch dasjenige auswählt, was sich reibungslos in ein Humboldt unterstelltes Konzept einpassen lässt. Dadurch wird eine Stringenz hergestellt, welche in Wilhelm von Humboldts Denken gar nicht vorhanden ist. Beispiele für solche Einebnungen der Widersprüche liefern zum Beispiel Lydia Dippel und Günther Oesterle. Die von ihnen dargestellten anthropologischen Konzepte Humboldts kommen nur um den Preis einer umfassenden Betrachtung, die das Störende nicht negiert, zustande. (Siehe: Dippel (1990). Ebenso: Oesterle (1994), S. 31 – 41.)

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die Kenntniss der Menschen und Nationen dienen, indem sie nicht nur alle Facta, die zu Belegen meiner Behauptungen nothwendig sind, sondern auch viele Ideen enthalten werden, die ich sonst verlor, und die ich nun durch sie fixiren kann.«62

In der Tat bilden die Pariser Tagebücher ein Sammelsurium von Charakterbeschreibungen, Aufzeichnungen über Begegnungen und Besuche, Lesefrüchten, Theaterkritiken sowie Eindrücken von Diskussionen mit verschiedenen französischen, spanischen und deutschen Zeitgenossen. Immer wieder begegnen uns vor allem physiognomische Beschreibungen von Franzosen, die offenbar dazu dienen sollten, deren »National-Physiognomie« zu schildern. So bemerkt Humboldt am 1. Januar 1798 noch etwas zögerlich: »Ueber die National-Physiognomie der Franzosen kann ich noch schlechterdings zu keiner recht sichern und zugleich durchgreifenden Beobachtung kommen. Ich muss offenherzig gestehen, dass sogar Deutsche und Franzosen zu verwechslen, mir hier einigemale geschehen ist. Auf die Form der Züge zu gehen und dadurch etwas Allgemeines zu finden, wird fast unmöglich seyn. Man sieht Gesichter aller Art. Indess ist mir freilich fast noch keins vorgekommen, in dem ich nicht dennoch den nationellen Zug irgendwo erkannt hätte. Die einzige sichere Methode wird die seyn müssen, die einzelnen Gattungen der Physiognomien abzusondern, in jeder wodurch sie fran[zösisch]…«63

Leider bricht an dieser Stelle der Tagebucheintrag ab, da mehrere Seiten des handschriftlichen Dokumentes verlorengegangen sind. Die auf Schloss Tegel aufbewahrten Tagebücher sind 1806 teilweise den Plünderungen durch französische Truppen zum Opfer gefallen. Trotzdem erkennen wir anhand der kurzen Notiz, dass Wilhelm von Humboldt in Paris versucht hat, gemäss seiner im »Achtzehnten Jahrhundert« skizzierten Methode empirisches Material für die Beschreibung des französischen Nationalcharakters zu sammeln. Dass er sich dazu für besonders befähigt hielt, geht aus einem Brief an Friedrich Gentz hervor. Darin bezeichnet er sich als nicht untalentiert zum »Auffassen des Charakteristischen« und unterstreicht sein Bemühen um eine »genaue und unpartheiische Beobachtung«.64 Dies zeigt uns sehr deutlich, wie überzeugt er noch am Ende des 18. Jahrhunderts von der Durchführbarkeit seiner geplanten anthropologischen Abhandlungen war. Zweierlei ist nun an den physiognomischen Versuchen in den Tagebüchern interessant: Erstens gelingt es Humboldt nicht, von den äusseren Beschreibungen der Personen in überzeugender und nachvollziehbarer Manier auf den

62 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 361. 63 Ibid. S. 393. 64 Humboldt, W. (1835b). Bd. 240; Heft 1. S. 17. (Wilhelm von Humboldt an Friedrich Gentz, Brief vom 29. November 1797.)

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›inneren‹ Charakter zu schliessen, und zweitens kann man gut erkennen, wie wichtig ihm die Frage nach dem ›Nationalen‹ geworden ist. Am Beispiel der Beschreibung des ›Id¦ologue‹ Volney, dem Wilhelm zum ersten Mal im Juli 1798 bei de Lam¦therie begegnete, sehen wir, wie der ältere von Humboldt von einer objektiven Schilderung der äusseren Gestalt zusehends zu subjektiven Wertungen des Charakters gelangt, die sich kaum mit empirischen Fakten rechtfertigen lassen: »Volney, der eben aus America zurückkam, war da. Ein schon dadurch merkwürdiger Mensch, dass er ganz anders, als die man gewöhnlich sieht, ist und aussieht. Gross, mager, ein langes und schmales Gesicht, eine zurückliegende Stirn, eine gebogene Hügelnase, eingefallene Backen, ohne dadurch das sehr gewöhnliche Französische Gesicht mit vorstehendem Mund zu bekommen, grosse vorliegende Augen. Er scheint von sehr reizbaren Nerven. Wenigstens machte ihm das Galvanische BlitzExperiment eine sehr starke Sensation. Er spricht wenig, aber bestimmt, abschneidend in Sache und Ton. Er hat nicht das Aeussere der Eitelkeit, aber sehr des arroganten, sich selbst genügenden Stolzes. Er ist höflich aber nicht um den andern bemüht, so z. E. nicht um Alexander. […] Alles höchst französisch. O n n e c r o i r a i t p a s c o m b i e n c e p e t i t a n i m a l l ’ h o m m e a d e l ’ e s p r i t . Grimassen, besonders mit dem Mund und der Unterlippe u.s.f. Er ist aus dem Anjou her. Er nannte aber selbst seine Physiognomie d ’ u n B o u r g u i g n o n .«65

Trotz Humboldts Bemühen um eine vorurteilsfreie Beschreibung des Franzosen spürt man förmlich in jeder Zeile die unausgesprochene Antipathie, die er gegenüber Volney hegt. Sicherlich mag ein Grund dafür sein, dass dieser seinen Bruder nicht mit der von ihm erwarteten Aufmerksamkeit behandelte. Dennoch ist es nicht nachvollziehbar, warum Wilhelm Volneys Verhalten als »höchst französisch« bezeichnet. Wenn er dem ›Id¦ologue‹ zudem ein »Aeusseres des arroganten Stolzes« attestiert, bewegt er sich vollends auf dem gefährlichen Gebiet persönlicher Parteilichkeiten. Volney bildet unter den Charakterisierungen in Humboldts Tagebuchnotizen durchaus keine Ausnahme. Man findet darin zahlreiche Beispiele für dessen voreingenommene Beurteilung der Franzosen. Dabei fällt auf, dass Wilhelm vor allem diejenigen Personen, die er nicht oder noch nicht gut kennt, sehr kritisch beurteilt. Nicht selten vermischt er, ähnlich wie bei Volney, eine physiognomische mit einer moralischen Beschreibung. Wenn er auch nicht wie Lavater vom körperlichen Aussehen direkt auf den moralischen Charakter schliesst, so scheint seine Einschätzung des letzteren doch oft von der Wirkung des Äusseren beeinflusst zu sein. Apodiktisch urteilt Humboldt beispielsweise über den Dichter Jean Baptiste Legouv¦: 65 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. A.a.O. S. 551 f. Tagebucheintrag vom 24. Juli 1798.

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»Legouv¦ selbst ist schlechterdings nicht interessant; klein, ein kleinliches, nichts sagendes, bloss lebhaftes und arrogantes Gesicht, alles klein und vorstehend, besonders die Nase.«

Bis hier ist noch unklar, ob sich die Beschreibung lediglich auf das Äussere bezieht. Doch unmittelbar darauf spricht Wilhelm zweifelsfrei über den Charakter des Dichters: »So arrogant ist er auch im Gespräch, er hört nie, er antwortet eigentlich nie, voll Nationalvorurtheile ( l a p a s s i o n d e l ’ a m o u r n o u s l ’ a v o n s c r ¦ ¦ e ) , gar nicht raisonnirend und doch ewig in der Einbildung es zu seyn.«66

Offenbar vermittelt ihm Legouv¦s Aussehen den Eindruck der Arroganz, denn das Wort »auch« kann sich nur auf die im vorhergehenden Satz gegebene physiognomische Beschreibung beziehen. Aber für den Leser des Tagebuches ist diese Schlussfolgerung nicht nachvollziehbar, da er nicht objektiv beurteilen kann, auf welches Verhalten und welche Äusserungen sich diese Einschätzung stützt. Eher erweckt sie den Anschein, Humboldt lasse sich bei der Charakterisierung des Franzosen von unterschwelligen Gefühlen der Abneigung leiten. Ironischerweise vermittelt er so gerade den Eindruck, selbst nicht frei von »Nationalvorurtheilen« zu sein. Eine wissenschaftliche Basis für die Darstellung des französischen Nationalcharakters, sofern sich eine solche überhaupt finden lässt, ist auf diese Weise nicht zu gewinnen. Vielmehr beschleicht einen das Gefühl, Wilhelm urteile völlig subjektiv über seine Mitmenschen. Insgesamt überwiegen in Humboldts Aufzeichnungen die negativen Beurteilungen. Der Charakter der Franzosen bleibt dem preussischen Migranten fremd, ebenso ihre Art zu denken, ihre Wissenschaft und Metaphysik. Sehr aufschlussreich ist in dieser Beziehung sein Eintrag vom 7. Juni 1798. Knapp einen Monat nach der Ankunft seines Bruders Alexander in Paris unterhält er sich mit ihm über die Franzosen. Das Ergebnis dieses Gesprächs fällt ernüchternd aus: »Sie [die Franzosen] haben einen ausgezeichneten Hang und ein entschiednes Talent für Mathematik. Darin besitzen auch junge Leute Assiduität, und sie haben mehr mathematische Köpfe und Schriften, als Deutschland. – Aber sie bleiben zu sehr bei dem Mathematischen stehen; ihre Chemie behandeln sie jetzt durchaus mathematisch, und machen nur insofern Entdeckungen und Fortschritte. – Sie sind nicht aufgelegt zu experimentiren, und die Wissenschaften, die dies verlangen, gelingen ihnen nicht. Sie haben gar keine Fortschritte in der Physiologie gemacht. – In der Naturgeschichte fehlt es ihnen an gehöriger und genauer Charakteristik. – In allen Naturwissenschaften aber haben sie für keine andre als mechanische und atomistische Erklärungsarten Sinn, nirgend aber für eigentliche Kraft und ihre Wirkung. Selbst die chemische Affinität verstehen sie nur mechanisch. Daher sind sie zwar von spiritualistischen Verirrungen 66 Ibid. S. 547. Tagebucheintrag vom 20. Juli 1798.

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frei, gehen aber nirgend bis auf den Grund, und haben nirgend die volle natürliche Ansicht der Dinge. […] Man sieht deutlich, das Beste an Alexander, den eigentlichen Naturforschenden Geist, der bis auf die erste Kraft zurückgeht, ohne doch aus dem rein physischen Wege herauszutreten, goutiren sie nicht. Sie haben keinen Begriff von eigentlicher Form, von der Verbindung der Kraft und ihrer Anschauung in Einer Wirkung, und denken sich wieder unter Materie bloss die Gestalt. So ist alles leere und blosse Mechanik in ihnen. – Zum Erfinden taugen sie nicht, nemlich zum bloss theoretischen. Sie haben nicht die Freiheit aufs Gerathewohl hin Versuche zu machen, und nicht den Sinn, sie auf den rechten Fleck zu leiten, der nach dem Gelingen gewöhnlich Zufall genannt wird.«67

Dieses ausführliche Zitat aus den persönlichen Notizen Wilhelm von Humboldts gewährt uns einen tiefen Einblick in dessen Denkweise. Wir können davon ausgehen, dass hier Wilhelm in erster Linie seine eigene Einschätzung der Franzosen wiedergibt. Die Erfahrungen seines Bruders dürften positiver gewesen sein, denn andernfalls hätte er wohl kaum nach seiner Heimkehr aus Südamerika noch zwanzig Jahre lang in Paris gelebt. Die negative Beurteilung des französischen Nationalcharakters und der französischen Naturwissenschaften ist Ausdruck von Wilhelms tiefer Entfremdung inmitten der pulsierenden Grossstadt Paris. Während sich Alexander überall auf der Welt auf Anhieb heimisch fühlte, bedurfte sein Bruder den Umgang mit Seinesgleichen und das Gespräch unter Freunden. Zu Beginn seines Aufenthaltes schien Wilhelm unter der Einsamkeit gelitten zu haben, denn »ein seltsames und trauriges Gefühl« löste diese »mitten in Paris« bei ihm aus.68 Doch der ältere von Humboldt suchte seinerseits keineswegs die innige Vertrautheit mit den Franzosen, wie er bereits nach wenigen Monaten seinem Freund Friedrich August Wolf anvertraute.69 Er hielt in der Fremde stets eine innere Distanz zu den Einheimischen aufrecht – erstaunlicherweise, denn plante er doch ein Werk über den französischen Nationalcharakter! Diese Entfremdung ist auch in Wilhelms Tagebüchern überall spürbar. So bleiben die zahlreichen Charakterisierungen im Grossen und Ganzen oberflächlich und skizzenhaft. Selbst die Schilderungen derjenigen Personen, mit denen er oft zusammentraf, bleiben merkwürdig blass. So notiert er zwar häufige Besuche bei dem Altertumsforscher Aubin Louis Millin oder bei Paul J¦r¦mie Bitaub¦, dem Übersetzer von Goethes »Hermann und Dorothea«, doch über die Gastgeber erfahren wir im Grunde nichts. Auch die Angaben der zahlreichen Treffen mit Diderots Tochter Ang¦lique Vandeul und Condorcets junger Witwe Sophie dienen lediglich dazu, die dabei erörterten literarischen und historischen 67 Ibid. S. 505 f. Tagebucheintrag vom 7. Juni 1798. 68 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 140. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 7. Dezember 1797. 69 Humboldt, W. (1990), S. 193 f. Brief von Mitte März 1798.

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Fragen chronologisch einzuordnen. Mit anderen Persönlichkeiten wie etwa dem Führer der gemässigten republikanischen Partei, Emanuel Joseph SieyÀs, dem Philosophen und Linguisten Antoine Louis Claude Destutt de Tracy oder dem Arzt Jean Claude de Lam¦therie pflegte Wilhelm einen intensiveren Gedankenaustausch, einen vertrauten Freund fand er unter ihnen jedoch nicht. Sein Gefühl des Fremdseins und der inneren Distanz hinderten Wilhelm von Humboldt zwar nicht an der regen Teilnahme an den Pariser Gesellschaften70 oder am Besuch von wissenschaftlichen Institutionen und Zentren der Regierung, aber im Wesentlichen waren für ihn die Franzosen unzugänglich und manchmal gar unbegreiflich. So beklagte sich Humboldt öfter in seinen Briefen an Schiller, Goethe, Wolf und Körner darüber, dass bestimmte Denkweisen für Franzosen nicht nachvollziehbar seien. Sein Mangel an »gewissen Unterhaltungen« bekümmerte ihn sehr und wurde sogar unter seinen Freunden in Deutschland diskutiert: »[..] man sieht freilich, wie es auch Humboldten [in Paris] geht, wenn gewisse Unterhaltungen fehlen, wie nötig sie einem werden können. Die Franzosen muss Humboldt, wenn sie ein theoretisch Gespräch anfangen, ja zu eludieren suchen wenn er sich nicht immer von neuem ärgern will. Sie begreifen gar nicht dass etwas im Menschen sei, wenn es nicht von aussen in ihn hineingekommen ist.«71

Vom Eindruck, nicht verstanden zu werden, konnte sich Wilhelm von Humboldt während seines gesamten Parisaufenthaltes nie lösen. Umgekehrt lässt sich aber ebenfalls annehmen, dass seine Denkweise und seine Wesensart für die Franzosen nicht immer begreiflich waren. Gewiss lag dieses gegenseitige NichtVerstehen zum Teil auch daran, dass sich deutsche beziehungsweise französische Begriffe manchmal nicht adäquat übersetzen liessen. Aber Humboldt ging darüber hinaus von einem grundsätzlichen Nicht-Verstehen-Können der Franzosen aus: »Ich wette, was man will, dass nie ein echter Franzose weder den Homer noch den Ossian, weder Shakespeare noch Goethe, noch Sie [Schiller], immer selbst nur halb den Petrarca und den Ariost versteht.«72 70 Siehe dazu auch: Chappey (2002), S. 182 f. Chappey weist vor allem auf die Bedeutung hin, die der Salon von Caroline und Wilhelm von Humboldt für den deutsch-französischen Austausch zwischen Künstlern, Literaten und Wissenschaftlern in Paris hatte. 71 Beetz (2005). Bd.1; S. 539. Brief Goethes an Schiller vom 28. Februar 1798. Auch Goethe bemängelt an dieser Stelle das von Humboldt beobachtete fehlende Verständnis der Franzosen für eine ›innere Kraft‹. 72 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 180. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 26. April 1799. Bereits ein Jahr früher äusserte Wilhelm in einem Brief an Goethe eine ganz ähnliche Ansicht: »Die Franzosen sind noch zu weit von uns entfernt, als dass sie uns da, wo wir auch nur anfangen, eigenthümlich zu werden, begreifen sollten, so weit, dass die Verschiedenheit der Sprachen ordentlich als ein kleines Hinderniss dagegen erscheint.« (Bratranek (1876), S. 51. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom Frühjahr 1798.)

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Bezeichnete Wilhelm zu Beginn seines Aufenthaltes in Frankreich eine solche Einschätzung noch als »deutsches Vorurtheil«,73 von dem er sich zu befreien suchte, so verfestigte sie sich im Laufe der Jahre immer mehr. Die Ursache für das ›Nicht-Verstehen-Können‹ der Franzosen sah er in deren »kränklicher Subjektivität«,74 welche es ihnen verunmögliche, den engen Kreis ihrer eigenen Ideen und Empfindungen zu überwinden. Egozentrik und mangelnde Empathie verhindern somit, dass die Franzosen das ›deutsche Wesen‹ begreifen können. Dieses kritische – und einseitige – Urteil über den französischen Nationalcharakter, über die für diesen angeblich typische ›kalte Vernunft‹ und verdorbene Moral, behielt Humboldt auch noch nach seiner Rückkehr nach Deutschland bei.75 So sehr er seinen Aufenthalt in Paris als Bereicherung für seine persönliche Entwicklung schätzte, vermisst hat er zeitlebens keine seiner Pariser Bekanntschaften. Im Gegenzug zu Humboldts Entfremdung in Paris lässt sich andererseits eine zunehmende Besinnung auf seine deutsche Identität beobachten. Findet man in den Schriften, welche vor dem fast vierjährigen Frankreichaufenthalt entstanden sind, nur sehr allgemeine Äusserungen über das ›Deutschsein‹, so ändert sich dies ab Dezember 1797 schlagartig.76 Das plötzliche Bewusstwerden seiner »deutschen Natur« erwähnt Humboldt bereits in seinem ersten Brief an Schiller aus Paris.77 Einen Tag nach Erhalt dieses Schreibens bemerkt Schiller gegenüber Goethe: »Unser Freund Humboldt, von dem ich Ihnen hier einen langen Brief beilege, bleibt mitten in dem neugeschaffenen Paris seiner alten Deutschheit getreu, und scheint nichts als die äussre Umgebung verändert zu haben. Es ist mit einer gewissen Art zu philosophieren und zu empfinden wie mit einer gewissen Religion; sie schneidet ab von aussen und isoliert, indem sie von innen die Innigkeit vermehrt.«78

73 Humboldt, W. (1940), S. 54. Brief vom 21. Dezember 1797. 74 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 180. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 26. April 1799. 75 Geradezu emotional fiel sein abschätziges Urteil über die Franzosen aus, als er 1804 an Goethe über seine Bekanntschaft mit zwei französischen Bildhauern in Berlin schrieb: »Von Franzosen ist neuerlich der bekannte Guerin und ein Bildhauer Dupaty angekommen. Auch mit diesen habe ich schon einige Lanzen zur Vertheidigung des italienischen und deutschen Geschmacks brechen müssen. Denn Sie glauben nicht, wie impertinent und vordrängend dieser pariser Geschmack ist, der überall herrschen will. Sie haben ein Geschwätz von Natur, vor dem man aus der Haut fahren möchte, und Ideen, die sie um alle Natur bringen, und daher natürlich auch nicht einmal den Anfang der Bahn zum Ideal brechen.« (Bratranek (1876), S. 207. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 25. Februar 1804.) 76 Siehe dazu auch: Espagne (1998), S. 95 f. 77 »In der Tat rechne ich es zu den Vorzügen meines hiesigen Aufenthalts, dass mir die deutsche Natur in ihrem Adel und ihrer Vortrefflichkeit erst hier recht klar werden wird.« (Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 141. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 7. Dezember 1797.) 78 Beetz (2005). Bd.1; S. 478. Brief Schillers an Goethe vom 29. Dezember 1797. Mit dem

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Die nähere Auseinandersetzung mit dem französischen Nationalcharakter liess Wilhelm von Humboldt seiner ›germanischen Wurzeln‹ bewusst werden. So findet man in den Tagebüchern und Briefen an seine Freunde in der Heimat immer wieder Bemerkungen über die deutschen Eigenheiten. ›Deutsch‹ bezieht sich dabei nicht auf die politische Situation der Zeit. Als preussischer Staatsbürger kümmerte er sich ausdrücklich nicht um die zeitgenössischen politischen Angelegenheiten.79 Humboldt hielt sich ganz bewusst aus Diskussionen der französischen Tagespolitik heraus, da er so »auf keine Weise etwas zu besorgen« hatte.80 Diese Zurückhaltung muss allerdings auch vor der labilen aussenpolitischen Beziehung Preussens zu Frankreich gesehen werden. Seit dem Basler Frieden vom 5. April 1795 hielt sich Preussen aus den Koalitionskriegen der europäischen Nachbarstaaten heraus.81 Doch dieser Separatfrieden war nicht sehr stabil, weshalb auch preussische Untertanen in Frankreich argwöhnisch beobachtet wurden. Wie andere Ausländer fürchteten auch die Preussen die französische Zensurbehörde und brachten tagespolitische Fragen in ihrer Korrespondenz nicht zur Sprache.82 Im Falle von Humboldt bleibt zudem festzuhalten, dass dieser die tagespolitischen Diskussionen im Rat der Fünfhundert, im Rat der Ältesten oder bei Freunden in seinen Tagebüchern zwar notierte und die unterschiedlichen Meinungen unter den Franzosen objektiv wiedergab, sich aber jeglicher persönlichen Kommentierung enthielt. Hingegen wurde seit der französischen Revolution die Bedeutung der ›Nation‹ in ganz Europa mit Nachdruck debattiert, nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Bedrohung durch Napoleons Einfluss in der französischen Aussenpolitik. Auch Wilhelm von Humboldt wurde zwangsläufig von diesen zeit-

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»neugeschaffenen Paris« ist das nachrevolutionäre Paris unter dem ›Directoire‹ gemeint, das nach dem Thermidor-Aufstand und dem Sturz von Robespierre seit Oktober 1795 die Regierung in Frankreich übernommen hatte. »Um das Politische, wissen Sie, bekümmere ich mich nicht. Also ist es nur das Literarische und Artistische, wovon ich Kenntniss habe. Die Stadt und was der Reisende so seinem Beruf nach sieht, sind neuerlich so oft beschrieben worden, dass mich ekelt, nur daran zu denken.« (Bratranek (1876), S. 49. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom Frühjahr 1798.) Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 130. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 7. Dezember 1797. Der Separatfrieden zwischen Frankreich und Preussen hielt bis zur Doppelschlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806, obwohl die zögerliche Haltung des preussischen Königs Friedrich Wilhelm III. auch innerhalb Preussens heftig kritisiert und als Schwäche gedeutet wurde. Nach der Niederlage gegen die napoleonischen Truppen verlor Preussen 1807 im Frieden von Tilsit etwa die Hälfte seines Territoriums. Dies bestätigt auch Körner mit einer ironischen Bemerkung gegenüber Schiller : »Humboldt hat an Gesslern aus Paris geschrieben. Er ist wohl, schreibt aber, dass der dortigen Freiheit zu Ehren alle Briefe an Fremde aufgemacht werden.« (Geiger (1892), 4. Bd., S. 51. Brief vom 25. Dezember 1797.)

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genössischen Diskussionen beeinflusst.83 Sein Augenmerk legte er jedoch auf das spezifisch ›deutsche Wesen‹ in der Literatur, Kunst und Philosophie. Das ›Nationelle‹ eines Charakters wird, wie wir gesehen haben, bereits in Wilhelms anthropologischen Schriften der Neunzigerjahre thematisiert, doch gewinnt es vor allem während seines langjährigen Aufenthaltes im Ausland rasch an Bedeutung. Besonders auffallend ist die Erweiterung des ›Nationellen‹ auf alle kulturellen Bereiche, sei es die Sprache, Literatur, Philosophie, Musik oder Kunst. Welche Konsequenzen haben nun die persönlichen Begegnungen mit den französischen Zeitgenossen und der zunehmende Nationalismus auf Wilhelm von Humboldts Beurteilung des französischen und deutschen Charakters? Betrachten wir zunächst noch einmal das Zitat auf Seite 368 f. aus dem Pariser Tagebuch. Obwohl hier Humboldt über den französischen Charakter und die französische Wissenschaft urteilt, spricht er implizit auch von deren Gegenstücken, nämlich vom deutschen Charakter und deutscher Wissenschaft. Woran es den Franzosen fehlt, ist nach Wilhelms Einschätzung der Sinn für »eigentliche Kraft und ihre Wirkung« sowie »die volle natürliche Ansicht der Dinge«. Ferner haben sie keinen »Begriff von eigentlicher Form, von der Verbindung der Kraft und ihrer Anschauung in Einer Wirkung«.84 Es sind dies genau jene Eigenschaften, die er in seinen früheren anthropologischen Schriften stets besonders betonte und als wichtigste Anforderungen für eine wahre Menschenkenntnis propagierte. Doch wird nun diese ›eigentliche Menschenkenntnis‹, welche für die vergleichende Anthropologie vorausgesetzt wird, zu einer den Deutschen in hohem Masse zukommenden Fähigkeit erklärt. Diese Fähigkeit der Wahrnehmung einer inneren Kraft, die in jedem Menschen das ursprüngliche Ich bildet, wird zu einem Attribut spezifisch deutscher Wesensart, welche sich von der französischen deutlich unterscheidet. Die wesentliche Differenz zwischen dem französischen und deutschen Charakter besteht demnach laut Humboldt in der jeweiligen Art der Anschauung. Während die Franzosen alles verstandesmässig betrachten und ein »Raffinement im Denken und Empfinden«85 besitzen, das allerdings auch zu einem »Mangel an innerem Gehalt und an geistiger Bewegung«86 führt, so erfassen die Deutschen 83 So hält er etwa in zwei kurzen AperÅus fest: »Die Deutschen haben keinen Stolz, als Volk dies und jenes gethan zu haben, aber einen ungeheuern, als Nation dies und das ausschliessend und allein zu können.« »Als Nation null, und als Volk stark und unternehmend gewesen zu seyn, bringt in Frankreich ein unangenehmes Missverhältnis hervor.« (Humboldt, W. (1903 – 1939), 15. Bd. Tagebücher. S. 44. Tagebuchnotizen von 1799.) 84 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. S. 506. Tagebucheintrag vom 7. Juni 1798. 85 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 179. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 26. April 1799. 86 Humboldt, W. (1940), S. 61. Brief vom 15. November 1798.

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die innere Kraft der Dinge – für welche erstere kein Verständnis haben – aufgrund ihrer Disposition zur natürlichen Anschauung. Dies hat zur Folge, dass die Franzosen in ihrer Art der Betrachtung ständig zwischen Empfindung und Verstand hin- und herschwanken, stets zerrissen zwischen »sensibilit¦« und »d¦licatesse«.87 Dagegen gelingt es den Deutschen eher, die Anschauung der Dinge mit deren Kraft in Verbindung zu setzen und als eine einzige Wirkung zu erfassen. Zu einer monistischen Sichtweise des Naturganzen sind deswegen nur die Letzteren prädestiniert, während die Ersteren nicht in der Lage sind, ihre dualistische Anschauungsweise zu überwinden. Während die Franzosen nur den Mechanismus der Dinge betrachten, sehen die Deutschen deren Organismus. Was wir hier feststellen können, ist eine Verknüpfung von Wilhelm von Humboldts Anthropologie mit dessen persönlicher Erfahrung des französischen Kultur- und Geisteslebens. Der ältere von Humboldt stellt eine Verbindung her zwischen französischer beziehungsweise deutscher Philosophie und Wissenschaft sowie deren besonderen nationalen Charakterzügen. Waren seine Beschreibungen der Nationalcharaktere im »Achtzehnten Jahrhundert« noch sehr allgemein und skizzenhaft, so werden diese nun mit der jeweiligen Sprache, Literatur, Philosophie, Kunst und Wissenschaft in Beziehung gesetzt. Französisch beziehungsweise deutsch bezeichnet nicht mehr nur die Sprache und Nationalität eines Menschen, sondern wird zu einem Charakteristikum der Kunst und Wissenschaft schlechthin. Es ist vor allem der Gegensatz zwischen dem ›Mechanischen‹ und ›Natürlichen‹, der laut Wilhelm in allen Bereichen der Kultur und Wissenschaft auszumachen ist. In Frankreich erkennt Humboldt diesen Gegensatz zwischen französischer ›Künstelei‹ und deutscher ›Natur‹ nicht nur im Charakter der Menschen, sondern auch in der Sprache, Philosophie und Naturwissenschaft. Sogar die jeweilige Landschaft ist von ›mechanischen‹ beziehungsweise ›natürlichen‹ Einflüssen geprägt: »Auch die Natur ist hier um Paris herum, fast wie das Volk im Ganzen selbst, so menschlich, so cultivirt, so freundlich, selbst so mannigfaltig, dass ich wenig gleich reizende Gegenden kenne. Aber es ist nichts gross, nichts, was auch nur ans Erhabene von fern grenzte, nichts reich und voll, und vor allem es ist keine Natur in ihrem eigentlichen Naturcharakter.«88

Entsprechend diesem Kontrast von kultivierter und natürlicher Landschaft wird von Wilhelm auch das französische und deutsche Volk gesehen:

87 Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 180. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 26. April 1799. 88 Humboldt, W. (1940), S. 61. Brief vom 15. November 1798.

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»Wenn die Französischen Emigrirten nicht anderswo l e b e n können, so müssten die Deutschen gar nicht zu s e y n vermögen. Sie müssten sich in ihren innersten Kräften, in dem eigentlichen Leben und Weben ihrer Seele gehemmt fühlen.«89

Ähnlich dramatisch empfindet er die Wirkung der deutschen Sprache, die ihm ebenfalls erst in Frankreich bewusst wird. Während er oft die ›Künstlichkeit‹ der französischen Sprache beklagt, die seiner Meinung nach für die Poesie untauglich geworden ist, da sie den Zenit ihrer Entwicklungsfähigkeit überschritten hat und im Zerfall begriffen ist, entdeckt Wilhelm nun den Wert der ›natürlichen‹ Sprache der Deutschen. Anlässlich einer neuen Ausgabe von Ovids »Metamorphosen«, welche Johann Heinrich Voss 1798 ins Deutsche übersetzt hat, gerät er geradezu ins Schwärmen. Voller Begeisterung schreibt er an Friedrich August Wolf: »Sie, Glücklicher, mitten in Deutschland und unter lauter Deutschen können kaum fühlen, wie viel einem solche, eine so kräftige, hohe und begeisterte Sprache giebt, was solche Bilder dem Sinn, solche Gedanken dem Geiste und Herzen sind. Aber in dieser Oede, ›fern von dem Schalle germanischer Rede‹ schlagen Deutsche Töne dieser Art ganz anders an ein Deutsches Ohr. In der That wird man hier der Herz- und Kraftlosigkeit sehr müde, und ich bleibe noch immer dabei, dass so manches Interessante ich auch hier für meine Neugierde antreffe, der einzige Genuss meiner besseren Kräfte doch immer ein erhöhteres und d[urc]h den Contrast selbst lebendigeres Bewusstseyn der volleren und kräftigeren Deutschen Natur bleibt.«90

Es vermag angesichts einer solchen Beurteilung nicht mehr zu erstaunen, warum sich Wilhelm von Humboldt in Frankreich nie heimisch fühlte. Ein solch tief greifendes Gefühl der Entfremdung konnte er nie überwinden, und je stärker seine Sehnsucht nach Deutschland wurde, desto erhabener und kräftiger empfand er die deutsche Natur – und desto weniger interessierte ihn der Nationalcharakter der Franzosen. Der sich zunehmend verstärkende Nationalismus mochte deshalb ebenfalls dazu beitragen, dass Humboldt das Interesse an einer umfassenden Darstellung des französischen Nationalcharakters verlor. Obwohl er sich als Deutscher prädestiniert zu dieser Aufgabe sah – so zumindest nach seiner eigenen Über89 Ibid. 90 Humboldt, W. (1990), S. 197. Brief vom 22. Oktober 1798. Das Zitat enthält eine Anspielung auf Schillers Ballade »Der Taucher«. Dort lauten die entsprechenden Verse: »Allein in der grässlichen Einsamkeit, / Tief unter dem Schall der menschlichen Rede / Bei den Ungeheuern der traurigen Öde.« (Schiller (1991), S. 425.) Liest man Humboldts Zitat vor dem Hintergrund dieser Zeilen, so erhält es einen noch eindringlicheren Charakter. Es entsteht der Eindruck, Wilhelm vergleiche seine Situation in Paris mit derjenigen eines von der gesamten Menschheit getrennten Individuums. Da Schiller das Gedicht 1797 verfasste, also nur ein Jahr vor Humboldts Brief an Wolf, ist anzunehmen, dass Wolf die Originalversion der Verse kannte und deshalb um die tiefere Bedeutung von Humboldts Anspielung wusste.

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zeugung –, verhinderte seine immer grösser werdende innere Distanziertheit im Umgang mit den Franzosen auch eine eingehendere Auseinandersetzung mit der Materie und letztlich die Ausführung seines ambitiösen anthropologischen Vorhabens. Doch betrachten wir die von Humboldt konstatierte Differenz der deutschen und französischen Anschauungsweise in einem grösseren Kontext. Denn was wir anhand von dessen Problemen bei der Ausarbeitung einer Anthropologie erkennen können, ist nicht zuletzt auf die unterschiedlichen philosophischen Traditionen in Deutschland und Frankreich zurückzuführen. Gleiches gilt im Übrigen auch für Alexander von Humboldt, der jedoch, wie wir im übernächsten Kapitel noch sehen werden, sehr viel stärker vom französischen Wissenschaftsbetrieb beeinflusst wurde als sein älterer Bruder. Werfen wir also zunächst einen Blick auf den Kontext, in dem sich die verschiedenen Anschauungsweisen entwickeln konnten.

V.2. Wilhelm von Humboldts Verteidigung von Kants »alleinseligmachender Lehre«91 im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb der europäischen Aufklärung Im Zentrum der deutschen Philosophie steht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer ›inneren Kraft‹. Diese innere Kraft bewirkt in jedem lebenden Organismus die ›innere Bildung‹, welche sowohl eine physiologische als auch moralische und geistige Komponente besitzt. Doch sind diese verschiedenen Komponenten im Grunde untrennbar miteinander verbunden und sind Teil einer einzigen inneren Kraft, die uns unter dem Namen der ›vis vitalis‹, ›vis essentialis‹ oder des ›nisus formativus‹ begegnet. Wie nun diese Kraft benannt wird, ist nicht entscheidend, wichtig aber ist, dass diese die Grundlage für eine monistische Weltsicht bildet. Da auf ihr das ursprüngliche Ich eines Individuums, sei es nun einer Pflanze, eines Tieres oder eines Menschen, basiert, dient sie zugleich als Fundament für die Philosophie, die Medizin und die Naturgeschichte. Der Vorteil dieser inneren Kraft liegt darin, dass mit ihrer Hilfe die Konzeption eines ›Naturganzen‹ ermöglicht wird, in welchem alle einzelnen Elemente miteinander zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen. Aufgrund dieser holistischen Konzeption, die also sowohl Materielles als auch Immaterielles miteinander verknüpft, begegnen wir der inneren Kraft

91 Bratranek (1876), S. 153. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 28. November 1799.

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sehr oft in physiologischen, medizinischen, pädagogischen, psychologischen und philosophischen Theorien. In Deutschland wird die Vorstellung dieser ursprünglichen Kraft vor allem durch den Vitalismus von Georg Ernst Stahl genährt. Doch seine ›vis vitalis‹, die empirisch nicht bewiesen werden kann, taucht in verschiedenen Ausprägungen auch in anderen Theorien auf. So haben wir zum Beispiel gesehen, dass sie uns bei Blumenbach als ›nisus formativus‹ oder Bildungstrieb entgegentritt.92 Auch Blumenbach betonte stets, dass zwar die Wirkungen des Bildungstriebes, nicht aber der Bildungstrieb selbst nachgewiesen werden können. Ähnlich verhält es sich mit der von Alexander von Humboldt angenommenen ›Lebenskraft‹. Obwohl er zeitlebens an ihre Existenz glaubte, erachtete er ihre Nachweisbarkeit spätestens ab 1795 für sehr fraglich.93 Gestattet also die Annahme einer inneren Kraft einerseits eine holistische Sicht der Welt, welche auf allgemeingültigen Grundsätzen beruht, so führt diese Annahme andererseits zwangsläufig zu einem Verlust an empirischem Gehalt. Versucht man aber an der Empirie festzuhalten, hat dies in letzter Konsequenz eine Spezialisierung der Wissenschaften zur Folge, die einer monistischen Weltsicht gerade entgegenwirkt. Besonders deutlich sehen wir die Folgen einer angenommenen ›Lebenskraft‹ in Deutschland. So gingen hier ungefähr ab 1800 die empirischen Grundlagen in den Naturwissenschaften innerhalb weniger Jahre mehr und mehr verloren. Im Zuge der immer dominanter werdenden Naturphilosophie, die versuchte, aus einem a priori postulierten Prinzip die einzelnen Fakten abzuleiten, geriet die empirisch gegebene Natur zunehmend aus dem Blickfeld. Die deutsche Naturphilosophie konnte ihren Anspruch auf einen Holismus nur dadurch einlösen, indem sie sich an Spekulationen über einen rein hypothetisch angenommenen Zusammenhang hielt. Die Konsequenz hiervon war jedoch der Verlust der Wissenschaftlichkeit. Denn was vermochte beispielsweise »eine Chemie, in der man sich die Hände nicht nass machte«, schon auszurichten?94 Da eine Naturwissenschaft ohne gesicherte Fakten nicht möglich ist, verlor sie ihren Anspruch, einen Beitrag zur Erweiterung des Wissens zu leisten. Die Annahme einer Identität der Kräfte in der Natur und in der Vernunft, wie sie vor allem Friedrich Wilhelm Schelling postuliert hatte, unterhöhlte schon sehr bald die Ende des 18. Jahrhunderts erzielten Erfolge in den deutschen Naturwissenschaften. Schelling führte, gemeinsam mit anderen Vertretern des 92 Siehe dazu das Kapitel I.2.a) dieser Arbeit. 93 Das Problem der Lebenskraft zeigt sich vor allem im »Rhodischen Genius«, dessen Grundannahme – das Vorhandensein einer Lebenskraft, die alle Elemente der organischen Natur miteinander verbindet und dadurch von der anorganischen unterscheidet – Alexander in seinem späteren Kommentar von 1849 selbst wieder relativierte. (Siehe dazu Kapitel III.4.) 94 Humboldt, A. (1860), S. 90. Brief vom 28. April 1841.

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deutschen Idealismus, mit seiner Behauptung, in der Natur seien unbewusst dieselben Kräfte am Werk, die wir in der menschlichen Vernunft als bewusste Kräfte wahrnehmen können, die Naturwissenschaft für einige Jahrzehnte auf irrationale Abwege. Denn eine Wissenschaft, die ihre Theorien nicht induktiv und empirisch nachweisen kann, entzieht sich letztlich ihre eigene Grundlage. Zu einem der wenigen, die den Irrweg der Naturphilosophie in Deutschland schon frühzeitig erkannten, gehörte zweifellos der jüngere der beiden Humboldtbrüder. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass Alexander seine Süd- und Mittelamerikareise nach seiner Rückkehr 1804 nicht in Berlin, sondern in Paris wissenschaftlich auswertete.95 Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung in Deutschland am ›Schicksal‹ des Zoologen und Mediziners Carl Friedrich Kielmeyer aufzeigen.96 Wie bereits in Kapitel III.5. dargestellt, wurde Kielmeyers Rede »Ueber die Verhältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältnisse«, welche er 1793 an der Stuttgarter Hohen Karlsschule hielt, mit sehr grossem Interesse aufgenommen.97 Doch zeigte uns schon die Kritik Alexander von Humboldts die grundsätzliche Problematik von Kielmeyers Theorie. Da dieser seine Annahme, dass die tierischen Lebewesen entsprechend ihrem Anteil der fünf organischen Kräfte hierarchisch geordnet seien, nicht empirisch beweisen konnte, lief er Gefahr, weitere Spekulationen darüber zuzulassen. Die Folge war, dass Kielmeyers Theorie leicht Eingang fand in die deutsche Naturphilosophie und von Wissenschaftlern wie Nees von Esenbeck, Lorenz Oken, Ignaz Christoph Döllinger, Gotthilf Heinrich von Schubert oder Carl Gustav Carus rezipiert wurde. Problematisch daran war, dass diese die zugrunde liegenden Hypothesen für ihre naturphilosophischen Theorien übernahmen, ohne sie vorher empirisch zu überprüfen. Die Naturphilosophen fanden zwar mithilfe der Theorie Kielmeyers allgemeine Grundsätze, die ihnen ein monistisches Konzept der Natur erlaubten, aber konkrete Fragestellungen wurden damit verunmöglicht. Auch in Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten wurde im Laufe der Jahre die Voraussetzung einer inneren Kraft immer problematischer. Besonders deutlich sehen wir das Problem seiner monistischen Grundannahme in den Schriften zur Morphologie. Unter ›Morphologie‹ versteht Goethe die Lehre von den Gestalten und ihren Wandlungen oder Metamorphosen. Er versucht, das Grundprinzip alles Organischen, den sogenannten ›Urtypus‹, zu finden, der in allen Ausprägungen der Pflanzen und Tiere sichtbar sein soll. Dieses bildende Grundprinzip ist ständig im Wandel begriffen und lässt die verschiedenen Teile 95 Vergleiche dazu das folgende Kapitel. 96 Zu Kielmeyer siehe: Kanz (1994). Ebenso: Bach (2001). 97 Kielmeyer (1993)

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eines Organismus nahtlos ineinander übergehen. Der Vorteil einer solchen Konzeption der Natur liegt darin, dass man mit dieser Idee der Metamorphose den Zusammenhang aller Naturteile begründen kann. Doch liegt bereits in Goethes Definition der Morphologie ein unauflöslicher Widerspruch. Einerseits versteht Goethe unter dem Begriff ›Morphologie‹ die Lehre von den Gestalten, wobei er andererseits jedoch von Anfang an hervorhebt: »Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.«98

Aufgrund dieses stetigen Wandels in der Natur – eine Vorstellung, die er bereits 1783 in seinem Fragment »Die Natur« veranschaulicht hat99 – kommt nun Goethe zum Schluss: »Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen; sondern, wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls dabei nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.«100

Goethes Zuhilfenahme einer »Idee« der Gestalt lässt uns das Dilemma seines Monismus deutlich erkennen. Einer Lehre der Gestalt, die ihren Gegenstand nur als Begriff voraussetzen kann, entbehrt jedes empirische Fundament. Will man aber diese Idee der Gestalt naturwissenschaftlich überprüfen, indem man die Forschungsobjekte analysiert, so geht die a priori gefasste Überzeugung eines Zusammenhangs verloren. Doch genau vor dieser Vorgehensweise warnt Goethe eindringlich: »Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern.«101

Eine Naturwissenschaft im eigentlichen Sinne ist aber ohne analytische Methoden nicht durchführbar. Infolgedessen gelang es auch Goethe nie, seine Anforderungen an die Morphologie einzulösen – sie blieb letztlich nur eine Idee.102 98 99 100 101 102

Goethe (1989). Bd. 13. Zur Morphologie. S. 55. Siehe dazu auch Seite 216 f. Goethe (1989). Bd. 13. Zur Morphologie. S. 55 f. [Hervorhebung von mir.] Ibid. S. 55. Schiller sah schon 1794 die Unausführbarkeit von Goethes Morphologie voraus: »Dadurch, dass Sie ihn [den Menschen als verwickeltste Organisation] der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine grosse und wahrhaft heldenmässige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält. Sie können niemals gehofft haben, dass Ihr Leben zu einem solchen Ziele zureichen werde, aber einen solchen Weg auch nur ein-

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Wir können also sehen, wie sowohl der Wissenschaftler Kielmeyer als auch der Künstler Goethe die Annahme einer Bildungskraft ihrer jeweiligen Theorie zugrunde legten. Dies war indes nur möglich durch den Verzicht auf ihre empirische Überprüfbarkeit und liess sich auch nur solange aufrechterhalten, bis eine Spezialisierung der Wissenschaften so weit fortgeschritten war, dass die Resultate der verschiedenen Disziplinen nicht mehr auf einen allgemeinen Grundsatz zurückgeführt werden konnten. In Deutschland erfolgte eine Spezialisierung der Wissenschaften erst spät, nicht zuletzt deshalb, weil die Idee einer inneren bildenden Kraft hier so wirkungsmächtig war. Um 1800 erlebte sie im Idealismus und in der deutschen Naturphilosophie eine neue Blütezeit, auch wenn bereits Ansätze zur Institutionalisierung einzelner naturwissenschaftlicher und medizinischer Fachdisziplinen vorhanden waren. Die Vorstellung einer ›inneren Kraft‹ muss aber auch im Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Aufklärung gesehen werden, um ihre unterschiedliche Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich beurteilen zu können.103 In Deutschland erklärt vor allem die äusserst intensive Rezeption der Philosophie von Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury die Dominanz monistischer Konzeptionen. Hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beeinflusste Shaftesbury sowohl die Philosophie als auch die Literatur in Deutschland mehr als anderswo,104 aber auch die Naturwissenschaften und die Medizin blieben von dieser Wirkung nicht unberührt. Da Shaftesbury in der »Inquiry concerning virtue and merit« die Natur als ein ganzheitliches System beschreibt, welches seinerseits aus untergeordneten Teilsystemen gebildet wird, beschränkt sich seine philosophische Betrachtung nicht nur auf den Menschen. Diese Vorstellung der Natur fiel gerade in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden, wo sie sich mit dem Vitalismus verbinden liess. Wichtig war in dieser Hinsicht Shaftesburys Gleichsetzung der ›natürlichen Affekte‹ aller Tiere und Menschen mit denjenigen, die einem moralisch guten und tugendhaften Zweck dienen. Ausschliesslich diese bilden die Voraussetzung für das Glück jedes lebenden Geschöpfes und seiner jeweiligen

zuschlagen, ist mehr wert, als jeden andern zu endigen […].« Trotz der poetischen Formulierung enthält diese Beschreibung de facto ein niederschmetterndes Urteil über Goethes Plan einer Morphologie! (Beetz (2005). Bd.1; S. 13 f. Brief Schillers an Goethe vom 23. August 1794.) 103 Georges Gusdorf zeichnet vor allem die französische Entwicklung der Aufklärung nach, berücksichtigt aber auch die Einflüsse aus England und Deutschland. Siehe dazu: Gusdorf (1972). Insbesondere: DeuxiÀme partie, chapitre III: Nature. S. 299 – 354. 104 Siehe dazu auch das Vorwort der Herausgeber in: Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury : An inquiry concerning virtue and merit. London 1699, [1711.] In: Shaftesbury (1984), S. 20 ff.

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Spezies. Besonders aber gilt diese Gleichsetzung für den Menschen, der nicht nur gemäss seinen Sinnen, sondern auch nach seinem Verstand handelt: »From all this we may easily conclude, how much our Happiness depends on n a t u r a l a n d g o o d A f f e c t i o n . For if the chief Happiness be from the MENTAL PLEASURES; and the chief m e n t a l P l e a s u r e s are such as we have describ’d, and are founded in n a t u r a l A f f e c t i o n ; it follows, ›That t o h a v e t h e n a t u r a l A f fections, is to have the chief Means and Power of Self-Enjoy ment, t h e h i g h e s t P o s s e s s i o n a n d H a p p i n e s s o f L i f e .‹«105

Shaftesbury geht also davon aus, dass alle Triebe, Leidenschaften und Affekte, die nicht gegen ihre eigene Natur gerichtet sind, dem Glück eines Individuums und infolgedessen auch dem Erhalt des natürlichen Systems als Ganzes dienen. Da nun die natürlichen Affekte zugleich gut sind, bedeutet dies, dass die Neigung zum moralisch Guten von Natur aus gegeben ist. Der »moral Sense« ist somit eine natürliche Fähigkeit des Menschen, moralisch und gut zu handeln. Wichtig ist aber, dass diese inneren Anlagen stets in einem harmonischen Gleichgewicht (»Balance«) gehalten werden, denn ein Ungleichgewicht in ihrer Ausbildung führte zu schlechtem Handeln und damit zugleich zum Unglücklichsein des Individuums. Ähnlich wie der Bau des Körpers und dessen Organe bilden auch die inneren Anlagen, die die geistigen, emotionalen und moralischen Eigenschaften eines Wesens umfassen, ein Teilsystem. Das Gleichgewicht dieses inneren Baus (»inward Constitution«) wird von der Natur selbst geregelt und steht somit im Einklang mit dem System des Naturganzen.106 Diese Auffassung liegt ebenfalls der in Deutschland weit verbreiteten Theorie einer ›inneren bildenden Kraft‹ zugrunde und ist mit dieser kompatibel. So beeinflusste Shaftesbury besonders Leibniz, Kant, Herder, Wieland, Goethe und Schiller.107 Doch wurde die Konzeption des englischen Philosophen auch von Naturgelehrten rezipiert und fand zum Beispiel Eingang in die Theorie des Bildungstriebes von Blumenbach. Wie wir oben gesehen haben, war die Idee eines Bildungstriebes sehr fruchtbar für die Theorie eines Universalzusammenhanges der Natur. Die Folge 105 Ibid. S. 222. [»Aus alle dem können wir leicht schliessen, wie sehr unser Glück von der natürlichen und guten Neigung abhängt. Denn wenn das grösste Glück aus den geistigen Freuden stammt, wenn die grössten geistigen Freuden so sind, wie wir sie beschrieben haben und auf natürliche Neigung sich gründen, so folgt: wer die natürlichen Neigungen besitzt, der besitzt damit das wichtigste und stärkste Mittel zum Selbstgenuss, dem grössten Besitztum und Glück des Lebens.« Deutsche Übersetzung von Paul Ziertmann, in Shaftesbury (1905), S. 82.] 106 Ibid. S. 234. 107 Ein Beispiel für den Einfluss von Shaftesbury sehen wir in Christoph Martin Wielands »Geschichte des Agathon«. Im Kapitel »Agathon und Hippias, ein Gespräch im Elysium«, welches der Fassung von 1799 beigefügt ist, wird Shaftesburys Theorie des »moral Sense« und der »natural Affection« sehr anschaulich dargestellt. (Wieland (1983), S. 581 – 594.)

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war jedoch, dass in Deutschland die Spezialisierung der Wissenschaften später einsetzte als im übrigen westlichen Europa, da der Versuch, alle wissenschaftlichen Daten aufeinander zu beziehen, zwangsläufig das empirische Vordringen in die Materie verhinderte. Andernfalls wäre es unmöglich geworden, eine holistische Naturauffassung aufrechtzuerhalten. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts war es sehr schwierig geworden, den Überblick über die stetig zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu bewahren. In Frankreich hingegen sah die Situation ganz anders aus. Im Unterschied zu Deutschland wurden dort die Werke von Shaftesbury kaum rezipiert. Einzig Denis Diderot übersetzte 1745 die englische Ausgabe der »Inquiry concerning virtue, or merit« von 1711.108 Doch auch Diderots französische Übersetzung – »Principes de la philosophie morale ou essai sur le m¦rite et la vertu par Mylord S[haftesbury]« – fand kaum Beachtung. Den Franzosen war die Idee eines Bildungstriebes fremd. Für die ›M¦decins philosophes‹ beispielsweise stand das Nervensystem im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Die Sensibilität, die – entgegen Hallers Theorie – mit der Irritabilität in Beziehung gesetzt wurde, bildete auch die Grundlage für die Moral und den Intellekt des Menschen. Da die Sensibilität (und Irritabilität), anders als der immaterielle Bildungstrieb, empirisch erforscht werden konnte, stand diese der Spezialisierung der Naturwissenschaften nicht im Wege. Mit der fehlenden Annahme einer nicht näher definierbaren inneren Kraft fiel auch die daraus resultierende Forderung, die gesamte Natur als monistische Einheit darzustellen, weg. Exemplarisch lässt sich dies an den ›Id¦ologues‹ aufzeigen. So untersuchte zwar der als Materialist bezeichnete Pierre-Jean-Georges Cabanis die Wechselwirkung zwischen Körper und Moral des Menschen, doch liess er dabei die Frage nach einem immateriellen geistigen Prinzip beiseite. Auf diese Weise konnte sich der ›Id¦ologue‹ auf das empirisch Nachprüfbare beschränken, was wiederum einen wichtigen Impuls für die Spezialisierung der Medizin, Physiologie und Psychologie zur Folge hatte. Die Vorstellung eines holistischen Weltganzen spielte infolgedessen auch in der französischen Metaphysik keine Rolle: Das Bedürfnis, ein einheitsstiftendes Prinzip, das die gesamte Natur zusammenhält, zu suchen, war in Frankreich kaum vorhanden.109 Vor diesem geistes- und kulturgeschichtlichen Hintergrund sind nun die philosophischen Gespräche zu sehen, welche Wilhelm von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts mit den Franzosen führte. Obwohl Humboldt vor seinem 108 Diderot (1875) 109 Zwar bemühten sich auch die ›Observateurs de l’homme‹ um eine ganzheitliche Wissenschaft vom Menschen, aber sie griffen in ihren theoretischen Ansätzen auf den Dualismus Descartes’ zurück. (Siehe dazu: Chappey (2002), S. 308 ff.)

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Aufenthalt in Frankreich nicht zu den bedingungslosen Anhängern der Philosophie Kants oder Fichtes gehörte, sah er sich nun in Paris genötigt, die deutsche Metaphysik zu verteidigen und den Franzosen zu erklären.110 Bereits bei seiner ersten Erwähnung von Kant in seinen Tagebüchern, anlässlich einer Unterhaltung, die während einer Gesellschaft bei Oelsner geführt wurde, stellt er ernüchtert fest, dass man den Königsberger Philosophen in Paris nur dem Namen nach kennt und »schlechterdings keinen Sinn« für dessen Metaphysik habe.111 Zwar konstatiert er ein grosses Interesse der Franzosen an der kantischen Philosophie, aber zugleich muss er erkennen, dass deren Wissen darüber sehr lückenhaft und oft sogar falsch ist. Was Wilhelm hier schon von Anfang an erfasst, ist eine fundamentale Differenz zwischen der deutschen und französischen Philosophie, welche auf den oben erläuterten unterschiedlichen Traditionen beruht. Kurz und pointiert kommt diese Einsicht in einer Tagebuchnotiz zu einem Gespräch bei Karl Friedrich Reinhard zum Tragen. So lautet sein Urteil zu Reinhards Darstellung der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Arten zu philosophieren: »Reinhard sagte sehr gut, die Französische und Deutsche Metaphysik unterscheide sich dadurch, dass die erste nur S e n s a t i o n s (und Mechanismus muss man hinzusetzen) die letzte Spontaneität kenne. Auch SiÀyes halte letztere nur für Einbildung.«112

Wilhelm kritisiert an der französischen Philosophie eben die fehlende Annahme einer inneren Kraft, die in Deutschland von so eminenter Wichtigkeit ist. Daher hat er kein Verständnis für eine Metaphysik, die keine Ideen a priori akzeptiert, sondern, wie diejenige von Condillac, Destutt de Tracy und Cabanis, die Entstehung aller Ideen nur auf Sinneseindrücke zurückführt. Letztlich hält er die französische Metaphysik für unmetaphysisch sowie rein analytisch. Im Grunde handelt es sich laut Humboldt immer nur um Psychologie und nicht um Philosophie. Sehr zahlreich sind deshalb seine abfälligen Bemerkungen über die französische Metaphysik. Geradezu empört ist er über Cabanis’ Äusserungen zur Moral, welche gemäss diesem bloss auf »calcul« beruhen soll.113 Wilhelm nennt den französischen ›Id¦ologue‹ einen Materialisten, eine Bezeichnung, die von ihm stets pejorativ verwendet wird. Er kannte dessen Anschauung über den Zusammenhang von Körper und Geist zumindest teilweise, denn sein Tagebucheintrag vom 28. Februar 1798 belegt, dass er bei dessen Lesung einiger 110 Schon Anfang 1798 beklagt Wilhelm von Humboldt in einem Brief an Schiller seine ›Nötigung‹ zur Verteidigung der deutschen Philosophie. Siehe dazu: Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 143. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 20. Januar 1798. 111 Humboldt, W. (1903 – 1939), 14. Bd. Tagebücher. S. 395. Tagebucheintrag vom 29. Januar 1798. 112 Ibid. S. 438. Tagebucheintrag vom 1. April 1798. 113 Ibid. S. 486. Tagebucheintrag vom 27. Mai 1798. Ebenso: ibid. S. 536. Tagebucheintrag vom 13. Juli 1798.

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›M¦moires‹ aus den »Rapports du physique et du moral de l’homme« am »Institut national des sciences et arts« anwesend war. Am selben Tag wie Cabanis las auch Destutt de Tracy über die Frage: »Comment acquerrons-nous la connaissance des corps ext¦rieurs et du nútre?« Ohne auf de Tracys Ausführungen einzugehen, bezeichnet sie Humboldt schlichtweg als »närrisches System«.114 Diese Notiz fällt umso mehr ins Gewicht, da er ansonsten die Vorträge am Nationalinstitut nur kurz zusammenfasst, nicht jedoch kommentiert. Am intensivsten beschäftigte sich Wilhelm von Humboldt in Paris zweifellos mit der Philosophie von Condillac. Über Seiten hinweg paraphrasiert er dessen »Oeuvres philosophiques«, insbesondere die Bände »Essai sur l’origine des connaissances humaines«, »Trait¦ des SystÀmes«, »Trait¦ des sensations«, und »Trait¦ des animaux«.115 Ein äusserer Anlass für seine Lektüre war zwar eine Neuerscheinung der »Oeuvres philosophiques« im Jahre 1798, aber gewiss interessierte sich Wilhelm besonders für Condillacs Metaphysik, weil diese Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich stark rezipiert wurde und vielen ›Id¦ologues‹ als Fundament für ihre eigenen Theorien diente. Doch anlässlich eines Besuchs bei SieyÀs beurteilt er die französische Philosophie, insbesondere diejenige von Condillac, äusserst kritisch: »Unter allen Metaphysikern lobte er [SieyÀs] heute am meisten Condillac und Bonnet, also gerade die seichtesten. Wer bei der Metaphysik zu sehr davon ausgeht, dass alles leicht, klar, l u m i n e u x , ohne unnütze Spitzfindigkeiten seyn soll, der verräth ebendadurch, dass eine zu grosse Scheu vor der Verirrung ihn nie auf den wahren Weg kommen lassen wird.«116

Als Vorbilder und ›Korrektiv‹ für die »seichte« französische Metaphysik nennt Humboldt Spinoza und Leibniz, mit einigem Vorbehalt auch Locke und Hume. In seiner Kritik an Condillacs »Trait¦ des sensations« begründet er seine Ansicht über die Seichtigkeit der französischen Metaphysik etwas konkreter : »Der Hauptfehler dieser Schrift ist wieder, dass sie weder Metaphysik, noch Psychologie, also eigentlich zu nichts brauchbar ist. Sie geht keinen Schritt aus den Phänomenen heraus, und will doch die Phänomene überhaupt erklären, sie ahndet nichts von einer ursprünglichen Kraft unsers Ichs und hat daher nie zureichende Erklärungsgründe.«117 114 Ibid. S. 423 f. [»Wie erlangen wir Kenntnis von den äusseren Körpern und von unserem eigenen Körper?«] 115 Humboldts Kommentare im Tagebuch zu den »Oeuvres philosophiques« erstrecken sich vom 8. Mai 1798 bis zum 8. Juni 1798. Im Einzelnen betreffen diese die Bände »Essai sur l’origine des connaissances humaines« (S. 444 – 449), »Trait¦ des SystÀmes« (S. 479 – 481), »Trait¦ des sensations« (S. 502 – 505), und »Trait¦ des animaux (S. 509 – 511). 116 Ibid. S. 492 f. Tagebucheintrag vom 31. Mai 1798. 117 Ibid. S. 504. Tagebucheintrag vom 4. Juni 1798. [Hervorhebung von mir.]

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Wir treffen hier erneut auf Wilhelms Überzeugung einer a priori gesetzten inneren Kraft, die das eigentliche Ich ausmachen soll. Dass sich die französischen Sensualisten (und Materialisten) nicht mit einem immateriellen Prinzip befassen wollen, das nicht nachweisbar ist, kann er offensichtlich nicht akzeptieren. Stattdessen lastet er diesen vermeintlichen Fehler dem französischen Nationalcharakter an und stellt diesem das Bild des ›tiefsinnigen Deutschen‹ entgegen. Die konkrete Auseinandersetzung mit der sensualistischen Philosophie der Franzosen – und insbesondere mit der ›Id¦ologie‹ – zwang Wilhelm von Humboldt im Gegenzug dazu, Kant und Fichte, von deren Metaphysik er vor 1798 keineswegs überzeugt war, verteidigen zu müssen – quasi aus nationalem Stolz. Wir können also auch in Bezug auf Wilhelms philosophische Überzeugungen feststellen, dass dessen geografische Distanz zur Heimat ein verstärktes Nationalbewusstsein zur Folge hatte. Erst in Paris wurde Humboldt zum »erklärten Deutschen«, wie Goethe etwas mokant meinte.118 Gegenüber der Metaphysik Fichtes war Wilhelm von Humboldt lange Zeit sehr skeptisch. Doch schon im Frühjahr 1798 lässt er in einem Brief an Goethe eine vorsichtige Zustimmung erkennen: »Was Ihnen hier zu nicht geringem Troste gereichen würde, ist, dass man so erstaunlich sicher vor dem I c h und dem N i c h t - I c h herumgeht, als wären diese furchtbaren Gespenster gar nicht in der Welt. Fichte’s alter Thurm am jenaischen Stadtgraben kommt mir ordentlich manchmal wie ein Feenschloss vor. Aber ich wette, Sie würden, wenn Sie hier wären, sich danach sehnen. Mir wenigstens geht es so.«119

Noch macht sich Wilhelm hier über Fichtes Philosophie lustig, und es sieht so aus, als ob Fichte in Frankreich überhaupt nicht bekannt sei. Aber nun, ausserhalb Deutschlands, empfindet Humboldt diese Unkenntnis als Mangel. Goethe hingegen lehnt Fichtes Metaphysik ab und beklagt sogar, dass aus dieser Schule wenig »Freude und Nutzen« zu erwarten sei, da ihre Anhänger »ihr Ich« beständig ruminieren würden. Deswegen befürchtet er, »dass die Deutschen verdammt sind, wie vor alters in den kimmerischen Nächten der Speculation zu wohnen«.120 Gerade das Spekulative ist aber dasjenige, was Wilhelm bei den Franzosen am meisten vermisst. Bei allem Bemühen um eine monistische Weltsicht widerstrebt ihm die Vorstellung, dass das Geistige im Menschen auf das rein Körperliche reduziert werden könne. Vor die Wahl gestellt, entweder den angestrebten Monismus aufzugeben oder mit Prinzipien a priori zu operieren, entscheidet er sich für das Letztere. Angesichts des Materialismus der ›Id¦ologues‹ wird Humboldt offensichtlich erst bewusst, worauf sein eigenes Denken beruht. Die Hochschätzung der ›inneren Kraft‹, die die Voraussetzung für jede individuelle Bildung ist, sowie die 118 Bratranek (1876), S. 57. Brief Goethes an Wilhelm von Humboldts vom 16. Juli 1798. 119 Ibid. S. 54. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom Frühjahr 1798. 120 Ibid. S. 132. Brief Goethes an Wilhelm von Humboldt vom 16. September 1799.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

Furcht vor dem Verlust der ›richtigen‹ moralischen Werte bei deren Negation121 führen ihn zur grösseren Akzeptanz von Fichtes und Kants Philosophie. So verteidigt er diese beiden auch gegenüber Goethe in einem Brief, den er während einer Reise durch Spanien geschrieben hat: »Mit dem armen Ich scheinen Sie mir (ich meine nicht den Hergang, sondern Sie in Ihrem Briefe) nicht glimpflich genug umzugehen. Die Metaphysik ist einmal die Basis alles eigentlichen Denkens, und nun wollten Sie nicht da auch der Sonderbarkeit einigen Spielraum gönnen? Auch verzweifle ich noch nicht an der Haltbarkeit des Fichte’schen Systems. Stellen Sie sich nur vor. Ein Professor in Agens (leider sah ich ihn nicht) studirt die Kantische Philosophie und auch in Madrid ist wenigstens ihr Name bekannt. Wenn ich nicht fürchtete, von Ihnen als Missionar verlacht zu werden, so möchte ich Ihnen sagen, dass ich noch heute einem Spanier die alleinseligmachende Lehre gepredigt habe. Aber auch in der Philosophie haben die Franzosen hier [in Spanien] alles angesteckt!«122

Je länger sich Wilhelm von Humboldt im Ausland aufhält, desto grösser wird seine Abneigung gegen alles Französische. Bei aller Ironie über Fichte und Kant sind ihm deren philosophische Prämissen doch verständlicher als der französische Sensualismus. Wir können hier den starken Einfluss der deutschen Tradition erkennen, der in seinem Denken wirksam wird. Seine Beschäftigung mit Blumenbach, Georg Forster oder auch Herder, dessen Philosophie der Menschheitsgeschichte er zunächst vordergründig ablehnte, führen ihn letztlich in die Nähe der deutschen Naturphilosophie. Konnten die oben Erwähnten den angenommenen Zusammenhang zwischen Körper und Geist mangels der ihnen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten auch ohne empirischen Nachweis noch gelten lassen, so sieht sich nun Wilhelm am Ende des 18. Jahrhunderts in Paris genötigt, sich für oder gegen eine holistische Theorie zu entscheiden. Seine Hinwendung zu Fichte ist denn auch am Ende seines Parisaufenthaltes am intensivsten: »Fichte habe ich diesen Sommer aufs neue studirt und er hat mir sehr gefallen. Sein Naturrecht ist wirklich ein grosses Werk, und auch der Stil hat eine originelle Stärke.«123 121 Diese Befürchtung teilt er Schiller in einem Brief über ein metaphysisches Kolloquium, zu dem er in Paris gebeten wurde, mit: »Der direkte [Weg] von dem moralischen Gefühl, dem Bewusstsein des von allen Folgen unabhängigen Rechts, scheint leichter. Aber er findet hier weit weniger noch als jener [indirekte Weg] Beifall. Ihre Moral ist ein blosses Berechnen des grössern Vorteils, und es ist schrecklich zu hören, wie materialistisch alle ohne Ausnahme über diesen Punkt reden. Man kann sich nicht enthalten, von solcher Verkehrtheit in moralischen Begriffen Schlüsse auf ihren Sinn für Freiheit und Recht überhaupt zu machen.« (Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 156. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 23. Juni 1798.) 122 Bratranek (1876), S. 153. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 28. November 1799. 123 Ibid. S. 172. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom 19. Oktober 1800.

Wilhelm von Humboldts Verteidigung von Kants »alleinseligmachender Lehre«

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Die Konsequenz, die Wilhelm von Humboldt aus seinen zahlreichen Beobachtungen und Erfahrungen in Frankreich zog, war aber letztlich die Einsicht, dass er für die Metaphysik und Anthropologie nicht geschaffen war. Sah er sich in Paris auch öfter dazu genötigt, sich gegenüber den Franzosen für oder gegen Kant beziehungsweise Condillac zu erklären,124 erkannte er doch seine Unfähigkeit zum systematischen Denken, das sich erst in seiner Abstraktion zu einem widerspruchslosen Ganzen zusammenfügt. Zu sehr fehlte ihm in der Philosophie eines Kant oder Fichte der Bezug zur ›Erfahrung‹. Gerade die Erfahrung sollte ja nach seiner Vorstellung einer ›wahren‹ Anthropologie die Verbindung zwischen reiner Theorie und Empirie ermöglichen. Andererseits fehlte ihm bei Condillac und den ›Id¦ologues‹ ein geistiges, immaterielles Prinzip, das es ermöglicht, das Denken nicht bloss als Sublimierung der körperlichen Vorgänge zu betrachten. Das Ergebnis von Humboldts mehrjährigem Aufenthalt ist meiner Meinung nach, dass diesem die Problematik eines wissenschaftlich fundierten Holismus bewusst wurde. Doch weder wurde Wilhelm aufgrund dieser Erkenntnis zum bedingungslosen Anhänger von Fichte oder Kant, noch verwarf er Condillacs »Oeuvres philosophiques« in Bausch und Bogen. Die Auseinandersetzung mit der französischen und deutschen Philosophie sowie sein Bemühen um eine Wissenschaft der Anthropologie führten ihn endlich zu einem Betätigungsfeld, in dem er seine Erfüllung finden sollte: das Studium der Sprachen. Vor allem auf seinen Reisen durch Spanien und das Baskenland, die er schon in Paris akribisch geplant hatte, da er der Ansicht war, dass man neue Erfahrungen nur machen könne, wenn man auf sie vorbereitet sei, wurde ihm sein Interesse für die Sprachen bewusst: »Noch mehr aber interessirt mich die Sprache, die wirklich grosse Verdienste besitzt. Ich fühle, dass ich mich künftig noch ausschliessender dem Sprachstudium widmen werde, und dass eine gründlich und philosophisch angestellte Vergleichung mehrerer derselben, eine Arbeit ist, der meine Schultern nach einigen Jahren ernstlichen Studiums vielleicht gewachsen seyn können.«125

Humboldt sollte mit seiner Prognose recht behalten. Wenn er auch zu Lebzeiten nur wenige Arbeiten zur vergleichenden Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, gemessen am Umfang seines gesammelten Sprachmaterials, veröffent124 Gegenüber Schiller gesteht er ein: »Sie können leicht denken, dass ich weder den Kitzel, wie einige Deutsche hier, habe, mich hinter Kantischen Mysterien zu verhüllen und mir dadurch ein falsches Ansehn zu geben, noch auch von der Sucht angesteckt bin, Proselyten machen zu wollen, und dass ich also gewiss nur gezwungen Metaphysik rede. Allein schon ein paarmal bin ich wider Willen dazu genötigt worden.« (Humboldt, W. (1962). Bd. 2; S. 146. Brief Wilhelm von Humboldts an Schiller vom 20. Januar 1798.) 125 Humboldt, W. (1990), S. 201. Brief vom 20. Dezember 1799.

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lichte, so blieb er doch seinem in Frankreich gefundenen Betätigungsfeld bis zu seinem Tode 1835 treu.126 In der Frage nach dem Einfluss von Condillac und der ›Id¦ologues‹ auf Humboldts Sprachtheorie herrscht in der Forschung jedoch Uneinigkeit. Hans Aarsleffs These, wonach Humboldt seine Berufung zur Sprachtheorie erst dem Zusammentreffen mit den ›Id¦ologues‹ in Paris verdankte,127 wird von Wulf Oesterreicher heftig kritisiert.128 Auch Jürgen Trabant widerspricht Aarsleff und betont besonders den Einfluss der Philosophie Kants und Fichtes auf Humboldt.129 Zudem glaubt er, Humboldt kritisiere Herders Theorie über den Ursprung der Sprache, indem er Condillac in einem gewissen Punkt rehabilitiere. Nach Herders Kritik an Condillac könne nämlich die Sprache nie aus einem »Empfindungsschrei« erwachsen. In diesem Punkt ergreife Humboldt Partei für Condillac. Ganz abgesehen davon, dass Herder Condillac in diesem Punkt gar nicht kritisiert, weist auch die Stelle aus Wilhelm von Humboldts »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, welche Trabant als Beleg für seine Behauptung anfügt, keinerlei Beweiskraft auf: »Ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass der erste Gebrauch der Sprache, wenn man bis zu demselben hinaufzusteigen vermöchte, ein blosser Empfindungsausdruck gewesen sey.«130

Dieses Zitat stammt jedoch aus einem Werk, welches erst zwischen 1830 und 1835 entstanden ist, zu einer Zeit also, als sich Humboldt längst nicht mehr mit Condillacs Schriften beschäftigte. Auch zeigt eine sorgfältige Lektüre, dass an dieser Stelle nicht von einem »Empfindungsschrei« die Rede ist, sondern von der Sprache als »Empfindungsausdruck«, ein Unterschied, der gerade bei Herder von Bedeutung ist. Zudem ist Trabants These entgegenzuhalten, dass der Ältere der Humboldtbrüder bereits 1795 / 96 das Fragment »Ueber Denken und Sprechen« verfasste, in dem er klar zwischen dem »Empfindungsgeschrei« des Menschen und der Sprache unterscheidet: »Der Mensch nimmt daher keinen einzigen Naturlaut, roh wie er ist, in seine Sprache auf, sondern bildet immer nur einen demselben ähnlichen artikulirten. Er unter126 Das bedeutendste sprachwissenschaftliche Werk, »Ueber die Kawi-Sprache«, konnte Wilhelm von Humboldt nicht mehr beenden. Es wurde erst nach seinem Tode, mit einem Vorwort seines Bruders Alexander versehen, veröffentlicht. (vgl. Humboldt, W. (1836 – 1819).) 127 Aarsleff (1977) 128 Oesterreicher (1981), S. 117 – 135.) 129 Trabant (1986), S. 91 130 Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd.III. S. 566.

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scheidet sogar sein eignes Empfindungsgeschrei gar sehr von der Sprache; und hierin leitet die Empfindung auch den Gebildetsten sehr richtig.«131

In diesem Zitat stützt sich Wilhelm von Humboldt aber offensichtlich auf Herder, ohne jedoch seine Quelle preiszugeben. Auch besteht zwischen den beiden Zitaten gar kein Widerspruch. Humboldt differenziert ganz ähnlich wie Herder zwischen natürlicher Sprache und Sprache des Menschen, zwischen »Empfindungsgeschrei« und »Empfindungsausdruck«. Bei Herder finden wir dieselbe Unterscheidung. Auch dieser spricht von »einer Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist« und »laut« ausgedrückt wird.132 So beginnt er beispielsweise in seiner berühmten Preisschrift »Über den Ursprung der Sprache« mit den provokativen Sätzen: »Schon als T h i e r , h a t d e r M e n s c h S p r a c h e . Alle heftigen, und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starke Leidenschaften seiner Seele äussern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde, unartikulirte Laute.«133

Er hält diesem Geschrei der Affekte und Leidenschaften die »Menschliche Sprache« entgegen, deren Töne mit Verstand gebraucht werden. Explizit verweist er auf den bedeutsamen Unterschied und schreibt erstaunt: »Aber ich kann nicht meine Verwunderung bergen, dass Philosophen, das ist, Leute, die deutliche Begriffe suchen, je haben auf den Gedanken kommen können, aus d i e s e m G e s c h r e i d e r E m p f i n d u n g e n den U r s p r u n g M e n s c h l i c h e r S p r a c h e zu erklären: denn ist diese nicht offenbar ganz etwas anders?«134

Was Herder hingegen an Condillac kritisiert, ist dessen These, dass die menschliche Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung für die Sprache ist. Dagegen argumentiert er, der Mensch habe von Natur aus und von Anfang an Sprache, seine Sprache. Doch damit hat Herders »Sprache der Empfindung« gar nichts zu tun. Somit kritisiert er Condillac in diesem Punkt nicht!135 Trabants These über Condillacs Einfluss auf Wilhelm von Humboldt lässt sich also mit der angeblichen Kritik Herders an Condillac nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil, eine genaue Lektüre der herderschen und humboldtschen Texte zeigt, wie sehr Letztere von Herder abhängig sind!136 Von einer Rehabilitierung Condillacs 131 Wilhelm von Humboldt: Ueber Denken und Sprechen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd.V; S. 99. 132 Herder (1978), S. 10. 133 Ibid. S. 9. 134 Ibid. S. 18. 135 Siehe dazu auch den Kommentar von Wolfgang Pross in: Herder (1978), insbesondere S. 156 – 159. 136 Somit lässt sich meine These, dass Wilhelm von Humboldt mit dem Werk von Herder bestens vertraut war, auch mit den Sprachschriften stützen. (Siehe dazu auch Kapitel

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durch Humboldt kann deshalb gar keine Rede sein. Vielmehr ist festzuhalten, dass nicht Kants und Fichtes Metaphysik, sondern Herders Sprachphilosophie und Goethes Naturforschung Humboldts Sprachtheorie in besonderem Masse beeinflussten. Zusammenfassend können wir also konstatieren, dass Wilhelm von Humboldt aus mehreren Gründen an der Abfassung eines anthropologischen Werkes scheiterte. Sein Anspruch an sich selbst und das viel zu umfassend konzipierte Vorhaben überforderten ihn zunehmend. Ferner hinderten ihn zu wenig durchdachte und zudem widersprüchliche Hypothesen an einer stringenten Ausführung seines Projektes. Zu seinem persönlichen Unvermögen kam aber entscheidend hinzu, dass es die wissenschaftlichen Voraussetzungen um 1800 nicht mehr erlaubten, holistische Theorien zu entwerfen, ohne empirische Daten zu ignorieren. Diese waren nur noch um den Preis der Wissenschaftlichkeit aufrechtzuerhalten. Gerade in Paris, wo die Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen weiter fortgeschritten war als in Deutschland, musste ein Projekt wie die von Wilhelm konzipierte Wissenschaft einer vergleichenden Anthropologie scheitern. Schliesslich liessen der persönliche Umgang mit den Franzosen in Paris und seine Besinnung auf seine deutsche Herkunft Humboldts Interesse an einer grossangelegten Studie über den französischen Nationalcharakter schwinden. Trotzdem bewirkte der Aufenthalt in Paris keinen radikalen Bruch im Schaffen Humboldts, auch wenn dies auf den ersten Blick so erscheinen mag. Seine Begegnung mit den ›Id¦ologues‹ und die Auseinandersetzung mit den Werken Condillacs verhalfen ihm vielmehr zu einer Konkretisierung seiner weiteren Arbeiten, nämlich zur Beschäftigung mit der Sprache. Nicht zufällig entdeckte Wilhelm von Humboldt gerade in Frankreich und auf seinen Spanienreisen die vergleichende Sprachwissenschaft als sein eigentliches Forschungsgebiet. Denn seine Sprachtheorie basiert, so zumindest meine These, auf den anthropologischen Arbeiten, welche er schon seit 1790, zum Teil zusammen mit seinem Bruder Alexander, unternommen hatte.137 Er übernahm zahlreiche Schlüsselbegriffe aus seiner Anthropologie wie die »Selbstthätigkeit innerer Kräfte«, die »Spontaneität« oder die »individuelle Bildung« als Kern seiner Sprachtheorie. Aber den entscheidenden Impuls für die fruchtbare Präzisierung und Eingrenzung seiner sprachtheoretischen Forschungen erhielt er zweifellos in Paris. II.3.a).) Im Übrigen wissen wir aus einem Brief von seinem Bruder Alexander an Wilhelm Gabriel Wegener, dass dieser Herders Schrift »Über den Ursprung der Sprache« ausserordentlich schätzte. (Vgl. Jahn / Lange (1973), S. 16. Brief Nr. 5 vom 24. Juni 1788.) 137 Auch Donatella Di Cesare sieht in Wilhelm von Humboldts »Sprachkunde« eine Fortsetzung seiner anthropologischen Studien, ohne allerdings auf diese näher einzugehen. (Di Cesare (1990), S. 157 – 180.)

Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldt

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So konnte Wilhelm von Humboldt noch während seines Frankreichaufenthaltes letztlich doch eine positive Bilanz aus seinen neuen Erfahrungen in der Fremde und den dort gesammelten Menschenkenntnissen ziehen: »Dennoch läugne ich nicht, dass ich nun um viele Erfahrungen bereichert zurückkomme, dass ich eine gewisse Liebe zu dieser Nation gewonnen habe, und meine Achtung für sie, als Nation, gar sehr gestiegen ist, und dass mein Aufenthalt hier in meinem Denken Epoche macht.«138

V.3. Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldts differenzierte Denk- und Arbeitsweise Obgleich es allgemein bekannt ist, dass der ›grosse‹ Alexander von Humboldt, das ›Aushängeschild der deutschen Naturwissenschaft‹, insgesamt fast drei Jahrzehnte in Paris gelebt und gearbeitet hat, wird diese Tatsache nach meinem Ermessen in der deutschen Sekundärliteratur noch viel zu wenig beachtet. Nach wie vor ist der im 19. Jahrhundert entstandene Mythos um den ›letzten Universalgelehrten‹, der nicht zuletzt aus dem Dunstkreis des Nationalismus genährt wurde, sehr wirkungsvoll. Aus diesem Grund bewertete man lange Zeit Humboldts enge Kontakte zu Frankreich als zwar ärgerliches, aber letztlich doch unbedeutendes Malheur. Das Ausblenden des französischen Einflusses auf Alexander dauerte (und dauert) hartnäckig an, obwohl dieser selbst oft von der grossen Bedeutung der französischen Wissenschaft für den Erfolg seiner Reisen und Werke gesprochen hatte.139 Wie wichtig die französische Hauptstadt damals für einen Wissenschaftler war, der sich um eine berufliche Karriere bemühte, erfahren wir vom Chemiker Jean-Baptiste Andr¦ Dumas, welcher als junger Mann Alexander von Humboldt in Genf begegnete: »›Was er [Alexander von Humboldt] mir von dem Leben in Paris erzählt hatte, von dem glücklichen Zusammenwirken der dortigen Gelehrten, von den Hülfsmitteln, welche die Metropole an der Seine den Jüngern der Wissenschaft zur Verfügung stellt, hatte einen unauslöschlichen Eindruck in mir hinterlassen. Es begann mir klarzuwerden, dass Paris der einzige Ort sei, wo ich unter den Auspicien der Führer in den physikalischen und chemischen Wissenschaften, mit denen ich – wie hätte ich daran 138 Humboldt, W. (1940), S. 62. Brief vom 15. November 1798. 139 Zwar hatte Richard Bitterling 1954 in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung von de Lam¦theries Bericht über Alexander von Humboldts Amerikareise auf die bereits in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts bestehende Verbindung zu Frankreich hingewiesen, doch ist dieser Hinweis weitgehend ausser Acht geblieben. (Bitterling (1954). Bd. 98; Heft 3; S. 161 f.

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zweifeln können? – alsbald in lebhaften Verkehr treten würde, hoffen durfte, Rath und Beistand zu finden, um die Arbeiten, über denen ich bereits seit längerer Zeit brütete, zur Ausführung zu bringen. Mein Entschluss war bald gefasst: Auf nach Paris!‹«140

Vor diesem Hintergrund müssen wir Humboldts Entschluss beurteilen, die Jahre vor und nach seiner fünfjährigen Reise nach Westindien in Paris zu verbringen. Dass die Begegnung mit den dortigen Naturforschern Alexanders wissenschaftliche Arbeit wesentlich prägte, ist deshalb wenig überraschend und muss für das Verständnis seiner Naturanschauung zwingend berücksichtigt werden. Alexander von Humboldt hat zwar immer bestritten, dass er eine besondere philosophische Denkrichtung vertrat. Doch seine allmähliche Loslösung von dem Naturverständnis der Spätaufklärung, seine Abwendung von der anfänglich so intensiv betriebenen Suche nach der Lebenskraft, wäre ohne Bezugnahme auf die Wissenschaft in Frankreich nicht zu verstehen. Die folgenden Kapitel sollen deshalb Humboldts Beziehungen zur französischen Naturwissenschaft näher beleuchten. Erst danach können wir die für den Wandel von dessen Naturverständnis so entscheidenden Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts angemessen beurteilen.

V.3.a) Erste Kontakte Alexander von Humboldts zu den französischen Wissenschaftlern Bereits im Jahr 1789 veröffentlichte Alexander von Humboldt zum ersten Mal eine wissenschaftliche Arbeit in französischer Sprache. Es handelt sich hierbei zwar nicht um eine eigene Abhandlung, sondern um eine anonym erschienene Übersetzung von Carl Peter Thunbergs »Dissertatione de arbore Toxicaria Macassariensi«,141 aber Alexander versah diese Übersetzung ins Französische mit seinen eigenen Anmerkungen. Sie erschien schon ein Jahr nach Thunbergs Erstausgabe in der »Gazette Litt¦raire de Berlin«.142 Doch erst einige Jahre später bestätigte Humboldt, dass er der Übersetzer der thunbergschen Schrift war.143 Man kann sich nun natürlich fragen, warum der Zwanzigjährige eine lateinische Abhandlung des berühmten schwedischen Botanikers für ein preussisches Journal ins Französische übertrug? Und wenn er schon eine Übersetzung als notwendig erachtete, warum dann keine deutsche? Es ist nämlich davon auszugehen, dass eine lateinische Schrift von den Botanikern in Deutschland durchaus gelesen werden konnte. Auch Humboldt selbst sollte schon bald bo140 141 142 143

Hofmann (1888), S. 237. Thunberg (1788). Humboldt, A. (1789). Sur le Bohon-Upas par un jeune Gentilhomme. Humboldt, A. (1797c), Bd. II. S. 141; Anm. **.

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tanische Abhandlungen in lateinischer Sprache veröffentlichen. Offenbar war er sich aber der internationalen Bedeutung der französischen Sprache für wissenschaftliche Publikationen bewusst, und die französische Übersetzung von Thunbergs Aufsatz dokumentiert daher Alexander von Humboldts Interesse am wissenschaftlichen Informationsaustausch mit dem Nachbarland. War es in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts noch durchaus üblich, naturwissenschaftliche, insbesondere botanische Schriften in Latein zu veröffentlichen, hatte sich die Nationalsprache in Frankreich auf allen wissenschaftlichen Gebieten schon früher durchgesetzt und wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur internationalen Wissenschaftssprache schlechthin. Deshalb war es für jeden Naturforscher sehr wichtig, in französischer Sprache zu publizieren, wollte er über seine Landesgrenzen hinaus wahrgenommen werden. Aus diesem Grund hatte Alexander von Humboldt schon in jungen Jahren sehr gezielt Tuchfühlung zu den Wissenschaftlern in Paris aufgenommen. So bediente er sich zum Beispiel der brieflichen Übermittlung seiner Forschungsresultate an Mitglieder der ›Acad¦mie des Sciences‹, um auf seine wissenschaftlichen Arbeiten aufmerksam zu machen. Seine Ergebnisse wurden denn auch öffentlich in der französischen Akademie vorgetragen, zum ersten Mal im März 1796, zu einer Zeit, als Alexander noch als Bergassessor in Franken tätig war.144 Er bewies somit bereits am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache. »Zum Schriftstellerischen Handwerk gehört Läuten«145 – nach dieser Devise hat er zeitlebens gehandelt. Die humboldtsche Übersetzung von Thunbergs lateinischer Schrift bildet jedoch nur den Anfang einer ganzen Reihe von Abhandlungen, die in französischer Sprache veröffentlicht wurde. In den folgenden Jahren übersetzte Alexander auch seine eigenen Arbeiten ins Französische oder liess sie übersetzen. In der Forschungsliteratur zu den Werken Alexander von Humboldts werden die französischen Essais jedoch kaum erwähnt. Besteht bereits ein mangelndes Interesse an den Schriften, welche vor dessen Reise nach Südamerika erschienen sind, so werden die frühen französischen Arbeiten noch weniger zur Kenntnis genommen. Mit anderen Worten: Es handelt sich hier um eine ›terra incognita‹ in der Humboldtforschung. Erstaunlich ist dieser Befund angesichts der Tatsache, dass schon 1872 Karl Bruhns im zweiten Band seiner wissenschaftlichen Biografie über Alexander 144 Kurt-Reinhold Biermann: Alexander von Humboldt in seinem Verhältnis zur Leopoldina und zu anderen Akademien. In: Biermann, K.-R. (1990), S. 223. 145 Jahn / Lange (1973), S. 170. (Brief Nr. 96 an Paul Christian Wattenbach vom 18. Februar 1792.)

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von Humboldt die ersten französischen Schriften in seiner Bibliografie vermerkt hatte.146 Aber in der neusten Bibliografie zu Humboldt von Horst Fiedler und Ulrike Leitner147 wird lediglich die französische Übersetzung der »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«148 erwähnt. Ausgerechnet die fast unbekannten, frühen französischen Aufsätze werden aufgrund ihres geringen Umfanges weggelassen. Dabei böte doch gerade eine Untersuchung dieser Werke einen aufschlussreichen Einblick in den wichtigen wissenschaftlichen Informationsaustausch zwischen Deutschland und Frankreich sowie in die Genese von Alexanders wissenschaftlicher Position bis 1800. Betrachtet man die französischen Schriften Humboldts im Einzelnen, so beeindruckt die Vielfalt ihrer Themen. Man findet Arbeiten zur Pflanzenphysiologie, Geologie, Mineralogie, Physik, Chemie sowie zum weitläufigen Bereich des Galvanismus und der von Humboldt begründeten ›vitalen Chemie‹. Die Chronologie dieser Werke, erschienen zwischen 1792 und 1799, sieht folgendermassen aus: - Sur la couleur verte des v¦g¦taux qui ne sont pas expos¦e — la lumiÀre. Lettre — M. Delam¦thrie. In: Journal de Physique, XL [1792]. S. 154 – 155. - Sur l’influence de l’acide muriatique oxyg¦n¦ et sur l’irritabilit¦ de la fibre organis¦e, lu — l’Institut National. Lettre — M. Pictet, Prof. — GenÀve, du 24 Janvier [1796]. In: Millin, Magasin encyclop¦dique, VI. S. 462 – 467. - Lettre de M. Humboldt, sur une serpentine verte, qui possÀde — un haut degr¦ la polarit¦ magn¦tique. Lettre — M. van Mons du 2 Nov. 1796, traduite de l’Allemand par le citoyen Halma. In: Annales de Chimie, XXII, (1797). S. 47 – 50. - Extrait d’une lettre de M. Humboldt — M. Blumenbach, contenant de nouvelles exp¦riences sur l’irritation caus¦e par les m¦taux, relativement — l’impression diff¦rente que les animaux en reÅoivent. Lu — la 1er classe de l’Institut, le 11 frimaire, an 5 [1796], par le citoyen Guyton. In: Annales de Chimie, XXII, (1797). S. 51 – 63. - Lettre de M. Von Humboldt — M. Vans Mons, sur le proc¦d¦ chimique de la vitalit¦. Bayreuth, 29. D¦cembre 1796. In: Annales de Chimie, XXII, (1797). S. 64 – 76. - Sur la physiologie des plantes. In: Annales de Chimie, XXIV, (1797). S. 173. - Lettre de Fr¦deric Humboldt au C. Fourcroy sur l’application pr¦matur¦e de quelques d¦couvertes chimiques — la m¦decine. In: Annales de Chimie, XXVII, (an VI). S. 62 – 66. 146 Bruhns (1872), Bd. 2. S. 488 ff. 147 Fiedler / Leitner (2000) 148 Exp¦riences sur le Galvanisme, et en g¦n¦ral sur l’irritation des fibres musculaires et nerveuses, de Fr¦d¦ric-Alexandre Humboldt; Traduction de l’Allemand, publi¦e, avec des additions, par J.Fr.N. Jadelot, m¦decin. Paris, Fuchs an VII [1799]. Nicht erwähnt wird in der Angabe von Fiedler und Leitner, dass dieses Werk von Gruvel übersetzt wurde.

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- M¦moire sur la Combinaison ternaire du Phosphore, de l’Azote et de l’OxigÀne, ou sur l’existence des Phosphures d’azote oxid¦s, par M. Fr¦deric Humboldt, conseiller des Mines du roi de Prusse; lu — l’Institut national, le 1er Thermidor, an 6. In: Annales de Chimie, XXVII, Nr. 80, (an VI). S. 141 – 160. - Exp¦riences sur le Gaz nitreux, et ses combinaisons avec l’OxigÀne; par Alexandre-Fr¦deric Humboldt. In: Annales de Chimie, XXVIII, (an VI). S. 123 – 180. - Notice sur la cause et les effets de la dissolubilit¦ du gaz nitreux dans la solution du sulfate de fer ; par Humboldt et Vauquelin. In: Annales de Chimie, XXVIII, (ans VI). S. 181 – 188. - Exp¦riences sur le Galvanisme, et en g¦n¦ral sur l’irritation des fibres musculaires et nerveuses, de Fr¦d¦ric-Alexandre Humboldt; Traduction de l’Allemand, publi¦e, avec des additions, par J.Fr.N. Jadelot, m¦decin. Paris, Fuchs an VII [1799]. - Lettre de Humboldt — J.-C. Delam¦therie, sur l’absorption de l’oxigÀne par les terres simples. In: Journal de physique, de chimie, d’histoire naturelle et des arts. Tome 48. Nivúse an VII [1799]. S. 132 – 135. - Lettre de Humboldt — J.-C. Delam¦therie, sur la composition chimique de l’AtmosphÀre. In: Journal de physique, de chimie, d’histoire naturelle et des arts. Tome 48. Nivúse an VII [1799]. S. 189 – 201. Diese Liste zeigt deutlich, wie intensiv sich Alexander von Humboldt von Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere an um einen Austausch der neusten Forschungsergebnisse mit den Kollegen in Paris bemühte. Doch nahm man in Frankreich nicht nur seine Schriften zur Kenntnis – einige wurden sogar am ›Institut National‹ vorgelesen –, sondern die Resultate seiner Versuche wurden auch empirisch überprüft.149 »Ich sehe mit Freuden, dass Va u q u e l i n sich mit meinen Versuchen über die belebte Chemie beschäftigt«, schrieb Humboldt beispielsweise an Friedrich Gren, den Herausgeber des »Neuen Journals der Physik«.150 Nicht immer konnten seine Ergebnisse von den Franzosen bestätigt werden, doch lieferten ihre unterschiedlichen Resultate und Interpretationen fruchtbare Anregungen für Alexanders weitere Studien. 149 Auch Pierre Huard betont die Bedeutung von Alexander von Humboldts Arbeiten für die in den Neunzigerjahren so intensiv diskutierte Frage des Galvanismus. Humboldt wurde sogar als Experte nach Paris eingeladen. »Ainsi l’Acad¦mie des Sciences nomma-t-elle une commission (1796) pour v¦rifier les conclusions de Galvani. Cette commission entra en rapport avec Alexander von Humboldt qui venait d’arriver — Paris (1798) ayant fait quelque trois mille exp¦riences — ce sujet.« (Huard (1970), S. 154 f.) [»Deshalb berief die Akademie der Wissenschaften eine Kommission (1796), um die Schlussfolgerungen von Galvani zu überprüfen. Diese Kommission trat in Verbindung mit Alexander von Humboldt, der in Paris ankam (1798), nachdem er etwa dreitausend Versuche zu diesem Problem gemacht hatte.«] 150 Jahn / Lange (1973), S. 562 f. (Brief Nr. 391 vom 24. Dezember 1796).

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Aber zunächst war es Alexander von Humboldt selbst, der sich für die wissenschaftlichen Arbeiten der französischen Zeitgenossen interessierte. Einen ersten Hinweis auf seine frühe Beschäftigung mit der französischen Wissenschaft erhalten wir in seiner ersten selbstständigen Publikation, in den »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein«,151 in welcher sich Humboldt mit den Resultaten einer Forschungsreise, die er mit dem Holländer Steven Jan van Geuns im Jahre 1789 unternommen hatte, auseinandersetzte. Aus der anonym erschienenen Abhandlung erfahren wir, dass sich Alexander mit den Werken von Jean-Andr¦ Deluc und D¦odat de Dolomieu beschäftigt hatte, welche damals zu den bekanntesten französischen Geologen und Mineralogen gehörten. Als Alexander von Humboldt seinem zukünftigen Lehrer an der Bergakademie in Freiberg, Abraham Gottlob Werner, ein Exemplar seiner mineralogischen Schrift übersandte, erwähnte er im Begleitbrief auch den Namen von Deluc, dessen »Lettres physiques et morales« er wohl gelesen hatte. Zwar bezeichnete er sie etwas abfällig als »geognostische Gedichte«, doch da sich Humboldt mit seinem Brief für einen Studienplatz in Freiberg bewerben wollte, ist diese Äusserung sehr kritisch zu bewerten.152 Deluc war nämlich ein Gegner der Neptunismus-Theorie, deren Hauptvertreter damals Werner war. Warum sollte also Alexander in einem Brief an Werner ausgerechnet dessen Kontrahenten Deluc lobend erwähnen? Einige Jahre später hat Humboldt, als er mit seinem Freund Freiesleben eine Forschungsreise durch die Schweiz unternahm, Deluc in Genf persönlich kennengelernt. Beide blieben einander auch in Zukunft freundschaftlich verbunden. Weitere entscheidende Impulse für die Beschäftigung mit der französischen Wissenschaftsliteratur erhielt Alexander auf seiner gemeinsamen Reise mit Georg Forster an den Rhein, nach England, Holland und Frankreich. Auf dieser Reise im Jahre 1790 begegnete ihm Christoph Girtanner, den er aus Göttingen kannte und der ihn mit den neusten Studien des Chemikers Antoine Laurent de Lavoisier bekannt machte. Wie wir bereits gesehen haben, war Alexander einer der eifrigsten Anhänger der modernen quantitativen Chemie und engagierte sich besonders für die Bekanntmachung und Verbreitung der antiphlogistischen Sauerstofftheorie in Deutschland. Während seiner Studienzeit in Freiberg beschäftigte sich Alexander von Humboldt neben seiner bergmännischen Tätigkeit auch mit Botanik und Pflanzenphysiologie. Die daraus resultierenden Schriften »Versuche und Beob-

151 Humboldt, A. (1790) 152 Jahn / Lange (1973), S. 99 f. (Brief Nr. 49 vom 25. Juli 1790). Siehe dazu auch Kapitel I.2.b). Der Brief wird auf Seite 67 f. dieser Arbeit zitiert.

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achtungen über die grüne Farbe unterirdischer Vegetabilien«,153 »Plantas subterraneas descripsit«154 und »Florae Fribergensis specimen. Planta cryptogamicas praesertim subterraneas exhibens. Accedunt aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum«155 enthalten zahlreiche bibliografische Angaben zu wissenschaftlichen französischen Werken. Überblickt man beispielsweise das Namenregister zu den »Aphorismen aus der chemischen Physiologie der Pflanzen«, so beeindruckt die überwältigende Anzahl der darin vermerkten zeitgenössischen französischen Naturforscher. Die Fussnoten zur Abhandlung machen zudem deutlich, dass Humboldt sich mit den Quellen intensiv auseinandergesetzt hatte. Doch enthalten sie auch bibliografische Angaben zu älteren Werken. Daraus lässt sich ersehen, wie eingehend sich Humboldt auch mit der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse beschäftigt hatte. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, Alexanders ausgedehnte Lektüre französischer Schriften zu belegen. Wir können also bereits am Anfang von dessen Karriere als Naturforscher feststellen, wie wichtig die Rezeption der ausländischen – und insbesondere der französischen – Literatur für ihn war. Schon bald berichtete Alexander von Humboldt denn auch über seine eigenen pflanzenphysiologischen Forschungen in französischen Journalen. Die Bedeutung, die er dem internationalen Austausch der Naturwissenschaftler gab, unterstreicht der Brief »Lettre de M. Von Humboldt — M. Vans Mons, sur le proc¦d¦ chimique de la vitalit¦«, den er an den Chemiker van Mons schrieb: »J’ai adress¦ r¦cemment plusieurs lettres — Mrs. Dolomieu et Fourcroy, — Paris. Je vois, par celles que le premier m’a ¦crites, qu’elles se sont ¦gar¦es. Permettez, Monsieur, que je prenne la libert¦ de m’adresser — vous. Par votre organe, je pourrai, peut-Þtre, faire parvenir — Paris quelques ¦claircissemens sur des faits, qui, — ce que je sais, occupent l’institut national. Agr¦ez en mÞme tems les assurances de la haute consid¦ration que depuis long-tems m’ont inspir¦e votre zÀle et vos d¦couvertes chimiques. Les naturalistes de l’Europe ne devroient former qu’une seule famille; on se rapproche facilement quand on suit le mÞme but.«156

153 154 155 156

Humboldt, A. (1792a). Bd. 5. 1. Heft. Humboldt, A. (1792b). S. 53 – 58. Humboldt, A. (1793). Humboldt, A. (1797 g), S. 64. [Hervorhebung von mir.] [»Ich habe kürzlich mehrere Briefe an die Herren Dolomieu und Fourcroy in Paris gesandt. Ich sehe aus denjenigen, die Ersterer mir geschrieben hat, dass diese abhanden gekommen sind. Erlauben Sie, dass ich mir die Freiheit nehme, mich an Sie zu wenden. Durch Ihr Journal werde ich vielleicht in Paris zu einigen Aufklärungen über Tatsachen gelangen können, welche, soviel ich weiss, das Nationalinstitut beschäftigen. Erlauben Sie gleichzeitig die Versicherung des hohen Ansehens, welches seit langer Zeit Ihr Eifer und Ihre chemischen Entdeckungen in mir eingeflösst haben. Die Naturalisten Europas sollten eine einzige Familie bilden; man nähert sich leicht, wenn man das gleiche Ziel verfolgt.«]

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Diese Forderung nach wissenschaftlicher Zusammenarbeit und Kommunikation über alle nationalen und sprachlichen Grenzen hinweg hielt Humboldt stets aufrecht. Die Modernität dieses Anliegens wird deutlich, wenn man sich die damaligen politischen Bedingungen, unter denen die Wissenschaftler arbeiten mussten, vor Augen hält. Die Jahrzehnte nach der französischen Revolution waren von kriegerischen Konflikten geprägt. Während Napoleons Aufstieg zum Herrscher über fast ganz Europa und der Koalitionskriege wurde ausländischen Wissenschaftlern nicht selten mit Misstrauen begegnet. Zudem verhinderten koloniale Bestrebungen verschiedener Nationen den freien Zugang zu manchen noch unerforschten Territorien. So waren Forschungsreisen stets vom Wohlwollen der zuständigen Regierungen abhängig. Auch Alexander von Humboldt musste zuerst zahlreiche Hindernisse, welche in der zeitgenössischen Machtpolitik begründet waren, überwinden, ehe er mit seinem Freund Aim¦ Bonpland nach Südamerika aufbrechen konnte. Umso bemerkenswerter ist es, dass er als protestantischer Preusse gemeinsam mit einem katholischen Franzosen freien Zugang zu sämtlichen spanischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent bekam.157 Eine weitere geplante Forschungsreise nach Ostindien und in den Himalaja konnte er nicht verwirklichen, da die englische Regierung die bereits zugesicherte Reiseerlaubnis wieder zurückzog.158 Das Misstrauen gegenüber einem Preussen, der seine Reise zu Spionagetätigkeiten missbrauchen könnte, und die Angst vor wissenschaftlicher Konkurrenz waren bei den Engländern zu gross. Alexander von Humboldts Eintreten für den internationalen Austausch zwischen den Naturwissenschaftlern, seine fleissige Rezeption ausländischer Schriften und die Veröffentlichung eigener Schriften im Ausland, vornehmlich in Frankreich, haben aber einen tieferliegenden Beweggrund. Sie sind in Humboldts Zuversicht in den Fortschritt der Wissenschaften und in das darauf gestützte Vertrauen in die Weiterentwicklung der Menschheit verankert. Die Wurzeln seiner Zielsetzung mögen in der frühen Ausbildung und Erziehung zu suchen sein. Wie wir gesehen haben, wurden Alexanders und Wilhelms erste Jahre stark von Vertretern der Spätaufklärung geprägt. Hier ist nicht zuletzt an Herder zu denken, dessen Darstellung der Menschheitsgeschichte als einer fortlaufenden Entwicklung zur ›Humanität‹ gerade in den Jahrzehnten vor und nach 1800 sehr wirkungsmächtig war. Nach Herders – und Humboldts – Verständnis kann dieses Ziel aber nur erreicht werden, wenn kleingeistige nationale Vorurteile überwunden werden. Um das Wohl der ganzen Menschheit zu fördern 157 Zum portugiesischen Kolonialbesitz bekamen die beiden Reisenden hingegen keine Zutrittserlaubnis. Sie wurden deshalb von den portugiesischen Grenzsoldaten scharf beobachtet, als sie mit ihrer Piroge den Rio Negro, die heutige Grenze zu Brasilien, hinabfuhren. 158 Vergleiche dazu auch Seite 141; Anm. 187.

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bedarf es keiner eifersüchtigen Konkurrenz der Völker untereinander, sondern des gegenseitigen Austauschs miteinander. Besonders die Wissenschaft hat dabei gemäss Humboldts Auffassung eine wichtige Funktion, erwartete er doch von ihr wesentliche Beiträge zum Fortschritt der Zivilisation. Alexander war schon früh der Ansicht, mit einem tieferen Einblick in die Zusammenhänge der Natur könne man das Leben der Menschen verbessern und erleichtern. Neue Arzneien, die bisher unheilbare Krankheiten kurieren, Maschinen, die den Menschen die körperlichen Arbeiten abnehmen, oder neue Technologien, die die Lebensmittelproduktion steigern können, waren letztlich Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung. Dieser Optimismus war angesichts der zahlreichen Erfindungen und Entdeckungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus berechtigt. Gerade in der Chemie, Pflanzenphysiologie, Geophysik und Elektrophysik, in Bereichen also, in denen Humboldt selbst sehr bewandert war, wurden immense Fortschritte erzielt. Doch sah Humboldt, der ›Demokrat von 1790‹, wie er sich oft selbst bezeichnete, diese Entwicklung in Gefahr, wenn Regierungen die wissenschaftliche Freiheit zu beschneiden versuchten oder die Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse eifersüchtig unter Verschluss halten wollten. Bestärkt wurde Alexander von Humboldt in seiner Ansicht, dass der Gedankenaustausch unter den Naturforschern von grosser Wichtigkeit für den Fortschritt sei, von niemand Geringerem als Goethe. Dieser forderte Humboldt immer wieder auf, die Ergebnisse seiner Experimente zu veröffentlichen, selbst wenn diese noch nicht hieb- und stichfest waren: »Geben Sie uns ja Ihre Versuche sobald als möglich gedruckt und im Zusammenhange. In wissenschaftlichen Dingen kann man sich nie übereilen. Was man richtig beobachtet hat, wirkt tausendfältig auf andere und von ihnen wieder auf uns zurück. Wenn man etwas übersieht oder aus gewissen Datis zu geschwinde folgert, das braucht man sich nicht reuen zu lassen.«159

Doch dieser Einschätzung Goethes steht die Ansicht Antoine FranÅois de Fourcroys diametral gegenüber. Der berühmte französische Chemiker kritisierte gerade Alexander von Humboldts »zu geschwinde« Schlussfolgerungen aus seinen Versuchsreihen. Wie sehr sich Alexander solche Anregung und Kritik auch aus dem Ausland zu Herzen nahm, zeigt eine Auseinandersetzung, die er mit Fourcroy in den »Annales de Chimie« geführt hatte. Auslöser dieser Kontroverse war ein Brief Humboldts an van Mons in den »Annales de Chimie«,160 welcher ebenfalls in deutscher Übersetzung in »Grens Neuem Journal der Physik«161 publiziert wurde. Darin schilderte Alexander ei159 Bratranek (1876), S. 309 f; Brief vom 21. Juni 1795. 160 Humboldt, A. (1797 g), S. 64 – 76. 161 Humboldt, A. (1797b)

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nige Versuche, welche er im Zusammenhang mit seinen galvanischen Experimenten auch über den chemischen Lebensprozess angestellt hatte. Er glaubte gezeigt zu haben, dass nicht »[…] l’oxigÀne joue l e p r e m i e r rúle dans le proc¦d¦ de la vitalit¦. Mes exp¦riences prouvent que l’incitabilit¦ ou le ton de la fibre ne d¦pend que de l a b a l a n c e r ¦ c i p r o q u e e n t r e t o u s l e s ¦ l ¦ m e n s d e l a f i b r e , l’azote, l’hidrogÀne, le carbone, l’oxigÀne, le soufre, le phosphore, etc. Les combinaisons chimiques du phosphore et de l’azote, par exemple, paroissent Þtre tout aussi importantes que celles de l’oxigÀne avec les bases acidifiables. Quel jour ne r¦pandez vous pas, et les Fourcroy, et les Vauquelin, sur ces objets?«162

Fourcroy, auf diese Weise angesprochen, fühlte sich genötigt, gegen allzu voreilige Schlussfolgerungen des jungen Preussen Einspruch zu erheben. In seinen Augen standen die Fortschritte in den Naturwissenschaften auf dem Spiel, wenn man Hypothesen, ohne sie genügend überprüft zu haben, als Tatsachen ausgibt. Fourcroys Warnungen an die Adresse Humboldts erfolgten unverzüglich und in scharfen Worten: »Je pense que M. Humboldt va un peu trop vite dans ses explications; il est — craindre qu’il ne soit oblig¦ de reculer ; je crains qu’il n’admette trop d’hypothÀses (1); qu’il ne multiplie point assez chaque exp¦rience avant d’en tirer une conclusion: cela est surtout bien plus important pour la physique animale que pour toutes les autres branches de la philosophie naturelle, parce qu’elle est entour¦e de difficult¦s sans nombre, et de sources multipli¦es d’erreurs et d’illusions. J’ai peur que, si quelques chimistes continuent de se presser autant, les m¦decins n’aient bientút raison de crier contre c e t e m p i ¦ t e m e n t de la chimie. […] Trop d’empressement — cet ¦gard peut ¦galement nuire — la chimie et — la m¦decine, et arrÞter les progrÀs que la premiÀre peut et doit faire faire — la seconde.«163 162 Humboldt, A. (1797 g), S. 70 f. [»[…] der Sauerstoff die e r s t e R o l l e in dem Prozesse der Vitalität spiele. Meine Versuche beweisen, dass die Reitzbarkeit oder der Ton der Faser nur von dem r e c i p r o k e n G l e i c h g e w i c h t e z w i s c h e n a l l e n E l e m e n t e n d e r F a s e r , dem Stickstoffe, dem Wasserstoffe, u.s.w. abhängt. Die chemischen Verbindungen des Phosphors und des Stickstoffs z. B. scheinen eben so wichtig zu seyn, als die des Sauerstoffs mit den sauerfähigen Grundlagen. Welches Licht werden S i e , und die F o u r c r o y und die V a u q u e l i n , über diese Gegenstände verbreiten!« (Humboldt, A. (1797b). Bd. 4. S. 176.)] 163 Fourcroy (1797a), S. 77 f. Die deutsche Übersetzung in Grens Neuem Journal lautet: »Ich glaube, dass Herr v o n H u m b o l d t etwas zu schnell in seinen Erklärungen geht; und es ist sehr zu fürchten, dass er genöthigt ist, wieder zurück zu treten. Er lässt zu viele Hypothesen zu; er vervielfältigt nicht genugsam jede Erfahrung, ehe er einen Schluss daraus zieht. Dies ist aber insbesondere für die thierische Physik noch weit wichtiger, als für die andern Zweige der Naturwissenschaft, weil sie mit Schwierigkeiten ohne Zahl und mit vielfachen Quellen zum Irrthum und zur Täuschung umgeben ist. Ich fürchte, dass, wenn einige Chemisten so fortfahren, sich so sehr zu drängen, die Aerzte bald Ursach haben, gegen diese A n m a s s u n g der Chemie zu schreyen. […] Die zu grosse Eil hierbey kann der Chemie und Medicin gleich schädlich werden, und die Fortschritte aufhalten, welche die erstere der

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(1) Par exemple, il parle dans le pr¦c¦dent m¦moire de l’azote des alcalis, comme s’il ¦toit d¦montr¦ que l’azote est un des principes des alcalis, ce que j’ai le premier annonc¦ ou soupÅonn¦, il y a huit ans, mais ce qui n’est pas prouv¦.

Der Vorwurf des übereilten Vorgehens musste Alexander von Humboldt zutiefst getroffen haben, warnte er doch selbst stets vor haltlosen Spekulationen, die lediglich auf voreilig postulierten Hypothesen beruhten. Es erstaunt denn auch nicht, dass er sich unverzüglich gegen Fourcroys Kritik verteidigte. In einem Antwortbrief (»Lettre de Fr¦deric Humboldt au C. Fourcroy sur l’application pr¦matur¦e de quelques d¦couvertes chimiques — la m¦decine«) vom 30 Messidor, an 6 (18. Juli 1797), der wiederum in dem damals führenden Journal für Chemie und Physik, in den »Annales de Chimie«, abgedruckt wurde, setzte er sich gegen die Kritik des Franzosen zur Wehr. Nachdem er eingangs seines Antwortschreibens Fourcroy seiner Bewunderung und Anerkennung für dessen Verdienste um die moderne Chemie versichert hatte, wehrte er sich vehement gegen den Vorwurf, je Behauptungen leichtfertig aufgestellt zu haben: »Ma premiÀre jeunesse a ¦t¦ vou¦e — l’¦tude de la botanique et de la g¦ologie. Je m’occupois toujours de la contemplation de la nature mÞme. Toutes les personnes sous les yeux desquelles je travaille, savent que je suis sans rel–che occup¦ d’exp¦riences chimiques. J’en ai fait r¦cemment sur la mofÀte [sic], dont l’effet auroit pu Þtre funeste — ma sant¦. Cela n’est pas, sans doute, le train de vie d’un homme qui ne se pla„t qu’— agrandir le nombre des h y p o t h À s e s brillantes.«164

Aufschlussreich an Humboldts Antwort ist indessen sein Erklärungsversuch für die Ursache des Missverständnisses, welches seiner Meinung nach dem Schreiben Fourcroys zugrunde lag. Denn Alexander vermutete, dass der Franzose die Formulierung »p r o c ¦ d ¦ c h i m i q u e d e v i t a l i t ¦ «165 falsch interletztern machen lassen kann und muss.« (Fourcroy (1797b), S. 180 f.) Die Fussnote des Originals wurde in Grens Journal nicht übersetzt: »Zum Beispiel spricht er im vorangehenden Memoire vom Stickstoff der Alkalien, als ob gezeigt worden wäre, dass der Stickstoff eines der Prinzipien der Alkalien sei, was ich als Erster vor acht Jahren angekündigt und vermutet habe, was aber nicht bewiesen ist.« Diese Kritik bezieht sich wohl auf folgende Stelle in Humboldts Bericht: »Le stimulus le plus fort de la fibre nerveuse est celui de l’a l c a l i . Il paro„t que c’est par leur azote que ces sels jouent ce rúle dans le systÞme irritable et sensible.« (Humboldt, A. (1797 g), S. 65.) [»Der stärkste Stimulus der Nervenfaser ist derjenige des A l k a l i s . Es scheint, als mache es sein Stickstoff aus, dass diese Salze jene Rolle im reizbaren und sensiblen System spielen.«] 164 Humboldt, A. (1797i), S. 64 f. [»Meine früheste Jugend war dem Studium der Botanik und der Geologie gewidmet. Ich beschäftigte mich immer mit der Anschauung der Natur selbst. Alle Personen, unter deren Augen ich arbeite, wissen, dass ich unaufhörlich mit chemischen Experimenten beschäftigt bin. Ich habe kürzlich welche mit giftigem Gas gemacht, dessen Wirkung für meine Gesundheit verhängnisvoll hätte sein können. Das ist ohne Zweifel nicht die Lebensweise eines Mannes, der sich nur darin gefällt, die Zahl der brillanten H y p o t h e s e n zu vermehren.«] 165 Ibid. S. 62. [»chemischer Prozess der Vitalität«]

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pretiert hätte. Dafür gab er den in England, Italien und Deutschland verbreiteten »systÞmes hypoth¦tiques«166 die Schuld, welche zu einem Chaos in der Physiologie geführt hätten. Denn der darin oft vorkommende leichtfertige Gebrauch der Bezeichnung »chemischer Prozess der Vitalität« hätte die falsche Vorstellung suggeriert, die organischen Erscheinungen liessen sich ähnlich zerlegen wie neutrale Salze oder Metalloxide. Dagegen betonte Humboldt ausdrücklich, »que je suis bien ¦loign¦ d’admettre u n p r i n c i p e m a t ¦ r i e l d e l ’ i r r i t a b i l i t ¦ «167 und er hielt fest: »[…] mais que je crois fond¦s les ph¦nomÀnes de la matiÀre organis¦e dans la b a l a n c e r¦ciproque de t o u s les ¦l¦mens dont la fibre est compos¦e. Par-tout o¾ j’osai expliquer les faits je le fis sans air d’assurance et avec des expressions douteuses.«168

Damit distanzierte sich Humboldt von jeglicher materialistischen Erklärung des Lebens, ohne zugleich die Existenz einer nicht beweisbaren Lebenskraft zu behaupten. Sehr behutsam wählte er nun seine Worte aus, um nicht in den Verdacht zu kommen, ein allzu spekulativer Kopf zu sein. Die kritischen Einwände Fourcroys gegen sein methodisches Vorgehen zwangen ihn dazu, noch mehr als früher seine Schlussfolgerungen immer wieder selbstkritisch zu überdenken. Es scheint, als habe er das Bekenntnis des französischen Chemikers, welches dieser am Schluss seines Briefes abgegeben hatte, ebenfalls für sich verinnerlicht: »J’en ramasse [des mat¦riaux] peu-—-peu, mais il m’en manque trop pour hasarder la construction [de l’¦difice avec des hypothÀses]. Je crois cependant franchement que peu de chimistes ont plus de faits que moi sur l’analyse animale; mais ils ne sont pas encore assez rapproch¦s, assez appropri¦s les unes des autres, pour faire un monument entier : il ne seroit pas, —-coup-s˜r, AE r e p e r e n n i u s , etc. etc.«169

Die nachhaltige Wirkung von Fourcroys Ermahnung lässt sich, so meine These, bereits in Humboldts »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser 166 Ibid. [»hypothetische Systeme«] 167 Ibid. S. 63. [Hervorhebung von mir.] [»dass ich weit davon entfernt bin, e i n m a t e r i e l l e s P r i n z i p d e r I r r i t a b i l i t ä t gelten zu lassen«] 168 Ibid. [»aber ich glaube, dass die Erscheinungen der organischen Materie im gegenseitigen G l e i c h g e w i c h t a l l e r Elemente, aus denen die Fiber zusammengesetzt ist, begründet sind. Überall, wo ich wage, die Fakten zu erklären, mache ich dies ohne Anschein der Gewissheit und mit Ausdrücken des Zweifels.«] 169 Fourcroy (1797a), S. 80. Der Schluss dieses Briefes wurde in Grens Neuem Journal nicht übersetzt. [»Ich habe diese [Materialien] nach und nach gesammelt, aber es haben mir zu viele dazu gefehlt, um die Konstruktion [des Gebäudes aus Hypothesen] zu wagen. Unterdessen glaube ich freimütig, dass wenige Chemiker mehr Tatsachen als ich für die tierische Analyse haben; aber sie sind noch nicht genug angenähert, noch nicht genug aneinander angepasst, um ein ganzes Monument zu bilden: es wäre ganz bestimmt nicht dauerhafter als Erz, usw. usw.«] Fourcroy spielt hier auf eine Stelle in den »Carmina« von Horaz an: »Exegi monumentum aere perennius.«

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nebst Vermuthungen über den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt« feststellen. Dieses zweibändige Werk umfasst auf über 800 Seiten galvanische und chemische Experimente, die Alexander an Tieren, Pflanzen und an sich selbst vorgenommen hatte. Ich habe bereits in den Kapiteln III.4. und III.5. darauf hingewiesen, wie sich gerade anhand dieser physiologischen Schrift Alexander von Humboldts stärker werdende Zweifel am Vorhandensein einer ›vis vitalis‹ ablesen lassen. Im Gegenzug zu dessen vorsichtigeren Formulierungen bezüglich der nicht bewiesenen und rein spekulativen Hypothesen werden die mehrfachen Überprüfungen der beschriebenen Versuche immer wieder hervorgehoben.170 Mit sehr deutlichen Worten geschieht dies bereits in der Einleitung zum ersten Band. Fast wie ein feierliches Gelübde liest sich Humboldts Versicherung: »Ich merke daher im Allgemeinen an, d a s s i n d e n n a c h s t e h e n d e n F r a g m e n t e n k e i n w i c h t i g e r Ve r s u c h e n t h a l t e n i s t , w e l c h e r n i c h t stundenlang, auf wohlgetrockneten Glasplatten, an acht bis z e h e n v e r s c h i e d e n e n I n d i v i d u e n (meist kalt- und warmblütigen Thieren) vor mehreren erfahrenen, alle Nebenumstände sorgsam prüfend e n Z e u g e n w i e d e r h o l t w o r d e n i s t . Diese wahrhafte Versicherung, welche durch die erzählte langsame Entstehung dieser Schrift bewähret wird, schützt mich daher gegen den Einwurf, wodurch man schon manchen Angriff auf physikalische Irrthümer zurückschlug, als sey diese oder jene Erscheinung nur einmal, zufällig, unter unbeachteten Nebenumständen, auf Augenblicke vorgekommen. Ich habe aus meinen Notaten sorgfältig weggelassen, was mir in der Folge zweifelhaft schien.«171

Wird in dieser Erklärung vielleicht insgeheim Antoine FranÅois de Fourcroy angesprochen? Diese Möglichkeit besteht meiner Meinung nach durchaus. Inhaltlich bestehen auf jeden Fall Parallelen zwischen dieser feierlichen Versicherung und Alexanders Rechtfertigung im Brief an Fourcroy. Die Frage lässt sich allerdings nur dann bejahen, wenn der erste Band der »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« erst nach dem Brief von Fourcroy gedruckt worden wäre. Doch leider besitzen wir keinen eindeutigen Hinweis, wann genau 170 Gerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung der empirischen Überprüfbarkeit, die in den »Versuchen« manifest wird, ist interessant, dass sich Alexander von Humboldt auch auf einen französischen ›Id¦ologue‹ beruft, nämlich auf Condorcet: »C ’ e s t v o u l o i r ¦ t a b l i r d e s t h ¦ o r i e s a v a n t d ’ a v o i r r a s s e m b l ¦ l e s f a i t s , c ’ e s t construire, q u a n d o n n ’ a p a s m Þ m e e n c o r e observ¦; e r r e u r e x c u s a b l e , m a i s q u i d e t o u t t e m s a a r r Þ t ¦ l a m a r c h e d e n o s c o n n o i s s a n c e s . Condorcet, esquisse d’un tableau hist. des progrÀs de l’esprit humain, 1794. p. 61.« (Humboldt, A. (1797c), Bd. 1; S. 291; Anm.*.) [»Das heisst Theorien aufstellen wollen, bevor man die Fakten gesammelt hat, konstruieren wollen, wenn man noch nicht einmal genug beobachtet hat; das ist ein verzeihlicher Irrtum, aber einer, der zu allen Zeiten den Gang unserer Kenntnisse aufgehalten hat.«] 171 Ibid. Bd. 1; S. 13.

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der erste Band erschienen ist. Was wir indes wissen, ist das genaue Datum des Briefes von Fourcroy. Dieser ist nach dem Revolutionskalender auf den 11 Flor¦al des Jahres 5 datiert, also auf den 30. April 1797. Nun sollte das Buch laut einem Brief Humboldts an Freiesleben bereits zur Ostermesse desselben Jahres erscheinen.172 Ostern fiel 1797 auf den 16. April. Ob jedoch dieser Termin eingehalten wurde, lässt sich nirgends belegen. Denn noch war der Autor zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes – zwei Tage nach Ostern – mit der Ausarbeitung beschäftigt: »Den Rest meiner Musse wende ich an mein grosses physiol[ogisches] Werk vom Muskelreiz, wo schon zur Ostermesse der erste Band — 32 Bogen erscheint und wo von schon am 2ten gedrukt wird.«173

Dieser Satz enthält aber zweifelsfrei eine falsche Behauptung! Der zweite Band seines Werkes wurde nämlich frühestens im Februar 1798 vollendet und erschien wahrscheinlich erst Ende 1799.174 Wir dürfen also Alexanders eigenen Vorankündigungen seiner Schriften nicht allzu viel Glauben schenken. Gerade die »Versuche« sind offenbar unter grossem Zeitdruck herausgegeben worden, da Humboldt dieses Werk nach etlichen Verzögerungen endlich zum Abschluss bringen wollte.175 Auch bereitete er sich nach dem Tod seiner Mutter und nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst Ende 1796 intensiv auf seine geplante Reise nach Westindien vor. Entsprechend flüchtig fiel die Überarbeitung der »Versuche« aus, welche er unbedingt noch vor seiner Abreise beenden wollte. Als Beispiel möge dazu eine Stelle im zweiten Band dienen. Auf Seite 304 beschreibt Humboldt die Messungen des Sauerstoffgehalts der oberen Luftschichten sowie barometrische Höhenmessungen, die er zusammen mit seinem Freund Leopold von Buch durchgeführt hatte: »Am 19. Dezember dieses Jahres mass Herr von B u c h , ein Physiker, der eine rastlose Thätigkeit, Beobachtungsgenie und die ausgebreitesten chemischen Kenntnisse mit dem mineralogischen verbindet, mit meinem neuem S e n k b a r o m e t e r eine der Salzburger Voralpen, den Geisberg.«176

Da sich die beiden Naturforscher von Ende Oktober 1797 bis Ende April 1798 im Salzburgischen aufhielten, muss mit »d i e s e s Jahres« eindeutig 1797 gemeint sein. Doch knapp zwanzig Zeilen weiter unten erwähnt Alexander, dass die oben beschriebenen eudiometrischen Versuche am 30. Januar 1798 von Leopold von

172 173 174 175 176

Jahn / Lange (1973), S. 574. (Brief Nr. 402 vom 18. April 1797.) Ibid. Fiedler / Leitner (2000), S. 16 f. Siehe dazu auch meine Ausführungen auf Seite 223 dieser Arbeit, insbesondere Anm. 177. Humboldt, A. (1797c), Bd. II; S. 304.

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Buch wiederholt wurden.177 Somit müsste er im obigen Zitat »letzten Jahres« schreiben. Dieser offensichtliche Lapsus, der durchaus kein Einzelfall darstellt, zeigt sehr deutlich, in welcher Eile Humboldt sein Werk zum Abschluss bringen wollte. Deshalb ist es nicht abwegig anzunehmen, dass der erste Band nicht wie geplant zur Ostermesse erschienen war. Gestützt wird diese Vermutung auch durch einen Brief an Friedrich von Schuckmann von Mitte Mai 1797, in dem er dem Adressaten die Zusendung des ersten Bandes seiner »Versuche« »in wenigen Wochen« verspricht.178 Im Übrigen lässt sich der Versand seines Werkes erstmals in einem Begleitschreiben an Sir Joseph Banks belegen, welches auf den 20. Juni datiert ist.179 Somit wäre es durchaus denkbar, dass die oben zitierte Stelle aus der Einleitung eine unmittelbare Replik auf Fourcroys kritische Einwände zu Alexander von Humboldts methodischem Vorgehen bei dessen Experimenten darstellt. Sollte die Kritik Fourcroys auch nicht direkt in den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« ihre Wirkung gezeigt haben, so offenbart eine andere Mitteilung Alexander von Humboldts in seinem Antwortbrief an den Franzosen, dass sie den jungen Naturforscher aber zumindest zum Nachdenken angeregt hatte. Humboldt verweist in einer Fussnote seines Schreibens an Fourcroy auf den ersten Band seiner »Versuche«, der gerade erschienen sei und der eine Vielzahl von physiologischen Experimenten enthalte. Wiederum versichert er Fourcroy, dass er darin sorgfältig die Fakten von theoretischen Erklärungen getrennt habe und stets deutlich mache, wenn er lediglich Spekulationen äussere. Interessant ist nun Alexanders französische Übersetzung des Titels seiner physiologischen Schrift, welche erst 1799 von Gruvel ins Französische übertragen wurde: »Ve r s u c h e u b e r d i e g e r e i s t e N e r v e n f a s e r , etc. [sic!] Exp¦riences sur l’Irritation de la fibre nerveuse et musculaire, auxquelles sont joints des doutes sur le proc¦d¦ chimique de la vitalit¦ dans la matiÀre animale et v¦g¦tale. A Berlin, chez Decker, 1797.«180

Während hier Humboldt also von »doutes« (Zweifel) spricht, lautet der entsprechende Ausdruck in der deutschen Ausgabe »Vermuthungen«. Adäquater wäre eigentlich eine Übersetzung mit den französischen Begriffen ›supposition‹ oder ›pr¦somption‹ gewesen. Der französische Untertitel vermittelt somit den Eindruck, als sei der Autor sehr skeptisch in Hinsicht auf die Möglichkeit, den 177 Wie also konnte sich der zweite Band an Ostern 1797 bereits in Druck befinden…? Ibid. Bd. II; S. 305. 178 Jahn / Lange (1973), S. 579. (Brief Nr. 407 vom 14. Mai 1797.) 179 Ibid. S. 584. (Brief Nr. 411 vom 20. Juni 1797.) 180 Humboldt, A. (1797i), S. 63. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.]

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chemischen Lebensprozess überhaupt untersuchen zu können, skeptischer auf jeden Fall, als es der Originaltitel vermuten lässt. In der französischen Übersetzung von 1799 wird schliesslich der Nebensatz ganz weggelassen: »Exp¦riences sur le Galvanisme, et en g¦n¦ral sur l’irritation des fibres musculaires et nerveuses.«181

Hier ist lediglich von ›Versuchen‹ die Rede – der ›Lebensprozess‹ wird überhaupt nicht mehr erwähnt. Nun erkennen wir eine weitere Ursache für Alexander von Humboldts schon dargelegte tiefgreifende Erschütterung in seinem Glauben an eine spezielle Lebenskraft in den organischen Körpern. Ich habe am Ende des Kapitels über den »Rhodischen Genius« kurz darauf hingewiesen, dass auch die französischen Naturwissenschaftler zu Alexanders Hinwendung zu einer objektiven, auf genauen Beobachtungen und Experimenten gestützten Methode in seinen Forschungen beigetragen haben.182 Zum Zeitpunkt, als der »Rhodische Genius« in Schillers »Horen« erschien, also im Jahre 1795, bestanden beim jüngeren von Humboldt bereits Zweifel an der Beweisbarkeit der ›vis vitalis‹, obwohl dies der Aussage des Horenaufsatzes im Grunde widerspricht. Dass zu seiner Erschütterung nicht zuletzt die moderne französische Naturforschung ihren Teil beigesteuert hatte, erfahren wir aus Humboldts Kommentar zur dritten Auflage des »Rhodischen Genius«. Dort erwähnt dieser den »Trait¦ d’Anatomie et de Physiologie«, dessen Autor, F¦lix Vicq d’Azyr, schon 1786 eindringlich vor vitalistischen Spekulationen, wie sie Alexander von Humboldt dem Epicharmus in den Mund gelegt hat, warnte.183 Der Anatom und Mediziner F¦lix Vicq d’Azyr geht in der Einleitung zu seiner physiologischen und anatomischen Abhandlung auf die Frage ein, wie sich das ›Leben‹ manifestiere. Er zählt acht Merkmale auf, die einen lebenden Körper definieren: Verdauung und Ernährung, Fortpflanzung, Zirkulation der Säfte, Sekretionen, Atmung, Irritabilität, Knochenbildung, Sensibilität.184 Diese Merkmale bilden die Hauptmodifikationen des lebenden Systems: »Pour en [dans les principales modifications du systÞme vivant] d¦couvrir le m¦canisme, il faut rechercher parmi leurs effets quels sont ceux qui se rapportent aux loix bien ¦tablies de la Chimie ou de la Physique, et les distinguer soigneusement des effets

181 182 183 184

Humboldt, A. (1799d) Siehe Kapitel III.4.; Seite 236. Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Bd. V, S. 323. Vicq d’Azyr (1786), Tome I. S. 4. Anm. 1 – 8. [»La digestion et la nutrition.« »La g¦n¦ration.« »La circulation.« »Les s¦cr¦tions. «»La respiration.« »L’irritabilit¦.« »L’ossification.« »La sensibilit¦.«]

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qui n’ont point avec ces loix de liaison imm¦diate, ou au moins connue, et dont la cause nous est cach¦e.«185

Der Franzose unterscheidet somit sehr genau zwischen Lebensfunktionen, die beobachtet und empirisch überprüft werden können, und solchen, deren Ursachen uns verborgen bleiben. Deswegen kritisiert er auch explizit die Behauptungen von van Helmont und Stahl, welche in einem ›Archeus‹ beziehungsweise in der ›Seele‹ die imaginäre Ursache des Lebens sehen wollten. Vicq d’Azyr vermutet gar, dass die berühmten Gelehrten auf diese Weise ihre Unwissenheit unter dem Schleier der Philosophie verstecken wollten. Hingegen befürwortet er nachdrücklich die Bemühungen, die physikalischen Erscheinungen im Organismus mit allen Mitteln, die die Beobachtung und das Experiment zur Verfügung stellen, zu prüfen. Auch wenn dabei mitunter Fehler unterlaufen, so ist diese Methode doch die einzige, die zu gesicherten Erkenntnissen führt und sich nicht mit hypothetischen Annahmen zufrieden gibt: »En un mot, ces M¦decins dont on a de nos jours r¦fut¦ les erreurs, et que l’on appelle avec une sorte de d¦dain du nom de M ¦ c a n i c i e n s , ont-ils fait autre chose que d’abuser de la M¦canique et de la Physique? Parcequ’ils se sont trop press¦s d’en appliquer les connoissances — la M¦decine, parcequ’ils en ont fait un mauvais usage, faut-il que l’on y renonce? et, si l’on s’interdit cette source abondante, o¾ puisera-t-on pour enrichir notre art et perfectionner l’¦tude du corps humain?«186

Alexander von Humboldt verweist zwar in seinem Kommentar zum »Rhodischen Genius« lediglich auf die Seite der Einleitung des »Trait¦ d’Anatomie et de Physiologie«, auf welcher die oben zitierten Zeilen zu lesen sind. In seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« führt er jedoch diese Warnungen von Vicq d’Azyr fast vollumfänglich in einer Fussnote an und verleiht damit seinen eigenen Ermahnungen vor allzu spekulativen Hypothesen zusätzlich Nachdruck. Ähnlich wie der Franzose beschränkt er sich in den »Versuchen« auf die empirisch beobachtbaren Vorgänge in der organischen Materie: 185 Ibid. S. 4. [»Um darin [in den hauptsächlichen Modifikationen des lebenden Systems] den Mechanismus zu entdecken, muss man unter ihren Wirkungen diejenigen erforschen, welche sich auf die gut begründeten Gesetze der Chemie und der Physik beziehen, und sie sorgfältig von den Wirkungen unterscheiden, welche keine unmittelbare, oder zumindest keine bekannte, Verbindung mit diesen Gesetzen haben, und deren Ursache uns verborgen ist.«] 186 Ibid. S. 5. [»Mit einem Wort, diese Mediziner, denen man heutzutage die Fehler widerlegt hat, und die man mit einer Art von Verachtung mit dem Namen M e c h a n i s t e n belegt, haben sie etwas anderes gemacht als die Mechanik und Physik übertrieben? Weil sie sich zu sehr beeilt haben, die Kenntnisse daraus auf die Medizin anzuwenden, weil sie davon einen schlechten Gebrauch gemacht haben, muss man deswegen auf sie verzichten? und, wenn man sich diese reichliche Quelle versagt, woher könnte man dann unsere Kunst bereichern und das Studium des menschlichen Körpers vervollkommnen?«]

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

»Alles also, was in der organischen Materie vorgeht, kann (wie die Veränderungen der todten Natur) nach mechanischen und chemischen Gesetzen beurtheilt werden. Eine einzige Erscheinung, z. B. die willkührliche Muskelbewegung, welche Zahl l ö s b a r e r Probleme legt sie nicht den Naturphilosophen vor?«187

An dieser Stelle fügt Humboldt eine sehr umfangreiche Anmerkung mit dem besagten Zitat aus der Einleitung des »Trait¦ d’Anatomie et de Physiologie« an. Auf den ersten Blick scheint Alexander somit spätestens 1797 die ›materialistischen‹ Ansichten der modernen französischen Naturwissenschaft verinnerlicht zu haben. Doch vergleichen wir die Erklärung von Vicq d’Azyr und ihrer Zitierung bei Humboldt etwas genauer. Obwohl das Zitat bei Alexander von Humboldt sehr ausführlich ausfällt und beinahe eine ganze Seite beansprucht, weist es zwei nicht unwichtige Lücken auf. Zum einen lässt der Deutsche einen Teilsatz weg, in welchem Vicq d’Azyr besonders nachdrücklich den Irrtum van Helmonts und Stahls hervorhebt, gewissen Erscheinungen im organischen Körper hypothetische Ursachen zuzuschreiben: »Ils [van Helmont et Stahl] ont, sans doute, eu raison de dire, et nous pensons, comme eux, que certains ph¦nomenes se rencontrent seulement dans les corps organis¦s, et qu’un ordre particulier de mouvements et de combinaisons en fait la base et en constitue le caractere. {On se trompoit, sans doute, en leur assignant des causes hypoth¦tiques dont on a enfin d¦voil¦ l’insuffisance; mais} quelque ¦tonnantes qu’elles nous paroissent, ces fonctions, ne sont-elles pas des effets physiques plus ou moins compos¦s dont nous devons examiner la nature par tous les moyens que fournissent l’observation et l’exp¦rience, et non leur supposer des principes sur lesquels l’esprit se repose et croit avoir tout fait lorsqu’il lui reste tout — faire?«188

Ausgerechnet die im obigen Text in Parenthese {} gesetzte Stelle zitiert Humboldt – ohne auf die Lücke hinzuweisen – nicht in seiner Fussnote! Auf diese Weise lässt er offen, ob dem organischen Leben nicht letztendlich doch immaterielle Ursachen zugrunde liegen können. Während F¦lix Vicq d’Azyr unmissverständlich erklärt, dass man keine hypothetischen Ursachen für die Lebens187 Humboldt, A. (1797c), Bd. II; S. 48 ff. 188 Vicq d’Azyr (1786). Tome I. S. 4 f. [»Sie [van Helmont und Stahl] hatten ohne Zweifel recht gehabt zu sagen, und wir denken genauso wie sie, dass gewisse Erscheinungen nur in den organischen Körpern vorkommen, und dass eine besondere Anordnung der Bewegungen und Verbindungen darin die Grundlage ausmacht und die Wesensart bildet. Man irrte sich zweifellos, indem man ihnen hypothetische Ursachen zuwies, deren Ungenügen man schliesslich enthüllt hat; aber so erstaunlich uns einige dieser Funktionen erscheinen, sind sie nicht mehr oder weniger zusammengesetzte physikalische Wirkungen, deren Natur wir mit allen Mitteln, die die Beobachtung und das Experiment zur Verfügung stellen, prüfen müssen, und ihnen keine Prinzipien unterstellen, auf denen sich der Verstand ausruht und glaubt, alles gemacht zu haben, obwohl ihm alles zu machen übrigbleibt?«]

Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldt

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funktionen angeben darf, begnügt sich Alexander mit der Beteuerung, dass man diese nur mittels der wissenschaftlichen Methoden von Beobachtung und Experiment untersuchen kann. Die von ihm früher postulierte ›Lebenskraft‹ wird somit als Forschungsobjekt nicht mehr zugelassen, ihre Existenz ist jedoch trotzdem möglich. Vorsichtiger als der Franzose äussert sich hier Humboldt bezüglich der »causes hypoth¦tiques«. Denn würde er diese absolut negieren, müsste er sich konsequenterweise zum Materialismus bekennen. Doch davor schreckt er zurück. So ist es auch folgerichtig, dass Alexander den Schluss des besagten Abschnittes bei Vicq d’Azyr nicht mehr zitiert, nämlich die oben auf der Seite 407 wiedergegebene Stelle, wo der Franzose die verächtlich als ›Mechanisten‹ verunglimpften Ärzte verteidigt. Soweit will Alexander von Humboldt offensichtlich nicht gehen und belässt es bei der Forderung nach objektiven Untersuchungsmethoden. Die unvollständige Wiedergabe des französischen Zitats von F¦lix Vicq d’Azyr verdeutlicht uns das Ausmass des Dilemmas, in welchem sich Humboldt gegen Ende des 18. Jahrhunderts befand. Da er einige wenige Zeilen vor der Fussnote in seinen »Versuchen« noch von einem »unmateriellen Princip« spricht, das die »einzig bewegende Kraft, welche sich durch Anziehung und Ausdehnung äussert«,189 modifizieren kann, würde eine vollständige Zitierung im Widerspruch zu seinem eigenen Text stehen, dessen Aussage er doch gerade mit dem Hinweis auf den »Trait¦ d’Anatomie et de Physiologie« unterstützen möchte. Humboldt musste sich dieser Widersprüchlichkeit vollkommen bewusst gewesen sein, denn sonst liesse sich seine sorgfältige ›Überarbeitung‹ und Kürzung des Zitats nicht erklären. Dass er sich aber ausgerechnet im Umgang mit einer französischen naturwissenschaftlichen Schrift zu dieser Massnahme genötigt sah, dürfte kein Zufall sein. Ein weiterer interessanter Aspekt für Alexanders frühen Umgang mit den wissenschaftlichen Gepflogenheiten in Frankreich ist zudem die Tatsache, dass sein Horenaufsatz »Die Lebenskraft oder der rhodische Genius« erst 1828 ins Französische übersetzt wurde. Als Teil der zweiten Auflage der »Tableaux de la nature«190, die ebenso wie die zweite deutsche Auflage der »Ansichten der Natur« von 1826 mit zwei Beiträgen und weiteren Anmerkungen ergänzt wurde, erschien die kurze Erzählung »La force vitale, ou le g¦nie de Rhodes«191 erstmals in einer Übersetzung von JeanBaptiste Benoit EyriÀs. Im »Pr¦face du traducteur« erwähnt EyriÀs lediglich, dass »cette ¦dition contient aussi deux morceaux que l’auteur avait publi¦s s¦par¦189 Humboldt, A. (1797c), Bd. II; S. 48. 190 EyriÀs (1828) 191 Ibid. La force vitale, ou le g¦nie de Rhodes. Bd. II; S. 227 – 243.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

ment«.192 Da er von Humboldt mit der Übersetzung dieser zwei Beiträge, »Sur la structure et l’action des volcans dans les diff¦rentes r¦gions de la terre«193 sowie »La force vitale, ou le g¦nie de Rhodes«, beauftragt wurde, lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit daraus schliessen, dass diese zuvor noch nie ins Französische übertragen worden sind. Das Bemerkenswerte an dieser französischen Übersetzung der »Ansichren der Natur« ist, dass im Untertitel des Buches die Titel von vier der fünf Aufsätze aufgeführt werden – bis auf denjenigen des letzten Beitrages: der »Rhodischen Genius«. Anstelle des Titels des letzten Beitrages lesen wir nur ein »etc«.194 Humboldt verzichtete sehr wahrscheinlich auf eine frühere französische Übersetzung des »Rhodischen Genius«, weil er sich wohl durchaus bewusst war, dass seine poetische Darstellung der Lebenskraft im ›materialistischen‹ Paris am Ende des 18. Jahrhunderts nicht goutiert werden würde.195 Und ausserdem war es ihm damals sehr wichtig, gerade im Nachbarland als ernsthafter Wissenschaftler wahrgenommen zu werden – »Der rhodische Genius« hätte schlecht in dieses Bild gepasst! Bereits vor Alexander von Humboldts Eintreffen in Paris gegen Ende April 1798 übte daher die Wissenschaft in Frankreich einen sehr mächtigen Einfluss auf den zukünftigen Südamerikareisenden aus. Die frühzeitigen Kontakte mit dem Nachbarland spielten eine grosse Rolle in Alexanders wissenschaftlicher Ausbildung und trugen dazu bei, dessen abwehrende Haltung gegenüber der gleichzeitig dominanter werdenden deutschen Naturphilosophie zu stärken. Humboldt war mit dem französischen Wissenschaftsbetrieb bereits bestens vertraut, als er sich in Paris auf seine Reise vorbereitete. Daher vermag es nicht zu erstaunen, dass er seinen Aufenthalt in der französischen Metropole ganz anders erlebte als sein Bruder Wilhelm, der sich mit der französischen Wesensart so wenig zurechtfand. Der jüngere von Humboldt wusste sich an die dortigen Gegebenheiten besser anzupassen, da ihm bekannt war, welche Erwartungen man an einen Naturforscher stellte. Die geschilderten Auseinadersetzungen mit Fourcroy und Vicq d’Azyr dürften dies genugsam dokumentieren.

192 Ibid. S. VI. [»diese Ausgabe enthält auch zwei Stücke, die der Autor einzeln veröffentlicht hatte«] 193 Die deutsche Fassung »Über den Bau und die Wirkungsart der Vulcane in verschiedenen Erdstrichen« erschien erstmals 1823. 194 Tableaux de la nature, ou consid¦rations sur les d¦serts, sur la physionomie des v¦g¦taux, sur les cataractes de l’Or¦noque, sur la structure et l’action des volcans dans les diff¦rentes r¦gions de la terre, etc. 195 Humboldt kannte gewiss die heftige Kritik von Laplace an den poetischen Naturbeschreibungen des von ihm bewunderten Bernardin de Saint-Pierre. Als Wissenschaftler wurde dieser nie wahrgenommen.

Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldt

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V.3.b) Paris: Eine wissenschaftliche Heimat für Alexander von Humboldt Als Alexander von Humboldt Ende April 1798 in Paris eintraf, war er also in Frankreich längst kein Unbekannter mehr. Seinen Aufenthalt benutze er in erster Linie dazu, um sich auf seine geplante Reise vorzubereiten. Doch wie schon seinem Bruder Wilhelm durchkreuzte auch ihm der Italienfeldzug Napoleons die ursprünglichen Reisepläne. Wegen der drohenden Kriegsgefahr unterliess der jüngere Bruder die geologische Untersuchung der Vulkane in Italien. Seinem Plan, den Vesuv, Ätna und Stromboli genau zu vermessen, lag bereits damals das Konzept einer physikalischen Erdbeschreibung zugrunde, denn er wollte die erhofften Resultate mit zukünftigen Vermessungen der südamerikanischen Vulkane vergleichen. Als Ersatz für die Untersuchung der Vulkane Italiens diente ihm später der Pico de Teide auf Teneriffa, den er zu Beginn seiner Forschungsreise, auf der Hinfahrt nach Westindien, bestieg.196 Fortan musste Humboldt seine Reisepläne noch mehrere Male ändern. So bereitete er sich auf Reisen nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Algerien vor – ja, er hoffte für kurze Zeit gar auf eine britische Reiseerlaubnis für Ostindien.197 Doch stets verhinderten aktuelle oder drohende Kriege ihre Ausführung im letzten Moment. Auch der Plan einer Weltumsegelung im Auftrag des französischen Direktoriums, die unter der Leitung des Kapitäns Baudin durchgeführt werden sollte, scheiterte in letzter Minute – Frankreich benötigte das dazu vorgesehene Geld für Napoleons Kriegszüge. Das verbindende Moment aller dieser Vorhaben ist jedoch der Umstand, dass sie stets Paris zum Ausgangspunkt nahmen. In der französischen Metropole fand Alexander von Humboldt die idealen Voraussetzungen, sich die noch fehlenden Kenntnisse anzueignen und die modernsten (und besten) Messinstrumente zu erwerben. Schon damals war ihm eine solide Ausbildung in möglichst vielen empirischen Wissenschaften sehr wichtig, um später seine Reise nutzbringend durchführen und auswerten zu können. Geschult durch die Erfahrungen seines ehemaligen Reisegefährten Georg Forster, erachtete er das genaue Erfassen der faktischen Gegebenheiten eines fremden Landes als unabdingbar. Doch erforderte die rasche Entwicklung der Naturwissenschaften und der neuen Technologien im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bereits Kenntnisse, die nur von Experten vermittelt werden konnten. Alexander war sich dieser gestiegenen Anforderungen sehr bewusst und wählte daher gezielt 196 Nach seiner Amerikareise, von März bis Oktober 1805, holte Humboldt seine vereitelte Italienreise zusammen mit Leopold von Buch und Louis-Joseph Gay-Lussac nach. Durch den Vergleich der Vulkane Südamerikas und Europas entwickelte er seine Spaltentheorie, womit er den Zusammenhang zwischen der Anordnung der Vulkane und der Gebirgsbildung erklären konnte. (Vgl. Biermann, K.-R. (1991), S. 17.) 197 Jahn / Lange (1973), S. 637. (Vgl. seinen Brief an Sir Joseph Banks vom 15. August 1798.)

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

Paris als Ort für die Vorbereitung seiner Reise aus. So selbstverständlich dieses Vorgehen Humboldts heute erscheinen mag, selbst im 19. Jahrhundert wurden noch Forschungsreisen unternommen, die einer solchen gründlichen wissenschaftlichen Vorbereitung entbehrten.198 Kaum in der französischen Hauptstadt angekommen, nahm Alexander von Humboldt auch schon an der Schlussetappe zur Basismessung des Meridianabschnittes zwischen Dünkirchen und Barcelona teil, die von Baptiste Delambre und Pierre M¦chain geleitet wurde. Sie diente zur exakten Bestimmung des Urmeters, worauf das noch bis heute gültige metrische System beruht. Stolz berichtete er über »diese gewiss nicht unwichtige geographisch-astronomische Begebenheit«, die am 3. Juni 1798 zwischen Melun und Lieusaint vollendet wurde, in einem Brief an Franz Xaver von Zach,199 welcher auszugsweise in den »Allgemeinen Geographischen Ephemeriden« publiziert wurde.200 Während seines sechsmonatigen Aufenthaltes in Paris nutzte Humboldt konsequent die sich ihm bietenden Möglichkeiten, eine Vielzahl der damals weltberühmten Naturwissenschaftler kennenzulernen. Die Liste seiner Bekanntschaften ist sehr beeindruckend und enthält Namen wie de Lam¦therie, Fourcroy, Guyton, Prony, Vauquelin, Chaptal, Thenard, Robiquet, Delambre, Lalande, Jussieu, Desfontaines, de Candolle, Lamarck, Cuvier, Dolomieu, Colomb, Laplace und Borda.201 Doch blieb es meist nicht nur bei einem blossen Kennenlernen, sondern Alexander experimentierte und arbeitete auch mit vielen dieser Wissenschaftler zusammen: »Je vis avec tous les Naturalistes, je travaille avec Vauquelin dans son Laboratoire, j’ai fait quelques lectures — l’Institut National, j’ai tout le droit possible de l’accueil qu’on me fait […].«202

Der noch nicht dreissigjährige Alexander trat schon vor seiner Amerikareise, die ihm zu Weltruhm verhelfen sollte, in Frankreich nicht nur als Lernender, sondern auch als innovativer Wissenschaftler in Erscheinung, der selbstbewusst 198 So beklagt Humboldt noch 1852 gegenüber Heinrich Berghaus, wie bedauerlich es sei, dass der Afrikareisende Heinrich Barth ohne Kenntnisse in der geografischen Ortsbestimmung ins Innere des Kontinents aufgebrochen sei. Bei einem solchen Mangel »schweben und schwanken Barth’s Reiserouten stets in der Luft«. (Humboldt, A. (1959), S. 319.) 199 Jahn / Lange (1973), S. 632 ff. (Brief Nr. 445 vom 3. Juni 1798.) 200 Allgemeine Geographische Ephemeriden. Bd. 2; 2. Stück. Weimar 1798. S. 174 – 177. 201 Siehe dazu den Beitrag von Beck, H. (1999), S. 47 ff. Ebenso: Bitterling (1954). Bd. 98; Heft 3; S. 162. 202 Jahn / Lange (1973), S. 635. (Brief Nr. 446 an Marc-Auguste Pictet vom 22. Juni 1798.) [»Ich lebe mit allen Naturforschern, ich arbeite mit Vauqelin in seinem Laboratorium, ich habe einige Lesungen im Institut National gehalten, ich habe jegliches Recht des Zugangs, den man mir gewährt.«]

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seine eigenen Forschungsresultate präsentierte. So vermochte er seine berühmten Kollegen am ›Institut National‹ durchaus von seinen Arbeiten zu überzeugen: »Im National-Institut habe ich zwey M¦moirs über die Natur des S a l p e t e r - G a s und die Möglichkeit e i n e r g e n a u e n A n a l y s e d e r A t m o s p h ä r e vorgelesen, welche Gegenstände behandeln, die für die Theorie der S t r a h l e n b r e c h u n g nicht gleichgültig sind. Einen Theil meiner Versuche habe ich hier gemeinschaftlich mit Va u q u e l i n im Laboratorium der Ecole des mines glücklich wiederholt […] F o u r c r o y, Va u q u e l i n und G u y t o n sind jetzt mit mir von der Richtigkeit dieser Resultate überzeugt, wie von der Unvollkommenheit aller Phosphor- Schwefel- Eisenund Schwefel-Alcali-Eudiometer. Möchte diese Arbeit doch endlich wieder zur sorgfältigen Zerlegung des Dunstkreises führen, ein Gegenstand, der seit 8 – 10 Jahren ganz vernachlässigt worden ist.«203

Mag aus diesen Zeilen auch eine gewisse Eitelkeit sprechen, von der Humboldt durchaus nicht frei war, so können wir trotzdem konstatieren, dass dieser schon vor der Jahrhundertwende in der ›science community‹ voll integriert und akzeptiert war.204 Das bedeutet aber nichts anderes, als dass Humboldt die Methoden der sich formierenden modernen Naturwissenschaften voll und ganz verinnerlicht und selbst angewendet hatte. Sein holistisches Naturkonzept vermochte daran nichts zu ändern. Grundlegend war für ihn stets die empirische Untersuchung der Fakten, ohne die eine Wissenschaft im eigentlichen Sinn nicht denkbar ist. In dem bereits auf Seite 236 zitierten Brief an David Friedländer beteuert Alexander von Humboldt zwar, dass der »eigentliche, einzige Zweck« seiner Reise die Untersuchung des »Zusammen- und Ineinander-Weben aller Naturkräfte« sei. Aber zugleich ist er überzeugt, dass dazu »a l l e Erfahrungskenntnisse« notwendig sind, um dieses höhere Ziel überhaupt erreichen zu können.205 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Humboldt ungefähr sechzehn Monate später sein Hauptziel der Reise etwas anders beschreibt. Über 203 Humboldt, A. (1798b), S. 176. Als Resultat dieser Versuche stellt Humboldt fest: »Diese Arbeit beweist, dass aller Salpeter-Gas mit Stick-Gas gemengt ist, dass diese Beymengung die Affinität des Salpeter-Gas zum Sauerstoff nach einem, in Zahlen zu bestimmenden Verhältniss, modificirt, dass die vom unsterblichen L a v o i s i e r angegebene und überall nachgeschriebene Bestimmung von der Sättigung des Salpeter-Gas durch Oxygen falsch ist, und dagegen (wenn man auch mit dem unreinsten Salpeter-Gas operirt) doch eine genaue Reduction der F o n t a n a ’ s c h e n Grade auf Hunderttheile möglich ist.« (Ibid.) Diese Stelle zeigt deutlich, wie wenig sich Alexander von grossen Namen in seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit beeindrucken liess! 204 Dies bestätigt auch Lalande: »H a l l ¦ hat dem National-Institut einen grossen Bericht über den G a l v a n i s m gemacht; v . H u m b o l d t ist unseren Commissairen sehr nützlich gewesen. Sie haben sehr viele Versuche angestellt.« (Auszug aus einem Schreiben von La Lande. Paris, den 25. Jun., 1798. In: Ibid. S. 172.) 205 Abgedruckt in: Jahn / Lange (1973), S. 657. (Brief Nr. 469 vom 11. April 1799.)

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seine und Bonplands Betätigung in Neu-Andalusien, das heute zu Venezuela gehört, schreibt er an Fourcroy : »Etudier la formation du globe et des couches qui le composent, analyser l’atmosphÀre, mesurer avec les instrumens les plus d¦licats son ¦lasticit¦, sa temp¦rature, son humidit¦, sa charge ¦lectrique et magn¦tique, observer l’influence du climat sur l’¦conomie animale et v¦g¦table, rapprocher en grand la chimie de la phisiologie des Þtres organis¦s, voil— le travail que je me suis propos¦. Mais sans perdre de vue ce but principal de mon voyage, vous concevez facilement, mon digne ami, qu’avec beaucoup de volont¦ et un peu activit¦, deux hommes qui parcourent un continent inconnu, peuvent en mÞme tems rassembler bien des choses, faire bien des observations de d¦tail.«206

Genaue Untersuchungen, Messungen und Analysen gehören also zum Hauptziel der Reise. Dass es sich bei dem Adressaten des Briefes um Fourcroy, ein Mitglied des Pariser Nationalinstituts, handelt, spielt bei dieser Akzentuierung sicherlich ebenfalls keine unwesentliche Rolle.207 Trotzdem bleibt festzuhalten, wie sehr sich Alexander während seiner Reise über die Rolle des Naturwissenschaftlers definiert. Ein weiterer Grund für Alexander von Humboldts mehrmonatigen Aufenthalt in Paris lag darin, dass die französische Hauptstadt eine der besten Möglichkeiten bot, die exaktesten und neusten Instrumente für astronomische und physikalische Messungen zu erweben. Auf über drei Seiten listet er in seiner »Forschungsreise in den Tropen Amerikas« die Messinstrumente auf, welche er mit auf seine grosse Reise nahm.208 Die meisten davon erwarb Humboldt in 206 Humboldt, A. (1993), S. 101. Brief an Antoine FranÅois de Fourcroy vom 10. Oktober 1800. [Kursivgedruckte Hervorhebung von mir.] Richard Bitterling übersetzt diese Stelle folgendermassen: »Die Entstehung der Erde und der Gesteinsschichten, die sie zusammensetzen; die Zerlegung der Luft, die Messung ihrer Kompressibilität, ihrer Temperatur und Feuchtigkeit, ihrer elektrischen und magnetischen Ladung mit Präzisionsinstrumenten; die Bestimmung des Klimaeinflusses auf den Bau von Tieren und Pflanzen, die Physiologie der organischen Wesen im grossen chemisch zu ergründen, das ist die Arbeit, die ich mir vorgenommen habe. Aber ohne das Hauptziel meiner Reise aus dem Auge zu verlieren, können zwei Menschen bei gutem Willen und einiger Beweglichkeit, wie Sie, verehrter Freund, leicht verstehen werden, bei einer Reise durch einen unbekannten Kontinent gleichzeitig sehr viele Dinge sammeln und Einzelheiten beobachten.« (Bitterling (1954). Bd. 98; Heft 3; S. 163.) Die korrekte Übersetzung von »ce but principal de mon voyage« wäre »d i e s e s Hauptziel meiner Reise«. Entsprechend seiner Übersetzung interpretiert Bitterling die Textstelle als deutlichen Beleg dafür, dass Humboldt die eigentlichen Beobachtungen höher gewertet habe als die Sammeltätigkeit. Doch ist meiner Meinung nach die Passage so zu verstehen, dass Humboldt die physikalischen und geologischen Messungen sowie chemischen Analysen zum Hauptziel seiner Reise erklärt. 207 Siehe dazu auch das nächste Kapitel. 208 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 1. S. 34 ff. Siehe dazu auch: Seeberger (1999a), S. 57 f.; Seeberger (1999b), S. 59 – 61. Interessant ist im Vergleich dazu, dass Georg Forster in seiner »Reise um die Welt« die auf

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Paris, wo damals das führende Zentrum des Instrumentenbaus war. Doch nicht allein der Erwerb war wichtig für eine wissenschaftliche Forschungsreise, auch der Gebrauch dieser Präzisionsinstrumente bedurfte einer sorgfältigen Ausbildung. Daher war die erwähnte Teilnahme an der Meridianmessung von Melun eine hervorragende Gelegenheit für den jungen Naturforscher, die praktische Anwendung verschiedener Instrumente bei bedeutenden Geografen und Astronomen zu erlernen. Obwohl sich Alexander von Humboldt vor seiner grossen Mittel- und Südamerikareise lediglich wenige Monate in Paris aufhielt, können wir also feststellen, dass er zu dieser Zeit bereits bestens in den französischen Wissenschaftsbetrieb integriert war. Bei seinen Pariser Kontakten vor 1800 handelte es sich keineswegs nur um lose Tuchfühlung. Vielmehr verfolgte Humboldt von Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere an systematisch sein Ziel, von den massgeblichen Persönlichkeiten seiner Zeit akzeptiert zu werden. Daraus lässt sich ersehen, dass man zumindest in Bezug auf den jüngeren von Humboldt nicht von einer länderspezifischen Differenz zwischen einer ›französischen‹ und einer ›deutschen‹ Wissenschaft sprechen kann. Fühlte sich sein Bruder Wilhelm auch weniger glücklich in Paris, weil er die französische Wesensart als oberflächlich und die französische Wissenschaft als zu mathematisch-abstrakt empfinden mochte, so trifft dies keinesfalls auf Alexander zu. Die unterschiedliche Akzeptanz des in Paris vorgefundenen Wissenschaftsbetriebs liegt vielmehr an der, gemessen an deutschen Verhältnissen, ungewohnt fortgeschrittenen Spezialisierung der Wissenschaftsdisziplinen. Der jüngere Bruder fand in der französischen Hauptstadt die besten Voraussetzungen für seine Forschungsprojekte. Obwohl er keine spezifisch naturwissenschaftliche Ausbildung an den Universitäten von Frankfurt an der Oder und Göttingen erhalten hatte – Alexander studierte ja auf Wunsch seiner Mutter Kameralistik –, sah er sich selbst als Naturforscher. In Paris definierte er sich ganz selbstverständlich als Naturwissenschaftler und wurde dort auch stets als solcher betrachtet. Die besondere Situation des Umbruchs ermöglichte ihm eine breit gefächerte Ausbildung, die Spezialwissen aus den heterogensten Disziplinen umfassen konnte. James Cooks zweiter Weltumsegelung mitgenommenen Instrumente lediglich kurz in der Einleitung erwähnt: »In jedem Schiff befand sich ein Sternkundiger, den die Commission der Meeres-Länge besoldete. Im grössern Schiffe war es Herr W i l h e l m Wa l e s , der neulich die während der Reise gemachten Bemerkungen in einem Band herausgegeben hat; in der Adventure Herr W i l h e l m B a i l e y , der jetzo wieder auf einer neuen Reise mit Capitain C o o k begriffen ist. Sie hatten alle nöthige astronomische und nautische Instrumente, besonders vier Längen-Uhren, drey von A r n o l d , und eine nach dem Modell der H a r r i s o n s c h e n von K e n d a l verfertigt.« (Forster (1967), S. 31.) Dieses Zitat verweist auch auf die Aufgabenteilung bei einer Forschungsreise, die im Auftrag einer Regierung unternommen wurde. Im Gegensatz dazu sammelten, vermassen und dokumentierten Humboldt und Bonpland ihre Forschungsobjekte in eigener Regie, ohne fremde Hilfe oder Auftraggeber.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

Unter diesen Voraussetzungen war es für Alexander von Humboldt leichter, sich in Paris zu integrieren, als für seinen Bruder Wilhelm. Die Ursache dafür liegt also weniger in der ›französischen Wesensart‹ Alexanders,209 sondern vielmehr in dessen Interesse für die Naturwissenschaften. Zu jener Zeit um 1800, als sich die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen an den deutschen Universitäten erst allmählich zu etablieren vermochten, war es einem interessierten Wirtschafts- oder Geisteswissenschaftler noch möglich, sich die naturwissenschaftlichen Kenntnisse autodidaktisch anzueignen und als Naturwissenschaftler anerkannt zu werden.210 Der daraus resultierende Typus des ›Universalgelehrten‹ trat zurzeit der Jahrhundertwende noch in Erscheinung, wenn auch seine Tage bereits gezählt waren.211 Die Spezialisierung der Wissenschaften schritt in grossem Tempo voran. Während der gesamten Reise in Süd- und Mittelamerika stand Alexander von Humboldt nicht nur in brieflichem Kontakt mit seinem Bruder Wilhelm, dessen Frau Caroline und engen Freunden in Deutschland wie zum Beispiel Goethe, Karl Ludwig Willdenow oder Rudolf von Haeften, sondern auch mit zahlreichen Mitgliedern des Pariser Nationalinstitutes. Über den unterschiedlichen Stil und Inhalt seiner jeweiligen Korrespondenz werde ich im nächsten Kapitel näher eingehen. Hier sei nur erwähnt, dass die trotz grosser Hindernisse aufrechterhaltene Korrespondenz mit seinen Freunden in Frankreich Humboldts weitgehende Integration in den französischen Wissenschaftsbetrieb ebenfalls unterstreicht. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Alexander von Humboldt bereits vor seiner Rückreise aus Südamerika plante, seine gesammelten Daten in Paris auszuwerten. Liest man einen Brief an Delambre, geschrieben im Sommer 1803 in Mexiko, erfährt man, dass Alexander wohl nie beabsichtigte, nach seiner Ankunft in Europa unmittelbar nach Berlin zurückzukehren und an der dorti209 Gerade in Preussen wurde Alexander diese Charakterisierung oft mit einem negativen Unterton zugeschrieben, da wegen des stärker werdenden Nationalismus in Deutschland – und in Frankreich – das Nachbarland zunehmend kritisch, wenn nicht gar feindlich betrachtet wurde. 210 Bekannt sind die vielfältigen naturwissenschaftlichen Interessen Johann Wolfgang von Goethes. Entdeckte er noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das ›os intermaxillare‹, den berühmten Zwischenkieferknochen beim Menschen, so hielten seine späteren Forschungen, besonders in der Optik, den wissenschaftlichen Anforderungen nicht mehr stand. 211 Die Bezeichnung ›Universalgelehrter‹ umschreibt nur sehr vage diesen Gelehrtentypus und ist meiner Meinung nach etwas problematisch. Gerade Alexander von Humboldt, der manchmal noch heute zum ›letzten Universalgelehrten‹ ernannt wird, sah stets die Grenzen seiner Kenntnisse in den Spezialdisziplinen und liess beispielsweise die Auswertungen seiner auf der Reise gesammelten Daten oft von Experten überprüfen. Dafür beauftragte er ein ganzes Heer von Spezialisten – Botaniker, Zoologen, Kartografen, Geologen, Astronomen, Mathematiker, Chemiker, Zeichner, Kupferstecher u.s.w. – in Paris und Berlin.

Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldt

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gen Akademie seine Forschungsergebnisse auszuwerten.212 Viel zu sehr schätzte er die wissenschaftlichen Einrichtungen in Frankreich: »J’espÀre Þtre auprÀs de Vous au commencement de l’ann¦e prochaine. Il me faudra au moins 2 – 3 ans pour dig¦rer les Observations que nous rapportons. Mon plus beau rÞve est celui de rester parmi Vous, au centre des sciences que je cultive, entour¦ des grands hommes qui m’honorent de leur amiti¦ et qui seuls peuvent avancer mes connaissances. Mais je crains que l’on me retienne dans les frimats de ma patrie bor¦ale la fflltima Tule. J’ai vue par des papiers publics que le Roi [i.e. König Friedrich Wilhelm III. von Preussen] m’a fait nommer Membre de l’Acad¦mie des sciences de Berlin*. Cette nouvelle m’a fait peu de plaisir. Cependant je trouverai des moyens de me d¦barasser, et de me fixer pour quelques ann¦es parmi Vous.«213 * Cette p a r e n t h À s e n’est que pour Vous et mon ami Chaptal dont je connais l’amiti¦ et la sensibilit¦. Je Vous supplie de ne l— lire — personne d’ailleurs.

Entgegen den Wünschen seines Bruders und seiner Schwägerin Caroline von Humboldt, die es gerne gesehen hätten, wenn sich der Rückkehrer in Berlin niedergelassen hätte,214 zögerte Alexander seine Heimkehr in die märkische »Sandwüste« hinaus.215 In einem Brief an König Friedrich Wilhelm III., kurz nach seiner Ankunft in Paris verfasst, verschleierte Alexander von Humboldt die wahren Gründe für den Aufschub seiner Rückkehr und gab stattdessen vor, wegen des für ihn ungewohnten kalten Klimas vorerst lieber im Süden bei seinem Bruder bleiben zu wollen.216 Der preussische König erlaubte ihm vorerst 212 Schon im Jahre 1796, noch unter der Regierung des Königs Friedrich Wilhelm II., war Humboldt wenig von der Berliner Akademie angetan. »Damals sagte Alexander von Humboldt von ihr, sie sei ein Siechenhaus, ein Hospital, in dem die Kranken besser schlafen als die Gesunden.« (Zitiert nach: Harnack (1900), S. 520 f.) 213 Humboldt, A. (1993), S. 246. Brief an Jean Baptiste Joseph Delambre vom 29. Juli 1803. [»Ich hoffe zu Beginn des nächsten Jahres bei Ihnen zu sein. Ich benötige mindestens 2 – 3 Jahre, um die Beobachtungen, die wir zusammengetragen haben, auszuwerten. Mein schönster Traum ist es unter Ihnen zu bleiben, im Zentrum der Wissenschaften, die ich betreibe, umgeben von grossen Männern, die mich mit ihrer Freundschaft beehren und die allein meine Kenntnisse befördern können. Aber ich befürchte, dass man mich in den kalten Zonen meiner nördlichen Heimat, in Ultima Thule, zurückhalten wird. Ich habe in öffentlichen Zeitungen gelesen, dass mich der König zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Berlin ernannt hat*. Diese Neuigkeit bereitet mir wenig Freude. Doch werde ich Mittel finden, um mich zu befreien, und mich für einige Jahre unter Ihnen einzurichten.« * Diese K l a m m e r ist nur für Sie und meinen Freund Chaptal bestimmt, deren Freundschaft und Empfindsamkeit ich kenne. Ich flehe Sie daher an, sie niemand anderem vorzulesen.] 214 »Wegen Berlin muss ich den Alexander beständig zügeln, ich spiele mit ihm eine ordentliche Hofmeisterrolle.« (Humboldt, W. (1907 – 1916), 2. Bd., S. 250. (Brief Carolines an Wilhelm vom 16. September 1804.) 215 »Ich sehe aus seinen Briefen, dass er [Alexander] Berlin zu sehr zurücksetzt. Das ist in keiner Art klug. Vor der Welt muss man das Vaterland ehren, wenn es auch eine Sandwüste ist.« Ibid. S. 232. (Brief Wilhelms an Caroline vom 29. August 1804.) 216 »Mais le d¦sir naturel et humain de revoir — Rome mon frÀre […] et la peur, bien fond¦e, de d¦truire complÀtement ma sant¦, habitu¦e — la chaleur tropicale, par l’influence subit d’un

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

einen Aufenthalt in Südeuropa und gewährte ihm später sogar eine jährliche Pension. Denn angesichts der ruhmreichen Reise Alexander von Humboldts im Dienste der Wissenschaft, in deren Glanz sich auch Preussen sonnen konnte, und der versprochenen Steinsammlungen für das Berliner Mineralienkabinett sowie der Pflanzensammlungen für den Botanischen Garten in Berlin, vermochte Friedrich Wilhelm III. dem berühmten Reisenden den Wunsch nicht abzuschlagen.217 Doch als Humboldt im November 1805 das erste Mal nach seiner langjährigen Reise die preussische Hauptstadt besuchte, bekannte er gegenüber Georges Cuvier offenherzig die eigentlichen Motive, die ihn dazu veranlassten, auch in Zukunft seiner Heimat fernzubleiben. Denn über die Zustände in der Berliner Akademie beklagte er sich bitterlich: »Mais, h¦las! Mon digne et respectable ami, que vous dirai-je de l’impression que me fait ce monde litt¦raire, cette Acad¦mie, aprÀs avoir v¦cu si longtemps — Paris et au milieu de vous? C’est le passage de la vie — la mort. Quel publique, quel manque d’int¦rÞt, quelle triste et ennuyeuse taciturnit¦! «218

Der Unterschied zwischen der Französischen und der Preussischen Akademie, zu deren Mitglied Humboldt schon am 4. August 1800 in absentia ernannt wurde, war eklatant. Während die Akademie in Paris namhafte und über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannte Wissenschaftler zu ihren Mitgliedern zählen konnte, deren Namen noch heute geläufig sind, waren die Akademiemitglieder in Berlin ausserhalb der Stadt zumeist unbekannt.219 Die Berliner Akademie der Wissenschaften war »ein Institut, worin man vornehme Stanhiver de l’Allemagne du Nord, me donnent le courage de demander que Votre Majest¦ daigne me permettre de passer l’hiver, qui commence, dans l’Italie du Sud.« (Hamy (1905), S. 175. Brief vom 5. September 1804.) [»Aber der natürliche und menschliche Wunsch meinen Bruder in Rom wiederzusehen […] und die gut begründete Angst, meine Gesundheit, gewohnt an die tropische Hitze, durch den plötzlichen Einfluss eines Winters in Norddeutschland völlig zu zerstören, geben mir den Mut zu bitten, dass Ihre Majestät geruhen mir zu erlauben, den Winter, der beginnt, in Süditalien zu verbringen.«] 217 Siehe dazu: Richard (2001), S. 229. 218 Hamy (1905), S. 201. (Brief vom 24. Dezember 1805.) [Aber ach! Mein werter und ehrwürdiger Freund, was soll ich ihnen über den Eindruck sagen, den diese gelehrte Welt, diese Akademie, auf mich macht, nachdem ich so lange in Paris und mitten unter ihnen gelebt habe? Das ist der Übergang vom Leben zum Tod. Welches Publikum, welcher Mangel an Interesse, welche traurige und langweilige Schweigsamkeit!«] 219 In einer Denkschrift zur Reorganisation der auswärtigen Mitgliedschaft in der Berliner Akademie vom 25. Juli 1806 beklagt Humboldt, dass fast keine ausländischen Wissenschaftler, die weltweit berühmt sind, zu den auswärtigen Mitgliedern zählen. Dieser Übelstand bringe sie in den Verdacht, »als lebten wir fremd mit den Fortschritten menschlichen Wissens ausserhalb der Mauern von Berlin«. (Abgedruckt in: Biermann, K.-R. (1991), S. 105.). Trotzdem nahm Humboldt während seines zweijährigen Aufenthaltes in Berlin, zwischen Ende 1805 und Ende 1807, insgesamt an 43 Akademiesitzungen teil und bemühte sich intensiv um eine Reform der Akademie. (Ibid. S. 34.)

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despersonen und Geschäftsmänner und zuweilen auch sogar einen Gelehrten aufnimmt«.220 Es war deshalb naheliegend, dass der jüngere Humboldt in Paris blieb. Ohne die intellektuellen und wissenschaftlichen Anregungen in der preussischen Hauptstadt zu vermissen, kehrte er dieser für zwanzig Jahre den Rücken! Ihm fehlten in Berlin, ›der märkischen Wüste‹, die Voraussetzungen, um die gesammelten Ergebnisse seiner Reise auswerten zu können. Im Übrigen wurde er bereits am 6. Februar 1804, das heisst schon während seiner Reise auf dem amerikanischen Kontinent, zum »Correspondant pour la section de physique g¦n¦rale« der Pariser ›Acad¦mie des sciences‹ ernannt und Ende August desselben Jahres als Mitglied aufgenommen.221 Kaum in Paris angekommen hielt er im ›Institut National‹ vor begeisterten Zuhörern Vorträge über seine Reiseerlebnisse, über Themen aus den Gebieten der Geologie, Meteorologie, Magnetismus, Eudiometrie, Pflanzengeografie, Zoologie sowie Längen- und Breitengradmessung. Dies zeigt, wie sehr Humboldt in Frankreich als Naturwissenschaftler geschätzt wurde und welches Interesse man dort seiner Forschungsreise entgegenbrachte. Rückblickend beschrieb Louis Agassiz die überaus grosse Wertschätzung, welche Alexander von Humboldt in Paris zeitlebens genoss, in seiner Festrede zum 100. Geburtstag des Naturforschers. Agassiz, der als Zoologe und Paläontologe von Georges Cuvier sehr geschätzt wurde, stand in brieflichem Kontakt mit dem jüngeren von Humboldt und verdankte diesem immer wieder die Hilfe bei der Besorgung finanzieller Unterstützung. Obwohl Agassiz erst 1807 geboren wurde222 und somit Alexander erst gegen Ende von dessen Parisaufenthalt kennenlernte, gibt er uns einen anschaulichen Einblick in die wissenschaftliche Atmosphäre jener Zeit: »He [Alexander von Humboldt] returned to Paris in 1804, having been five years absent from Europe. It was a brilliant period in science, letters, and politics in the great capital. The Republic was still in existence; the throes of the Revolution were over, and the reaction toward monarchical ideas had not yet culminated in the Empire. Laplace, GayLussac, Cuvier, Desfontaines, Delambre, Oltmanns, Fourcroy, Berthollet, Biot, Dolomieu, Lamarck, and Lac¦pÀde were leaders then in the learned world. The young traveller, bringing intellectual and material treasures even to men who had grown old in research, was welcomed by all, and in this great centre of social and intellectual life he made his home for the most part, from 1805 to 1827; from the last days of the Republic, through the rise and fall of the Empire, to the restoration of the Bourbons. He devoted 220 Zitiert nach: Harnack (1900), S. 521. 221 Kurt-Reinhold Biermann: Alexander von Humboldt in seinem Verhältnis zur Leopoldina und zu anderen Akademien. In: Biermann, K.-R. (1990) S. 223. 222 Agassiz, geboren in der Schweiz, studierte in Zürich, Heidelberg, München und Paris Medizin, bevor er ab 1846 in den USA Zoologie und Geologie lehrte.

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

himself to the publication of his results, and secured as his collaborators in this work the ablest men of the day.«223

Im gleichen Brief an Cuvier vom 24. Dezember 1805, den ich auf Seite 418 bereits zitiert habe, beschreibt Alexander auch die feindselige Stimmung gegen alles Französische, die er in Preussen wahrnimmt, und die es ihm verbietet, seine wahren Ansichten laut zu äussern. Hintergrund dieser prekären Situation bildeten die Eroberungszüge Napoleons in halb Europa, die besonders Preussen bedrohten. Am 25. Oktober 1806 besiegte Frankreich die preussische Armee in Jena, und Napoleon zog mit seinen Truppen in Berlin ein. Während der folgenden zwei Jahre war Alexander von Humboldt zu diplomatischen Verhandlungen zwischen den verfeindeten Staaten abwechslungsweise in Paris und Berlin tätig, da sich der preussische König seiner zahlreichen freundschaftlichen Beziehungen zu französischen Regierungsmitgliedern bedienen konnte. Doch Humboldt wollte die Arbeiten an seinem grossen Reisewerk in Paris ausführen und verliess deshalb, ausgestattet mit einer Pension des Königs und der Erlaubnis, in der französischen Metropole bleiben zu dürfen, am 13. November 1807 Berlin.224 Er sollte erst im April 1827 endgültig in seine Heimatstadt zurückkehren. Ein Brief an David Friedländer zeugt von der angespannten Atmosphäre, die damals in Berlin herrschte. Argwöhnisch wurde das Verhalten Humboldts beobachtet, da man sich seiner vaterländischen Gesinnung offenbar nicht sicher war. Seine engen Beziehungen zu Frankreich und der Entschluss, sein Reisewerk in Paris drucken zu lassen, nährten das Gerücht, Alexander schreibe nur noch französisch und lasse seine Schriften ins Deutsche übersetzen: 223 Agassiz (1869), S. 17. [»Er [Alexander von Humboldt] kehrte 1804 nach Paris zurück, nachdem er fünf Jahre von Europa abwesend war. Es war eine glänzende Epoche für die Wissenschaft, Literatur und Politik in der grossen Hauptstadt. Die Republik bestand noch; die Nachwehen der Revolution waren vorüber, und der Rückschritt zu monarchistischen Ideen kulminierte noch nicht im Kaiserreich. Laplace, Gay-Lussac, Cuvier, Desfontaines, Delambre, Oltmanns, Fourcroy, Berthollet, Biot, Dolomieu, Lamarck und Lac¦pÀde waren damals Führer in der gelehrten Welt. Der junge Reisende, der geistige und materielle Schätze selbst für Männer, die in der Forschung alt geworden waren, mitbrachte, wurde von allen willkommen geheissen, und dieses grosse Zentrum des gesellschaftlichen und geistigen Lebens machte er für die meiste Zeit zwischen 1805 und 1827 zu seinem Zuhause; von den letzten Tagen der Republik, während des Aufstiegs und Falls des Kaiserreichs, bis zur Restauration der Bourbonen. Er widmete sich ganz der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse und sicherte sich die Mitarbeit der fähigsten Männer seiner Zeit.«] 224 Alexander von Humboldt nutzte eine diplomatische Mission im Auftrag des preussischen Königs nach Paris, um sich in der französischen Hauptstadt langfristig niederzulassen. Sein Begleiter, Prinz Wilhelm der Ältere (der Bruder des Königs Friedrich Wilhelm III.), reiste am 18. September 1808 allein nach Berlin zurück! (Siehe dazu: Biermann, K.-R. (1991), S. 38.)

Die Bedeutung der französischen Naturwissenschaft für Alexander von Humboldt

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»Trois de mes ouvrages sont — l’imprimerie, naturellement en allemand et en franÅais. Je dis n a t u r e l l e m e n t , car j’ai appris — ma stup¦faction qu’en Allemagne courait le bruit que je f a i s a i s t r a d u i r e mon ouvrage en allemand. Un tel bruit vient d’un mauvais cœur. Je crois que j’¦cris actuellement l’espagnol le plus couramment; mais je suis assez fier de ma patrie pour ¦crire en allemand, si mauvais qu’il soit…«225

Nicht mangelnde Vaterlandsliebe war jedoch der Grund für Humboldts Entschluss, sein Reisewerk in Paris herauszugeben, sondern die weitaus besseren Voraussetzungen für die Drucklegung seiner sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch anspruchsvollen Prachtausgabe. In der französischen Hauptstadt gab es zu dieser Zeit mehrere grosse Verlage, die zahlreiche erstklassige Schriftsetzer, Kupferstecher und Illuminatoren beschäftigten. Doch noch während und nach den Friedensverhandlungen am Wiener Kongress, an denen auch Wilhelm von Humboldt mitwirkte, blieb die Stimmung gegen Frankreich feindselig. Sehr anschaulich zeigen dies die Vorwürfe, die 1815 im »Rheinischen Merkur« gegen Humboldt erhoben wurden. Grund für die Anschuldigungen war Alexanders Verhalten bei der preussischen Forderung zur Rückgabe der 32 Aachener Säulen. Napoleon hatte während der französischen Besatzung 1794 die Säulen in der Aachener Pfalzkapelle Karls des Grossen nach Paris bringen und teilweise im Louvre einbauen lassen. Nach der Niederlage Frankreichs sollten diese wieder zurückgebracht werden. In einem Brief, den Humboldt überbrachte, beschwor der französische Generaldirektor des Museums, Vivant Denon, den preussischen König, die Säulen im Louvre zu belassen, um nicht einen Einsturz des Gebäudes und die Beschädigung wertvoller Kunstdenkmäler zu riskieren. Auf Anraten Humboldts verzichtete König Friedrich Wilhelm III. schliesslich auf die 14 wertvollen Marmorsäulen im Louvre. Diese Entscheidung wurde im »Rheinischen Merkur« scharf kritisiert, wobei vor allem Alexander von Humboldt dafür verantwortlich gemacht wurde. So berichtete Johann Friedrich Benzenberg aus Paris: »Diese Verfügung machte einen sehr unangenehmen Eindruck. Man wusste, dass sich die Säulen so wegnehmen liessen, dass die Zwischenwände nicht einmal einen Sprung bekamen, – und man sah voraus, dass die Franzosen wieder sagen würden so wie voriges Jahr : Ils avaient peur, les Allemands, ils n’avaient pas le courage de prendre les colonnes.

225 Hamy (1905), S. 184 f. (Brief vom 16. Februar 1805.) [»Drei meiner Werke sind in der Druckerei, natürlich auf Deutsch und auf Französisch. Ich sage n a t ü r l i c h , denn ich habe zu meiner Verblüffung erfahren, dass in Deutschland das Gerücht umging, ich l i e s s e mein Werk ins Deutsche ü b e r s e t z e n . Ein solches Gerücht kommt von einer schlechten Gesinnung. Ich glaube, dass ich zurzeit am fliessendsten spanisch schreibe; aber ich bin stolz genug auf mein Vaterland, um deutsch zu schreiben, so schlecht es auch sei…«]

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Auseinandersetzung der Brüder von Humboldt mit der französischen Wissenschaft

Auch war man sehr unzufrieden mit Humbold, der diesen Brief dem Könige übergeben, und dem die Freundschaft der Franzosen mehr gegolten als die Ehre seines Volkes.«226

Alexander fühlte sich durch diesen Angriff Benzenbergs tief gekränkt. Er war insbesondere darüber erzürnt, dass dieser ihn für fähig hielt, »irgend etwas in der Welt der Ehre seines Volkes vorzuziehen«. Zugleich warnte er in einem öffentlichen Brief im »Rheinischen Merkur« vor dem übermässigen Nationalismus, der dazumal in Deutschland herrschte: »Ihr Brief redet von Toleranz der Meinungen, Vielseitigkeit der Ansichten. Durfte ich mehr von Ihnen erwarten, als dass Sie mich tadeln würden, Nationalehre eher in der Mässigung zu suchen, als in strenger Vergeltung.«227

Ausdrücklich verlangte Humboldt vom »Rheinischen Merkur«, dass sein Antwortschreiben auf Benzenbergs Vorwürfe ebenfalls veröffentlicht werde – was dann auch geschah. Wie sehr Alexander von Humboldts Aufenthalt in Frankreich von seinen deutschen Zeitgenossen missbilligt wurde, zeigt auch die ungeduldige Aufforderung zu seiner Rückkehr nach Berlin, die König Friedrich Wilhelm III. im Herbst 1826 geschrieben haben soll:228 »Sie müssen nun mit der Herausgabe der Werke fertig sein, welche Sie nur in Paris bearbeiten zu können glaubten. Ich kann Ihnen daher keine fernere Erlaubnis geben, in einem Land zu bleiben, das jedem Preussen ein verhasstes sein sollte. Ich erwarte daher, dass Sie in kürzester Zeit in Ihr Vaterland zurückkehren.«229

So kehrte Alexander am 27. Mai 1827 endgültig nach Berlin zurück. Da er in der Schuld des Königs stand, konnte er dessen Aufforderung nicht mehr länger ignorieren und musste sich als Kammerherr des Königs verpflichten. Doch erhielt er immerhin mehrmals die Erlaubnis, sich für seine wissenschaftlichen Arbeiten einige Monate im Jahr in Paris aufzuhalten. In Berlin führte Humboldt eine Neuerung ein, die bisher einmalig in Deutschland war und ihn noch berühmter werden liess. Im Wintersemester 1827 / 28 hielt er seine »Kosmosvorlesungen« nicht nur in der Berliner Universität, sondern parallel dazu auch in der Singakademie. Diese waren allen Ständen zugänglich und wurden denn auch rege besucht – der Vorlesungssaal war stets bis auf den letzten Platz gefüllt. So begründete Alexander in Deutschland die 226 Görres (1928). Band 2. Nro. 325; 6. November 1815. [»Sie hatten Angst, die Deutschen, sie hatten nicht den Mut, die Säulen wegzunehmen.«] 227 Ibid. Nro. 345; 16. Dezember 1815. 228 Das Manuskript des Briefes wurde bis heute nicht gefunden. 229 Zitiert nach: Richard (2001), S. 234. Der Brief wurde in den anonym erschienen »Memoiren Alexander von Humboldt’s« veröffentlicht. (2 Bde. Leipzig: Ernst Schäfer 1861.) Es handelt sich aber nicht um echte Memoiren von Humboldt, sondern um eine Lebensbeschreibung, die teilweise mit gefälschten Dokumenten ergänzt wurde.

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Tradition öffentlicher wissenschaftlicher Vorträge für das Volk, eine Tradition, die er in Paris kennengelernt hatte. Trotzdem hatte Humboldt bis zu seinem Tode einen schweren Stand in Preussen und musste zahlreiche Anfeindungen von konservativen Kreisen erdulden. Daran änderten auch die acht diplomatischen Missionen im Auftrag von König Friedrich Wilhelm IV., die ihn zwischen 1835 und 1847 nach Paris führten, nichts. Denn seine guten Beziehungen zur französischen Regierung wurden stets in Anspruch genommen, wenn es galt, den Frieden zu wahren. Alexander von Humboldt hielt nach seiner Rückkehr in die Heimat weiterhin engen Kontakt zu Frankreich. Das beweisen nicht nur zahlreiche Briefe, die er an seine Freunde und ehemaligen Kollegen des ›Institut National‹ schrieb, sondern insbesondere auch seine Einflussnahme bei den Wahlen eines neuem Mitglieds der französischen Akademie. Er wurde nach wie vor um seine Meinung und inoffiziell auch um seine Unterstützung gebeten. Carl Voigt beschrieb den wirkungsvollen Auftritt Alexanders anlässlich einer solchen Wahl in Paris sehr detailliert.230 Obwohl er ihn als Farceur charakterisierte und satirisch überzeichnete, dürfte er Humboldts grossen Einfluss, den dieser noch immer in der Pariser Gelehrtenwelt hatte, nicht ganz ohne eine Spur von Wahrheit geschildert haben. Sowohl in Frankreich als auch in Preussen blieb Alexander von Humboldt ein politisch unabhängiger Geist. In Berlin wurde er dafür von vielen Regierungsmitgliedern angefeindet und von manchen Gleichgesinnten wegen seiner Nähe zum preussischen König der Heuchelei bezichtigt. Doch Humboldt verstand sich immer in erster Linie als Wissenschaftler und nahm für sich das Recht auf freie Meinungsäusserung in Anspruch. Für ihn war die Wissenschaft nicht von der Nationalität abhängig. Erste Priorität hatte für ihn die Suche nach dem empirisch Wahren – gleichgültig, ob sie von einem Deutschen oder Franzosen, Katholiken oder Protestanten, Adligen oder Bürger unternommen wurde. Im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus war eine solche kosmopolitische Geisteshaltung eher aussergewöhnlich. Dies konstatierte auch der Sekretär de Schoenfeld von der ›Soci¦t¦ Botanique de France‹, als er am 13. Mai 1859 eine Gedenkrede zum Tode Alexander von Humboldts231 hielt: »C’est — Paris, et en langue franÅaise, que ses œuvres les plus importantes ont ¦t¦ publi¦es; il ¦tait l’intime ami des plus illustres savants franÅais de son temps. Aussi aimait-il la France presque autant que son pays natal. Et d’ailleurs n’¦tait-ce pas un de ces rares g¦nies qui s’¦lÀvent si haut dans l’admiration de tous les peuples que leur nationalit¦ s’efface devant l’¦clat de leur renomm¦e? On peut dire de pareils hommes 230 Carl Voigt: Begegnungen mit Zeitgenossen. Nr. 1. A. von Humboldt. Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. 1870. In: Humboldt, A. (1959), S. 200 – 209. 231 Alexander von Humboldt starb am 6. Mai 1859 in Berlin.

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qu’ils n’ont plus de patrie. Ils n’appartiennent qu’— la science, et la science ne conna„t pas de frontiÀres.«232

V.4. Der Einfluss der modernen Naturwissenschaften auf das literarische Schaffen Alexander von Humboldts In seinem letzten Werk, dem nicht ganz vollendeten, fünfbändigen »Kosmos«, erläutert Alexander von Humboldt noch einmal, worauf es ihm bei seiner Naturbeschreibung ankam: »Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit, Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganze. Das wichtigste Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen, von dem Individuellen alles zu umfassen, was die Entdeckungen der letzteren Zeitalter uns darbieten, die Einzelheiten prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen, der erhabenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt.«233

Die Suche nach der Einheit bei gleichzeitigem Erfassen der empirischen Resultate der unterschiedlichsten naturwissenschaftlichen Disziplinen war jedoch nicht erst das Ziel des fünfundsiebzigjährigen Naturgelehrten. Bereits in den »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« verfolgte Humboldt die Absicht, die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Untersuchungsobjekten aufzufinden. Verwurzelt im Denken der Spätaufklärung und beeinflusst von Gelehrten wie Campe, Forster, Goethe oder Herder, war Alexander stets um ein holistisches Erfassen der gesamten Natur bemüht. Diese »Kosmos-Idee« durchzieht das Gesamtwerk und charakterisiert seine Methoden und Konzeptionen. Damit steht Humboldt in der Tradition der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, denn die »Kosmos-Idee« oder das »kosmische Prinzip« war insbesondere ein Anliegen der Aufklärung, als die Spezialisierung der Wissenschaften noch weniger weit fortgeschritten war. Deshalb ist das Ansinnen von Andreas Daum abwegig, die »Kosmos-Idee« als einen neuen –

232 Zitiert nach: Richard (2001), S. 242. [»In Paris und in französischer Sprache wurden seine wichtigsten Werke veröffentlicht; er war der intime Freund der berühmtesten französischen Gelehrten seiner Zeit. Ausserdem liebte er Frankreich ebenso sehr wie sein Geburtsland. Und war er denn ausserdem nicht eines jener seltenen Genies, die sich so weit in der Bewunderung aller Völker erheben, dass ihre Nationalität vor dem Glanz ihres Ruhmes erlischt? Von Männern wie ihm kann man sagen, dass sie kein Vaterland mehr haben. Sie gehören nur noch der Wissenschaft an, und die Wissenschaft kennt keine Grenzen.«] 233 Humboldt, A. (1845 – 1862), Bd. I. S. 5 f.

Der Einfluss der modernen Naturwissenschaften auf das literarische Schaffen

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humboldtschen – Ansatz des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen.234 Er sieht darin »die bleibende Aktualität des letzten Universalgelehrten Alteuropas«. Aber abgesehen davon, dass es sehr fragwürdig ist, Alexander von Humboldt als »Universalgelehrten« zu bezeichnen, zeigt uns gerade sein Versuch, die Natur als Monismus zu begreifen, die besondere Umbruchsituation der Wissenschaften um die Jahrhundertwende. Eine andere Frage ist indessen, ob und wie es Humboldt gelungen ist, seinem eigenen Anspruch in der Darstellung dieser monistischen Grundüberzeugung gerecht zu werden. Angesichts der fortgeschrittenen Spezialisierung der Naturwissenschaften, zu der auch Alexander von Humboldt selbst mit seinen Forschungsresultaten beigetragen hatte, wurde es immer problematischer, die konkreten empirischen Erkenntnisse in einer universalen Darstellung der Natur zu vereinigen. Humboldt war sich dieser Schwierigkeiten schon früh bewusst. So beschränkte er sich in seinen »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« ausdrücklich auf eine »aphoristische« Abhandlung der »Hauptobjecte« seiner zahlreichen Experimente. Allein die Masse an Versuchsanordnungen, Messresultaten und Beobachtungen hinderte ihn daran, »dieselben durch Zwischenideen und Uebergänge in eine schicklichere Verbindung zu setzen«.235 In den »Versuchen« reiht er die Experimente, bei denen er Schritt für Schritt die Versuchsanordnung variiert, systematisch aneinander. Der Zweck seiner vielen Versuche, nämlich die Klärung der Frage, ob die organische Materie eine ihr spezifisch zukommende Kraft, das sogenannte ›Galvanische Fluidum‹, besitzt, die nicht mit den schon bekannten elektrischen und magnetischen Kräften identisch ist, gerät mitunter ganz aus dem Blickfeld. Zudem wendet sich Humboldt zunehmend von den ›rein‹ galvanischen Experimenten dem umfassenderen Problem der chemischen Lebensprozesse zu. Das Resultat seiner Studien ist, dass er die Anfang der Neunzigerjahre postulierte Definition der Lebenskraft aufgibt, da er das Vorhandensein einer ›vis vitalis‹ empirisch nicht nachweisen kann. Während seiner mehrjährigen Forschungstätigkeit auf dem Gebiet des Galvanismus geht ihm sozusagen das einheitsstiftende Prinzip der Lebenskraft verloren. Stattdessen konzentriert er sich mehr und mehr auf einzelne Erscheinungen der organischen Prozesse. Mithilfe von sorgfältig ausgeführten Experimenten und genauen Beobachtungen weitet sich sein Forschungsgebiet auf die Physiologie aus. Bezeichnend für diesen Prozess einer allmählich erweiterten und gleichzeitig detaillierteren Studie ist dabei der »aphoristische« Charakter der Abhandlung. Unterstützt wird dieser Charakter zudem durch die ausgedehnten Erörte234 Daum (2000), S. 243 – 268. 235 Humboldt, A. (1797c), Bd. I. S. 12.

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rungen der historischen und zeitgenössischen Forschungsliteratur, die teilweise in den Fussnoten abgehandelt werden. Auf diese Weise werden zahlreiche wichtige Fragen nicht in den Haupttext eingebunden. Allein schon die Existenz dieser manchmal sehr umfangreichen Fussnoten verhindert den Eindruck einer Einheit. Obwohl Text und Subtext aufeinander bezogen werden, signalisiert der Fussnotenstrich, dass Teile der Abhandlung ergänzt und nicht in den Haupttext integriert sind. Ein weiteres Merkmal für diese Verwissenschaftlichung der »Versuche«, die keinem »kosmischen Prinzip« mehr genügt, ist die Reduzierung der Darstellungen und Resultate von Versuchsanordnungen auf Formeln, die von Humboldt als innovatives Hilfsmittel eingeführt werden. Unablässig ändert er die galvanische Kette zwischen Muskel und Nerv eines präparierten Frosches, indem er mit verschiedenen Substanzen eine Kette bildet und untersucht, ob eine Muskelkontraktion ausgelöst wird oder nicht. Metalle und kohlenstoffhaltige Substanzen, die unter den festen Körpern das Vermögen besitzen, »das Sauerstoffgas zu zerfetzen« oder »phlogistische Processe zu erregen«, bezeichnet er mit dem Buchstaben P.236 Dabei werden zwei homogene Substanzen mit P P angegeben, zwei heterogene Substanzen mit P p. Auf ähnliche Weise unterscheidet er die feuchten homogenen oder heterogenen Substanzen mit H beziehungsweise h. So stellt er zum Beispiel eine Versuchsanordnung mit der Formel | Nerv P H p | dar. Resultiert daraus eine Kontraktion, wird dies mit dem Zeichen + vermerkt, falls keine Zuckung zu beobachten ist, mit –. Auf diese Weise gelingt es Alexander von Humboldt, die Darstellung seiner Experimente zu vereinfachen und übersichtlich aufzulisten. Auch die Beifügung von Zeichnungen, die die Experimente ikonografisch illustrieren, gibt den »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« einen betont wissenschaftlichen Charakter. Somit lässt sich im Unterschied zu den »Mineralogischen Beobachtungen über einige Basalte am Rhein« in den »Versuchen« gleichzeitig eine Spezialisierung und eine Verwissenschaftlichung des erforschten Gebietes feststellen. Die Konsequenz davon ist jedoch ein Verlust des Totalanblicks der Zusammenhänge zwischen den einzelnen empirischen Daten in der physiologischen Schrift. Aus diesen Gründen kann ich schwer nachvollziehen, warum Bettina Hey’l zu der Ansicht gelangt, Humboldts »Versuche« bewahren über längere Passagen »den Charakter einer genuinen Erzählung«. In ihnen würde die Genese der Erkenntnis an eine Handlung sowie an subjektive Erfahrung gebunden und ein Zusammenhang erstellt, »der die wissenschaftliche Abhandlung in die Nähe anderer narrativer Formen wie die Autobiographie oder den Roman rückt«.237 236 Ibid. S. 91. 237 Hey’l (2007), S.169.

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Hey’l berücksichtigt in ihrer Untersuchung jedoch nicht, dass Humboldt mittels seiner Formeln die Resultate mathematisiert und rationalisiert. Auch trennt er stets sorgfältig zwischen der beschreibenden Darstellung seiner Experimente und seinen spekulativen Vermutungen. Wie behutsam Alexander mit ungesicherten Erklärungsversuchen umgeht, habe ich am Beispiel von Soemmerring und Kielmeyer zu zeigen versucht. Nicht zu vergessen ist letztlich auch, dass die Physiologie nicht eine exakte Naturwissenschaft im engeren Sinne ist, sondern wie die Medizin von der Interpretation des subjektiv Wahrgenommenen abhängt. Dieser Subjektivität ist sich Alexander auch bewusst und ist deshalb stets bemüht, seine Resultate mehrmals zu überprüfen und mit denjenigen anderer Forscher zu vergleichen. Deshalb kann ich Hey’ls Urteil über Humboldts »Versuche«, diese seien »vorwissenschaftlich«, weil sie die Unterscheidung zwischen exakter und beschreibender Naturwissenschaft nicht beachten würden, nicht zustimmen.238 Ganz ähnlich, aber unter umgekehrten Vorzeichen, verzichtet Alexander im »Rhodischen Genius« auf ein Supplement der Ergebnisse aus seinen fundierten Experimenten. Zu sehr hätte dieses die allegorische Darstellung der Lebenskraft beeinträchtigt. Im Rahmen der »Horen« wurde von Humboldt auch keine wissenschaftliche Abhandlung gefordert. Wie dieser in den später verfassten Erläuterungen zum »Rhodischen Genius« geschrieben hat, ging es ihm vielmehr um eine ästhetische Behandlung einer physiologischen Idee. Dies ist auch der Grund für die Sonderstellung des Aufsatzes innerhalb der »Ansichten der Natur«. »Der Rhodische Genius« wird als einzige Abhandlung ohne Fussnotentext ediert. Das mag auf den ersten Blick eine banale Feststellung sein, allerdings verweist diese Editionsform besonders deutlich auf den Vorrang der Ästhetik, der diesem Aufsatz zukommt. Im Vergleich zu allen übrigen Werken Alexander von Humboldts wird damit seine Sonderstellung auch rein formal betont. Auf den Inhalt bin ich bereits ausführlich in Kapitel III.4. eingegangen. An dieser Stelle möchte ich deshalb nur kurz darauf hinweisen, dass es sich trotz des Rückgriffs auf ein naturwissenschaftliches Thema der Physiologie, welches Alexander vorher ausführlich in den »Aphorismen« erörtert hat, nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt. Empirische Daten, Analysen und Hypothesen wurden getilgt, sodass uns hier Naturgeschichte ›nur‹ als Literatur entgegentritt. So wird zwar der Zusammenhang der Natur durchaus thematisiert, mehr noch, er ist das eigentliche Thema des Aufsatzes, aber dieser Zusammenhang wird nicht empirisch hergeleitet. Schon vor 1800 war es also schwierig geworden, Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft so zu vereinen, wie es eine Anthropologie im umfassenden Sinn gefordert hätte. Mag dies auch nicht die Intention der beiden oben er238 Ibid. S. 163.

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wähnten Arbeiten gewesen sein, so zeigt jedoch das kurze Zitat aus dem »Kosmos« eingangs dieses Kapitels, wie aktuell Alexander von Humboldts Anspruch auf eine Darstellung des »lebendigen Ganzen« noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts war. Bereits während seiner Südamerikareise, besonders aber nach seiner Rückkehr nach Europa, war Alexanders Plan einer monistischen Naturdarstellung mit nahezu unüberwindlichen Hindernissen verbunden. Die Naturwissenschaften waren während dessen fünfjähriger Abwesenheit vom ›Institut National‹ weiter rasant fortgeschritten. Nicht zuletzt die Befürchtung, den Anschluss an die wissenschaftlichen Diskurse zu verlieren, bewegte ihn dazu, auf eine Reise um die Welt zu verzichten, um stattdessen seine riesige Sammlung von Daten und Materialien auszuwerten. Doch die neusten Erkenntnisse über die Natur, zu denen Alexander von Humboldt selbst nicht wenig beigetragen hatte, hinterliessen deutliche Spuren in den Schriften, die nach 1800 entstanden sind. Aus den Briefen aus Amerika, den »Ansichten der Natur« und vor allem aus der »Relation historique« können wir Humboldts Schwierigkeiten angesichts der zunehmenden Polarisierung zwischen Naturalismus und Historismus klar ersehen.

V.4.a) Alexanders Briefe aus Südamerika Eine monistische Konzeption der Natur war auch das eigentliche Ziel von Humboldts Reise nach Lateinamerika. Doch zunächst ging es dem Forschungsreisenden darum, die Natur zu beobachten, zu vermessen sowie Naturobjekte zu sammeln. Aufzeichnungen für eine Reisebeschreibung, die Schilderung von Eindrücken, Erlebnissen und Begegnungen, hat Humboldt selbstverständlich auch angefertigt. In seinen Reisetagebüchern beschrieb er geologische Formationen, notierte sich Resultate von astronomischen Breitenund Längengradmessungen, skizzierte Karten von Gebirgszügen und Flüssen, zeichnete Pflanzen und Tiere, hielt wichtige Begegnungen mit Regierungsvertretern und Missionaren fest, notierte sich statistische Angaben zu Bevölkerung und Wirtschaft, beschrieb seine Eindrücke von imposanten Naturschauspielen usw. Mit anderen Worten: Seine Reisetagebücher bilden ein Sammelsurium der heterogensten Notizen, das meiste nur flüchtig, manches aber auch ausführlicher beschrieben, ungeordnet und sowohl auf Deutsch, Französisch, Spanisch und Lateinisch verfasst. Dass die Reisetagebücher, die in erster Linie zum privaten Gebrauch bestimmt waren – nur im Falle des vorzeitigen Todes wären sie in andere Hände übergegangen –, keinen sorgfältig ausgearbeiteten Reisebericht darstellen, ist natürlich einleuchtend. Aber trotzdem war Alexander schon in Amerika darum

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bemüht, seine Zeitgenossen in Europa an seinen Reiseerlebnissen teilnehmen zu lassen. Mit zahllosen Briefen, von denen nur ein Bruchteil die Adressaten überhaupt erreichte, hielt Alexander von Humboldt die Welt in Atem.239 Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr wurde ihm deshalb ein enormes Interesse entgegengebracht: »Er [Alexander] liest heute zum erstenmal den Anfang einer Reisebeschreibung im Institut vor, welche eigentlich nur ein Prospektus seiner Reise ist. Von zwölf bis drei Uhr hat Alexander beinahe täglich viele Menschen bei sich, um seine Sammlungen, Zeichnungen usw. zu besehen.«240

Aus diesem Brief, den Caroline von Humboldt ihrem Mann Wilhelm nach Rom schrieb, können wir ersehen, dass Paris auf den Heimkehrer aus Südamerika bestens vorbereitet war. Das war natürlich kein Zufall, denn zur umsichtigen Planung und Durchführung der Forschungsreise gehörte auch die fortlaufende Berichterstattung über das Unternehmen. Schon vor der Abreise aus La CoruÇa vereinbarte Alexander von Humboldt mit Freunden und Gelehrten, vornehmlich in Paris und Berlin, dass Teile seiner Briefe, die er zu schreiben gedachte, in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht werden sollten. Bereits kurz nach der Ankunft in Paris, noch im Jahre 1804, verfasste denn auch Jean Claude de Lam¦therie einen ersten Essay über die Reise von Humboldt und Bonpland im »Journal de Physique«. Das Interesse der Wissenschaftler an den Beobachtungen und Forschungsdaten der beiden Amerikareisenden war offensichtlich so gross, dass er deren eigene Veröffentlichungen nicht abwarten wollte.241 Auch in Deutschland erschienen bereits 1805 »Alexander von Humboldts königl. preussischen Bergraths Reisen um die Welt und durch das Innere von Südamerika«, die von Friedrich Wilhelm von Schütz aus verschiedenen Briefen

239 Siehe dazu: Biermann, K.-R. / Schwarz (1999), S. 187. 240 Humboldt, W. (1907 – 1916), 2. Bd, S. 251. (Brief Carolines an Wilhelm vom 16. September 1804.) 241 »L’int¦rÞt que le monde savant prend avec tant de raison au voyage de MM. Humboldt et Bonpland, ainsi que l’amiti¦ qui m’unit — eux, m’imposent la douce obligation de pr¦senter aux lecteurs de ce Journal un pr¦cis de tous les renseignemens que j’ai pu obtenir, soit de leur correspondance publique et particuliÀre, soit des m¦moires qu’ils ont lus — l’Institut. Cet expos¦ sera court mais exact.« (Notice d’un voyage aux tropiques, ¦x¦cut¦ par MM. Humboldt et Bonpland, en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804. Par J.-C. Delam¦therie. In: Lam¦therie (1804). Tome LIX. S. 122.) [»Das Interesse, welches die gelehrte Welt aus gutem Grund an der Reise der Herren Humboldt und Bonpland nimmt, ebenso die Freundschaft, die mich mit ihnen verbindet, legen mir die süsse Verpflichtung auf, den Lesern dieses Journals eine kurze Zusammenfassung aller Mitteilungen, die ich erhalten konnte, sei es aus ihren öffentlichen und privaten Briefen, sei es aus den Vorträgen, die sie am Institut gehalten haben, vorzulegen. Dieser Bericht ist kurz, aber genau.«]

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Alexanders zusammengestellt worden waren.242 Gemäss dem Verfasser muss man Alexanders Briefe aus Amerika »als Vorläufer der grossen Entdeckungsreise Humboldts ansehen, die wir bei seiner Zurückkunft in Deutschland zu erwarten haben«.243 Humboldt war über dieses Werk wenig erfreut und distanzierte sich später in seiner »Relation historique« explizit davon: »Comme la curiosit¦ publique se porte souvent plus sur la personne des voyageurs que sur leurs ouvrages, on a d¦figur¦ d’une maniÀre ¦trange1 ce qui a rapport aux premiers plans que je m’¦tois trac¦s. «244 1

Je dois faire observer, — cette occasion, que je n’ai jamais eu connoissance d’un ouvrage en six volumes qui a paru chez Vollmer — Hambourg, sous le titre bizarre de Voyage autour du monde et dans l’Am¦rique m¦ridionale, par A. de Humboldt. Cette relation, faite en mon nom, a ¦t¦ r¦dig¦e, — ce qui paro„t, d’aprÀs des notices publi¦es dans les journaux, et d’aprÀs des m¦moires isol¦s que j’ai lus — la premiÀre classe de l’Institut. Le compilateur, pour fixer l’attention du public, a cru pouvoir donner — un Voyage dans quelques parties du nouveau continent le titre plus attrayant de Voyage autour du monde.

242 [Friedrich Wilhelm von Schütz:] Alexander von Humboldts königl. preussischen Bergraths Reisen um die Welt und durch das Innere von Südamerika. Ein interessantes Lesebuch für die Jugend. Vom Verfasser von Cooks Reisen um die Welt. 5 Bände. Hamburg und Mainz 1805. Der Titel ist eine deutliche Anlehnung an Georg Forsters sehr erfolgreiche »Reise um die Welt«. Offensichtlich steckt hinter der Wahl des irreführenden Titels eine verkaufsfördernde Absicht, denn bereits 1802, in Quito, änderte Humboldt seine Reisepläne und verzichtete auf eine Reise um die Welt! Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Name Alexander von Humboldt so legendär, dass er werbewirksam verwendet wurde. Auch das fünfbändige Werk von Schütz bedient sich des Namens des Naturforschers, um über Länder von Südamerika zu berichten, die Humboldt selbst nie besucht hat, so zum Beispiel Brasilien und Paraguay. Schütz’ Berufung auf Humboldt zeigt indes dessen überaus grosse Popularität im damaligen Preussen. Bald schon erschienen von diesem Werk weitere Auflagen, die teilweise in zwei, teilweise auch in sechs Bänden herausgegeben wurden. 243 Ibid. S. 6. Indem Schütz nicht von einer Forschungsreise, sondern von einer »Entdeckungsreise« spricht, wird erkennbar, dass Alexanders Reise von den meisten deutschen Zeitgenossen eher als Abenteuer denn als wissenschaftliches Unternehmen betrachtet wurde. 244 Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 40. [In der deutschen Übersetzung von Hanno Beck: »Da die öffentliche Neugier oft mehr Anteil an den Personen der Reisenden als an ihren Werken nimmt, so hat man auf eine sonderbare* Art das entstellt, was sich auf die ersten Pläne bezieht, die ich mir gemacht hatte. * Ich muss bei dieser Gelegenheit bemerken, dass ich nie Kenntnis von einem Werk hatte, das in sechs Bänden bei Vollmer in Hamburg unter dem bizarren Titel einer Reise um die Welt und ins südliche Amerika, von A.v. Humboldt, herauskam. Dieser in meinem Namen gemachte Bericht wurde, wie es scheint, nach den in den öffentlichen Blättern erschienenen Notizen und nach den einzelnen Abhandlungen bearbeitet, die ich der ersten Klasse des Instituts vorlas. Der Sammler glaubte, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen, einer Reise in einige Teile des Neuen Kontinents den anziehenden Titel einer Reise um die Welt geben zu müssen.« Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 1. S. 20.]

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Schütz gibt sich im Untertitel als »Verfasser von Cooks Reisen um die Welt« zu erkennen und stellt sein »Lesebuch für die Jugend« explizit in die Tradition von Campe.245 Damit wird seine Intention deutlich, eine Reisebeschreibung vorzulegen, die unterhaltsam und lehrreich zugleich sein soll, jedoch ohne wissenschaftlich ins Detail zu gehen. Wie viele Briefe Alexander tatsächlich während seiner Reise geschrieben hat, lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Die meisten Briefe gingen auf der Überfahrt nach Europa verloren, da das Zustellen der Post in den spanischen Kolonien sehr umständlich und mit vielen Unsicherheiten verbunden war. Die Land- und Seewege waren teilweise sehr gefährlich, sodass viele Briefe die Adressaten nicht erreichten. Nicht selten havarierten die Postschiffe oder die Schiffsladungen wurden einfach über Bord geworfen. Erschwert wurde die Zustellung noch durch die Kriege auf dem europäischen Festland und durch die kolonialen Auseinandersetzungen zwischen Spanien und England. Bisher sind 111 Briefe, die Humboldt geschrieben hat, bekannt.246 Da er mit hohen Verlusten seiner Korrespondenz rechnen musste, sandte er Briefe mit ähnlichem Inhalt oft an verschiedene Adressaten oder wiederholte bereits früher mitgeteilte Informationen.247 Auch forderte er die Empfänger auf, die erhaltenen Schreiben an Freunde und Bekannte weiterzuleiten, um seinen Nachrichten aus Übersee eine möglichst grosse Reichweite zu verschaffen. Unter den Adressaten von Humboldts Briefen sind besonders viele Franzosen zu finden, vor allem Wissenschaftler am Institut von Paris, die er persönlich kannte. Allein für Paris lassen sich 50 Adressen in Alexanders Tagebuch ausmachen.248 Überliefert sind vor allem Briefe an den Astronomen Delambre, den Naturforscher de Lam¦therie und den Chemiker Fourcroy. Die meisten Briefe, die Humboldt deutsch geschrieben hat, sind an seinen Bruder Wilhelm gerichtet. Vier der erhalten gebliebenen Schreiben sind an den Freund und Botaniker Karl Ludwig Willdenow adressiert. Da die meisten Briefe zur Veröffentlichung bestimmt waren, handelt es sich fast durchweg um sorgfältig verfasste kleinere Abhandlungen, in denen Alexander seine neusten Erkenntnisse und Beobachtungen bekannt machte. Zum einen war er sehr daran interessiert, am wissenschaftlichen Diskurs weiterhin 245 Schütz (1805), S. 4. In den Bänden 2 bis 5 lautet der Untertitel jedoch: »Ein interessantes Lehrbuch für die Jugend«. Es sind dies jene Bände, die sich am wenigsten auf Humboldts Briefe aus Amerika beziehen. 246 Siehe die Einleitung in: Humboldt, A. (1993), S.17. 247 Zum Beispiel in einem Schreiben aus Havanna an Karl Ludwig Willdenow vom 21. Februar 1801: »Ob Du von so vielen Dir geschriebenen Briefen denn keine erhalten? Ich wiederhole deshalb, da Dich aus alter Jugendfreundschaft meine Abentheuer so genau interessiren, die Hauptepochen meiner Reise.« Ibid. S. 127. 248 Ibid. S. 9.

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teilzuhaben, zum anderen wollte er für den Fall vorsorgen, dass er seine gefahrvolle Reise nicht überleben würde. Auf diese Weise konnte er zumindest dafür sorgen, dass wichtige Forschungsresultate erhalten blieben. Somit spricht nichts dagegen, die in Europa publizierten Briefe als Teil von Humboldts Reisewerk zu betrachten. Doch untersuchen wir zunächst, in welchen Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland und Frankreich die Briefe und ihre Übersetzungen abgedruckt wurden. In Deutschland erschienen die meisten Mitteilungen in der »Neuen Berlinischen Monatsschrift«, einer Zeitschrift, die sich an eine allgemein gebildete Leserschaft richtete. Das Interesse an Humboldts Reiseerlebnissen war in Berlin natürlich besonders gross, da es sich ja bei dem ›Abenteurer‹ um einen Sohn der Stadt handelte. In Frankreich hingegen wurden die meiste Briefe aus Amerika in den »Annales du Mus¦um Nationale d’Histoire Naturelle« veröffentlicht. Dieses Magazin wurde in erster Linie von einem naturwissenschaftlich interessierten Publikum gelesen. Allein diese Feststellung zeigt deutlich, wie unterschiedlich die Amerikareise von Alexander von Humboldt in Berlin und Paris wahrgenommen wurde. Die weiter fortgeschrittene Spezialisierung der Wissenschaften und insbesondere die grosse Bedeutung der Naturwissenschaften fanden in Frankreich einen grösseren Kreis von speziell naturwissenschaftlich interessierten Lesern vor als in Deutschland.249 Dieser Befund wird auch durch die anderen deutschen und französischen Publikationsorgane gestützt, in denen Humboldts Briefe erschienen sind. In Frankreich wurden mehr als die Hälfte der Nachrichten in Journalen veröffentlicht, die einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt beinhalteten.250 Währenddessen erschienen in Deutschland drei Fünftel der Briefe in Zeitungen und Zeitschriften, die sich an ein allgemeines Publikum wandten.251 Darüber hinaus handelt es sich bei den vier Briefen, die in den »Annalen der Physik« gedruckt wurden, um Übersetzungen aus dem Französischen. Wir können also sehen, dass Alexander von Humboldt seine Adressaten sehr gezielt auswählte. So ist es auch nicht überraschend, dass sich in Form und Inhalt

249 Vgl. auch: Hey’l (2007), S.197 f. 250 Neben den vier Briefen in den »Annales du Mus¦um Nationale d’Histoire Naturelle« erschienen drei im »Magasin encyclop¦dique«, jeweils zwei im »Journal de Physique« und im »Moniteur« sowie je einer in den »Annales de Chimie« und im »Publiciste«. 251 Die weitaus meisten Briefe, elf an der Zahl, erschienen in der »Neuen Berlinischen Monatsschrift«, vier in den »Annalen der Physik«, drei in den »Jahrbüchern der Berg- und Hüttenkunde«, jeweils zwei in der »Allgemeinen Literatur-Zeitung« und in den »Allgemeinen Geographischen Ephemeriden« sowie je ein Brief in der »Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek«, in der »Spenerschen Zeitung« und in der »Monatlichen Correspondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde«.

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der Briefe grosse Unterschiede finden lassen.252 Je nach Empfänger und Publikum enthält ein Schreiben Schilderungen des Reiseverlaufs und persönliche Eindrücke, oder es werden wissenschaftliche Messdaten und Klassifikationen der gefundenen Mineralien, Pflanzen und Tiere übermittelt. An zwei Beispielen soll dies im Folgenden aufgezeigt werden. Am 21. September 1801 schrieb Alexander seinem Bruder Wilhelm einen ausführlichen Bericht aus Contreras im heutigen Kolumbien.253 Der Brief wurde neun Monate später in der »Neuen Berlinischen Monatschrift« abgedruckt und mit zahlreichen Anmerkungen von Wilhelm von Humboldt und Johann Erich Biester versehen.254 Nachdem der jüngere Bruder die Schwierigkeiten beim Zustellen der Briefe geschildert hat, gibt er einen euphorischen Bericht über sein seelisches und physisches Befinden in Südamerika: »Ich bin äusserst glücklich; meine Gesundheit ist so gut als sie vorher nie war ; mein Muth ist unerschütterlich; meine Plane gelingen mir ; und wo ich hinkomme, werde ich mit zuvorkommender Gefälligkeit aufgenommen. Ich habe mich bereits dergestalt an die neue Welt die mich umgiebt, gewöhnt, an die Tropen-Vegetazion, die Farbe des Himmels, die Stellungen der Gestirne, den Anblick der Indianer : dass Europa meiner Einbildungskraft manchmal nur wie ein Land vorschwebt, das ich in meiner Kindheit sah. Ich sehne mich indess darum nicht weniger dahin zurück, und denke, im Herbst 1804 wieder bei Euch zu sein.«255

Die Aneinanderreihung vielfältiger Eindrücke in knapper Form evoziert im Leser ein buntes Panoptikum der Tropenwelt. Dabei erzeugt die Aufzählung der unterschiedlichsten Bilder in gedrängter Form eine Beschleunigung, die den Anschein der Gleichzeitigkeit unzähliger Impressionen noch verstärkt. Gekonnt malt Alexander quasi die Tropen mit wenigen Pinselstrichen vor das innere Auge des Lesers. Zugleich spricht er mit affektiven Wörtern wie »glücklich«, »Muth« oder »sehnen« die Gefühle an und wird so für den Leser zur idealen Projektionsfläche für seine eigenen Sehnsüchte. Einbildungskraft und Einfühlungsvermögen des Adressaten werden gleichzeitig angeregt und zu einem harmonischen Gesamteindruck verschmolzen. Dass es sich beim Briefempfänger um Alexanders Bruder Wilhelm handelt, unterstützt noch den emotionalen Stil des Berichtes. Die sehr persönliche Beziehung zwischen Absender und Empfänger dient der Re-Inszenierung der abenteuerlichen Erlebnisse. Keine wissenschaftlichen Fakten oder fachspezifischen Begriffe stören das Ensemble. Der reisende Naturforscher spricht in dieser Schilderung seiner Reise 252 253 254 255

Siehe auch: Bitterling (1954). Bd. 98; Heft 3; S. 163. Humboldt, A. (1993), S. 145 ff. Humboldt, A. (1802), S. 437 – 461. Ibid. S. 440.

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nicht den Geologen oder Physiker an, sondern bedient ganz bewusst die Bedürfnisse eines interessierten, gebildeten Lesers, der für das Aufregende, Aussergewöhnliche und Romantische empfänglich ist. Immer wieder erwähnt der Naturforscher gefährliche Situationen, in denen er sich befunden hat, oder schildert spektakuläre Abenteuer. Im Wissen, dass sich der Leser zu Hause mehr für diese Erlebnisse als für neuentdeckte Pflanzen, Tiere oder Gesteinsformationen interessiert, bedient er geschickt dessen Bedürfnisse. Dies führt sogar dazu, dass sein Bruder Wilhelm in einer Anmerkung am Ende des veröffentlichten Briefes explizit darauf hinweisen muss, welche Bedeutung zum Beispiel Alexanders Schifffahrt auf dem Casiquiare zukommt.256 Alexander selbst schildert diesen Teil der Reise ohne Hinweis auf den wissenschaftlich bemerkenswerten Nachweis einer Bifurkation zwischen den Flusssystemen des Orinoko und des Amazonas: »Diesen [den Rio Negro, A. M.] schiften wir erst abwärts, bis zu den Gränzen von GrossPara (du Grand Para) und Brasilien; dann aufwärts bis zum Casiquiari zwölf Tage lang: zwischen so dick verwachsenen Wäldern dass wir darin die Tiger, und zwar grosse Tiger, auf den Bäumen erblickten, weil der zu üppige Pflanzenwuchs sie auf der Erde zu gehen verhinderte. Vom Casiquiari kamen wir [wieder] in den Orinoko, den wir nun weiter aufwärts gegen Osten, nach seinem Ursprung zu schiffend, bis über den feuerspeienden Berg Duida hinaus verfolgten. Noch weiter vorzudringen, verhinderte uns die Wildheit der menschenfressenden Guaikas.«257

Tiger, Vulkane und Menschenfresser fesseln den durchschnittlichen Leser gewiss viel mehr als die Entdeckung einer Bifurkation. Diese wird lediglich mit dem Wort »wieder« – in Parenthese – angedeutet, und zwar nicht von Alexander, sondern von seinem Bruder! Im weiteren Verlauf des Briefes schildert Humboldt die beschwerliche Überquerung der Anden, die er mit Bonpland zu Fuss und mit Maultieren unternommen hat. Auch dieser Teil des Berichtes richtet sich nicht an den Spezialisten. Zwar enthält er exakte geografische Angaben und ist in einem unpersönlichen Stil gehalten, doch werden solche Passagen immer wieder durch plastische Beschreibungen der Landschaft und Informationen über die ›exotische‹ Kultur der Indios aufgelockert: »Von Honda steigt man 1370 Toisen aufwärts nach Sta F¦ de Bogota. Der Weg zwischen den Felsen – kleine eingehauene Treppen, nur 18 bis 20 Zoll breit, so dass die Maulthiere nur mit Mühe ihren Leib durchbringen – ist über alle Beschreibung schlecht. 256 Ibid. S. 453 f. »Durch diese Fahrt wird ein bisher in der Erdbeschreibung bestrittener Punkt, ob es nehmlich eine Vereinigung zwischen dem Orinoko und Amazonenfluss gebe? ausser Zweifel gesetzt. Noch ganz neuerlich hat Hr Buache, Mitglied des Nazionalinstituts in Paris, diese Vereinigung, die er une monstruosit¦ en G¦ographie nennt, geläugnet.« 257 Ibid. S. 441 f.

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Man tritt aus der Mündung des Berges (la boca del monte) bei 4835’ N. Breite; und nun befanden wir uns auf einmal in einer grossen Ebene von mehr als 32 Französ. Quadratmeilen, auf der man zwar keine Bäume sieht, die aber mit Europäischen Getreidearten besäet und mit Indianischen Dörfern angefüllt ist. Diese Ebene (los Llanos de Bogota) ist der ausgetrocknete Grund des Sees Funzhe, welcher in der Mythologie der Muyscas Indianer eine wichtige Rolle spielt.«258

Mit dem Wechsel der Subjekte (man – wir) und der Tempora der Verben (Präsens – Präteritum), manchmal innerhalb eines Satzes, werden die verschiedenen Erzählebenen des Berichtes gekennzeichnet. Doch vermeidet es Alexander, die Schilderung seiner Reise mit zu vielen wissenschaftlichen Details zu ergänzen. Er geht damit ebenfalls gezielt auf die Interessen und Vorlieben seiner Leserschaft ein, welche mit einem naturwissenschaftlichen Spezialwissen nicht vertraut ist. Damit wendet Humboldt bereits in seinen frühesten Reiseberichten eine Erzähltechnik an, der wir auch noch in den »Ansichten der Natur« und der »Relation historique« begegnen werden. Auch diese Parallele spricht für die These, dass Alexander von Humboldt seine Briefe im Hinblick auf eine Veröffentlichung konzipiert hat. Die auf eine bestimmte Leserschaft zugeschnittene Abfassung des Reiseberichtes lässt sich überdies auch mit ökonomischen Interessen von Alexander von Humboldt und seinem Verlag erklären. Die Veröffentlichung der Briefe sollte nicht zuletzt dazu dienen, den Verkauf der geplanten »Relation historique« zu fördern, indem die Neugier der potentiellen Käufer für Alexanders Reiseerlebnisse frühzeitig geweckt wurde. Doch zeigt dieses Verhalten andererseits, wie sehr sich Humboldt bewusst war, dass er auf wissenschaftliche Exaktheit verzichten musste, wollte er die Erwartungen seines Publikums und Verlages erfüllen. Auf seinen Plan, den Gesamtzusammenhang der Natur darzustellen, musste er deshalb zunächst verzichten. Ganz anders präsentieren sich Inhalt und Stil derjenigen Briefe, welche Humboldt den Naturwissenschaftlern in Frankreich und Deutschland sandte. Hier sind an erster Stelle die Forscher am ›Institut National‹ zu nennen, mit denen er vor seiner Südamerikareise zusammenarbeitete. Auch diese Schreiben waren wohl in den meisten Fällen von Beginn an zur Veröffentlichung bestimmt, jedoch richteten sie sich in erster Linie an Fachgelehrte. Dementsprechend sind Form und Inhalt dieser Mitteilungen gestaltet. Exemplarisch lässt sich das an einem Brief aus Cuman‚ aufzeigen, den Alexander am 18. Juli 1799 an Jean Claude de Lam¦therie schrieb. De Lam¦therie war nicht nur ein vielfältig interessierter Arzt und Naturforscher, sondern auch Herausgeber des »Journal de Physique, de Chimie, d’Histoire naturelle et des Arts«, in dem er den Bericht des preussischen Forschungsreisenden fünf Monate 258 Ibid. S. 449.

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später veröffentlichte.259 Eine deutsche Übersetzung erschien schon bald in den »Annalen der Physik«.260 Wie in sämtlichen wissenschaftlichen Briefen teilt Humboldt zuerst den Zustand seiner Instrumente mit: »Il n’y a que 3 jours, mon bon et digne ami, que je suis arriv¦ sur cette cúte de l’Am¦rique m¦ridionale, et d¦j— il se pr¦sente une occasion favorable pour vous donner un signe de vie, pour vous dire en h–te (car le b–timent est prÞt de mettre — la voile) que mes instrumens d’astronomie, de physique et de chimie ne sont point d¦rang¦s; que j’ai beaucoup travaill¦ pendant la navigation sur la composition chimique de l’air, sa transparence, son humidit¦ [,] sur la temp¦rature de l’eau de mer, sa densit¦…., sur l’inclinaison de l’aguille aimant¦e, l’intensit¦ de la force magn¦tique… Mes sextants de Ramsden et de Troughton, et le chronomÀtre de Louis Berthoud […], m’ont donn¦ la facult¦ de d¦terminer avec une grande exactitude les endroits o¾ chaque observation a et¦e faite; avantage trÀs-grand pour les observations magn¦tiques.«261

Da die meisten seiner Beobachtungen von der Genauigkeit der Messinstrumente abhingen, sind Informationen über den Typ und die Zuverlässigkeit jedes Instrumentes sehr wichtig. Die Betonung der Messgenauigkeit unterstreicht die wissenschaftlichen Ambitionen Humboldts. Anschliessend schildert Alexander seinem Freund, wie glücklich er ist, genügend Zeit auf Teneriffa gefunden zu haben – im Gegensatz zu den meisten anderen Naturforschern –, den Vulkan Pico de Teide zu besteigen. Nach einer kurzen Beschreibung der überwältigenden Aussicht vom Gipfel des Berges (»spectacle majestueux«)262 teilt er de Lam¦therie die Ergebnisse seiner Hö-

259 Humboldt, A. (1799 g), S. 433 – 436. 260 Alexander von Humboldt’s physikalische Betrachtungen auf seiner Reise nach dem Spanischen Amerika. In: Lam¦therie (1800), S. 443 – 455. 261 Humboldt, A. (1799 g), S. 433. [»Es ist kaum drei Tage her, mein guter und verehrter Freund, dass ich an dieser Küste von Südamerika angekommen bin, und schon bietet sich eine günstige Gelegenheit, um Ihnen ein Lebenszeichen zu geben, um Ihnen eiligst mitzuteilen (denn das Schiff ist bereit die Segel zu setzen), dass meine astronomischen, physikalischen und chemischen Instrumente nicht in Unordnung sind; dass ich während der Schifffahrt viel über die chemische Zusammensetzung der Luft gearbeitet habe, ihre Transparenz, ihre Feuchtigkeit, über die Temperatur des Meerwassers, seine Dichte…, über die Inklination der Magnetnadel, die Intensität der magnetischen Kraft… Meine Sextanten von Ramsden und Troughton, und das Chronometer von Louis Berthoud […] haben mir die Möglichkeit gegeben, mit grosser Exaktheit die Orte, wo jede Beobachtung gemacht wurde, zu bestimmen; ein sehr grosser Vorteil für die magnetischen Beobachtungen.«] 262 [»majestätischer Anblick«]. Im Vergleich dazu fällt die entsprechende Beschreibung der Aussicht vom Pico de Teide in Humboldts Brief an seinen Bruder Wilhelm sehr viel emotionaler aus: »Gott, welche Empfindung, auf dieser Höhe (11 500 Fuss)! Die dunkelblaue Himmelsdecke über sich; alte Lavaströme zu den Füssen; um sich, dieser Schauplatz der Verheerung (3 Quadratmeilen Bimsstein), umkränzt von Lorbeerwäldern; […]« (Humboldt, A. (1801), S. 133.)

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henmessungen und die Zusammensetzung der Höhenluft mit, welche er mit derjenigen auf Meereshöhe vergleicht. Bereits in seinen Briefen finden wir somit die für Humboldt typischen Vergleiche verschiedener Beobachtungen und Messungen. Besonders deutlich können wir das in der darauffolgenden Briefpassage sehen, in der nicht nur die Gesteinsschichten des Pico de Teide analysiert, sondern zugleich mit der Bildung des europäischen und afrikanischen Kontinentes in Verbindung gebracht werden: »Le pic de Teyde est une immense montagne basaltique, qui paro„t reposer sur de la pierre calcaire dense et secondaire. C’est la mÞme, qu’avec beaucoup de pierre — fusil, on trouve au Cap Noir en Afrique; la mÞme — Cadix, — la Manche, en Provence; la mÞme sur laquelle reposent les basaltes de St. Loup prÀs d’Agde, et ceux de Portugal. Voyez avec quelle uniformit¦ le globe est construit! Les AÅores, les Canaries, les „les du Cap Vert ne paroissent Þtre que la continuation des formations basaltiques de Lisbonne!«263

Das Erkennen und Beschreiben von grossräumigen Zusammenhängen zeichnen Alexander von Humboldts wissenschaftliche Leistung besonders aus. Dieser Holismus wurde insbesondere von Goethe und den Naturphilosophen in Deutschland sehr geschätzt. Doch darf man nicht vergessen, dass Humboldts ›Totalanblick‹ eigene umfangreiche Beobachtungen und ein intensives Studium naturwissenschaftlicher Werke zugrunde liegen. Stets vermeidet es Alexander, sich allzu sehr auf Spekulationen einzulassen. Wo er Mutmassungen anstellt, ohne auf gesicherte Daten zurückgreifen zu können, werden seine Formulierungen vorsichtig. So verwendet er auch in diesem Schreiben an de Lam¦therie beispielsweise das französische Verb »para„tre« (»scheinen«), um deutlich zu machen, dass seine Theorie lediglich auf Hypothesen beruht. Auch stellt er Fragen zur Identität von Gesteinsproben aus verschiedenen Regionen und erörtert die Möglichkeit, Erkenntnisse aus empirischen Daten für technologische Fortschritte verwenden zu können. In den Hintergrund treten aber die ästhetischen Eindrücke der Landschaften, die Schilderung gefährlicher Abenteuer oder die seelische Befindlichkeit des Reisenden. Humboldt vermeidet ganz gezielt die Ermutigung seiner Leser zu 263 Humboldt, A. (1799 g), S. 434. [»Der Pico de Teide ist ein riesiger Basaltberg, welcher auf dichtem sekundären Kalkgestein zu ruhen scheint. Es ist dasselbe, welches man mit einer Menge Feuerstein gemischt am Kap Noir [?] in Afrika findet; dasselbe in Cadiz, am Ärmelkanal, in der Provence; dasselbe, auf welchem die Basalte von St. Loup bei Agde und diejenigen von Portugal ruhen. Sehen Sie mit welcher Gleichförmigkeit die Erde gebaut ist! Die Azoren, die Kanaren, die Kapverdischen Inseln scheinen nichts anderes als die Fortsetzung der Basaltformationen von Lissabon zu sein!«] Nach Angabe von Ulrike Moheit steht im »Journal de Physique« fälschlicherweise »Cap Noir« anstatt »Cap Non«. (Humboldt, A. (1993), S. 45. Anm. 8.) Auch der deutsche Übersetzer übernimmt in den »Annalen der Physik« die Bezeichnung »Kap Noir«. Zudem übersetzt er »La Manche« unrichtig mit »La Mancha« statt mit »Ärmelkanal«. (Alexander von Humboldt’s physikalische Betrachtungen auf seiner Reise nach dem Spanischen Amerika. In: Lam¦therie (1800), S. 446.)

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fantastischen Spekulationen. Der wissenschaftliche Gehalt seines Briefes hat stets Priorität. Vorsicht kennzeichnet allgemein Humboldts Vorgehen in den Briefen an Naturwissenschaftler, sobald nicht mehr objektiv überprüfbare Messergebnisse den Ausgangspunkt von dessen Hypothesen bilden. Immer wieder kommt er deshalb auf seine Messdaten zurück, sei es, dass diese die magnetische Inklination oder die Längen- und Breitengrade eines Ortes, sei es, dass sie den Sauerstoffgehalt oder die Temperatur der Luft angeben. Unterstützt werden seine Angaben durch Tabellen, Formeln und Skizzen. Selbst Literaturangaben und Zitate dokumentieren Alexanders Bemühen um möglichst exakte Mitteilungen. Aufgrund des objektiven Stils lesen sich diese Briefe wie wissenschaftliche Essays, in denen persönliche Meinungen und subjektive Eindrücke weitgehend ausgeblendet werden. Sowohl inhaltlich als auch formal rücken sie in die Nähe von Humboldts zahlreich verfassten ›M¦moires‹. So schliesst auch das oben betrachtete Schreiben an de Lam¦therie bezeichnenderweise mit dem nüchternen Satz: »Nous ferons des exp¦riences sur le g i m n o t u s e l e c t r i c u s .«264

V.4.b) Die »Ansichten der Natur« – eine »ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände«265 Ungeduldig erwarteten die Zeitgenossen Alexander von Humboldts eine ausführliche Reisebeschreibung und die Auswertung seiner gesammelten Forschungsergebnisse. Doch die grosse Fülle des Materials und die kriegerischen Wirren in Europa vereitelten den Plan, das Reisewerk binnen »deux — deux demians«266 herausgeben zu können. Vielmehr sollte es noch mehr als zwanzig Jahre dauern, bis die Herausgabe der »Voyage aux r¦gions ¦quinoxiales du Nouveau Continent« abgeschlossen war – und welche trotzdem Fragment blieb.267 Um dennoch das Bedürfnis der Leser zu befriedigen und die Gunst des grossen Interesses zu nutzen, das seine Rückkehr nach Europa geweckt hatte, entschloss sich Humboldt, drei seiner an der Berliner Akademie öffentlich gehaltenen 264 Humboldt, A. (1799 g), S. 436. [»Wir werden Versuche mit Zitteraalen machen.«] 265 Humboldt, A. (1808), Erster Band. S. VI. Weitere Bände sind in der ersten Ausgabe nicht erschienen. Im Folgenden beziehe ich mich stets auf diese Erstausgabe, da die zweite und dritte Ausgabe von 1826 bzw. 1849 von Humboldt überarbeitet und beträchtlich erweitert wurden. Ebenfalls im Jahr 1808 erschien bereits eine französische Übersetzung von JeanBaptiste Benoit EyriÀs, die »Tableaux de la nature«. 266 Pictet (1868), S. 161. [»in zwei bis zweieinhalb Jahren«]. In diesem Brief spricht Humboldt noch von elf Bänden verschiedenen Inhalts, die sein Reisewerk umfassen soll. 267 Zu dem bibliografischen Wirrwarr um die Veröffentlichung von Alexander von Humboldts Reisewerk siehe: Fiedler / Leitner (2000), S. 67 ff.

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Vorträge als abgeschlossene Essays in einem kleinen Buch, den »Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen«, zu veröffentlichen. Einen weiteren Grund für die vorzeitige Veröffentlichung einiger Beschreibungen seiner Reise gibt Alexander im Vorwort zur ersten Ausgabe an: »B e d r ä n g t e n G e m ü t h e r n sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet.«268 Hintergrund dieser Äusserung war die politische Situation in Preussen und insbesondere in Berlin, das am 27. Oktober 1806 von Napoleon besetzt wurde. So sollten die »Ansichten der Natur« den unfreien Zeitgenossen den Trost spenden, den nach damaliger Auffassung die ›freie Natur‹ zu gewähren vermochte.269 Die ebenfalls im Vorwort zitierten Verse aus Schillers »Braut von Messina« waren für die Leser eine deutliche Anspielung auf die politischen Zustände in Preussen,270 für die französische Zensurbehörde waren sie jedoch noch tolerierbar. Der Titel des kleinen Werkes ist eine Reminiszenz an Georg Forster, den früheren Reisegefährten Humboldts, den dieser sehr verehrte. Forsters »Ansichten vom Niederrhein« dienten gewiss als Vorbild für die ästhetische Beschreibung der Landschaften. Auch dürfte die ambivalente Bedeutung des Wortes ›Ansichten‹ sowohl für Forster als auch für Humboldt eine Rolle bei der Titelgebung gespielt haben. Bei beiden wird mit den ›Ansichten‹ nicht nur die Beschreibung des Gesehenen, des Angeschauten angekündigt, sondern es werden mit dem Begriff auch ihre persönlichen Stellungnahmen impliziert. Die Bildhaftigkeit sowie die Subjektivität der beiden Werke waren sicherlich ausschlaggebend für die grossen Erfolge der Reisebeschreibungen von Forster und Humboldt, erleichterten sie doch die Identifikation des Lesers mit dem reisenden Erzähler. Im Unterschied aber zu Forster wollte Alexander ausserdem die naturwissenschaftlich gebildeten Leser zufriedenstellen, indem er, wie der Titel bereits ankündigt, in den Anmerkungen auch die exakten wissenschaftlichen Ergebnisse seiner Reise mitteilte. Den Kern der »Ansichten der Natur« bilden die »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse«, ein Essay, welcher bereits unter gleichnamigem Titel 1806 bei Cotta als Separatdruck erschienen war271 und von Goethe in der »Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« sehr positiv rezensiert wurde.272 Ihm liegt ein 268 Humboldt, A. (1808), S. VII. 269 Der Gegensatz Natur – Kultur spielte schon in Wilhelm von Humboldts anthropologischen Schriften eine wichtige Rolle. Er diente diesem jedoch zur Kritik an der ›französischen Wesensart‹ allgemein, eine Konnotation, die er bei Alexander gewiss nicht besitzt. Seine Kritik betrifft vielmehr die napoleonische Machtpolitik, ohne jedoch die Ziele der französischen Revolution in Frage zu stellen. 270 »Auf den Bergen ist Freyheit! Der Hauch der Grüfte / Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte, / Die Welt ist vollkommen überall, / Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.« (Humboldt, A. (1808), S. VIII.) 271 Humboldt, A. (1806) 272 »Nachdem der erste sehnliche Wunsch erfüllt war, den trefflichen und kühnen Naturforscher

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Vortrag zugrunde, welchen Alexander am 30. Januar 1806 in der Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gehalten hatte. Offensichtlich ist der Titel eine Anlehnung an Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Wie wir gesehen haben, dürfte Alexander von Humboldt aus diesem Werk zahlreiche Anregungen zu seiner Pflanzengeografie erhalten haben.273 Bereits der erste Satz dieser Abhandlung gibt uns einen Eindruck davon, auf welcher Stilebene und in welcher Manier der Text geschrieben ist: »Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht, oder in seiner Phantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung misst, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt.«274

Keine genaue wissenschaftliche Analyse der in Südamerika vorgefundenen Gegebenheiten finden wir im Haupttext dieses Essays vor, sondern eine poetische Darstellung von Alexanders Reiseeindrücken. Hier werden Sinne und Fantasie des Lesers (und Zuhörers) angeregt. Humboldt entwirft ein Gemälde – oder ›Ansichten‹ –, das die grossen Zusammenhänge in der Natur verdeutlichen soll. Gleichsam aus einer Vogelperspektive überschauen wir gemeinsam mit dem Verfasser die verschiedenen Pflanzenerscheinungen und Landschaften.275 Aus dieser »höheren Ansicht«276 erkennen wir erst eine Einheit, die allein durch wissenschaftliche Untersuchungen der einzelnen Gegenstände nicht sichtbar wäre. Auf Anraten Goethes legte Humboldt die »Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse« in einer zweigegliederten Fassung vor : in einem beschreibenden Teil und in wissenschaftlichen Erläuterungen, welche von diesem abgetrennt sind. Diese Erscheinungsweise übernahm Humboldt auch für die beiden übrigen Essays der »Ansichten«. Die Akademievorträge »Ueber die Steppen und Wüsten«, gehalten am 29. Januar 1807, und »Ueber die Wasserfälle des Orinoco bei Atures

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von seiner müh- und gefahrvollen Reise wieder bey den Seinen zu wissen: so musste der zweyte sogleich lebhaft entstehen, und Jedermann höchst begierig seyn auf eine Mittheilung aus der Fülle der eroberten Schätze. Hier nun empfangen wir die erste Gabe, in einem kleinen Gefäss sehr köstliche Früchte.« (Jenaische Literatur-Zeitung vom Jahre 1806. Dritter Jahrgang. Erster Band. Jena und Leipzig 1806. S. 489.) Goethe gibt in seiner Rezension vor allem Auszüge aus Humboldts Essay wieder. Vgl. dazu Kapitel II.3.b), insbesondere die Seiten 135 ff. Humboldt, A. (1808). Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. S. 157. In Goethes Worten: »[…] So thut hier der Mann, dem die über die Erdfläche vertheilte Pflanzengestalten in lebendigen Gruppen und Massen gegenwärtig sind, schon voraneilend den letzten Schritt, und deutet an, wie das einzeln Erkannte, Eingesehene, Angeschaute, in völliger Pracht und Fülle dem Gefühl zugeneiget, und wie der so lange geschichtete und rauchende Holzstoss, durch einen ästhetischen Hauch, zur lichten Flamme belebt werden könne.« (Jenaische Literatur-Zeitung vom Jahre 1806. A.a.O. S. 489.) Ibid.

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und Maypures« vom 6. August 1807 bildeten dafür die Grundlage. Die Hauptteile konnten auf diese Weise als einheitliche Texte gelesen werden, ohne dass man die ›störenden‹ Anmerkungen beachten musste. Spätere Ausgaben, die nach dem Tod Humboldts erschienen sind, verzichteten zum Teil ganz auf die wissenschaftlichen Erläuterungen,277 obwohl diese in der dritten Ausgabe von 1849, der letzten von Alexander selbst bearbeiteten und ergänzten Ausgabe, mehr als vier Fünftel des gesamten Textes ausmachen. Zweifellos sicherte die Zweigliederung, die eine spätere Aktualisierung der wissenschaftlichen Anmerkungen ermöglichte, den lang anhaltenden Erfolg der »Ansichten« und kam den Bedürfnissen eines breiten Publikums entgegen.278 Trägt die zweigegliederte Ausgabe auch zu einem leichteren Verständnis der Essays bei, so verdeutlicht sie aber auf eklatante Weise die Problematik, mit der sich Humboldt bei der Auswertung seiner Forschungsergebnisse konfrontiert sah. Denn einerseits sollten die Abhandlungen den »Totaleindruck des Naturgemäldes« wiedergeben, welcher »das Gefühl und die Phantasie« anspricht. Die Exotik der tropischen Natur verleitet allerdings leicht dazu, den Gesamteindruck des Naturganzen durch eine zu ausgiebige Aufzählung einzelner Eindrücke zu stören. Deshalb wollte Alexander andererseits auch eine »dichterische Prosa« vermeiden, da seiner Meinung nach der Genuss durch eine »unmittelbare Anschauung« nur mit der »Einsicht in den inneren Zusammenhang der Naturkräfte«279 erhöht werden kann. Diese Einsicht sollte der Leser aus den zahlreichen wissenschaftlichen Anmerkungen erhalten. Doch eine Darstellung des Naturganzen, welche auf empirisch überprüfbaren Daten oder zumindest sehr wahrscheinlichen Annahmen beruht und diese vollständig integriert, hätte die Verschmelzung einer objektiven, sachlichen Bearbeitung des Materials mit einem ästhetischen Stil erfordert. Wegen der immensen Fülle neu gewonnener wissenschaftlicher Daten war dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber kaum mehr möglich. Anhand des Essays »Ueber die Steppen und Wüsten« möchte ich die auftretenden Schwierigkeiten einer ›ganzheitlichen‹ Darstellung der Natur etwas näher betrachten. 277 Noch Adolf Meyer-Abich lässt in der Reclam-Ausgabe der »Ansichten der Natur« von 1969 die »Erläuterungen und Zusätze« weg, da sie mit den »Methoden moderner wissenschaftlicher Forschung überprüft« werden müssten. Dass Humboldts Anmerkungen aber von wissenschaftshistorischem Interesse sind, übersieht er offenbar völlig. (Humboldt, A. (1969), S. 5 f; Anm. 1.) 278 So meint etwa Meyer-Abich: »Humboldts Ideen zur Philosophie der Erde aber sind wie alle echte Philosophie dem wissenschaftlichen Hinsterben der Tatsachen nicht unterworfen. Wie man heute Platons, Descartes’ oder Kants Werke noch mit demselben Gewinn an Bildung lesen kann wie einst, so gilt dies auch von Humboldts Philosophie unserer irdischen Natur.« (Ibid. S. 6; Anm. 1.) 279 Humboldt, A. (1808), S. VI f.

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Der Erzähler nimmt den Leser mit auf seine Wanderung von der Küste Venezuelas nach Süden in die Llanos. Schon der Beginn der Abhandlung schildert den landschaftlichen Unterschied zwischen Küstenvegetation und Steppe beziehungsweise Gebirge und Ebene: »Am Fusse des hohen Granitrückens, welcher im Jugendalter unseres Planeten, bei Bildung des antillischen Meerbusens, dem Einbruch der Wasser getrozt hat, beginnt eine weite unabsehbare Ebene. Wenn man die Bergthäler von Caraccas, und den inselreichen See Tacarigua1), in dem die nahen Pisangstämme sich spiegeln; wenn man die Fluren, welche mit dem zarten Grün des thaitischen Zuckerschilfes prangen, oder den ernsten Schatten der Cacaogebüsche zurücklässt: so ruht der Blick im Süden auf Steppen, die scheinbar ansteigend, in schwindender Ferne, den Horizont begränzen.«280

Humboldt schildert zunächst die subjektiven Eindrücke, die ein Reisender beim Anblick der südamerikanischen Landschaften erhält.281 Keine Längen- und Breitengradangaben, auch keine Höhenangaben werden uns mitgeteilt. Die Landschaft wird so beschrieben, wie sie dem Betrachter erscheint. Dabei ist unklar, ob das Gesehene auch tatsächlich mit empirischen Messergebnissen übereinstimmt. Diese Subjektivität wird noch durch die Verwendung zahlreicher Adjektive betont, welche die verschiedenen Landstriche näher beschreiben. Gerade an diesem ausgiebigen Gebrauch der Adjektive, der in den späteren Ausgaben noch zunehmen wird, stiessen sich Humboldts Kritiker. Der imposante Eindruck, welcher der Leser durch die humboldtsche Beschreibung der Llanos bekommt, wird durch die geschickte Konstruktion von Kontrasten verstärkt. Der »hohe Granitrücken« und die »weite unabsehbare Ebene« bilden einen Gegensatz von geologischen Formationen, zu dem sich noch derjenige der Vegetationszonen gesellt. Im Unterschied zu dem im folgenden Abschnitt beschriebenen »öden Rand einer pflanzenleeren Wüste«,282 wird die Landschaft um den See Tacarigua gleichsam als ›locus amoenus‹ geschildert, wobei Alexander lediglich einzelne Elemente sehr effektiv kumuliert. Allein die Erwähnung von »Pisangstämmen«, »thaitischem Zuckerschilf« oder »Cacaogebüschen« evoziert im Leser das Bild einer lieblichen, wenn auch exotischen Gegend. Im weiteren Verlauf der Erzählung verdeutlicht Humboldt die Wirkung der südamerikanischen Landschaft auf den Menschen, indem er sie mit anderen Wüsten und Steppen der Erde vergleicht. Das Gemeinsame der Llanos, der Sahara und der nordeuropäischen Heidelandschaft erleichtert es dem Leser, sich das Fremde oder gar Exotische anhand des Bekannteren besser vorstellen zu 280 Humboldt, A. (1808). Ueber die Steppen und Wüsten. S. 1 f. 281 Siehe dazu: Hey’l (2007), S. 226 ff. 282 Humboldt, A. (1808). Ueber die Steppen und Wüsten. S. 2.

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können. Der Totalanblick der verschiedenen Erdstriche erlaubt es zudem, globale Zusammenhänge erkennen und die spezifischen Einflüsse einzelner Faktoren für den individuellen Charakter eines Landschaftstyps bestimmen zu können. Quasi aus der Vogelperspektive werden die verschiedenen Weltgegenden vor uns ausgebreitet, sodass wir die Differenzen in ihrer Ausgestaltung besser wahrnehmen können. Aber Alexander von Humboldt beschreibt nicht nur die unterschiedlichen Landschaftstypen, sondern erklärt auch, wie es zu diesen Differenzen gekommen ist. Im Unterschied jedoch zu seinen wissenschaftlichen Abhandlungen und abgesehen von den wissenschaftlichen Anmerkungen verzichtet er in diesem Essay auf genaue Messergebisse und Mengenangaben. Nur in parallel gebauten Ellipsen zählt er die Ursachen für die klimatischen Abweichungen zwischen den Kontinenten auf. Hastig und in gedrängter Form vermeidet er bewusst exakte Erläuterungen, die den ästhetischen Charakter des Haupttextes stören könnten. Deshalb fällt auch das Ergebnis seiner knappen Aufzählung nur sehr allgemein, für die Ansprüche eines Naturwissenschaftlers zu oberflächlich, aus: »[…] alle diese Verhältnisse gewähren dem flachen Theile von Amerika ein Klima, das mit dem Afrikanischen durch Feuchtigkeit und Kühlung wunderbar contrastirt. In ihnen allein liegt der Grund jenes üppigen saftstrotzenden Pflanzenwuchses, jener Frondosität, welche den eigenthümlichen Character des neuen Continents bezeichnet.«283

Anders präsentiert sich die Darstellung des südamerikanischen Kontinents, wenn wir die erste Anmerkung im Anschluss an den Essay lesen.284 Hier berichtet der Kartograf Humboldt in einer Fussnote zum »See Tacarigua« sehr akribisch über die geografischen und geologischen Gegebenheiten Venezuelas: »1) Wenn man durch das Innere von Südamerika, von der Küste von Caraccas oder Venezuela bis gegen die brasilianische Gränze, vom 10ten Grade nördlicher Breite bis zum Aequator vordringt, so durchstreicht man zuerst eine hohe Gebirgskette, die von Westen gegen Osten gerichtet ist; […]«285

Es folgt eine genaue Lokalisierung der Steppe zwischen dem Gebirge entlang der Küste, dem Orinoko sowie der Sierra de la Parime. Schliesslich gibt uns Alexander noch einen Hinweis auf ein älteres Kartenwerk von La Cruz Olmedilla, das 283 Ibid. S. 15. 284 Annette Graczyk und Bettina Hey’l berücksichtigen in ihren Interpretationen der »Ansichten der Natur« die wissenschaftlichen Ergänzungen von Alexander von Humboldt überhaupt nicht. Dabei waren die exakten Datenangaben für den Autor ein wesentlicher Bestandteil des Werkes, der es von Georg Forsters und Chateaubriands Art der Naturbeschreibung unterscheiden sollte. Durch das Weglassen eines Grossteils des Textes wird somit eine neue, abgeschlossene Einheit konstruiert, die wohl kaum der Intention Humboldts gerecht wird. (Graczyk (2004).; Hey’l (2007).) 285 Humboldt, A. (1808). Ueber die Steppen und Wüsten. S. 46. Anm. 1.

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die Differenzen zu seinen eigenen geografischen Vermessungen verdeutlichen soll.286 Nach weiteren geologischen und geografischen Angaben zu verschiedenen Gebirgsformationen, die auch eine Diskussion unterschiedlicher Höhenbestimmungen einzelner Berge umfassen, lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf erdgeschichtliche Fragen. Mit der Entstehung der Antillen stellt Humboldt einen Zusammenhang zwischen dem jetzigen und dem früheren Aussehen der Erde her und fügt der räumlichen Achse auch eine zeitliche bei. Im anschliessenden Vergleich zwischen dem See Tacarigua und der Gebirgskette von Caracas mit dem Genfersee und den Savoyeralpen erkennen wir eine für Alexander typische Methode. Bereits in seinen frühesten Werken veranschaulichte er die Darstellung eines Untersuchungsobjektes, indem er Analogien und Differenzen zu anderen, bekannteren Objekten aufzeigte. Im Anschluss daran beschreibt er verschiedene Tier- und Pflanzenarten, insbesondere das Zuckerrohr. Doch belässt es Humboldt nicht bei zoologischen und botanischen Klassifikationen, sondern er berücksichtigt ebenfalls die gegenseitigen Einflüsse, welche die natürliche Umwelt und die Kultur der Menschen aufeinander haben. Zwar enthalten auch die wissenschaftlichen Ergänzungen einige wenige poetische Beschreibungen der Landschaften, doch ihr überwiegender Teil ist in einem betont sachlichen und objektiven Stil verfasst. Ein weiterer auffallender Unterschied zum Essay besteht darin, dass sie keine stringente Strukturierung aufweisen, sondern oft in Erörterungen von Detailfragen abschweifen. Die Aneinanderreihung von unterschiedlichen Themen unter einer einzigen Fussnotenziffer, die manchmal ziemlich sprunghaft anmutet, erleichterte eine spätere Ergänzung, Korrektur oder Überarbeitung der Anmerkungen. Hingegen erlaubte der sorgfältig komponierte Aufbau der Haupttexte kaum eine umfangreiche spätere Bearbeitung, ohne deren harmonischen Gesamteindruck zu beeinträchtigen. Neben inhaltlichen Differenzen zwischen dem Essay »Ueber die Steppen und Wüsten« und den beigefügten Anmerkungen stellen wir also in erster Linie einen Unterschied in den Stilmitteln fest. Hier gilt es nun zu berücksichtigen, dass dem Essay ursprünglich ein mündlicher Vortrag zugrunde lag. Deshalb ist es nicht überraschend, dass er mit zahlreichen rhetorischen Figuren und Tropen ausgeschmückt ist. Neben dem bereits erwähnten ›locus amoenus‹ finden wir als Gegenstück zum Beispiel auch den ›locus terribilis‹: »Gegen Süden umgiebt die Steppe eine schaudervolle Wildniss. Tausendjährige Wälder, ein undurchdringliches Dickigt erfüllen den feuchten Erdstrich zwischen dem Orinoco und dem Amazonen-Strome. Mächtige, bleifarbige Granitmassen verengen das Bette 286 In der hier untersuchten ersten Ausgabe der »Ansichten der Natur« fügt Alexander von Humboldt an dieser Stelle der Anmerkung zusätzlich eine Fussnote an, die eine Kritik verschiedener neuerer Kartenwerke enthält.

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der schäumenden Flüsse. Berg und Wald hallen wieder von dem Donner der stürzenden Wasser, von dem Gebrüll des Jaguar, von dem dumpfen regenverkündenden Geheul der bärtigen Affen.«287

Mit solchen dramatischen Schilderungen vermag Alexander von Humboldt zweifellos die Zuhörer und Leser in seinen Bann zu schlagen. Auch der Gebrauch der Pars pro Toto »das Gebrüll des Jaguars« oder »das Geheul der bärtigen Affen« anstelle einer allgemeinen Aussage wie etwa ›das Geschrei der Tiere‹ steigert den dramatischen Effekt und erzeugt eine emotionale Atmosphäre. Die konkrete Benennung von einzelnen Tierarten vermag die Imagination des Publikums anzuregen und dessen Affekte anzusprechen. Alexander folgt hierin der traditionellen aristotelischen Anforderung an ein Drama, Jammer und Schauder hervorzurufen. Die Dynamik des Geschehens, die bei der Erzählung dieser Episode unterstrichen wird, erhält zudem Nahrung durch die Partizipien »schäumend« und »stürzend«. Die Natur selbst wird nun zur handelnden Person. Diese Anthropomorphisierung ist ebenfalls ein Kennzeichen für Humboldts sorgfältige Ausarbeitung des Vortrages und die bewusste Einbeziehung von dessen Wirkung auf den Zuhörer beziehungsweise Leser. Für einen wissenschaftlichen Text wären diese rhetorischen Stilmittel jedoch unangemessen. Der erhabene Stil, der bisweilen im Pathetischen kulminiert, untergräbt die wissenschaftliche Autorität des Autors. Auch die allgemeinen Reflexionen des Erzählers am Schluss des Essays fänden in einem rein wissenschaftlichen, objektiven Bericht keinen Platz: »So bereitet der Mensch auf der untersten Stufe thierische Rohheit, so im Scheinglanze seiner höheren Bildung, sich stets ein mühevolles Leben. So verfolgt den Wanderer über den weiten Erdkreis, über Meer und Land, wie den Geschichtsforscher durch alle Jahrhunderte, das einförmige, trostlose Bild des entzweiten Geschlechts. Darum versenkt, wer im ungeschlichteten Zwist der Völker nach geistiger Ruhe strebt, gern den Blick in das stille Leben der Pflanzen, und in der heiligen Naturkraft inneres Wirken; oder hingegeben dem angestammten Triebe, der seit Jahrtausenden der Menschen Brust durchglüht, blickt er ahndungsvoll aufwärts zu den hohen Gestirnen, welche in ungestörtem Einklang die alte ewige Bahn vollenden.«288

Mit diesen melancholischen Gedanken befinden wir uns letztlich auf einer philosophischen Ebene der Naturbetrachtung. Die von Menschen unberührte Natur wird zum Erholungsraum, in dem der Mensch Trost findet. Der Gegensatz zwischen Natur und Kultur, wie er im 18. Jahrhundert geprägt wurde, wird hier erneut, vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege, thematisiert. In dieser Apotheose der Natur erkennen wir deutlich den Verehrer Rousseaus. Die Natur 287 Humboldt, A. (1808). Ueber die Steppen und Wüsten. S. 42. 288 Ibid. S. 45 f.

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gewinnt mit ihrer »heiligen« Kraft und ihren »ewigen« Umlaufbahnen der Sterne sakrale Züge. Deren Harmonie steht im Kontrast zu den Kriegen und Auseinandersetzungen der Menschheit, die während Jahrhunderten andauern. Jedoch scheint Alexander von Humboldt im Unterschied zu seinem Bruder Wilhelm oder zu Johann Gottfried Herder nicht mehr an eine Entwicklung der Menschheit zu einem vollkommenen Ideal zu glauben. Nur als einsames Individuum ahnt der Mensch seinen Einklang mit der Natur – oder gemäss Schiller : Freiheit und Vollkommenheit sind nur noch in der Einsamkeit der Berge zu finden, »wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual«.289 Dieser Bruch zwischen Mensch und Natur steht im Widerspruch zu Humboldts Intention, das Naturganze, in dem der Mensch integriert ist, darzustellen. Mag Alexanders pessimistische Sicht der Menschheit, die sich kaum von ihrer »thierischen Rohheit« entfernt hat und deren »höhere Bildung« nur oberflächlich besteht, auch in den politischen Zuständen seiner Zeit begründet sein, so geben die »Ansichten der Natur« doch Hinweise darauf, dass die gestörte Harmonie zwischen Natur und Mensch tiefere Ursachen haben muss. Alexander von Humboldt betrachtet den Kosmos als Mensch und Naturforscher. Einerseits erlebt er die Natur als Quelle der Kraft und des Lebens, mit der er sich eins fühlen und die er geniessen kann. Der romantische Naturgenuss überwältigt ihn und bindet ihn emotional an die Natur. Als Teil von ihr ist er zur Empathie mit seinen Mitgeschöpfen fähig, sowohl mit den ›wilden‹ Indianern als auch mit den Tieren. Gerade diejenigen Passagen der »Ansichten«, in denen Humboldt die Emotionen der Leser anspricht, garantierten den langjährigen Erfolg des Werkes. Auch Alexander selbst erklärte es später zum Besten, das er je geschrieben hatte. Doch andererseits erlaubte es der grosse Fortschritt in den Naturwissenschaften nicht mehr, den Gesamtzusammenhang in einem ansprechenden, das heisst ästhetischen Stil zu erläutern. Eine empirische Herangehensweise an das Forschungsobjekt ›Natur‹, ihre rationale Analyse, erforderte eine Vielzahl von Techniken und Technologien, die eine entsprechende Darstellungsweise verlangte. Die Mitteilung von exakten Messdaten war mit einer poetischen Naturschilderung aber nicht mehr vereinbar – zu gross war die Fülle der neu entdeckten Fakten geworden. Alexanders ›Lösung‹ des Problems, die Aufteilung des Textes in eine ästhetische Beschreibung der Natur und in deren wissenschaftlichen Erläuterungen in den Anmerkungen, ist deshalb symptomatisch für die damals bereits vollzogene Trennung zwischen Historismus und Naturalismus. Die Verselbstständigung der Fussnoten zu veritablen wissenschaftlichen Abhandlungen ist deshalb nur die augenfällige Dokumentation dieser Entwicklung.

289 Humboldt, A. (1808). S. VIII.

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V.4.c) Die »Relation historique« – ein Fragment aus innerer Notwendigkeit? Ursprünglich hatte Alexander von Humboldt nicht die Absicht, einen Reisebericht im herkömmlichen Sinn zu verfassen.290 Die Auswertung seiner gesammelten Materialien war vorrangig, und zudem erschienen ihm die Probleme, die mit einer literarischen Bearbeitung der Reise in chronologischer Reihenfolge verbunden waren, zu gross. Denn Alexanders Ambitionen richteten sich ja auf die Darstellung des ›Gesamtzusammenhangs‹ in der Natur, der gerade auch in seiner »Relation historique« Dreh- und Angelpunkt sein sollte. In der Einleitung zur »Relation historique« hielt er rückblickend die Mängel bisheriger Reiseberichte fest: »Lorsque je commenÅai — lire le grand nombre de voyages qui composent une partie si int¦ressante de la litt¦rature moderne, je regrettai que les voyageurs les plus instruits dans des branches isol¦es de l’histoire naturelle eussent rarement r¦uni des connoissances assez vari¦es pour profiter de tous les avantages qu’offroit leur position. Il me sembloit que l’importance des r¦sultats obtenus jusqu’— ce jour, ne r¦pondoit pas entiÀrement aux immenses progrÀs que plusieurs sciences, et nomm¦ment la g¦ologie, l’histoire des modifications de l’atmosphÀre, la physiologie des animaux et des plantes, avoient faits — la fin du dix-huitiÀme siÀcle. Je voyois avec peine, et tous les savans ont partag¦ ce sentiment avec moi, que, tandis que le nombre des instrumens pr¦cis se multiplioit de jour en jour, nous ignorions encore l’¦l¦vation de tant de montagnes et de plateaux, les oscillations p¦riodiques de l’oc¦an a¦rien, la limite des neiges perpetu¦lles sous le cercle polaire et sur les bords de la zone torride, l’intensit¦ variable des forces magn¦tiques et tant d’autres ph¦nomÀnes ¦galement importans.«291 290 »J’avois quitt¦ l’Europe dans la ferme r¦solution de ne pas ¦crire ce que l’on est convenu d’appeler la relation historique d’un voyage, mais de publier le fruit de mes recherches dans des ouvrages purement descriptifs.« (Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 28.) [In der Übersetzung von Hanno Beck: »Ich hatte Europa mit dem festen Entschluss verlassen, nicht zu schreiben, was man übereingekommen ist, eine relation historique [den historischen Bericht] einer Reise zu nennen, sondern die Frucht meiner Untersuchungen in rein beschreibenden Werken zu publizieren.« Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 1. S. 13. Fortan kurz mit [Beck] abgekürzt.] 291 Ibid. S. 4 f. [Hervorhebung von mir.] [»Als ich die grosse Zahl von Reisen, die einen solch interessanten Teil der modernen Literatur ausmachen, zu lesen anfing, bedauerte ich, dass die gebildetsten Reisenden selten in den isolierten Zweigen der Naturgeschichte genügend vielfältige Kenntnisse vereint hatten, um aus allen Vorteilen den Nutzen zu ziehen, den ihre Lage darbot. Es schien mir, dass die Bedeutung der bis jetzt erhaltenen Resultate nicht gänzlich den ungeheuren Fortschritten entspräche, die in mehreren Wissenschaften, und namentlich in der Geologie, in der Geschichte der Modifikation der Atmosphäre, in der Physiologie der Tiere und der Pflanzen zu Ende des 18. Jahrhunderts gemacht worden waren. Ich bemerkte schmerzlich, und alle Gelehrten teilen dieses Gefühl mit mir, dass während sich die Anzahl genauer Instrumente täglich vermehrte, uns doch die Höhe so vieler Gebirge und Plateaus, die periodischen Schwingungen des Luftmeers, die Grenze des ewigen Schnees unter dem Polarkreis und an den Rändern der heissen Zone, die variable Intensität der

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Bereits vor seiner Amerikareise war sich Alexander also der Schwierigkeiten bewusst, die die vielfältigen Fortschritte in den Wissenschaften und Technologien mit sich brachten. Wie liessen sich seine empirischen Beobachtungen mit den alltäglichen Begebenheiten und Begegnungen auf seiner Reise in Einklang bringen? Humboldt selbst spricht in seiner »Relation historique« von der »grand nombre de lecteurs qui pr¦fÀrent un d¦lassement agr¦able — une instruction solide«292 und deren Ansprüche an eine Reisebeschreibung anderer Natur seien als diejenigen der Gelehrten. Vor diesem Hintergrund kann man sich die Frage stellen, warum der Naturforscher trotzdem versuchte, seinem Publikum eine »Relation historique« vorzulegen? Zum einen erwarteten seine Zeitgenossen den ausführlichen Bericht über die Südamerikareise, die sie jahrelang aus der Ferne mitverfolgt hatten. Humboldt musste sich ihrer Anteilnahme bewusst gewesen sein, hatte er doch letztlich selbst die Öffentlichkeitsarbeit inszeniert und die Aufmerksamkeit auf seine Unternehmungen gelenkt. Besonders gespannt waren natürlich seine Freunde in Deutschland und Frankreich, welche gerne eine umfassende Beschreibung seiner Reise lesen wollten. Zum andern war Alexander von der Durchführbarkeit einer Reisebeschreibung überzeugt, die die unterschiedlichen Erwartungen seiner Leser befriedigen konnte. Dennoch schien Humboldt bereits im Frühjahr 1812, als er die »Introduction« zum ersten Band der »Relation historique« verfasste, leise Zweifel gehegt zu haben, ob er den an sich selbst gestellten Anforderungen gerecht werden konnte: »Malgr¦ les efforts que j’ai faits pour ¦viter dans cette relation de mon voyage les ¦cueils que j’avois — redouter, je sens vivement que je n’ai pas toujours r¦ussi — s¦parer les observations de d¦tail de ces r¦sultats g¦n¦raux qui int¦ressent tous les hommes ¦clair¦s.«293

Offenbar versuchte Alexander von Humboldt allgemeine und spezielle Beobachtungen zu sondern, so ähnlich wie er dies in den »Ansichten der Natur« durchgeführt hatte. Jedoch verwarf er die dort praktizierte ›Lösung‹, die wissenschaftlichen Detailerörterungen nur in abgesonderten Anmerkungen unterzubringen. Stattdessen entschloss er sich dazu, die einfache Erzählung des

magnetischen Kraft und so viele andere gleich wichtige Erscheinungen noch völlig unbekannt geblieben waren.« Beck S. 6 f.] 292 Ibid. S. 31. [»die grosse Zahl der Leser, die eine angenehme Entspannung einer soliden Unterrichtung vorziehen«. Beck S. 15.] 293 Ibid. S. 14. [»Trotz der Anstrengungen, die ich in dieser ›Relation‹ meiner Reise zur Vermeidung der Klippen, die ich zu fürchten hatte, unternommen habe, fühle ich lebhaft, dass ich nicht immer erfolgreich die Detailbeobachtungen von ebendiesen allgemeinen Ergebnissen trennte, die alle aufgeklärten Menschen interessieren.« Beck S. 11.]

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Reiseverlaufs und die den gewöhnlichen Leser interessierenden Begebenheiten durch Einschübe zu unterbrechen, die einer einzelnen Frage gewidmet sind.294 Bevor ich jedoch auf die daraus resultierenden textimmanenten Schwierigkeiten, die Alexander letztlich nicht mehr bewältigte, näher eingehen werde, seien an dieser Stelle kurz die mit der Herausgabe der »Relation historique« einhergehenden Probleme geschildert. Die »Relation historique« sollte ursprünglich vier Bände umfassen, wozu bei der französischen Quartausgabe noch zwei Atlanten und diese erläuternde Textbände zu zählen sind.295 So lautet der vollständige Titel des ersten Bandes der Erstausgabe: Voyage aux r¦gions ¦quinoxiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par Al. de Humboldt et A. Bonpland; r¦dig¦ par Alexandre de Humboldt. Avec deux Atlas, qui renferment, l’un les Vues des CordillÀres et les Monumens des peuples indigÀnes de l’Am¦rique, et l’autre des Cartes g¦ographiques et physiques. Tome premier. A Paris, chez F. Schoell 1814. Die einzelnen Bände erschienen jeweils in zwei Lieferungen, wobei zwischen den einzelnen Lieferungen schon bald grosse Verzögerungen auftraten.296 Dies führte dazu, dass die letzte Lieferung des dritten Bandes erst im Jahre 1831 erschienen ist, zu einem Zeitpunkt, als der Autor schon seit mehreren Jahren wieder in Berlin lebte. Der vierte und letzte Band der »Relation historique« ist überhaupt nicht mehr erschienen. Weist der fehlende vierte Band an sich schon auf ein Problem hin, so noch vielmehr die Tatsache, dass die drei erschienenen Bände erst einen Drittel des zurückgelegten Reiseweges beschreiben.297 Humboldt hätte also im letzten Band seine Reise durch die heutigen Staaten von Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba schildern müssen. Die Verzögerungen bei der Herausgabe hatten verschiedene Gründe. Hauptsächlich finanzielle Engpässe liessen die Drucklegung immer wieder ins Stocken geraten. Mehrere Verlagswechsel – einige Verleger machten gar Bankrott – erschwerten eine reibungslose Auslieferung. Neben der zeitlichen Inanspruchnahme des Autors durch die Veröffentlichung der anderen Bände des Reisewerkes und durch die Vorbereitungen seiner Russlandreise führten auch 294 Ibid. S. 31. [Beck S. 15.] 295 Neben der prachtvollen Quartausgabe wurde zugleich eine kostengünstigere Oktavausgabe herausgegeben. 296 Vgl. hierzu: Fiedler / Leitner (2000), S. 69 ff. Ebenso: Humboldt, A. (1986 – 1990), Teil I. S. 9 ff. 297 Humboldt, A. (1987 – 1997). Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas. Bd. II, Teilband 3. S. 435 ff.

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Humboldts ständige Korrekturen, zum Teil noch während der Drucklegung, immer wieder zum Stillstand bei der Publikation. Trotz alledem beabsichtigte Alexander noch in den Vierzigerjahren die Herausgabe des vierten Bandes der »Relation historique«. In einem Brief an seinen deutschen Verleger Georg von Cotta, der eine deutsche Übersetzung des Reiseberichtes plante, erwähnte er eine diesbezügliche Vertragsklausel: »Ich hatte dem engl. Buchhändler Smith in Paris, durch einen unvorsichtigen Contract gebunden, die Vollendung auf eine bestimmte Epoche versprochen, wurde durch die Sibirische Expedition und die nochmalige polit. Beschäftigung an der Vollendung gehindert, wurde mit einem Prozess bedroht, sollte 17 970 francs Entschädigung zahlen und kaufte mich, um den Prozess zu vermeiden, mit 9500 fr. los, doch mit dem Versprechen, den 4ten, lezten Band der Reise nur dem Smith, meinem Tyrannen, liefern zu dürfen.«298

Der erwähnte letzte Band ist trotz Humboldts Versprechen nie geschrieben, geschweige denn veröffentlicht worden.299 Mag sein, dass der fehlende vierte Band auch wegen der oben geschilderten Umstände nie erschienen ist. Der Hauptgrund ist meiner Ansicht nach aber im Werk selbst zu suchen: Die »Relation historique« blieb wegen ihrer widersprüchlichen und spannungsreichen Konzeption ein Torso. Dies soll eine genauere Analyse verdeutlichen. Schon auf den ersten Blick erkennt der Leser der französischen Originalausgabe die heterogenen Textsorten der »Relation historique«. Neben der traditionellen, chronologischen Erzählung der Reise stösst er schon bald auf zahlreiche Tabellen mit verschiedenen Daten. Diese enthalten so unterschiedliche Angaben wie Bergeshöhen, Längen- und Breitengrade, Bevölkerungszahlen, Wassertemperaturen, Export von Edelmetallen, Anzahl der Sklaven, Verteilung der Einwohner nach ihrer Rasse und vieles andere mehr. Ergänzt werden Text und Tabellen mit Fussnoten, die bibliografische Angaben, wissenschaftliche Erörterungen oder Vergleichsdaten anderer Autoren beinhalten.300 Unterbrochen wird der Haupttext in den ersten drei Kapiteln zudem durch einzelne Zwischenkapitel, die jeweils mit gesondertem Titel versehen und einem speziellen Thema gewidmet sind. Ebenfalls finden sich Karten, Zeichnungen und

298 Brief vom 9. März 1840. Zitiert nach: Fiedler / Leitner (2000), S. 70. 299 Zu der gegenteiligen Behauptung des Humboldt-Biografen Julius Löwenberg siehe die einleitende Studie von Kurt-R. Biermann in: Humboldt, A. (1986 – 1990), Teil I. S.14 f. 300 Weder die hier zitierte Übersetzung von Hanno Beck noch diejenige von Ottmar Ette (Humboldt, A. (1991).) geben das französische Original vollständig wieder. Da aber der französische Text vielen deutschen Lesern zugänglich war, stütze ich meine Untersuchung auf das Original. Die schon bald erschienenen deutschen Übersetzungen waren allesamt gekürzte und zum Teil stark bearbeitete Ausgaben. (Siehe dazu Kurt-R. Biermann in: Humboldt, A. (1986 – 1990), Teil I. S.15 ff.)

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Anmerkungen (»notes«) am Ende der Kapitel.301 Alexander von Humboldt versucht also nicht nur, die Eindrücke, Ereignisse und Begegnungen während seiner Südamerikareise zu schildern, sondern möchte dem Leser ebenfalls seine gesammelten wissenschaftlichen Daten vermitteln. Dass ein solches Vorgehen nicht ohne Schwierigkeiten ist, bekennt er bereits in der Einleitung des Reiseberichts: »Une relation historique embrasse deux objets trÀs-distincts: les ¦v¦nemens plus ou moins importans qui ont rapport au but du voyageur, et les observations qu’il a faites pendant ses courses. Aussi l’unit¦ de composition qui distingue les bons ouvrages d’avec ceux dont le plan est mal conÅu, ne peut y Þtre strictement conserv¦e, qu’autant qu’on d¦crit d’une maniÀre anim¦e ce que l’on a vu de ses propres yeux, et que l’attention principale a ¦t¦ fix¦e, moins sur des observations de sciences que sur les mœurs des peuples et les grands ph¦nomÀnes de la nature.«302

Humboldt führt weiter aus, dass es die Fortschritte in der Naturgeschichte, Geografie und politischen Ökonomie fast unmöglich gemacht haben, die vielen verschiedenen Materialien mit der Erzählung der Reise in Einklang zu bringen. Fast scheint es, als hätte Alexander schon von Beginn an mit dem Scheitern seiner »Relation historique« gerechnet! Doch zunächst ist das Bemühen des Autors um eine chronologisch strukturierte Reiseerzählung noch durchaus erkennbar. Wenn er auch bereits am Ende des ersten Kapitels, das den Aufenthalt in Spanien und die Überfahrt nach Teneriffa schildert, näher auf Probleme der Optik eingeht und in diesem Zusammenhang Beobachtungen, die er später in den Anden gemacht hat, vorwegnimmt, so entschuldigt er sich doch beim Leser dafür mit dem Hinweis auf die Wichtigkeit seiner Erörterungen für die Sicherheit der Schifffahrt. Im weiteren Verlauf der Erzählung nimmt Alexander auf die chronologische Abfolge immer weniger Rücksicht. Nicht nur, dass er spätere Beobachtungen und Ereignisse vorwegnimmt, er verwendet auch Angaben anderer Naturforscher, die teilweise andere Länder oder Kontinente bereist haben. Darüber hinaus werden diese aktuellen Forschungsergebnisse mit historischen Berichten aus der Zeit der Conquista ergänzt. Vor allem benützt Humboldt historische Quellen, wenn er frühere Zustände Südamerikas mit denjenigen um 1800 ver301 Siehe dazu auch die Einleitung in: Humboldt, A. (2000), S. 19 ff. 302 Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 30. [»Eine Relation Historique umfasst zwei sehr verschiedene Gegenstände: die mehr oder weniger wichtigen Ereignisse, die mit dem Ziel des Reisenden in Verbindung stehen, und die Beobachtungen, die er während seiner Reisen gemacht hat. Die Einheit der Komposition, welche die guten Werke von den schlecht durchdachten unterscheidet, kann nicht strikt bewahrt werden, als insofern man mit Lebhaftigkeit beschreibt, was man mit eigenen Augen sah, und insofern als die Hauptaufmerksamkeit weniger auf wissenschaftliche Beobachtungen als auf Völkersitten und die grossen Phänomene der Natur gerichtet worden ist.« Beck S.14.]

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gleicht, sei es um Veränderungen der Natur, sei es um Entwicklungen der Gesellschaft und Kultur zu untersuchen. Immer jedoch setzt er sich kritisch sowohl mit den zeitgenössischen als auch mit den historischen Quellen auseinander und überprüft, falls dies möglich ist, deren Angaben. Am ansprechendsten für den Leser, damals wie heute, sind aber zweifellos die zahlreichen im Werk zerstreuten Naturbeschreibungen. Diese machen den besonderen Reiz der »Relation historique« aus, schildern sie doch sehr plastisch den Charakter der tropischen Natur. Wie schon in den »Ansichten der Natur« gelingt es Alexander von Humboldt vorzüglich, das Ensemble von Pflanzen, Tieren und geologischen Gegebenheiten bildhaft zu beschreiben, sodass die Natur ständig in Bewegung erscheint. Er präsentiert dem Leser das Besondere einer Landschaft wie in einem Gemälde: »Tout y prend un caractÀre plus majestueux et plus pittoresque. Le terrain, abreuv¦ par des sources, est sillonn¦ dans tous les sens. Des arbres d’une hauteur gigantesque, et couverts de lianes, s’¦lÀvent dans les ravins; leur ¦corce, noire et brul¦e par la double action de la lumiÀre et de l’oxigÀne atmosph¦rique, contraste avec la fra„che verdure des Pothos et des Dracontium, dont les feuilles coriaces et luisantes ont quelquefois plusieurs pieds de longueur.« 303

Unterstützt wird das Vorstellungsvermögen des Lesers mit Vergleichen dieser exotischen mit der bekannteren europäischen Natur. In diesem Fall sieht Humboldt Ähnlichkeiten von Felsformationen mit den Schweizer und Tiroler Alpen; und er vermag eine Analogie zwischen dem Pflanzenwuchs in den tropischen Sumpfgebieten und demjenigen im Gebirge der nördlichen Hemisphäre, welcher stets durch den von der Schneeschmelze durchnässten Boden erhalten wird, zu erkennen. Auf diese Weise erschliesst er dem Leser den ›Totalanblick‹ der Natur. Um aber diese grossen Zusammenhänge erfassen zu können, bedarf es einer Grundlage empirischer Daten. Da Alexander diese dem ›gelehrten‹ Leser nicht vorenthalten möchte, teilt er ihm immer wieder exakte Messungen, die er während seiner Reise vorgenommen hat, mit. Manchmal wechselt der Reisebericht abrupt von einer ästhetischen Landschaftsbeschreibung zu wissenschaftlichen Beobachtungen. So zum Beispiel beendet er im sechsten Kapitel die Beschreibung der Aussicht vom Berg Imposible mit dem Vergleich eines Bildes

303 Ibid. S. 357. [»Alles gewinnt ein erhabeneres und malerisches Aussehen. Der quellenreiche Boden wird von Bächen in allen Richtungen durchzogen und bewässert. Bäume von riesenhafter Grösse, mit Lianen bedeckt, erheben sich aus den Schluchten; ihre von dem doppelten Einfluss des Lichtes und des Sauerstoffs der Atmosphäre geschwärzte und verbrannte Rinde sticht mächtig ab gegen das frische Grün von Pothos und Dracontium, deren lederartige und glänzende Blätter bisweilen mehrere Fuss Länge haben.« Beck S. 225.]

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von Leonardo da Vinci, um unvermittelt mit Beobachtungen zur Erdrefraktion weiterzufahren: »Nous suiv„mes de l’oeil les sinuosit¦s de ce bras de mer qui, semblable — un fleuve, s’est creus¦ un lit entre des rochers taill¦s — pic et d¦nu¦s de v¦g¦tation. Ce coup d’oeil extraordinaire rappelle le fond du paysage fantastique dont L¦onard de Vinci a orn¦ le fameux portrait de la Joconde.* Nous p˜mes observer, au chronomÀtre, le moment o¾ le disque du soleil toucha l’horizon de la mer. Le premier contact eut lieu — 6h 8’ 13’’; le second, — 6h 10’ 26’’, en temps moyen. Cette observation, qui n’est pas sans int¦rÞt pour la th¦orie des r¦fractions terrestres, fut faite au sommet de la montagne, — la hauteur absolue de 296 toises.«304 * Mona Lisa, ¦pouse de Francesco del Giocondo.

Solche Textstellen fordern vom Leser einen ständigen Wechsel der Erzählebenen und nötigen ihm eine grosse Flexibilität ab. Da die »Relation historique« sowohl zur Unterhaltung als auch zur Wissensvermittlung dienen soll, kommt es im Verlauf der Erzählung immer wieder zu unvermeidlichen Brüchen. Die Kluft zwischen ästhetischen Naturbetrachtungen und wissenschaftlichen Erörterungen erzeugt Spannungen innerhalb des Textgefüges, die den Leser manchmal fast überfordern.305 Anzahl und Umfang der Fussnoten, die in erster Linie wissenschaftliche Angaben aus den Bereichen der Geologie, Astronomie, Hydrologie, Zoologie und Botanik enthalten, nehmen von Kapitel zu Kapitel zu. Doch dienen Humboldts Angaben nicht einfach dazu, die Forschungsergebnisse der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu ergänzen. Vielmehr geht es dem Autor darum, diese in ihrem gegenseitigen Zusammenhang zu begreifen. Um aber die Beziehungen zwischen den einzelnen beobachteten Phänomenen sichtbar zu machen, 304 Ibid. S. 363. [»Unsere Blicke verfolgten die Krümmungen dieser Meerenge, die sich wie ein Fluss zwischen senkrechten und von allem Pflanzenwuchs entblössten Felsen ein Bett grub. Dieser ausserordentliche Anblick erinnert an den Hintergrund der phantastischen Landschaft, womit Leonardo da Vinci das berühmte Bild der Gioconda [Mona Lisa, die Gemahlin des Francesco del Giocondo] schmückte. Am Chronometer konnten wir im Augenblick beobachten, wo die Sonnenscheibe den Horizont des Meeres berührte. Die erste Berührung geschah um 6 Uhr 8’ 13’’; die zweite um 6 Uhr 10’ 26’’, mittlerer Zeit. Diese für die Theorie der Erdrefraktionen nicht gleichgültige Beobachtung wurde auf dem Gipfel des Berges, auf der absoluten Höhe von 296 Toisen angestellt.« Beck S. 230 f.] 305 Deswegen stimme ich nicht mit Wuthenow überein, der meint, »wissenschaftliche Darstellung und künstlerischer Reisebericht sind hier zu einer vollkommenen Synthese geführt«. (Wuthenow (1980), S. 404.) Wuthenow gewinnt diesen Eindruck nur, weil er sich auf die deutsche Übersetzung von Hermann Hauff stützt. Diese ist allerdings stark bearbeitet und verzichtet zum grossen Teil auf die wissenschaftlichen Anmerkungen. Ein Blick auf das französische Original lässt den Unterschied deutlich erkennen. Gerade der wissenschaftliche Apparat verhindert aber einen harmonischen Eindruck der »Relation historique«.

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bedarf es zunächst deren genauen Untersuchung. Nur so gelangt Alexander nach ausgedehnten Untersuchungen zu allgemeingültigen Aussagen wie beispielsweise über die verschiedenen Aspekte der Nahrungspflanzen eines Landes: »Si, dans nos climats temp¦r¦s, la culture des c¦r¦ales contribue — r¦pandre une triste uniformit¦ sur les terrains d¦frich¦s, on ne sauroit douter que, mÞme avec une population croissante, la zone torride conservera cette majest¦ des formes v¦g¦tales, ces traits d’une nature vierge et indompt¦e qui la rendent si attrayante et si pittoresque. C’est ainsi que, par un encha„nement remarquable de causes physiques et morales, le choix et le produit des plantes alimentaires influent — la fois sur trois objets importans: l’association ou l’isolement des familles, les progrÀs plus ou moins lents de la civilisation, et le caractÀre individuel du paysage.«306

Interessant an Humboldts Betrachtungsweise ist hierbei der Versuch, die physischen Ursachen, das heisst in diesem Fall die Art der angebauten Nutzpflanzen und der Anteil der landwirtschaftlich bebauten Fläche eines Landes, mit ästhetischen, sozialen und kulturellen Folgen in Beziehung zu setzen. Wir erkennen hier deutlich Alexanders »eigentlichen, einzigen Zweck« der Forschungsreise durch Süd- und Mittelamerika, nämlich »das Zusammen- und IneinanderWeben aller Naturkräfte zu untersuchen, den Einfluss der toten Natur auf die belebte Thier- und Pflanzenschöpfung.«307 Diese monistische Sichtweise der Natur – und darin inbegriffen ist stets der Mensch – ist allerdings angesichts der grossen Masse an naturwissenschaftlichen Daten, wie sie Humboldt auch dem allgemein gebildeten Leser in seiner »Relation historique« präsentiert, immer schwieriger geworden. Trotzdem versucht Alexander von Humboldt immer wieder, seinen Lesern einen ›Totalanblick‹ der bereisten Länder zu schildern und ihnen die Zusammenhänge in der Natur begreiflich zu machen. Ihm geht es dabei auch um ein wichtiges Anliegen der Aufklärung, deren Forderungen den Naturforscher in seiner Kindheit und Jugend stark geprägt haben. Hinter Formulierungen wie »elle m¦rite plus notre attention« oder »nous les d¦signerons par les noms des C o r d i l l À r e […]«308 steckt Humboldts Ambition, das Volk zu unterweisen. Das 306 Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 360 f. [»Wenn in unseren gemässigten Erdstrichen der Anbau der Zerealien eine traurige Einförmigkeit über das urbare Land verbreiten hilft, so lässt sich mit Sicherheit annehmen, dass der heisse Erdstrich auch bei wachsender Bevölkerung die prachtvollen Pflanzenformen und den Ausdruck einer jungfräulichen und unbezwungenen Natur behalten wird, die ihm eine so anziehende und malerische Gestalt verlieh. So äussern demnach durch eine merkwürdige Verkettung physischer und moralischer Ursachen Wahl und Ertrag der Nahrungspflanzen gleichzeitig ihren Einfluss auf drei wichtige Dinge: auf das gesellschaftliche oder isolierte Leben der Familien, auf den mehr oder minder langsamen Fortschritt der Zivilisation und auf den eigentümlichen Charakter der Landschaft.« Beck S. 228.] 307 Jahn / Lange (1973), S. 657 f. (Brief Nr. 469 vom 11. April 1799.) 308 Humboldt, A. (1814). Relation historique. Tome premier. S. 330. [»sie verdient mehr unsere

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Erwerben von Bildung, auch und gerade von naturwissenschaftlicher Art, soll das einfache Volk dazu befähigen, seine soziale Lage zu verbessern und seine politischen Rechte einzufordern. Diese tiefe Überzeugung, die ihn auch nach wie vor an die Ziele der französischen Revolution glauben lässt, begleitet stets Alexanders Werke. Noch der »Kosmos« gründet auf dem Willen, die Leser zu bilden. Doch dem Leser wird Humboldts Wunsch, diesem einen ›Totalanblick‹ zu bieten, noch durch ein weiteres Merkmal der »Relation historique« erschwert. Seine Orientierung anhand einer Reiseroute gelingt ihm wegen der seitenlangen Exkurse über die unterschiedlichsten Themen innerhalb der einzelnen Kapitel immer seltener. Beispielsweise erörtert der Autor nach der Beschreibung der Stadt Cuman‚ über dreizehn Seiten hinweg die möglichen Ursachen und Zusammenhänge von Erdbeben und Vulkanausbrüchen.309 Beginnt er seine Ausführungen zunächst mit dem erst kürzlich erfolgten Erdbeben von Cuman‚ vom 14. Dezember 1797, so weitet er die Betrachtung auf Fragen der Tektonik der Erde und auf die Erdgeschichte im Allgemeinen aus. Humboldts Erklärungen sind zwar sehr interessant – und nach heutigem Wissensstand grösstenteils auch richtig –, aber sie führen den Autor bis zu der am Anfang des 19. Jahrhunderts diskutierten Hypothese, dass es einen Zusammenhang zwischen Vulkanismus, Erdbeben und Elektrizität gebe. Solche ›Abschweifungen‹ von der eigentlichen Reiseerzählung nehmen immer breiteren Raum innerhalb der »Relation historique« ein. So sind im dritten Band noch jedem Kapitel Anmerkungen in Petit angehängt, die bis zu 150 (!) Seiten umfassen. Am Ende des Bandes finden sich ausserdem fünfzig Seiten »Additions«. Zwangsläufig geht so die Übersicht über die Chronologie der Reise immer mehr verloren. Konsequenterweise hat Humboldt schliesslich das Kapitel 28, welches die ökonomischen und politischen Verhältnisse auf der Insel Kuba beschreibt, in einem gesonderten Band herausgegeben.310 Angesichts einer so komplexen Struktur des Werkes, die wohl nicht dem ursprünglichen Konzept Alexander von Humboldts entspricht, ist es nicht erstaunlich, dass es nie vollendet wurde. Nimmt man Humboldts Bekenntnis ernst, er wolle die »Relation historique« auf jeden Fall zu Ende schreiben, nicht zuletzt deshalb, weil er sich seinen Lesern verpflichtet fühle, so stellt sich trotzdem die Frage, wie dies hätte gelingen sollen? War Humboldt offenbar schon 1831, als die letzte Lieferung des dritten Aufmerksamkeit«; »wir werden sie mit den Namen Cordillere […] bezeichnen«. Beck S. 201.] 309 Ibid. S. 306 – 319. [Beck S. 183 – 193.] 310 Essai politique sur l’„le de Cuba; par Alexandre de Humboldt. Avec une carte et un suppl¦ment qui renferme des consid¦rations sur la population, la richesse territoriale et le commerce de l’archipel des Antilles et de Colombia. Paris 1826. 2 Bände.

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Bandes erschienen ist, mit seinem Konzept der ganzheitlichen Natur überfordert, so musste ihn der anhaltende, rasante Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen an den Rand der Verzweiflung bringen. Denn Alexander stützte sich nicht nur auf seine eigenen gesammelten Daten, sondern versuchte stets, die neusten Ergebnisse der aktuellen Forschung einzubeziehen. Doch selbst einem Gelehrten wie Humboldt, der gemäss dem 18. Jahrhundert umfassend gebildet und noch nicht auf ein wissenschaftliches Spezialgebiet beschränkt war, konnte ein solches Vorhaben nicht mehr gelingen. Eine monistische Naturbeschreibung, die ebenfalls eine Anthropologie als umfassende Wissenschaft, welche nicht nur den Menschen, sondern auch seine gesamte organische und anorganische Umwelt einbezieht, beinhaltet, musste an der zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften scheitern. Der Traum von der Darstellbarkeit einer Natur, in der eine allumfassende ›Lebenskraft‹ wirksam ist, welche »die Welt im Innersten zusammenhält«311, war endgültig ausgeträumt.

311 Goethe (1989). Bd. 3. Faust. Der Tragödie erster Teil. S. 20.

VI. Das Ende des Monismus und die Ausdifferenzierung der Arbeitsgebiete der Brüder von Humboldt

Überblicken wir die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit, so müssen wir feststellen, dass sich diese kaum als Stationen einer linearen Entwicklung betrachten lassen. Zu disparat sind die Befunde, als dass wir den Werdegang der Brüder von Humboldt als ein harmonisch ausgewogenes, kontinuierliches Fortschreiten ihrer ›Bildung‹ beschreiben können. So universal die Erziehung und Ausbildung von Wilhelm und Alexander in ihrer Kindheit und Jugend auch vorgezeichnet waren, der rasante Fortschritt der modernen Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, und die damit einhergehenden technologischen Verbesserungen führten zwangsläufig zu einer Spezialisierung der Ausbildungsdisziplinen. Dieser Entwicklung mussten auch die beiden Brüder Tribut zollen. Auch sie vermochten nicht mehr, die Entwicklungen in allen wissenschaftlichen Disziplinen zu verstehen. Doch dieser Prozess der Spezialisierung verlief nicht bruch- und widerspruchslos. Zum einen lässt sich das Entstehen einer Wissenschaft nicht als eine einfache und kontinuierliche Aneinanderreihung neu entdeckter Fakten begreifen, zum anderen gab (und gibt) es gerade zu Zeiten fundamentaler Umbrüche stets Gegenbewegungen, die das Auseinanderdriften einheitlicher Wissenssysteme zu verhindern versuchen.1 So können wir auch am Ende des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl von Versuchen finden, die traditionelle Hierarchie der Wissenschaften, die für eine gewisse Zeit die Stabilität und Ordnung garantierte, zu retten. Wir finden das Bemühen um eine Stabilität des wissenschaftlichen Systems, in welches die neuen Erkenntnisse integriert werden sollten, ebenfalls noch bei den Brüdern von Humboldt, die nach Grundsätzen der Aufklärung, die eine Vorherrschaft der Philosophie postulierte, erzogen wurden. Ihre umfassende Bildung macht es verständlich, dass auch sie versuchten, ihr enzyklopädisches Wissen zu ordnen und als zusammenhängendes System zu begreifen. Aber gleichzeitig wuchsen sie 1 Siehe dazu die grundlegende Arbeit von Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976.

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in einem liberalen Umfeld auf, das fortschrittlichen Technologien und neuen Erkenntnissen gegenüber sehr aufgeschlossen war. Die daraus resultierenden Spannungen versuchten sie mithilfe einer neuen Wissenschaft, der Wissenschaft vom Menschen, zu überwinden. Aber nicht nur das überkommene Wissenssystem drohte am Ende der Aufklärung zu zerbrechen, sondern die Einheit des Menschen schlechthin, die während Jahrhunderten durch den Glauben an Gott gewährleistet wurde. Das zunehmende Hinterfragen der religiösen Glaubenssätze und der damit verbundene Verlust der Sonderstellung des Menschen im Naturganzen führten zu einem starken Bedürfnis nach neuer Orientierung. Wo liess sich dessen Platz in einer komplex gewordenen Welt finden, die die Harmonie von Leib und Seele gefährdete? Wie konnte sich der Mensch in einer immer unübersichtlicher werdenden Umwelt, von welcher er sich zu entfremden drohte, behaupten? Auch die Brüder von Humboldt suchten nach einer Antwort auf diese Fragen. Die – vorläufige – Lösung des Problems liess sich im Menschen selbst finden. So formulierte der knapp zwanzigjährige Wilhelm seine Überzeugung mit den Worten: »Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnden Neigungen, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.«2

Was sich aber so einfach nachvollziehbar und folgerichtig anhört, erweist sich bei genauerer Betrachtung als höchst diffizil. Bereits Begriffe wie »Bildung«, »Kräfte« oder »Ganzes« sind nicht klar zu definieren und bergen eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten in sich. Bereitet es noch heutzutage grosse Mühe zu erklären, was beispielsweise mit dem Begriff »Kraft« bezeichnet wird, so gilt dies umso mehr für eine Zeit, in der noch nicht geklärt ist, ob einer »Kraft« etwas Materielles oder Immaterielles zugrunde liegt. Gerade im vorwissenschaftlichen Stadium einer Wissenschaft lässt sich beobachten, dass neue Termini die neu aufgetauchten Probleme eher verhüllen als begreiflich machen, auf welche Weise sie zu lösen wären. Solange man eine Sache nur oberflächlich betrachtet, mögen solche Begriffe unproblematisch erscheinen. Aber so kritische Denker wie Wilhelm und Alexander von Humboldt mussten schon bald ihr Ungenügen erkennen. Im Frühjahr 1798, lediglich sechs Jahre nach der oben zitierten Ansicht Wilhelm von Humboldts, worin der wahre Zweck des Menschen bestehe, äusserte sich der ältere Humboldt gegenüber seinem Freund Goethe über die

2 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. In: Humboldt, W. (1980 – 1996), Bd. I. S. 64.

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Schwierigkeiten, die bei seiner eingehenden Beschäftigung mit dem Menschen auftauchten, folgendermassen: »Wenn man nur irgend das Auge besitzt, das allein den guten Beobachter machen kann, so fühlt man, wie alles mit allem zusammenhängt, wie in jedem Punkte die gesammte Natur ist. Wer muss davon mehr überzeugt sein als Sie. Gerade darin scheint mir der einzige Grund zu liegen, warum Sie in Ihren naturhistorischen Bemühungen immer noch sich selbst so wenig Genüge leisten, scheinbar so wenig fortrücken. Aber bei moralischen Gegenständen ist noch die grosse Schwierigkeit mehr, ihr eigentliches Wesen von ihrer zufälligen Beschaffenheit in der Zeit, ihre wirkliche Eigenthümlichkeit von ihren möglichen Fortschritten zu unterscheiden, die Linien zu bestimmen, aus denen sie nicht herausweichen können, und ihnen doch nicht Grenzen zu stecken, über die sie nicht hinausgehen können, die die Menschheit schon darum nicht kennt, weil sie dieselben nicht kennen darf.«3

Die beiden hier zitierten Äusserungen Wilhelms – genauso gut liessen sich ähnliche von Alexander finden – machen deutlich, in welch kurzer Zeit die Unterschiede zwischen »naturhistorischen« und »moralischen« Gegenständen unüberbrückbar geworden sind. Dies gilt insbesondere für die neu konzipierte Wissenschaft der Anthropologie, da diese per definitionem den ›ganzen Menschen‹ untersuchen soll, das heisst seine physischen, geistigen und seelischen Komponenten. Komplizierter wird eine solch umfassende Anthropologie noch, indem man die Menschen nicht nur als isolierte Lebewesen betrachtet, sondern sie ausserdem zueinander und zu ihrer Umwelt in Beziehung setzt. Gerade dies war aber die Absicht vieler Gelehrter am Ende des 18. Jahrhunderts, schien doch eine solche Anthropologie die drohende Kluft zwischen dem Naturalismus und Historismus überwinden zu können. Die Enttäuschung, ja man könnte beinahe sagen die Verzweiflung, die aus dem Brief Humboldts an Goethe spricht, verdeutlicht jedoch auch, warum solche Vorhaben scheitern mussten. Wollte man einen Zusammenhang in der Natur nicht nur fühlen, sondern auch erkennen, musste man sie zuerst genau beobachten und ihre einzelnen Bestandteile empirisch untersuchen. Nur auf diese Weise konnte vermieden werden, dass man sich in reine Spekulationen verlor und eine ›Wissenschaft‹ betrieb, welche nur auf hypothetischen Annahmen beruhte. Diesen Irrweg schlug die deutsche Naturphilosophie ein, welche die empirische Erforschung der Grundlagen vermied und stattdessen rein deduktiv ihre Theorien abstrahierte. Dass die beiden Brüder von Humboldt nicht den Pfad der deutschen Naturphilosophie beschritten, lag nicht zuletzt an ihrer Begegnung mit der französischen Wissenschaft. So dürfte es auch kein Zufall sein, dass Wilhelm gerade in 3 Bratranek (1876), S. 46 ff. Brief Wilhelm von Humboldts an Goethe vom Frühjahr 1798.

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Paris Zweifel an der Durchführbarkeit seiner neuen Wissenschaft vom Menschen bekam. In Frankreich war die Spezialisierung der Wissenschaften weiter gediehen als in Deutschland. Besonders die modernen Naturwissenschaften wiesen erste Erfolge auf und verdrängten die Metaphysik aus ihren Forschungsbereichen. Doch auch der Aufstieg der französischen Wissenschaft verlief nicht linear. Die alten Strukturen des ›Ancien R¦gime‹ hemmten bis zur französischen Revolution die Etablierung der modernen Naturwissenschaften an den Universitäten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde Frankreich zur führenden Wissenschaftsnation. Aber ähnlich wie in Deutschland gab es im westlichen Nachbarland ebenfalls immer wieder Bemühungen, eine »Science de l’homme« zu betreiben, die mehr als nur das rein Physische beinhalten sollte. In diesem Spannungsfeld zwischen ›deutscher‹ und ›französischer‹ Wissenschaft, zwischen Naturalismus und Historismus geben uns die frühen Werke der Brüder Humboldt einen aufschlussreichen Einblick in das zähe Ringen um das Ganze der Natur. Dass dieses Ringen letztlich an der ungeheuren Menge neuer Erkenntnisse scheitern musste, macht die Untersuchung ihrer frühen, meist unbekannten Schriften nicht weniger interessant: Nicht die Konstruktion eines angeblichen humboldtschen Bildungsideals oder einer humboldtschen Wissenschaft, sondern gerade die spannungsreiche und widersprüchliche Auseinandersetzung der Humboldtbrüder mit anthropologischen Fragen lässt uns die Problematik eines Monismus erkennen, der sich nicht ins Transzendente flüchtet. Die Grundlagen für ihre umfassende Bildung erhielten Wilhelm und Alexander von Humboldt von ihren Hauslehrern auf dem elterlichen Schloss in Tegel vermittelt. Bemerkenswert sind die fortschrittlichen Lehrpläne, nach denen der gemeinsame Unterricht abgehalten wurde. Will man aber beurteilen, wie gross der Einfluss der neuen Erziehungsmethoden war, die in Deutschland vor allem von Pädagogen wie Joachim Heinrich Campe oder Johann Bernhard Basedow geprägt wurden, darf man sich nicht zu sehr auf die Erinnerungen der Brüder von Humboldt an ihren ersten Unterricht verlassen. So hat meine Untersuchung gezeigt, dass der Einfluss von Campe und dessen philanthropischem Bildungskonzept auf die humboldtsche Erziehung doch erstaunlich gross war, grösser zumindest, als er sich aus den eher abfälligen Bemerkungen seiner ehemaligen Zöglinge erahnen lässt. Gerade Campes Überzeugung, dass sich ein Kind frei entfalten und sowohl die körperlichen als auch die geistigen Kräfte entwickeln soll, finden wir in den humboldtschen Frühwerken wieder. Auch dürfte der Unterricht in den naturhistorischen Fächern, welcher von Campe sehr befürwortet wurde, einen breiteren Raum eingenommen haben als von den Brüdern rückblickend behauptet worden ist. Auf jeden Fall wurden im

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humboldtschen Haus auch Fächer wie Geografie, Botanik und Naturgeschichte unterrichtet. Dies mag erklären, worauf das enzyklopädische Wissen und breite Interesse Wilhelms und Alexanders gründen, welche die Voraussetzungen für ihre spätere holistische Betrachtung des Menschen und der Natur erst geschaffen haben. Mich interessierte bei meiner Suche nach möglichen Einflüssen für die intensive Suche nach den Zusammenhängen in der Natur weniger die Frage, wer die Aufmerksamkeit des kleinen Alexanders zuerst auf eine Reise nach Südamerika gelenkt oder dem jungen Wilhelm die ersten staatsrechtlichen Ideen vermittelt hatte. Viel wichtiger war es mir, die Quellen ihres Naturverständnisses aufzudecken. Die Wurzeln für eine monistische Naturbetrachtung fanden sich vor allem bei Johann Friedrich Blumenbach, Georg Forster und Johann Gottfried Herder. Interessant an diesem Befund ist die doch ziemlich überraschende Feststellung, dass sich nicht nur der spätere Naturforscher Alexander von Humboldt, sondern auch sein Bruder Wilhelm eingehend mit deren Arbeiten und Denkansätzen beschäftigte. Schon früh sammelten beide Brüder ganz praktische Erfahrungen in anatomischen Theatern und Laboratorien, eine bemerkenswerte Tatsache, wenn man bedenkt, dass Wilhelm von Humboldt heute gerne nur noch als Vertreter des Deutschen Humanismus, Idealismus oder Klassizismus gesehen wird. Vor allem Blumenbach lieferte die empirischen Grundlagen für die Überzeugung der Humboldts, dass alle Elemente in der Natur, und somit auch der Mensch, miteinander in Beziehung stehen. Die Annahme eines ›nisus formativus‹ erlaubte die Theorie einer Epigenese, welche die unterschiedlichen Ausformungen (und Missbildungen) der lebenden Organismen erklären konnte. Da sich Blumenbach jedoch nur darauf beschränkte, die Wirkungen dieses speziellen Bildungstriebes zu untersuchen, entging er der Gefahr, diesen in der Natur selbst zu verorten. Eine solche natürliche, aber dennoch universale Kraft hätte die unangenehme Konsequenz gehabt, dass der schöpferische Gott obsolet geworden wäre. Doch Blumenbach schreckte vor der Gefahr des Atheismus zurück. Wichtig für die weiteren Studien der Brüder von Humboldt war zudem, dass diese auch praktische naturwissenschaftliche Erfahrungen sammeln konnten, die ihnen auf der späteren Suche nach einer Kraft, die den Beweis für die »Einheit in der Vielheit« liefern würde, helfen konnten. Durch die Konfrontation mit den damaligen Kontroversen, die im Umfeld der Naturforschung geführt wurden, bekamen sie ebenfalls entscheidende Anregungen für ihre anthropologischen Studien am Ende des 18. Jahrhunderts. Besonders heftig waren die Kontroversen, an denen sich Georg Foster beteiligte. Auch er war von der ›Ganzheit‹ der Natur überzeugt und versuchte, das Zusammenwirken der Naturelemente auch literarisch darzustellen. Die Be-

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schreibungen seiner Weltumsegelung mit James Cook in der »Reise um die Welt« und seiner Reise mit Alexander von Humboldt an den Niederrhein, nach England und Frankreich in den »Ansichten vom Niederrhein« stellen somit eine neue Form der Reiseliteratur dar. Forster gelang es, nicht nur die Natur, sondern auch die kulturellen, sozialen und politischen Zustände der bereisten Gegenden in ihren gegenseitigen Beziehungen zu schildern. Die ästhetisch ansprechende Form seiner Reiseberichte, die den Menschen als ein in das Ganze der Natur integriertes Lebewesen beschreiben, übte eine grosse Faszination auf die beiden von Humboldt aus. Auch Wilhelm und Alexander bezogen stets die Lebensverhältnisse der Menschen in die eigenen Schilderungen ihrer Reisen ein. Zudem teilten sie weitgehend Forsters politische Haltung in Fragen der Menschenrechte und Demokratie. In Göttingen knüpften die Humboldtbrüder also folgenreiche Kontakte für ihre Untersuchungen in den Neunzigerjahren. Neben Forster und Blumenbach waren auch die Ärzte Christoph Girtanner und Samuel Thomas von Soemmerring von Bedeutung. Mit Girtanner fällt ein weiterer Name, mit dem die Problematik der neu entstehenden modernen Naturwissenschaften deutlich wird. Einerseits setzte sich Girtanner vehement für die Akzeptanz von Lavoisiers moderner, quantitativer Chemie in Deutschland ein, die die Verwissenschaftlichung dieser Disziplin erst ermöglichte, andererseits versuchte er die einheitliche Sichtweise des Menschen zu retten, indem er John Browns Lehre der ›Incitabilitas‹ vertrat. Die Entdeckung des Sauerstoffs als wichtigem Element zur Erhaltung und Produktion organischen Lebens wurde von ihm kurzerhand zum ›Prinzip des Lebens‹ schlechthin hypostasiert, indem er den Sauerstoff mit Browns ›Incitabilitas‹ gleichsetzte, auf welche dieser alle physischen und psychischen Vorgänge im Körper reduzierte. Dies zeigt exemplarisch, wie die fortschreitende Spezialisierung der Naturwissenschaften stets von neuen Theorien aufgehalten wurde, um die drohende Atomisierung einer monistischen Weltsicht zu verhindern. Ein weiterer Versuch, die immer deutlicher wahrgenommene Komplexität des organischen Lebens in eine monistische Theorie zu integrieren, die die Einheit der Natur – und damit die Einheit des Menschen – zu retten vermag, stellte Soemmerrings Suche nach dem Sitz der Seele im ›sensorium commune‹ dar, welches er in der Flüssigkeit der Gehirnventrikel lokalisierte. Durch Kants schonungslose Rezension schon von Beginn an der Lächerlichkeit preisgegeben, veranschaulicht Soemmerrings Bemühen dennoch, wie man der als Bedrohung empfundenen Fragmentierung der Realität mittels einer Überwindung des LeibSeele-Dualismus entgegenzutreten versuchte. Die zögerliche Haltung Alexander von Humboldts, der zwar Soemmerrings wissenschaftliche Arbeiten sehr schätzte und ihm sein erstes grosses naturwissenschaftliches Werk, die »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«, widmete, sich aber dennoch

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nicht zu dessen These über den Sitz der Seele äussern wollte, zeigt, in welchem Spannungsfeld sich die Gelehrten damals bewegen mussten. Das intensive Bemühen Wilhelm und Alexander von Humboldts, die gesamte Natur als ein monistisches Weltganzes zu begreifen, muss deshalb im Zusammenhang mit den zeitgenössischen philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskursen gesehen werden. Bei der genaueren Untersuchung der frühen Schriften stellte sich nun heraus, dass den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« von Johann Gottfried Herder eine wohl grössere Bedeutung für die Genese der humboldtschen Denkansätze zukommt als bisher angenommen. Obwohl weder Wilhelm noch Alexander in ihren frühen Arbeiten Herders »Ideen« – ausser in ihren persönlichen Briefen – je erwähnen, ist deren Einfluss nicht von der Hand zu weisen. Gerade in der Mitte der Neunzigerjahre, als die Suche der Humboldts nach einer einzigen, alles Lebendige umfassenden Kraft sehr virulent war, finden wir deutliche Spuren für eine intensive Auseinandersetzung mit Herders Werk. Mehr noch, gewisse Stellen in Wilhelms Horenaufsätzen lassen sich erst vor dem Hintergrund von Herders »Ideen« verstehen – und den Schlüssel zu diesem Verständnis liefert uns die Lektüre von Alexanders zweibändiger Schrift über die galvanischen Versuche! Liest man die herderschen und humboldtschen Texte parallel, so gewinnt man gar den Eindruck, die Brüder Humboldt planten ursprünglich ein gemeinsames Werk, das sich mit der Thematik der »Ideen« befassen sollte. Auch wenn, oder gerade weil diese gemeinsame Arbeit nicht zustande kam, verdeutlicht dies die Probleme, die mittlerweile mit einem monistischen Naturkonzept einhergingen. Konnte Herder die empirischen Daten aus den Naturwissenschaften noch zur Grundlage seiner Theorie nehmen, so war eine Berücksichtigung aller ihrer damit verbundenen Erkenntnisse innerhalb weniger Jahre fast unmöglich geworden. Die Naturwissenschaften lieferten zu viele und zu widersprüchliche Ergebnisse, als dass man diese problemlos in eine Anthropologie integrieren konnte, die sowohl die physischen als auch die geistigen Komponenten des Menschen berücksichtigte. Weder Wilhelm noch Alexander gelang der Brückenschlag zwischen Naturalismus und Historismus. Die Komplexität der natürlichen Organismen eröffnete sich den Humboldts jedoch erst Mitte der Neunzigerjahre, als sie Experimente zum Phänomen des Galvanismus durchführten. Die Muskelzuckungen der Froschschenkel bei Berührung der Nerven mit einem Metall, die Luigi Galvani als Erster beobachtete und als Wirkungen einer tierischen Elektrizität interpretierte, spaltete die damalige Gelehrtenwelt in zwei Lager. In Deutschland vertrat vor allem Alexander von Humboldt Galvanis These, dass jedem lebenden Organismus eine spezielle Kraft innewohne. Die Brüder von Humboldt versuchten deshalb, Alessandro Voltas Gegenthese, dass die zu beobachtenden Muskelzuckungen lediglich durch die elektrische Entladung des Metalls entstehe, in Tausenden von Versuchen zu

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widerlegen. Denn gäbe es tatsächlich eine Kraft, die nur den Lebewesen angehört, so könnte man diese mit der lange gesuchten Lebenskraft, mit der ›vis vitalis‹ gleichsetzen. Doch die erhaltenen Resultate aus den empirischen Versuchen waren keineswegs eindeutig. Sowenig wie man das Vorhandensein eines ›Galvanischen Fluidums‹ nachweisen konnte, sowenig liess sich eine Lebenskraft finden. Stattdessen erwies sich der lebende Organismus als sehr viel komplexer als ursprünglich angenommen. Die Fülle an empirischen Daten liess sich ohne Reduzierung und Vereinfachung nicht bewältigen. Wollte man sich nicht auf Spekulationen einlassen, musste man die Existenz einer Lebenskraft in Frage stellen: Ein Beweis ihres Vorhandenseins liess sich nicht erbringen. Die Nichtbeweisbarkeit der ›vis vitalis‹ hatte für Wilhelm und Alexander von Humboldt weitreichende Folgen. Die Existenz des grundlegenden Elementes für eine Anthropologie, welche die Menschen als Einheit von Körper und Geist begreift, war nun in Frage gestellt. Noch schlimmer : Wie liess sich nun der Zusammenhang zwischen dem einzelnen Menschen und der übrigen Natur beweisen? Eine monistische Sichtweise eines Weltganzen, in dem alles mit allem verbunden ist, in dem die Elemente der anorganischen Natur durch das Hinzutreten einer spezifischen Kraft für eine gewisse Zeit belebt werden, bis das organische Lebewesen durch das Verschwinden dieser Kraft wieder in seine unbelebten, anorganische Elemente zerfällt, war letztlich unbeweisbar. Die faustische Suche nach der Kraft, die »die Welt im Innersten zusammenhält«4, war ergebnislos geblieben. Die aus dieser Situation entstehende Verunsicherung war tief greifend. Zwar liess sich das Vorhandensein einer Lebenskraft weiterhin annehmen, doch als Prämisse für die modernen Naturwissenschaften genügte dies nicht mehr. Wollte man sich nicht auf das Gebiet der Spekulationen begeben, musste man die Konzeption eines Naturganzen aufgeben. Die Gratwanderung zwischen einer Wissenschaft, die sich auf das empirisch Nachweisbare beschränkt, und einer Naturphilosophie, die auf unbewiesenen Grundprinzipien beruht, wurde immer unsicherer, da sich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in kürzester Zeit vervielfachten. In Deutschland und Frankreich verliefen diese Entwicklungen jedoch unterschiedlich. Während in Deutschland die idealistische Naturphilosophie aufgrund der intensiven Nachwirkungen des stahlschen Vitalismus und des englischen Sensualismus auf fruchtbaren Boden fiel, setzten sich in Frankreich die neu entstehenden modernen, auf empirischen Grundlagen beruhenden Naturwissenschaften früher durch. Die heute fast vergessenen ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ versuchten zwar in Frankreich ebenfalls eine Wissenschaft des Menschen, eine 4 Goethe (1989). Bd. 3. Faust. Der Tragödie erster Teil. S. 20.

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›Science de l’homme‹, zu begründen, ihre Forschungsansätze unterschieden sich jedoch von denjenigen in Deutschland. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts richtete sich das Interesse der Spätaufklärer auf das Lebewesen ›Mensch‹ und seine Umwelt. Doch im Unterschied zum östlichen Nachbarland schloss man in Frankreich die Metaphysik konsequenter aus dem Untersuchungsbereich aus und betonte die Natürlichkeit der menschlichen Kreatur.5 Vor allem die ›Id¦ologues‹ und ›Observateurs de l’homme‹ konzentrierten sich vielmehr auf das Beobachtbare und schenkten der Autopsie grosse Beachtung. Sie traten kurz vor der französischen Revolution die Nachfolge der Spätaufklärer an, hoben aber die ›sensibilit¦‹ als Grundlage des organischen Lebens nachdrücklicher als ihre Vorgänger hervor. Mit Unterstützung der politischen Regimes während und nach den Revolutionsjahren setzten sich so die modernen empirischen Wissenschaften früher durch als im übrigen Europa. Obwohl von ihren Kritikern des Materialismus bezichtigt, übernahmen besonders die Naturwissenschaftler unter den ›Id¦ologues‹ für einige Jahrzehnte eine führende Rolle in der gelehrten Welt. Unter diesen Voraussetzungen fand die in Deutschland so intensiv betriebene Suche nach der Lebenskraft oder dem Bildungstrieb in Frankreich keine Berücksichtigung. Das ermöglichte zwar eine beachtliche Anzahl neuer Erkenntnisse in den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich im Zuge ihrer grossen Erfolge immer weiter spezialisierten, verhinderte jedoch ein holistisches Begreifen des Naturganzen. Den Unterschied in der wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Menschen in Frankreich und Deutschland lässt sich sehr anschaulich anhand der Auseinandersetzungen um die Guillotine aufzeigen. In Frankreich wurde die Guillotine vor allem während der Revolution als ›humane‹ Hinrichtungsmaschine eingesetzt und wurde bald schon zu deren Symbol schlechthin. Einer der führenden ›Id¦ologues‹, der ›M¦decin philosophe‹ Pierre-Jean-Georges Cabanis, verteidigte die neuartige Tötungsmethode mit dem Argument, dass die schnelle Durchtrennung des Rückenmarks einen sofortigen und vor allem schmerzlosen Tod zur Folge habe. Da er die ›sensibilit¦‹ als Grundlage aller physischen, psychischen und geistigen Fähigkeiten des Menschen betrachtete, hielt er es für ausgeschlossen, dass ein Lebewesen mit durchtrennten Nerven noch weiterleben kann. Jegliche Muskelkontraktion nach der Guillotinierung erachtete er lediglich als Auswirkung der Irritabilität, die jeder toten organischen Materie zukommt. Die Seele als immaterielle Kraft ist aber keine Komponente eines lebenden Organismus und demnach für das Schmerzempfinden bedeutungslos. Anderer Meinung war hingegen Samuel Thomas von Soemmerring, der zu beweisen glaubte, der Sitz der Seele befindet sich im Hirnwasser der Gehirn5 Destutt de Tracy bezeichnete deshalb die ›Ideologie‹ als Teil der Zoologie! [»L’Id¦ologie est une partie de la zoologie.«]

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ventrikel. Dieses ›sensorium commune‹ bildet quasi die Schaltstelle zwischen den physischen und seelischen Kräften im Menschen. Da nach einer Enthauptung dieses ›sensorium commune‹ im Gehirn noch aktiv ist, kann der Kopf des Hingerichteten durchaus Schmerzen bewusst empfinden. Die Seele hat auf diese Weise unmittelbar Einfluss auf alle organischen Kräfte und ist mit diesen verbunden. Die unterschiedliche Argumentation illustriert sehr augenfällig, wie bei Soemmerring einer immateriellen Kraft grosse Bedeutung für ein Lebewesen zukam, welche für Cabanis bedeutungslos war. Ebenfalls bedeutungslos war jegliche immaterielle Kraft für Volney, einem ›Observateur de l’homme‹, welcher wie Wilhelm von Humboldt den Menschen in Beziehung mit seiner Umwelt untersuchte. Seine Instrumente dazu waren die genaue Beobachtung und die ›vernünftigen‹ Schlussfolgerungen. Waren das Äussere des Menschen, seine Kultur und Gesellschaft sowie die natürlichen Einflüsse durch das Klima, die Ernährung, die Bodenverhältnisse usw. der exakten Beobachtung, der »observation«, zugänglich, konnten die inneren Vorgänge mithilfe der Vernunft erschlossen und geleitet werden. Demnach konnte man seiner Meinung nach die Entwicklung der Menschheit nach vernünftigen Grundsätzen regeln, die für alle Menschen gleich sind. Im Gegensatz zu Wilhelm berief er sich jedoch nicht auf eine innere Bildungskraft, der der Anthropologe durch Empathie nachforschen und mithilfe seiner Einbildungskraft ihre Gesetzmässigkeiten auffinden kann. Entsprechend wertete Wilhelm Volneys Erforschung des Menschen als zu materialistisch ab. Ihm fehlte beim Franzosen der umfassende ›philosophische‹ Blick für den ganzen Menschen. Cabanis und Volney sind nur zwei Vertreter der französischen Wissenschaften um 1800, deren Forschungsmethoden aber exemplarisch für eine ganze Generation waren. Anhand ihrer Arbeiten versuchte ich, die in Frankreich stärker beachtete materielle Basis in der Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt ›Mensch‹ aufzuzeigen. Erst durch eine Gegenüberstellung zu den wissenschaftlichen Fragestellungen und Forschungsmethoden in Deutschland können wir die Erschütterungen, die durch eine Konfrontation der unterschiedlichen Entwicklungen entstand, begreifen. Überblicken wir noch einmal die verschiedenen wissenschaftlichen Forschungsansätze zu der Frage, was das ›Leben‹ eigentlich ausmacht, so erkennen wir, wie kontrovers das Thema gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich diskutiert wurde. Blumenbachs Annahme eines ›nisus formativus‹, der eine epigenetische Theorie der Genese lebender Organismen zugrunde lag, Forsters Betonung der Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen der anorganischen und organischen Natur, der Sauerstoff als grundlegendes ›Prinzip des Lebens‹, in welchem Girtanner die Entdeckung Lavoisiers mit der brownschen Lehre der ›Incitabilitas‹ verband, Herders Bemühen, die

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Natur als aufsteigende und ununterbrochene Kette, die das kleinste Staubkörnchen mit dem Menschen verbindet, zu begreifen, die Lokalisierung des ›sensorium commune‹ in der Flüssigkeit der Gehirnventrikel, welches gemäss Soemmerring den Körper mit der Seele verbindet, Kielmeyers Gesetz über die Kompensation der Lebenskräfte, Cuviers neues Klassifikationssystem der Lebewesen, welches sich an den inneren Strukturen des Nervensystems orientierte, Volneys Reduzierung der Entwicklung der Menschheit und dessen Kultur auf die natürlichen Bedürfnisse, welche allen Menschen gemeinsam sind, Cabanis’ Festsetzung der ›sensibilit¦‹ als Basis aller physischen, psychischen und intellektuellen Kräfte – alle diese Theorien prägten die wissenschaftlichen und philosophischen Diskurse zu der Zeit, als sich Wilhelm und Alexander von Humboldt um ein monistisches Verständnis der Natur bemühten. In einem solchen Spannungsfeld zwischen französischer ›materialistischer‹ Wissenschaft und deutscher Naturphilosophie bewegten sich also die beiden Brüder von Humboldt am Ende des 18. Jahrhunderts. Zunächst war die französische Wissenschaft für Alexander von Humboldt von grösserer Bedeutung. Schon Anfang der Neunzigerjahre bemühte er sich um Kontakte mit französischen Wissenschaftlern des ›Institut National‹ in Paris. Seine Veröffentlichungen wissenschaftlicher Artikel in französischen Zeitschriften zeugen von einem Bewusstsein für den damaligen Vorrang Frankreichs. Um aber im westlichen Nachbarland anerkannt zu werden, musste sich Alexander nach den dortigen wissenschaftlichen Gepflogenheiten richten. Das heisst, seine empirischen Versuche, vor allem die chemischen, galvanischen und physiologischen, mussten überprüfbar und wiederholbar sein, denn nur so konnten sie dem geforderten naturwissenschaftlichen Standard genügen. Noch ehe sich der jüngere von Humboldt zur Vorbereitung auf seine Amerikareise in Paris aufhielt, übten die strengeren Kriterien grossen Einfluss auf ihn aus und zwangen ihn zum sorgfältigen und objektiven Arbeiten. Die Auseinandersetzungen mit Antoine FranÅois de Fourcroy über sein methodisches Vorgehen bei den galvanischen Versuchen gaben uns einen aufschlussreichen Einblick in die unterschiedlichen Ansprüche an einen Naturwissenschaftler in Frankreich und Deutschland. Wir konnten bei Alexander von Humboldt während des letzten Dezenniums des 18. Jahrhunderts einerseits das Bestreben feststellen, die Natur als einheitliches Ganzes zu begreifen, andererseits jedoch auch eine immer stärkere Hinwendung zur Empirie beobachten. Die Begegnung mit der französischen Naturwissenschaft vermochte diese zweite Entwicklungslinie mit Sicherheit zu verstärken und führte zu einer selbstkritischen Haltung den eigenen Arbeiten gegenüber. Seine engen Kontakte, die er zu den französischen Wissenschaftlern während der Vorbereitung zu seiner Südamerikareise in Paris knüpfte, blieben sein Leben lang bestehen.

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Doch wurde das Aufrechterhalten eines monistischen Weltkonzepts bei gleichzeitigem Beharren auf eine Wissenschaft, welche sich auf objektive empirische Methoden stützt, mit der zunehmenden Spezialisierung der Disziplinen und der rasant anwachsenden Datenmenge immer schwieriger. Alexander war sich dieser Schwierigkeiten durchaus bewusst. Obwohl er seinen Freunden in Deutschland noch kurz vor Antritt seiner Reise versicherte, er wolle in Südamerika in erster Linie das Zusammenwirken aller Naturkräfte als ein Ganzes beobachten, in welches auch der Mensch eingebunden ist, schickte er seinen Freunden vom ›Institut National‹ fortlaufend seine Aufzeichnungen der verschiedensten Messergebnisse. Dass er nach der Rückkehr von seiner fünfjährigen Reise für weitere zwanzig Jahre in Paris blieb, dokumentiert ebenfalls seine Bevorzugung des wissenschaftlichen Arbeitens nach den sich etablierenden neuen Methoden. Ganz offensichtlich trat Alexanders Intention, den Gesamtzusammenhang in der Natur sowie die Abhängigkeiten zwischen dieser und den Menschen, mitsamt ihrer Geschichte, Kultur und gesellschaftlichen Entwicklungen, mithilfe der gefundenen empirischen Daten darzustellen, in den Hintergrund. Er beherzigte damit im Grunde die Forderungen Blumenbachs, Forsters, Herders und der ›Id¦ologues‹, zuerst die gegebene Realität zu beobachten und zu analysieren. Aber die daran anknüpfende Suche nach den in ihr wirkenden Gesetzmässigkeiten verlor sich in ihrer zunehmend erkannten Komplexität. Spätestens bei der Ausarbeitung der »Relation historique«, der eigentlichen Reisebeschreibung im Rahmen des dreissigbändigen Reisewerks, nahmen die Schwierigkeiten überhand. Die harmonische Verbindung einer ästhetischen Beschreibung des Naturganzen mit empirischen Daten, welche die verschiedenen Teilbereiche dieses Naturganzen objektiv unterstützen sollten, misslang. Alexander von Humboldt hat seine »Relation historique« nicht vollendet. Bei Wilhelm von Humboldt, der mit den naturwissenschaftlichen Fortschritten weniger vertraut war als sein Bruder Alexander, waren die Irritationen durch den Kontakt mit den Wissenschaftlern in Frankreich nachhaltiger. Zwar lobte er durchaus die Vorträge einiger Gelehrter am ›Institut National‹, zumindest was ihre sprachliche Qualität betraf, aber im Grossen und Ganzen blieben ihm die modernen Naturwissenschaften mit ihren empirischen Methoden fremd. Obwohl auch die ›Id¦ologues‹, die damals führenden Wissenschaftler in Frankreich, eine Anthropologie ins Zentrum stellten, die den ›ganzen Menschen‹ erforschen sollte, fehlte dem ›Anthropologen‹ Wilhelm das Wesentliche in der französischen ›Science de l’homme‹. Ausgerechnet jene »innerliche Kraft«, die erst die Perfektibilität des Menschen erlaubte und ihn mit seiner Umwelt interagieren liess, spielte in der französischen Sichtweise keine Rolle. Auf den ersten Blick bekommt man zwar den Eindruck, sowohl die ›Id¦ologues‹ als auch Wilhelm teilten einen gemeinsamen Grundsatz, nämlich

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denjenigen, die Metaphysik aus der Wissenschaft auszuschliessen. Doch Wilhelms Festhalten an einer empirisch nicht nachzuweisenden »inneren Kraft«, welche sowohl die körperliche als auch die geistige Bildung leitet, verhinderte ein gegenseitiges Verständnis. So überrascht es nicht, dass Wilhelms Erfahrung mit der als materialistisch gescholtenen französischen Wissenschaft dessen zwischenzeitliche Hinwendung zur deutschen Naturphilosophie eines Schelling oder Fichte förderte. Doch letztlich verhinderte wohl die bereits in der Jugend gewonnene Erkenntnis, dass die organische Natur sehr viel komplexer ist als es auf den ersten Blick erscheinen mag, die Akzeptanz einer Naturphilosophie, die eine monistische Naturbetrachtung nur dadurch erreichte, dass sie auf empirische Grundlagen verzichtete. Wilhelm von Humboldt konnte seine zahlreichen Entwürfe zu einer Wissenschaft der Anthropologie nicht vollenden. Eine Verbindung von philosophischen und naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Menschen scheiterte, ähnlich wie bei seinem Bruder Alexander, an der Vielzahl neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die es zu berücksichtigen galt. Seine Hinwendung zur Sprachwissenschaft, die ihn in Rom – fern von Frankreich und Deutschland – intensiver als bisher beschäftigte, mag vielleicht als Flucht aus seinem Dilemma gesehen werden, doch letztlich war der Verzicht auf die Ausführung seines anthropologischen Konzeptes nur konsequent. Die Kluft zwischen Historismus und Naturalismus war zu gross geworden – eine Anthropologie im umfassenden Sinne konnte die Wissenschaft nicht mehr leisten. Wilhelm und Alexander von Humboldt, die sowohl mit den deutschen als auch mit den französischen Wissenschaften vertraut waren, lassen die Spannungen, welche bei ihnen durch eine Konfrontation der beiden unterschiedlichen wissenschaftlichen Kulturen entstanden sind, in ihren Arbeiten deutlich erkennen. Die sich abzeichnende Trennung zwischen dem Historismus und dem Naturalismus, deren Fragestellungen und Forschungsgegenstände im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu vereinen waren, hinterliess in der Mitte der Neunzigerjahre des 18. Jahrhunderts vor allem in Wilhelms Horenaufsätzen und in Alexanders »Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser« deutliche Spuren. Doch erste Verunsicherungen traten schon früher auf, gerade unter dem Einfluss der Naturwissenschaften, deren Theorien noch unbesehen in andere Wissensgebiete übernommen wurden. Die ersten Erfahrungen mit den daraus resultierenden Schwierigkeiten führten bereits zu einem bewussteren Umgang mit ihren Forschungsmethoden und zum Hinterfragen von allzu schnell postulierten Theorien. Der Kontakt mit den Wissenschaften in Frankreich beschleunigte diesen Prozess und bewirkte nach und nach eine Beschränkung ihrer gross angelegten Studien zur Natur und zum Menschen. Das Bewusstsein, dass ein monistisches Naturganzes nur noch mithilfe hypothetischer Annahmen darzustellen war, beeinflusste die weiteren Arbeiten der Brüder Humboldt.

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Wilhelm konzentrierte sich auf die Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte, Alexander aber entwarf eine kosmische Weltbeschreibung, deren Grundlagen ständig mit empirischen Daten überprüft, erweitert und wenn nötig korrigiert werden mussten. Wie sehr der Verlust der anfänglichen Gewissheit die Brüder von Humboldt erschüttert hatte, geht deutlich aus ihren frühen, teilweise unveröffentlichten Schriften hervor. Gerade die Untersuchung dieser frühen Schriften des 18. Jahrhunderts liefert wichtige Interpretationsmöglichkeiten der ansonsten stets ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückten späteren Werke. Besonders im Hinblick auf Alexander lassen sich dessen Unsicherheit und Beschränkung in der Konzeption einer ›kosmischen Idee‹ besser erkennen und verstehen. Diese neue Sichtweise verhindert, die späteren Werke als gelungene Konzepte eines Monismus zu sehen, welche die Harmonie der gesamten Natur dokumentierte. Eine solche Interpretation ist jedoch anachronistisch und ebnet die durchaus vorhandenen Bruchstellen im ›Ganzen der Natur‹ in unzulässiger Weise ein. Die in letzter Zeit aufgetauchten Forderungen, die moderne Naturwissenschaft müsse sich wieder an Alexander von Humboldts Arbeitsweise orientieren, entbehren deshalb jeglicher Grundlage. Die Behauptung, dieser habe eine Wissenschaft begründet, die sich nicht auf Einzelresultate beschränke, sondern das Ganze der Natur mitsamt der Menschheit beschreibe, ist schlichtweg falsch. Wie soll der »Kosmos« als Vorbild für diese »Humboldtian Science« dienen, wenn selbst Humboldt das »Humboldtian Writing« nicht mehr gelang?6 Das Ganze der Natur war auch für ihn nicht mehr darstellbar. Die Brüche und Grenzen wurden von ihm letztlich aber akzeptiert, da er es stets vermied, ein Ideal zu entwerfen. So verzichtete er gerade im »Kosmos« darauf, Fragen, die die ›innere Bildung‹ des Menschen oder den Ursprung der Menschheit betreffen, zu erörtern. Auch Alexander von Humboldt praktizierte keine »Humboldtian science«. Die Brüder von Humboldt gaben uns einen interessanten Einblick in die Zeit um 1800, als sich mit der Etablierung der modernen Naturwissenschaften die Trennung zwischen Naturalismus und Historismus vollzog. Diese Trennung verlief nicht kontinuierlich in ein und dieselbe Richtung, sondern war mit zahlreichen Brüchen und Unsicherheiten verbunden. In Frankreich erfolgten die Etablierung und die damit einhergehende Spezialisierung der naturwissenschaftlichen Disziplinen an den Universitäten früher als in Deutschland, da dafür die Rahmenbedingungen nach der französischen Revolution günstiger waren. Die Gewichtsverschiebung in der politischen Ordnung ging mit einer Neuorganisation der Bildungsinstitutionen einher. Aber auch in Frankreich gab es immer wieder Bemühungen, die drohende Kluft zwischen Philosophie und Naturwissenschaft zu überwinden. In Deutschland, der ›verspäteten Nation‹, 6 Siehe dazu: Daum (2000), S. 243 – 268. Ebenfalls zu diesem Thema: Ette (2001), S. 33 – 55.

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führten die Bestrebungen, alle Wissenschaften in einem monistischen Weltkonzept zu vereinen, in eine Naturphilosophie, die allmählich ihre empirische Basis verlor. Stattdessen versuchte sie, die Natur als ein Ganzes zu entwerfen, das sich aus wenigen, einfachen Gesetzen deduzieren liess. Doch die Natur erwies sich als zu komplex, als dass man sie auf simple Prinzipien reduzieren konnte. Gerade die Brüder von Humboldt, die sich jahrelang darum bemühten, die Natur als Monismus zu begreifen, erkannten schon frühzeitig den Irrweg der deutschen Naturphilosophie. Ihre intensive Suche nach einer Lebenskraft, die der Bildung aller Organismen zugrunde liegen sollte, blieb erfolglos. Eine »innere Kraft« konnte zwar als Idee vorausgesetzt werden – beweisen liess sie sich indessen nicht. Die Zweifel und Widersprüche, die mit dieser allmählichen Erkenntnis verbunden waren, liessen sich in den frühen Schriften von Alexander und Wilhelm von Humboldt aufspüren. Ihre ehrgeizigen Ziele, »das Studium der physischen Natur nun mit dem der moralischen zu verknüpfen, und in das Universum, wie wir es erkennen, eigentlich erst die wahre Harmonie zu bringen«,7

konnten sie nicht verwirklichen – ihre universalen Werke blieben Fragment.

7 Humboldt, W. (1939), S. 61. (27. Brief vom 18. März 1793).

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Personenregister

Agassiz, Louis 419 f. Alembert, Jean Baptiste d‘ 54, 128 f., 255, 262, 268, 311 Althaus, Friedrich 155, 226, 228, 230 Bacon, Francis 38, 58 f., 101, 122, 139, 151, 223, 264 Banks, Joseph 22, 61 f., 405, 411 Barthez, Paul Joseph 205 Basedow, Johann Bernhard 24, 28, 460 Baudin, Nicolas 411 Benzenberg, Johann Friedrich 421 f. Berghaus, Heinrich 137 f., 412 Bichat, Marie FranÅois Xavier 261, 337 Bitaub¦, Paul J¦r¦mie 369 Blumenbach, Johann Friedrich 30, 46 f., 50 – 62, 73 f., 76, 81 f., 96, 101, 114, 134, 146, 151, 165, 170, 180 f., 194, 205, 208, 223, 227, 245, 377, 381, 386, 394, 461 f., 466, 468 Bonnet, Charles 53, 81, 101, 214 – 217, 232, 249, 251, 264, 333, 384 Bordeu, Th¦ophile de 205, 311 Bossange, Adolphe 267, 285, 297 Bougainville, Louis-Antoine de 62 Brinkmann, Karl Gustav von 37 f., 79, 100, 113, 116, 132, 147, 209, 355 Brosses, Charles de 257 Brown, John 82 – 87, 97 f., 205, 462 Brown-S¦quard, Charles Edouard 328 Buch, Leopold von 404 f., 411 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 35, 45, 71 – 73, 81 f., 115, 137, 144, 147, 185,

188, 216, 249, 255 – 257, 262, 271 f., 283, 310, 315, 332 f., 335 Bunsen, Georg von 239 Burke, Edmund 40 Büsch, Johann Georg 77 Büsching, Friedrich 34 Cabanis, Pierre-Jean-Georges 14, 30 f., 241, 256, 261, 265, 268 f., 309 – 339, 341 f., 344, 349, 382 – 384, 465 – 467 Campe, Joachim Heinrich 23 – 34, 64 f., 76, 81, 127, 424, 431, 460 Camper, Pieter 59, 101, 360 Carus, Carl Gustav 217, 239, 378 Cäsar, Karl Adolph 337 Chateaubriand, FranÅois-Ren¦ de 147, 157, 262, 443 Comte, Auguste 262, 274, 337 Condillac, Etienne Bonnot de 255, 257, 260, 262 – 265, 273, 278, 311, 315, 317 f., 337 f., 383 f., 387 – 390 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 261, 268, 311, 369, 403 Constant, Benjamin 261, 336 f. Cook, James 61, 415, 430 f., 462 Corday, Charlotte 320, 324 Cotta, Georg von 450 Cotta, Johann Friedrich von 180, 439 Cuvier, Georges 60, 196, 251 – 253, 305, 342 – 344, 412, 418 – 420, 467 Daubenton, Louis 192, 195, 292 Deg¦rando, Joseph-Marie 261, 335 – 337

508 Delambre, Baptiste 412, 416 f., 419 f., 431 Deluc, Jean-Andr¦ 67 f., 396 Descartes, Ren¦ 19, 163, 255 f., 335, 382, 441 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 259 – 261, 263, 269, 302, 309, 314, 337, 370, 383 f., 465 Diderot, Denis 115, 129, 219, 255, 257, 262 f., 268, 311, 369, 382 Diede, Charlotte 24, 27, 106, 174 f. Dohm, Christian Wilhelm 33 – 36, 112 Döllinger, Ignaz Christoph 239, 378 Dolomieu, D¦odat de 69, 396 f., 412, 419 f. DuBois-Reymond, Emil 170, 239 Dubreuil, Pierre-Louis 311 f. Dumas, Jean-Baptiste Andr¦ 391 Ehrmann, Theophil Friedrich 292 Engel, Johann Jakob 36, 39, 73, 179 Esenbeck, Nees vom 239, 378 EyriÀs, Jean-Baptiste Benoit 409, 438 Ferber, Johann Jakob 35, 141 Ferguson, Adam 111 f. Fichte, Johann Gottlieb 132, 179, 205, 237, 239, 253, 383, 385 – 388, 390, 469 Fischer, Gotthelf von 45, 89 f., 93, 165 Forster, Georg 21, 23, 26, 34 f., 39, 44, 46, 62 – 65, 67, 69 f., 72 – 76, 74, 81 f., 85 f., 106, 108, 110, 112, 135, 139, 147, 157, 163 f., 188, 194, 200, 212, 215, 243 f., 285, 386, 396, 411, 414, 424, 430, 439, 443, 461 f., 466, 468 Forster, Reinhold 63 Fourcroy, Antoine FranÅois de 305, 343, 394, 397, 399 – 405, 410, 412, 414, 419 f., 431, 467 Franklin, Benjamin 269, 311 Freiesleben, Carl 140, 171, 173, 396, 404 Friedländer, David 38, 236, 238, 413, 420 Friedrich Wilhelm II. von Preussen 27, 417, 420 – 422 Friedrich Wilhelm III. von Preussen 70, 417 f.

Personenregister

Galenius 192, 311 f. Gallatin, Albert 267, 307 Galvani, Luigi 47, 169 f., 322, 395, 463 G¦belin, Antoine Court de 125, 257, 289 Gentz, Friedrich von 37, 40, 112, 346, 366 Girtanner, Christoph 81 f., 85 – 95, 97, 220, 396, 462, 466 Girtanner, Daniel 85 Goethe, Johann Wolfgang von 14, 23, 49, 51, 57, 70 – 72, 78, 81, 95, 105 – 107, 131 f., 142 f., 162, 169 – 176, 179, 181, 192, 204, 208, 211, 216 f., 232, 236, 238, 269, 310, 343 f., 346, 348, 350, 352, 361, 369 – 372, 376, 378 – 381, 385 f., 390, 399, 416, 424, 437, 439 f., 456, 458 f., 464 Goguet, Yves 115, 257 Grouchy, Charlotte de 311 Guillotin, Joseph-Ignace 319 Haeften, Rudolf von 416 Haenke, Thaddäus 37 f., 45, 133 Haller, Albrecht von 29 f., 52, 56, 81 f., 88, 95 – 97, 188, 196, 203, 205, 226 f., 247 f., 264, 312, 322, 343, 382 Heim, Ernst Ludwig 22, 25 – 27 Helv¦tius, Anne Catherine 263, 268, 310 f., 339 Helv¦tius, Claude Adrien 255, 262 f., 317 f., 338 Herder, Caroline 106 Herder, Johann Gottfried 13, 19, 23 f., 31, 44 – 47, 63, 72 – 76, 96, 100 f., 105 – 119, 121 – 144, 146 – 157, 161, 163, 173, 179, 183 – 193, 195 – 201, 203 – 206, 209, 213 – 219, 232 f., 257, 282, 287, 289, 306, 316, 381, 386, 388 – 390, 398, 424, 440, 446, 461, 463, 466, 468 Hermann, Johannes 249 Herz, Henriette 21, 34, 38 Herz, Marcus 34, 38 f., 46, 87, 170, 176, 209, 362 Heyne, Christian Gottlob 23, 33, 50, 62, 64 f. Heyne Forster Huber, Therese 62, 69, 86 Hippokrates 311 f.

Personenregister

Holbach, Paul Henry Thiry d’ 255, 262 f., 268, 311, 330 Holwede, Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von 23 Home, Henry, Lord Kames 155 Hornemann, Friedrich 62 Hufeland, Christoph Wilhelm 83 f. Humboldt, Alexander Georg von 26, 29 f., 33 Humboldt, Caroline von 36, 77, 105, 114, 116, 308, 370, 416 f., 429 Humboldt, Elisabeth von 20, 25, 29, 33, 78, 225, 345, 404, 415 Jacobi, Friedrich Heinrich 39, 112, 123, 161, 179, 206 Jakob, Ludwig Heinrich 338 Jauffret, Louis-FranÅois 258 Jefferson, Thomas 295, 298, 311 Kaempfer, Engelbert 34 Kant, Immanuel 23, 31, 36, 39, 46, 55 f., 64, 72 f., 99, 110 – 113, 125, 130 f., 148, 150, 161 – 164, 166 f., 177, 179 f., 193, 201, 206, 230, 242, 253, 263 f., 318 f., 321, 326, 337 f., 376, 381, 383, 385 – 388, 390, 441, 462 Katharina II. von Russland 26, 269 Kielmeyer, Carl Friedrich 81, 99, 164, 227, 244 – 246, 248 f., 251, 253, 378, 380, 427, 467 Klein, Ernst Friedrich 36 Körner, Christian Gottfried 58, 112, 114, 176, 179 – 181, 190, 207 – 209, 345, 364, 370, 372 Kunth, Carl Sigismund 33 Kunth, Johann Christian 27, 25, 29, 33, 40, 50 La Mettrie, Julien Offray de 115, 255, 257, 330 Lafitau, Joseph-FranÅois 257 Lalande, J¦rúme 412 f. Lamarck, Jean Baptiste de 225, 261, 305 f., 331, 349, 412, 419 f. Lambert, Johann Heinrich 115, 128

509 Lam¦therie, Jean Claude de 309, 367, 370, 391, 395, 412, 429, 431, 435 – 438 Laplace, Pierre-Simon 101, 261, 292, 410, 412, 419 f. Lavater, Johann Caspar 194, 360, 367 Lavoisier, Antoine Laurent de 82, 87 f., 101, 342, 396, 413, 462, 466 Legouv¦, Jean Baptiste 367 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 36, 205 f., 264, 381, 384 Lessing, Gotthold Ephraim 211 Levin, Rahel 21, 38, 209 Lichtenberg, Georg Christoph 50, 59, 179, 205 Link, Friedrich Heinrich 61 Linn¦, Carl von 35, 64, 101, 133, 136, 188, 196, 256 Locke, John 264 f., 310, 315 f., 328, 337 f., 384 Loder, Justus Christian 14, 57, 76, 78, 82, 132, 147, 163, 172 f., 175, 182, 189 Ludwig, Christian Friedrich 89, 181 Lukrez 122, 217 f. Marat, Jean Paul 320, 330 Maupertuis, Pierre-Louis Moreau de 255, 333 M¦chain, Pierre 412 Medicus, Casimir 34, 227 Meiners, Christoph 46, 61 Mendelssohn, Moses 23, 34, 38, 123, 125 Meyer, Johann Heinrich 57, 172 f. Michaelis, Johann David 62, 256, 343, 354 Millin, Aubin Louis 369 Mirabeau, Honor¦ Gabriel du Riqueti, Comte de 312 Montesquieu, Charles-Louis de 276 – 278, 283, 310 Moscati, Pietro 193 Napoleon 237, 262, 266, 269, 297 f., 308, 329, 339, 344, 372, 398, 411, 420 f., 439 Newton, Isaac 55, 81, 84, 96, 99, 200, 231, 252 f., 256 Nicolai, Friedrich 23, 34

510 Niebuhr, Carsten 274, 343 Novalis 353, 355 Oelsner, Konrad Engelbert 164, 319 – 323, 325, 383 Oken, Lorenz 239, 378 Ovid 54, 192, 375 Pallas, Peter Simon 81 f., 141, 146, 195, 343 Pastoret, Claude Emmanuel de 284 f. Pauw, Cornelis de 301 Pfaff, Christoph Heinrich 50, 83 – 85, 97, 166, 170, 223 Pfaff, Johann Friedrich 44, 134, 138, 142 Pictet, Marc-Auguste 37, 42 f., 84 f., 394, 412, 438 Platner, Ernst 96, 227, 318 f., 322, 362 Pope, Alexander 100 Poupart, FranÅois 247 f. Priestley, John 82, 289 Pythagoras 51, 98, 213 f. Raspe, Rudolf Erich 35 f., 86 Reil, Johann Christian 81, 99, 165, 167, 205, 222, 247 Reinhard, Karl Friedrich 383 Robertson, William 28, 301 Robespierre, Maximilien de 293, 314, 372 Roose, Theodor Gustav August 225 Roucher, Antoine 310 Rousseau, Jean Jacques 24, 32, 101, 112, 147, 201, 257, 262, 307, 310, 445 Saint-Pierre, Bernardin de 37, 101 f., 138, 147, 292, 314, 410 Saussure, Horace-B¦n¦dict de 37, 141 Savary, Claude-Etienne 271, 275 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 205, 236 – 241, 245, 253, 377, 469 Schiller, Friedrich 14, 40, 49, 51, 57 – 59, 78, 98, 105, 107, 130 – 132, 142 f., 147, 163, 173, 176 – 182, 190, 199, 201, 204 f., 207 – 210, 212 f., 218, 220, 222, 226, 232, 269, 344 – 346, 350, 354, 356, 363 f.,

Personenregister

369 – 375, 379 – 381, 383, 386 f., 406, 439, 446 Schlegel, August Wilhelm 130, 180 f. Schlegel, Friedrich 130, 180 f., 353 Schleiden, Matthias Jakob 100 Schubert, Gotthilf Heinrich von 239, 378 Schuckmann, Friedrich von 168, 405 Schütz, Friedrich Wilhelm von 429 – 431 Seetzen, Ulrich Jasper 61 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of 380 – 382 SieyÀs, Emanuel Joseph 261, 370, 384 Soemmerring, Samuel Thomas von 24 f., 59, 81 f., 87, 90, 99, 160 – 168, 170, 173, 175, 223, 242, 319 – 325, 362, 427, 462, 465 – 467 Soulavie, Jean Louis Giraud 66, 137 – 139, 141 Spinoza, Baruch de 58, 111, 115, 122 f., 164 f., 214, 224, 384 StaÚl, Germaine de 335 f. Stahl, Georg Ernst 73, 86, 227, 264 f., 377, 407 f. Stieglitz, Israel 38, 112 Sue, Jean Joseph 320, 322 – 325 Talleyrand, Charles Maurice 294 f. Thornton, William 295, 307 Thorwaldsen, Bertel 238 Thunberg, Carl Peter 42 f., 47 f., 392 f. Tobler, Johann Georg 217 Trapp, Ernst Christian 29 Treviranus, Gottfried Reinhold 225 Turgot, Anne-Robert-Jacques 262, 309 f. Tyson, Edward 185, 256 Usteri, Paul

37, 43 – 46, 82, 133

van Geuns, Steven Jan 26, 34, 61 f., 68, 396 van Mons, Jean-Baptiste 95, 394, 397, 399 Varnhagen von Ense, Karl August 54, 139, 150, 156 f., 239 Vauquelin, Nicolas-Louis 395, 400, 412 f. Vicq d’Azyr, F¦lix 98, 265, 406 – 410 Voigt, Carl 423

Personenregister

Volney 14, 106, 256, 261, 266 – 309, 312 f., 335, 341 f., 367, 466 f. Volta, Alessandro 47, 165, 169, 463 Voss, Johann Heinrich 179, 208, 375 Washington, George 295 Wegener, Alfred 142 Wegener, Wilhelm Gabriel 44, 47, 135, 390 Werner, Abraham Gottlob 36, 63, 67 – 69, 396 Wieland, Christoph Martin 23, 269, 381

511 Willdenow, Carl Ludwig 34, 41 – 48, 64, 81, 133, 416, 431 Willis, Thomas 247 f. Wolf, Friedrich August 175, 347, 354, 369 f., 375 Wolff, Caspar Friedrich 30, 54, 73, 81 f. Wolzogen, Karoline von 232 – 234 Zach, Franz Xaver von 412 Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von 46, 72, 81 f., 101, 192 Zöllner, Johann Heinrich 37, 45

Stichwortregister

Aachener Säulen 421 Anima 227, 247 Annalen der Physik 432, 436 f. Annales du Mus¦um Nationale d’Histoire Naturelle 432 Anschauung 13, 42, 45, 61, 202, 208, 217, 235, 265, 280, 369, 373 f., 383, 401, 414, 417, 441, 449 Anthropologie 12 – 14, 19, 21, 29, 31, 33, 57, 73 f., 80, 100, 104, 114, 121, 130, 157, 171 f., 176, 197 f., 256 – 258, 261, 266, 318 f., 329 f., 338, 344 – 353, 356, 358, 361 f., 365, 373 f., 376, 387, 390, 427, 456, 459, 463 f., 468 f. Antiphlogistische Chemie 82, 86, 92 Asthenie 82 f., 205 Atheismus 54, 56, 88, 149 f., 216, 262, 289, 327, 461 Auteuil 263, 268, 310 f., 314, 339 Autopsie 61, 275, 301, 465 Berliner Akademie der Wissenschaften 24, 417 f., 438 Berliner Salon 34, 38 f., 46 Bildungsreform 11, 26, 28, 49, 78, 174, 177, 266 Bildungstheorie 32 f., 132, 291 – Bildungstrieb 19, 30, 51 – 56, 59, 73 f., 189, 234, 245, 284, 290, 376 f., 381 f., 461, 465 f. – Innere Bildung 196, 290, 376, 466, 470 Biologie 224 f., 242, 250, 255 Brownianismus 83, 85, 205

Chimborazo 11, 141, 271 Citoyen 269, 302, 318, 320, 323 f., 346, 394 Darwinismus 111 Direktorium 261 f., 295, 329, 339, 372, 411 Dualismus 19, 31, 59, 115, 130 f., 163, 167 f., 184, 193, 201, 203 f., 263, 330, 351, 365, 382 – Cartesianischer Dualismus 462 Ecole normale 282, 292 Einbildungskraft 47, 78, 102, 194, 257, 360 f., 433, 466 Enzyklopädie – Enzyklopädisten 159, 255, 266 Epigenese 52, 54 f., 60, 461, 466 Epigenesis 53, 55, 60 Erdentstehung 67 – 71, 115 – Erdgeschichte 60, 67, 102 f., 115 f., 195, 304 – 307, 455 Ethnographie – Ethnologie 258 Evidenz 144, 255, 289 Evolution 123, 266 Fossilien 144, 153, 306 Freiberg 36, 63, 67, 77, 103, 144, 224, 396 Gallipolis 296, 298 Galvanismus 165 f., 169 – 172, 182, 332, 394 f., 425, 463 – Galvanische Experimente 14, 84, 103,

514 165 f., 171 f., 182, 186 – 188, 205, 361, 400, 425, 463, 467 Ganze der Natur 57, 62 – 64, 72, 96, 99, 103, 115, 127, 130, 144, 148 f., 151, 156 f., 172, 189, 204, 210, 212, 214, 276, 348, 374, 376, 381, 441, 446, 458, 460, 462, 464 f., 468 – 470 Geognosie 44, 102 f., 139, 144 – 146 Geschichte der Menschheit 45 f., 73 – 77, 96, 100, 105, 107 f., 110 – 117, 119 – 130, 132 f., 135 f., 141 – 144, 146, 148, 151, 154 f., 157, 161, 183 – 188, 192, 195, 198 – 200, 203, 214, 219, 232, 257, 274, 281, 286, 289, 298 f., 306 f., 316, 359, 386, 398, 440, 463 Geschichtsphilosophie 104, 110, 112, 115, 117 – 121, 123 – 126, 128, 130 Geschlecht 12, 60, 116, 128, 147, 152, 156, 178 – 181, 183 f., 198, 204, 206, 283, 288, 328, 330, 352 f., 362, 445 – Geschlechterdifferenz 328 – Geschlechtsorgane 323, 327 f. – Zweigeschlechtlichkeit 177 f., 204, 206 Gesetzmässigkeit 59, 62, 66, 71, 74, 76, 100, 114 f., 120 – 122, 125 – 128, 199 f., 214 f., 226, 253, 280, 306, 360, 466, 468 Gleichgewicht 29, 72, 76, 81, 87, 95, 178, 198 f., 211, 216, 222, 229 f., 303, 312, 315, 317, 327, 381, 400, 402 Göttingen 11, 13, 21, 25, 33 f., 40, 49 – 51, 59 – 62, 82, 85 f., 163, 165, 245, 255, 396, 415, 462 Göttinger Fragenkataloge 62 Göttingische gelehrte Anzeigen 337 f. Grande Terreur 311 Grens Neues Journal der Physik 165, 395, 399 – 402 Guillotine 319 – 325, 465 Historismus 13, 15, 20, 121, 428, 446, 459 f., 463, 469 f. Holismus 377, 387, 437 Homo duplex 31, 335 Horen 57, 142, 147, 177 f., 180 f., 183, 192, 207 f., 222, 347, 354, 406, 427

Stichwortregister

– Horenaufsätze 57, 104, 147, 177 – 184, 190, 193 – 195, 203 – 206, 208, 250, 328, 345, 347 f., 352, 463, 469 Humanismus 461 Humanität 32 f., 125, 193, 199 f., 216, 311, 398 Ideal 32 f., 56, 59, 109, 114, 119, 177 f., 198 f., 203 f., 276, 311, 350, 358 f., 361, 371, 411, 433, 446, 470 Ideologie 259 f., 299, 465 – Id¦ologues 14, 241, 257 – 266, 268 f., 275 f., 284, 291 f., 302, 305, 308 f., 311 f., 327, 335, 337, 339, 341 f., 349, 384 f., 387 f., 390, 464 f., 468 Incitabilitas 82 – 84, 94, 97, 186, 225, 462, 466 Institut National 259, 292, 295, 314, 318, 325, 329, 337, 342, 384, 394 f., 397, 412 f., 419, 423, 428, 435, 467 f. Irritabilität 52, 84 – 90, 95 – 97, 164, 188, 196, 220, 225, 227, 244 f., 248, 322, 382, 394, 402, 406, 465 Journal de Physique 394 f., 429, 432, 435, 437 Katastrophentheorie 153 Kompensationsgesetz 245, 248 f., 251, 467 Konstanz der Arten 45, 114 Kontingenz 45, 114 f., 130 Kosmos 11, 16, 47, 51, 54, 59, 65, 102 f., 119, 135, 139, 146 – 150, 152, 155 – 157, 209, 217, 229, 231, 234 f., 240, 251, 253, 424, 428, 446, 455, 470 – Kosmos-Idee 424 Kraft 11 f., 20, 30 f., 52 – 55, 58, 60, 73, 75, 81, 91, 93, 96, 98 f., 108, 128, 148 f., 156, 159, 161, 167, 177 f., 184 f., 188, 191, 194 – 196, 204, 213, 218 f., 221, 226, 231 – 233, 238, 240 f., 245, 284, 292, 305 f., 315, 322, 326, 330, 354, 364, 368 f., 373 f., 376 f., 380 f., 384, 409, 425, 436, 446, 448, 458, 461, 463 – 466, 468 – Innere Kraft 57, 76, 97 – 99, 130, 171,

Stichwortregister

194, 219 – 221, 370, 373 f., 376 – 378, 380, 382 f., 385, 469, 471 Kulturstufen 74, 109 – Kulturstufentheorie 123 Kulturtechniken 191, 257 Lebenskraft 14, 19 – 21, 34, 39, 49, 51 – 53, 55 – 58, 71, 75, 81 f., 87 – 99, 103, 133, 142, 147, 159, 164, 168 – 171, 175, 188 f., 205, 207 – 213, 218 – 235, 240 f., 243 – 245, 290, 306, 376 f., 392, 402 f., 406, 409 f., 425, 427, 456, 464 f., 471 – Lebensprinzip 81, 87, 94, 96, 171, 325 – Lebensprozess 82, 84, 92, 224, 227 f., 400, 406, 425 Magasin encyclop¦dique 319 f., 322, 394, 432 Materialismus 54, 88, 163, 166 f., 234, 241 f., 262, 327, 330, 337 f., 385, 409, 465 M¦decins philosophes 243, 265, 315, 338, 382 Metamorphose 54, 128, 213 – 215, 333, 375, 378 f. Metaphysik 39, 61, 65, 84, 130, 161 f., 171, 205, 240 f., 256, 259 – 261, 263 f., 266, 306, 313, 326, 364, 368, 382 – 387, 390, 460, 465, 469 Milieu 72, 259, 263, 265, 290, 418 Mineralogie 144, 171, 394 Monismus 13, 19, 126, 131, 147, 168, 214, 233, 335, 379, 385, 425, 457, 460, 470 f. Moniteur 432 Monogenese 12, 146, 154 – 156, 200, 287 Montpellier 255, 264, 311 – Schule von Montpellier 311 f. Moral Sense 381 Morphologie 142 f., 361, 378 – 380 Nationalcharakter 290, 356, 366, 368 f., 371 f., 374 f., 385, 390 Nationalismus 339, 373, 375, 391, 416, 422 f. Naturalismus 13, 15, 20, 428, 446, 459 f., 463, 469 f.

515 Naturbeschreibung 73, 144 f., 169, 182, 298, 410, 424, 443, 452, 456 Naturgeschichte 21, 25 f., 28, 35 – 37, 45, 51, 53 f., 56, 58 – 61, 63 – 66, 69, 73, 86, 96, 101, 115, 119, 125, 129, 132, 137 – 139, 141 f., 144 – 146, 150, 154, 157, 173, 177, 181, 184 – 186, 190, 194 f., 197, 203, 208, 216, 252 f., 256 f., 259, 266, 271, 292, 305 f., 326 f., 330, 348, 360, 368, 376, 395, 427, 435, 447, 451, 461 Naturphilosophie 151, 190, 205, 207, 234, 236 – 241, 253, 342, 377 f., 380, 386, 410, 459, 464, 467, 469, 471 Neptunismus 36, 67 – 71, 396 Neue Berlinischen Monatsschrift 432 Ontogenese 245, 333 Organismus 14, 38, 83, 124, 172, 227, 230, 242, 263, 265, 315, 317, 323, 326, 374, 376, 379, 407, 463 – 465 Pädagogik 11, 23, 27, 29 f. Paläontologie 59 f., 115, 305 Palmyra 274, 285, 288 Perfektibilität 75 f., 132, 195, 316, 468 Perioden 128 Pflanzengeografie 35, 37, 43 f., 46, 73, 110, 133, 138, 419, 440 Pflanzengeschichte 43 Philhellenismus 33, 110 Phylogenese 333 Physikalische Erdbeschreibung 411 Physikalische Gesellschaft 61 Physiognomik 35, 46, 133, 183, 194, 197 f., 360 – 362, 439 f. Physiologie 38 f., 51 f., 73, 81, 86 f., 98, 139 f., 161 f., 168, 172 – 174, 188, 190, 198, 202, 205, 219, 221 – 224, 226 – 228, 247 f., 250, 255, 258, 264, 309, 318 f., 326, 329, 337 f., 343, 360, 362, 368, 382, 394, 397, 402, 406 – 409, 414, 425, 427, 447 Platonismus 204 f. Plutonismus 36, 67, 70 f. Polygenese 155 Positivismus 234, 262, 266

516 Präformationstheorie 52 f. Psychologie 164, 173, 263, 265, 319, 330, 337 f., 382 – 384 Qualitas occulta 54 f. Quantitative Chemie 82, 342, 396, 462 Reisebericht 61, 209, 269, 271, 273 – 276, 280, 282, 295, 300, 307, 428, 430, 435, 447 – 455, 462, 468 Reizbarkeit 85, 88 – 92, 94 – 97, 164, 166, 171, 183, 188, 196, 223, 244 f., 247, 250, 353 Reproduktionskraft 52, 245 f., 248 Revolution 14, 40, 68, 79, 84, 107, 117, 141, 154, 237, 255, 262, 266, 277, 280, 284, 304, 306, 308, 312, 320, 419 f., 457, 465 – Französische Revolution 14, 23, 29, 32, 36, 40, 107, 261 f., 266 f., 274, 280, 282, 284 f., 287, 298, 305 f., 309, 311 – 313, 316, 346, 372, 398, 439, 455, 460, 465, 470 Royal Society 36, 61 Sauerstoff 82, 86 – 89, 92 – 95, 395, 400, 413, 452, 462, 466 Scala naturae 194, 216, 232, 251 f., 351 Science de l‘homme 57, 100, 171, 257 f., 260 – 264, 318, 382, 458, 460 Seelenorgan 159, 161, 163, 166, 242 – Sitz der Seele 160 – 163, 166 – 168, 242, 462 f., 465 Selbstbeobachtung 120, 126 f., 312, 357 f., 362 Selbsterhaltung 74, 124 f., 257, 279, 286, 291 Selbstliebe 286 f. Sensation 23, 74, 150, 160, 168, 178, 185, 187, 202, 242, 245, 260, 277 f., 291, 295, 315 f., 318, 320 f., 323, 329, 332, 337, 344, 353, 357, 367, 371, 374, 383 f., 389, 436

Stichwortregister

Sensibilität 96, 188, 196, 227, 244 f., 247 f., 260, 264, 315 – 317, 322 – 324, 326 f., 331, 374, 382, 406, 417, 465, 467 Sensorium commune 160 f., 163, 166 f., 242, 321, 462, 466 f. Sensualismus 264, 386, 464 Singakademie 422 Spaltentheorie 411 Spinozismus 54, 233 Sprachgeschichte 16, 308, 470 Sprachphilosophie 77, 80, 106, 346, 365, 387, 390 Sprachtheorie 16, 388, 390 Sprachwissenschaft 11, 77, 80, 106, 155, 297, 308 f., 346, 365, 387, 390, 469 f. Sthenie 82 f., 205 Stimulus 86, 170, 401 Tegel 11, 13, 21, 23, 25 f., 39, 77, 174 f., 345, 347, 366, 460 Temperament 328, 331, 362 – Temperamentenlehre 331 Thermidor-Aufstand 372 Tierische Elektrizität 47, 165, 169 f., 172, 463 Totalanblick 276, 426, 437, 443, 452, 454 f. Transformationstheorie 331, 333 Urtypus

361, 378

Vegetation 42, 65, 134, 136 – 139, 143, 169 – Vegetationstypen 140 – Vegetationszonen 138, 299, 442 Vererbung 331, 334 Vernünftige Ärzte 361 f. Vis essentialis 19, 30, 51, 54, 376 Vitale Chemie 394 Vitalismus 80, 205, 227, 264, 312, 377, 380, 464 Vulkanismus 144, 455 Zoophyten

165, 246 f.