Grenzen der Antike: Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen 9783110317756, 9783110317688

Antiquity serves as a reference point for diverse forms of self-understanding in Western cultural and intellectual histo

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German Pages 420 Year 2014

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Table of contents :
Auf den Grenzen der Antike. Eine Einleitung
Raumteilungen: Logik und Phänomen der Grenze
Exodus. Gesetzgebung und Landnahme im kulturellen Gedächtnis Europas
Klemens von Alexandrien und die Grenze zwischen Christen und Heidentum
Die ordenunge dirre welte. Narrativierung und Integration antiken Wissens im mittelhochdeutschen Lucidarius
Dionysos und die »Grenzen des schönsten Gebildes«. Martin Heideggers erster Griechenlandaufenthalt im Kontext seiner Re-Definition der griechischen Antike
Die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Unterweltreisen in der klassischen Moderne
Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther
Lorenzo Valla und das Neue Testament
Wissen über Grenzen: Die Entdeckung der indischen Philosophie und die Pluralisierung der Antike
Der Limes als Kulturgrenze und seine Reflexion in herrschaftlichen Gärten um 1800: Eulbach und seine Vorgänger
Rasse, Raum und Rom – Grenzkonstruktionen im British Empire
Griechische Grenzverschiebungen. Transformationen des Hellas-Bildes im griechischen Nationalstaat
Remus in Rheinsberg oder Leaping the fence the other way. Über die Funktionalität von Grenzziehungen in Gartenprogrammen des 18. Jahrhunderts
»Historische Richtigkeit« und die Grenzen des Wissens. Die Pluralisierung der Altertümer durch Karl von Brühls Berliner Kostümreform 1815–1828
Kanonisierung und neue Deutungsräume. Die Grenzen der Antike in Andreas Althamers Commentaria zur Germania des Tacitus (1536)
Vom Imperium zur Souveränität und zurück. Raumpolitische Geltungsgrenzen zwischen Jean Bodins antiimperialem Souveränitätsverständnis und Carl Schmitts postsouveräner Imperiumsfurcht
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Grenzen der Antike: Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen
 9783110317756, 9783110317688

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Grenzen der Antike

Transformationen der Antike

Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer

Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt

Band 28

De Gruyter

Grenzen der Antike Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen

Herausgegeben von

Anna Heinze, Sebastian Möckel, Werner Röcke

De Gruyter

IV Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.

ISBN 978-3-11-031768-8 e-ISBN 978-3-031775-6 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer – SEQUENZ Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Ü Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

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Inhaltsverzeichnis Anna Heinze, Sebastian Möckel, Werner Röcke

Auf den Grenzen der Antike. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Stephan Günzel

Raumteilungen: Logik und Phänomen der Grenze . . . . . . . . . . . . .

15

Albrecht Koschorke

Exodus. Gesetzgebung und Landnahme im kulturellen Gedächtnis Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Martin Hose

Klemens von Alexandrien und die Grenze zwischen Christen und Heidentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Julia Weitbrecht

Die ordenunge dirre welte. Narrativierung und Integration antiken Wissens im mittelhochdeutschen Lucidarius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Roberto Sanchiño Martínez

Dionysos und die »Grenzen des schönsten Gebildes«. Martin Heideggers erster Griechenlandaufenthalt im Kontext seiner Re-Definition der griechischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

Aleida Assmann

Die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Unterweltreisen in der klassischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Albrecht Dröse

Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Christopher Celenza

Lorenzo Valla und das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

VI

Inhaltsverzeichnis

Michael Weichenhan

Wissen über Grenzen: Die Entdeckung der indischen Philosophie und die Pluralisierung der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Annette Dorgerloh

Der Limes als Kulturgrenze und seine Reflexion in herrschaftlichen Gärten um 1800: Eulbach und seine Vorgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Eva Marlene Hausteiner

Rasse, Raum und Rom – Grenzkonstruktionen im British Empire . . . . . 241 Oliver Leege

Griechische Grenzverschiebungen. Transformationen des Hellas-Bildes im griechischen Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Marcus Becker

Remus in Rheinsberg oder Leaping the fence the other way. Über die Funktionalität von Grenzziehungen in Gartenprogrammen des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Friederike Krippner

»Historische Richtigkeit« und die Grenzen des Wissens. Die Pluralisierung der Altertümer durch Karl von Brühls Berliner Kostümreform 1815–1828 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Ronny Kaiser

Kanonisierung und neue Deutungsräume. Die Grenzen der Antike in Andreas Althamers Commentaria zur Germania des Tacitus (1536) . . . 353 Sebastian Huhnholz

Vom Imperium zur Souveränität und zurück. Raumpolitische Geltungsgrenzen zwischen Jean Bodins antiimperialem Souveränitätsverständnis und Carl Schmitts postsouveräner Imperiumsfurcht . . . . . . . . . . . . . 377 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Auf den Grenzen der Antike

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Auf den Grenzen der Antike. Eine Einleitung Anna Heinze, Sebastian Möckel, Werner Röcke

1. Produktivität von Grenzen und Transformationen der Antike Selbstverständnis und Selbstbeschreibung europäischer Kulturen erfolgen bis heute in expliziter oder impliziter Auseinandersetzung mit Ordnungen kulturellen, philosophischen, politischen oder Naturwissens der Antike. Diese Auseinandersetzungen nachantiker Kulturen mit der Antike lassen sich als Transformationsprozesse beschreiben, die in unterschiedlicher Weise sowohl diese Selbstbeschreibungen konstituieren, dabei aber zugleich den antiken Gegenstand, auf den referiert wird, modellieren. Die Jahrestagung 2011 des Sonderforschungsbereiches 644 »Transformationen der Antike« an der Humboldt-Universität zu Berlin, die von der Arbeitsgruppe »Grenzen des Wissens« vorbereitet und organisiert wurde, hat die Produktivität der Grenzen jener Wissensordnungen für solche Transformationsprozesse genauer in den Blick genommen. Leitend war dabei die Annahme, dass die fortlaufende Transformationsgeschichte wesentlich an, über und vermittels von Grenzen vollzogen wird und wissenschaftlich zu rekonstruieren ist. Für eine solche Perspektive empfiehlt sich eine weite Verwendung des Begriffs Grenze. Wir gehen von räumlichen, epistemischen, kulturellen oder temporalen Grenzen ebenso aus wie von Grenzen von Wissenschaftsdisziplinen, Medien, Herrschaftsräumen oder Institutionen. Dabei wird ein System von Grenzziehungen, eine Grenzordnung, etabliert, die je nach Untersuchungsobjekt und wissenschaftlicher Disziplin historisch zu differenzieren ist. Die Figur der Grenze vermittelt ein dynamisches und produktives Geschehen, bei dem komplexe Sinnstiftungsprozesse in einem Wechselverhältnis von Kontinuität und Wandel, Offenheit und Beschränkung, von Potentialität und Kontingenz – kurz: von Stabilisierung und Überschreitung – evoziert werden. Sie ist damit geeignet, Logik und Verfahrensweisen von transformativen Prozessen der Aneignung von Wissen der und über die Antike genauer zu verstehen. Hierbei hilft das Konzept des Grenzganges, dessen Produktivität sich auf der Grenze zeigt, und der eine Vielzahl von Prozessen der Inklusion und Exklusion miteinander verknüpft. Transformationen ereignen sich in komplexen liminalen

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Ordnungen.1 Die hier entfalteten Leitbegriffe der Transgression und der Transformation sind vor diesem Hintergrund allerdings gerade nicht synonym zu verstehen: Nicht jede Transgression stiftet eine Transformation, und nicht jede Transformation ist nur als Überschreitung zu charakterisieren.

2. Grenzen und Überschreitung Lange Zeit wurde in den Kulturwissenschaften die Dynamik von Grenzphänomenen vor allem in der Transgression, der Grenzüberschreitung, ausgemacht. Die Erhellung der Produktivität von Grenzen jedoch muss auch die Grenze selbst stärker einbeziehen. Bleibt man zunächst auf der räumlichen Bedeutungsebene, dann offenbart die historische Semantik von Grenze – im Übrigen ein Lehnwort aus dem Slawischen (russ. granica Љ poln. granica, tschech. hranice) – eine Doppelfigur:2 Grenzen sind nicht nur Linien zur Begrenzung von politischen, kulturellen oder epistemischen Bereichen, sondern bezeichnen von Anfang an auch diese Gebiete selbst. Noch im 16. und 17. Jahrhundert ist diese Doppelbedeutung des Wortes »Grenze« gut belegt. Luther z.B. konzentriert in seiner Übersetzung vor allem des Alten Testaments diese Bedeutung von Grenze auf die Vorstellung eines Raums diesseits und jenseits der Scheidelinie. So übersetzt er etwa Jahwes Verheißung des künftigen Landes der Israeliten mit »von der Wüsten an […], das gantze Land der Hethiter sollen ewer grentze sein«3 (Jos. 1,4). Und in Hes. 27,4 sichert Jahwe der Stadt Tyrus zu: »dein grentze [= dein Gebiet, Anm. d. Verf.] seind mitten im meer«.4 In der Ausweitung der Begrifflichkeit werden die Differenzierungen, die Grenzen etablieren, zu einem entscheidenden Moment. Auch Transformationen setzen zunächst Grenzen voraus, die das Eigene und das Fremde scheiden, das Innen und Außen einer Kultur, das Bekannte und Unbekannte. Mit Grenzen verhält es sich ähnlich wie mit dem Fremden, das sie ausgrenzen: Sie sind abweisend und attraktiv zugleich. Dabei kommt ihnen eine differentielle und definitorische Kraft zu: Sie konturieren zuallererst das, was als antiker Gegenstand erkennbar werden kann bzw. in historischen Wissensordnungen derart verstanden worden ist (vgl. den Beitrag von Martin Hose). Es sind die eigenen Wissensgrenzen der Aneignungskultur, die die Möglichkeiten der Antikereferenz überhaupt erst etablieren;

1 Für die Untersuchung solcher Prozesse innerhalb von Transformationen lässt sich auf die heuristische Typologie und Begrifflichkeit zurückgreifen, wie sie exemplarisch bei Böhme (2011) sowie Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Töpfer/Walter/Weitbrecht (2011) entwickelt worden sind. 2 Vgl. DWB, Bd. 9, Sp. 125–135. 3 DWB, Bd. 9, Sp. 131f. 4 DWB, Bd. 9, Sp. 125.

Auf den Grenzen der Antike

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sie setzen Aneignungsrahmen, validieren Aufnahmeprozesse, legitimieren Gegenstände und steuern dies über die Aktivierung von Vorverständnissen und Erwartungshorizonten. Es ist diese (wenn auch bisweilen nur temporäre oder imaginierte) Stabilität von Wissensordnungen und ihrer differentiellen Grenzlogiken, die eine Tradierung oder Generierung von Wissen der Antike ermöglicht.5 Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die Notwendigkeit und basale Wirksamkeit von Grenzen allein in den Aneignungskulturen zu verorten. Das Wissen der Antike selbst ist differentiell organisiert und trägt eigene Grenzmarkierungen mit sich. Dieses Ineinander vielfältiger Grenzordnungen erweist sich, so unsere These, als äußerst produktiv für Transformationsprozesse. Dabei sind es die Grenzen der politischen, epistemischen und kulturellen Ordnung selbst, die für deren Erweiterungen und Umarbeitungen maßgeblich sind und darin neue Möglichkeiten des Wissens und Verstehens eröffnen. Grenzen trennen nicht nur, sondern sie tragen ihre eigene Überschreitung immer schon mit sich, denn die »Transgression folgt der Norm wie ein Schatten.«6 Grenze und Überschreitung sind nicht voneinander zu trennen: »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Inexistenz einer Grenze, die absolut nicht überschritten werden kann; umgekehrt Sinnlosigkeit einer Übertretung, die nur eine illusorische, schattenhafte Grenze überschritte.«7 Dies heißt allerdings nicht, dass jede Transgression die Grenze, die sie überschreitet, obsolet macht, dass mithin Transgression nur als eine subvertierende Kraft anzusehen ist, in deren Folge sich stete Innovation einstellt.8 Bereits Michel Foucault nimmt der Übertretung alles Negative und führt sie mit der Grenze sehr eng in die basale Performanz einer »Gebärde« auf der Grenze, die das »Sein des Unterschieds« be-

5 Für Immanuel Kant ist die Generierung neuen Wissens ohne eine fundamentale Selbstbegrenzung der Vernunft nicht möglich. Jede Erkenntnisfähigkeit beginnt mit dem Anerkennen einer Grenzziehung, die nicht zu überschreiten ist, jener »Grenze der Erfahrung«, die dem »Schicksal« der menschlichen Vernunft eignet: »dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.« Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A VII. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe schärft er zudem die Notwendigkeit wissenschaftlicher, disziplinärer Grenzen und ihrer Einhaltung: »Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen in einander laufen läßt« (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B VIII). In der »Eingeschränktheit« etwa der Logik, so folgert Kant, erweise sich gerade ihr Erfolg. 6 Hahn (2002), 452. 7 Foucault (1988), 73. 8 So ließe sich auch die Figur der sich stets hinter sich schließenden Welle verstehen, mit der Foucault die Übertretung charakterisiert: Die Transgression erzeugt zwar eine temporäre Bewegung, die jedoch auf sich selbst zurückführt. Die Bewegung ist nicht auf eine innovative Überschreitung aus, sondern auf die zirkuläre Performanz des Übertretens selbst; Foucault (1988), 73.

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Anna Heinze, Sebastian Möckel, Werner Röcke

zeichnet.9 Dabei stellen sich, wie Alois Hahn gezeigt hat, eben auch affirmative Erneuerungen der Grenze in der Folge ihrer Verletzung ein, wenn in der Erregung über den Normbruch die liminale Linie wieder in Erinnerung gerufen wird.10 Überschreitungen sind dennoch nicht folgenlos. Vor allem unter räumlicher und performativer Perspektive ist der Begriff der Transgression ausdifferenziert worden. Unter der Perspektive der Performativität von Transgressionen haben Kathrin Audehm und Hans Velten auf die Verschiebung von Grenzen durch solche handelnden Überschreitungen hingewiesen.11 Grenzen eröffnen mithin Übergangsräume, bei denen sich weniger ein Geschehen an einer Differenzlinie entwickelt, als eine performative Überschreitung eines ausgedehnten Schwellenraumes vollzogen wird, der Möglichkeiten von Hybridisierung ebenso erlaubt wie die Reaktivierung und Bestätigung von Grenzen.

3. Grenzgänge Aus diesem Grunde lässt sich die hier in Rede stehende Produktivität von Grenzen vor allem anhand der Figur des Grenzganges formulieren.12 Im Grenzgang werden Übergängigkeit und Persistenz der Grenze, Affirmation und Subversion ebenso sinnfällig, wie intrikat verschaltete Prozesse von Exklusion und Inklusion von Wissen, wie es für Transformationen prägend ist. Grenzgang heißt Überschreitung und Markierung von Grenzen zugleich – sichtbar in der von Neumann und Warning postulierten Metapher der »Brücke«, die einerseits verbindet, andererseits in der Überquerungsfunktion auch das Trennende deutlich herausstellt.13 Die Pro9 Foucault (1988), 75. Dabei nimmt er der Übertretung jegliche normative und evaluative Dimension: »Die Übertretung versucht nicht, irgend etwas zu irgend etwas in Widerspruch zu setzen, […] und sie überwindet auch keine Grenzen, die sie dann wieder verwischt […]; sie ermißt, mitten auf der Grenze, das maßlose Maß der Distanz, die sich an der Grenze auftut, und zeichnet die funkelnde Linie nach, die sie das sein läßt, was sie ist. An der Übertretung ist nichts negativ. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht jenes Unbegrenzte, in das sie hineinspringt und es so zum ersten Mal erschließt. Dennoch kann man wohl sagen, daß diese Bejahung nichts Positives an sich hat: kein Inhalt kann sie binden, denn per definitionem kann sie keine Grenze aufhalten. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Bejahung der Teilung. Allerdings sollte man diesem Wort all das nehmen, was an die Gebärde des Zerschneidens erinnern könnte oder an eine Trennung oder an das Maß der Abweichung, und ihm nur das lassen, was in ihm das Sein des Unterschieds bezeichnet.« Ebd., 74f. 10 Hahn (2002), 454. 11 Audehm/Velten (2007). 12 Auch Gerhard Neumann und Rainer Warning bestimmen das weite »Spektrum der Begriffe, die sich an die Vorstellung der Transgression anschließen« vielfach über Konnotationen eines solchen Grenzganges: »Transfusion, Transfundierung, Übersetzung, Passage, Heterotop, Heterochronie, Transposition, enharmonischer Wechsel, Negotiation, Durchquerung, Parergonalität«. Vgl. Neumann/Warning (2003), 13. 13 Ebd.

Auf den Grenzen der Antike

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duktivität von Grenzen ist hier zudem in einer fundamentalen Logik der Durchquerung von Grenzräumen zu sehen, als eine nicht nur gerichtete Überschreitung, sondern vielmehr als ein oszillierender Gang auf der Grenze. Geht man nun davon aus, dass Wissen von und über die Antike nur in komplexen kulturellen, epistemischen oder institutionellen Ordnungen verfügbar ist, dann lässt sich die Figur des Grenzganges als eine Durchquerung jener Rahmungen verstehen, die mit solchen Wissensordnungen etabliert werden. Hierzu zählen insbesondere die historisch jeweils spezifisch ausdifferenzierten und hierarchisierten Systeme aus epochalen Antikebildern, Gattungsnormativen, Legitimationsordnungen, Funktionsbestimmungen oder Intentionen der Handelnden. Transformationsprozesse lassen sich insofern als Durchquerungen beschreiben, als sie stets auf diese Rahmen bezogen bleiben und sich daher immer auch (zumindest teilweise) innerhalb solcher Rahmungen ereignen, dabei diese aber zugleich auch verschieben können. Von besonderem Interesse erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem jene Phänomene, die zu Konflikten, Paradoxien, Widerständigkeiten, Überlagerungen sowie zu instabilen oder kontingenten Aneignungen von Antike führen. Denn gerade in diesen Prozessen werden die Logik der Grenzen und ihrer produktiven Übergänge, die Verfahren der jeweiligen Grenzgänge besonders deutlich. Ein wesentlicher Aspekt der Produktivität von Grenzen liegt in der Disponierung der Aneignung antiken Wissens innerhalb spezifisch begrenzter Felder eines Rahmensystems. Grenzen kommt in diesem Sinne eine Entlastungsfunktion zu. Denn über Grenzen wird innerhalb eines abgeschirmten Feldes nicht nur quasi ungestört Sinn produziert, sondern der Grenzraum enthebt die in ihm Agierenden auch ganz konkreter Forderungen und Zumutungen des Außerhalb. In einer solchen Betrachtung gerät in den Fokus, was innerhalb der Grenzen eben nicht gesagt oder getan werden muss. Hier ist zu sehen, dass innerhalb der Grenzsysteme, in denen Antike adaptiert wird, Teilbereiche oder -systeme ausgefächert werden, die eine höchst unterschiedlich ausgeprägte Transformationsaffinität oder -toleranz aufweisen (vgl. den Beitrag von Marcus Becker). Mit der Denkfigur des Grenzganges soll mithin ein Kurzschluss von Grenzüberschreitung und Antiketransformation vermieden werden. Wir verstehen, so ließe sich zusammenfassen, die Produktivität von Grenzen in ihrer Doppelgesichtigkeit und zirkulären Dynamik: Transformationen der Antike vollziehen sich als Grenzgänge auf einer Grenze und als Durchquerungen liminaler Rahmungen und sind derart weder als bloße Transgressionen zu beschreiben, noch als stete Affirmation bestehender Grenzordnungen. Um das hieran anschließende, sehr weite und heterogene Feld anschaulich zu machen, sollen nunmehr ausgewählte heuristische Schneisen in die Problematik gezogen werden, die als interdependent zu denken sind.

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4. Heuristische Schneisen durch die Problematik Epochen und Räume Für die Beantwortung der Fragen nach den räumlichen und zeitlichen Grenzen der Antike sind zunächst sehr einfache Postulate festzulegen: Antike lässt sich – zumindest in ihrer eurozentristischen Konturierung – auf einen topographisch distinkten Raum (möglicherweise mit Kernzonen und unscharfen Rändern) und eine dort zeitlich abgrenzbare, vergangene Kultur verengen. Es ist hier nicht der Ort, solche Vereinfachungen etwa mit Blick auf die Schwierigkeiten klarer historischer Zäsuren (vgl. etwa Byzanz mit seiner Kontinuitätsidentität) oder historische Prozesse von kulturellem Kontakt und Austausch an den Grenzen (z.B. mit Ägypten) zu diskutieren. Vielmehr sind aus der systematischen Frageperspektive nach der Dynamik von Grenzphänomenen die epochalen und räumlichen Setzungen zu entwickeln. Denn die von den Aufnahmekulturen jeweils vorgängig zu beantwortende Frage »Wann und wo ist Antike?« bestimmt die Zugriffsmöglichkeiten auf den Referenzbereich, konturiert also den Gegenstand des Antiken mit. So etabliert bereits die grundlegende Kategorie der Vorzeitigkeit von Antike keinen ontologischen Status, da »Epochen zuallererst im Bewußtsein derer entstehen, die sie wahrnehmen und beschreiben.«14 Epochemarkierungen sind epistemologische Praktiken oder gar »ideologische Produkte«,15 zumeist aber determiniert durch ästhetische, normative und funktionale Zuschreibungen der späteren Aneignungskultur. Die Einführung der heute immer noch leitenden Epochentrias Antike – Mittelalter – Neuzeit ist, wie Hans Blumenberg gezeigt hat, selbst eine Erfindung der Neuzeit. Entscheidend ist zudem, dass sich epochale Grenzziehungen schwerlich durchhalten lassen, man also besser mit einem dynamischen Konzept von Umbesetzungen arbeiten sollte, das sich als ein Grenzgang an zeitlichen Zäsuren beschreiben lässt. Für Blumenberg ist dieses Szenario an einen limitierenden Rahmen geknüpft: Alle Veränderung, aller Wechsel vom Alten zum Neuen sind nur dadurch für uns zugänglich, daß sie sich – statt auf die ›Substanz‹, von der Kant spricht – auf einen konstanten Bezugsrahmen beziehen lassen, durch den die Erfordernisse definiert werden können, denen an einer identischen ›Stelle‹ zu genügen lässt.16

Nur über diese notwendigen Begrenzungen wird ermöglicht, »daß differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen verstanden werden können.«17 Eine derart entontologisierende Skepsis ist für eine Transformationsperspektive grundlegend, allerdings gilt es darüber hinaus, die jeweiligen zeitgenössischen 14 15 16 17

Fetscher (2000), 774. Flasch (2003), 142. Blumenberg (1993), 16. Ebd.

Auf den Grenzen der Antike

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Epochevorstellungen zu berücksichtigen, in denen sich die Transformation der Antike vollzieht. Sehr deutlich werden solche zeitgenössischen Setzungen etwa in der Gegenüberstellung der mittelalterlichen Überzeugung einer Kontinuität der Antike und der humanistischen Vorstellung einer Grenze zwischen Antike und Mittelalter. Andererseits ist eine solche Abgrenzung die Grundlage für die fundamentale Wiederaneignung der Antike, wie sie Renaissance und Humanismus vollzogen. An der grundlegenden und nicht zu überschreitenden Grenze der Vorzeitigkeit werden dann produktive Vergegenwärtigungsmechanismen entwickelt, die das antike Wissen trotz und gerade wegen seiner eingeschriebenen epochalen Differenz als präsent imaginieren. Transformationen der Antike entfalten sich daher in einem Spannungsfeld aus epochalen Brüchen, Kontinuitäten und Präsenzfiktionen, die vielfach stabile Transformationsketten antiken Wissens auch jenseits von Epochedifferenzierungen ausprägen können. Die Bestimmung der räumlichen Grenzen der Antike lässt sich auf der Ebene geographischer Substrate nicht zufriedenstellend leisten. Zwar können die Orte des mediterranen Raums der hellenistischen und römischen Vergangenheit benannt und immer noch aufgesucht werden, jedoch umfasst der Raum der Antike mehr: Räume entstehen in kulturellen Praktiken, und sie sind ohne epistemische, performative, politische oder soziale Implikationen nicht hinreichend zu fassen. Für den räumlichen Aspekt von Antiketransformationen bedeutet dies, dass nach den Logiken, Strukturen und Prozessen ihrer Raumkonstitution gefragt werden muss. Bereits die politisch-soziale Differenzierung von Gesellschaften in den antiken Referenzkulturen überformt geographische Grenzziehungen mit kulturellen Selbstbeschreibungen. Das Muster der Unterscheidung etwa von Griechen und Barbaren wird in der Folge ebenso zu einem lang wirkenden Topos wie die Thematisierung asymmetrischer oder dichotomischer Grenzen von Imperien als »Routen der Selbstdeutung« (vgl. die Beiträge von Eva Hausteiner und Sebastian Huhnholz). Zudem sind bereits für die Referenzkulturen des mediterranen antiken Raums vielfältige Kontakt- und Hybridzonen zu verzeichnen, die in der Transformationsgeschichte Möglichkeiten der Ausdehnung und Verengung bieten (vgl. den Beitrag von Oliver Leege). Eindrücklich wird dies in jenen transgressiven Bewegungen, in denen ein kulturelles Normativ Antike in neue geographische Räume versetzt wird. Dann werden Schauplätze von alternativen Antiken entworfen, die gar als Gegenantiken funktionalisiert werden können. Die Konstituierung anderer identitätsgenerierender Altertümer forciert eine Pluralisierung von Antike, die in einem hohem Maße durch räumliche Transponierungen bestimmt ist (vgl. die Beiträge von Michael Weichenhan und Friederike Krippner). Die Produktivität von Übertretungen physischer Grenzen verdeutlicht sich nicht zuletzt in der Entdeckung der Neuen Welt, die gleichwohl in den kulturellen Grenzen der Entdecker vollzogen wird. Die Architektur politischer Bauten in den Americas zeigt exemplarisch, wie der entgrenzte Raum wieder in die Ordnungen politischer Herrschaftsrepräsentation, und damit in die fortlaufende Transformation der An-

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tike, eingepasst wird. Solche Räume, in die Antikereferenzen eingespielt werden – sei es als Modellimitation oder über die Präsenz antiker Artefakte – werden zu Schwellenräumen, die das Eigene und das als präsent inszenierte Vorgängige der Antike miteinander in Beziehung setzen. Prozesse einer solchen Konstituierung eines antiken Raumes reichen von einer subjektiven Raumerfahrungen durch Reisen (vgl. den Beitrag von Roberto Sanchiño Martínez) bis zu ästhetisch-politischen Inszenierungen etwa im Landschaftsgarten (vgl. den Beitrag von Annette Dorgerloh). Darüber hinaus ist aber auch der Bereich des antiken Wissens von räumlichen Begrenzungen in hohem Maße relevant. Die Problematisierung der Notwendigkeit räumlicher Grenzen für Erkenntnisse zeigt der Beitrag von Stephan Günzel, der die Geschichte des Grenz-Apriori in der Philosophie seit der Antike nachzeichnet. Die Problematisierung und Diskursivierung von Grenzphänomenen hat ihre eigene, höchst produktive Transformationsgeschichte.

Normierung und institutionelle Kanonisierung Die Legitimation von nachantiken Inszenierungen raumzeitlicher Präsenz antiken Wissens ist eingelagert in die überaus spannungsvolle Frage nach der Geltung und Valenz der antiken Referenzkultur(en). Hier ist es zunächst die definitorische Kraft der Grenzen, in denen die Selbstbeschreibungen der Aufnahmekultur durch den Zugriff auf die Antike überhaupt plausibilisiert werden können. In Phänomenen des Vorbilds, des Originals oder des Modells sowie kanonischen Klassifizierungen werden Transformationen zumindest intentional begrenzt und gesteuert, werden Wirkungsstrategien und argumentative Durchsetzungsprozesse evoziert. Eine evidente Produktivität solcher antiker normativer Ordnungen können etwa für das Phänomen der Fälschung in Anschlag gebracht werden, wo Transformationen gänzliche Neuschöpfungen entsprechend einem normativen Grenzrahmen sein können. Innerhalb dieses Rahmens wird einerseits die Autorität bestätigt und in der Inszenierung »authentischen« Wissens revitalisiert. Andererseits werden aber auch hier »Umfrisierungen«18 des Referenzmodells anzusetzen sein. An der durchaus wechselhaften Geschichte des imitatio-Begriffs lässt sich ebenfalls zeigen, dass die Wiedergabe eines normativen Modells immer auch Raum für Irritationen und Überschreitungen bietet, die letztlich bis zu einer immanenten Überbietungslogik des antiken Modells intensiviert worden sind.19 Zudem weisen insbesondere poetologische Normensysteme eine bestimmte Toleranzbreite auf. Innerhalb des gattungspoetologischen Rahmens des frühneu-

18 Terminologie nach de Certeau (1988), 71. 19 Zur Methode der imitatio als Transformation siehe Rombach/Seiler (2012).

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zeitlichen Romans etwa gibt es in der Aneignung des antiken normativen Modells eine Spannbreite der Aktualisierungen, die vom heroischen Staatsroman, über den galanten Liebesroman bis zu mythologisch überformten Hybriden reicht. Es sind die Grenzen selbst, die solche Erweiterungen der kulturellen Ordnungen hervorbringen. So z.B. war es im frühen Christentum gerade die Ausgrenzung biblischer Bücher als nichtkanonisch, die zu einer bemerkenswerten Erweiterung und Intensivierung theologischen Denkens führte. Dabei ist die Ausdifferenzierung eines Kanons immer ein Prozess der Aushandlung. Die Markierung dessen, was innerhalb und was außerhalb des Kanons liegt, bedarf sowohl der Bestätigung wie der Überschreitung seiner Grenzen. Jede Bestätigung des Kanons enthält ungesagt die nicht inkludierten potentiellen Alternativen. Die Produktivität normativer Setzungen und Zuschreibungen ist eng an die Akteure solcher Prozesse gekoppelt. Denn Grenzkonstituierungen und -überschreitungen und damit die Entscheidung über ihre normative Wirksamkeit oder ihre Durchlässigkeit vollziehen sich im Rahmen individueller und institutioneller Handlungsmöglichkeiten. Die Rolle von solchen Transformationsagenten ist in vielfacher Weise an Grenzphänomene gebunden: So geht es zunächst um die Bestimmung derjenigen Schwellen und Grenzen, die über die Einheit von Wissenskollektiven entscheiden und Selektionsbedingungen für die Teilhabe am (hier: antiken) Wissen ausziehen. Dazu gehört auch das Wechselverhältnis von individuellen Vollziehern der Transformation, d.h. Transformationsagenten (wie etwa den humanistischen Gelehrten) und ihren kontextuellen Wissensgemeinschaften. Die institutionelle Ausdifferenzierung lässt sich zudem über ihre Zugänglichkeit bestimmen. Hier wird ein Spektrum eröffnet, das von geheimen Gesellschaften und hermetischen Expertenkulturen bis hin zu öffentlichen Bildungsanstalten oder vollständig zugänglichen Wissensnetzwerken reicht. Schließlich sind damit die gesellschaftlichen Funktionen der Agenten verbunden, in denen soziale, politische oder ökonomische Interessen und Motive eine Rolle spielen. Transformationen unterliegen somit auch Instrumentalisierungen innerhalb spezifischer Machtgefüge. Unter dem Aspekt der Normierung von Aneignungsmöglichkeiten und der Kanonisierung von Wissensbeständen werden Grenzen zu Leitpfaden für die Transformationsprozesse. Grenzgänge sind hier vor allem in ihrer affirmativen und iterativen Verstetigung zu sehen.

Narrativierung Grenzen des Wissens und dessen Modulation in und durch Grenzgänge spielen im Hinblick auf die mediale Repräsentation des Wissens eine entscheidende Rolle. In seiner Poetologie des Wissens verweist Joseph Vogl darauf, »daß jede

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Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert.«20 Unter der Perspektive des vorliegenden Bandes werden dabei die produktiven Implikationen solcher epistemischen Inszenierungsrahmen virulent, schaut man auf die »Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellung diktiert, in denen er sich seine performative Kraft sichert.«21 Transformationen des Wissens von und der Antike werden daher in vielfältiger Weise medial disponiert (vgl. hinsichtlich von Flugschriften den Beitrag von Albrecht Dröse). Ästhetische Medialisierungen von Wissen können zunächst ganz allgemein als Form einer Transgression des vernünftigen und repräsentablen Diskurses angesehen werden.22 Hierbei scheinen Narrationen und der Umgang mit Narrativen in besonderer Weise geeignet zu sein, Grenzen zu dynamisieren.23 Ihre vielfältigen Verfahren lassen sich zunächst als Möglichkeiten von Wissensvermittlung verstehen, die von der Überschreitung außernarrativer Wissensbestände in erzähllogische Zusammenhänge geprägt sind. Dabei wird Wissen über eine Neukontextualisierung dialogisiert und perspektiviert. Narrationen spannen zwar Räume von Grenzverschiebungen und Hybridisierungen auf, sie erzeugen allerdings in ihrer raumzeitlichen und kausalen Strukturierung ebenso neue Rahmensetzungen. So liegt in jeder Narration auch ein Faktor von Bestätigung und Stabilisierung. Zudem prägen sich die text- und gattungsspezifischen Normative in den Aneignungsprozess des Wissens ein. Aus diesem Grund sind Narrationen als medial bearbeitete Grenzgänge zu bezeichnen, in denen die Grenzen in besonderem Maße in einem stets variablen Modus verbleiben: »Die Grenzziehungen [in der Narration, Anm. die Verf.] sind transportierbare Grenzen und Transporte von Grenzen.«24 Diese transportierbaren Grenzen formen sich je nach historischen und kulturellen Kontexten aus. So kann heidnisches Wissen über eine Einpassung in narrative Strukturen des Legendarischen für die neuen, christlichen Wissensordnungen anschlussfähig gemacht werden (vgl. den Beitrag von Julia Weitbrecht), wobei sowohl transgressive als auch grenzaffirmative Strategien miteinander interagieren. Innerhalb narrativer Aneignungen wird ein fiktionales Gleiten über Wissensgrenzen hinweg entworfen, werden aber auch Kontinuitäten erzeugt: Das antike Wissen wird in seiner medialen Umbesetzung letztlich an spätere Kulturen weitergereicht. 20 21 22 23

Vogl (1999), 13. Ebd. Vgl. Neumann/Warning (2003), 12f. Nach Iser vollzieht sich die Transformation außerliterarischen Wissens innerhalb literarischer Texte als eine mehrschichtige Grenzüberschreitung: Durch Selektion, Kombination und Fiktionalisierung werden die nichtliterarischen Entitäten aus den Grenzen ihrer historischen, epistemischen und kulturellen Ordnungsrahmen herausgelöst; vgl. Iser (1993), insbesondere 24–37. 24 de Certeau (1988), 236.

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Nicht zuletzt ist auch antikes Wissen in vielen Fällen bereits selbst narrativ disponiert. Anhand von Masternarrativen, wie des Exodus, zeigt Albrecht Koschorke im vorliegenden Band, dass in der Struktur von Narrativen eine besondere Produktivität für Transformationen liegt: Aufgrund ihrer mnemotischen Funktion lassen sie sich immer wieder entsprechend den Bedingungen der Aneignungskulturen aktualisieren. Auch die basale Differenzierung, wie die zwischen den Lebenden und den Toten, hat bereits in der Antike produktive Transgressionserzählungen etabliert. Die katabasis wird dabei zu einem Motiv, dessen Aneignung als Erzählung eines Grenzganges, der zudem den eigenen Dialog mit dem Vorgängigen reflektiert, noch in der Moderne eine hohe Möglichkeit von Sinnstiftung erlaubt (vgl. den Beitrag von Aleida Assmann).

Grenzen der Materialität – Grenzen des Wissens Es sind nicht zuletzt die Referenzobjekte selbst, die die Grenzen transformierender Zugriffe in sich tragen und damit die Produktivität ihrer Aneignung zuallererst bestimmen. Hier werden Widerständigkeiten wie Rahmensetzungen gleichermaßen deutlich. Gleichwohl lassen sich für das überaus heterogene Feld antiken Wissens und materieller Kultur keine Generalisierungen ableiten. In jedem Einzelfall ist zu entscheiden, inwieweit bestimmte Objekte, Materialien, Wissensbestände usw. bestimmte Transformationstypen überhaupt erst zulassen, ermöglichen oder initiieren. Übersetzungen z.B. können sich nicht beliebig und bedenkenlos von ihrem Referenztext lösen (vgl. den Beitrag von Christopher Celenza). In der nachantiken Kommentierungspraxis antiker Texte (vgl. den Beitrag von Ronny Kaiser) wird an die epistemische Grenze zwischen paganer und christlicher Ordnung gerade deshalb immer wieder erinnert, weil der antike Referenztext weitgehend unangetastet und immer noch sichtbar bleibt. Die Kohärenzanforderungen an einen Text lassen Überschreibungen nur in bestimmten Maße zu: Die Umdeutung etwa einer interpretatio christiana erfolgt nicht in der Veränderung des antiken Textes, sondern in seiner Verdopplung. Damit wird die Überschreitung des Sinns auf eine christliche Heilsbedeutung überhaupt nur mit der affirmierten Grenze deutlich. Der Kommentar umrahmt den Referenztext und überschreibt ihn nicht. Dadurch wird ein hybrider Wissensraum ausgefaltet, der seine Sinnpotentiale gerade im steten Gang über die Grenze entwickelt: Der Leser wird zum Grenzgänger beider Wissensordnungen. Die Grenzen der Antike betreffen weiterhin die Zugänglichkeit und Erkennbarkeit der Referenzobjekte selbst. Diese ist im äußersten Fall durch Leerstellen, Brüche der Überlieferung oder materialen Verlust gekennzeichnet. Die Unverfügbarkeit von Wissen bildet jene Grenze, an der sich die Aneignungen imaginativer Produktionen und Ergänzungen bedienen müssen. Wie die Grenzen des Wissens

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über Antike Transformationen hervortreiben, ließe sich an vielen Beispielen zeigen, etwa an den Ergänzungen antiker Statuen, deren Farbsemantiken oder der Zuschreibung von Funktionen von unbekannten Artefakten. Hier rückt die Produktivität wissenschaftshistorischer Erkenntnisgrenzen in den Blick, die in einer Transformationsgeschichte als selbstreflexives Moment der Transformationsbeobachtung immer mit eingeschrieben ist.

5. Die Grenzen der Antike Mit den vorstehenden Überlegungen zur Produktivität von Grenzen für Aneignungsprozesse von Antike ist ein Forschungsgebiet skizziert worden, das mit den Beiträgen dieses Bandes nicht erschöpfend ausgemessen werden kann. Mehr noch: Die Untersuchung von Transformationen wird ohne die Beachtung der Rahmen und Grenzordnungen, ihrer Bestätigungen und Übertretungen nicht auskommen können. So eröffnet der Blick auf transformatorische Grenzgänge weitere wissenschaftliche Perspektiven. Nach den Grenzen der Antike zu fragen impliziert, nach ihrem Ende zu fragen. Selbst der oft beklagte Tod der Antike, ihr Verlust, ja ihre Zerstörung ließen sich noch unter dem Signum einer transgressiven Produktivität verhandeln. Zur Spezifik von Transformationen der Antike gehört aber auch, dass sie stets Präsenzeffekte ihrer Referenzobjekte erzeugen. Bisweilen mag Antike für kulturelle, politische oder wissenschaftliche Selbstbeschreibung nachantiker Gesellschaften funktionslos geworden sein. Aber sie bleibt im kulturellen Archiv potentiell referenzialisierbar und damit diskursiv verhandelbar. Antike ist daher wohl noch lange nicht an der »Gränze: Überhaupt, das Letzte an einem Dinge, dasjenige, wo ein Ding aufhöret«.25 Die HerausgeberInnen danken neben allen Vortragenden und TeilnehmerInnen der Tagung auch den Mitgliedern der Arbeitsgruppe »Grenzen des Wissens«, die in gemeinsamer Arbeit an methodischen Grundlagen, Leitbegriffen, aber auch in der Präsentation und Diskussion von Fallstudien die Konzeption der Tagung und des hier vorliegenden Bandes vorbereitet haben. Zudem geht ein herzlicher Dank an den SFB 644 »Transformationen der Antike«, der die Tagung finanziert hat sowie an die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Christian Faust, Liouba Popoff, Cornelia Selent, Scarlett Warlich und Sören Wolf, die mit großem Engagement zur Durchführung der Tagung wie auch zur Drucklegung des Bandes beigetragen haben.

25 Adelung (1796), 777.

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Literaturverzeichnis Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe, Bd. 2, Leipzig 1796. Audehm, Kathrin/Velten, Hans, »Einleitung«, in: Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft, hg. von Kathrin Audehm/Hans Velten, Freiburg i.Br. 2007, 9–40. Bergemann, Lutz/Dönike, Martin/Schirrmeister, Albert/Töpfer, Georg/Walter, Marco/Weitbrecht, Julia, »Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels«, in: Transformationen. Ein Konzept zur Erforschung des kulturellen Wandels, hg. v. Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Töpfer/Marco Walter/ Julia Weitbrecht, München 2011, 39–56. Blumenberg, Hans, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, vierter Teil, Frankfurt am Main 1993. Böhme, Hartmut, »Einladung zur Transformation«, in: Transformationen. Ein Konzept zur Erforschung des kulturellen Wandels, hg. v. Hartmut Böhme/Lutz Bergemann/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Töpfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, München 2011, 7–37. de Certeau, Michel, Die Kunst des Handelns, Berlin 1988. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 9, fotomechanischer Nachdruck, München 1984 (= Vierter Band, I. Abteilung, 6. Teil, bearbeitet von Arthur Hübner und Hans Neumann in Verbindung mit der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches, Leipzig 1935). Fetscher, Justus, »Zeitalter/Epoche«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6, hg. v. Karlheinz Barck, Stuttgart/Weimar 2000, 774–810. Flasch,Kurt, Philosophie hat Geschichte, Bd. 1: Historische Philosophie. Beschreibung einer Denkart, Frankfurt am Main 2003. Foucault, Michel, »Zum Begriff der Übertretung«, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, 69–89. Hahn, Alois, »Transgression und Innovation«, in: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, hg. v. Werner Helmich/Helmut Meter/Astrid Pier-Bernhard, München 2002, 452–465. Iser, Wolfgang, Das Fiktive und das Imaginäre – Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1993. Neumann, Gerhard/Warning, Rainer, »Einleitung«, in: Transgressionen. Literatur als Ethnographie, hg. v. Gerhard Neumann/Rainer Warning, Freiburg 2003, 7–16. Rombach, Ursula/Seiler, Peter (Hg.), imitatio als Transformation. Theorie und Praxis der Antikennachahmung in der frühen Neuzeit, Petersberg 2012. Vogl, Joseph, »Einleitung«, in: Poetologien des Wissens um 1800, hg. v. Joseph Vogl, München 1999, 7–16.

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Raumteilungen: Logik und Phänomen der Grenze Stephan Günzel

Das Folgende blickt in historischer, aber vor allem systematischer Hinsicht auf die Grenze als eine Raumoperation in ihrer Phänomenalität. Die diesbezügliche These ist dabei, dass bei mehreren modernen Konzeptionen des Raums eine Wiederkehr antiker Vorstellung zu konstatieren ist, die allesamt auf einer Grenzlogik beruhen. Es wird dabei nicht primär die Frage beantwortet, ob es sich um adäquate Rezeptionen oder um verfälschende Aneignungen oder Appropriation handelt, sondern zunächst festgestellt, dass es ein Bestreben – vor allem philosophischer Raumtheorien – gibt, sich mit der im Zuge der eigenen Darstellung dann jeweils interpretierten Antike zur Deckung zu bringen. Diese moderne Aneignung bzw. Wiederaufnahme antiker Grenzvorstellung geht also einher mit der Rezeption antiker Raumvorstellungen, und diese werden dann sowohl vom neuzeitlichen Raumbegriff Newtons als auch von der ihn reformierenden Raumzeitlichkeitsvorstellung der Relativitätstheorie im 20. Jahrhundert abgesetzt. Mit dem Rückgriff auf frühe Raumkonzeptionen wird eine grundsätzlich andere Vorstellung dessen evoziert, was eine Grenze überhaupt ist. Denn die auf die Antike rekurrierenden oder entsprechend aus der Antike stammenden Konzeptionen haben eines gemeinsam: Sie gehen nicht, wie etwa die Physik Newtons, von einem vorausliegenden (absoluten) Raum aus, innerhalb dessen dann Grenzen gezogen und (relative) Räume abgegrenzt werden, sondern sie gehen von der Grenze selbst aus. – Anders gesagt: Wenn in neuzeitlichen Konzeptionen die Grenze als etwas aufgefasst wird, das in den Raum eingetragen wird und ihm daher nachfolgt, so folgt im antiken Verständnis der Raum auf die Grenze bzw. wird der Raum durch die Grenze konstituiert. Das Verhältnis von Raum und Grenze ist stets logisch und phänomenal bestimmt, das heißt in jedem Fall lässt sich ein Rekurs auf die Logik von Phänomenen oder die Phänomene einer Logik feststellen. Das phänomenal wie logisch bestimmte Apriori der Grenze – im Gegensatz zum Apriori des Raums – findet sich nicht nur bei unterschiedlichen Autoren der Antike, sondern auch in verschiedenen Bereichen wieder, insbesondere in der Kosmologie, der Ontologie und der Physik: In der Kosmologie ist das Grenzapriori in der Theogonie von Hesiod zu verzeichnen; in der Ontologie kommt es (wenn auch in negativer Form) bei Ana-

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ximander vor; als eine Ontologie, die zugleich als Kosmologie auftritt, findet sich das Grenzapriori bei Platon; sowie zuletzt als Naturlehre bei Aristoteles.1 Bei Hesiod (Theogonie 116) ist das Apriori der Grenze gar am radikalsten gedacht, insofern sein Wort für Raum das Phänomen der Grenze selbst bezeichnet: Gr. cháos für ›das Klaffende‹ bezeichnet logisch den abgründigen Grund: die Kluft.2 Als Phänomen ist damit zugleich ein Zwischen angesprochen, nämlich das von Himmel und Erde, also der Horizont. Die Grenze ist damit nicht allein vor dem Raum, sondern der Raum ist nichts anderes als eine Grenze, die Grenzlinie oder das Prinzip der Teilung. In zeitlicher Hinsicht geht diese Grenze nach Hesiod gar der Götterwelt voraus und wird auch als Wurzel (gr. arché) der Elemente angenommen. Dementgegen zielt die Seinslehre von Anaximander (Diogenes Laertios, Bíoi philosópho¯n, II 1 [DK 12 A1]) zwar scheinbar gegenteilig auf das ›Un-Begrenzte‹ (gr. apeiron), wiederum kann das Sein im Ganzen auch von Anaximander so nur über die Grenze (gr. peras) angesprochen werden. Die phänomenale Raumvorstellung eines Alls, das keine Grenze hat, ist damit logisch (im Besonderen hier auch sprachlogisch) auf das Apriori der Grenze angewiesen. Anaximanders Negationsfigur ist freilich ein Sonderfall, verglichen insbesondere mit Platon, in dessen kosmischer Ontologie das Raumkonzept Hesiods Eingang findet: Denn chóra wird von Platon (Timaios 52d–e) wie das cháos als Zwischen gedacht: Während cháos als der Zustand der Welt vor der Geburt der Götter oder Ursprung der Elemente nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Komponente hat, so ist die chóra ein gänzlich räumliches Prinzip: Die chóra ist nicht Entstehungsgrund der Elemente, sondern gibt ihnen Raum.3 Die vier Elemente wiederum als Inbegriff des irdischen Werdens sind derart vom Sein als dem Reich der unveränderlichen Ideen geschieden. Die chóra ist damit sowohl die Bedingung der Möglichkeit von Lokalität (der Elemente in ihren Konstellationen), als selbst auch der Unterschied zwischen dem, was einen Ort (gr. topos) haben muss (Elemente und in der Folge die Dinge als Abbilder der Ideen) und dem, was keinen Ort haben kann (die Ideen selbst). In Aristoteles’ Physik (212a) wiederum wird dieses Prinzip der Unterscheidung dann schließlich auf den Ort selbst angewandt:4 Dem Raum als der Menge der Orte, an denen Dinge ihren Platz haben können, geht die Unterscheidung zwischen ihnen insofern voraus, als es nach der dominierenden antiken Auffassung keinen leeren Raum geben kann und aus theologischen Gründen auch nicht geben darf. Das Unterschieden-Sein der Dinge ist damit logische Voraussetzung für die Orte, die eben immer nur dort (unterschieden) sind, wo etwas ist – oder mit Aris1 2 3 4

Vgl. Algra (1995). Vgl. Kratzer (1998). Vgl. Lee (2001). Vgl. Zekl (1990).

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toteles gesprochen: dass etwas nur dann einen Ort haben kann, wenn der Stoff (gr. hylé) eine Form (gr. morphé) besitzt. Vor allem die aristotelische Natur- und Seinslehre ist es, welche nun in der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Aktualisierung erfährt; oder um im Sinne der Appropriation zu sprechen: Es erfolgt eine Aneignung, die durchaus nicht in nicht allen Fällen kenntlich gemacht wird. So hat der 2009 verstorbene Philosophiehistoriker Franco Volpi in seinen Arbeiten wiederholt darauf hingewiesen, dass die Schriften Martin Heideggers, insbesondere Sein und Zeit, letztlich eine große Paraphrase der aristotelischen Philosophie sind,5 so dass die besondere Leistung Heideggers weniger in der vorgebrachten Philosophie als vielmehr in der originellen Übertragung zu suchen sei. Das gilt auch für die aristotelische Raumlehre, die bei Heidegger missverständlich als Topologie firmiert: In Kontrast zur mathematischen Topologie, sei es als Graphentheorie oder Mengenlehre, hebt die Raumlehre Heideggers – von ihm dezidiert eine »Topologie des Seyns«6 genannt – darauf ab, die Dinge über ihr Grenzsein zu denken, und eben nicht über ihre Relation zu bestimmen, wie dies die mathematische Topologie fordert. Einschlägig sind hierfür Heideggers Überlegungen zum Status der Objekte, wobei insbesondere eines in seinem hierfür zentralen Aufsatz über Das Ding von 1951 paradigmatisch behandelt wird; dieses Objekt, oder besser dieses Ding ist: der Krug. Der Krug ist nicht einfach Beispiel, sondern das Muster jedweden Dings und im Sinne des aristotelischen Hylemorphismus sozusagen steingewordener Topos. Das Wesen des Krugs (also die Topologie seines Seins) ist für Heidegger kurz gefasst: ›das Schenken des Gusses‹: Wand und Boden, woraus der Krug besteht und wodurch er steht, sind nicht das eigentlich Fassende. Wenn dies aber in der Leere des Krugs beruht, dann verfertigt der Töpfer, der auf der Drehscheibe Wand und Boden bildet, nicht eigentlich den Krug. Er gestaltet nur den Ton. Nein – er gestaltet die Leere. […] Allein, ist der Krug wirklich leer?7

Im Text folgt dann eine zweiseitige, für das moderne, sich auf die griechische Antike stützende Grenzdenken symptomatische Kritik an der »physikalische[n] Wissenschaft«8, die eben vom absoluten, leeren Raum ausgeht. – Danach Heidegger weiter: Worin beruht das Krughafte des Kruges? […] Wie faßt die Leere des Kruges? Sie faßt, indem sie das Aufgenommene behält. Die Leere faßt in zwiefacher Weise: nehmend und behaltend. […] Das Nehmen von Einguß und das Einbehalten des Gusses gehören jedoch zusammen. Ihre Einheit aber wird vom Ausgießen her bestimmt, worauf der Krug als Krug abgestimmt ist. […] Im Schenken des Gusses west das Fassen des Gefäßes.9

5 6 7 8 9

Vgl. Volpi (1984). Heidegger (1947), 23. Heidegger (1954), 161. Ebd. Ebd., 163f.

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Diese von Heidegger aufgerufenen Ethik des Dings beruht auf der Trennung zwischen dem Ort, der keinen Guss enthält, und dem Ort, der beschenkt wird; das heißt, die Trennung oder die Grenze des Dings als der Wandigkeit des Krugs ist das phänomenale Apriori dieser Raumvorstellung. – Freilich überrascht es nicht, dass Heidegger auf antike Konzeptionen zurückgreift; ist sein vorrangiges Ziel doch die Abschaffung der neuzeitlichen Metaphysik über eine Kritik der mit ihr korrespondierenden Physik, welche damit als Ursache der Seinsvergessenheit ausgemacht wird, die alle Dinge einer Messbarkeit in Raum und Zeit unterworfen hat. Ihr entgegen stellt Heidegger das Ethos der Gabe, eine Ethik, die zugleich eine Raumlehre oder vielmehr eine räumliche Verhaltenslehre ist, sprich: eine Ethologie. Doch nicht nur eine phänomenale, sondern auch eine logische Beschreibung der Grenze oder vielmehr des Grenzapriori findet sich bei Heidegger; und zwar in seinem Vortrag über den Satz der Identität aus dem Jahr 1957. Das Grenzdenken ist hier jedoch nicht so leicht zu erkennen, wie im Falle der phänomenalen Beschreibung des schenkenden Dings. – Und dennoch: Was Heidegger in seiner Lektüre des Satzes der Identität (der sich in der Metaphysik des Aristoteles, aber auch schon im platonischen Dialog Sophistés findet) unternimmt, ist eine Umkehrung der geläufigen Vorstellung von Identität als Selbstidentität, wie sie in der egozentristischen Philosophie vor allem seit dem deutschen Idealismus anzutreffen sei. Dies soll hier ausdrücklich im Konjunktiv stehen, weil bereits im Idealismus mit Schelling das Prinzip Fichtes (der Identität als sich selbst setzende Ichheit) auf eine Differenz (nämlich auf die Spaltung von Ich und Nicht-Ich) zurückgeführt und der Spaltung damit der Vorrang gegeben wird. Heidegger jedoch verlegt das Grenzapriori zurück in die Antike und deutet das logische Istgleich (geschrieben als mathematische Gleichsetzung: =) im Satz der Identität als eine ontologische Gehörigkeit. Abgelehnt wird dabei (wie stets bei Heidegger) das Lateinische – in diesem Fall: idem als bloße ›Gleichheit‹ zugunsten des griechischen Wortes autó als ›Selbigkeit‹. So wird aus der mathematischen (oder lateinisch-neuzeitlichen) Variante des Satzes der Identität als ›A = gleich A‹ bei Heidegger dann in der Neuübersetzung des Griechischen: »Mit ihm selbst ist jedes A selber dasselbe.«10 Das mag als Wortklauberei erscheinen, führt aber tatsächlich in das Zentrum der Logik der Grenze. – Anders gesagt: Mit Heideggers Aneignung einer antiken Vorstellung von Identität als Autologie (bzw. Tautologie) wird der Grundsatz der einen zugunsten der anderen Logik zur Disposition gestellt. Denn die kritisierte Identitäts-Logik der Neuzeit beruht eben auf einer Raumvorstellung des Unendlichen (oder genauer: des Absoluten), die antike Raumvorstellung hingegen auf einer der Endlichkeit (oder eben der Negation dieser Unendlichkeit als Un-Begrenztes).

10 Heidegger (1957), 15.

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Eingewendet werden könnte an dieser Stelle freilich, dass doch auch Newton den Raum in Teilungsverhältnissen denkt. Eben darauf hob Albert Einstein mit seinem Vorwurf ab, für Newton sei der Raum »Schachtel« oder »Container«.11 Die Konfrontation von Neuzeit und modernisierter Antike läuft also auf die Frage zu: Was unterscheidet letztlich die Schachtel vom Krug? – In Erinnerung gerufen werden sollte hierbei, dass Einsteins Kritik am Container zunächst auf die Konzeption des relativen Raums bei Newton und erst darüber auf die Konzeption des absoluten Raums zielt: So meint Einstein, dass die lokalen Bezugssysteme von Newton als statisch behandelt werden. Diese fixen Grenzen der relativen Räume im absoluten Raum seien nach Einstein zugunsten der Feldvorstellung aufzugeben, wonach sich der Raum an jeder Stelle entsprechend der Materie (bzw. des Schwerefeldes) ändert. Die Begrenzungen der relativen Räume sind für Newton also nicht wie für Aristoteles durch die Körper konstituiert (denen die Orte sozusagen anhaften), sondern sie sind aus Teilungen des selbst nicht teilbaren Bezugssystems (dem absoluten Raum) hervorgegangen. Das war letztlich der entscheidende Bruch Newtons mit der Tradition, als er den kabbalistischen Gottesbegriff des makom12 (was zugleich das hebräische Wort für ›Unteilbarkeit‹ ist) in die Physik einführte,13 womit er und die ihm folgenden Physiker langfristig – wie Friedrich Nietzsche später notieren wird – »Gott aus der Welt geschafft«14 haben. Der Raum geht in der neuzeitlichen Vorstellung der Grenze voraus, und entsprechend ist nach Heidegger die Identität konzipiert: A = A heißt: A ist nicht gleich B. – Oder: A ist im Bezug auf ein absolutes System nicht B, nicht C, nicht D usw. Dementgegen ist die tautologische Logik im Grenzapriori eine, die mit dem Unterschied beides zugleich setzt: das Identische ebenso wie das Nichtidentische – und Identität ist damit nichts anderes als die Grenze ober eben Differenz. Es ist dies die Überzeugung, die auch der strukturalistischen Linguistik und Ethnologie mit Ferdinand de Saussure bzw. Claude Lévi-Strauss zugrunde liegt und auch noch im Poststrukturalismus aufrechterhalten wird.15 Es nimmt daher kaum Wunder, dass gerade poststrukturalistische Autoren wie Jaques Derrida an Heidegger anschließen. Weitgehend unbemerkt von dieser Theoriebewegung in Frankreich hat der Mathematiker George Spencer Brown in seiner Schrift Laws of Form von 1969 eine Logik der Differenz oder eine Logik der Grenze entworfen. Bemerkenswert ist hierbei, dass auch er sich auf eine antike Vorstellung beruft, die jedoch nicht aus der griechischen Antike stammt, sondern aus der chinesischen, wenn Spencer Brown die Gesetze der Form mit einem Satz des chinesischen Philoso11 12 13 14 15

Vgl. Einstein (1960). Vgl. Völkening (2007). Vgl. Heuser (2005). Nietzsche (2004), 185. Vgl. Günzel (2010).

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phen Laozi beginnt, der lautet: »Ohne Name ist der Anfang des Himmels und der Erde.«16 Der Satz das alten Meisters datiert dabei auf die gleiche Epoche wie das in Hesiods Theogonie vorgebrachte Grenzapriori: nämlich das sechste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.17 Über diesen Aspekt hinaus ist die differentielle Logik der Identität von Spencer Brown aber auch aus einem anderen Grund einschlägig für das Thema der Grenze, da Spencer Brown die von ihm vorgeschlagene Logik in direkte Beziehung zum Raum setzt. Bemerkenswert ist zunächst jedoch, dass sich bei Spencer Brown zwei (eigentlich konkurrierende oder sich gar ausschließende) Vorstellungen überlagern. Um es im Sinne der beiden Paradigmen zu formulieren: Spencer Brown denkt den Krug, redet aber in Termini der Schachtel. So schreibt er etwa, dass »[e]in Universum […] zum Dasein [gelangt], wenn ein Raum geteilt wird«18. – Dies wäre ja nichts anderes als die Newtonsche Raumvorstellung eines apriorischen, absoluten Raums, der in einzelne (dann relative) Stücke aufgeteilt würde. Doch schon die Wahl des Ausdrucks »Universum« deutet an, dass es Spencer Brown nicht um eine Aufteilung des Homogenen geht, sondern um die Konstitution eines Eigenen oder mit Heidegger gesprochen: von Selbigkeit. So lautet Spencer Browns Definition der Form, deren Logik er aufzeigen will: »Nenne den Raum, der durch jedwede Unterscheidung gespalten wurde, zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raumes die Form der Unterscheidung.«19 Wie schon Heidegger rekurriert Spencer Brown dabei auf Topologie, jedoch nicht im Sinne der aristotelischen Toposlehre, sondern nun dezidiert im Sinne der modernen Topologie: Im zwölften und letzten Kapitel von Gesetze der Form werden hierfür Diagramme verwendet, die in der Mathematik als Euler-Diagramme bekannt sind oder nach dem britischen Mathematiker John Venn in der komplexeren Variante auch Venn-Diagramme genannt werden. Im Prinzip bestehen sie aus Kreislinien, deren Innen und Außen mit unterschiedlichen Buchstaben gekennzeichnet wird: innen A, außen Nicht-A; oder zwei Teilmengen (A und B) usw. Spencer Brown verwendet diese Diagramme im besagten Schlusskapitel nun, um eine auf der Grenze basierende Logik zu veranschaulichen, und das heißt: als Phänomen vorzuführen. Die Identität des Kreises besteht für Spencer Brown aber nicht darin, dass die eingeschlossene Menge (wie bei Venn) von der ausgeschlossenen unterschieden ist, sondern: dass Innen und Außen beide dasselbe sind, insofern beide Seiten durch eine Grenzziehung hervorgebracht werden. 16 Spencer Brown (1997), 0. 17 Für einen vergleichbaren, der indischen Antike, zugeschriebenen Gedanken vgl. Panikkar (1991). 18 Spencer Brown (1997), XXXV. 19 Ebd., 4.

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Abb. 1: Markierungs-Diagramm aus Spencer Brown, Gesetze der Form

Spencer Browns Wort für Grenze ist dabei »Markierung« oder im englischen Original: mark – was letztlich auf das mittelhochdeutsche Wort marc oder das lateinische margo für Grenze bzw. Rand oder die Küstenlinie zurückgeht. Ganz im aristotelischen Sinne kann Spencer Brown darunter letztlich die Form verstehen, deren Gesetzmäßigkeit darin besteht, dass die Markierung als Grenze raumkonstitutiv ist: m ist also Innen und m ist Außen und m ist der Rand oder die Grenze, m ist das Zwischen. Während also im Identitätsdenken das Außen der Menge das B oder allenfalls das Nicht-A wäre, so ist im Differenzdenken sowohl innen A und außen A. Oder wie der Satz der Identität nach Heidegger zu (re)formulieren wäre: »Mit ihm selbst ist jedes A selber dasselbe.«

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Damit kann zu einem dritten Vertreter gegenwärtiger Raumtheorien übergegangen werden, der wie kaum ein anderer mit dem Thema der Differenz, aber auch des Randes und darüber der Grenze verbunden wird: dem bereits angesprochenen Jacques Derrida, der sich in seinem Vortrag Chora von 1987, gehalten bei einem Kolloquium zu Ehren des Altphilologen Jean-Pierre Vernant, gleich zu Anfang der Frage nach der Übersetzung des titelgebenden platonischen Begriffs widmet und zu dem Schluss kommt, dass es keine treffende Übersetzung von chóra geben könne, da eben Ort, Platz, Stelle, Region, Gegend und freilich auch Raum nicht nur Bedeutungen tragen, die sie aus anderen Kontexten, Physiken und Kosmologien, erhalten, sondern weil darüber der entscheidende Gedanke Platons verdeckt werde, der darin besteht, dass die chóra als das Zwischen von Werden und Sein weder das eine, noch das andere ist, also weder einen Ort einnimmt (wie die Dinge), noch keinen Ort haben kann (wie die Ideen). Nach Derrida ist chóra folglich Platons Ausdruck für den Differenzgedanken und damit die Bestimmung einer differentiellen Logik. Derrida nimmt dies nun zum Anlass, auch das Denken über die Antike selbst zu thematisieren und insbesondere die in der Philosophie geläufige Behauptung eines Übergangs vom Mythos zum Logos (zumeist festgemacht an Hesiod respektive Thales). Hierbei kann Derrida sich auf Vernant stützen, der 1974 in seinem Aufsatz über die Vernunft des Mythos den Philologen aufforderte, sich an die Logiker und Mathematiker zu wenden, damit sie ihm das Werkzeug liefern, an dem es ihm mangelt: das strukturale Modell einer Logik, die nicht die Binarität wäre, des Ja oder Nein, die eine andere Logik wäre als die Logik des logos.20

Die Empfehlung Vernants wurde von den Strukturalisten bekanntlich befolgt oder existierte bereits; so nicht nur in den Kulturanalysen von Claude Lévi-Strauss, sondern vor allem in den Arbeiten des Physikers Michel Serres.21 Bezeichnender Weise wurde aber, wie bereits erwähnt, nicht auf Spencer Brown zurückgegriffen; was seinen Grund wohl nicht zuletzt darin hatte, dass Spencer Brown recht offenherzig mit dem Mythos als Gegenspieler der Vernunft umging, und er seine tautologische Logik dabei zu einer Art Glaubensfrage oder letztlich esoterischer Lehre erhob. Der Sache nach findet sich die Logik des tertium datur in vielen heutigen Ansätzen zur Grenze; nicht nur in strukturalistischen und poststrukturalistischen, sondern auch in den postkolonialen: So etwa in Homi Bhabhas Konzeption des dritten Raums, den Bhabha als die Artikulation und Positionierung im Zwischen oder auch auf dem Rand begreift, wie etwa in Form von Protestbewegungen, die zwischen den Orthodoxien der Religionen und den Staatsgebilden der Aufklärung verortet sind.22

20 Vernant zit. n. Derrida (1990), 11. 21 Vgl. Bexte (2007). 22 Vgl. Bhabha (1990).

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Vor allem präsent ist der Selbstsetzungsgedanke in der Soziologie Niklas Luhmanns, der als einer der wenigen ausdrücklich an Spencer Brown anschließt und dessen Ansatz in der gegenwärtigen Soziologie immer noch als Sonderweg gilt. Das betrifft insbesondere auch die Raumsoziologie, die sich zwar gegen die Newtonsche Containerraumvorstellung ausspricht,23 dagegen aber allenfalls die relativitätstheoretische Variante Einsteins als Paradigma einer neuen Sozialraumanalyse vorbringt; womit aber nach wie vor eine verdinglichende Raumsoziologie betrieben wird, wie dynamisch diese auch gedacht sein mag. In Luhmanns Formdenken fällt es hingegen schwer, den gleichwohl vorhandenen Raumansatz zu sehen,24 und das nicht zuletzt deshalb, weil auch er vom Apriori der Grenze ausgeht, wenn er als schaffenden wie zugleich erhaltenden und stabilisierenden Mechanismus der sozialen Systeme deren Formgebung ansieht.25 Auch für Luhmann ist die Umwelt als Außen des Systems nicht früher da (d.h. apriori) als das durch die Formgebung und Kommunikation stabilisierte Innen des Systems, sondern die Differenz ist das System (selbst).26 Dies gilt nach Luhmann damit nicht nur für Systeme der mittleren Ebene, sondern auch für die Ebene Kultur:27 Kultur konstituiert sich nach Luhmann auf eben diese Weise als simultane Setzung von Kultur und ›Kultur‹, etwa im Sinne der eigenen gegenüber der anderen Kultur oder der Zivilisation gegenüber dem Unzivilisierten. Die Setzung des anderen (als anderes Selbst) ist damit schlichtweg als ein Wiedereintritt – oder mit Spencer Brown gesprochen als Reentry – der Form (dieser Unterscheidung) zu beschreiben.28 Im Blick auf die Antike fällt dabei nun auf, dass es im Griechischen selbst gar kein Wort für Kultur gab; also keine Reflexion des Eigenen als Identifikation. Dennoch gab es die Abgrenzung gegenüber anderen (etwa als den Nicht-Griechisch-Sprechenden). Laut dem 2006 verstorbenen Basler Altphilologen Felix Heinimann ist der antike Kulturbegriff so auch nicht in einer Identifizierung zu suchen, sondern in einer Differenzierung; nämlich derjenigen zwischen Physis und Nomos, wobei erstes als Natur, zweites als Kultur gelesen werden kann, oder aber genauer: als Gesetz.29 ›Gesetz‹ wäre hier jedoch nicht im Sinne von Gesetz-

23 24 25 26 27 28

Vgl. Löw (2001). Vgl. Günzel (2011). Vgl. Lippuner (2005). Vgl. Luhmann (2002). Vgl. Luhmann (1995). Vergleichbares beinhaltet auch Claude Lévi-Strauss’ Interpretation des Inzestverbots, das ihm zufolge nicht – wie lange in der Ethnologie angenommen – aus Gründen der »Volkshygiene« besteht (dafür sind die Regeln zu verschieden; d.h. nicht immer ist bspw. die Geschwisterbeziehung verboten), sondern um Kultur darüber zu affirmieren, zu behaupten, zu setzen (vgl. Lévi-Strauss [1981]). 29 Vgl. Heinimann (1945).

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mäßigkeit zu lesen (denn auch der Natur ist eine Regelhaftigkeit eigen), sondern Gesetz (nomos) ist zu verstehen als Setzung. Abermals mit Spencer Brown gesprochen, wäre also dieses antike Verständnis von Kultur als Setzung wiederum als Wiedereintritt der Form zu deuten, und zwar einer Form, deren phänomen-logischer Grundzug die Grenze ist. Oder noch einmal anders gesagt: Kultur im Sinne des Gesetzes als eine Setzung zu bezeichnen, bedeutet, das Prinzip der Differenzierung zu affirmieren – und der antike Doppelbegriff nomos/physis leistet laut Heinimann eben das. Auffällig ist von hier aus gesehen, dass es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein wenige oder auch keine Beschreibungen großräumlicher Grenzen gibt, die differenzlogisch vorgehen, sondern fast ausschließlich auf dem Raumapriori basieren. So auch im Falle der wohl bekanntesten geopolitischen Grenzkonzeption von Friedrich Ratzel. Zwar gibt es ihm zufolge unterschiedliche Formen der Grenze, aber keine davon wird als Grenzapriori gedacht: Für Ratzel lässt sich an einer Grenze die jeweilige Kulturstufe ablesen. – Kurz gefasst lautet seine Regel dabei: Je breiter der Grenzstreifen (der sog. Saum) ist, desto geringer die Kulturstufe; oder je klarer definiert die Grenze und je kleiner der Grenzbereich, desto höher die Kulturstufe.30 Damit beruht Ratzels Spektrum auf der Skala einer räumlichen Messbarkeit, eben der Ausdehnung. – Dies gilt auch noch für die andere prominente großräumliche Grenzkonzeption des 19. Jahrhunderts bei Frederick Turner, der in einem Vortrag von 1893 die amerikanische Grenze als frontier im Gegensatz zur europäischen border beschreibt und die Modernität der Grenze gerade an ihrer Verschiebbarkeit oder Verlegbarkeit (vergleichbar dem Stellungskrieg) festmacht (und worin Turner das Besondere der amerikanischen Geisteshaltung und Raumauffassung begründet sieht).31 – Doch auch in seiner Dynamik beruht das Grenzdenken Turners auf dem Raum (als Apriori), in dem die Grenze als frontier verschoben werden kann. Wenn zuvor konstatiert wurde, dass bis weit in das 20. Jahrhundert hinein keine kulturwissenschaftlichen Konzeptionen anzutreffen sind, die mit dem Apriori des Raums brechen, so kann als Zeichen des Umbruchs insbesondere Michel Foucaults Arbeit über Wahnsinn und Gesellschaft von 1961 genommen werden, in der Foucault die Grenze zwischen Vernunft und Unvernunft im Zeitalter der Rationalität analysiert, die maßgeblich eine Trennung von Innen und Außen ist. Doch sei es im Falle der architektonischen Trennung der Wahnsinnigen von den Vernünftigen (also der Einschließung der Unvernünftigen in die Irrenanstalten) oder der metaphysischen Trennung von außenbasierter Sinnlichkeit und innenbegründeter Erkenntnis bei René Descartes: Stets – so die Kritik Foucaults – wird die Trennung nicht als ein Akt der Setzung ausgewiesen und damit nicht als 30 Vgl. Ratzel (1882), 113–143. 31 Vgl. Turner 1947.

Raumteilungen

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raumkonstitutiv begriffen. Das jedoch ist das Ziel Foucaults, der von den Kulturwissenschaften ein Umdenken fordert: Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt. Eine Kultur über ihre Grenzerfahrung zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.32

Es scheint nunmehr keine Überraschung zu sein, dass freilich auch Foucault an dieser Stelle einen Antikenbezug herstellt und auf ein anderes Raum- bzw. Grenzdenken verweist, wenn er sogleich im nächsten Absatz Friedrich Nietzsches Tragödientheorie nennt, die unter dem Einfluss Jakob Burckhardts ja auch bereits ein Antikenverständnis beschrieb, das aus der griechischen Antike heraus das neuzeitliche Bild derselben in Frage stellte: In Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 werden Dionysos und Apoll von Nietzsche als die interdependenten Prinzipien von Chaos und Ordnung gedeutet, wobei erstes mit dem Rausch und zweites – für das heutige Verständnis kontraintuitiv als dessen Gegensatz – mit dem Traum gleichgesetzt wird; so dass Ordnung nach Nietzsche folglich also die Innenseite des Tragischen ist. Dies kann nicht nur so gelesen werden, dass die beiden Raumkonzepte von Identität (Schachtel) und Differenz (Grenze) wiederum als Reentry aufeinander bezogen bleiben, sondern vielmehr auch so, dass das antike Grenzdenken am Beginn der Moderne steht.

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32 Foucault (1969), 9.

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Abbildungsnachweis Abb. 1 aus: Texte zur Theorie des Raums, hg. v. Stephan Günzel, Stuttgart 2013, 407f.

Exodus

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Exodus. Gesetzgebung und Landnahme im kulturellen Gedächtnis Europas Albrecht Koschorke

1. Zu den prominentesten Grenzerzählungen der Antike ist ohne Zweifel die Geschichte vom Auszug aus Ägypten zu zählen. Sie beschreibt in mehrfacher Hinsicht ein Schwellengeschehen: räumlich, politisch-konstitutionell, religiös. Das ist so offensichtlich, dass es kaum lohnend scheint, über diesen Tatbestand als solchen viele Worte zu verlieren. Schon die Berufung des Mose, sein Aufenthalt in der Wüste, seine Begegnung mit dem ihm bis dahin unbekannten Gott seiner Väter im brennenden Dornbusch zeigen ihn als Person in einem liminalen Geschehen. Die Verhandlungen mit dem Pharao, die ihn und sein Volk heimsuchenden Plagen, die Vorbereitungen zur Flucht, die Nacht der Erstgeborenentötung – all dies sind Elemente eines Freiheitsmythos, dem geradezu archetypische Qualitäten zukommen. Nicht zufällig erinnert der Durchzug durch das Rote Meer, das dann über den verfolgenden Ägyptern zusammenschlägt, an Motive von Weltranderzählungen. Ein liminales Geschehen anderer Art spielt sich rund um den Berg Sinai ab, an dem das flüchtige Volk der Israeliten Gottes Gesetz und damit zugleich seine kultische Verfassung erhält. Seit der Antike wird Mose unter die großen Gesetzgeber gezählt, und nicht nur in Freuds Deutung erscheint er als der eigentliche Stifter der jüdischen Religion. Auch darin hat die Exodus-Geschichte einen nachgerade archetypischen Rang, zu dem politische und religiöse Neugründungen immer wieder in Parallele gesetzt wurden. Und schließlich hat sich die Verheißung des Landes Kanaan nicht nur als Blaupause für alle möglichen kolonialen Landnahmen interpretieren lassen, sondern ruft auch den Topos vom wiedergefundenen Paradies auf, vergrößert also das Schwellengeschehen in eine eschatologische Dimension. Die Liste der topischen Elemente, die den biblischen Text zu einem so vielseitig verwendbaren kulturellen Resonanzkörper machen, ist lang: Knechtschaft, die in einen Triumph der Ohnmächtigen umschlägt; Formung eines Volkes unter der Führung einer charismatischen Person, die Mittler zum Göttlichen ist; Überlebensbedingungen im Ausnahmezustand fern der Zivilisation; Ambivalenzen, Zwistigkeiten und Rückschläge innerhalb einer jungen politischen Befreiungsbewegung; Wiederbesinnung auf religiöse Traditionen in Zeiten existentieller

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Krise (beziehungsweise deren Wiedererfindung entsprechend der Formel von der reinvention of tradition); Kodifikationsprozesse, die den Gruppenzusammenhalt auf Dauer stellen sollen; das Drama des Abfalls vom rechten Glauben; Disziplin und Exzess; Aussicht auf ein neues Leben in einem selbstgeschaffenen Gemeinwesen etc. Für all diese – im Einzelnen sehr komplizierten – Prozesse stellt das Buch Exodus eine Erzählvorlage dar, die sich leicht in andere historische Settings verpflanzen lässt: Die Rolle des despotischen Pharao konnte dem Papst oder dem jeweiligen Landesfürsten auf den Leib geschrieben werden; Ägypten mit seinem System der Schuldknechtschaft konnte als Chiffre für die katholische wie für die anglikanische Kirche dienen, aber ebensogut für die Alte Welt als ganze, während in der Neuen Welt ein neues Gelobtes Land verheißen war, ein Neues Israel oder Neues Zion. Die Macht der Analogie war so stark, dass die puritanischen Siedler in den Ureinwohnern Amerikas zuweilen die Kanaaniter wiedererkannten, denen die Israeliten das ihnen von Gott versprochene Land abtrotzen mussten. Und noch später, in einem eher versteckten Bezug, zeigt sich die Exodus-Erzählung ihre generative, auf andere master narratives übertragbare Kraft. Denn auch die Aufklärung ist, mythologisch gesehen, eine jüngere Schwester des alttestamentlichen Berichts. Dafür bürgt niemand Geringerer als Immanuel Kant, der bekanntlich die Aufklärung als den »Ausgang« – lateinisch: Exodus – »des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« definierte. Wenn Kant denen, die unaufgeklärt bleiben, »Faulheit und Feigheit« unterstellt und auf ihre Bequemlichkeit schimpft, dann hört er sich wie Moses an, der das Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft befreien möchte und mit Zorn erlebt, wie sich die Juden nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnen. Auf subtile Weise setzt sich Kant damit in eine Parallele zu dem Stifter der jüdischen Religion und leitet etwas von der mythischen Wucht der biblischen Erzählung auf das Narrativ des säkularen Projekts der Aufklärung um. Wenn es auf dieser Tagung also um die Produktivität von Grenzen gehen soll, ist der Grenzraum zwischen Ägypten und Kanaan, in dem sich der Jahr für Jahr an Pessach rituell kommemorierte Gründungsakt des Volkes Israel abspielt, ein paradigmatischer Untersuchungsgegenstand. Statt die aufgelisteten Schwellenmotive und die mit ihnen verbundene Grenzüberschreitungsdynamik abzuarbeiten, möchte ich aber einen anderen Weg gehen und die Aufmerksamkeit auf die Mikrodynamik der im Buch Exodus geschilderten liminalen Vorgänge richten. Denn laut Tagungsexposé soll ja nach der Bedeutung von Grenzen für die Transformation des Wissens gefragt werden. Ich will dies unter Bezug auf erzähl- und gedächtnistheoretische Überlegungen tun, die mit meinen derzeitigen Forschungen über Allgemeine Erzähltheorie zusammenhängen. Und ich will gleich vorausschicken, dass meine Überlegungen kursorisch sind und eher exemplarischen Charakter tragen.1

1 In vielen Details stützen sich die folgenden Ausführungen auf den Erkenntnisgewinn zweier

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2. Meine die folgenden Überlegungen anleitende Grundfrage lautet: Welche Textmerkmale und welche Überlieferungsmechanismen lassen sich als Ursache dafür angeben, dass die Exodus-Geschichte ein über zweieinhalb Jahrtausende hinweg bis heute ungeheuer erfolgreiches master narrative gewesen ist – eine Art narrative Formatierungsvorlage, in die sich kollektive Leidenserfahrungen und Erlösungshoffnungen, politische Befreiungsbewegungen, religiöse Erweckungen und nicht zuletzt alle möglichen kolonialen Unternehmungen einschreiben ließen? Wie funktioniert ein solches Narrativ? Wie kann es so vielen unterschiedlichen Erfahrungen eine Form geben? Was sind die Bedingungen seiner weltweiten Verbreitung, seiner enormen kulturellen Prägekraft? Die psychologische Erzählforschung hat viele Indizien darüber zusammengetragen, dass Gedächtnisbestände – sowohl auf individueller wie auf kollektiver Ebene – über das Erzählen von merkfähigen Geschichten organisiert werden. Allerdings ist dabei nicht nur der Aspekt des Bewahrens, sondern auch des Ausscheidens und Vergessens bedeutsam. Erzählen ist eine hochgradig selektive Tätigkeit. Es hebt wenige Einzelzüge als signifikant aus einer Masse von Daten heraus. Wie diese Selektion im Einzelnen vor sich geht, hängt unter anderem von den Erfordernissen des jeweiligen Plots ab. Dessen Gestaltung ist aber nicht vollkommen willkürlich; kommunikativ erfolgreiche Plots müssen sich der Voreinstellung der Adressaten anbequemen. Erzähltechnische Experimentreihen ergeben, dass Probanden »easily recognize familiar narratives and unproblematically accept, and even reconstruct, their structure«.2 Läuft eine Geschichte jedoch solchen Vertrautheitserwartungen entgegen, wird sie im Rezeptionsprozess entsprechend umgeschrieben und eingespielten Erzählmustern angepasst. Erzählmuster funktionieren also auf sprachlicher Ebene ähnlich wie kognitive Schemata, die es erlauben, die Überfülle unsortierter empirischer Daten auf typenhafte, leicht wiedererkennbare Formen zurückzuführen, Unbekanntes an Bekanntes zu assimilieren, Abweichungen zu tilgen und überschüssige Details auszublenden. Beides sind Techniken der Komplexitätsreduktion, die zwar zu vielen Fehlleistungen führen, deren großer ökonomischer Vorteil aber darin besteht, dass sie Zeit und Aufwand verringern. Einzelne Erzähltexte können außerordentlich verwickelten Bauplänen folgen; ihre kommunikative Verbreitung und soziale Verhandelbarkeit hängen jedoch davon ab, in welchem Maß sie dem Grundmuster eines gebräuchlichen Narrativs gehorchen – oder sich nach dessen Vorgaben fehldeuten lassen. In seiner 1932 erstmals veröffentlichten Pionierstudie Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology hat Frederic C. Bartlett die VergleichbarSeminare, die ich in Chicago und Konstanz zusammen mit Jan und Aleida Assmann abgehalten habe. Diesen beiden sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. 2 Czarniawska (2004), 111.

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keit visueller und narrativer Gedächtnistechniken demonstriert. Kettenexperimente mit aus dem Gedächtnis nachgezeichneten Vorlagen zeigen, wie sich der ursprüngliche Gegenstand schrittweise an eine Darstellungskonvention angleicht, die in der Gruppe der Probanden geläufig ist, und zwar vor allem mittels Weglassung und Vereinfachung. Die generelle Tendenz führt also von einem (unidentifizierbaren) visuellen Objekt zum kulturell codierten Piktogramm. Eine besondere Rolle spielt dabei die Neigung, einem amorphen Gebilde durch Namengebung gestalthafte Qualitäten zu leihen und es dann in Angleichung an das benannte Objekt zu reproduzieren – gegenläufigen empirischen Evidenzen zum Trotz.3 Auf analoge Weise kommen Konventionalisierungen im Medium des Erzählens zustande; auch sie sind »produced by a combination of innumerable small changes introduced by a large number of individuals«.4 Dieser Vorgang ist am besten in Szenarien des Kulturtransfers zu beobachten – dort nämlich, wo »cultural materials coming into a group from outside are gradually worked into a pattern of a relatively stable kind distinctive of that group. The new material is assimilated to the persistent past of the group to which it comes.«5 Kulturelle Assimilation vollzieht sich zu einem guten Teil durch Anverwandlung fremder Stoffe in die eigenen Erzählmuster, die ihrerseits Ausdruck einer »beharrlichen Vergangenheit« des jeweiligen Kollektivs sind. Das Erzählen wäre hier also weniger ein Transportmittel als ein Filter. Mindestens ebenso wichtig wie seine Mitteilungsfunktion ist seine Eigenschaft, Wissen von geringerer Relevanz oder zu hoher Komplexität nicht weiterzugeben. Es gewinnt seine formende Kraft durch Aussparung dessen, was sich als kommunikativ ungeeignet erweist. Dem Zweck der Aufwandsminderung dient indessen auch das scheinbar entgegengesetzte Verfahren, unvollständige Schemata den rezeptiven Voreinstellungen entsprechend zu ergänzen. Denn es kostet weniger Aufmerksamkeit und psychische Energie, eine stabile Erwartung bestätigt zu finden, als sich mit Lücken, sperrigen oder regelwidrigen Details aufzuhalten. Auch die Zutat kann eine Ersparnis bedeuten, sofern sie ein bereitstehendes Schema komplettiert. Schemabildung beruht mithin auf drei Grundvorgängen: Verknappung, Angleichung, Vervollständigung. Auf jeden Fall wirkt sie ihrer Haupttendenz nach darauf hin, dass der betreffende Erzählstoff ausgefiltert, geglättet, an genretypische Normalerwartungen angeglichen und dementsprechend verallgemeinerbar wird.

3 Bartlett (1964), 185 und passim. 4 Ebd., 95. 5 Ebd., 280.

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3. Wendet man die bisher referierten erzählpsychologischen Befunde auf die Exodus-Erzählung an, dann wäre deren Erfolg darin zu suchen, dass sie ein wiederverwendbares Generalschema für gewisse kollektive Grenzerfahrungen und deren erzählerische Bewältigung bereitstellt. Würde man eine Umfrage unter Gläubigen oder mit der Bibel bekannten Nichtgläubigen abhalten, dann würde sich die Schematheorie wahrscheinlich bestätigen: Im Gedächtnis haften die prägnantesten Plot-Sequenzen, von störenden Überfrachtungen oder den Sinn trübenden Querbeziehungen gereinigt, wie ja überhaupt mnemonische und narrative Strukturen gewissermaßen Hand in Hand arbeiten. Das menschliche Gedächtnis ist ein großer Gleichmacher und Vereinfacher; dementsprechend ist zu erwarten, dass der Anpassungsdruck auf Erzählungen wächst, je häufiger und je länger sie memoriert werden. Zu dieser Annahme stimmt die Beobachtung, dass mündliche Überlieferungen, die ganz von der Merkfähigkeit ihrer personalen Träger abhängig sind, bekanntlich zu einem stark formularischen, wenn auch individuell variierbaren, Sprachgebrauch neigen. Allerdings stellen sich einer einfachen Anwendung der Schematheorie auf ein kulturstiftendes Narrativ wie den Exodus zwei Schwierigkeiten entgegen. Erstens entspricht der Text des 2. Buches Mose als solcher in keiner Weise den eben erörterten theoretischen Erwartungen, den man auf einen lange tradierten Gedächtnisstoff richten würde. Und zweitens ist auch seine Rezeption seit der schriftlichen Fixierung des Textes im fünften Jahrhundert v. Chr. keineswegs in den Bahnen einer schematisierenden Aneignung verlaufen. Was den biblischen Text betrifft, so fallen bei sorgfältigerer Lektüre vor allem sein kompilatorischer Charakter und seine Uneinheitlichkeit auf. Er hat nur oberflächlich etwas mit dem Extrakt gemein, das man in Kinderbibeln von ihm findet. Dieser Sachverhalt lässt sich teilweise erklären, wenn man die Entstehungsbedingungen der Bücher Mose genauer studiert. Wie die Bibelkritik lehrt, geht eine Grundschicht der Mose-Erzählung (Ex. 1–34) auf das 7. Jahrhundert v. Chr. zurück, während die entscheidende Formierungsphase des Textes in die Zeit des Exils (586–539 v. Chr.) fällt. In dieser Zeit und in der Zeit der Rückkehr nach Palästina stand nicht weniger als der Fortbestand des Judentums auf dem Spiel, das durch die Imperien des Zweistromlandes (Assyrer, Babylonier) nicht nur politisch, sondern auch in seiner religiösen und kulturellen Eigenständigkeit bedroht war. Die Alternative war, sich zu assimilieren oder sich unter das Vorzeichen einer exklusiven und widerständigen Gründungserzählung zu stellen. Ein wichtiger Teil dieser Gründungserzählung ist die Mose-Legende, der damit eine außerordentlich politische Bedeutung zukommt.6

6 Vgl. Otto (2006), 40ff., 50f.

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Die Verfertigung der Bücher Mose findet in einer Umgebung statt, die durch beträchtliche intertextuelle Abhängigkeiten geprägt ist. Nicht zufällig enthält sie zahlreiche Übereinstimmungen mit dem auch aus Griechenland vertrauten antiken Topos des Gesetzgebers, der in einem in Auflösung (anomia) befindlichen Staat eine neue Ordnung, eunomia, etablieren soll – als ein Schwellenheros und Ausnahmewesen, der sich durch sein Genie und Wissen auszeichnet, oft eine Lehrzeit absolviert hat (vorzugsweise im Land der Weisheit, nämlich Ägypten) und überdies für sich in Anspruch nimmt, auf göttlichen Beistand zählen zu können. Mose rückt damit an die Seite von Lykurg, Minos oder Zaleukos, die ihre Gesetze von der Gottheit empfangen oder zumindest so tun – eine Unentschiedenheit, die in Plutarchs Vitae eigens herausgestellt wird. Um der möglichen Konsequenz zu begegnen, dass der von Gott berufene oder sich auf Gott berufende Gesetzgeber als Autor über dem Gesetz stehen würde, wird den Erzählungen vom Gesetzgeber typischerweise eine Episode angefügt, die ihn zur Selbstbestrafung und damit zur Unterwerfung unter sein eigenes Gesetz zwingt, ins Exil schickt oder sterben lässt.7 Nur so kann sich das Gesetz von seinem auctor, seinem Urheber, lösen und unabhängige, ewige, unabänderliche Geltung gewinnen. In die Mose-Erzählung ist dieser Aspekt implementiert. Bekanntlich stirbt Mose vor Erreichen des Landes Kanaan, er hat kein Grab und keine Nachfahren, kann also weder Gegenstand eines persönlichen Kults noch Stifter einer Dynastie werden. Die Bücher Mose haben folglich zum einen Anteil an der politischen Mythologie, die im östlichen Mittelmeerraum des 7. bis 5. Jahrhunderts in Umlauf war. Zum anderen findet ihre Verschriftung und Kanonisierung im Gravitationsfeld von Machtfragen statt, die den Fortbestand Israels und des Judentums in elementarer Weise betreffen. Das verleiht jedem Detail einen sensiblen Charakter. Man wird sich das ähnlich vorstellen dürfen wie bei der Entstehung eines großen Gesetzeswerkes in unseren Tagen: Parteien, Privilegienträger und Interessengruppen streiten um jede Formulierung, um jeden Satz. Hier wird nicht sozusagen gratis fabuliert, sondern um eine Darstellung gerungen, die eine ganze Reihe von Bedürfnissen befriedigen soll: eine Geschichte der Befreiung aus der Knechtschaft erzählen, die erfolgreich zu Ende geführt wird; die Jahwe-Religion als einzige legitime Religion instituieren und zugleich, über einen offenkundigen und keineswegs verhehlten Traditionsriss hinweg, mit dem Glauben der Väter legieren; fremde Kulte vertilgen; die Stammesordnung des Volkes Israel den Verhältnissen der Exilzeit entsprechend retrospektiv zementieren; eine bestimmte politische Struktur durchsetzen beziehungsweise als unvordenklich erscheinen lassen; ein Korpus an Gesetzen und – in der Priesterschrift – an äußerst kleinteiligen Kultvorschriften verbindlich machen; den Anspruch der Juden auf das Land Kanaan sichern und vieles mehr.

7 Szegedy-Maszak (1978).

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Dieser eminent politische Charakter der Torah lässt ein Licht auf die Tatsache fallen, dass die fünf Bücher Mose trotz (oder vielmehr: gerade wegen) ihrer enormen Relevanz in Angelegenheiten der Macht und des Glaubens nicht einfach sozusagen schlank durcherzählt sind, sondern auch so etwas wie eine Geröllhalde ganz unterschiedlicher und teilweise schlecht zusammenpassender Überlieferungen und Erzählstränge darstellen. Wo mehrere Verfasserschaften aufeinandertreffen, divergierende Traditionen bewirtschaftet und unterschiedliche Interessen gewahrt werden wollen, gibt auch der so entstandene Text ein uneinheitliches Bild. Dass sich die kompilatorischen Züge des Bibeltextes an bestimmten Stellen verdichten, ist vor diesem Hintergrund zu erklären. Besonders an die Verkündigung der Zehn Gebote als zentralem Ereignis des Buches Exodus drängeln sich alle möglichen anderen Vorschriftenkataloge heran, die ganz offensichtlich auch Teil an der Aura der Übermittlung des göttlichen Gesetzes haben wollen. Und so werden unmittelbar im Anschluss an den Dekalog – den Gott zuerst mündlich verkündigt, wobei unklar bleibt, ob an Mose oder das ganze Volk (Ex. 19) – detaillierte Altarvorschriften erlassen (aus Erde zu errichten, und wenn steinern, dann unbedingt aus unbehauenen Steinen), werden Regeln für den Handel mit Sklaven, für Eigentums- und Schadensersatzfragen festgelegt, wird die Tötung von Zauberinnen und Zoophilen verlangt und anderes mehr (Ex. 20, 22–26; Ex. 21). Noch eklatanter ist dieses Verfahren im Zusammenhang mit der Übergabe der Gesetzestafeln an Mose. Wie in einer Suspense-Technik wird zwischen die angekündigte (Ex. 24,12) und die vollzogene (Ex. 31,18) Aushändigung der Tafeln ein langes Textstück mit Anweisungen für die Stiftshütte und ihr Inventar eingeschmuggelt, einschließlich Vorhänge, Teppiche, Räucherwerk und Öl für die Leuchter. Man fühlt sich hier an die pork barrel legislation im amerikanischen Kongress erinnert: An die großen Gesetzesvorhaben werden kleinteilige Partikularvorschriften wie earmarks angeheftet, um bei der Verabschiedung mit durchzugehen. Wenn man den Aufenthalt am Fuß des Sinai als eine Art Verfassungskonvent der Israeliten betrachtet8, dann sind die Inkonsistenzen, die seine Schilderung prägen, ein Ausdruck der widerstrebenden Elemente, die im Akt der Gesetzgebung zusammengebracht werden müssen. Mose soll einerseits die Gesetze von Gott empfangen; er hat privilegierten Zugang zu Gott; er muss aber andererseits als Mensch erscheinen, als Mensch in seiner Ohnmacht, seinem Zorn, sogar seinen privaten Begierden, und nicht als Heiliger. Damit wird der Gefahr vorgebeugt, dass das jüdische Gemeinwesen so etwas wie eine theokratische Schlagseite bekommt. Gott ist einerseits unumschränkter Herr über das Volk Israel, mächtig es zu schützen und zu vernichten; aber er soll andererseits auch mit sich verhandeln lassen, wie er sich schon mit Jakob auf ein Feilschen im orientalischen Stil hatte

8 Vgl. Markl (2007).

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einlassen müssen. Das Volk der Juden ist einerseits Gottes auserwähltes Volk; aber es ist andererseits auch ein murrendes, störrisches, ständig revoltierendes Volk: das verleiht dem biblischen Bericht nicht nur eine sozusagen realistische Note, sondern sichert dem Volk auch eine gewisse Autonomie gegenüber dem Herrschaftsanspruch Moses und der Leviten, letztlich sogar gegen Gott. Was also wie eine gestalterische Schwäche erscheint – oder als Mangel an glättender, die vorfindlichen Unstimmigkeiten beseitigender Redaktion –, gibt unter diesem Gesichtspunkt dem Pentateuch seine besondere Qualität: Er bringt die inneren Widersprüche und notwendigen Inkohärenzen, das Spiel der Struktur (um von ferne Derrida anzuzitieren9), das bei der Urszene der gesetzlichen Formung des Staatsvolkes Israel unvermeidlich ist, mit einer unvergleichlichen narrativen Präzision zum Ausdruck. Denn es gibt eine Präzision, die nur Narrative aufbringen, und zwar gerade die verworren scheinenden Narrative. Das Gründungsgeschehen in der Wüste Sinai wird hier als Problem der Vermittlung bearbeitet: als (wackliges, variables) System kommunikativer Verbindungen und Barrieren. Es artikuliert sich in der langwierigen und immer wieder von Rückschlägen geplagten Aushandlung eines Instanzenzuges zwischen Gott, Moses, Aaron, den Ältesten und dem Volk; in den ad-hoc-Maßnahmen der Abtrennung sakraler Zonen auf dem kargen Wüstenboden; und nicht zuletzt in den medialen Verdopplungen und Überlagerungen: Gott donnert für das Volk, während er mit Moses spricht; er spricht die Gesetze, aber er schreibt sie auch. So ist Gott dem Volk abwechselnd nah und fern; er ermächtigt Mose zum Mittler eines politisch-religiösen Bündnisses, ja einer Liebesbeziehung, macht aber gleichzeitig keinen Hehl aus der Distanz, die dabei zu überwinden ist. Dadurch gerät Mose in den Zwiespalt aller Vermittler, nämlich eine Doppelrolle spielen zu müssen – in seinem Fall: einerseits Gottes Sprachrohr und andererseits Unterhändler seines Volkes zu sein. Die Umstände der Niederschrift der Gesetzestafeln bleiben in den verschiedenen Varianten, die das zweite und fünfte Buch Mose bieten, so nebulös, dass sie sich auch für eine Lesart eignen, die Mose als Usurpator göttlicher Gesetzgebungsmacht zeigen. Von dieser Lesart werden vor allem die modernen Mose-Interpreten Gebrauch machen: Zu nennen sind unter anderem Schillers Sendung Moses und Thomas Manns verunglückte Erzählung Das Gesetz.10

9 Vgl. Derrida (1985). 10 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses; Thomas Mann, Das Gesetz. Thomas Manns Erzählung war als Beitrag zu einer Anthologie gedacht, die nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft den Menschenrechten ein literarisches Denkmal setzen sollte; sie spielt aber mit einer Analogisierung zwischen Moses gewalttätiger Einführung des Gesetzes am Sinai und der Hitler-Diktatur, die dieser textpragmatischen Positionierung zuwider läuft und die Mann-Forschung in Verlegenheit bringt. Vgl. Lubich, (1991). – Zur Mose-Rezeption in der Neuzeit allgemein vgl. Assmann, (1998); Hartwich (1997).

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Konkret wird das Vermittlungs- und Kommunikationsproblem, das mit der Instituierung des Volkes Israel verbunden ist, an den ungeheuren Wegen, die Mose zurücklegen muss. Man beachte, dass er 80 Jahre alt ist, als er von Gott angerufen und mit dem Auszug aus Ägypten betraut wird. Beträchtliche Laufleistung hatte Mose schon in der Eskalationsphase des Konflikts zwischen den jüdischen Zwangsarbeitern und ihren ägyptischen Fronherren zu erbringen; schließlich musste er ja gemeinsam mit Aaron eine Art Pendeldiplomatie zwischen den im Land Gosen, das heißt an der Peripherie Ägyptens siedelnden Hebräern und der Residenz des Pharao betreiben. Noch anspruchsvoller gestaltet sich seine Mission am Berg Sinai, in der Gluthitze der Wüste. Nicht weniger als viermal muss Mose in seinem mühseligen Gesetzgebungsgeschäft auf den Berg Sinai hinaufsteigen, um Gott zu konsultieren, wobei allerdings nur drei Abstiege verzeichnet werden.11

4. Soviel zu der Schwellenerzählung des Buches Exodus in der seinerzeit verschriftlichten Form. Wer ihren Text gründlich und unvoreingenommen studiert, wird schnell erkennen, in welchem Maß sie von Mehrdeutigkeiten, Redundanzen, blinden und stumpfen Motiven durchzogen sind – Hinterlassenschaften einer jahrhundertelangen, vielfach kontroversen Entstehungsgeschichte. Nur in einer höchst selektiven Lektüre, die durch den jeweiligen konfessionellen Kanon gelenkt wird, lassen sich die bekannten Erzählungen aus dem Geröll und Geschiebe der unterschiedlichen Textschichten herauspräparieren und in eine stimmige, von Widersprüchen niemals ganz zu reinigende Form bringen. Welche Auswirkungen haben die Überdeterminiertheit und Mehrstimmigkeit der Exodus-Erzählung nun, um abschließend zu diesem zweiten Aspekt überzugehen, auf ihre spätere Rezeption? Auch hier kehrt sich, was auf den ersten Blick als Schwäche erscheint, bei näherem Hinsehen in einen Vorteil um. Denn es ist offensichtlich gerade die Polyvalenz des Textes, die den Pentateuch zu einem so ungeheuer fruchtbaren Quelltext gemacht hat, an den sich die unterschiedlichsten Erzähltraditionen anschließen konnten. Michael Walzer hat in seiner klassischen Studie Exodus and Revolution von 1985 dargelegt, wie präzise sich der Unwille des Volkes Israel, sich befreien zu lassen, das Murren und der Hader mit seinen Führern, sein wiederholter Abfall von Gott und Moses Zornhandlungen als das Krisenprotokoll einer revolutionären Situation lesen ließ.12 Walzer bezeichnet das Massaker am Berg Sinai, das auf Geheiß Moses nach dem Tanz um das Goldene 11 Nach den (natürlich spielerischen) Berechnungen einer Referatgruppe in dem gemeinsam mit Jan und Aleida Assmann abgehaltenen Mose-Seminar im Wintersemester 2008/2009 legt er dabei ca. 5500 Höhenmeter zurück. 12 Walzer (1988).

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Kalb ausgeführt wurde, als »die erste revolutionäre Säuberung«.13 Sektenführer und revolutionäre Prediger konnten also gerade auf die Teile des Exodus-Berichts rekurrieren, die sonst aus humanistischem Interesse gern ausgeblendet werden. Gerade der unsortierte Überschuss des Textes gegenüber seinen konventionalisierenden Lesarten macht ihn also auf vielfältige Weise verwendbar. Christliche Nacherzählungen der Geschichte von den Gesetzestafeln werden die vielen jüdischen Ritualvorschriften, die sich an diesen Schlüsselmoment herandrängen, um an seiner Heiligkeit zu partizipieren, außer Acht lassen; wer die Zehn Gebote in humanistischem Geist als eine Art Magna Charta der Menschheit als ganzer ansieht, wird den Kämpfen des Volkes Israel mit benachbarten Völkerschaften, deren Schilderung viele Kapitel des Buches Exodus füllt, und den dazugehörigen Gemetzeln keine Aufmerksamkeit schenken wollen; aber wo der Auszug aus Ägypten und die Eroberung Kanaans als Blaupause für ein eigenes Landnahmeprojekt verstanden wurde – bei den Puritanern der Neuen Welt oder den Buren Südafrikas –, kam gerade diesen kriegerischen Nebenepisoden eine erhöhte Bedeutung zu. In solchen Situationen wurden sogar die Appelle zum Ethnozid, die der Pentateuch enthält (etwa Deut. 20, 17–18), zitier- und predigtfähig. Daraus lassen sich einige sowohl gedächtnis- als auch erzähltheoretische Schlussfolgerungen ziehen. Es zeigt sich, dass eine der wichtigen funktionalen Eigenschaften des kulturellen Gedächtnisses darin besteht, dass sein Speicher unaufgeräumt ist, dass er weniger einem geordneten Archiv als einer Rumpelkammer gleicht, in der sich alle möglichen oft nutzlos scheinenden Wissens- und Erzählbestände auftürmen. Und es wird ebenso deutlich, dass man es bei den großen Gründungstexten einer Kultur in der Regel nicht mit einfachen, einsträngigen Erzählmustern zu tun hat. Gerade die machtvollen Überlieferungen sind in hohem Maß polymorph. Ihre Stärke besteht offenbar darin, zwischen der Prägnanz einzelner einprägsamer Szenen und Sequenzen auf der einen Seite, andererseits der Unübersichtlichkeit eines tief gestaffelten Fundus von alternativen Erzählanfängen und -resten zu oszillieren. Diese Polymorphie muss zu dem Mechanismus der schematischen Reduktion, wie er weiter oben beschrieben wurde, nicht im Widerspruch stehen. An jeder Stelle innerhalb der Überlieferungskette mag das Bemühen vorherrschend sein, den Wust der Tradition auf greifbare, dem jeweiligen Verständnishorizont gemäße Vorstellungen und Voreingenommenheiten zurückzuführen. Dieses Bemühen kann jedoch in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen, weil zwangsläufig immer ein Teil des Materials gleichsam in unpassende Gussformen gezwungen und dadurch verrätselt, erratisiert wird. Auf der nächsten Rezeptionsstufe wird das unstimmig gewordene und aus seinem bisher unauffälligen Dasein herausgerissene Detail entweder wegretuschiert oder beginnt gerade in seiner Verrätseltheit ein Ei-

13 Ebd., 68.

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genleben. Gerade das Bemühen um semantische Kontrolle kann also dazu führen, dass der Überlieferungsstrom uneinheitlich verläuft, dass an jeder geeigneten Stelle ein Seitenarm abzweigen kann, weil Elemente innerhalb des narrativen Repertoires umgewichtet werden oder weil mitgeführtes, scheinbar überschüssiges Material plötzlich ins Zentrum der Bedeutungsproduktion rückt. Vor allem die großen, Kultur stiftenden Erzählungen, zumal wenn sie verschriftlicht wurden und dadurch an Umfang gewinnen, schleppen eine Menge Ballast aus früheren Entstehungsphasen mit sich herum; wie bei der DNA lagern sich an die eigentliche und aktuell wirksame Erbinformation Reste der Baupläne früherer Evolutionsstufen oder abweichender Entwicklungspfade an. Man muss also auf zwei Dinge gleichzeitig achten und sie in ihrem Zusammenspiel analysieren: auf die Potenzen des betreffenden Textes; und auf die in der jeweiligen Rezeptionsgegenwart wirksamen Aktivierungsmuster. Wie wir wissen, liefert gerade die Geschichte der Bibel-Exegese viele Beispiele dafür, dass ein für sich genommen unscheinbares Textmerkmal zum Anlass genommen werden konnte, um den betreffenden Text in tiefgreifender Weise umzuwidmen und neuen Deutungsbegehrlichkeiten gefügig zu machen. Und das wiederum gilt für Grenzerzählungen, die Verdichtungspunkte von kulturellen Verhandlungen sind, in einem besonderen Maß.

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Klemens von Alexandrien und die Grenze zwischen Christen und Heidentum Martin Hose

Zum Potential der Grenzen gehört ihre definitorische Kraft. So können Grenzen ein (zuvor) Ganzes teilen und bewirken, dass die entstandenen Hälften neue Identitäten erhalten, insofern als sie je zu den anderen entstandenen Teilen als in einem bestimmten Verhältnis gedacht werden. Derartige Identitäten können sowohl als Selbst- wie als Fremdzuschreibungen entstehen. Freilich basiert ein solches Vermögen von Grenzen auf ihrer Akzeptanz. Eine Akzeptanz kann äußerlich, d.h. durch Macht (und die mit ihr verbundene Möglichkeit der Sanktion), erreicht werden oder sich auf die innere Logik der Grenzen gründen. Innerhalb der antiken Kultur sind im Verhältnis zwischen den traditionellen Kulten und dem Christentum mehrere Grenzziehungen bzw. Grenzkonstruktionen erkennbar. So basiert auf (kaiserlicher) Macht das Verbot paganer Kulte und Gottesdienste, das Theodosius I. 391 erließ und 392 wiederholte.1 Dieses Verbot wies den paganen Kulten und ihren Trägern die Stellung von Gesetzesbrechern zu. Damit war diesen Kulten ein Raum außerhalb der vom Staat geschützten Kultur zugewiesen, die traditionellen Kulte waren von einer Innen- in eine Außenposition verwiesen. Bis zum Zeitalter Konstantins hatten demgegenüber die Christen immer wieder als Gegner des Reichs staatliche Verfolgungen zu erleiden, war ihr Glaube als Feindesland im übertragen Sinn definiert worden. Doch ist das Verhältnis zwischen Christen und Nicht-Christen in der Antike nicht nur durch Macht geregelt worden. Unübersehbar ist ein intellektuelles Ringen um die Position des Christentums in der Kultur, in dem sowohl die Argumentationsstrategien wie auch die Frage nach der jeweiligen Definitionsmacht eines Sprechers Aufmerksamkeit verdienen. Das Problem der Definitionsmacht veranschaulicht bekanntermaßen jener Witz, der den Unterschied zwischen Physik und Mathematik erhellen soll: Einem Physiker und einem Mathematiker wird jeweils die Aufgabe gestellt, einen Löwen zu fangen. Der Physiker löst diese Aufgabe, indem er den Löwen beobachtet, in Erfahrung bringt, auf welchem Weg der Löwe zur Wasserstelle geht, und dort eine Fallgrube gräbt, in die der Löwe fällt – während der Mathematiker sich in einen Käfig setzt und sagt: »Ich definiere: hier ist 1 Demandt (1989), 133.

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außen.« Hieran anknüpfend wird sich dieser Beitrag mit der Frage beschäftigen, wie es das Christentum unternahm, sich selbst gleichsam in das Innen der Kultur, die traditionellen Kulte aber in den Außenraum zu definieren. Dabei wird das Werk des Klemens von Alexandrien im Zentrum stehen, der in der zweiten Hälfte des 2. bzw. zu Beginn des 3. Jh. n. Chr. eine solche Definition unternimmt und dabei eine doppelte Grenze konstruiert. Denn nicht nur stellt er den christlichen Glauben in den Innenbereich der Kultur, vielmehr errichtet er auch eine zeitliche Grenze zwischen einem vergreisten Heidentum und der neuen christlichen Lehre. Franz Overbeck hat 1882 in seinem bahnbrechendem Aufsatz »Über die Anfänge der patristischen Literatur« erstmals auf die besondere Bedeutung der Werke des Klemens von Alexandrien hingewiesen, die darin liegt, dass diese den Übergang bilden von einer christlichen Publizistik, die die Auseinandersetzung mit einer nichtchristlichen Umwelt führt, zu einer veritablen christlichen Literatur, die innerchristliche Themen diskutiert. Mit Klemens, so Overbeck, »sieht man die christliche Literatur profaner Form dahingelangt, daß sie ihr Dasein nicht auf die wechselnden Beziehungen der Kirche zur Außenwelt des Nichtchristlichen oder des Häretischen, sondern auf die eigenen, inneren und bleibenden Bedürfnisse der Kirche selbst gründet.«2 Auf dieser Grundlage hat die Klemens-Forschung seither überaus fruchtbar und erfolgreich weitergearbeitet.3 In dieser Arbeit, die die spezifische Auseinandersetzung des Klemens mit den Evangelien, Platon und dem Platonismus in der Tradition der christlichen Apologetik immer präziser bestimmte, sein Verhältnis zu Philon und dem alexandrinischen Umfeld analysierte und schließlich auch die Probleme zu fixieren versuchte, an denen sich Klemens abarbeitete, ist insgesamt ein Bild entstanden, in dem Klemens’ Werk als große »Auswertung des antiken Geisteserbes« erscheint.4 Klemens habe damit die Kirche für die Aufnahme von Philosophie und die Annahme der Klassischen Literatur gerüstet.5 Diese und ähnliche Wertungen basieren freilich evidenterweise auf einer Kenntnis des weiteren Ganges der antiken Kulturgeschichte, in der sich im 4. Jh. das Christentum als Reichsreligion etabliert und über den Untergang der staatlichen Strukturen des Imperium Romanum im Westen hinaus zu der zentralen geistigen Macht des Mittelalters avanciert. Das eigentlich Bemerkenswerte liegt also darin, dass Klemens in seinen Texten offenbar so formuliert und argumentiert, dass die erst zukünftige dominierende Rolle des Christentums bereits antizipiert zu sein erscheint.

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Overbeck (1882/1954), 49. Siehe e.g. die Forschungsüberblicke von Méhat (1981), Osborn (1983), Osborn (2006). So Andresen (1978), 63. Chadwick (1967), 180: »Clement sought to make the Church safe for philosophy and the acceptance of classical literature.«

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Dieser Duktus des Textes ist beachtenswert und dürfte als spezifische Leistung des Klemens angesprochen werden. Denn offenbar – dies war auch Overbeck aufgefallen – gibt es keine Hinweise darauf, dass vor Klemens in der christlichen Literatur ähnlich argumentiert wurde; bezeichnenderweise notiert Klemens selbst, dass die »Älteren« ( ) keine Schriften verfasst hätten.6 Hinzu kommt, dass auch institutionell kein ›kirchlicher‹ (d.h. hier: innerhalb einer christlichen Gemeinde organisatorisch definierter) Ort erkennbar ist, an dem ein Diskurs, in den sich die Schriften des Klemens einfügten, verankert wäre: Die von Eusebios scheinbar bezeugte Lehrtätigkeit in einer bischöflichen Katechetenschule erscheint im Licht der Traditionen über die Lehre seines Nachfolgers Origenes hochproblematisch; wahrscheinlicher dürfte es sein, dass Klemens wie Origenes eine formal relativ freie Form des Lehrens nach dem Modell einer ›paganen‹ Philosophenschule betrieben.7 Klemens selbst bezeugt indirekt den informellen Status seines Lehrens, wenn er (strom. 1,11,28) von seinem Lehrer Pantainos schreibt, er habe ihn »auf der Jagd in Ägypten verborgen gefunden«  « ) – d.h. dass Pantainos, wenn er als »verborgen« ( A ) bezeichnet werden kann, keine offizielle Lehrtätigkeit im Auftrag der Gemeinde von Alexandria ausübte.9 Da es keine sicheren Indizien für eine anders gelagerte Tätigkeit des Klemens gibt, darf man auch für ihn eine entsprechende Lehrtätigkeit annehmen.10 Dies bedeutet, dass in einer strikt historischen Perspektive das Werk des Klemens zunächst nicht als Teil eines ›kirchlichen‹ Diskurses zu lesen ist (und die Einrückung in einen solchen Diskurs erst retrospektiv, d.h. durch Eusebios’ Kirchengeschichte inauguriert, erfolgt), sondern – dies ergibt sich aus der Einbettung in den Kontext einer ›Philosophen‹-Schule11 – zuvörderst als Beitrag in einem breiten philosophischen Diskurs verstanden werden muss. Oder anders formuliert: Klemens’ Schriften dienen nicht der Ausbildung christlicher Priester, sondern richten sich an ein weitaus allgemeineres Publikum.12

6 Klemens, ecl. proph. 27,1.4; pasch. frg. 25. Siehe dazu Fürst (2007), 266–267. 7 Siehe hierzu neben Méhat (1981), 102 insbesondere Scholten (1995), 32–37; vgl. Fürst (2007), 263–269. 8 Hierzu ist Eusebius, h.e. 5,11 zu ergänzen. 9 Die Formulierung des Eusebius, h.e. 5,10,1 deutet auf eine Form von Unterrichtung, wie sie auch für die ›Schule‹ eines Plotin bezeichnend ist: «       «. 10 So auch Fürst (2007), 271: »Die Einbindung der christlichen philosophischen Lehrer in die kirchliche Hierarchie Alexandriens begann demnach nicht mit Clemens.« Hierzu fügt sich die Feststellung von Markschies (2007), 298, dass Klemens auf öffentliche und private Bibliotheken angewiesen war. 11 Zur Selbsteinordnung des Christentums als einer Philosophie bei Justinus, Klemens und Origenes s. Martin (2004), 269 Anm. 8. 12 Es sei darauf hingewiesen, dass auf einem gänzlich anderen Argumentationsweg auch Pohlenz (1943/1965), 497 zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen war.

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Ist dies geklärt, so stellt sich die Frage, wie sich die Leistung dieser Schriften angemessen begreifen und bestimmen lässt. Denn näher besehen, kann diese im Kontext ihrer Entstehung nicht darin gelegen haben, die Kirche auf die Aufnahme der paganen Philosophie vorzubereiten, mag sich diese Funktion aus späterer Warte auch so darstellen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sich Klemens’ Texte so lesen, als sei das Christentum bzw. die Kirche bereits die etablierte Instanz von Moral und Macht, zu der sie erst im 4. Jh. werden würde. Es liegt also ein antizipatorischer Duktus in ihnen, den es zu analysieren gilt. Dieser antizipatorische Duktus kontrastiert in eigentümlicher Weise nicht nur zu einem historischen Kontext, der durch eine Blüte der griechisch-römischen Kultur charakterisiert ist: Klemens’ Werke gehören in die Epoche der sog. Zweiten Sophistik,13 in der sich eine breite Reichsoberschicht in Verbindung mit stabilen politischen Strukturen im Westen wie im griechischen Osten ausbildete, die sich durch die gemeinsame Verständigung auf ein Konzept von Bildung (»paideia«14) verband;15 der Rückgriff auf die Vergangenheit ist zentrales Moment dieses Konzepts: So werden etwa in der Historiographie die Bestände neu geordnet, so dass sie der Gegenwart des geeinten Imperium Romanum entsprechen,16 die monumentalen Hinterlassenschaften literarisch aufgenommen (im Werk des Pausanias) und Texte, die nicht in den Bildungskanon gelangen, über geeignete Formen (»Buntschriftstellerei«17) zugriffsbereit gehalten. Selbst die Sprache unterliegt dieser Verpflichtung auf die Vergangenheit: Mit dem Attizismus findet eine zweisprachige intellektuelle Elite eine gemeinsame Ausdrucksform, auch wenn – bzw. weil dies hohe Anstrengungen erfordert, sich in einer 500 Jahren alten Sprachgestalt des Griechischen auszudrücken.18 Es erfordert einigen intellektuellen Wagemut, in einer solchen Epoche die nicht-christliche Kultur als in einer tiefen Krise, die nach Neuem verlangt, zu präsentieren. Ferner steht Klemens’ Entwurf in Kontrast19 zu einer Darstellung des Christentums, wie sie etwa zur selben Zeit Tertullian im Apologeticum gibt. Dort 13 Aus der reichen Literatur zur Zweiten Sophistik der letzten Dezennien sei lediglich Goldhill (2001) genannt. 14 Siehe hierzu Schmitz (1997). 15 Zur Bedeutung der Paideia bei Klemens siehe nach Jaeger (1963), 35–50 insbesondere Kovacs (2001) mit weiterer Literatur. 16 Siehe hierzu meinen Versuch in Hose (1994). 17 Siehe hierzu e.g. Holford-Strevens (2003). Dass gerade Klemens’ Stromateis dieser Buntschriftstellerei nahe stehen, zeigt Roberts (1981); dass er Athenaios’ Deipnosophisten benutzt, macht Halton (1987–1988) mindestens wahrscheinlich. Klemens selbst bezeugt in einem berühmten Abschnitt der Stromateis (6,2,1) seine Vertrautheit mit den Buchtiteln der Buntschriftstellerei. 18 Dass Klemens – wie für einen Intellektuellen des späten 2. Jh. nicht anders zu erwarten – virtuos die Regeln der attizistischen Kunstprosa beherrscht, zeigt der Protreptikos; siehe dazu Norden (1958), 548–549; zum Optativgebrauch siehe Scham (1913). 19 Dass Klemens zugleich Argumentationsstrategien der Apologeten benutzt (siehe dazu Bernard [1968]), steht auf einem anderen Blatt.

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(wie in der gesamten apologetischen Literatur) wird eine Konstellation des Gerichts zugrunde gelegt, in der sich der Christ mit seinem Glauben gegen nichtchristliche Vorwürfe zu verteidigen hat: Damit wird das Christentum (da angeklagt) zum Außenseiter gegenüber einer nichtchristlichen Umwelt; ja Tertullian charakterisiert dieses Außenseitertum sogar als Nicht-Zugehörigkeit zu einer (nicht-christlichen) Welt:20 »Nihil de causa sua deprecatur [sc. veritas Christiana], quia nec de condicione miratur. scit se peregrinam in terris agere […]« (Tert., apol. 1,2).21 Es konstruiert sich im Apologeticum also eine Position des »Außen« für das Christentum, die durch den permanenten Verweis auf das Anderssein des neuen Glaubens, das sich in höherer Moralität seiner Anhänger zeigt (apol. cap. 2 u. ö.),22 eine scharf-konturierte Abgrenzung zur nicht-christlichen Umwelt findet. Eine derartige Situierung des Christentums entspricht dabei zugleich auch der anti-christlichen Polemik, wie sie etwa ein Kelsos vorträgt, der den ›barbarischen‹ Charakter christlicher Lehre aus deren jüdischer Provenienz herleitet23 und Moses als Plagiator ägyptischer Weisheit betrachtet.24 Um nun die spezifische Leistung der Schriften des Klemens würdigen zu können, mit denen er aus einer Position des »Außen« die eines »Innen« macht und damit die Grenzziehung gleichsam umschreibt, soll sie – gleichsam experimentell – in der Perspektive einer von Pierre Bourdieu entwickelten Soziologie des Wissens betrachtet werden.25 Bourdieu hat in seinem Buch Esquisse d’une théorie de la pratique. Précédé de trois études d’ethnologie kabyle,26 verschiedene Formen des Wissens innerhalb eines Diskursfeldes isoliert und definiert.27 Er unterscheidet dabei grundsätzlich zwischen »Doxa« und den beiden aufeinander bezo-

20 Ähnlich akzentuiert bereits der Apologet Aristides von Athen, der die Christen pointiert im Gegensatz zu den anderen ›Völkern‹ mit einer auf Christus bezogenen Genealogie ausstattet (2,6) und sie über alle anderen Völker hinaus im Besitz der Wahrheit sieht (15,1). 21 »Sie (die christliche Wahrheit) bittet nicht für ihre Sache, weil sie sich auch über ihre Lage nicht wundert. Sie weiß, daß sie auf Erden eine Fremde bleibt […].« (Übers. C. Becker). 22 Vgl. Aristides cap. 15. 23 Siehe etwa Kelsos Frg. I. 2 (Bader). Dass Klemens seinerseits hierauf repliziert, hebt pointiert Stroumsa (1998), 81 heraus. 24 Frg. I. 16b; 17–19 (Bader). 25 Dieser Ansatz ist bislang für die Altertumswissenschaften kaum genutzt worden; mir sind lediglich die Arbeiten von Berlinerblau (1999) bzw. (2001) als erste Versuche im Bereich der Bibelwissenschaften bekannt. 26 Paris/Genf 1972; die deutsche Übersetzung, nach der im Folgenden zitiert wird, ist im hier benutzten zweiten Teil des Buchs von Bourdieu erweitert worden; sie erschien bei Suhrkamp: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976. 27 Ich mache im Folgenden insofern nur selektiv von der Gesamtkonstruktion Bourdieus Gebrauch, als ich dessen Konzept des »Feldes der Meinungen« (Bourdieu (1976), 331) nicht berücksichtige, da es für den hier zu untersuchenden Fall irrelevant ist.

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genen Modi »Orthodoxie« und »Heterodoxie« (ausdrücklich sei betont, dass diese beiden Termini grundsätzlich untheologisch28 zu verstehen sind).29 Hierbei wird mit »Doxa« eine Konstellation (bzw. nach Bourdieu ›Disposition‹) von Wissen30 bezeichnet, die durch einen selbstverständlichen und nicht problematisierten Konsensus über den Sinn von Welt charakterisiert ist. Dabei wirken (Denk-)Traditionen, die ›sich vor allem über sich selbst ausschweigen.‹31 Doxa bedeutet also eine Disposition, bei der die Agenten im Diskursfeld zwar wissen, aber nicht um ihr Wissen wissen.32 Wenn dagegen der Einklang zwischen Welt und Wissen als natürliche Gegebenheit hinterfragt wird, das zuvor Undiskutierte zur Diskussion gestellt ist und die Frage nach dem natürlichen oder konventionellen Charakter des Wissens im Raum steht, gleichwohl die Geltung des bisherigen Wissens behauptet wird, transformiert sich die Doxa zur Orthodoxie: Der Infragestellung des Selbstverständlichen wird durch Rationalisierungen und Systematisierungen des Wissens begegnet, doch kann die Selbstverständlichkeit nicht restauriert werden; vielmehr entsteht die Möglichkeit eines konkurrierenden Denkens, die Bourdieu mit dem Terminus der Heterodoxie bezeichnet, das untrennbar mit der Orthodoxie verbunden ist. Bourdieu begreift dabei die Orthodoxie als »rechte, oder eher zurechtgebogene Meinung«33, die durch aufgezwungene Zensurmaßnahmen die herrschende (Wissens-) Ordnung behaupten kann und dabei sich als System von Euphemismen, die Welt zu denken, erweist, das andere Denken als häretisch einstuft und als Blasphemie zurückweist.34 Überträgt man diesen Ansatz auf die Konstellation, in der Klemens seine Werke verfasst, so liegt es nahe, gerade bei Berücksichtigung der intellektuellen Welt am Ende des 2. Jh. n. Chr. mit dem Begriff der Doxa die Struktur des Diskursfeldes des Wissens zu bezeichnen, die dem Auftreten des Christentums als intellektuellen Ereignisses vorauslag. Diese Struktur mutierte durch das Christentum zur Orthodoxie – wofür etwa der sog. Christenbrief des Plinius Zeugnis gibt (ep. 10, 96). Denn zwar muss dieser als Statthalter von Bithynien die Existenz

28 Siehe zu dieser Dimension mit Bezug auf Klemens Mees (1985) und Le Boulluec (1985). 29 Bourdieu (1976), 318–334. 30 Ich benutze hier wie im Folgenden die Bourdieu’sche Begrifflichkeit in einem engeren, auf Wissen bezogenen Sinn. Die von Bourdieu explizit einbezogenen Bereiche von Macht und sozialen Strukturen (bei Bourdieu »Klassen«) lasse ich außer acht, da sie für den vorliegenden Fall zu Komplikationen führen, die sich aus der Quellenlage ergeben. Gerechtfertigt erscheint mir meine Selektivität durch die (ebenfalls selektiven) Anwendungen Berlinerblaus, die den heuristischen Wert der Boudieu’schen Differenzierungen der Formen des Wissens demonstrieren. 31 Nach Bourdieu (1976), 330. 32 So konkretisiert Berlinerblau (1999), 202 das Konzept der Doxa. 33 Bourdieu (1976), 332. 34 Bourdieu (1976), 332.

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des neuen Glaubens hinnehmen, den er als verkehrten, maßlosen Aberglauben (superstitio prava, immodica: 96,8) und Wahn (amentia 96,4) bezeichnet,35 ist aber, ebenso wie sein Kaiser Trajan (s. ep. 10,97), schnell bereit, von jeder Verfolgung abzusehen, wenn des Christentums Beschuldigte ihre Zugehörigkeit zum Glauben widerrufen oder leugnen. Die Apologetik stellt demgegenüber die Heterodoxie dar, die auf der Möglichkeit des neuen Denkens beharrt, der Entwurf des Kelsos, sein »Wahres Wort«, reagiert hierauf, indem er dem christlichen Entwurf die Existenzberechtigung entziehen will (und damit einen prinzipiell vergeblichen Versuch der Orthodoxie repräsentiert, wieder zur Struktur der Doxa zurückzukehren). Es ist nun zu erwarten, dass auch Klemens mit seinem Werk sich der Position der Heterodoxie verschreibt, gegen die Orthodoxie opponiert und den Platz des Christentums rechtfertigt. Dies tut er natürlich, doch die Art und Weise, in der es geschieht, entspricht nicht der skizzierten Erwartung. Untersucht sei hier der Protreptikos,36 ein Text, der aufgrund der Gattung, in die er sich einschreibt,37 die Erwartung erwecken muss, in ihm würde für das Christentum wie für eine philosophische Schule geworben. Bereits diese Wahl der Textsorte hat Konsequenzen. Denn mit ihr wird gleichsam automatisch die Vorstellung, das Christentum sei etwas aus juristischer Sicht Bedenkliches (dies suggeriert die apologetische Schreibweise, selbst wenn sie sich nicht in Gestalt von Verteidigungsreden in einer Gerichtssituation konkretisiert) beiseite geschoben. Protreptik dagegen bedeutet, dass die Sache, zu der der Rezipient ›hingewendet‹ werden soll, naturgemäß attraktiv – und juristisch unproblematisch ist. In dieser Weise ist auch Klemens’ Text angelegt: Von einer auch nur potentiellen Bedrohung der Christen durch den Staat ist keine Rede – was umso bemerkenswerter ist, als Klemens selbst um 202 aus Alexandria floh, wohl um sich einer Christenverfolgung zu entziehen. Unbeschadet des Problems, wann der Protreptikos zu datieren ist, musste für den Verfasser38 wie für den Adressatenkreis die fragile Stellung der Christen bekannt sein, die während der Regierungszeit Marc Aurels in mindestens zwei Phasen (167–168 und 177) verfolgt wurden.39

35 Hiermit erfüllt Plinius die von Bourdieu (1976), 332 entworfene Charakteristik der Orthodoxie, die das häretische Denken als Blasphemie zurückweise. 36 Die Konzentration auf den Protreptikos lässt sich dadurch rechtfertigen, dass dieser Schrift im imaginären Programm, das Klemens im Paidagogos (Buch 1, 1,3,3) entwirft, die Anfangsstellung zukommt, d.h. in ihr auch in der hier verfolgten Frage nach den Grenzkonstruktionen eine zentrale Rolle zukommt. Dass die Stromateis nicht die Erfüllung des Programms darstellen, steht demgegenüber auf einem anderen Blatt. 37 Vgl. Méhat (1966), 60. 38 In den Stromateis wird wiederholt auf die Verfolgung der Christen hingewiesen, etwa 2,20, § 125,2; 7,1, § 1,1. Siehe dazu auch Van den Hoek (1993). 39 Siehe Eusebius, h.e. 5, pr. 1, dazu Vogt (1954), 1175; weitere Literatur bei Guyot/Klein (1993), 326–354. Zum Kontext erhellend Brennecke (1995).

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Doch nicht nur durch sein bedeutsames Schweigen über eine etwaige Bedrohung der Christen ist der Protreptikos bemerkenswert. Er weicht auch insofern von einer Gattungserwartung ab, die man mit dem Titel verbinden könnte, als er von Beginn an keine dezidiert philosophische Position zu beziehen scheint. Vielmehr entwirft er eine kulturhistorische Perspektive als Eröffnungsszenario (protr. 1,1): Klemens lässt Amphion und Arion, Orpheus (in einer Umschreibung als ›Thrakischen Sophisten‹) und schließlich den lokrischen Sänger Eunomos vor seinen Lesern erscheinen und ruft zunächst stichworthaft die ihnen zugeschriebenen musischen Leistungen in Erinnerung, um dann ausführlicher auf Eunomos (dessen Geschichte zweifellos am wenigsten bekannt war) einzugehen:40 Gemäß der ›paganen‹ Tradition trat Eunomos bei einem musischen Wettkampf in Delphi mit der Leier an. Doch während seines Spiels riss eine Saite. Da sprang eine Grille auf seine Leier und ersetzte mit ihrem Gesang kunstfertig die fehlende Saite, was als göttliches Zeichen gedeutet wird und Eunomos den Sieg bringt.41 Diese Geschichte greift Klemens auf, doch verändert er sie bereits im Referat. So kann er in gespielter Unsicherheit die Gattungsfrage der Musikdarbietung des Eunomos nicht entscheiden – doch indem er es für nicht entscheidbar hält, ob es sich um einen Hymnos für Apoll oder ein Klagelied [Threnos] für die getötete Schlange handelt (protr. 1,1,2), diskriminiert bzw. stigmatisiert er die ›pagane Kultpoesie‹, da sie derartige Indifferenz zulässt. Ferner vermeidet er jeglichen Hinweis auf eine göttliche Eingebung der Zikade. Sie springt zufällig auf die Leier und zirpt, wie sie es auf einem Zweig tun würde. Hierauf habe Eunomos geschickt reagiert, indem er seine Musik so veränderte, dass er sie an den Gesang der Zikade anpasste und so den Verlust der Saite kompensierte. Dieses Referat ist in mehrfacher Weise bemerkenswert. Zunächst erkennt Klemens die Faktizität des Geschehens an: Der Riss der Saite und der Sprung der Zikade auf die Leier werden von ihm nicht bestritten. Doch unterlegt er der Geschichte eine neue Logik: Weder übt die Musik (und der ›pagane‹ Gesang) des Eunomos eine anziehende Wirkung auf die Zikade aus, noch passt sich die Zikade der Musik des Eunomos (und damit ihrem ›paganen‹ Charakter) an. Dies ›wolle zwar der Mythos‹ (³« ²  «   , protr. 1,1,3), doch sei die Zikade aus eigenem Antrieb auf die Leier geflogen und habe ihre gewöhnliche Musik gesungen, den Hellenen sei es nur als Wunder erschienen (  , protr. 1,1,3). Klemens bietet also in diesem Referat des Mythos von Eunomos eine auf den ersten Blick rationalistische Umdeutung der Ereigniskette, wie sie in der griechischen Mythenkritik seit Hekataios oder Euhemeros immer wieder praktiziert wird. Zugleich schreibt er dem menschlichen Akteur, Eunomos, die entscheidende Handlung zu, durch die die Deutung des Geschehens als (paganes) Wunder erst 40 Siehe hierzu insgesamt Halton (1983). 41 Siehe Timaios (FGrHist 566 F 43, von dort haben es Antigonos, Hist. mir. 1 und Strabon 6,1,9, p. 260), vgl. ferner Anthologia Graeca 6,54 bzw. 9,584 (Paulos Silentiarios).

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möglich wird: »Und dem Gesang der Zikade passte der Sänger sein Lied an und Ν ) 4  « ² ergänzte so die fehlende Saite« (λ     « ) ! ) μ« κ # $ $ & ' & , protr. 1,1,2). Klemens, so kann man hieraus schließen, will mit diesem interpretierenden Referat der Eunomos-Geschichte den Schluss nahelegen, dass die ›paganen‹ Wundergeschichten, die einen Begründungsapparat zur traditionellen Religiosität liefern, darauf beruhen, dass in zufälligen Begebenheiten Menschen wie Eunomos geschickt reagierten und sich hierauf entsprechende Deutungen als göttliche Wunder aufbauten. So kann Klemens die Mythen als »leer« (  #, protr. 1,2,1) und die Orte, die sich mit ihnen insbesondere verbinden: den Kithairon (als Chiffre für etwa Ödipus), den Helikon (als Chiffre für Hesiods Musenweihe und damit für den von diesem in der Theogonie entworfenen Götterapparat), die Berge der Odrysen und Thraker (als Schauplätze des Dionysos-Mythos) als »Weihestätten des Irrtums« (&  «  «, protr. 1,2,1) apostrophieren. In einer vorwurfsvollen Pose beklagt er vor dem imaginierten paganen Adressatenkreis, dass ihn diese (leeren) Mythen auch deswegen bekümmern, weil sie in so großer Zahl zu Tragödien geworden sind (und dadurch zu gemüterfreuenden Schauspielen, $#« , protr. 1,2,3). Er ruft dazu auf, diese Schauspiele und ihre Dichter (die er als betrunken einstuft) zu bekränzen42 und mitsamt dem dionysischen Personal auf Helikon und Kithairon einzuschließen (protr. 1,2,3): Dies wiederholt die Selbstverwünschung des Sophokleischen Ödipus, der nach Aufdeckung von Vatermord und Inzest sich selbst geblendet hat und nun an den Ort, wo sein Unglück begann, den Kithairon gebracht werden will, um dort zu sterben.43 Bemerkenswert ist dabei das Epitheton, das Klemens den mythischen Orten gibt: Helikon und Kithairon seien zu Greisen geworden ( , protr. 1,2,3). Mit dem Verweis auf das Greisenalter der beiden Berge, die zentrale Schauplätze des paganen Mythos verkörpern, formuliert Klemens einen Gedanken, der auf den ersten Blick als Aufnahme des Motivs des ›mundus senescens‹ erscheint. Dieses Motiv findet sich bekanntlich einerseits im Zusammenhang mit Analysen der Entwicklung von Staaten:44 Die Verwendung der Metapher des Lebensalters erlaubte es, in der Geschichte eines Staats Jugend, Reife und Vergreisung zu diagnostizieren, und insbesondere römisches Staatsdenken bediente sich gern eines entsprechendes Modells, das in der eigenen Gegenwart Verfall und ein nahes Ende erkannte.45 Andererseits gehört es zu den Grundanschauungen stoischer Physik,

42 Dies wiederholt den Gestus der Ablehnung Homers, den Platon den Sokrates in der Politeia vorschlagen lässt, Rep. 3, 398a. 43 Sophokles, O.R. 1451–54. 44 Siehe dazu Ruch (1972), Demandt (1978), 37–45. 45 Siehe hierzu etwa Florus, praef. § 4–8; Seneca (bei Laktanz, Div. inst. 7,14); Ammianus Marcellinus 14,6. Siehe ferner Seneca, ep. 83,4 »aetas nostra non descendit, sed cadit«; zum sog. Lebensaltervergleich, dessen sich römische Historiker bedienen, siehe Häussler (1964).

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dass die Welt durch periodisches Vergehen (Ekpyrosis) und Wiedergeburt (Palingenesia) geprägt ist, was zur Vorstellung einer periodischen Erschöpfung der Natur führen konnte. Diese Modelle sind – in verschränkten Formen – von christlichen Autoren gern aufgenommen worden, um paganer Kritik zu begegnen. Nicht nur als Verteidigung gegen den Vorwurf, das Christentum sei schuld am Fall Roms 410, die etwa Augustin gebraucht,46 sondern bereits im 3. Jh. ist diese Argumentation nachweisbar.47 Doch bei Klemens liegt ein bemerkenswerter Unterschied zu dem traditionellen Gebrauch des Alters-Motivs vor – denn er bezieht es hier nicht auf die Natur, und es ist auch nicht Teil eines politischen Diskurses. Vielmehr stehen Helikon und Kithairon für eine versinkende pagane Literatur und Kultur, die durch die christliche Wahrheit und eine neue Dichtung ersetzt wird: »Es singt mein Eunomos nicht die Weise des Terpander […], sondern die ewige Weise der neuen Harmonie, die den Namen Gottes trägt, das neue Lied, das levitische« (protr. 1,2,4). ) Damit kontrastiert Klemens ›alt‹ und ›neu‹48 («  « 4 #«, μ Θ μ   ). Im Unterschied zu den politisch-stoischen Szenarien des Niedergangs, die naturgemäß bestreitbar waren (und bestritten wurden), kann Klemens sich bei seiner Behauptung des Alterns von Helikon und Kithairon auf gleichsam offenkundige Fakten des paganen Kulturbetriebs stützen. Denn das Beispiel der Tragödie verdeutlicht, dass wesentliche und als repräsentativ aufgefasste49 Bereiche der griechischen Literaturproduktion im 2. Jh. n. Chr. zum Erliegen gekommen waren. Zwar ist unübersehbar, dass in den zahllosen Theatern der antiken Welt weiterhin Aufführungen stattfanden,50 doch spielte man bevorzugt die Klassiker des 5. Jh. v. Chr. oder gar nur Einzelszenen.51 Klemens nutzt also ein unbestreitbares Faktum der traditionellen Kultur für seine Argumentation nicht etwa nur der Überlegenheit des ›neuen‹ Christentums über die pagane Welt, sondern der der ›Altersschwäche‹ dieser traditionellen Welt. Vergleichbar ist der Auftakt des nächsten größeren Gedankenzusammenhangs der Schrift, die sich mit den paganen Heiligtümern befasst (cap. 2). Hier kann Kle-

46 Vgl. etwa Augustinus, sermo 81,7–9; sermo 105,9–10. 47 Siehe Cyprianus, Ad Demetrianum 3–5 (geschrieben wohl 251): »[…] illud primo in loco scire debes senuisse iam saeculum […]. Haec sententia mundo data est, haec Dei lex est, ut omnia orta occidant et aucta senescant [= Sallust, Iug. 2].« 48 Siehe hierzu ingesamt von Stockhausen (2006). 49 Dies bezeugt etwa die Stellung der Tragödie in der antiken Literaturkritik. 50 Siehe etwa das Zeugnis des Dion von Prusa, or. 13, § 20, der im frühen 1. Jhdt. n. Chr. den Einwohnern von Nikomedien in Bithynien bescheinigt, dass sie fast jeden Tag Tragödien sähen, oder Augustin, conf. 3,2,2, der auf eigene Theater- bzw. Tragödienerfahrung hinzuweisen scheint. Eine noch immer instruktive Materialzusammenstellung bietet Müller (1909). 51 Siehe dazu zuletzt Heldmann (2000).

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mens seine imaginierten paganen Leser deswegen zum Preisgeben der »gottlosen Heiligtümer« (Ν$ Ν, protr. 2,11,1) auffordern, weil ihm der Nachweis, dass diese Heiligtümer ›gottlos‹ sind, bereits von der paganen Seite buchstäblich leicht gemacht wird. Denn Klemens fokussiert seine Betrachtung auf die mit Orakeln verbundenen Stätten: das Heiligtum des Trophonios in Lebadeia, Delphi, Dodona und das Orakel des Zeus-Ammon in Ägypten (protr. 2,11,1–2). Für diese Heiligtümer ist im 2. Jh. n. Chr. zu konstatieren, dass sie keine (oder kaum mehr) Orakelsprüche erteilen. Bereits Strabon hatte dies in Augusteischer Zeit zu Ammon konstatiert.52 Dem Ausbleiben der Orakel in Delphi widmete Plutarch sogar eine eigene Schrift,53 die eine bereits langwährende Krise testiert.54 Plutarch lässt in dieser als Dialog angelegten Schrift die Unterredner eine Reihe höchst unterschiedlicher Erklärungen geben, darunter auch die, dass die Orakel von zwischen Mensch und Gott vermittelnden Dämonen gegeben werden, die altern und sterben können.55 Eine solche Erklärung bietet damit leichte Handhabe für eine pointierte Feststellung, wie sie Klemens trifft: Die Orakel seien samt den mit ihnen verbundene Mythen vergreist ( «  , protr. 2,11,1). Daran schließend kritisiert Klemens in traditioneller Weise56 die griechischen Götter und die Mysterienkulte und ist schließlich bereit, immerhin zu erwägen, den paganen Göttern den Status von Dämonen zuzubilligen.57 Auch hierbei ›verzeitlicht‹ er seine Argumentation, wenn er etwa den mythischen Erzählungen über Zeus eine Faktizität zuzubilligen scheint, darauf aber, mit Blick auf die eigene Gegenwart, ein ›Jetzt‹ ansetzt, in dem Zeus und seine Mythen vergreist sind: »Aber das war damals, als er noch ein solcher war, als er ein Mensch war; jetzt aber scheinen mir selbst eure Mythen vergreist zu sein. […] Wo ist eben dieser Zeus? Er ist mitsamt seinen Flügeln vergreist« (protr. 2,37,1–3). Und noch einen Schritt weiter geht die Argumentation: Wenn Zeus zum Greis wird, kann er auch sterben – dies leitet Klemens aus dem Mythos her (»Nackt ist euer Mythos: Es starb Leda, es starb der Adler […]«, protr. 2,37,3) und führt als Kronzeugen für den Tod des Zeus Kallimachos an, aus dessen Zeus-Hymnos er die berühmten Verse (V. 8–9) vom Grab des Zeus, das die Kreter errichtet hätten, zitiert (protr. 2,37,4), allerdings in verzerrender Verkürzung. Figuriert doch bei Kallimachos das Zeus-Grab auf Kreta als Beweis für die Behauptung »Stets lügen die Kreter«. 52 Strabon 17,43, p. 813. 53 De defectu oraculorum, »Über die eingegangenen Orakel«, Übersetzung bei Ziegler (1952). 54 Vgl. etwa Plutarch, De def. or. 5, 411: »[…] da wir doch hier den Verfall der Orakel oder vielmehr das Eingehen von ihnen allen bis auf ein oder zwei vor Augen haben […].« 55 Plutarch, De def. or. cap. 10–15. 56 Klemens greift dabei auf die alte, auf Xenophanes zurückgehende Linie der Kritik zurück, die insbesondere die Moralität der den Göttern in den Mythen zugeschriebenen oft allzu menschlichen Handlungen zum Problem macht; darüber hinaus belegt er die Gewährsmänner der paganen Tradition immer wieder mit dem Vorwurf der Täuschung, $. 57 Protr. 2,40–41.

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Es ist also eine spezifische Strategie des Klemens deutlich, mit der er die pagane Kultur in eine Außenseiterrolle manövriert: Als zentral erscheint, wie festgestellt, der Verzicht auf die philosophische Argumentation, die ein Protreptikos qua Textsorte traditionell fordert. Denn philosophische Protreptik bedeutet prinzipiell Aufruf, falsche Ansichten abzulegen und sich richtigen (oder gar Wahrheiten) zuzuwenden. Theoretisch bedeutet dies, dass es prinzipiell dennoch möglich ist, den alten Ansichten weiter zu folgen. Indem Klemens kulturhistorisch argumentiert, verleiht er seinen Darlegungen eine höhere Stringenz. Denn das Pagane (so sei es hier der Einfachheit halber bezeichnet) ist nicht einfache das Falsche oder falsch Verstandene – es ist das Alte, ja Vergreiste. Im Falschen könnte man verharren, das Vergreiste freilich muss (wie Klemens’ Zeus) sterben. Klemens lädt damit zugleich das von ihm immer wieder apostrophierte Neue des Christentums mit weiterer Bedeutung auf. Es ist nicht allein eine ›novitas christiana‹ in systematischer Hinsicht,58 sondern als Teil seiner kulturhistorischen Perspektivierung das Neue, das das Vergreiste ablöst. Die besondere Plausibilität wächst dabei Klemens’ Argumentation dadurch zu, dass diese nicht einfach das Pagane verwirft, sondern (zwar selektiv) sich darauf bezieht,59 ja Selbstdiagnosen der paganen Kultur vom Versiegen der Orakel etc. einbezieht.60 Als Resultat der Argumentation des Protreptikos ist das Christentum nicht mehr der Außenseiter einer reichen und differenzierten Kultur, der sich zu verteidigen hat. Stattdessen hat Klemens die umgebende Kultur als das Alte, Vergreiste erwiesen, das nun durch das Neue abgelöst wird. Er hat implizit den ›Heiden‹ erschaffen,61 der in zweierlei Hinsicht außerhalb der christlichen Kultur steht. Denn zum einen ist er vom bloßen Meinen bestimmt, dem die christliche Wahrheit und Offenbarung gegenüber steht, zum anderen vertritt er das Überlebte, Vergreiste,62 während das Christentum das Neue repräsentiert. Klemens erzeugt damit zwei Grenzen, eine ›epistemische‹ und eine chronologische. Diese doppelte Konstruktion hat in der Rezeption augenscheinlich so große Überzeugungskraft entwickelt, dass kulturhistorische Betrachtungen, die von Klemens ihren Ausgang nehmen, 58 Siehe hierzu Kinzig (1994). 59 Dies durchzieht als Signatur das gesamte Werk des Klemens, wie zu zeigen wäre. 60 Dass sich aus dieser Form des Ernst-Nehmens der paganen Tradition für die christlichen Argumentationen langfristig neue Probleme ergeben haben, soll an anderer Stelle untersucht werden. 61 Der Protreptikos ist in dieser Hinsicht komplementär zu den bereits untersuchten Strategien des Klemens, den Christen qua Herkunftserzählungen zu legitimieren (Buell 1999), bzw. den Nachweis höheren Alters der jüdisch-christlichen Lehre zu erweisen (Ridings 1995) und dabei sogar (strom 1,21) komplizierte chronologische Konstruktionen vorzunehmen (Mortley 1980). 62 Klemens vermeidet also eine direkte Kontrastierung zwischen dem Alten und dem Neuen: Dies ist in der grundsätzlichen antiken Anschauung gegründet, dass das Neue gegenüber dem Alten suspekt und rechtfertigungsbedürftig ist (s. dazu Hose (2000)). Siehe hierzu auch die vorangehende Anmerkung.

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eine Außenseiterstellung des Paganen im späten 2. Jh. als nicht mehr eigens erklärungsbedürftig ansehen: Das Pagane ist damit zum Heterodoxen geworden, das sich rechtfertigen müsste.63

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63 Die hier vorgelegten Überlegungen sind Teil der Ergebnisse eines von der DFG geförderten Projekts »Die Bewältigung des Heterodoxen«. Für die Unterstützung der DFG sei auch an dieser Stelle gedankt.

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Die ordenunge dirre welte. Narrativierung und Integration antiken Wissens im mittelhochdeutschen Lucidarius Julia Weitbrecht

Auf die Frage, in welcher Form antikes Wissen im Mittelalter zugänglich gemacht und vermittelt wurde, kann man, ohne die Grenzmetaphorik über Gebühr zu strapazieren, sagen, dass in diesem Transferprozess die unterschiedlichsten Grenzen, geographische, religiöse, sprachliche und Genregrenzen, überschritten wurden. In diesem Zusammenhang kommt der enzyklopädischen Literatur große Bedeutung zu, denn hier werden nicht nur die verschiedensten Wissensbestände aus der paganen Antike transportiert und übermittelt, sondern vor allen Dingen auch in die christliche Heilsordnung überführt und damit überhaupt erst nutzbar gemacht. Zentral für die Vermittlung in den deutschen Sprachraum erscheint in diesem Zusammenhang der mittelhochdeutsche Lucidarius, eine teils Übersetzung, teils freie Bearbeitung des lateinischen Elucidarium des Honorius Augustodunensis,1 die vermutlich Ende des 12. Jahrhunderts entstand und in den folgenden Jahrhunderten breit überliefert wurde.2 Dieser Lehrdialog besteht aus drei Büchern, welche die Schöpfung, die Liturgie und die Eschatologie behandeln. Im Folgenden soll das erste Buch des Lucidarius im Mittelpunkt stehen, das von Gott und der »ordenunge dirre welte« (Luc I.44; 17.6) handelt. Hier greift der Redaktor des Lucidarius3 auf zu dieser Zeit gängiges, antikes geographisches und ethnographisches Wissen zurück, geht dabei aber verhältnismäßig originelle Wege, was seinen Umgang damit betrifft. Im Ersten Buch löst er sich von seinen Vorlagen, vom Elucidarium, aber auch von Honorius’ zweitem großem Werk, der Imago Mundi,

1 »Der deutsche ›Lucidarius‹ ist zugleich Paraphrase, Kompilation, Kommentar und Übersetzung.« Giordano (2003), 185. Vgl. auch Gottschall (1992), 124–137. 2 Die genaueren Entstehungsbedingungen sind umstritten. An die Chronologie der beiden überlieferten Prologe ist auch die lange Zeit als Konsens geltende Verortung im Umfeld Heinrichs des Löwen gebunden, die mittlerweile eher wieder relativiert wird. Vgl. Luff (1999), 58–108; Ulmschneider (2009) und Ulmschneider (2011), zur Forschungsgeschichte 1–9; Exkurs 2: Die Prologe im Lucidarius, 409–426; Stemma der Prolog-Überlieferung 426. 3 Aufgrund der komplizierten Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte wird im Folgenden als personale Hilfskonstruktion von einem (virtuellen) Redaktor die Rede sein.

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und widmet sich den Fragen, »wie disu welt geschafin ist vnde wie sie geteilet ist« (Luc I.61; 39.6–7). Als Ordnungsprinzip dient dabei stets der didaktische Dialog zwischen iunger und meister (dies entspricht der lateinischen Vermittlungsform zwischen discipulus und magister), doch wird diese ohnehin sehr offene Struktur immer wieder aufgebrochen, insbesondere in der Passage zu Geographie, Ethnographie und Zoologie in den Kapiteln 44–61.4 Hier weicht der Redaktor von der rein deskriptiven, auflistenden Anordnung seiner Vorlagen ab, er kommentiert, erzählt und imaginiert. Diese Passagen, so kurz sie sind, verweisen auf eine Problematisierung oder wenigstens Erklärungsbedürftigkeit antiken Wissens im Kontext des Lucidarius. Im Folgenden soll es weniger um die Frage gehen, welche antiken Quellen und mittelalterlichen Übermittler dem Redaktor vorlagen,5 sondern vielmehr, in welcher Weise er innerhalb der Grenzen seines eigenen Weltbildes mit dem fremden Wissen über die Welt, insbesondere über die Bewohner Indiens, produktiv umgegangen ist, indem er dieses ordnet und präsentiert.6 Die Integration antiker Wissensbestände erfolgt dabei offenbar insbesondere durch unterschiedliche Formen der Narrativierung oder vielmehr Spuren von Narrativität im deskriptiven Text. Dies erscheint aufschlussreich in zweifacher Hinsicht: in Bezug auf bestimmte Legitimierungsstrategien im mittelalterlichen Umgang mit antikem Wissen einerseits und auf die Produktivität von Narrativität bei der Organisation kulturellen Wissens andererseits. Es scheint sich überdies um ein Phänomen zu handeln, das die generischen Grenzen zwischen Wissensliteratur und Erzählliteratur unterläuft oder zumindest zu umspielen scheint. Im Folgenden werden deshalb zunächst die Bedingungen für die Transformation und Integration antiken Wissens im Lucidarius skizziert, um dann an einigen Beispielen zu erläutern, was im Kontext der Wissensliteratur unter Phänomenen der Narrativität zu verstehen sein könnte. Am Ende der Untersuchung steht ein Ausblick auf Interdependenzen mit der mittelalterlichen Erzählliteratur. Der mittelalterliche Umgang mit antikem Wissen ist transformativ,7 weil sich hier ein formal konservierender Ansatz mit der Notwendigkeit verbindet, Wissensbestände an das anzupassen, was denkbar ist, diese also innerhalb der Grenzen des 4 Hamm (2002), 120. 5 Das sind für das Erste Buch die Werke Elucidarium, Imago mundi und Gemma Animae des Honorius sowie die Wilhelm von Conches zugeschriebene Philosophia Mundi, die sich jeweils auf antike Quellen, etwa Plinius’ Naturalis Historia beziehen. Im Zweiten Buch hat der Redaktor De diviniis Officiis Ruperts von Deutz benutzt, vgl. Hamm (2002) sowie Sturlese (1992), 254; ausführlich zu den Quellen des Ersten Buches ebd., 256–259. 6 Vgl. Hamm (2002), S. 30* f. 7 Vgl. zum Konzept der Transformation als kulturellem Wandel Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011).

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Möglichen zu inkludieren. Die produktive und konstruierende Aneignung wird insbesondere dann deutlich, wenn dieses Wissen nicht mehr ohne weiteres verständlich oder wenn es problematisch geworden ist, weil es den göttlichen ordo in Frage stellt. Auf die Gefahr von unsachgemäßem Wissen und ungebührlichem Fragen wird im Lucidarius auch hingewiesen, »wan die leigen kemint lithe in einen grozen zuifel, so sie ze tiefe rede vernement, der sie sich verstan nith enmúgen« (Luc I.5; 5.1–3). Dennoch werden solche Wissensbereiche nicht etwa ausgegrenzt, vielmehr werden vielfältige Versuche unternommen, sie ins Weltbild zu integrieren. Dieser Aneignungsprozess ist konstruktiv in beide Richtungen: Da fremde Wissensbestände nicht einfach inkorporiert werden können, müssen sie gleichzeitig verändert und transformiert, eben zueigen gemacht werden, wobei in der Vereinnahmung stets das Selbstbild des Rezipienten wirksam wird. Dies lässt aber auch den Aufnahmebereich selbst nicht unverändert, denn bereits in der vermeintlich bloßen Inserierung von antiken Wissensbeständen in das christliche Lehrwerk muss, wie sich am Ersten Buch des Lucidarius zeigen lässt, einiges passend gemacht, also umgedeutet und interpretiert werden, sprich: es muss ein kognitiver, narrativer oder epistemischer Aufwand betrieben werden, der das Ergebnis beeinflusst. Der B-Prolog des Lucidarius nennt solcherart »manic tovgene dinc, die an den buochen verborgen sint, der vnderwiset diz buochelin« (Luc, Prolog, 1.5–7). Diese verborgenen Dinge will der Lucidarius, der Erleuchter, ans Licht holen, doch unterliegt diese Wissensaneignung bestimmten Vorgaben. Dies wird insbesondere in denjenigen Passagen deutlich, die sich mit dem entferntesten Land, Indien, und seinen Bewohnern beschäftigen (Kapitel 52–56). Hier fallen Fremdheit und Antikizität weitgehend zusammen: Die Existenz der als monströs imaginierten Völker Indiens gilt seit den ethnographischen, historiographischen und paradoxographischen Schriften der griechischen Antike als gesichert und wurde vor allem durch die Naturalis Historia des Plinius und die Etymologiae des Isidor von Sevilla auch ins Mittelalter vermittelt.8 Gleichzeitig sind diese Mischwesen innerhalb der christlichen Schöpfungstheologie zumindest erklärungsbedürftig, wovon bereits die Legitimierung der monstra in Augustinus’ Gottesstaat beredtes Zeugnis ablegt.9 Handelt es sich bei ihnen um Menschen oder Tiere? Kommt ihnen ein Platz im Schöpfungsplan zu?10 Das Wissen der paganen Antike wird an dieser Stelle also nicht prinzipiell in Frage gestellt, doch es wird zum differenten, zum fremden Wissen und muss mithilfe bestimmter Strategien eingegrenzt, also integriert und legitimiert werden. Dabei fällt neben der selbständigen Einbezie8 Plinius, Naturalis Historia 7.II.21–32; 25–33; Isidor von Sevilla, Etymologiae XI.31.3 »De portentis«; 420–424. Vgl. Röcke (1997), 268; Wittkower (1984), 95–98. 9 Augustinus, De civitate dei 16.8. Vgl. Anm. 24. 10 Vgl. Münkler/Röcke (1998), 715f.

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hung der Passagen über die Völker Indiens im Lucidarius gleichzeitig die Tendenz dazu auf, diese Einschlüsse durch unterschiedliche Formen von Narrativität einzupassen und zu erklären. Dieses Vorgehen steht im Kontrast zur Darstellung der lateinischen Enzyklopädien des Isidor und Honorius, welche dieselben Völker lediglich aufzählen.11 Die an und für sich unzweifelhafte Existenz der fremden Völker scheint jedoch im Lucidarius für eine christliche Inkorporierung nicht auszureichen, diese müssen deshalb zusätzlich hererzählt werden. Dieser narrative Aufwand verweist zugleich auf eine Form der Problematisierung und auf ein Bedürfnis nach Absicherung. Das heißt nicht, dass der Lucidarius insgesamt narrativ organisiert ist; dies wäre angesichts seiner Dialogstruktur kaum möglich geschweige denn nötig. Es finden sich aber innerhalb der Binnenstruktur des Dialogs, auch außerhalb der Passagen über Indien, unterschiedliche, auf Erzählungen zurückgreifende Darstellungsformen wie die Anspielung, das Zitat, die Epitome und die voll entfaltete Erzählung, die jeweils auf antik-paganes Wissen rekurrieren, dieses narrativ aufbereiten und so in den Lucidarius integrieren. Auch an diesen Stellen kann natürlich nicht auf die gleiche Weise von Narrativität ausgegangen werden wie in einem Erzähltext. Es geht dabei nicht um eine Kohärenz des gesamten Textes, sondern um eine Form der Sinnstiftung, indem Dinge, Orte und Personen im Sinne eines raum-zeitlichen oder kausalen Geschehenszusammenhanges erzählerisch in Beziehung zueinander gesetzt werden. An bestimmten Stellen wird im Lucidarius von der deskriptiven Darstellung abgewichen und statt dessen ein solcher Geschehenszusammenhang hergestellt oder auch lediglich darauf verwiesen, indem ein bestimmter Ort durch bekannte Personen semantisch besetzt wird, wie ein Beispiel aus der Beschreibung Afrikas zeigt: »Jn dem lande ist ein burc, die heizet saba. Dannan waz die kunegin uon saba, die da kam zuo salomone« (Luc I.60; 35.11).12 In einem Satz wird ein bekannter Erzählkern (also die Reise der Königin von Saba zu König Salomo) aufgerufen und mit einem bestimmten Ort verknüpft. Diese narrative Verweisstruktur ist an Personen gebunden, die sich im Raum bewegen und reisend Verbindungen schaffen (neben der Königin von Saba werden etwa auch Alexander der Große, der heilige Clemens und der heilige Brendan genannt).13 Letzterer, ein reisender Heiliger, verdeutlicht eine weitere Form der narrativen Organisation, nämlich das Zitat oder die Epitome. In der vergleichs11 Vgl. Münkler/Röcke (1998), 726 sowie Wittkower (1984), 97. 12 Der Hinweis auf die Reise der Königin kommt in der Vorlage Imago mundi nicht vor, womit auch die Verweisstruktur nicht im selben Maße narrativ funktioniert wie im Lucidarius: »Ethiopia, […] in qua est Saba de qua fuit illa regina […].« Honorius, Imago mundi I.32; 64. 13 Dieser Befund hängt sicherlich mit den hier untersuchten Strategien der Narrativierung von Wissen zusammen. Durch Bewegung im Raum werden semantische Grenzen erzeugt und wird somit eine basale Form von Narrativität gestiftet, nämlich Sujethaftigkeit im Sinne Jurij M. Lotmans. Vgl. Lotman (1993), 311–340; Martínez/Scheffel (2003), 140–144 sowie Schulz (2003).

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weise ausführlichen Beschreibung der Insel Perdita liefert der Lucidarius eine Kurz- oder vielmehr Kürzestfassung der seit dem 10. Jahrhundert außerordentlich populären Navigatio Sancti Brendani,14 wenn es heißt: »Jn die insele comen ze einem male helige lúte uon geschihte. Der gewant smachete nach dem smacke fúnfzehin iar. Nie sit mohte dehein mensche dar in comen, vnz got den guoten sanctum brendanum dar in sante« (Luc I.61; 39.2–5). Wenn solche Phänomene als narrativ bezeichnet werden, dann erscheint das der modernen narratologischen Begrifflichkeit gegenüber eher als eine Minimaldefinition. Das hat hauptsächlich damit zu tun, dass es hier nicht um die Gesamtorganisation eines fiktionalen Textes etwa durch Handlung oder emplotment geht.15 Für die folgende Analyse des Lucidarius ist es zunächst auch gleichgültig, ob es sich bei den narrativen Elementen um historische, mythologische oder literarische Verweise handelt. Die Frage der Faktizität oder Fiktionalität des Erzählten ist in diesem Kontext sekundär, vielmehr geht es auf der Beschreibungsebene um das knappe Anzitieren oder Zusammenfassen eines linearen Geschehenszusammenhangs. Das eigentliche Geschehen wird dabei nicht auserzählt, aber es wird aufgerufen. Der Lucidarius ist hier also selbst nicht narrativ, aber Narrativität wird in der Anspielung eingekapselt und konserviert. Über solche narrativen Verortungen von Personen in der christlichen oikumene scheint nun auch die Verbindung und Integration von antik-heidnischem und christlichem Personal möglich, etwa wenn es über die vermeintliche Insel Pontus heißt: »Da in wart Ouidius vnde sancte clemens versant« (Luc I.58; 32.4). Dies ist fast wörtlich aus der Imago mundi übernommen, wo es heißt: »Pontus, […] in quo Ovidio et postea Clemens exilio relegantur.«16 Fast, denn mit dem Verzicht auf die Übersetzung der temporalen Bestimmung durch postea (»nach ihm«) werden hier temporale oder sogar epochale Differenzen nivelliert und wird Ovid im Lucidarius räumlich mit Sankt Clemens identifiziert.17 Diese Passage lässt in ihrer Knappheit keinerlei Spekulation darüber zu, ob Ovid über diese Identifikation mit Clemens zum Protochristen erhoben wird, indem das römische Exil Ovids mit dem christlichen des Clemens von Rom über-

14 Vgl. Weitbrecht (2011), 183–194. 15 Es handelt sich vielmehr um eine reduzierte Form narrativer Struktur (etwa durch Temporalität), vgl. Schmid (2010), 1–21, 4. Siehe auch Abbott (2009). 16 Honorius, Imago mundi I.20; 59; vgl. Hamm (2002), 147. 17 Diese Identifizierung Ovids mit dem Hl. Clemens (dessen Verbannung ans und Martyrium im Schwarzen Meer im Übrigen ebenfalls eine nachträgliche Zuschreibung darstellt) ist schließlich auch erzählerisch umgesetzt worden. Nicht nur galt Ovid mittelalterlichen Kommentatoren als heimlicher Christ, der aus diesem Grund nach Tomi verbannt wurde: »Eine ›Nota de Ovidio‹ in einer Freiburger Hs. des 13. Jahrhunderts lässt ihn von Johannes die Taufe empfangen, als Bischof von Tomi den Märtyrertod erleiden und zum sanctus Naso werden.« Kugler (1989), Sp. 248f.; vgl. Bischoff (1952), 272f. Allgemein zu Ovid im Mittelalter siehe Stackmann (1966), Ghisalberti (1946).

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schrieben wird. Wir kennen jedoch zahlreiche Beispiele für solche Formen der Integration antiker Autoritäten, insbesondere Ovids und Vergils.18 Deutlich wird hier aber, dass die narrative Verortung im christlichen Heilsraum auch in der knappen Form der Enzyklopädie in der Lage ist, temporale oder weltanschauliche Widersprüche zu harmonisieren. Dass im Lucidarius ein solcher Integrationsbedarf bzw. eine Sensibilität diesen Zusammenhängen gegenüber besteht, belegt eine ausführliche Passage über Sizilien: Da bi ist ein insula, die heizet cicilia. Da inne ist ein berc, der heizet ethna. Vz dem berge siht men den swebel búrnen, da werdent die selen inne gewizeget. Jn dem mer sint zwene werben. Der eine heizet scilla, der ander caribdis. An die stete enkunt dehein schif, ez si verlorn. Da bi ist ein insula, da inne sint smide. Daz sagint die heidenischen buoch, daz die smident die dunre stralen, wen die insula ist uol fúrez vnde stant die smide mitten in dem fúre. Die smide heizent ciclopes. Jn der selben insulen waz wulcanus, der der helle porten phliget. Vnser buoch wellent, daz ez die tieuele sin vnde die selen wisegen (Luc I.61; 37.4–12).19

Die Lokalisierung des Eingangs zur Hölle auf einer Vulkaninsel ist aus anderen mittelalterlichen Quellen, etwa der Navigatio des schon genannten Heiligen Brendan, bekannt.20 An diese Verortung werden hier aber pagan-antike Wissensbestände geknüpft und dabei christlich-eschatologisch überschrieben: Was die Heiden noch als Donnerschmiede verstanden hatten, fungiert innerhalb des christlichen ordo als Ort, an dem die Seelen für ihre Sünden bestraft werden. Mit der Erklärung, die Zyklopen und Vulcanus seien in Wirklichkeit Instrumente der Höllenstrafe, wird auf den Euhemerismus rekurriert. Es handelt sich dabei um ein ursprünglich antikes Erklärungsmodell, mit dem die Entstehung der griechischen Götter historisch erklärt wurde: diese seien menschliche Herrscher, die aufgrund ihrer kulturellen Leistungen als Götter verehrt wurden. Dieser Ansatz wurde im Christentum adaptiert, um pagan-antikes Wissen ins Weltbild zu inkludieren, indem man es als Fehlinterpretation der Heiden entlarvt.21 Transformationstheoretisch gesprochen liegt dem eine recht komplexe Denkfigur zugrunde, die in der Desavouierung und damit Exkludierung der Erklärung für bestimmte Sachverhalte diese Sachverhalte selbst (etwa: dass der Ätna der Eingang zur Unterwelt sei) jedoch stützt, legitimiert und letztlich widerspruchsfrei integriert. Demnach ist der vermeintliche Widerspruch von heidenischen buoch und vnser buoch (also: antiken und christlichen Quellen) im Lucidarius gar kein Widerspruch, denn er stellt nichts in Frage – derart erhält das antike Wissen

18 Vgl. Kern (2003a), 449 und (2003b), 666; Kugler (1989), Sp. 248–250; Worstbrock (1999), Sp. 254f. 19 Vgl. Honorius, Imago mundi I.34; 65. Wie bei der Königin von Saba stammen die Fakten aus der lateinischen Quelle, die Erklärung dazu aber liefert der Lucidarius. 20 Navigatio 24; 64–65. 21 Vgl. zum Euhemerismus im Mittelalter Cooke (1927), von See (1989), Weber (1994).

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ebenfalls seinen Ort im Ordnungsgefüge des Lucidarius. Die vermeintliche restlose Einverleibung antiken Wissens hinterlässt so immer auch ihre Spuren im Aufnahmebereich.22 Die integrative Funktion von Narrativität im Kontext des Lehrwerks wird insbesondere dann deutlich, wenn ein Geschehenszusammenhang nicht nur zitiert oder angedeutet, sondern zur Geschichte entfaltet wird, um zur Erklärung und Legitimierung herangezogen zu werden. Mithilfe solch komplexer Darstellungsformen von Narrativität werden prekäre antike Wissensbestände inkorporiert, indem sie in eine heilsgeschichtliche und genealogische Kohärenz hineinerzählt werden. Die Darstellung der exotischen Völker im Lucidarius als monströse Mischwesen geht, wie schon gesagt, auf die lateinische Enzyklopädik zurück. Deren Modus der weitgehend unkommentierten Aufzählung (von Aussehen, Lebens- und Ernährungsweise der Völker) wird hier zunächst übernommen,23 an einigen Stellen zeigt der Redaktor sogar Ansätze zu einem ethnographischen Verständnis für die fremden Kulturen: »Da inne sint lúte, die slehent ir eigene uorderen, so sie alt werdent, vnde siedent sie vnde machen groz wirtschaft, so sie ezzent ir uater vnde ir muoter. Swer dez da nith endethe, der duthe sie ein ubel man« (Luc I.53; 22,11–13). Dann aber erfolgt die heilsgeschichtliche Rückbindung: Die monströsen Völker werden in den Lucidarius integriert, indem sie (im zweifachen Sinne) eine Geschichte erhalten. Auf die Frage des iungers: »Nu seit vns die shrift, daz allez menslich kunne von adame vnde uon euen komen si. Wie sint sie nu so wunderliche verwandelet?« antwortet der meister: Adam waz der wiseste man, der ie geborn wart. Do er uz dem paradiso cam, do ercander die wurzen alle, die der nature warunt, swel wib die eze, daz die geburt dauon verwandelt wurde. Do warnete er sine dothere, daz sie der wurze nith ezen. Do gewunnen die wip fúrwiz, wie ez umbe die wurze stuende, vnde azent alle die wurzen, die in ir uatir hete verboten. Die kint, die do uon den wiben wurden geborn, die uerwandeltin sich nach den wurzen vnde misserietent alse ich vor geseit han (Luc I.55; 25.1–11).

Diese Argumentation für die Entstehung der Völker Indiens ist eine doppelte: Zum einen wird sie auf den Verzehr bestimmter Kräuter zurückgeführt und naturwissenschaftlich als Missbildung dargestellt, doch zum anderen wird sie auch als ein zweiter Sündenfall erzählt, denn es ist aufgrund des Fürwitzes der Töchter Adams (die ganz nach der Mutter zu kommen scheinen), dass es überhaupt soweit kommt. Über die Genealogie Adams und über die Wiederholung des

22 Transformationstypologisch würde man den Euhemerismus wohl zu den appropriierenden Aneignungsformen zählen, doch zeichnet er sich durch eine spezifische paradoxe Interpretationsstruktur aus, die das einschließt, was sie argumentativ für falsch erklärt; vgl. Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 48. 23 Hamm (2002), 139. Vgl. Honorius, Imago mundi I.11; 54: »Sunt ibi quedam monstra que quidam hominibus quidam ascribitur bestiis […].«

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Sündenfalles wird also eine menschheitsgeschichtliche Kontinuität gestiftet, die auch den monströsen Völkern einen Platz in der Schöpfung und christlichen Welt zuweist. Die Auseinandersetzung mit den monstra im Rahmen der Schöpfungstheologie ist beinahe so alt wie das Christentum. Im Lucidarius fällt jedoch die Wahl der Mittel auf. Augustinus’ berühmtes Verdikt aus Buch 16 des Gottesstaates, »ex Adam sunt, si homines sunt«,24 wird hier narrativ interpretiert und zu einem kausalen Handlungsverlauf ergänzt.25 Somit wird einerseits deutlich gemacht, dass die indischen Völker, Augustinus folgend, durchaus Menschen sind, denn sie stammen ja direkt von Adam ab. Sie sind andererseits aber von den Nachkommen der ersten Sündenfallsgeneration, den Menschen, dadurch abgehoben, dass sie das Stigma ihrer defizitären Abkunft, der erneuten Sünde ihrer Mütter, als Körperzeichen tragen.26 In der vermuteten Vorlage für diese Episode, der frühmittelhochdeutschen Wiener Genesis (aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts), wird die Ursache für die Devianz der fremden Völker moralisch noch expliziter gemacht als im Lucidarius. Dort heißt es: »die afterchomen an in zeigtun waz ir vorderen garnet hêten: / alsolich si wâren innen, solich wurten diese ûzzen.«27 Im Gegensatz zu den bisher genannten Vorlagen handelt es sich somit nicht um eine nüchtern-deskriptive, sondern um eine narrativ-plausibilisierende und zusätzlich moralisch argumentierende Quelle. Über die Integrationsleistung, welche die Erzählung von den Töchtern Adams leistet, erhält das fremdartige Aussehen Verweischarakter und werden die Bewohner Indiens genealogisch und moralisch eingeordnet; ihre Existenz ist offenbar nur in dieser retrospektiven Einbettung verständlich und überhaupt denk-

24 Augustinus, De civitate dei 16.8; 141.24. 25 Das ist ein Verfahren, das stärker auf eine Plausibilisierung abhebt als etwa die (positive) allegorische Deutung der Gesta Romanorum, und das somit in direktem Zusammenhang mit der Wissensvermittlung steht; vgl. Gesta Romanorum cap. 175 »De diversitate et mirabilibus mundi cum expositione inclusa«, 574–576: »In Europa sunt homines formosi sed capite et collo gruico cum rostris. Isti designant judices, qui debent habere ad modum gruis collum longum, ut prius prudenter cogitent, in corde, que per sententiam proferenda sunt in ore. Si sic essent omnes judices, non tam et tot male essent sententie.« (Ebd., 576). – »In Europa gibt es schöne Menschen, die aber den Kopf und Hals von Kranichen mit Schnäbeln haben. Die bezeichnen die Richter, welche in der Art des Kranichs einen langen Hals haben sollen, damit sie eher in ihrem Herzen klug [das] überlegen, was beim Urteilsspruch in ihrem Mund vorzutragen ist. Wenn so alle Richter wären, dann gäbe es nicht so viele schlechte Urteilssprüche.« Blamires liest, anders als der Herausgeber Oesterley, statt »Europa« in der Handschrift »Eripia« und impliziert somit eine Verschreibung von »Gripia« und eine Verbindung zum Herzog Ernst (»may possibly derive from Herzog Ernst«); Blamires (1979), 34. 26 Zur Diskussion dieses Themas in Konrads von Megenberg Buch der Natur s. Luff (2000), 113, Anm. 82. 27 Wiener Genesis, 135, Vse. 659f.

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bar. Nach ihrer Aufzählung in der Tradition der Enzyklopädie ist es erst die Erzählung, die sie in den ordo integriert.28 Die Untersuchung der Einschlüsse antiken Wissens im Lucidarius hat gezeigt, dass dieses auch dann nicht ausgegrenzt wird, wenn es problematisch erscheint, sondern dass vielmehr unterschiedlichen Strategien gefolgt wird, um sich diese Wissensbestände dennoch anzueignen. Wenn alles, was existiert, Gottes Schöpfung ist und seine Signatur trägt, so muss sich umgekehrt eben auch alles, was sich in der Schöpfung findet, auf Gott zurückführen lassen. Das evoziert einen Erklärungsbedarf und führt zu einem beträchtlichen narrativen Aufwand, denn in der erzählerischen Einbettung und Strukturierung solchen Wissens liegt eine äußerst produktive Möglichkeit, Widersprüche aufzuheben oder plausibel zu machen, so dass heterogenes und fremdes, ja selbst gefährliches Wissen inkludiert und didaktisch produktiv gemacht werden kann. Insbesondere die Einschreibung in linearkausale Handlungsverläufe vermag es deshalb, gerade auch eine widerständige Antike ins christliche Weltbild zu integrieren. Die Produktivität dieser Eingrenzung liegt zudem darin, dass mit Hilfe eines solchen Verfahrens das Wissen nicht lediglich konserviert, sondern wiederum für unterschiedliche narrative Entfaltungsformen gleichsam bereitgestellt wird. Im Lucidarius wird in den konzentrierten Darstellungsformen, etwa der Anspielung oder dem Zitat, jeweils auf vorgängige Erzähltraditionen verwiesen. In einem solchen Erzählkern kann Handlung eingekapselt und konserviert werden, doch kann er, selbst im Kontext des nüchternen Lehrwerks, auch aktualisiert werden, sei es in der Epitome oder in der Ausfaltung als Geschichte. Erzählkerne fungieren somit als dynamische Speicher, weil ihr erzählerisches Potential in jeder Aktualisierung neu und anders entfaltet werden kann.29 Ein letztes Beispiel aus dem Lucidarius soll diese Dynamik von Wissen und Erzählen illustrieren. Dort heißt es über ein kleinwüchsiges Volk Indiens: »Jn dem selben walde sint lúte, die sint nith wen zwegir elin lanc. Die uethent wider die creneche« (Luc I.53; 21.13–15). Das Motiv der Kämpfe zwischen Pygmäen und Kranichen, der Geranomachie, ist seit der Ilias in der europäischen Literatur, bildenden Kunst und Naturkunde immer wieder belegt.30 Wie unterschiedlich dieses in der bloßen Anspielung gleichsam eingefrorene narrative Potential aktualisiert werden kann, wird an den verschiedenen Figuratio-

28 Vgl. Röcke (1997), 274. 29 Zum Konzept des Erzählkerns vgl. Müller (2007), 29–34. Für die literarische Auseinandersetzung mit der Entstehung der fremden Völker in Wolframs Parzival s. Luff (2000), 113f., zum Reinfried von Braunschweig vgl. Röcke (1996); Hamm (2002), 140; Brunner (2008), 26. 30 Plinius, Naturalis Historia 7.II.26; 28, unter Verweis auf Homer (»Homerus quoque prodidit«); Homer, Ilias 3.3–6; 88. Vgl. Bloch (2001).

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nen der Kranichmenschen deutlich, welche die lateinische Enzyklopädik nicht kennt, die jedoch in der mittelalterlichen Erzählliteratur mehrfach auftreten.31 Dabei wird der Kampf gegen die Kraniche mit dem gesicherten Wissen um die Existenz von Mischwesen verschmolzen und unterschiedlich narrativ plausibel gemacht. In dem ebenfalls Anfang des 13. Jahrhunderts überlieferten weltlichen Erzähltext Herzog Ernst (B) etwa erscheint der Konflikt von Mensch und Vogel in einem höfisch-vertrauten und zugleich höchst fremdartigen Szenario, wenn der Titelheld in der prachtvollen Stadt Grippîâ auf Wesen stößt, die einen wohlgeformten menschlichen Körper besitzen, aber vom Hals an aufwärts wie Kraniche aussehen: »[…] sie wæren […] in allen enden / schœne liute und hêrlîch, / wan hals und houbet was gelîch / als den krânichen getân.«32 Ernst lässt sich von ihrer vermeintlich zerbrechlichen Gestalt und ihrem formvollendeten höfischen Verhalten täuschen und verkennt ihre Gefährlichkeit. Es kommt zum Kampf und zur Katastrophe, Ernst muss aus der Stadt der Kraniche fliehen und die zuvor von den Mischwesen entführte indische Prinzessin bleibt tot zurück.33 Anders werden die Mischwesen in einer selbständigen deutschen Bearbeitung der Brendanlegende, der so genannten ›Reise‹-fassung (wohl Mitte des 12. Jhs.) dargestellt: Hier trifft der Heilige auf Wesen mit Schweineköpfen und Kranichhälsen, menschlichem Rumpf und Hundebeinen.34 Diese Mischwesen in antiker Tradition werden hier zu – moralisch betrachtet – Zwischenwesen umgedeutet und im Hinblick auf ihren Gnadenstand theologisiert. Bei den kranichhälsigen Kreaturen handelt es sich nämlich um sogenannte neutrale Engel. Diese haben beim Engelssturz keine klare Position bezogen und sind deshalb ebenfalls aus dem Himmel verbannt worden, sie sind allerdings nicht wie die Anhänger Luzifers in die Halle gekommen. Ihr hybrides Aussehen verweist auf ihren heilsbezogenen Zwischenstatus.35 Im Herzog Ernst wird also der Kranichkampf voll auserzählt, um eine exotische und furchteinflößende Fremde vorzuführen, die aber nicht heilsgeschichtlich kodiert ist. Dagegen geht die Brendanlegende den christlich-moralisierenden Weg in der Traditionslinie der frühmittelhochdeutschen Wiener Genesis und des Luci-

31 Vgl. Ehlen (1996), 81–94; Lecouteux (1982), Bd. 2, Art. »Hommes-Grues«, 94–98. 32 Herzog Ernst, 162, Vse. 2853–2859. Zu einer möglichen Verbindung von Herzog Ernst und Überlieferungen über wundersame Geburten vgl. Lecouteux (1981). Kritisch dazu Ehlen (1996), 83f., der ebenfalls für eine mittelalterliche Neuschöpfung plädiert. Vgl. zuletzt Bowden (2012) zur Funktion der Grippîâ-Episode in verschiedenen Fassungen des Herzog Ernst. 33 Alexandra Stein zeigt darüber hinaus, wie die körperliche Fremdheit der Mischwesen zusätzlich dadurch semantisch aufgeladen wird, dass sie auf die Kommunikationsunfähigkeit der Grippianer in zentralen höfischen Kommunikationssituationen (Gespräch und Kuss) verweist, vgl. Stein (1997), 34f. 34 Brandan, 53, Vse. 1249–1251. 35 Zu den neutralen Engeln vgl. Strijbosch (1999), 58–60 sowie Röcke (1988), 257.

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darius. Das dämonisch Fremde erscheint hier in wohlbekannter Form, denn das ungefüge Aussehen der Mischwesen ist direkt an ihren individuellen Sündenfall gebunden. Dadurch sind sie plausibel gemacht und erhalten ihren Platz in den Heilsräumen der von Brandan bereisten Welt.36 In diesen beiden Plausibilisierungsformen (exotisch-gefährlich und heilsgeschichtlich ambivalent) aber erscheinen die Kranichmenschen epistemisch gesehen als mittelalterliche Geschöpfe. In den antiken enzyklopädischen Quellen werden die Vögel zwar in Zusammenhang mit den Wundervölkern des Orients stets genannt, nicht aber als Mischwesen dargestellt.37 Anscheinend findet erst im intertextuellen Bezugssystem früher volkssprachiger Texte des 12./13. Jahrhunderts wie Lucidarius, Herzog Ernst und ›Reise‹-fassung beziehungsweise in der Verschränkung unterschiedlicher Wissensdiskurse eine Mediävalisierung des Motivs statt, indem die bekannten Versatzstücke »gefährliche/faszinierende Mischwesen« und »Kampf mit Kranichen« hybridisiert werden. Es handelt sich dennoch nicht um ein frei schöpferisches Verfahren, sondern man bleibt zugleich den antiken Quellen treu. So begegnen im Herzog Ernst beide Existenzformen, die Kranichmenschen, aber eben auch die Kraniche, die mit den Pygmäen kämpfen, in unterschiedlichen Passagen.38 Dennoch fällt in den beiden genannten Fällen die Kreativität der erzählerischen Ausgestaltung auf: Jeweils werden die Kranichmenschen zu Figuren der Ambivalenz und erhalten eine eigene, innerhalb ihres Aufnahmekontextes höchst komplexe Geschichte. Es stellt sich die Frage, ob diese narrative Entfaltung ohne die Aufbereitung und Plausibilisierung der antiken Wissensbestände, wie sie etwa im Lucidarius geschieht, überhaupt möglich wäre. Zumindest scheint es so, dass die narrative Integration in den christlichen Heilskosmos gerade auch im Medium der Enzyklopädie neue Imaginations- und Erzählräume eröffnet, in denen Widersprüchliches erst denkbar wird. Narrativität dient im Rahmen einer solchen Arbeit an der Antike offenbar nicht zuletzt auch als Mittel zur Dynamisierung von Grenzen des Wissens.

36 Vgl. Weitbrecht (2011), 201f. 37 Brunner (2008), 33f. 38 Vgl. Herzog Ernst, 247–276, Vse. 4896–4927. Diese Differenzierung wandert wiederum in die Enzyklopädien, wie etwa die unterschiedlichen Illustrationen in der Weltchronik Hartmann Schedels zeigen, in der sowohl die Kranichköpfigen als auch der Kampf der Pygmäen mit den Kranichen abgebildet sind; Schedel, Liber Cronicarum (1493), fol. 12r und 12v; vgl. zum Bildtypus Wittkower (1984), 141–144. Einen frühen text-bildlichen Beleg für die stabile Verbindung von Mischwesen und heilsgeschichtlicher Erklärung liefern die Rothschild Canticles (ca. 1300), in denen ein kranichköpfiges Wesen die Geschichte von den ungehorsamen Töchtern Adams illustriert; Abbildung in: Blamires (1979), 33. Vgl. Hamburger (1990), 211–212; Lecouteux (1982), 97f.

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Literaturverzeichnis Quellen Aurelius Augustinus, De civitate dei, in: Sancti Augustini opera, Sect. 5, Pars 2: De civitate dei libri XXII. Vol. 2 Libri XIIII–XXII, hg. v. Emanuel Hoffmann, Wien 1900 (= Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, 40,2). Brandan. Die mitteldeutsche »Reise«fassung, hg. v. Reinhard Hahn/Christoph Fasbender, Heidelberg 2002 (= Jenaer Germanistische Forschung N. F., 14). Gesta Romanorum, hg. v. Hermann Oesterley, reprograf. Nachdr. d. Ausg. Berlin 1872, Hildesheim 1963. Herzog Ernst, hg. v. Bernhard Sowinski, 2. Aufl. Stuttgart 1979 (= rub, 8352). Honorius Augustodunensis, Imago Mundi, hg. v. Valerie I. J. Flint, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen age 57 (1982), 48–153. Homer, Ilias. Griechisch u. deutsch, mit Urtext, Anhang und Registern, übertragen v. Hans Rupé, 11. Aufl. Düsseldorf/Zürich 2001 (= Sammlung Tusculum). Isidor von Sevilla, Etymologiae: Sancti Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum libri XX, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques Paul Migne, Bd. 82, Paris 1878, 73–728. Luc: Der deutsche ›Lucidarius‹, Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, hg. v. Dagmar Gottschall/Gerg Steer, Tübingen 1994 (= Texte und Textgeschichte, 35). Navigatio Sancti Brendani Abbatis from Early Latin Manuscripts, ed. with Introduction and Notes by Carl Selmer, Notre Dame/Indiana 1959. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturalis historiae, Libri XXXVII, Liber VII/Naturkunde Buch VII, Anthropologie, hg. u. übers. v. Roderich König in Zusammenarbeit m. Gerhard Winkler, Kempten 1975. Schedel, Hartmann, Liber cronicarum, Nürnberg 1493. Wiener Genesis: Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe m. einem einl. Komm. zur Überlieferung hg. v. Kathryn Smits, Berlin 1972 (= Philologische Studien und Quellen, 59).

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Dionysos und die »Grenzen des schönsten Gebildes«. Martin Heideggers erster Griechenlandaufenthalt im Kontext seiner Re-Definition der griechischen Antike Roberto Sanchiño Martínez

Martin Heidegger, der sich wohl wie kein anderer Denker des 20. Jahrhunderts eine Erneuerung der abendländischen Philosophie und Zivilisation durch eine Rückbesinnung auf sowie Wiederaneignung der antiken griechischen Dichtung und Philosophie erhoffte,1 war 72 Jahre alt, als er sich einen lang gehegten Traum erfüllte: Am 15. April 1962 stach er an Bord des Kreuzfahrtschiffes MS Jugoslavija von Venedig aus in See, um zum ersten Mal in seinem Leben eine 14-tägige Rundreise durch Griechenland zu unternehmen.2 Dieses Ereignis nimmt einen außerordentlichen Stellenwert in seinem Leben und intellektuellen Selbstverständnis ein, denn Griechenland bildete nicht nur einen wesentlichen Fluchtpunkt seines (philosophischen) Denkens, sondern war auch ein privater Traum- und SehnsuchtsOrt, den er aber über Jahrzehnte hinweg zu besuchen vermied. Auf die näheren Hintergründe für diesen Umstand wird noch zurückzukommen sein, weisen sie doch auf einen tiefen und transformationstheoretisch überaus aufschlußreichen Zwiespalt zwischen philosophischer Reflexion und projektiver Identifikation hin. Rund ein Jahr nach dieser touristisch organisierten Reise, die ein Geschenk seiner Ehefrau Elfride darstellte, verfasste Heidegger auf der Grundlage von tagebuchartigen Aufzeichnungen einen eigentümlichen philosophischen Reisebericht mit dem, wie Nietzsche sagen würde, zwei- und mehrdeutigen Titel Aufenthalte, der seiner Frau mit den Worten »Der Mutter/zum siebzigsten Geburtstag/Ein Zei-

1 Vgl. dazu grundsätzlich Heideggers Vorlesung Was heisst Denken? von 1951/52 und Beierwaltes (1995). 2 Auf dieser ersten Griechenlandfahrt – in den nächsten Jahren sollten noch vier weitere folgen – begleiteten ihn seine Ehefrau Elfriede, die Stationen der Reise in Aquarell-Bildern festhielt, der Freie Demokrat und ehemalige Bremer Senator für Außenhandel Ludwig Helmken mit seiner Gattin und Tochter sowie Ingeborg Schroth, eine Freundin der Familie. Drei AquarellBilder Elfride Heideggers sind der zum hundersten Geburtstag von Martin Heidegger erschienen Faksimile-Ausgabe von Aufenthalte beigefügt, die 1989 im Vittorio Klostermann Verlag publiziert worden ist. Einige Super-8-Aufnahmen der Reise sind in das Film-Portrait Martin Heidegger – Im Denken unterwegs (Buch und Regie: Richard Wisser und Walter Rüdel; Produktion: SWF 1975) eingegangen.

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chen/des Beschenkten« gewidmet ist.3 Aus dem Bericht wird deutlich, dass Heidegger seine Griechenlandfahrt als eine Reise in die Antike verstand. Denn für ihn bestand der Zweck der Reise darin, »das noch bestehende Land der Griechen« zu »be-suchen«, die lebendigen Überreste des antiken Griechenlands zu erkunden und dadurch gewissermaßen in die Antike zu reisen, und zwar, »indem wir seine Erde, seinen Himmel, sein Meer und seine Inseln, die verlassenen Tempel und heiligen Theater begrüßen«.4 Was der Philosoph damit im Einzelnen meinte, ist nicht ohne weiteres in eine Nicht-Heideggersche Sprache zu übersetzen, hat er doch einen eigentümlichen philosophischen Idiolekt entwickelt, der sich zum Teil am Rande der Kommunizierbarkeit bewegt. Seine Texte kommunizieren deshalb vielfach mit der Grenze ihres eigenen Gedankengebäudes, mit ihrem intern gesetzten Außen. Dennoch kann man festhalten, dass Heideggers Reise und sein Bericht im Kontext eines Bemühens um eine Re-Definition der griechischen Antike und einer philosophischen Neubestimmung der Grenzen der Antike stehen. Dieses Bemühen lässt sich in Heideggers Werk über Jahrzehnte hinweg beobachten. Andererseits wird deutlich, dass die Reise im Zusammenhang einer sehr persönlichen Annäherung an das Land der Hellenen steht. Martin Heidegger versucht, sich Griechenland anzueignen und seinen (philosophischen sowie privaten) Interessen unterzuordnen. Damit unterwirft er das antike und zeitgenössische Griechenland einer Transformation. In diesem Zusammenhang ist es allerdings bemerkenswert und interpretationsbedürftig, welche Rolle er dem antiken Gott Dionysos, dem Gott der Transgression von Grenzen par excellence, bei diesem Unternehmen zuschreibt. Denn in Aufenthalte reflektiert Martin Heidegger in kontemplativer Art und Weise seine erste empirisch-physische und nicht imaginär-denkerische Reise durch das Land der Griechen, das er in diesem Bericht, in Anlehnung an Hölderlin, als das Land »der entflohenen Götter« und »des kommenden Gottes« Dionysos bezeichnet.5 Und sein philosophischer Reisebericht endet mit einer rätselhaf3 Heidegger, Aufenthalte, 213. 4 Heidegger, Aufenthalte, 216. 5 Heidegger, Aufenthalte, 215f. – Zum Hölderlinschen und romantischen Konzept des »kommenden Gottes« Dionysos, das eine Amalgamierung zwischen Dionysos und Christus vollzieht, vgl. Frank (1982) und Frank (1989). Frank führt diese Amalgamierung, wie sie durch Autoren wie Hölderlin, Novalis oder Schelling propagiert worden ist, auf eine postaufklärerische Sinnkrise zurück und stellt sie in den geschichtsphilosophischen Kontext einer Neuen Mythologie. Er schreibt: »Die Renaissance des Dionysos-Christus als Gegenstand einer Neuen Mythologie hat ihr treibendes Motiv in der Hoffnung, das Andenken dieses Gottes sei wie kein anderes berufen, in Zeiten der Sinn-Krise, da der analytische Geist die religiöse Rechtfertigung in ihrer Substanz zu zerstören droht, eben diese Substanz – unter Verzicht auf ihre tradierte Form – späteren Geschlechtern zu retten. So jedenfalls stellt sich für Hölderlin, Creuzer und Schelling der Zusammenhang der Epoche des Sophokles/Euripides mit der eigenen dar« (Frank [1989], 117). – In gewisser Weise konstatiert auch Heidegger ab 1929 (vgl. seine Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?) eine tiefe Sinnkrise im Abendland, der er mit seinen Überlegungen zur Seinsgeschichte entgegentreten möchte.

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ten poetisch-philosophischen Evokation des antiken Gottes, die den Kulminationspunkt des Textes bildet. Im Folgenden wird es nun darum gehen zu rekonstruieren, worin Heideggers Re-Definition der griechischen Antike im Einzelnen besteht; wie er die Grenzen der Antike bestimmt und weshalb er sie so bestimmt. Dabei ist der Grenzbegriff in inhaltlicher und methodologischer Hinsicht weit zu fassen und wird auch in dieser Studie in einem weiten Sinne verwendet. Im Begriff der Grenze – ähnlich wie beim Ausdruck der Linie – überlagern sich bei Heidegger territoriale und temporale, seinsgeschichtliche und daseinsanalytisch-psychologische Dimensionen. Denn bereits bei einer kursorischen Lektüre des Berichts wird dem Leser deutlich, dass Heidegger mit seiner Reise und seinem Text vielfältige geographische, historische, intellektuelle, diskursive und poetologische Grenzen überschreitet. Um dies genauer herauszuarbeiten, wird es zum einen nötig sein, einige biographische Umstände in Erinnerung zu rufen, zum anderen sich zu vergegenwärtigen, welche Rolle Heidegger dem antiken Griechenland in seinem Werk zugedacht hat.

1. Heideggers Griechenlandreise – äußere Umstände und innere Zwänge Nach eigenen Angaben diente Heideggers Griechenlandfahrt dem »Andenken an die Abwesenheit der entflohenen Götter«.6 Es handelte sich also gewissermaßen um einen Akt, welcher der Seinsvergessenheit der modernen Welt entgegenwirken sollte. Heidegger verstand die Fahrt als einen Bestandteil eines Vordenkens, das »in den Bereich einer Ankunft« der entflohenen Götter in »ihrer gewandelten Gestalt« führen sollte.7 Sein reisend-denkendes Unternehmen war also zugleich vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientiert, überspannte damit nicht nur Räume, sondern auch Zeit-Räume – die Gegenwart der Erinnerung, der Anschauung und der Erwartung. Er wollte mit seiner Reise überprüfen, ob eine Sammlung, ein Wohnen oder ein Aufenthalt noch möglich ist, in dem die Erde und der Himmel, die Sterblichen und die Göttlichen einen relationalen Bereich und gemeinsamen Raum – das so genannte Geviert – bilden. Denn dies sei laut Heidegger in der griechischen An-

6 Heidegger, Aufenthalte, 216. – Zur Rolle der Religion und des antiken Polytheismus für Heideggers Vorstellung der Seinsgeschichte vgl. Chiereghin (1993), 207–214. Die antiken Götter waren laut Heideggers Einschätzung für die antiken Griechen, ohne dass sie vollständig sichtbar und erkennbar waren, immer anwesend. So konstruiert Heidegger eine strukturelle Homologie zwischen seiner Auffassung vom Sein und der angeblich antiken Göttervorstellung. 7 Heidegger, Aufenthalte, 216.

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tike der Fall gewesen.8 Er erwartete eine Bestätigung seiner seinsgeschichtlichen und zivilisationskritischen Überlegungen und erhoffte sich eine Bekräftigung des von ihm diagnostizierten »rätselhaften« Bezugs der »Gewaltsamkeit der modernen Welt […] zur einstigen Flucht der Götter«9 – anders gesagt: der modernen Technik zur »Seinsvergessenheit« der Moderne. Heidegger wollte die Überreste des antiken Griechenlands aufsuchen, um die Wahrheit über das griechische Dasein zu denken, zu schauen und – in einem emphatischen Sinne – zu erfahren, das griechische Dasein also erleben und reflexiv einholen. Dafür musste er sein seinsgeschichtliches Denken mit dem zeitgenössischen Land der Griechen konfrontieren. Im Reise-Gepäck trug Heidegger Homer, Pindar, die vorsokratischen Philosophen und Hölderlin bei sich. Mit diesen Dichtern und Denkern zog er sich während seiner Reise immer wieder schweigend zum sogenannten sich sammelnden Zwiegespräch zurück. Vor allem dann, wenn ihm die gesehene Wirklichkeit den Eindruck von Vulgarität, Degradiertheit oder Verwaistheit vermittelte. Die Reise führte Heidegger unter anderem nach Ithaka und Olympia, nach Korinth und Kreta, nach Delos, Athen und Delphi. Sie führte ihn an Orte, die ihn bald enttäuschten, die ihm bald angesichts der Touristenschwärme oder angesichts der wesentlich aus Heraklithplatten bestehenden Hotels im amerikanischen Leichtbaustil irreal wurden. Sie führte ihn aber auch an Orte, die ihn in einen andächtig-ekstatischen Zustand versetzten. Heidegger versuchte, sich während seiner Reise gegenüber den übrigen Touristen und Bildungsreisenden abzugrenzen. Ihn leitete auch kein wirklich touristisches, archäologisches, kulturhistorisches, wissenschaftliches oder gelehrtes Interesse, sondern ein philosophisch-denkerisches. Alle, die ein wenig mit Heideggers Denken vertraut sind und etwa seine Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929 (in der Heidegger versucht darzulegen, wie sich das Nichts in der Konfrontation mit der Angst offenbart) oder die 1951/1952 entstandene Vorlesung Was heisst Denken? kennen (in der er sein Konzept des Denkens, indem er es in die Nähe des Dichtens und Dankens rückt, gegenüber dem gängigen Verständnis von Philosophie abgrenzt), verwundert dies sicherlich nicht. Denn er war generell der Auffassung, dass zwischen dem sogenannten wesentlichem Denken einerseits und der Gelehrsamkeit, der Bildung und den Wissenschaften andererseits eine nicht überschreitbare Grenze liegt. So herrscht für ihn auch zwischen seinem Konzept des Denkens und der Wissenschaften ein unüberbrückbarer Grundgegensatz:10 Die Wissenschaften analysieren, rekonstruieren und reflektie-

8 Doch »wir Heutigen scheinen«, so schreibt Heidegger, »wie ausgestoßen aus solchem Wohnen, verloren in die Fesseln des rechnenden Planens« zu sein (Heidegger, Aufenthalte, 238). 9 Heidegger, Aufenthalte, 216. 10 Vgl. zu den kulturphilosophischen und irrationalistischen Implikationen des Heideggerschen Grundgegensatzes zwischen Wissenschaft und wesentlichem Denken Bourdieu (1988), 33–46.

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ren laut Heidegger, aber sie denken nicht, denn sie haben keinen Bezug zum Sein, sondern (ebenso wie die traditionelle metaphysische Philosophie und Ontologie) lediglich zum Seienden. Heideggers These lautet in diesem Zusammenhang: die Wissenschaft habe nie die Offenbarkeit des Seins bedacht. In Aufenthalte unterstreicht er daher auch, »daß die archäologische Forschung zwar notwendig und verdienstlich« für die historische Rekonstruktion des antiken Griechenlands sei, aber gleichwohl nicht hinreichte, um zu verstehen, »was inmitten des einst Gebauten […] waltete und geschah«.11 Dies ist laut Heidegger nur durch das seinsgeschichtliche und wesentliche Denken möglich, bzw. durch die denkende Aneignung des Gesehenen unter seinsgeschichtlichem Vorzeichen. Dies impliziert, dass positivistische, historisierende und geistesgeschichtliche Daten und Rekonstruktionen in den Horizont seinsgeschichtlicher Überlegungen gestellt werden müssen und dadurch eine Transformation erfahren. In den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts nun, auf dem Höhepunkt seines öffentlichen Ruhms, konkretisierte sich bei Heidegger der Gedanke, eine Griechenlandreise zu unternehmen, ein Vorhaben, dessen Bedeutung für ihn kaum zu überschätzen ist, vor allem, wenn man den Hemmungen und inneren Zwängen Rechnung trägt, die er überwinden musste, um solch eine Reise überhaupt zu unternehmen. Griechenland spielt nämlich nicht nur in seiner Philosophie eine wichtige Rolle, sondern stellt, wie bereits erwähnt, darüber hinaus einen privaten Traum- und Sehnsuchtsort dar, den er aber über Jahre hinweg real aufzusuchen vermied. Wie man vor allem seiner Korrespondenz entnehmen kann, betont Heidegger, dass beispielsweise »Delos […] – ohne daß ich es genau ergründen könnte – schon lange mein Traum« gewesen war.12 In seinen Briefen berichtet er auch von Tagträumen, die ihn während seiner Arbeit ereilen und in denen er den Eindruck hatte, in Griechenland zu sein. Er habe sogar die Empfindung, während seiner, wie er schreibt, »denkend-dichtenden Zwiesprachen« in Griechenland zu leben,13 mit Heraklit, Anaximander und Sophokles von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Obwohl er schon eine geraume Zeit mit der Idee gespielt hatte, eine Griechenlandfahrt durchzuführen, und obwohl Griechenland eine besondere Bedeutung für sein Denken hatte, zögerte Heidegger lange, eine Reise in das zeitgenössische Griechenland zu unternehmen, bevor er sie dann im Frühjahr 1962 tatsächlich realisierte. Bereits 1955 und 1960 hatte er weitgehende Vorbereitungen getroffen, um eine solche Reise mit Freunden und Bewunderern wie Jean Beaufret oder Erhart Kästner zu unternehmen, doch sagte er jeweils, von Hemmungen und Ängsten heimgesucht, im letzten Augenblick das Vorhaben ab. Denn: »[o]ft ist mir, als sei dieses ganze Griechenland eine einzige seiner Inseln. Es gibt keine Brücke dahin.«14 11 12 13 14

Heidegger, Aufenthalte, 222. Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 22. Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 22. Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 51.

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Lange Zeit erschien ihm Griechenland unerreichbar, denn er wusste, dass sein Griechenland nur noch bedingt etwas mit dem zeitgenössischen Griechenland zu tun hatte. Außerdem scheint Heidegger unter einer ernsthaften Phobie vor Auslandsreisen gelitten zu haben – die Angst vor der Fremde, so könnte man etwas überspitzt formulieren, schien tatsächlich eine Bedrohung seiner intellektuellen und menschlichen Charakterzüge darzustellen. Daher kommentiert seine Frau Elfride 1955 seine Scheu, sein Zurückschrecken vor der geplanten Griechenlandreise, in die römisch-ovidische Mythologie ausweichend, folgendermaßen: Es kommt ein Schlag: mein Mann will nun doch nicht. Was ich immer gefürchtet habe, ist eingetreten, seine Hemmungen sind zu gross und es hat keinen Sinn, ihn umstimmen zu wollen. Man muss ihn anders beurteilen als durchschnittliche Menschen. Er ist in den fast vierzig Jahren, die wir verheiratet sind, nie ohne mich ausserhalb Deutschlands gereist – Philemon und Baucis oder Platzangst? – ordnen Sie’s ein, wie Sie es sehen.15

Noch 1960 schrieb Heidegger seinem Freund Erhart Kästner, dem ehemaligen Sekretär Gerhart Hauptmanns und Direktor der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel:16 Es wird dabei bleiben, daß ich Einiges von ›Griechenland‹ denken darf, ohne es zu schauen. Ich muß jetzt darauf denken, das, was vor dem inneren Blick steht, noch in einem gemäßen Sagen festzuhalten. Die Sammlung dazu bietet am ehesten der heimische Ort.17

Erhart Kästner, für den Dionysos übrigens der Gott des Zeitlichen ist,18 versuchte immer wieder über die Jahre hinweg, Heidegger zu einer Griechenlandreise zu animieren und schrieb zum Beispiel in einem Brief vom 26. Februar 1960: »Sie

15 Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 26. 16 Erhart Kästner, Heideggers bevorzugter Korrespondenzpartner, um Pläne für eine Griechenlandreise zu schmieden, war ein passionierter Griechenlandreisender und hatte auch einige Bücher über das Land der Hellenen publiziert, die zwar zum zivilisationskritischen Kitsch neigten und die Heidegger dennoch oder vielleicht gerade deshalb sehr schätzte. Darunter sind zu nennen: Griechische Inseln, Kreta und Griechenland. Ein Buch aus dem Kriege. Letzteres hatte Kästner auf Anordnung des deutschen Luftwaffenkommandos während der Besatzung Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verfasst und wurde 1953 unter dem Titel Weinberge, Ölberge im Insel-Verlag in revidierter Form wieder aufgelegt. 17 Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 43. 18 Auch Erhart Kästner entwickelt Überlegungen zum Verhältnis von Sein, Zeit und dem Maskengott Dionysos, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch Walter F. Ottos Dionysos-Buch inspiriert sind, das wiederum durch Heidegger beeinflusst ist. Kästner schreibt: »Also ein Gott, der anstatt eines Antlitzes nur eine Maske besaß? Höchst paradox. Ein Gott muß doch ein Antlitz haben? Eine Maske ist aber kein Antlitz, sondern das Andere davon, sein Hohlform, sein Negatives, sein Abdruck, sein Typus; im nie betretenen Sande die Spur. Etwas erscheint, ist da, aber es erscheint in dem, was mit Gewißheit in jedem Falle nicht ist. […] Man erkennt, daß es die Gottheit des Zeitlichen ist: wie die Zeit leer ist und ihre einzige Chance Erfüllung, so ist Maske der Schrei nach etwas, das sie erfüllt. Sie ist Sehnsucht, nur Durchlaß, nur Beute von etwas anderem zu sein« (Kästner, Weinberge, Ölberge, 85f.).

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sehen, ich bin dafür, daß Sie den Traum weiterträumen und sehe immer noch Möglichkeiten seiner Erfüllung, auch dann, wenn er am Ende ein endloser erfülltunerfüllter Traum bleiben soll, und Sie auf der Traumschwelle bleiben.«19 Im Frühjahr 1962 nun überschreitet Heidegger die »Traumschwelle«, von der Erhart Kästner sprach, reist physisch und leiblich in Begleitung seiner Ehefrau und einiger Freunde nach Griechenland, konfrontiert sein imaginäres und denkend gewonnenes Griechenland-Bild mit dem Griechenland der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, überschreitet gewissermaßen die Grenze zwischen dem Imaginären und dem Realen und versucht, seine Ängste hinter sich zu lassen. In Aufenthalte gibt Heidegger auch einen Hinweis, warum er solange gezögert hat, Griechenland aufzusuchen. Dort heißt es, dass sein »langes Zögern […] aus der Furcht vor der Enttäuschung« resultiere, denn »das heutige Griechenland könnte es dem Alten verwehren, mit seinem Eigenen ins Licht zu treten«. Darüber hinaus müsse man sein »Zögern aber auch aus dem Zweifel« verstehen, »ob das dem Land der entflohenen Götter Zugedachte nicht ein bloß Erdachtes sein könnte und den Denkweg als einen Irrweg erweisen müßte.«20 Anders gesagt: Heidegger befürchtete, dass sich sein Griechenland-Bild angesichts des realen Griechenlands als Fiktion, als Wunschvorstellung und als Projektion erweisen würde – und das schien ihn massiv zu beängstigen. Doch, was hatte Heidegger Griechenland genau zugedacht, worin bestand eigentlich sein Bild des antiken Griechenlands?

2. Heideggers antikes Griechenland – der große Anfang und seine Wiederkehr Heidegger war nicht nur graecophil, sondern auch ein Graecomane, wobei sein Bild des antiken Griechenlands vornehmlich philosophiezentriert ist. Er hat sich in jeder Phase seines Werkes mit der antiken griechischen Philosophie beschäftigt, besonders aber während der 1930er Jahre und der Zeit des Nationalsozialismus.21

19 Heidegger/Kästner, Briefwechsel, 46. 20 Heidegger, Aufenthalte, 217. 21 Heidegger trägt in seiner berüchtigten Rektorats-Rede vom 27. Mai 1933 seine Überlegungen über die Verbindung von Deutsch- und Griechentum in SA-Uniform vor. In dieser Zeit, in der er die deutsche »Kampfgemeinschaft der Lehrer und Schüler« auf das Führerprinzip einschwört, die Einheit von Arbeits-, Wehr- und Wissensdienst beschwört, lautet Heideggers zentraler Gedanke, daß die Wissenschaft nur existieren kann, »wenn wir uns unter die Macht des Anfangs unseres geistig-geschichtlichen Daseins stellen. Dieser Anfang ist der Aufbruch der griechischen Philosophie. Darin steht der abendländische Mensch aus seinem Volkstum kraft seiner Sprache erstmals auf gegen das Seiende im Ganzen und befragt und begreift es als das Seiende, das es ist« (Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, 108). – Karl Löwith hat Heideggers Ausführungen folgendermaßen kommentiert: »Verglichen mit den zahllosen Broschüren und Reden, die nach dem Umsturz die gleichgeschalteten

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In diesen Zeitraum fallen seine wichtigsten Vorlesungen über den Anfang der abendländischen Philosophie, Parmenides, Heraklit, Anaximander, Platon und Aristoteles.22 Sein Bild der antiken Philosophie ist, wie Michael Theunissen glänzend herausgearbeitet hat, stark geprägt durch Nietzsches Überlegungen aus Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in der dieser eine Aufwertung der vorsokratischen oder vorplatonischen Philosophie gegenüber den Denkern der klassischen Epoche vorgenommen hatte.23 Darüber hinaus besteht Heideggers antikes Griechenland, wie Glenn Most hervorgehoben hat, vornehmlich aus den Epen Homers, den Homerischen Hymnen, den Oden Pindars und den Tragödien des Sophokles. So zitiert er in seinem Werk auch keine Dichtung, die nach Sophokles entstanden ist.24 Aspekte der bildenden Kunst oder der griechischen Religion zieht er, wie etwa in seinem Kunstwerk-Aufsatz, nur heran, um philosophische Probleme zu erläutern und zu erörtern: Sie bilden keine selbständigen Gegenstände seines Denkens, sondern sind stets Mittel zum Zweck. Politische, soziale und ökonomische Aspekte des antiken Griechenlands spielen bei Heidegger praktisch keine Rolle. Aber auch die hellenistische Philosophie, den Skeptizismus und Kynismus, die Stoa, den Epikureismus und den Neoplatonismus ignoriert er fast vollständig. Sie sind für ihn, ebenso wie die römische Antike, lediglich Dekadenzerscheinungen, die ihm sowohl für sein existenzial-ontologisches als auch für sein seinsgeschichtliches Denken unproduktiv erscheinen.25

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Professoren von sich gaben, ist Heideggers Rede höchst philosophisch und anspruchsvoll, ein kleines Meisterwerk an Formulierung und Komposition. Gemessen mit dem Maßstab der Philosophie ist sie eine einzige Zweideutigkeit, denn sie versteht es, die existentialontologischen Kategorien dem geschichtlichen ›Augenblick‹ (Sein und Zeit, § 74) in einer Weise dienstbar zu machen, daß sie den Anschein erwecken, als könnten und müßten ihre philosophischen Absichten mit der politischen Lage a priori zusammengehen und die Freiheit des Forschens mit dem staatlichen Zwang. Der Arbeits- und Wehrdienst wird eins mit dem Wissensdienst, so daß man am Ende des Vortrags nicht weiß, ob man Diels’ Vorsokratiker in die Hände nehmen soll oder mit der SA marschieren« (Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, 33). – Als weiteren Kommentar über die Verbindung zwischen Heideggers Engagement für die griechische Philosophie und den Nationalsozialismus vgl. Faye (2009); gegen Fayes Argumentation und Analyse der Dokumente vgl. Zabrowski (2010). Vgl. zu Heideggers Lektüre dieser griechischen Philosophen die sehr gute überblicksartige Darstellung bei White (2005). Vgl. dazu Theunissen (2001). Vgl. Most (2002), 89–91. – Most betrachtet Heideggers Aneignung der griechischen Antike zu Recht als ein identifikatorisches Projektionsphänomen, in dem die modernen Deutschen und die antiken Griechen ineinander übergehen, so dass er etwas überspitzt seine Überlegungen folgendermaßen zusammenfasst: »Insofar as Heidegger’s Germans are encouraged to model themselves upon the Greeks, Heidegger’s Germans are Greeks in Lederhosen; but since Heidegger’s Greeks are in fact an idealized projection of specifically german virtues […], Heidegger’s Greeks may be described as being Germans in togas« (ebd., 95). Vgl. zum Dekadenzdenken bei Heidegger Chiereghin (1993).

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Das antike Griechenland – das war für Heidegger ein weit hinter seine eigene Zeit, in die Antike und in die Vorzeit zurückreichender, aber auch in die Zukunft weisender Ort, an dem sich die Grenzen zwischen Gewesenem, Gegenwärtigem und Kommendem aufhoben, an dem eine andere datenlose Temporalität herrschte. Hier, in Griechenland, hatte, wie Heidegger in seiner Vorlesung Die Grundfrage der Philosophie aus dem Jahre 1933 betont, der »Anfang des geistig-geschichtlichen Daseins des abendländischen Menschen« stattgefunden.26 Deshalb war seine Reise so etwas wie eine Wallfahrt zum Anfang der abendländischen Geschichte und zum Ursprung des Denkens. Griechenland, die Griechen und das Griechentum repräsentierten für ihn aber nicht nur den Ursprung des Abendlandes und der Philosophie, Griechenland war nicht nur der Geburtsort des »anfänglichen Menschentums«, der Geschichte und des Daseins überhaupt,27 es war das Gegenbild zur technisierten, atomisierten und seinsvergessenen Moderne, und auch der Fluchtpunkt von Heideggers seinsgeschichtlichem Denken nach der so genannten Kehre: Das Sein sollte nun nicht mehr, wie noch in Sein und Zeit, von der Zeitlichkeit des Daseins her gedacht werden, sondern umgekehrt, wie er in seinem drei Monate vor seiner ersten Griechenlandfahrt aufgenommenen Radiovortrag Zeit und Sein betont, sollte das Dasein von der Temporalität des Seins und vom Sinn des Seins her gedacht werden – auf die Weise also, wie es nach Heideggers Lektüre Parmenides, Heraklit und Anaximander, ohne es freilich selbst zu wissen, bereits getan hatten und wie die Griechen es unter anderem in der Figur des Dionysos versinnbildlicht hatten.28 26 Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, zitiert nach Marten (1991), 154. 27 Vgl. dazu das Kapitel »Das anfängliche Menschentum« in Marten (1991), 153–170. 28 Heideggers Auffassung des Verhältnisses von Sein und Zeit ist von Autoren wie Michael Theunissen, am konsequentesten und schärfsten aber wohl von Ernst Tugendhat analysiert und kritisiert worden. Vgl. das monumentale Werk von Michael Theunissen über Pindar, in dem er sich intenisiv mit Heideggers Zeitverständnis auseinandersetzt [Theunissen (2000)]; zur Verteidigung der Heideggerschen Lektüre Pindars und der damit verbundenen Konzeptualisierung der Zeit vgl. Figal (2000). – Unabhängig von dieser Debatte um das richtige Zeitverständnis, das Heidegger aus seiner Beschäftigung mit der griechischen Philosophie und Dichtung erarbeitet und in seine Sprache umgesetzt hatte, die sich noch vollkommen in den Bahnen bewegt, die Heidegger selbst mit seinem Denken und seinem philosophischen Idiolekt vorgegeben hat, sind folgende grundlegende heidegger-kritische Studien von Ernst Tugendhat zu beachten, die das Heideggersche Denken bezüglich der wechselseitigen und sprachbedingten Bezogenheit von Zeit und Sein auf eine rational und intersubjektiv überprüfbare Basis stellen: Tugendhat (1992), Tugendhat (2001b). Hier heißt es zusammenfassend: »Alles Seiende auf ein Nichtsein hin zu sehen, alles Lebende auf sein Vergehen, ist an und für sich überhaupt kein neuer Gedanke, und so sehr man ihm an und für sich zustimmen mag, scheint es mir doch gänzlich abwegig zu sein, von ihm her gerade das Sein zu verstehen. Nicht umsonst hat sich Heraklit, derjenige Philosoph, an dem man sich hier am ehesten erinnert fühlt, gerade nicht am ›Sein‹ orientiert. Auch wenn man der Meinung ist, daß es wesentlich für alles Seiende ist, zu entstehen und zu vergehen, so ist doch eben das nicht ein Aspekt des ›ist‹. Ich komme damit auf meine anfangs gemachte Behauptung zurück, daß der

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Heideggers Behauptung, dass sich das richtige Verständnis des Daseins aus der Betrachtung der Temporalität und dem Sinn des Seins ergibt, resultiert vor allem aus der Analyse der Sprache, der semantischen Wortfeldanalyse zum Ausdruck Sein und der Verbindung zwischen der prädikativen und identifizierenden Verwendung des Wortes »ist« sowie aus dem Übergang vom adverbialen »nichts« zum Substantiv »das Nichts«, das er in Was ist Metaphysik? analysiert und inszeniert hatte. Zu erkennen, dass sich das Dasein aus der Temporalität und dem Sinn des Seins verstehen lässt, ist Heidegger zufolge allerdings nur möglich, wenn man sich von der metaphysischen und logischen Sprachbetrachtung und Begriffsbildung mit ihrer Fixierung auf die Propositionalität und Repräsentation sprachlicher Aussagen distanziert und diese theoretisch überwindet.29 So stellt sich die gegenseitige Bezogenheit des Seins und des Nichts, wie er sie in Was ist Metaphysik? umkreist, auch in dem zunächst absurd wirkenden Satz dar, dass »das Nichts selbst nichtet«.30 Inhaltlich verdichtet dieser Satz, wie Jakob Taubes,31 auch und gerade in scharfer Abgrenzung zu Rudolph Carnaps karikaturhaftem Umgang mit dem Heideggerschen Satz,32 gezeigt hat, die im Modus des »Andenkens« sich zei-

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Sinn des ›ist‹ zeitlos ist. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, woran sich Heidegger orientiert, woran er sich anmißt, wenn er behauptet, dieser Bezug zur Verborgenheit gehöre zum Sein. Zu welchem Sein? Sicher nicht zu dem, das in unserer Sprache vorkommt. Und so scheint Heidegger am Ende unsicher geworden zu sein, ob das, was er im Auge hat, überhaupt noch mit dem Wort ›Sein‹ zum Ausdruck zu bringen ist. So sagt er in dem Seminar über den Vortrag ›Zeit und Sein‹, daß, ›indem das Sein als Ereignis in den Blick kommt, es als Sein verschwindet‹ (S. 46). Heidegger war also von der These ausgegangen, daß man das Sein aus der Zeit verstehen müsse, und am Ende ist er zu dem Ergebnis gekommen, das weder das Wort ›Zeit‹ noch das Wort ›Sein‹ das wiedergebe, was er im Auge hat. Was für ein trauriges Ende eines einst so stolzen und faszinierend klingenden Programms!« [Tugendhat (2001b), 198]. – Tatsächlich interpretiert Heidegger beispielsweise auch den Heraklitschen logos primär in einem ontologisch und seinsgeschichtlich zu verstehenden Sinne einer »Sammlung«, vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung von Bollack/Wismann (1976). Ob dies unter philosophischen Gesichtspunkten sinnvoll und wünschenswert wäre, ist eine andere Frage. Sicherlich gibt es gute (philosophische) Gründe, an Heideggers Entscheidung zu zweifeln, die Propositionalität der Sprache zu eskamotieren. Gerade aus sprachanalytischer Hinsicht ist dieser Zweifel vielfach geäußert worden. Vgl. dazu Tugendhat (1976), 92–106. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 37. Vgl. Jacob Taubes (1996). Aufschlussreich ist, dass Taubes auch auf Tugendhats frühen Aufsatz über das »Sein und das Nichts« eingeht, in dem sich Tugendhat mit Parmenides, Hegel und Heidegger und mit der Fomel vom Sein und vom Nichts auseinandersetzt. Taubes kann jedoch keine systematische Widerlegung des von Tugendhat vorgebrachten Arguments vorlegen, dass Heideggers Rede vom Nichtsein und vom Nichts auf einen universal verstandenen Existenzsatz rekurriert, der »es gibt nichts« lautet und der letztlich aus der Hegelschen Logik stammt. Diese Formel übernimmt Heidegger laut Tugendhat unreflektiert, ohne zu erkennen, daß es sich dabei um eine logisch »absurde Konstruktion« (Tugendhat) handelt (vgl. ebd., 160–162). Vgl. Carnap (1931/1932). Zur Debatte Carnap/Heidegger im Zusammenhang einer Überwindung der Metaphysik vgl. Stauffacher (2007).

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gende Grenze zwischen den für Heidegger bipolaren und temporalen Modi der Anwesenheit des Seins und der »Seinsvergessenheit«, die sich in den Bedeutungen der Wörter ausdrücken und die in gewisser Weise vorlogisch und vorsprachlich die Welt erschließen und so auch erschlossen werden müssen. In Was ist das Sein selbst? schreibt Heidegger: »Weil ich aber früh erkannte, daß bei den Griechen, ohne daß sie darüber nachdachten, das Sein als Anwesenheit (d.h. aus der Zeit) bestimmt wurde, ergab sich mir der entscheidende Wink, daß das Sein in irgendeiner verborgenen Weise in der Lichtung der Zeit steht«.33 Zwar ist zunächst gar nicht offensichtlich, dass Anwesenheit ein Modus der Zeit ist, doch versteht es Heidegger so – eher intuitiv, denn er liefert keine wirklich rationale Begründung dafür. Andererseits ist Heideggers Intuition werkimmanent gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass er die Grenzen zwischen Raum und Zeit in seiner Fundamentalontologie aufgehoben, bzw. ineinander hatte gleiten lassen. Anders gesagt: Versteht man die Zeit als räumliche Größe und umgekehrt den Raum als zeitliche, dann erkennt man, dass das Sein, bzw. der Sinn des Seins im Verstehenshorizont (das ist mit dem Ausdruck Lichtung bei Heidegger gemeint) der Zeit steht.34 Dies ist aber nur in den Zeitmodi der gegenwärtigen Vergangenheit, der gegenwärtigen Gegenwart und der gegenwärtigen Zukunft und ihrer Überlagerung möglich. Die lineare Zeitvorstellung muss daher aufgehoben sein. Die theoretische Ausarbeitung dieser Vorstellung hatte Heidegger bereits in Sein und Zeit mit seinem dionysisch-gnostisch-inspirierten Konzept der Ekstase der Zeit unternommen,35 womit er eine horizontale Einheitlichkeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft postuliert, die er als transzendentale Bedingung des Daseins entwirft: »Die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit, das heißt die Einheit des ›Außer-sich‹ in den Entrückungen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart, ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Seiendes sein kann, das als ein ›Da‹ existiert«.36 Die physikalischen, linearen, kosmischen, usw. Zeitvorstellungen, die in den Wissenschaften und im Alltagsverständnis vorzufinden sind, sind für Heidegger von dieser ekstatischen Temporalität abgeleitet und damit sekundär. Diese theoretische Überlegung meinte er, wie gesagt, bereits bei den Griechen vorgefunden zu haben. Doch Heidegger geht noch einen Schritt weiter, indem er die Zeitlichkeit in radikalster Weise ontologisiert. Dies tut er wiederum 33 Heidegger, Was ist das Sein selbst?, 424. 34 Auch Ernst Tugendhat vermutet diesen Gedanken bei Heidegger. Er schreibt: »Heidegger muß die Intuition gehabt haben, daß der Zeitlichkeit des Daseins eine entsprechende Zeitlichkeit des Seins bzw. des Sinns des Seins korrespondiert« (Tugendhat [2001a], 23). 35 Karl Heinz Bohrer wird Heideggers Konzept der Ekstasen der Zeit aufgreifen und als ästhetische Kategorien der Plötzlichkeit und des absoluten Präsens für die moderne und modernistische Literatur weiterentwickeln, indem er es mit romantischen und Nietzscheschen Vorstellungen über die aporetische Zeitstruktur der modernen Kunstwerke und des Dionysischen verbindet. Vgl. Bohrer (1981), vor allem 43–85 und Bohrer (1994), 8–31. 36 Heidegger, Sein und Zeit, 350.

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in einem transformierenden Rekurs auf die antike griechische Philosophie, denn es ist zu betonen, dass für Heidegger die nach seinem Dafürhalten relevante griechische Philosophie, die »mit Aristoteles groß zu Ende« gegangen sei,37 nichts anderes als Ontologie ist, also eine Befragung und Analyse des Seienden in seinem Sein. Wie aus Heideggers Parmenides-Vorlesung auch hervorgeht, bezeichnen die Ausdrücke die Griechen oder das Griechentum daher für ihn nicht nur oder primär eine historische, geographisch-lokalisierbare und ethnische Gruppe, sondern sind ein ontologischer Titel und Index. Er re-definiert also die griechische Philosophie und Antike unter überzeitlichen ontologischen Vorzeichen, was auch geschichtliche und geschichtsphilosophische Konsequenzen hat. »Immer klarer wird mir«, so schreibt Heidegger 1931 an Elisabeth Blochmann, »daß u. wie der Anfang unserer abendländischen Philosophie für uns wieder Gegenwart werden muß«.38 Heidegger traut nur sich und den Deutschen zu, die in die Zukunft weisenden Griechen der Moderne zu sein,39 indem sie das Denken der frühen griechischen Philosophie in ihrer Anfänglichkeit oder Ursprünglichkeit wiederholen und gegenwärtig machen.40 In gewisser Weise kristallisiert sich bei Heidegger im Zeichen des so genannten eigentlichen und wesentlichen Denkens eine geschichtsphilosophisch fundierte allelopoetische Dialektik heraus, die sich in einer Antikisierung und Ontologisierung der Moderne und umgekehrt in einer Modernisierung und Projektierung in die Zukunft der griechischen Antike ausdrückt. Es existiert für Heidegger so etwas wie eine aus der Antike und dem griechischen Denken stammende Hintergrundstrahlung in der modernen Welt, die nun aber nicht mehr über den Zeitbegriff, sondern über die Seinsfrage vermittelt ist, so dass die Kluft zwischen damals und heute und die Grenzen zwischen dem Einst und Jetzt zwar nicht historisch vollständig, aber in seinsgeschichtlich-ontologischer Hinsicht doch aufgehoben werden können. Daher bleibt Griechenland, so Heidegger,

37 Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 18. 38 Heidegger/Blochmann, Briefwechsel, 46. 39 Rainer Marten resümiert Heideggers Vorstellung folgendermaßen: »First of all, Heidegger needs ›the Greeks‹ for the creation of a historical dimension by means of which a Western Being History (Seinsgeschichte) and a Being-historical (seinsgeschichtliche) mission for the ›the Germans‹ could be represented. Second, he needs them in order to obscure and to legitimize his ›essential‹ ›German word‹ and his ›essential‹ ›German thinking‹. A third reason for his making it seems that he has believably employed ›the Greeks‹ lies in Heidegger’s intention, never concealed, to make his Being-thinking seem indisputable and irrefutable« (Marten [1992], 184). 40 Heidegger verbindet diesen Gedanken mit einer (rätselhaften) Vorstellung von Gewalt und Opferbereitschaft, die nur unzureichend mit dem nationalistischen Zeitgeist der 1930 Jahre erklärt werden kann, sondern in seiner phantasmagorischen Ontologisierung der abendländischen Geschichte strukturell verankert zu sein scheint. Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen in Bollack (2003), 165f.

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der Anfang, der nach vielfältigen Wandlungen die technische, wissenschaftlich-industrialisierte Welt des gegenwärtigen Zeitalters bestimmt. Dessen Geschichtsgang wird dadurch mitentschieden, ob das Verhältnis zum Anfang ein vergessendes bleibt oder ein andenkendes wird. Die Griechenlandfahrt muß den Kurs solcher Besinnung einhalten, wenn sie anders sein soll als eine Vergnügungs- und Bildungsreise.41

Durch die Rückbesinnung und Vergegenwärtigung des Anfangs der abendländisch-griechischen Philosophie hatte Heidegger seine Überlegungen zur Seinsfrage darüber hinaus zu einer Lehre vom geschichtlichen Aufenthalt des Menschen entwickelt, worauf auch der Titel seines Reiseberichtes verweist. Auf diese Weise hatte er sowohl die Geschichte als auch die Zeit, indem er sie seinsgeschichtlich als An-wesen versteht, verräumlicht. Anders und in Heideggers Idiolekt gesagt: Das Sein ist nicht einfach, sondern es west an, und zwar, indem es den Menschen an-spricht, an-blickt oder an-geht. Hier findet sich auch der Rückbezug zu seinem früheren Entwurf des Daseins als eines In-der-Welt-Seins, in der die Räumlichkeit gemeinsam mit der Zeitlichkeit zu einer Grundstruktur des menschliches Daseins wurde, so dass Vorhandenes und Zuhandenes, also die Dinge und Tatsachen der Welt, entstehen konnten. Auch Dionysos steht für Heidegger im Bereich des Anwesens, denn »[a]nwesend west dieser Halbgott ab, und abwesend west er an«,42 und vermittelt dadurch die Struktur des Seins. Aber wie west es, das Sein, an? Nun, indem es für denjenigen, der in die Welt blickt, ins Sichtbare tritt, indem man also beispielsweise das Meer, die Berge, die Erde, den Himmel, die Tempel, Tiere, Menschen – und die Götter – sieht,43 all das also, was Heidegger sich von seiner Griechenlandfahrt erhoffte, von dem Land, dem er sich im Wesentlichen bislang nur im Denken hatte nähern können. In diesem Zusammenhang hat das Sein eine, man könnte sagen, naturphilosophische Qualität, die sich für den Menschen in der Unverborgenheit oder Lichtung des Seienden offenbart, womit, etwas prosaischer gesprochen, nichts anderes gemeint ist, als dass der Mensch versteht und Sinnzusammenhänge erkennt, aber weniger im Sinne einer intellektuellen, begrifflichen, den kritischen Verstand einsetzenden Hinsicht als vielmehr in einer besinnlichen und gelassenen Haltung des Empfangens und Andenkens. Denn laut Heidegger ist das Sein einerseits die Hervorbringung alles Seienden, andererseits die Erkenntnis dieser Hervorbringung. Dies ist nur dem Menschen möglich, denn nur er ist weltbildend. Anders gesagt: ohne Menschen kein Sein und ohne in den Bereich des seinsgeschichtlichen Denkens zu treten, gibt es keinen wahren oder eigentlichen (geschichtlichen) Aufenthalt. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum die Frage nach dem Wesen der Technik, in der 41 Heidegger, Aufenthalte, 235. 42 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 189. 43 Vgl. »Der Sachverhalt ist uns gewiesen: Der Mensch im Anblick des Anwesenden. […] Im Beispiel gesprochen: Menschen an der Küste angesichts des Meeres. ›Angesichts‹ meint hier doch: während sie das Meer zu sehen bekommen und ansehen« (Heidegger, Feldweg-Gespräche, 182).

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die potentielle Selbstauslöschung des Menschen angelegt ist, bei Heidegger aufs engste mit der Seinsfrage verbunden ist. Heidegger verbindet im Begriff des Aufenthalts, den er am ausführlichsten in seinen 1944/1945 entstandenen Schriften, also als die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg absehbar war, entwickelt hat, phänomenologische, fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Überlegungen miteinander. Er schreibt: Doch was ich Ihnen jetzt erläutern könnte, wird Ihnen gekünstelt vorkommen, was auch nicht zu verwundern ist, weil der Mensch es verlernt hat, dem geheimnisvoll wirkenden Vermögen der Sprache zuzuhören. […] Solches meint die Wendung »im Anblick des Anwesenden« auch, aber eigentlich sagt »im Anblick«, daß das Anwesende uns anblickt, so daß wir uns in diesem Anblick aufhalten, so zwar, daß er uns zugleich enthält, bei sich verwahrt, uns, die wir uns in diesem Enthalt und zu dem, was er uns aufbehält, verhalten: Aufent-Halt. […] Demnach ist der Aufenthalt zum selben Sache dessen, was den Menschen – ihn anblickend – anwest, weil enthält, und Sache des Menschen, der in solchem Enthalt und Anblick sich aufhält.44

Die Betonung des Schauens und der Sichtbarkeit zeigt übrigens das phänomenologische Erbe auch nach der so genannten Kehre bei Heidegger.45 Das Sein erscheint daher wie auch das »Vergangene, das Gegenwärtige, das Kommende« – wie Heidegger schreibt – »in der Einheit eines je eigenen An-wesens«.46 Im Anwesen zeigt sich für Heidegger, dass das Kommende, die Zukunft, und das einzelne Dasein bereits unsichtbar im Vergangenen vorweggenommen sind. Was Heidegger mit dem An-wesen in historischer Hinsicht meint, bzw. welche Bedeutung dies für sein Verständnis von Geschichte hat, kann kurz mit einer anschaulichen Passage aus Aufenthalte erläutert werden, in der er über den Ausgangspunkt seiner Reise – Venedig – reflektiert: Um viele Jahrhunderte später geschichtlich und dadurch uns zeitlich näher als das Griechenland, bleibt Venedig ohne wegweisende Kraft. Es ist zum Objekt der Historie, zum Reizbild rastloser Schriftsteller, zum Tummelplatz internationaler Kongresse und Ausstellungen, 44 Heidegger, Feldweg-Gespräche, 181f. 45 Es ist sehr wichtig zu sehen, dass Heidegger in seinem Spätwerk eine semantische Kette entwickelt, die folgendermaßen aussieht: Sein – An-wesen – An-wesenheit – Aufenthalt – Gegenwart – Zeit. Mit dieser Sequenz meint Heidegger, sein seinsgeschichtliches Denken über die Evokation bestimmter Wörter, die sich angeblich gegenseitig erläutern, schließen oder abdichten zu können. Die Seinsfrage kann auf diese Weise zwar nicht klar und distinkt beantwortet werden, doch das ist laut Heidegger kein Verlust, denn ihm geht es darum ja gar nicht mehr. Bereits der Versuch, die Frage nach dem Sein begrifflich zu beantworten, stellt für ihn einen Rückfall in die metaphysische und logische Tradition der Philosophie dar, die er überwinden und destruieren wollte, da sie auf diese Weise das Sein zu einem Gegenstand des traditionellen philosophischen Denkens und damit zu etwas Seiendem machen würde. Aber vor dem Hintergrund seiner seinsgeschichtlichen Sequenz, die er über die eben angeführten Grundworte entwickelt hat, meint er die Seinsfrage überhaupt in ihrem doppelten Einst als Ehemaliges und als Zukünftiges in einem besinnenden Gestus zu be-denken und erahnbar zu machen. 46 Heidegger, Was heisst Denken?, 92.

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zum Raubstück der Fremdenindustrie herabgesunken. […] Sogar der Gottesdienst im Dom am Palmsonntag, wo noch am ehesten eine lebendige Überlieferung erwartet werden konnte, wirkt in seiner nachlässigen Liturgie wie eine Schaustellung. Veraltet alles, jedoch nicht alt; Vergangenes, aber kein Gewesenes, das sich in ein Bleibendes versammelt, um sich den Wartenden neu zu schenken. […] Solches zu sagen, mag historisch ungerecht sein, geschichtlich ist es notwendig. Über der Historie steht die Geschichte. In der Geschichte waltet das Geschick.47

Im Gegensatz zu Griechenland, das den Ursprung des Abendlandes für Heidegger darstellt, hat Venedig also keine wegweisende Kraft, weist keine Verbindung zum Sein auf und west deshalb auch nicht an. Venedig ist laut Heidegger lediglich Teil der Historie, nicht der Geschichte, die für ihn immer Seinsgeschichte ist und metaphorisch im Bild des »nächtlichen Meeres« versinnbildlicht wird, »dessen uralter Wellengang unbekümmert um das moderne Motorschiff seinen Gesetzen folgt«.48 Hier wird deutlich, dass das Sein für Heidegger nicht zuletzt eine geschichtsmächtige Kraft ist: In der Geschichte waltet die unpersönliche und über alles verfügende Macht des Seins, die alles Wesentliche durch den Menschen hervorgebracht und gelenkt hat. Venedig kann daher auch nicht, laut Heidegger, zu einem Ort der Sammlung werden, der in eine mögliche Zukunft weist, denn dafür müsste es nämlich zu einem »Rückgang in das geschichtlich Gewesene« führen, aber auch »zum Vorblick […] in das erst Kommende, das uns längst angeht. […] Denn das Wesen der Geschichte bestimmt sich aus dem, was uns Aufenthalt heißt«.49 Nimmt man diese Heideggerschen Gedanken für die Frage nach den Grenzen der Antike auf und ernst, dann bestimmen sich die Grenzen der Antike nicht historisch, territorial oder epochal, sondern zum einen durch das, was sie uns möglicherweise über das Kommende, die Zukunft, zu sagen haben, zum anderen durch das Verhältnis, in das wir zur Antike treten wollen, wie wir uns also zu ihr verhalten wollen. Die zentrale Frage lautet nämlich für Heidegger nicht: Wo liegen die Grenzen der Antike, oder was ist die Antike, an sich oder für uns? Die zentrale Frage, die das Heideggersche Theorem des Aufenthalts aufwirft, lautet vielmehr: Wie wollen wir uns, als moderne Menschen, in Bezug auf die Antike verstehen?50 Die Beantwortung dieser Frage bildet den Rahmen Heideggers Bild des antiken Griechenlands.

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Heidegger, Aufenthalte, 217f. Heidegger, Aufenthalte, 218. Heidegger, Feldweg-Gespräche, 184. In ihrem apologetischen Beitrag zu Heideggers Griechenlandreise verstehen Julia Pütz und Jens Meissner Heideggers Reise und sein Antikebild als eine Antwort auf »die Rastlosigkeit der Menschen in einer durch die Globalisierung zusammenwachsenden Welt« (Pütz/Meissner [2004], 177).

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3. Heideggers seinsgeschichtliche Dionysos-Auffassung Heideggers seinsgeschichtliche Aufwertung und Ontologisierung der griechischen Antike und des griechischen Daseins spiegelt sich auch in seinem Dionysos-Bild wider. Außerdem spielt Dionysos, der paradigmatische Gott der Ekstase, Entgrenzung, Transgression und Reise,51 in Heideggers philosophischen Reflexionen über die Zeitlichkeit und Räumlichkeit – indirekt lassen sich bereis in seinem Konzept der »Ekstasen der Zeit« aus Sein und Zeit dionysische Spuren identifizieren52 – eine wichtige Rolle, ebenso wie in Heideggers seinsgeschichtlicher An51 Mythisch sind diese Dimensionen des Reisens und der Heimkehr auch von Dionysos, dem emblematischen Gott des Theaters, des Weins, der Ekstase, der Überschreitung, der Entgrenzung und des Reisens bekannt. Zwar ist Hermes, der Götterbote, ständig unterwegs, doch scheint kein anderer antiker Gott, wenn man der mythologischen Tradition folgt, so sehr in der Welt herumgekommen zu sein wie Dionysos. Er ist beispielsweise in der Tradition sowohl als sinnenfreudiger Bacchus Indicus berühmt, als auch als Eroberer Persiens und Arabiens, sowie ebenso als erbarmungsloser Zerstörer des thebanischen Königshauses und als Jagd-Objekt, das selbst getötet wird. Nachdem Dionysos die damalige bekannte Welt bereist hatte und in Menschengestalt getarnt in die Geburtstadt seiner Mutter Semele zurückkehrte, um seinen Kult einzuführen, wie etwa Euripides, Diodorus Siculus und Nonnos übereinstimmend und sich ergänzend in ihren jeweiligen Werken betonen, zeigt er seine göttliche Macht und Gewalt und vernichtet Pentheus, den Herrscher über Theben, nachdem dieser sich ihm widersetzt hatte. – Die Anwesenheit des von seinen Reisen heimgekehrten Dionysos überwindet die traditionell vorherrschenden politischen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Dionysos dynamisiert die alten Regeln und Grenzen und etabliert neue, exzentrische, die auch die Zeitlichkeit und die Räumlichkeit betreffen. Der französische Religionshistoriker und Anthropologe Jean-Pierre Vernant hat daher in Anlehnung an seinen Lehrer Louis Gernet geschrieben, »daß Dionysos […] sogar in der Welt der olympischen Götter, in die er aufgenommen wurde, die Gestalt des Anderen verkörpert. […] Dionysos stellt […] die Ordnung in Frage; er sprengt sie, indem er durch seine Gegenwart einen anderen Aspekt des Heiligen enthüllt, der nicht mehr regulär, stabil und festgelegt ist, sondern fremd, ungreifbar und verwirrend. Als einziger griechischer Gott verfügt er über die Macht der maya, der Magie, und steht über allen Formen, entgeht allen Definitionen, nimmt alle Aspekte an, ohne sich auf einen festlegen zu lassen. Wie ein Zauberkünstler spielt er mit dem Schein, verwischt die Grenzen zwischen dem Phantastischen und dem Realen. Allgegenwärtig, ist er niemals dort, wo er ist, immer sowohl hier als auch anderswo und nirgends präsent. Sobald er erscheint, verschwimmen die klaren Kategorien, die der Welt Zusammenhalt und Rationalität verleihen, bis sie verschmelzen und ineinander übergehen […]« (Vernant [1995], 88). Dies liegt nicht zuletzt an der besonderen epiphanischen Qualität, die diesem Gott zugesprochen und von so unterschiedlichen Forschern wie Walter F. Otto, Marcel Detienne oder Albert Henrichs immer wieder in ihren Studien betont worden ist; vgl. Otto (1931); Detienne (1995), vor allem 18–33; Henrichs (1993). Diese partikulare epiphanisch-ekstatische Qualität weist durchaus Parallelen auf zu Heideggers Bestimmung der Zeitlichkeit, die er als Grundbedingung des Daseins folgendermaßen auf den Punkt gebracht hat: »Nur auf dem Grunde der ekstatisch-horizotalen Zeitlichkeit ist der Einbruch des Daseins in den Raum möglich« (Heidegger: Sein und Zeit, 369). 52 Denn die »Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit. Sie ›ist‹ mit dem Außer-sich der Ekstasen ›da‹« (Heidegger, Sein und Zeit, 365). Die Eksta-

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eignung der Hölderlinschen Dichtung, der damit zusammenhängenden möglichen dichterisch-denkenden Verwindung der Metaphysik sowie in seinem Sprachverständnis und seiner Konzeption des An-wesens.53 Und dies, obwohl er ihm keine gesonderte Schrift gewidmet hat. Dionysos ist für Heidegger kein heraklitisch-nietzscheanischer Gott des Werdens, sondern ein Künder des Seins.54 Er ist laut Heidegger derjenige, der überhaupt die Spur des Seins, »die Spur der entflohnen Götter hinab zu den Götterlosen« – das heißt zu den (seinsvergessenen) Menschen – bringt.55 Dionysos steht bei ihm nicht primär für die Überschreitung von Grenzen, wohl aber für die Dynamisierung von Räumen, vornehmlich von Räumen des Denkens, in denen den Menschen (wohlgemerkt vermittelt durch Hölderlins Dichtung und sein eigenes Denken) die metaphysische Unbehaustheit und ontologische Seinsvergessenheit verdeutlicht werden soll. So weist Heidegger ihm auch einen Platz zwischen den Göttern und den Menschen zu: Dionysos ist für Heidegger ein Vermittler und ein Medium des Seins und gleichsam selbst ein Grenzphänomen. Er charakterisiert Dionysos bezeichnenderweise als Halbgott, da er der mythologischen Tradition zufolge eine sterbliche Mutter und einen göttlichen Vater hatte sowie selbst sterblich und unsterblich war,56 gewissermaßen zwei unterschiedlichen Seinsordnungen zugehörte, wenn man die Überlegungen der traditionellen metaphysischen Ontologien bemühen möchte. Obwohl Dionysos für Heidegger primär ein griechischer Halbgott und kein Gott ist, emphatisiert er ihn wie keine andere aus der Kult- und Mythentradition überlieferte Figur: »Dionysos ist nicht nur ein Halbgott

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sen der Zeit sind für Heidegger das Fundament und die unhintergehbare Grenze jeglicher Weltkonstruktion. Zugleich deutet sich dadurch bei Heidegger, und das möchte ich hier ausdrücklich betonen, eine ekstatisch-dionysische Grundierung jeglichen Daseins an. Heideggers Beitrag für eine postkantianische Raumphilosophie ist bereits vielfach gewürdigt worden (vgl. dazu Günzel [2007] und Quadflieg [2009)]), denn indem er den Gedanken der Intentionalität des Bewußtseins in die existenziale (und weniger existentielle) Kategorie der Erschlossenheit übersetzte, womit er die Beziehung des Menschen zum Seienden meinte, konnte er klar machen, daß der Raum bzw. die Räumlichkeit eine der Grundstrukturen des Daseins überhaupt bilden. Dies ist freilich nur der Fall, wenn die Räumlichkeit gemeinsam mit der Tatsache bedacht wird, daß der Mensch immer eine Beziehung zur Vergangenheit und zur Zukunft hat, die – und das ist besonders wichtig für das Verständnis der Heideggerschen Fundamentalontologie – auf »der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit« gründet, die ein räumliches Da konstituiert (Heidegger, Sein und Zeit, 365). Auf Heideggers komplexe und keineswegs widerspruchslose Auseinandersetzung mit Nietzsches Dionysos-Bild und seinem Konzept des Dionysischen kann ich hier nicht näher eingehen, da es zu weit vom Thema des vorliegenden Aufsatzes wegführen würde, denn Heidegger thematisiert Nietzsches Dionysos im Kontext seiner Erörterung des Willens zur Macht und seiner Vorstellung von der Vollendung der abendländischen Metaphysik, die sich in Nietzsches Denken manifestiere. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 188. Vgl. zur Sterblichkeit und zum göttlichen Status des Dionysos das Kapitel »The Death of Dionysos« in Seaford (2006), 84–86; sowie Schlesier (2007).

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unter anderen, sondern der ausgezeichnete«.57 Und durch sein »ausgezeichnetes Symbol« – die Maske – drücke dieser Halbgott,58 im besonderen Maße die »Seinserfahrung der Griechen« aus,59 womit Heidegger die ursprüngliche und reziproke Bezogenheit von Sein und Nichtsein, von Verborgenheit und Unverborgenheit des Seins meint, die wie keine anderen Begriffe seinen philosophischen Idiolekt umgrenzen, bestimmen und strukturieren. Vor diesem Hintergrund wird noch einmal deutlich, dass Heidegger sein Nachdenken nicht eigentlich als Philosophieren verstand, sondern als wesentliches Denken, das um nichts anderes und geringeres als um Leben und Tod kreiste,60 so dass er auch schreiben kann, dass Dionysos »das Ja des wildesten, im zeugerischen Drang unerschöpfbaren Lebens« und zugleich »das Nein des furchtbarsten Todes der Zernichtung« sei.61 Die reziproke Bezogenheit des Seins und des Nichtseins, des Lebens und der »Zernichtung« stellen daher für Heidegger die zwei Seiten einer Medaille dar. Hier offenbart sich ihm in mythisch-religiöser Hinsicht die Beziehung alles Seienden auf sein Nichtsein, die Beziehung des Lebens zum Vergehen, des Seins zum Wesen der Technik.62 Dionysos

57 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 189. 58 Laut Martin Heidegger hat Walter F. Otto, mit dem er in freundschaftlichen Kontakt stand, die Bezogenheit von Sein und Nichtsein, die sich im Symbol der Maske des Dionysos ausdrücken soll, direkt von ihm übernommen, ohne allerdings die philosophische, metaphysische und ontologische Dimension voll verstanden zu haben. Heidegger schreibt dazu: »Mythos und Kultus des Dionysos hat jetzt Walter F. Otto in seinem schönen und wertvollen Buch Dionysos, 1933, dargestellt. Otto hat auch – freilich ohne die entscheidenden metaphysischen Zusammenhänge zu berühren – die eben dargelegte Deutung des Maskenwesens des Dionysos, die ich ihm gelegentlich seines hiesigen Vortrages über Dionysos vor einigen vorgetragen habe, in sein Buch übernommen (S. 85ff.)« (ebd., 190). Heidegger bezieht sich bei der Seitenangabe auf die Erstausgabe von Ottos Dionysos-Buch aus dem Jahre 1933. – Zum Verhältnis Otto/Heidegger vgl. Stavru (2001); Stavru (2002); zu Walter F. Ottos theozentrischem Zugang zu Dionysos sowie zu seiner (nicht unproblematischen) Stellung in der Religionsgeschichte vgl. Leege (2008). 59 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 190. – Dass Heidegger Dionysos nicht selbst als Symbol betrachtet, hebt ihn von vielen seiner Zeitgenossen wie zum Beispiel C.G. Jung oder Ernst Jünger ab. Zum modernen symboltheoretischen Verständnis des Dionysos vgl. Sanchiño Martínez (2011). 60 Das mag verkürzt klingen, doch vergegenwärtigt man sich die Heideggerschen Schriften und abstrahiert einen Moment von der philosophiehistorischen Perspektive, die sie fast immer aufweisen, dann wird man erkennen, daß es sich fast ausschließlich um die Frage nach der Beziehung von Sein, Zeit und Endlichkeit handelt, die Heidegger umtreibt, und um die damit zusammenhängende Frage, wie sich diese Beziehung in der normalen Sprache oder der Dichtung ausdrückt. Vgl. dazu neben Sein und Zeit Heideggers Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1929, in der bekanntermaßen das »Nichts nichtet«, die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Nichts, Angst und Tod gestellt wird sowie die Vorlesungen und Interpretation zu Hölderlin, Rilke, George und Hebel. 61 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 189. 62 Auch der von Schopenhauer, C.G. Jung und Martin Heidegger kulturtheoretisch und philosophisch stark beeinflußte Religionshistoriker und Mythenforscher Karl Kerényi stellt den

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repräsentiert für ihn in struktureller Hinsicht diese Beziehung und verweist zugleich auf die Grenze zwischen der Anwesenheit und Abwesenheit des Seins, das sich zugleich entbirgt und verbirgt, worin laut Heidegger die Wahrheit und der Sinn des Seins liegen solle.63 Diese Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit, von Sein und Nichtsein ist für Heidegger nicht zuletzt in der Figur des Dionysos und seiner Masken emblematisch von den Griechen festgehalten worden, denn Dionysos »ist das Eine, indem er das Andere ist, d.h. er ist, indem er ist, zugleich nicht; indem er nicht ist, ist er.«64

4. Heideggers Griechenlandaufenthalt – die seinsgeschichtliche Transformation der Realität Wie bereits erwähnt, fürchtete Heidegger, dass das, was er Griechenland seinsgeschichtlich zugedacht hatte, sich während einer Griechenlandreise als ein Erdachtes entpuppen könnte. Zugleich aber verband er mit der Reise, die er dann 1962 unternahm, große Hoffnungen. Tatsächlich sind die meisten Stationen seiner Griechenlandfahrt, wenn man seinen Reisebericht liest, aber eine einzige Enttäuschung und passen so gar nicht zu dem, wie er sich das durch die Lektüre der antiken Dichtung und Philosophie vermittelte Land der Griechen vorgestellt hatte. Vom Schiff aus betrachtet Heidegger beispielsweise die Insel Korfu und fragt sich, ob es sich dabei um das Land der Phäaken handeln könnte. Doch von weitem schon erkennt er, dass die Insel mit dem, was Homer »im VI. Buch der Odyssee gestaltet hat, nicht zusammenstimm[t]«.65 Daraufhin beschließt er, am Oberdeck des Schiffes zu bleiben und gar nicht erst an Land zu gehen, ein Verhalten, das er auch an den Tag legt, als die MS Jugoslavja etwa vor Kos, Santorin oder Naxos ankert. Vielfach vermeidet Heidegger während seiner Rundreise schlicht die Konfrontation mit dem zeitgenössischen Griechenland, um das den Griechen Zugedachte nicht an der Realität überprüfen zu müssen, und zieht sich an Bord des Schiffes zum Nachdenken oder zur Lektüre zurück. Manches wirkt dadurch in seinem Reisebericht auch unfreiwillig komisch: So bevorzugt Heidegger etwa, statt zu Ostern in Patmos an Land zu gehen, einfach die gleichnamige Hymne Hölderlins zu lesen. Auf Ithaca hingegen, »das«, wie er betont, »als Heimat des Odysseus

antiken Gott im seinem 1976 posthum erschienen Buch Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens in den Kontext einer durch die Technik bedingten potentiellen Selbstauslöschung des Menschen und damit des Seins. Vgl. dazu die Beiträge in Schlesier/Sanchiño Martínez (2006), darin vor allem Jamme (2006). 63 Generell stellt Heidegger die griechische Mythentradition in den Kontext seiner Seinsgeschichte, bzw. betrachtet sie als Teil der Seinsgeschichte. Vgl. dazu Hatab (1991). 64 Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 189. 65 Heidegger, Aufenthalte, 218.

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das Griechische versprach«, entdeckt er, als er dann schließlich an Land ist, nur »Morgenländisches« und »Byzantinisches«,66 und auf Rhodos, der »Roseninsel«, die an Wasserquellen, Gewächsen und Früchten reich sein sollte, erblickt er gar nur »Asiatisches«, das ihm zum Anlass wird, über die geopolitische Lage im Kalten Krieg und über das »Schicksal Europas« und der westlichen Welt im Angesicht der »atomaren Wirkfelder« nachzudenken.67 Vom erwarteten griechischen Dasein hingegen ist zunächst keine Spur zu finden, im Gegenteil: Die Suche nach dem antiken Griechenland führt ihn zur Entdeckung der modernen Reise- und Tourismusindustrie, die er als einen Ausdruck der modernen Technik versteht. Während er im Laufe seiner Landgänge immer wieder versucht, bedächtig »zwischen Mauerwerk und blühenden Grasstücken« Hänge und Hügel hinaufzusteigen, wird er unfreiwillig zum Ethnographen und Geographen der modernen technisierten Welt, denn überall begegnen ihm »photographierende Leute«, die »ihr Gedächtnis […] in das technisch hergestellte Bild« wegwerfen. Er stößt auf Leute, die »ahnungslos auf das Fest des Denkens« verzichten, da sie nur darauf aus sind, kultur- und bildungsbeflissene Schnappschüsse zu tätigen.68 Auch die antiken Tempel und Theater, die zum Denken anregen könnten, bestimmen nicht die griechische Landschaft, sondern moderne Neubauten. So berichtet Heidegger über seinen Besuch in Delphi: »Hoch über dem Rand des Berghanges blähten sich ausgedehnte, halbfertige Neubauten von modernen Hotels auf. Ihre örtliche hohe Lage kann freilich ihre niedere Funktion innerhalb des Zweckbestandes der Reiseindustrie nicht beseitigen.«69 Vor diesem Hintergrund überkommen Heidegger vielfach Zweifel und Wut, und er verheimlicht keineswegs, dass er oft vom Gesehenen, vom modernen Griechenland und von der modernen Tourismusindustrie, angewidert ist. Manchmal fühlt er sich sogar wie ein Gefangener, der seiner Umwelt und der in ihnen waltenden Mächten, die er nicht beherrschen kann, hilflos ausgeliefert ist. So endet der Besuch von Delphi schließlich auch »mit einer Abfütterung, zu der die Fahrgäste unseres Schiffes mit anderen Reisegruppen in einem Hotelsaal zusammengedrängt wurden.«70 Heidegger resümiert daher: »Die

66 Heidegger, Aufenthalte, 220. 67 Heidegger, Aufenthalte, 228. – Vgl. folgende Bemerkung: »Die Auseinandersetzung mit dem Asiatischen war für das griechische Dasein eine fruchtbare Notwendigkeit. Sie ist für uns heute auf eine ganz andere Weise in weit größerem Umfang die Entscheidung über das Schicksal Europas und dessen, was sich westliche Welt nennt. Sofern jedoch die ganze Erde – und nicht mehr nur sie – vom Strahlungsgürtel der modernen Technik und der von dieser entfesselten atomaren Wirkfelder umschlossen und durchschossen ist, hat sich über Nacht auch diese Entscheidung verwandelt in die Frage, ob und wie der Mensch sich noch in das Verhältnis zu einer Macht befreit, die es vermag, die Gewalt des Wesens der Technik zu bannen« (ebd.). 68 Heidegger, Aufenthalte, 244. 69 Heidegger, Aufenthalte, 244. 70 Heidegger, Aufenthalte, 244.

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moderne Technik und mit ihr die wissenschaftliche Industrialisierung der Welt schicken sich an durch ihr Unaufhaltsames, jede Möglichkeit von Aufenthalten auszulöschen.«71 Doch Heidegger macht aus der Not eine Tugend und macht gerade diese, ein wenig pathetisch ausgedrückt, Gefahr zum Hauptgegenstand seines Nachdenkens während der Reise.72 Das, »was die Welt des Griechentums in ihrem Eigensten bestimmte«,73 bleibt ihm bei seinen Landgängen und Besichtigungen jedoch als unmittelbare Erfahrung zunächst verborgen. So stellt er sich auch eine Frage, die man als Anzeichen einer strapazierten Geduld auffassen kann: »Immer neu regt sich die Frage: wo sollen wir dies Eigenste suchen? Jeder Besuch jeder Stätte seines Wohnens, Werkens und Feierns macht uns ratloser«.74 Die konkrete Erfahrung von Land und Leuten, der Besuch antiker Stätten bringt Heidegger seinem Ziel nicht näher, und so bleibt für ihn zunächst einmal auch das »Griechische« nur »ein Erwartetes, aus der Dichtung der Alten Geahntes, durch Hölderlins Elegien und Hymnen Genahtes, auf langen eigenen Denkwegen Gedachtes«.75 Was also tun? Nun, Heidegger entwickelt eine doppelte Strategie: Er reist zwar physisch und leiblich nach und durch Griechenland, besucht archäologische Stätten und Museen, begibt sich, wie er schreibt, auch »in das südländische Gewimmel«,76 doch sondert er sich zugleich ab, um einen denkenden Zugang zum Gesehenen zu entwickeln. Er distanziert sich sowohl von den anderen ihn begleitenden Reisenden als auch vom konkreten Land, das er durchreist. Dabei zieht er eine Parallele zwischen sich und Hölderlin, denn dieser habe ja auch den »Blick in das gewesene Griechenland ohne die Stütze einer wirklichen Erfahrung der Inselwelt« gewagt. Nun, der Vergleich hinkt freilich, da Hölderlin Griechenland gar nicht bereiste, während Heidegger vor Ort ist. Doch Heidegger begründet seine Auffassung damit, dass Hölderlin »vorausblickte in die Ankunft des kommenden Gottes« (Dionysos),77 etwas, das auch Heidegger versucht zu unternehmen. Doch zunächst flieht er ins Denken, in sein seinsgeschichtliches Denken und versucht daher, auch keinen unvoreingenommenen Blick mehr auf das Land, das er bereist, zu werfen. Er stellt außerdem seine Vorstellung von den Griechen und

71 Heidegger, Aufenthalte, 244. 72 So resümiert er am Ende seiner Reise auch: »Auf der Rückfahrt zum Hafen klärte sich die Einsicht, daß mit dem rücksichtslosen Ansturm des Tourismus eine fremde Macht ihre Bestellbarkeiten und Einrichtungen über das alte Griechenland lege, daß es aber auch ein Ausweichen wäre vor dem, was ist, wollte man den wahllosen Reisebetrieb außer Acht lassen, statt die Kluft zwischen Einst und Jetzt zu bedenken und das darin waltende Geschick« (Heidegger, Aufenthalte, 244). 73 Heidegger, Aufenthalte, 226. 74 Heidegger, Aufenthalte, 226. 75 Heidegger, Aufenthalte, 224. 76 Heidegger, Aufenthalte, 237. 77 Heidegger, Aufenthalte, 215.

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dem griechischen Dasein nicht ernsthaft in Frage. Statt dessen nähert er sich Griechenland vor dem Hintergrund seiner Philosophie, die durch die Seinsfrage geleitet wird. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum sich Heidegger entschließt, einen philosophischen Text über die Griechenlandfahrt zu schreiben, denn damit kann er seinen Erlebnissen in einer aktiven sekundären philosophischen Bearbeitung einen philosophischen Status und Wert zuweisen. In Aufenthalte übersetzt Heidegger gewissermaßen seine Reiseerlebnisse in seinen spezifischen philosophischen Idiolekt, um sie auf diese Weise in das Feld der Philosophie einzuordnen und um ihnen so eine über das Private hinausgehende Geltung zuzuschreiben. Damit eignet er sich das zeitgenössische Griechenland nicht nur an, sondern unterwirft es sich gleichsam, setzt es in eine Beziehung zu seinem Bild der griechischen Antike, re-definiert es dadurch und führt es der Bedeutung, die ihm vorschwebt, zu. So er merkt in Aufenthalte auch an: »Warum nicht geradehin das Erblickte in einem einfach beschreibenden Erzählen festhalten?« Als ob »Griechenland« nicht schon oft genug und vielfach treffend und kenntnisreich beschrieben wäre. Lassen wir es doch bei dem genügen, daß die mit uns reisenden echtbemühten Schiffsgäste, ausruhend auf Deck, die gut unterrichteten Reiseführer und flott geschriebenen Bücher über Griechenland lesen und sich bilden. Nie kam mir während der ganzen Fahrt in den Sinn, das Rechte und Erfreuliche solcher Griechenlandreisen zu bestreiten. Aber nie wich mir auch der Gedanke aus dem Sinn, daß es nicht nur auf uns und unsere Griechenlanderlebnisse ankomme – sondern auf das Griechenland selbst. Darf es noch sein Eigenes sprechen und uns Heutige als die Hörer seiner Sprache in Anspruch nehmen, uns, die Menschen eines Zeitalters, dessen Welt überall von der Wucht und Künstlichkeit der Stell-Werke des Ge-Stells durchzogen ist? Das Nachsinnen, das dem folgt, weit entfernt, aus dem Sinn, d.h. aus der Fahrtrichtung der Griechenlandfahrt abzulenken und das unmittelbare Erfahren zu hemmen, öffnet sich vielmehr erst dem Erwarteten, insofern dieses in den Bezug zur heutigen Welt gehalten, statt nur auf die Erlebnisse des Einzelnen hin abgeschätzt wird.78

So zieht sich Heidegger, wie bereits erwähnt, während seiner Reise zurück, um die Grundworte seines Denkens, die er der griechischen Philosophie entlehnt hat, zu beschwören und über das Wesen der Technik nachzudenken. Die Reise dient ihm vornehmlich zur Selbstverständigung und Rekapitulierung seines Denkens. Sie wird ihm nicht zum Anlass, sein Denken wirklich zu prüfen, im Gegenteil. Statt dessen beschwört er sein Denken und das antike Griechenland in einem apotropäisch zu nennenden Sinne. Und indem er den großen Anfang des Abendlandes evoziert, entwirft er in Griechenland und seinem seinsgeschichtlichen Denken ein Gegenbild zur technisierten Moderne. Vor diesem Hintergrund, nachdem er diesen denkerischen Umweg genommen hat, offenbart sich ihm dann doch ein einziges Mal das Land der Griechen, und zwar auf Delos, der Insel, von der er früher so oft geträumt hatte. Delos heißt laut

78 Heidegger, Aufenthalte, 219f.

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Heidegger »die Offenbare, die unverborgen Entbergende«.79 Mit jedem Schritt auf der Insel wurde, wie er betont, »die Bedeutung des Namens der Insel deutender und das Be-deutete seiender«.80 Konkrete Hinweise darauf, was Heidegger gesehen hat, sucht der Leser allerdings vergebens. Statt dessen umkreist Heidegger gedanklich mehrfach den Namen der Insel und die Insel in ihrer Eigenschaft als Insel. Man ahnt, dass es ihm um die wechselseitige Beziehung von Sein und Nichtsein geht, um die Unverborgenheit und Verborgenheit der Wahrheit des Sinns des Seins. Er schreibt: Delos, die heilige Insel, die Mitte des Griechenlandes, seiner Küsten und Meere, offenbart, indem sie verbirgt. Was ist es, was so in ihr selbst erscheint? Wohin winkt sie? In Jenes, was von den Dichtern und Denkern der Griechen aus weitestem Vorblick über das, was ihnen das Anwesende gewesen, erfahren und genannt wird: das Ineins von Unverborgenheit (Entbergen) und Verborgenheit (Bergen): die #A& .81

Auf Delos entdeckt er also die #A& , die »das eigentliche Wort des griechischen Daseins« darstelle. Das Wort bedeutet soviel wie Wahrheit, Aufrichtigkeit, Wirklichkeit. Heidegger jedoch behauptet, es in seiner ursprünglichen etymologischen Bedeutung zu verwenden, wenn er es mit Unverborgenheit übersetzt, wobei es ihm darum geht, eine Gedankenfigur daraus zu entwickeln, die sich in der dynamischen Dialektik von Entbergen und Bergen, von Unverborgenheit und Verborgenheit ausdrückt und das Sein in seiner natur- und geschichtsmächtigen Natur offenbaren soll. Erleichtert, die #A&  nun entdeckt zu haben, vermerkt Heidegger: »Die langgehegten Besinnungen auf die #A& , auf die Verhältnisse des Entbergens und Verbergens, fanden durch den Aufenthalt auf Delos die gesuchte Bewährung.«82 Hier sprach für ihn das »Verhüllte eines gewesenen großen Anfangs aus allem.«83 Es geht nicht um Wahrheit etwa im Sinne der Richtigkeit eines Aussagesatzes oder um rationale Begründungzusammenhänge. Es geht darum, die Wahrheit und den Sinn des Seins geschaut zu haben, in dem sie sich angeblich offenbart haben. Hier, auf Delos, also offenbart sich Heidegger der große Anfang der abendländischen Zivilisation und Philosophie, dem er während seiner Reise auf der Spur war, hier werden sie Gegenwart und weisen in die Zukunft. Wie und wodurch sich dieser Anfang Heidegger aber konkret oder sinnlich wahrnehmbar gezeigt hat, darüber schweigt er. Ja, es scheint gerade so zu sein, daß seine ständigen Beschwörungen der griechischen Grundworte, die Lektüre Hölderlins und der antiken Autoren sowie seine Reflexionen über das Wesen der Technik ihn zur Entdeckung des großen Anfangs geführt haben, den er dann auf die Insel Delos projiziert. Dies aber hatte er schon in den letzten dreißig Jahren am eigenen 79 80 81 82 83

Heidegger, Aufenthalte, 231. Heidegger, Aufenthalte, 231. Heidegger, Aufenthalte, 232. Heidegger, Aufenthalte, 233. Heidegger, Aufenthalte, 231.

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Schreibtisch getan. Inhaltlich, als Gedankenfigur, enthüllt sich ihm eine Bewegtheit zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit. Diese Bewegtheit, so könnte man sagen, ist die Wahrheit und der Sinn des Seins, wie er Heidegger mit seinem Begriff der Zeit vorschwebte. Der Aufenthalt offenbart die Bewegtheit des Seins, die der Sinn der Zeit ist, während die Zeit den Sinn wiederum umgrenzt. Dies liegt aber nicht zuletzt daran, dass Heidegger im Gegensatz zu Sein und Zeit nach seiner Kehre den Begriff des Seins an das zurückbindet, was er mit den Ausdrücken Anwesen und Aufenthalt meint, die zugleich homolog zum Gedanken der gegenwärtigen Gegenwart, die zugleich die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft umspannt, von ihm verstanden werden: Durch Heideggers Aufenthalt in Griechenland, bzw. auf Delos wird die griechische Antike als großer Anfang für ihn Gegenwart und zukunftsweisend.84

5. Heideggers dionysischer Abschied von Griechenland Heideggers Bericht strukturiert sich durch drei Prüfungen, die er bestehen muss, durch die er hindurch muss: durch den Zweifel, durch die Geduld und durch die Absonderung. Er stilisiert sich zu einem Meisterdenker, zu einem Helden, auf den Griechenland gewartet hat. Er suggeriert in seinem Reisebericht, indem er sich auch hier als jemand präsentiert und stilisiert, der im Denken, in seinem Denken unterwegs ist, dass es ihm gelingt, die gesehene Wirklichkeit, und sei es auch nur für den Augenblick des Aufenthaltes auf Delos, zu transformieren und sie seinen seinsgeschichtlichen Interessen unterzuordnen: sie dem Sinn des Seins zuzuführen, das sich aus der Zeitlichkeit, aus der Bewegtheit von Verborgenheit und Unverborgenheit ergibt. So betont Heidegger: »Durch die Erfahrung von Delos erst wurde die Griechenlandfahrt zum Aufenthalt, zum gelichteten Verweilen bei dem, was die #A&  ist. Sie ist nämlich selber der Bereich des entbergenden Bergens, der Aufenthalt gewährt.«85 Anders gesagt: Der Aufenthalt, ebenso wie das wahre Griechenland, sind für Heidegger ein Produkt seines Be-Denkens der Seinsfrage und der damit verbundenen Phänomene der Temporalität und Räumlichkeit, das die Grenzen der technisierten Welt überschritten hat und angeblich einen direkten

84 Dies wirft aber einige schwerwiegende philosophische Probleme auf, wenn man sich von Heideggers Überlegungen löst, denn wie kann eine sinnvolle semantische Differenzierung zwischen Raum und Zeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart dann noch aussehen? Gegenwart ist zwar gleichzeitig ein Raum- und ein Zeitbegriff, er kann aber nicht im gleichen Augenblick in diesem doppelten Sinne gebraucht werden: Hier ist nicht jetzt, jetzt ist nicht hier. Daraus eine Wahrheit zu machen, erscheint zudem sinnwidrig, so aufregend die permanente Entgrenzung und Grenzziehung sich in der Bewegtheit, in der Dialektik des seinsgeschichtlichen Denkens auch darstellen mag. 85 Heidegger, Aufenthalte, 233.

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Anschluss an das griechische Dasein und Denken findet. Die Erfahrung, von der Heidegger spricht, ist aber keine physische oder psychophysische, sondern stellt einen denkerischen Akt dar, der intersubjektiv und sprachlich nur noch bedingt vermittelbar ist. So schreibt er auch, auf ein Fragment Heraklits verweisend, das den griechischen Philosophen eher in die Nähe eines mystifizierten Hölderlin rückt, als dass es zur Klärung seiner Gedanken beiträgt: »Zeigen ist ein Sehenlassen, das als solches zugleich verhüllt und das Verhüllte bewahrt. Solches Zeigen ist das eigentliche Geschehnis im Bereich der #A& , die den Aufenthalt im Vorhof des Heiligen stiftet.«86 Die letzten Seiten des philosophischen Reiseberichts lesen sich daher auch so, als ob Griechenland darauf gewartet hätte, daß Heidegger es seiner angestammten Bestimmung zuführt und vor dem modernen Dasein gerettet hat. »Während das Schiff aus dem Korinthischen Golf in das Ionische Meer hinaussteuerte«, schreibt Heidegger, »verwandelte sich das Ganze des alten Griechenlandes in eine einzige gegen alle übrigen bekannten und unbekannten Welten abgeschlossene Insel.«87 Heidegger hat also den Eindruck, dass sein Versuch des seinsgeschichtlichen Denkens gelungen ist und zu einer wahrhaft und nicht mehr metaphysisch bedingten, sondern ontologischen Abgeschlossenheit des Griechenlandes, des Geburtsorts des abendländischen Daseins und Denkens, geführt hat. Dies ist eben aber nur durch die immanente Logik der Dynamisierung der Grenzen der Zeitlichkeit und der Räumlichkeit möglich, die sich in der paradox wirkenden Gedankenfigur des bewegten Aufenthalts ausdrückt. Daher schreibt Heidegger auch über seinen Abschied von Griechenland: »Der Abschied von ihm wurde zu seiner Ankunft. Was kam und die Gewähr seines Bleibens bei sich trug, war der dem Andenken sich öffnende Aufenthalt der entflohenen Götter«.88 Aber wo sind die entflohenen Götter? Wo befinden sie sich, von denen Heidegger behauptet hatte, daß Dionysos ihre Spur zu den Götterlosen gebracht hatte? Dionysos, dessen Maske die Dialektik von Verborgenheit und Unverborgenheit symbolisierte, die eine Vorahnung der #A&  gab? Am Ende seines Berichtes gibt Heidegger eine Antwort auf diese Fragen. Die letzten Worte seines Reiseberichtes Aufenthalte lauten: An zwei sonnigen Tagen, in ruhigen Nächten wurde die Rückfahrt durch die Adria nach Venedig zu einem einzigen Dank für das Geschenk des Aufenthalts und des Einblicks in sein Eigentum.

86 Heidegger, Aufenthalte, 239. – War vorhin von der semantischen Kette Sein – An-wesen – An-wesenheit – Aufenthalt – Gegenwart – Zeit die Rede, so deutet sich hier eine weitere Sequenz an, und zwar die von Dasein – Sein – Aufenthalt – Heiliges – Göttliches. Die Verbindung zwischen dem Dasein und dem Göttlichen ist möglich, wenn die einzelnen Etappen gedanklich vollzogen werden und eine verweilende Besinnung stattfindet. 87 Heidegger, Aufenthalte, 245. 88 Heidegger, Aufenthalte, 245.

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Roberto Sanchiño Martínez Als am letzten Abend nach der Ausfahrt aus dem Hafen von Dubrovnik glühend rot die Sonne im Meer versank, begleiteten Delphine eine Weile das Schiff. Dies war der letzte Gruß des Griechenlandes. Wie die Schale des Exekias, auf der Delphine das windbetroffene Schiff des Dionysos im gleitenden Schwingen umschwimmen, in den Grenzen des schönsten Gebildes ruht, so bleibt, rund in sein eigenes Inselwesen geborgen, der Geburtsort des Abendlandes und des modernen Zeitalters dem Andenken an den Aufenthalt überlassen.89

Am Ende von Aufenthalte überblendet Heidegger also seine Situation an Bord der MS Jugoslavja mit der Darstellung des Dionysos auf der Münchner ExekiasSchale. Er zieht eine Parallele zwischen sich und Dionysos, dem Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern, dem »Halbgott«, der in seiner Bewegtheit an Bord seines Schiffes, begleitet von auf- und abtauchenden Delphinen, in den »Grenzen des schönsten Gebildes« ruht, in den Grenzen des seinsgeschichtlich geretteten und ontologisch verstandenen Griechenlands, das seiner geschichtlichen Bestimmung durch Heideggers Besuch und Aufenthalt wiederzugeführt worden ist,90 wodurch das antike und moderne Griechenland einer Re-definition unterzogen worden sind. Die Bewegung und Bewegtheit des Denkens, welche die Temporalität des Seins zur Gegenwart eines Aufenthalts gemacht hat, die Ankunft, die sich im Abschied und in der Evokation des kommenden Gottes Dionysos manifestiert, die Re-Definition von Gegenwart und Antike sind Ergebnis einer Reise und des Abschreitens eines Weges, aber nicht so sehr in empirischer Hinsicht, sondern eher in imaginär-denkerischer und, vielleicht, existentieller Hinsicht.91 Vor diesem Hintergrund lässt sich zusammenfassend sagen, dass Heideggers Re-Definition der Antike in einer Ontologisierung der griechischen Antike besteht, die er auf seinen Griechenlandaufenthalt und in eine mögliche Zukunft projiziert, wobei er sich selbst eine welthistorische Bedeutung zuschreibt, was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass er zwischen sich und dem kommenden Gott Dionysos eine projektive Identifikation vollzieht.

89 Heidegger, Aufenthalte, 245. 90 Vgl. dazu auch folgende Bemerkung Heideggers: »Wir wissen, daß die letzte und zugleich Künftiges vorbereitende abendländische Deutung des Seyns durch Nietzsche auch den Namen Dionysos nennt« (Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, 191). 91 Wie Heidegger betont, »ist jedem Denkendem je nur ein Weg, der seine, zugewiesen, in dessen Spuren er immer wieder hin und her gehen muß, um ihn endlich als den seinen, der ihm doch nie gehört, einzuhalten und das auf diesem einen Weg Erfahrbare zu sagen« [Heidegger, Holzwege, 211].

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Die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Unterweltreisen in der klassischen Moderne Aleida Assmann

Prolog Es gibt zwei Odysseus-Überlieferungen, die sich um jeweils eine ganz andere Überschreitung von Grenze gebildet haben. Die erste und bekanntere Version enthält eine vertikale Grenzüberschreitung. In der Mitte des Epos, an strukturell exponierter Stelle, steht die katabasis – der descensus ad inferos – der Abstieg des Odysseus in die Unterwelt.1 Für die weniger bekannte zweite Überlieferung bildet eine Episode aus eben dieser Unterweltreise den Ausgangspunkt: die Prophezeiung des Teiresias, der Odysseus mitteilt, er werde nach Hause zurückkehren, aber nicht auf Ithaka bleiben, sondern noch zu einer zweiten Reise aufbrechen. Aus dieser Andeutung des Teiresias ist eine zweite Odysseus-Überlieferung entstanden: Neben dem 1. Odysseus des Heimwehs gibt es noch den 2. Odysseus des Fernwehs, den es nicht zuhause hält. Der erste Odysseus überwindet eine vertikale, der zweite Odysseus eine horizontale Grenze. Beide haben etwas mit seinem Wissensdrang zu tun. Der erste Odysseus wollte sein Schicksal erfahren, der zweite, dem Dante seine Konturen gab, war von einer unstillbaren Neugierde angetrieben. Die Neugierde – curiositas – galt im christlichen Mittelalter als ein schweres Laster. Sie war so unersättlich wie die Völlerei und fesselte den Geist des Menschen an die Erde, weshalb Dante diesem zweiten Odysseus seine erneute Heimkehr verwehrte und ihn mit einem Tod auf hoher See und einem Platz in der Hölle bestrafte. Der Blick auf diesen zweiten Odysseus änderte sich radikal mit Beginn der Neuzeit, als die Neugierde von einer Todsünde zu einer Kardinaltugend der Moderne umgewertet wurde. In der frühen Neuzeit, dem Zeitalter der Entdeckungen und beginnenden Wissenschaften, wurde Odysseus’ Streben über die Grenzen der bekannten Welt hinaus zu einem heroischen Abenteuer stilisiert. Francis Bacons

1 Diese 24 Gesänge gliedern sich in 2 × 12. Die erste Hälfte handelt von den Irrfahrten, die zweite von der Heimkehr in Ithaka. Die Irrfahrten gliedern sich noch mal in 2 Hälften: die erste Hälfte der Abenteuer steht Odysseus mit seinen Gefährten durch, die zweite Hälfte muss er allein bewältigen.

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Titelkupfer seiner Instauratio Magna (1620) zeigt diesen mythisch überhöhten Expansionsdrang der neuen Entdeckungsreisen; es setzt anschaulich den Aufbruch von der alten in die neue Welt in Szene.2 Die Grenze, die dafür überwunden wird, ist die Küste, die die Welt nicht mehr hermetisch abschließt, sondern sich in ein Tor, in einen offenen Horizont verwandelt hat. Schiffe brechen auf und kehren zurück an der Meerenge von Gibraltar, die den geschlossenen Kosmos der alten Welt markiert hatte. Bacons Bild trägt die Beischrift: »Viele werden untergehen aber die Wahrheit wird vermehrt werden.« Untergehen musste eben auch Odysseus in Dantes Fassung der Überlieferung; für seine Hybris musste er mit Schiffbruch bezahlen, wurde aber anschließend zu einem paradigmatischen Helden der modernen Welt. Der englische Dichter Tennyson hat diesem modernen zweiten Odysseus ein Denkmal gesetzt. Im Mittelpunkt seines Ulysses-Gedichts steht das Motiv der horizontalen Grenzüberschreitung, das bei ihm zu einem stetigen Durchschreiten wandernder Horizontlinien geworden ist: I am a part of all that I have met; Yet all experience is an arch wherethrough gleams that untrodden world whose marging fades for ever and for ever when I move.3

Grenzüberschreitung ist der Motor der Moderne und ihrer neuen Zeiterfahrung. Das Telos wird dabei unendlich in die Zukunft verschoben, fortan gibt es kein Ruhen und Rasten und keine sinnstiftenden Schließungen mehr. Leben ist Bewegung, stetige Evolution und ein permanenter Aufbruch zu neuen Ufern, neuen Erfahrungen, neuen Perspektiven, neuem Wissen. In meinem Beitrag möchte ich mich jedoch ganz auf die andere, die vertikale Grenzüberschreitung des homerischen Odysseus konzentrieren und genauer untersuchen, wie sich diese Episode in den modernen Adaptationen verwandelt hat. Ich beginne mit einer kurzen Zusammenfassung dieser Schlüsselszene. Im 11. von 24 Büchern wird Odysseus’ Eintritt ins Totenreich geschildert. Von der Zauberin Kirke hat er dafür genaue Anweisungen erhalten. An der bezeichneten Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten opfert er zwei schwarze Schafe und sammelt ihr Opferblut in einer trichterförmigen Grube. Von diesem Blut werden die Seelen der Toten angezogen, die in Scharen herbeiströmen. Erst wenn sie von diesem Blut getrunken haben, gewinnen sie eine ephemere menschliche Gestalt und eine Stimme, um mit Odysseus zu sprechen. Anders als Orpheus, Vergil oder Dante unternimmt Odysseus keine Unterweltreise in Form einer Exkursion in ein unbekanntes Territorium, sondern agiert in einer besonderen Kontaktzone, wo der Lebende zum Anziehungspunkt der toten Seelen wird. Diese drängen sich

2 Assmann (2011). 3 Tennyson, Ulysses, Verse 18–21.

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in großer Zahl um Odysseus und warten ungeduldig auf ihre Chance, ein Wort mit ihm zu wechseln. Das Ziel dieser nekromantischen Unternehmung ist die Botschaft des Teiresias. Der blinde Seher warnt davor, sich an den Rindern des Sonnengottes zu vergreifen, nur Odysseus werde nach vielen Gefahren die Heimat erreichen, aber er werde dort nicht bleiben, sondern noch eine weitere Wanderung unternehmen bis ins Binnenland hinein bis zu Menschen, die das Meer nicht kennen und das Ruder für eine Schaufel halten. Dort müsse er dem Poseidon opfern, um dessen Fluch endgültig zu lösen, dann erst werde er endgültig zurückkehren und friedlich in hohem Alter sterben.

James Joyce, Ulysses In seinem Roman Ulysses (1922) hat James Joyce sich auf Homers Odyssee bezogen und aus ihr wichtige Motive und Strukturelemente für seinen experimentellen Roman gezogen. Die Wahl dieses besonderen Verfahrens war dabei sowohl von ästhetischen wie thematischen Gesichtspunkten bestimmt. Joyce griff auf einen archaischen Text des westlichen Kulturgedächtnisses zurück, um damit den Bruch mit der (ihm vorangehenden Schreib-)Tradition sichtbar zu machen. Das ganz Alte wird von ihm in Dienst genommen, um das absolut Neue zu inszenieren. Dabei wird die Geschichte des modernen Romans durchgestrichen und die emphatisch neue Form eines modernen Epos geschaffen. Dieses moderne Epos ist eine Absage an das Muster des realistischen Romans, der auf die Entwicklung einer Person oder die historischen Besonderheiten einer Epoche zugeschnitten war. An seine Stelle tritt ein Text, der die Grundlagen der westlichen Kultur in sich aufnimmt und gleichzeitig einen universalistisch anthropologischen Raum eröffnet, in dem sich das Neue mit dem Alten verschränken kann. Die Grundlage dieses epischen Romans ist nicht mehr ein Narrativ, das sich in der Zeit entfaltet, sondern der antike Mythos als Bauplan des Erzählens, aus dem die Zeit als zentraler Nerv und Sinn-Generator getilgt ist. Genau deshalb kann die Zeit auf neue Weise zum Konstruktionsprinzip werden – der Roman umfasst 18 Stunden eines einzigen Tages – und zusammen mit den mythischen Themenkomplexen des Kulturgedächtnisses eine neue Strukturgrundlage des Erzählens bilden.4 Das Alte, auf das Joyce zurückgreift, hat er radikal auf seine Zwecke zugeschnitten. Er wählt für seinen unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg erscheinen-

4 Zur Gattung des modernen Epos bzw. des epischen Romans vgl. Moretti (1995), der darauf hinweist, dass diese Gattung ihre besondere Konjunktur in der Zwischenkriegszeit hatte. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von »flawed masterpieces« und »semi-failures«.

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den Roman nicht die kriegerische Ilias, sondern die friedliche Odyssee.5 Als Erzfeind des irischen Nationalismus hat er seinem modernen Epos eine konsequent kosmopolitische Perspektive untergelegt. Wenn wir uns nun Joyces Adaption der Unterweltsreise genauer ansehen, so ist zunächst festzustellen, dass er dieses Thema in zwei Komplexe aufgespalten hat: Hades, die Totenreise und Kirke, die Höllenfahrt. Hades und Kirke sind ja bereits bei Homer eng miteinander verbunden; die Zauberin weist Odysseus den Weg und stattet ihn mit der rituellen Kompetenz aus, die er braucht, um überhaupt mit den Toten verkehren zu können. Bei Joyce nehmen beide Kapitel im Gesamtplan eine symmetrische Position ein: Sie bilden das jeweils sechste Kapitel in zwei aus je neun Kapiteln bestehenden Teilen. Die Hadesreise führt Leopold Bloom auf den Dubliner Friedhof Glasniven, die Höllenfahrt in ein Bordell. Im Hadeskapitel geht es um die Überschreitung der Grenze zwischen Toten und Lebenden, im Kirke-Kapitel geht es um die Transgression der Grenzen von Sinn und Sitte durch Blasphemie und Obszönität. Die Transgression religiöser und moralischer Werte durch eine frei flottierende Libido geschieht im Geiste Freuds, mit dem sich Joyce aufgrund seines Namens nicht nur etymologisch verwandt wusste. Ich möchte mich hier auf das Hadeskapitel beschränken, in dem Joyce viele intertextuelle Verweise auf sein mythisches Vorbild untergebracht hat.6 Was bei Homer ein herausragendes mythisches Erlebnis ist, das durch einen magischrituellen Akt zustande gebracht wird, wird bei Joyce zu einem Routinebesuch auf einem Dubliner Friedhof. Man hat diese Episode deshalb – etwas voreilig, wie ich meine – als »ein recht blasses und folgenloses Unternehmen« abgetan.7 Zunächst ist hier festzustellen, dass bei Joyce nicht der Friedhofsbesucher Leopold Bloom eine Unterweltreise antritt, sondern allein der Tote Paddy Dignam, der an diesem Vormittag bestattet wird. Dignam nimmt bei Joyce die Züge Elpenors an, des erst kürzlich verstorbenen Gefährten, den Odysseus im Totenreich wiedertrifft und dem er noch ein Begräbnis schuldet. Wie Elpenor ist Dignam unheroisch am Suff gestorben, und wie Elpenor stürzt auch Dignam in die

5 In Joyces UIysses spielt der Krieg keine Rolle; das einzige gefährliche Geschoss, das in diesem Text den Luftraum kreuzt, ist eine Keksbüchse in einer Bar, die ihr Ziel verfehlt. Joyces Anti-Nationalismus geht so weit, dass er sich aus dem gesamten Trauma- und Trauerprozess um den Great War ausgeklinkt hat. 6 Platthaus (2004), 142. 7 Platthaus (2004), 155, 146. Isabel Platthaus hält das Friedhofskapitel für unergiebig und im Gefüge des Romans für unerheblich. Als unerheblich und unergiebig mag sich die Lektüre vor dem Hintergrund einer festgelegten Theorie erweisen, sie ist es jedoch nicht, wenn wir uns auf dieses Kapitel ohne Erwartungsfixierung einlassen. Ich würde das Kapitel auch nicht vorschnell als Travestie des Mythos abkanzeln. Diese Formel setzt einen heiligen Ernst des Mythos voraus, der in dieser Weise nicht zu begründen ist. Vielmehr ist der Mythos gerade durch seine Dehnbarkeit bestimmt, die es erlaubt, ihn in ganz unterschiedliche Richtungen zu biegen und zu dehnen.

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Tiefe, wenn auch nur in Blooms Phantasie, der den Sarg bei einem potenziellen Unfall vom Leichenwagen abrutschen und den Toten auf der Straße aufschlagen sieht. In beiden Texten stellt Odysseus-Bloom fest, dass ihn der Tote auf seinem Weg ins Totenreich überholt hat. Joyce streicht allerdings die Figur des Teiresias. Ganz im Gegensatz zu Homer kommt es bei ihm zu keinem Austausch zwischen dem Lebenden und den Toten. Die Grenze zwischen diesen beiden ontischen Sphären ist absolut und unwiderruflich versiegelt. Der moderne Friedhof ist eben keine Kontaktzone nekromantischer Praktiken. Dabei fehlt es in der persönlichen und kulturellen Praxis nicht an Formen der Kommunikation, die sich allerdings alle als Formen der Autokommunikation der Lebenden mit sich selber erweisen. Der Friedhofsbesucher Bloom wird an diesem Ort von allen möglichen Gedanken an den Tod heimgesucht, die ihn in ungeordneter Weise überschwemmen. Er erinnert sich an die Namen der ihm nahen Verstorbenen, er begegnet den politischen Helden wie O’Connell (Herkules) und Parnell (Agamemnon), die im nationalen Gedächtnis der Iren fest verankert sind, und er denkt an die alltäglichen Todesfälle, deren Anzeigen in der Tageszeitung verzeichnet und am folgenden Tag schon wieder vergessen sind. Erinnern und Vergessen ist einer der Themenkomplexe, die Joyce in seinem Hadeskapitel entwickelt. Ein zweiter Themenkomplex ist die Physiologie und Chemie der Verwesung. Bloom stellt sich die Zersetzungsprozesse des menschlichen Köpers drastisch vor Augen. In scharfem Kontrast zur trauernden Pietät, die die menschliche Gestalt der Verstorbenen in der Erinnerung bewahrt, schwelgt Bloom/Joyce in Bildern der Zersetzung der Leiche. Er spricht von »meat gone bad«,8 von abgenagten Knochen, vom Sarg als Bett der Maden usw. Dieser Materialismus der Verwesung könnte von Sir Thomas Browne, dem berühmten Arzt und Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert, inspiriert sein. Ein weiterer Intertext ist Hamlet, dessen Schwelgen in der physischen Dimension menschlichen Verwesens mit einer Absage an menschliche Ambitionen und Aspirationen, einschließlich des Mythos der Unsterblichkeit verbunden ist. Bloom, der die Gemeinplätze und frommen Wünsche auf den Grabsteinen liest, erkennt in ihnen nur leere Floskeln, die den Toten in den Mund gelegt werden, um die Hilflosigkeit der Lebenden zu überdecken. Die einzig wirklich funktionierende Kommunikation auf dem Friedhof ist für ihn das Signalsystem der Ratten, die sich unterirdisch zum nächsten Leichenschmaus verabreden. Die Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen Toten und Lebenden wird nicht zuletzt an zwei technischen Neuerungen veranschaulicht. Eine davon hat mit einer Angst des 19. Jahrhunderts zu tun, die epidemisch wurde, als sich die medizinischen Regeln der Feststellung des Todes änderten. Man fürchtete sich davor, im Sarg zu erwachen. Deshalb wurden serienmäßig Klingeln in Särge eingebaut, die einen Kon-

8 Joyce, Ulysses, 116.

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takt des Totgeglaubten mit der Außenwelt herstellen sollten. Die andere Neuerung wurde, soweit ich das beurteilen kann, noch nicht umgesetzt. Bloom denkt an die Fotografie als visuelle Stütze des Gedächtnisses und stellt sich dazu ein akustisches Äquivalent vor in Form einer Schallplatte, mit der der Tote die Besucher am Grab begrüßen kann.9 Er muss dafür zu Lebzeiten eine solche Botschaft aufnehmen, die dann auf Knopfdruck abgerufen wird. Was da wirklich zu hören wäre, so mutmaßt Bloom, sei dann wohl doch eher das Rauschen und Knistern als die Botschaft selbst: Wie kann man sich an alle erinnern? Augen, die Gangart, die Stimme. Ok, die Stimme, ja: Grammophon. Man könnte in jedes Grab ein Grammophon einbauen oder auch zuhause. Nach dem Sonntagsessen. Wird der alte Urgroßvater aufgelegt – Kraahraark! Hallo hallo hallo Freut mich sehr Kraark Freut mich sehr dich wiederzusehen Hallo hallo Freut mich Knack zisch Könnte einen an die Stimme erinnern wie die Photographie an das Gesicht. Ohne Foto könnte man sich schon nach 15 Jahren nicht mehr an ein Gesicht erinnern.10

Ich fasse zusammen: Das epische Motiv der Unterweltreise wird von Joyce bewusst banalisiert und ins Groteske verzerrt. Der Friedhofsbesucher empfängt kein außergewöhnliches Wissen, ein Kontakt mit den Toten ist unmöglich. Joyces Hades-Kapitel ist keine Jenseitsreise, aber ein assoziationsreicher subjektiver Beitrag zum Thema Tod in der Moderne. Es bietet eine anthropologische Bestandsaufnahme aus der Perspektive eines gewöhnlichen Menschen, der sich dem Phänomen des Todes ungeschützt von allen religiösen und kulturellen Versicherungen mit nichts anderem aussetzt als seinen originellen Gedanken, wilden Assoziationen, wuchernden Bildern, persönlichen Ängsten und seiner tiefen Ratlosigkeit.11

Ezra Pounds Cantos Ich möchte die Besonderheit von Joyces Behandlung dieser epischen Episode der Katabasis, die Blumenberg ein »Obligatorium des epischen Helden«12 genannt hat, mit einer anderen modernen Fassung vergleichen, die etwa gleichzeitig ent-

9 10 11 12

Gibt es schon in den USA. Joyce, Ulysses, 115–116. Vgl. Frisch (1978). Platthaus (2004), 139.

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standen ist. Ich denke an den Gebrauch des 11. Buches von Homers Odyssee, den Ezra Pound für sein modernes Epos der Cantos gemacht hat. Auch er schrieb sich mit seinem experimentellen Projekt in die westliche Tradition ein; durch seinen Bezug auf Homer reklamierte auch er für sein eigenes work in progress den hohen Anspruch eines zentralen »kulturellen Textes«.13 Im Jahre 1930 veröffentlichte Pound den ersten Teil dieses Lebenswerks; es waren die ersten 30 von insgesamt 117 Cantos, an denen er bis zu seinem Tod 1972 im Alter von 87 Jahren weiterschrieb. Pound entwickelte eine andere Form des modernen Epos, die nicht wie Joyces Ulysses auf anthropologische und tiefenpsychologische Grundlagen zurückgriff, sondern einen neuen transkulturellen Zugang zur Geschichte entwickelte. Pounds kurz-und-bündige Definition von Epos lautet: »An Epic is a poem including history.«14 Er hat mit den Cantos in der Tradition von Homer und Dante seine ebenso ehrgeizige wie eigenwillige Version einer globalen Welt-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte vorgelegt. Ich werde mich hier auf das 1. Canto beschränken, das bereits in der ersten Zeile den Bezug zu Homer explizit herstellt. An die Stelle eines Musenanrufs setzt Pound den Aufbruch zur Unterweltsreise, den er unvermittelt, medias in res, mit einem »and then« einleitet: And then went down to the ship Und gingen hinunter zum Schiff, Setzten den Kiel gegen die Brecher, Fahrt aufs göttliche Meer, und wir setzten Mast und Segel auf dem schwarzen Schiff (swart ship), brachten Schafe an Bord und uns selbst Schwer von Weinen, und Winde von achtern Trugen uns vorwärts mit geblähter Leinwand Kirkes Zauber …15

Diese Verse zitieren den Auftakt der homerischen Unterweltsreise im 11. Buch der Odyssee. Um ihren Fremdheitscharakter in der englischen Übersetzung hörbar zu machen, hat Pound eine moderne archaische Sprache erfunden, für die er Anleihen beim stabreimenden und parataktisch organisierten altenglischen Epos The Seafarer gemacht hat. Pound ist ein Dichter mit literarhistorischer Bildung und philologischen Interessen. Er greift nicht auf den griechischen Homer zurück, sondern legt seiner eigenen Übersetzung eine lateinische Übersetzung des Renaissancehumanisten Andreas Divus zugrunde, die ihm in einem Antiquariat in Paris in die Hände gefallen ist.16 Die Aneignung des kulturellen homerischen Grundtex13 14 15 16

Zur Definition des kulturellen Textes siehe Assmann (1995). Pound (1963a), 86. Pound, Canto 1, 3. Pound hat über Andreas Divus auch einen gelehrten philologischen Aufsatz geschrieben, in dem er mitteilt, dass er diese lateinische Übersetzung in Paris zwischen 1906 und 1910 erworben hat. In diesem Aufsatz werden einige hundert Verse der Nekya abgedruckt, an die sich Pounds Übersetzung anschließt. Vgl. Pound (1963b).

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tes geschieht bei Joyce und Pound auf eine sehr unterschiedliche Weise. Joyce rekurriert auf die Odyssee als einen Mythos im Sinne einer Erzählung, die in ihre Bausteine zerlegt und neu zusammengesetzt wird. Die Verknüpfung zur Vorlage besteht in den selektiven Anleihen für seinen neuen Strukturplan, in der freien Übernahme von Motiven und im Anspielen auf einzelne Figuren und Zitate. Ganz anders Pound, der eine zusammenhängende Textsequenz homerischer Verse aufruft und diese höchst selbstreflexiv als Übersetzung einer Übersetzung ausweist. Übersetzen ist für Pound der originäre kreative Impuls sowohl in der Erneuerung der eigenen Überlieferung, wie auch in der Aneignung fremder Texte. Er beschließt seine in den ersten Canto eingebaute Übersetzungssequenz mit einem bibliographischen Hinweis: Lie quiet Divus Ruhe in Frieden, Divus, genauer: Andreas Divus, gedruckt »in officina Wecheli 1538«, nach dem Homer.17

Auch Pounds Unterweltsreise ist eine ganz andere als die von Joyce. Joyce war leidenschaftlicher Pazifist, der sich für die Irrfahrten der Odyssee und gegen die martialische Ilias entschieden hat. Referenzen auf den ersten Weltkrieg, der zum Zeitpunkt der Publikation des Ulysses ja erst 4 Jahre zurücklag, sucht man bei ihm vergeblich. Ganz anders Pound. Er schreibt aus der Perspektive einer durch den ersten Weltkrieg erschreckend dezimierten Generation. Es gab damals kaum jemanden, der oder die nicht Tote dieses Krieges zu beklagen hatte und durch diese Ereignisse traumatisiert war. Während die englische und französische Gesellschaft sich aus der Schockstarre durch eine geschäftige Routine und den Anstrich der Normalität zu befreien suchten, haben damals einige Autorinnen, darunter Virginia Woolf, H.D. und auch T.S. Eliot, gegen dieses repressive Klima angeschrieben und ihre eigenen Formen von psychischer und künstlerischer Therapie entwickelt. Eliots Waste Land zum Beispiel, das im selben Jahr wie Joyces Ulysses erschien, enthält deutliche Verweise auf den ersten Weltkrieg, darunter auf die Soldaten des in Gallipoli 1915 aufgeriebenen Bataillons der australisch-neuseeländischen ANZAC-Truppen.18 Entsprechendes gilt für Pound. Er kann in sein Weltgedicht nicht ohne eine Totenbeschwörung einsteigen. Dabei muss er allem voran auf die unheimliche Noch-Anwesenheit der vielen, von Granaten zerfetzten, unbegrabenen Toten zu sprechen zu kommen. Diese Last der Vergangenheit steht zwischen Pound und seinem großen Zukunftsprojekt. Deshalb eröffnet er es mit einer Gedenkminute für die Toten des ersten Weltkriegs, darunter viele seiner engsten Künstler-Freunde und Mitstreiter. Der Dichter Pound tut dies in den Spuren des Odys17 Pound, Canto 1, 5. 18 Man wird diesem Gedicht, ebenfalls ein Beispiel für ein modernes Epos, nicht gerecht, wenn man es nur, wie immer wieder geschehen, als ein ethnographisch inspiriertes Poem über den mythischen Zusammenhang von Tod und Wiedergeburt liest.

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seus, dessen Geisterbeschwörung er mit hoher Absicht an den Anfang seines Großgedichts stellt. Ganz im Gegensatz zu Joyce baut Pound mithilfe Homers einen rituellen Kontakt mit seinen eigenen Toten auf. Noch vor der Begegnung mit Teiresias kommt Elpenor im Totenreich als erster auf Odysseus zu, jener Gefährte, der im Suff vom Dach der Kirke fiel und sich das Genick brach. Er mahnt Odysseus, dass er noch nicht begraben sei. Solange diese rituelle Pflicht nicht erfüllt sei, könne Odysseus nicht zu neuen Abenteuern und Gestaden aufbrechen. Dich König, bitt ich: Gedenke mein, unbeweint, unbeerdigt …19

Pound tut hier ein Übriges und geht über Homer hinaus, indem er eine Grabinschrift für Elpenor erfindet, die auch als Selbstportrait der Genertion des jungen Künstlers Pound gelesen werden kann. Sie wird in Canto LXXX nachgereicht und lautet: »men of no fortune and with a name to come.«20 Nicht nur Divus lässt Pound am Ende seines ersten Cantos also ruhen, sondern in einem ungleich prägnanteren Sinne auch den verstorbenen Gefährten: Lie quiet, ruhe in Frieden Elpenor. Jay Winter, dem wir eine Kulturgeschichte des zweiten Weltkriegs unter dem Aspekt von Trauer, Trauma und Gedächtnis verdanken, hat ein wichtiges Kapitel über den Spiritismus dieser verlorenen Generation geschrieben.21 Er hat gezeigt, dass während und nach dem Ersten Weltkrieg das Bedürfnis mit den Toten zu kommunizieren rapide angestiegen ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von secular spiritualism und sieht darin eine praktische Antwort auf ein drängendes seelisches Problem. Es entwickelte sich eine verbreitete Praxis der Seancen mit Medien – meist waren es Frauen – die es in jener Zeit z. T. zu hohem Ansehen brachten und viel gefragt waren. Im säkularen Spiritismus mischten sich Elemente der experimentellen Psychiatrie wie Hypnose und Trance mit einem neuen Interesse am Unbewussten und an unsichtbaren Dimensionen experimenteller Naturwissenschaft wie Magnetismus, Elektrizität und Radiowellen. Winter betont, dass es sich dabei nicht um ein ganz neues Phänomen handelt, sondern dass sich unter dem Druck der Kriegserfahrung geistige Strömungen des 19. Jahrhunderts verstärkten und neue Formen annahmen. Der große Krieg, wie er noch heute in Frankreich und England genannt wird, hat das Bedürfnis, mit den Toten zu kommunizieren, enorm gesteigert. Väter, Mütter, Witwen und Schwestern versuchten verzweifelt, Botschaften aus dem Jenseits aufzufangen, die sie über Schicksal und Befindlichkeit ihrer Toten unterrichteten. Mit diesem Drang glaubte man auf einen anderen Drang zu antworten.

19 Pound, Canto, 514. 20 Henriksen (2006), 42. Die Reden der Circe tauchen in Pounds Cantos 39 und 47 auf. 21 Winter (1995), 54–77.

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»Nach einem mörderischen Krieg«, so schrieb ein französischer Beobachter, »kann man davon ausgehen, dass sich die Toten bei den Lebenden melden.«22 Winter schreibt dazu: »Die Toten waren buchstäblich überall an der westlichen Front und ihre Invasion der Träume und Gedanken der Lebenden war eine unvermeidliche Folge des Stellungskrieges.«23 In einer Zeit, in der die Population der Toten so abrupt und dramatisch anstieg und in der die christlichen Rituale von Trauer und Trost an Geltungskraft verloren hatten, füllte der säkulare Spiritismus eine schmerzhafte emotionale Lücke. Angesichts des unheimlichen Gefühls, von den Geistern unerlöster Toter umgeben zu sein, erfüllte die Kommunikation mit den Toten zwei wichtige therapeutische Funktionen: sie spendete den Trauernden Trost und sie erlöste die tief verunsicherten Lebenden von quälenden Schuldgefühlen, indem sie die Totengeister befriedete. Auch die Literatur leistete ihren Beitrag zur Bewältigung dieser allgemeinen Erfahrung des Massensterbens. »In ephemeren wie in dauerhaften Werken von Ex-Soldaten wurde die Gegenwart der Toten im Medium von Metapher und Mythos beschworen.«24 Mit Blick auf Joyces und Pounds Hades-Episoden zeigt sich ein sehr unterschiedliches Bild. Joyce gehört ganz ausgesprochen nicht zu denen, die sich der Massenbewegung des Spiritismus angeschlossen haben. Seine entschiedene Negation der Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Lebenden und Toten liest sich vor diesem Hintergrund wie eine ironische Absage an das europäische Phänomen des Spiritismus.25 Bei Pound dagegen ist der Fall komplizierter. Er gehörte selbst zur »verlorenen Generation«, wie Gertrude Stein mit Blick auf viele amerikanische Künstler seine Kohorte genannt hat. Anders als der notorische Individualist Joyce war Pound das Zentrum von Künstlerkreisen und Bewegungen. Zentrale Mitstreiter der von ihm propagierten neuen Kunst (u.A. Gaudier Brzeka, T.E.Hulme) sind im Ersten Weltkrieg gefallen. Pound war klar, dass er ohne sie nicht so einfach in die Zukunft aufbrechen konnte. Er befragte jedoch kein Medium, wie dies seine ehemalige Muse und Verlobte H.D. (Hilda Dolittle) tat, sondern schuf im Medium der Literatur eine symbolische Handlung. Der unbegrabene Gefährte Elpenor wird bei ihm zum Repräsentanten dieser verlorenen Generation, die erst symbolisch begraben werden muss, bevor Pound/Odysseus aufbrechen und das Abenteuer seines neuen Epos beginnen kann. Aber auch die Prophezeiung des Teiresias, die Pound mit in sein erstes Canto aufnimmt, ist in diesem Zusammenhang signifikant:

22 23 24 25

Ebd., 58. Ebd., 69. Ebd., 73. Jay Winter versäumt nicht, auch Kritik und Spott zu erwähnen, die die spiritistische Bewegung trotz ihrer namhaften Vertreter (Conan Doyle, William James, Henri Bergson, Rudyard Kipling) auf sich gezogen hat.

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Odysseus Shalt return through spiteful Neptune, over dark seas, Lose all companions.26

Pound reduziert die ausführliche Botschaft des Teiresias auf zwei Kernelemente: die erfolgreiche Rückkehr und den Verlust der Gefährten. Beide Verheißungen gewinnen rückblickend im Lichte von Pounds Biographie eine neue Bedeutung. Der ambitionierte Dichter, der gehoffte hatte, als moderner Vergil in Mussolini einen zweiten Augustus zu finden, hat auf die faschistische Karte gesetzt und nach dem zweiten Weltkrieg alles verloren. Er kehrte in die USA zurück und entging einem Prozess wegen Hochverrats nur mithilfe eines Attests über geistige Unzurechnungsfähigkeit, mit dem ihm seine Freunde das Leben retteten. So kam es, dass Pound von 1945–1958 in der Heilanstalt St. Elizabeth in der Nähe von Washington residierte und dort Hof hielt. In der Anstalt wurde er von Autoren aus aller Welt besucht und ereichte dort den Gipfel seines literarischen Ruhms, der mit dem Ableben dieser Generation abrupt abbrach. Die Gefährten hat er also nicht verloren, aber seinen Ruf und auf längere Sicht auch sein Publikum.

Familienaufstellungen Pound inszenierte am Anfang seines Epos ein archaisches Toten-Ritual, in dem er den Kontakt mit den Toten herstellte zu dem Zweck, sich auf diese Weise symbolisch von ihnen verabschieden zu können. Was bei Pound in einer eher beiläufigen und versteckten Form vollzogen wird, ist in der neuen Gattung der posttraumatischen und postkolonialen Literatur ins Zentrum der Texte getreten. Die afroamerikanische Autorin Toni Morrison zum Beispiel, die im Nachhall des Traumas der Sklaverei schrieb, hat ihr literarisches Schreiben einmal selbst als ein symbolischrituelles Begraben der Untoten bezeichnet. Sie benutzte eine schamanistische Sprache, um ihren Roman Beloved als einen Beitrag zu einem kollektiven Trauerritual zu beschreiben. Sie spricht in einem Interview von der Verantwortung, die ich für die Frau empfinde, die ich Sethe nenne, und für all diese Menschen; diese unbegrabenen, oder zumindest nicht würdig begrabenen Menschen, denen ich eine Existenz in der Literatur verschaffe. (…) Ich habe die große Angst, ich könnte sie nicht richtig, künstlerisch begraben.27

Wir sind hier mit einem neuen kulturwissenschaftlichen Thema konfrontiert, das die Literaturwissenschaftlerin Kathleen Brogan mit dem Stichwort cultural haunting gekennzeichnet hat.28 Der Untertitel ihres Buches lautet Ghosts and Ethnicity 26 Pound, Canto 1, 4–5. 27 Naylor/Morrison (1985), 585. 28 Brogan (1998). Darin findet sich auch ein Kapitel über Toni Morrison: »Getting back one’s dead for burial: Traumatic History and Ritual Reburial in Toni Morrison’s Beloved«, 61–92.

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in Recent American Literature. Sie stellte für die letzten 25 Jahre eine Obsession mit den Themen Geister und Heimsuchung fest, die das Genre gothic fiction ihrer Meinung nach von Grund auf veränderte und viel mit der Aufarbeitung traumatischer Geschichte aus der Sicht beschädigter ethnischer Minoritäten zu tun hat. Diese Texte gehören zu einer neuen Gattung, die im Medium des literarischen Textes für bestimmte Gruppen kollektive Trauerprozesse stützt und Traumabewältigung leistet. Die Selbstbeschreibung dieser Literatur folgt nicht mehr der modernen Prämisse vom autonom auf sich selbst beschränkten Text und auch nicht der postmodernen Prämisse vom ironisch selbst-referentiellen Text, sondern vollzieht eine symbolische Handlung mit einer sozialen und politischen Wirkung über die Textgrenze hinweg.29 An diesem Punkt möchte ich noch einmal auf die Hadesreise des Odysseus zurückkommen. Diese unterscheidet sich – wie bereits angedeutet – von der Topographie späterer Unterweltreisen und Höllenfahrten. Odysseus muss keine Wächter passieren, er steigt nicht in einen tiefen Abgrund hinab und durchwandert auch nicht wie Aeneas eine ausgedehnte Unterweltslandschaft. Er gelangt vielmehr zu einer Schwelle des Übergangs, zu einer Kontaktzone, in der sich der Lebende und die Toten begegnen. Die ihm von Kirke bezeichnete Stelle entspricht damit weniger einer mythischen Landschaft als einem sog. Nekromanteion, d.h. einem Orakelheiligtum, an dem man im antiken Griechenland mithilfe bestimmter ritueller Vorkehrungen Verbindung mit den Toten aufnahm.30 Damit verlagert sich zugleich der Akzent von einer mythischen Jenseits-Erzählung hin zur Inszenierung eines Kontakts zwischen Lebenden und Toten. Ich möchte abschließend das 11. Buch der Odyssee als Prototyp für eine Kommunikationssituation an der Grenze zwischen Lebenden und Toten lesen, die in jüngster Zeit um ein erstaunliches neues Ritual erweitert wurde: die Familienaufstellung. Wie Odysseus suchen auch die Teilnehmer an einer Familienaufstellung den Kontakt mit den Toten und erhoffen sich von ihnen wichtige Botschaften und eine Orientierung für ihr weiteres Leben. In beiden Fällen erfolgt diese außergewöhnliche Kommunikation unter ganz bestimmten Rahmenbedingungen. Aus der Sprechakt- und Performanztheorie haben wir gelernt, dass Worte ihre besondere Bedeutung, Macht und Wirkung nicht in sich tragen, sondern erst aus den Rahmenbedingungen einer bestimmten Kommunikationssituation gewinnen. In diesem Zusammenhang möchte ich den Begriff des »magischen Kreises« von Johann Huizinga aufnehmen, der gewisse Ähnlichkeit mit Foucaults Begriff der Heterotopie aufweist. Huizinga hat eine wichtige Unterscheidung zwischen Spiel und Ri29 Toni Morrison knüpft dabei an das Modell interaktiver Kommunikationsformen in der afroamerikanischen Community an: »I have to provide the places and spaces so that the reader can participate. Because it is the affective and participatory relationship between the artist or the speaker and the audience that is of primary importance.« Morrison (1984), 341. 30 Herzog (2006), 39.

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tual vorgeschlagen: Das Spiel ermöglicht die Versetzung in eine andere Welt; die heilige Handlung des Rituals tut dies ebenfalls, doch sie ist obendrein eine symbolische Handlung und beansprucht eine verwandelnde Wirkung auf die reale Welt, von der sie deutlich abgegrenzt ist. Die zeitliche und räumliche Form dieser Abhebung hat Huizinga folgendermaßen zusammengefasst: Unter den formalen Kennzeichen des Spiels war die räumliche Heraushebung der Handlung aus dem gewöhnlichen Leben die wichtigste. Ein geschlossener Raum wird materiell oder ideell abgesondert, von der täglichen Umgebung abgesteckt. Dort drinnen vollzieht sich das Spiel, dort gelten seine Regeln. Absteckung eines geweihten Flecks ist auch das allererste Kennzeichen einer jeden geweihten Handlung. Diese Forderung der Absonderung ist im Kult, einschließlich der Magie und des Rechtslebens von weit mehr als nur räumlicher und zeitlicher Art. Beinahe alle Gebräuche von Weihung und Einweihung bringen für die Ausführenden und die Einzuweihenden künstliche Ab- und Aussonderungssituationen mit sich. Überall, wo von Gelübde, von Aufnahme in einen Orden oder eine Bruderschaft, von Eid und Geheimverband die Rede ist, ist jederzeit auf eine oder die andere Weise eine solche Abgrenzung im Spiel, in der all dies gilt. Der Zauberer, der Wahrsager, der Opfernde beginnt damit, dass er seinen geweihten Raum umschreibt.31

Neben dem Gerichtssaal, dem Kirchenraum, der Bühne des Theaters und der Druckseite des literarischen Textes gibt es inzwischen einen weiteren herausgehobenen und abgegrenzten Raum, den ich hier abschließend noch als eine neue Variante der Unterweltsreise vorstellen möchte. Das epische Zentralmotiv und das menschliche Grundbedürfnis, mit den Toten zu kommunizieren, setzen sich heute in einer bestimmten psychotherapeutischen Praxis fort, die sich – trotz zum Teil scharfer Kritik – weltweit größter Beliebtheit erfreut. Auf der Bühne, auf der hier agiert und interagiert wird, werden keine realistischen Situationen oder Rollenspiele des Alltags gespielt, sondern ein unsichtbares innerpsychisches Geschehen extrovertiert, externalisiert, exkarniert. So wie die Magnetresonanzbilder des visual imaging die neuronalen Aktivitäten im Gehirn nicht-invasiv vor Augen führen können, so beansprucht die Aufstellung, tief verborgene Komplexe der Psyche in der Familienaufstellung zu vergegenständlichen. In Deutschland geht die Therapieform der Aufstellung in die 90er Jahre und maßgeblich auf den ehemaligen Priester und Therapeuten Bert Hellinger zurück, der zehn Jahre in Afrika gelebt hat.32 In einem Raum, in dem noch andere Therapeuten oder Klienten als Publikum anwesend sind, wird eine Person, die mit dem Therapeuten bereits über ihre Symptome und Geschichte gesprochen hat, gebeten, ihre Familie mithilfe dieser Anwesenden aufzustellen. Die Bühne, auf der dies geschieht, reflektiert ein imaginäres psychisches Beziehungsgefüge, in dem – und das ist entscheidend – sowohl lebende als auch tote Familienmitglieder in eine 31 Huizinga (1958), 26–27. 32 Bert Hellinger, geb. 1925, hat keine anerkannte Ausbildung zum Psychotherapeuten absolviert. Er war katholischer Ordenspriester und hat zehn Jahre in Südafrika gearbeitet. Zu seiner Biographie vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bert_Hellinger.

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Konstellation miteinander gebracht werden. Diese Aufstellung spiegelt die subjektive Beziehung der aufstellenden Person zu den Aufgestellten wider. Die Aufstellung macht dieses konstellative Beziehungsgefüge nicht nur manifest, sondern – und das ist ebenfalls entscheidend – sie macht es zugleich auch zugänglich für Interventionen und Modifikationen. Die Mitaufsteller erfahren sich auf diese Weise eingespannt in ein dynamisches Gravitationsfeld unterschiedlicher Bindungs- und Affektqualitäten, in dem die familialen Beziehungsströme nicht nur gefühlt, sondern auch in ihren belastenden Erbschaften korrigiert werden können.33 Erstaunlicherweise – und das grenzt wirklich an Kirkes Magie – werden diese Beziehungsströme sogar von denen mitgefühlt, die als vorübergehende Stellvertreter in der Aufstellung agieren. Hellinger bezeichnet diesen energetischen Beziehungszusammenhang mit einem halb-okkulten Begriff als ein »wissendes Feld«.34 Dass er solche Phänomene nicht erklären kann, stört den allein auf seine Intuitionen bauenden Therapeuten wenig. Dass die Aufstellung wegen oder trotz ihres Gurus Hellinger einen so großen Zuspruch genießt, zeigt, dass sie auf einen blinden Fleck nicht nur aller anderen Therapie-Formen, sondern auch im Herzen der westlichen Kultur antwortet. Dieser blinde Fleck betrifft das individualistische Identitätsmodell der modernen Gesellschaft. Dieses Identitätsmodell geht von einer Prämisse aus, der als erster John Locke philosophische Dignität verschafft hat: dass alle biographischen Rechnungen innerhalb der individuellen Lebensspanne einer Person aufgehen müssen. Die zweite Prämisse hat die systemische Familientherapie hinzugefügt: familiale Beziehungen beruhen auf einer Dynamik synchroner Gegenseitigkeit. »Das Tun des einen ist das Tun des anderen« lautet ein Satz aus Hegels Dialektik, den der systemische Therapeut Helm Stierlin als Titel eines Buches gewählt hat.35 Das stark auf die jeweilige Gegenwart ausgerichtete Beziehungssystem Stierlins ist von Hellinger durch ein diachrones Beziehungssystem ersetzt worden, in dem plötzlich auch abwesende und verstorbene Verwandte auftauchen, die einen einseitigen Einfluss auf die Person nehmen. Die Aufstellung schafft einen imaginären Raum, in dem auch abwesende Tote auftauchen und deren einseitige Einwirkungen ausnahmsweise durch symbolische Bewegungen (z.B. durch Veränderung der Positionen und Körperhaltung) und durch liturgisches Sprechen beantwortet werden können. 33 Hellinger geht bei seiner Therapie von bestimmten Grundannahmen aus. Dazu gehören vorauszusetzende »Ordnungen der Liebe«, die archaischen Charakter haben und als überzeitlich wirksam zu respektieren sind. Die Toten haben nach diesem Modell Gewalt über die Lebenden, ihre Biographien, ihr früher Tod, ihre Schuld wirft einen Schatten auf das Leben der Nachgeborenen, auch wenn sie von diesen Biographien wenig oder nichts wissen. In der Aufstellung muss eine nicht beachtete Rangordnung wiederhergestellt werden, die vor allem ausgestoßene Familienmitglieder oder ehemalige Partner anerkennt und wieder integriert. Hellinger (2000); vgl. auch Hellinger (1998). 34 Sheldrake (1988). 35 Stierlin (1976).

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Sie entspricht damit strukturell einer schamanistischen Séance oder Geisterbeschwörung. Das Identitätsmodell der Aufstellung ist nicht auf die biographische Lebensspanne begrenzt. Es zeigt im Gegenteil die Person als eine, die in ein Gefüge von drei und mehr Generationen eingespannt ist und mit diesen in einem Wirkungszusammenhang steht. »Der Mensch ist seelisch ein Mehrgenerationenwesen«36 lautet ein Grundsatz der Familienaufstellung. Dieser Wirkungszusammenhang ist bewusst durch das Familiengedächtnis und unbewusst durch Familiengeheimnisse bestimmt. Halbwissen und Nichtwissen voneinander schafft eine mindestens ebenso starke Verbindung wie das Wissen. In der Tat ist es oft das unbewusst Tradierte, das jenes starke intergenerationelle Band knüpft, mit dem die einzelnen Biographien und Schicksale zusammengezwungen werden. An diesem Punkt zeigt sich eine auffallende Gemeinsamkeit zwischen Aufstellungspraxis und Erinnerungsromanen. Beide beruhen auf einem prä- oder post-individuellen Modell von Identität, das in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft eine immer größere Rolle spielt. Das in der Moderne geforderte, starke Emanzipationsbedürfnis individueller Ablösung und Abgrenzung, wie es zum Beispiel der Bildungsroman des 19. und 20. Jahrhunderts programmatisch thematisiert hat, tritt heute zurück hinter einem nicht weniger starken Bedürfnis nach Eingliederung, Konstellation und Bezogenheit. Individualität wird dabei nicht aufgegeben, aber doch angereichert mit familialen Komponenten, die nicht mehr abgespalten werden, sondern mit eingehen in die Konstruktion der eigenen Identität. Zu diesem neuen Konzept von Identität gehört, dass man sich nicht mehr ausschließlich aus sich selbst heraus, sondern zunehmend auch als Mitglied von Gruppen versteht, denen man sich nicht freiwillig angeschlossen hat, wie der Familie, der Generation, der Ethnie, der Kultur. Wie erklärt sich dieser Wandel des Identitätsmodells? Ich sehe dafür zwei Gründe. Der eine liegt im Zurücktreten der westlichen kulturellen Norm des Individualismus im globalen Horizont nicht-individualistischer Kulturen. Normative Individualisierung im Sinne von Abgrenzungszwang und Einmaligkeitsprämisse erscheint damit nicht mehr als alternativlos verpflichtend sondern nur noch als ein historisch überschaubarer westlicher Sonderweg neben anderen kulturellen Optionen des Selbstverständnisses. Der andere Grund liegt in der posttraumatischen Situation unserer Gesellschaft. In der dritten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg und Holocaust, aber auch in der postkolonialen Gesellschaft, stehen wir noch im Schatten einer langen Vergangenheit, was uns sensibel gemacht hat für größere Zeithorizonte, die unsere individuelle Lebensspanne überschreiten. Wir leben nicht nur in der Gegenwart, sondern beziehen uns zunehmend stärker auf Vorgeschichten zurück, die uns nur vermittelt erreichen, die uns aber dennoch ge-

36 Der Ausdruck stammt von Franz Ruppert und wird zitiert von Ress (2009), 36.

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prägt haben. Diese Vergangenheit ist nicht gänzlich vergangen. Im Guten oder Bösen sprechen die Ahnen noch zu uns, durch uns hindurch oder wirken in uns nach. Die Aufstellung und Traumaromane sondieren diese labile Position des Individuums in der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft und sie bedienen sich dabei archaischer und moderner Formen der Magie. Die Magie der Aufstellung steht der Hypnose näher, die Magie der Literatur steht der Reflexion näher. Beide Medien haben einen wichtigen Einfluss auf unser verändertes Selbstbild. Bei der Familienaufstellung geht es um die Aufdeckung einer traumatischen Vergangenheit, die die Zukunft blockiert. Odysseus wandte sich an Teiresias, denn er war auf der Suche nach einer Prophezeiung; ihm ging es um die Offenbarung seiner Zukunft. Aber durch Elpenor musste auch er lernen, dass, wenn wir uns für die Zukunft öffnen wollen, wir den Umweg über die Vergangenheit nehmen müssen.

Literaturverzeichnis Quellen Frisch, Max, Triptychon. Drei szenische Bilder, Frankfurt am Main 1978. Joyce, James, Ulysses (1922), Harmondsworth 1969. Pound, Ezra, The Cantos, London 1975. Tennyson, Alfred Lord, »Ulysses«, in: British and American Classical Poems, hg. Ludwig Herrig/Horst Meller/Rudolf Sühnel, Braunschweig 1966, 61–63.

Sekundärliteratur Assmann, Aleida, »Schwelle zwischen Alter und Neuer Welt: Francis Bacons Frontispiz zur Instauratio Magna«, in: Atlas der Weltbilder, hg. v. Christoph Markschies/Ingeborg Reichle/ Jochen Brüning/Peter Deuflhard, Berlin 2011, 212–219. Assmann, Aleida, »Was sind kulturelle Texte?«, in: Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, hg. v. Andreas Poltermann, Berlin 1995 (= Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, 10), 232–244. Brogan, Kathleen, Cultural Haunting. Ghosts and Ethnicity in Recent American Literature, University of Virginia 1998. Hellinger, Bert, Ordnungen der Liebe, 6. Aufl. Heidelberg 2000. Hellinger, Bert, Der Abschied. Nachkommen von Tätern und Opfern stellen ihre Familie, Heidelberg 1998. Henriksen, Line, Ambition and Anxiety. Ezra Pound’s Cantos and Derek Walcott’s Omeros as 20th century Epics, Amsterdam/New York 2006. Herzog, Markwart (Hg.), Höllenfahren. Geschichte und Aktualität eines Mythos, Stuttgart 2006. Huizinga, Johan, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1958. Moretti, Franco, Modern Epic: the World System from Goethe to García Marquez, London/New York 1995. Morrison, Tony, »Rootedness: The Ancestor as Foundation«, in: Black Women Writers (1950–1980), hg. v. Mari Evans, Garden City/New York 1984, 339–345.

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Naylor, Gloria/Morrison, Toni, »A Conversation«, in: The Southern Review 21 (1985), 567–593. Platthaus, Isabel, Höllenfahrten. Die epische katabasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004. Pound, Ezra, »Date Line«, in: Ezra Pound, Literary Essays of Ezra Pound, hg. v. T.S. Eliot, London 1963. (= Pound [1963a]). Pound, Ezra, »Early Translators of Homer«, in: Ezra Pound, Literary Essays of Ezra Pound, hg. v. T.S. Eliot, London 1963, 259–275 (= Pound [1963b]). Ress, Radim, »Baummetapher und die Aufstellungsarbeit mit Traumata«, in: Praxis der Systemaufstellung 2 (2009), 36–39. Sheldrake, Rupert, The Presence of the Past (1988); Deutsch: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, Darmstadt 1990. Stierlin, Helm, Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen, Frankfurt am Main 1976. Winter, Jay, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.

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Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther Albrecht Dröse

1. Einleitung Im April des Jahres 1496 sendete der bayrische Herzog und Bischof von Straßburg Albrecht Zeichnungen einiger tierischer Missbildungen an den Humanisten Sebastian Brant. Gegenstand der Darstellung waren Geburtsdeformationen, die kurz zuvor im elsässischen Gugenheim aufgetreten sein sollen. Brant, zu dieser Zeit Rechtsgelehrter und Dozent für Poesie in Basel, verfasste daraufhin ein Flugblatt, das in einer deutschen und einer lateinischen Version erschien: Von der zwiefältigen Gans und den sechsfüssigen Ferkeln zu Gugenheim.1 In der Einleitung des volkssprachigen Blatts heißt es: Kund ich dye kunst Arusp¯ıcum Ariolo¯rum, Au¯gurum Uß vogel, thieren, künfftig dyng Uß legen, und wer nur gering Uß kunst der dotten künfftigs kennen So man Necromancy dut nennen Wann ich die kunst des traumes hett Als Joseph in Egipten dett Künd ich verborgen dyng ußlegen Turst ich des sternes louff an regen Uß aIlen denen nemmen rodt Wer mir zö disen zyten not Hochwirdigster dürchlüchter her Das dynen gnaden jch zö ere Ußlegen mocht jn mynem gdicht 1 Ich zitiere hier die Titel nach dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW). Der genaue Titel der Flugschrift ist unbekannt, da die deutsche Version nur in einem Fragment überliefert ist. Der Abriß lautet nach der Ausgabe von Thomas Wilhelmi (siehe Anhang): An den hochwürdigen durchluchtigsten fursten und hernn hern Albrechten von gottes gnaden B[…] Ryn Hertzogen jn Beyem, und Landt graven zuo Elsaß, Von der zwifaltigen Ganß, Ouch V[…] Guogenheim uff mittwoch ostren jm XCVJ Jor befunden Eyn ußlegung Sebastiani B[rant.]

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Albrecht Dröse Die seltzen wunderlich geschicht So die natur uns dût bedüten Mit wunderbar thieren und lüten.2

Die »wunderbaren Tiere und Leute« sind also als Zeichen zu verstehen, genauer als Vorzeichen, weil sie auf »künfftig dyng« verweisen; die Interpretation dieser Zeichen erfordert divinatorische Kompetenzen, für die antike Deutungsspezialisten aufgerufen werden, wobei insbesondere die römischen Zeichendeuter einen prominenter Platz erhalten: Auguren, Wahrsager (Arioli), Haruspices. Brants demonstratives Dementi, über derartige Kompetenzen zu verfügen, führt etwas in die Irre, hatte er sich doch zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach mit der Deutung solcher Wunderzeichen befasst: Bereits 1492 berichtete er mit dem Donnerstein von Enisheim über den Einschlag eines Meteors; 1495 informierte er über die Zwillinge von Worms, kurz zuvor, April 1496 erscheint die Wundersau von Landser. Brant steht damit am Beginn der frühneuzeitlichen Prodigienliteratur, die in einer Unzahl von Flugblättern und Flugschriften zirkulierte und schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts in dickleibigen Kompendien zusammengefasst worden ist, wie Job Fincels Wunderzeichen (1556), Conrad Lycosthenes’ Prodigiorum ac ostentorum chronicon = Wunderwerck (1557) und Kaspar Goltwurms Wunderwerck und Wunderzeichen Buch (1557).3 Signifikant ist, dass sich Brant auf autoritative Rollenkonzepte der antiken Prodigiendeutung bezieht: Damit kommt eine spezifische Kommunikationssituation ins Blickfeld, in der antike Praktiken und Wissensbestände in neue Sinnzusammenhänge eingepasst werden. Das Grenzproblem stellt sich hier in doppelter Hinsicht: Zum einen als Frage nach den Grenzen antiker Zeichendeutung in der Frühen Neuzeit, zum anderen als Frage nach den monströsen Misch- und Zwischenwesen, die sich in der Überschreitung von Grenzen konstituieren,4 denn an dieser Transgression setzt die prodigiale Sinnproduktion an. Diese komplexe Problematik kann hier nur exemplarisch untersucht werden, im Blick auf zwei Autoren, die an der Herausbildung dieses Medientyps in der Frühen Neuzeit wesentlich beteiligt waren: Sebastian Brant und Martin Luther. Das Ziel ist, einen Einblick in die Modi und Funktionskontexte der frühneuzeitlichen Transformation antiker Prodigiendeutung zu gewinnen.

2 160,1–18. Text und Zählung nach der Ausgabe von Thomas Wilhelmi (siehe Anhang). 3 Dazu die umfassende Arbeit von Soergel (2012). 4 Vgl. Foucault (1999/2007), insbesondere 86, wo er das Monster als »Mischwesen« bestimmt, z.B. aus zwei Arten oder zwei Geschlechtern: »Folglich überschreitet es die natürlichen Grenzen, die Klassifikationen, die Kategorientafel und das Gesetz als Tafel. Genau darum geht es in der Monströsität.« Zur neueren Diskussion über das Monströse vgl. Macho (1990/1998), die Beiträge in Hagner (1990) und sowie Geisenhanslücke (2009), 9ff.

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2. Antike Prodigiendeutung und mittelalterliche Monstrologie Die römische Zeichendeutung war ein komplexes Kommunikationssystem, das hier nur grob umrissen werden kann:5 Grundsätzlich lassen sich erbetene Vorzeichen (signa impetrativa), die durch Prozeduren wie die Vogel- und Eingeweideschau ermittelt werden, von den Prodigien im eigentlichen Sinn unterscheiden, d.h. zufällige, unerklärliche und naturwidrige Erscheinungen (signa oblativa), die eine Störung des Friedenszustands zwischen der res publica und den Göttern (pax deorum) anzeigen.6 Traditionell zählen dazu etwa erschreckende und/oder naturwidrige Ereignisse wie Himmelszeichen (Blitzeinschläge, Meteore, Kometen), Niederschlag ungewöhnlicher Stoffe (Steinregen, Blutregen), Geburtsdeformationen bei Mensch und Tier usw. Der Vielfalt der Erscheinungen korrespondiert eine Bezeichnungsvielfalt als prodigium, ostentum, portentum oder signum; unerklärliche Phänomene in der belebten Natur bezeichnete man als monstrum, Sprachzeichen als omen.7 Es ist deshalb nicht ganz einfach, eine angemessene Definition für die Prodigien zu finden.8 Interessant für den hier diskutierten Zusammenhang erscheint mir, dass Prodigien als Grenzphänomene beschrieben werden können: Sie zeigen zum einen Grenzverletzungen, d.h. die Verletzungen von göttlich sanktionierter Normen und Tabus an, die eine rituelle Entsühnung verlangen; diese Rituale wären entsprechend als eine Restitution dieser Grenzen deuten.9 Aber Prodigien sind auch selbst als Verletzungen von Grenzen konstituiert: Seien es die Grenzen sozialer Räume, wie beim Eindringen eines Vogels in den Tempel oder bei einem Blitzeinschlag in der Stadt Rom, oder die Grenzen von Körper und Geschlecht, wie beim Hermaphroditen. In der Regel musste das Zeichen entfernt bzw. neutralisiert werden: Der Hermaphrodit wurde ausgesetzt, der Ort des Blitzeinschlags durch die Errichtung eines Blitzgrabs (de-)markiert. Als Warnzeichen ist das Prodigium eine Form göttlicher Kommunikation. Das hatte in der Antike auch den Charakter eines Privilegs: Dass die Götter mit Rom kommunizierten, bestätigte die römische Vorrangstellung. Da die Prodigien die res publica betrafen, war ihre Deutung von öffentlichem Interesse und vollzog sich in einem geregelten Verfahren:10 Das fragliche Ereignis wurde einem Magis5 Vgl. dazu und zum Folgenden Händel (1959); Distelrath (2012); Rosenberger (1998); Engels (2007). 6 Dass das römische Vorzeichenwesen sich nicht in diesen prodigia publica erschöpft, betont Engels (2007), 39f. Ohnehin kann hier nur ein Abriß des römischen Prodigienwesens gegeben werden, der sich auf das Wesentlichste beschränkt. Vgl. auch Linderski (2012) und Briquel (2012). 7 Zur historischen Terminologie vgl. Engels (2007), 57f. und 259ff. 8 Vgl. die Diskussion bei Engels (2007), 38ff. 9 Rosenberger (1998), 243. 10 Distelrath (2012); Rosenberger (1998), 23f.

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traten gemeldet, der dann den Senat davon in Kenntnis setzte. Der Senat konnte in einer Anhörung dieses Zeichen offiziell zu einem Prodigium erklären oder es als bedeutungslos für die Öffentlichkeit verwerfen. Über die anerkannten Prodigien wurde ein priesterliches Gutachten erstellt: Das war namentlich Sache der Quindecim viri sacris facundis, denen die Verwaltung der Sybillinischen Bücher oblag.11 In ihrem Gutachten ging es weniger um eine Prognose, als vielmehr darum, in der sybillinischen Sammlung einen auf das Prodigium passenden Orakelspruch zu finden und auf dieser Basis geeignete Sühnemaßnahmen (procuratio) festzulegen. Statt der Quindecimviri konnten aber auch die etruskischen Haruspices zu Rate gezogen werden, die eine genauere Analyse des Zeichens anstrebten, um die Identität des erzürnten Gottes, den Anlass des göttlichen Zorns sowie Art und Grad des drohenden Unheils zu ermitteln. Die Zeichen wurden gesammelt und an einem Jahrestag kollektiv entsühnt, in der Regel durch Feste oder Prozessionen, deren Durchführung zu den Aufgaben der Konsuln zählte. Im Zusammenspiel der politischen und religiösen Institutionen wird die gesellschaftliche Relevanz der Prodigiendeutung erkennbar. Funktional betrachtet, wird die Prodigiendeutung als ein politisches Kommunikationsmedium begreiflich, mit dem die Eliten ihre Krisenbewältigungskompetenz unter Beweis stellten und in den Entsühnungsriten zugleich die soziale Integration beförderten.12 Das römische Staatsvorzeichen verliert seit dem ersten Jahrhundert vor Christus und beschleunigt in der Kaiserzeit an Bedeutung, an seine Stelle treten Herrschafts-, Sieges- und Todesvorzeichen zentraler politischer Figuren wie Feldherren und Herrscher.13 Die politisch-religiöse Praxis der Vorzeichendeutung unterliegt in der Spätantike zudem einer prinzipiellen christlichen Kritik, wie sie u.a. Augustin im Gottesstaat formuliert. Das Vorzeichenwesen stand in Konkurrenz zur christlichen Zeichen- und Offenbarungslehre; mantische Techniken, insbesondere Wahrsagepraktiken wurden als Aberglaube (superstitio) abgelehnt, worin man zum Teil an pagane Autoren wie Cicero anschloss.14 Andererseits integrierte die christliche Hermeneutik Elemente der Prodigiendeutung, indem sie den Diskurs über Monstra in einem neuen theologischen Rahmen fortführte. Hier flossen die Geburtsdeformationen zusammen mit Vorstellungen von den Wundervölkern, wie sie in der Alexandertradition oder bei Plinius den Älteren in der Historia naturalis überliefert sind.15 Bezeichnenderweise hatte Augustin in De civitate dei die Monstren ihres Prodigiencharakters entkleidet und stattdessen ausdrücklich die Ge11 Zur Geschichte dieses Kollegiums, das sich seit dem mythischen Erwerb der Bücher durch Tarquinius Superbus von einem Duovirat zu einem Kollegium von 15 Männern entwickelt hatte vgl. etwa Wissowa (1912), 461ff. 12 Zur Diskussion vgl. Rosenberger (1998), 241ff. 13 Engels (2007), 778. 14 So Laureys (2005), 201f. 15 Zur Begriffsgeschichte des Monströsen vgl. Münkler (2010), des Weiteren Daston/Park (1998/2002). Vgl. auch den Beitrag von Julia Weitbrecht in diesem Band.

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schöpflichkeit der Wunderwesen hervorgehoben: Seien es individuelle Deformationen oder die phantastischen Völker am Rand des Erdkreises: Jegliches Geschöpf gibt, so fremdartig es auch sein mag, Gott die Ehre, selbst wenn es unseren kleinlichen Maßstäben nicht entspricht.16 Das Außergewöhnliche und Abweichende gilt als das Wunderbare (mirabilium). Die Monstra sind Manifestationen der Allmacht Gottes und seiner »schöpferischen Freiheit«.17 Allerdings blieb vor dem Hintergrund des ontotheologischen Modells einer göttlichen Schöpfungsordnung die Transgressivität der Monstra auch für Augustin eine beständige Quelle der Irritation.18 Es lag nahe, die »abweichende körperliche Gestalt« auch als »Ergebnis eines Widerspruchs« zu deuten, der gegen die Ordnung gerichtet ist.19 In Augustins allegorischer Auslegung der Noahgeschichte (1. Mose 9) etwa werden die Wundervölker als Nachkommen Chams identifiziert, womit eindeutig auch »ethische Implikationen« verbunden sind.20 Diese unterschwellige Ambivalenz setzt sich im Mittelalter fort. Schon im 7. Jhd. betonte Isidor von Sevilla in seinen bis in die Frühe Neuzeit hinein rezipierten Etymologia ausdrücklich die prodigiale Zeichenfunktion der Wunderwesen: Monstrum wird von ihm nicht nur auf monstrare (zeigen), sondern ausdrücklich auf monitus (Ermahnung, Warnung) zurückgeführt.21 Auch wenn dieser Bezug bei Isidor keine negative Bewertung der Monstra impliziert,22 so wird doch ihr Charakter als Warnzeichen wieder hervorgehoben. Kaum zufällig lässt sich unterhalb des theologischen Metadiskurses in der Historiographie der Spätantike und des Mittelalters eine merkwürdige Kontinuität prodigialer Sinnproduktion verzeichnen.23 Die Geschichtsschreibung des Mittelalters, von welthistorischen Entwürfen bis hin zu lokalen Chroniken, arbeitet weiterhin mit der Kategorie des Vorzeichens (prodigium, portentum, omen) und knüpft dabei an die antiken Typologien an, wozu neben astronomischen Phänomenen auch die Monstra gehören. »Die offensichtlichen Normverstöße gegen die Natur erhalten vor dem Hintergrund der christlichen Sündentheologie ihren Sinn als direkte providentielle Zei16 Augustinus, Gottesstaat, 293. Marco Heiles übergeneralisiert diese Auffassung der Monstra allerdings zum »gültigen Konzept« des Mittelalters (Heiles [o.J.]). 17 Münkler (2010), 48. 18 Darauf verweist Neumann (1990), 38f. 19 Über den Umgang mit individuellen Geburtsdeformationen in der mittelalterlichen Kultur lassen sich kaum allgemeingültige Aussagen treffen. Vgl. Hagner (1990), 13. Außerdem Friedrich (2009), 122ff. über den wilden Mann als soziale Randfigur. 20 Neumann (1990), 39. 21 Ewinkel (1995), 60f.: Isidor hebt in seiner Erläuterung auf die Zeichenfunktion ab: »Sie werden genannt portenta (portendere – Zukünftiges ankündigen); ostenta – vorzeigen –; monstra – monstrare – zeigen.« 22 Münkler (2010), 34f. 23 Aus fachhistorischer Sicht erörtert diesen Zusammenhang Heinzelmann (2002), 32ff. Vgl. von der Höh (2006), 170ff. mit Bezug auf die pisanische Geschichtsschreibung im Hochmittelalter.

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chen.«24 Sie werden als Warnungen vor den Strafen Gottes verstanden, die gewöhnlich Plagen nach sich zogen (Hungersnöte, Kriege, Überschwemmungen). In diesem Kontext erfahren die individuellen Mißbildungen jedoch noch keine gesteigerte hermeneutische Aufmerksamkeit. Der Blick der mittelalterlichen »Hermeneutik der Fremde« richtet sich vielmehr auf die monströsen Völkern am Erdrand, wie man noch in Hartmann Schedels berühmter Weltchronik von 1493 beobachten kann.25 Diese Hundeköpfigen, Onocentauren, Kranichmenschen usw. sind nicht nur physisch, sondern auch räumlich Geschöpfe der Grenze. Sie sind Anlass für vielfältige allegorisch-tropologische Auslegung und führen zugleich die Allmacht des Schöpfers vor Augen. Darüber hinaus existiert jedoch in den religiösen Denk- und Bildwelten mit den Figurationen des Teuflischen noch ein anderer Funktionstyp des Monströsen:26 Die höllischen Kreaturen sind als deformierte und transgressive Wesen entworfen; sie demonstrieren jene »logische Beziehung« zwischen der Missgestalt und dem Bösen, die schon bei Augustin aufschien.27 Als Verkörperungen der Widergöttlichen und Sündhaften verweisen sie dabei nicht nur auf moralische Grenzen, sondern auch auf die endzeitliche Grenze; sie treten immer dann verstärkt auf, wenn man das »Ende der Welt und der Geschichte« nahe wähnt.28 Aber auch in dieser Hinsicht verbleiben die Monstra im Mittelalter im Bannkreis eines »theozentrischen« Diskurses.29 Die frühneuzeitlichen Transformationen des Monströsen, wozu nicht zuletzt die Fokussierung auf das abweichende Individuum gehört, dürften nicht zuletzt mit einer Aktualisierung antiker Konzeptionen des Vor- und Unheilszeichens zusammenhängen.

3. Zeichen und Wunder bei Brant Brants Prodigiendeutung konstituiert sich über eine solche Aktualisierung und Umformung des antiken Modells und vollzieht dabei konzeptionell die Synthese unterschiedlicher Traditionslinien.30 In seinem ersten monstrologischen Blatt, den Zwillingen von Worms, liefert Brant eine ausführliche Bestimmung seines Unternehmens. Brant geht aus von der göttlichen Weltordnung und definiert die Abweichung vom festgelegten Verlauf als ein von Gott gesetztes Zeichen; anders als bei Augustin verweist das mirabilium unbedingt auf ein miraculum, also auf ein Eingreifen Gottes in den Weltlauf: »Dann wunder zaigt wunder an« (152,47). 24 Friedrich (2009), 120, mit Verweis auf Vinzenz von Beauvais. 25 Vgl. zum Folgenden Münkler/ Röcke (1998) sowie den Beitrag von Julia Weitbrecht in diesem Band. 26 Dazu Röcke (2000), 11ff. 27 Vgl. Neumann (1990), 39; ebenso Scribner (1981), 133. 28 Röcke (2000), 12. 29 Münkler (2010), 49. 30 Vgl. auch zum folgenden Soergel (2012), 9ff.; des Weiteren Heiles (o.J.), 4.

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Brant verbindet diese theologische Engführung der Wunder mit einem historischen Rekurs auf die antike Praxis der Prodigiendeutung: Wann die haiden söllich wunder sahen Detten si sich jren göttern nahen Die wurden schon von jnen geert Do mit das böß in g˚uts verkert Wurd, oder doch sich myndren solt Sy merckten das got wurcken wolt Durch söllich frembd wunder frömbder werck.31

Brant zeigt sich über das antike Verfahren gut informiert, wenn er bspw. die Konsultation der Sybillinischen Bücher beschreibt: Z˚u rom hat man ein eige berck, Dar auff Sibillen weissag lag Z˚u lesen man die allzeit pflag Wann man etwas sölich wunder sach Und was die selb geschrifft auß sprach Das hielten sy von wort zu wort.32

Brant ist in seiner Darstellung bemüht, eine Kontinuität der Wunderzeichen von der antiken bis zur christlicher Kultur herauszustellen. Die Wunder werden vor diesem Hintergrund als Warn- und Vorzeichen plausibel: »So got unß manet vor der zyt.«33 Brant führt dazu eine Reihe von Beispielen an, die bis in die Reichsgeschichte hineinreicht: Als do der wütrich Attila Die welt verwust unnd Tottila Sach man vil wunder vor und nach Dar mit verkündt got straff und rach […] Als Oto der drit teilt das reich Den kurfürsten. sach man deß gleich Ein geburt. vom nabel sich auffspielt Zw˚u brüst. vier hend. zwen kœpf. eß hielt Unnd wann ir einß aß oder wacht Schlief das ander. do bey ich acht Dz solich werck hab die fürsten gstrafft So ainer wacht der ander schlafft Jr kopf mit teylung vast erscheynt Sy wurden seyd nie gantz veraint.34 31 152,27–33. 32 152,34–39. Als Gewährsmann nennt Brant übrigens Livius (152,26). Vgl. die lateinische Version, in der auch die Quindecimviri erwähnt werden (153,25–28): »Inde et Rhomani posuerunt scripta Sybillae /In templum: addentes quinque decemque viros / Qui, viso ostento, librorum iussa sacrorum / Consulerent: medicas edoceantque vias.« 33 152,43. 34 152,54–57.

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Die Zeichen werden nicht mehr nur tropologisch, als allgemeine Warnungen vor göttlichen Sündenstrafen begriffen, sondern auch und vor allem ausdrücklich politisch gedeutet und auf konkrete gesellschaftliche Veränderungen bezogen. Brants Einsatz besteht darin, nicht mehr ex post, als rückwärts gewandter Prophet, solche Verbindungen aufzuzeigen, sondern im Anschluss an die antiken Konzeptionen eine aktuelle Interpretation des Vorzeichens vorzunehmen und auf diese Weise in den politischen Diskurs zu intervenieren. Die antike Prodigiendeutung stellt dafür die entsprechenden »Kommunikatorrollen« des Magiers, Auguren und Weissagers bereit.35 Eine Vorzeichendeutung dieser Art allerdings ist in einer christlichen Kultur durchaus prekär, beansprucht sie doch einen Einblick in die göttliche Providenz. Gerade im Rückgriff auf die antiken Muster wird deutlich, dass Autorität und Charisma der paganen Deutungsspezialisten in den Kontext der eigenen, christlichen Kultur ebenso wenig übertragbar ist wie ihre Vorgehensweisen und Referenzen. Brants Rede konstituiert sich daher in einem gewissen ironischen Understatement, in der Rollenambivalenz des Dichter-Sehers (poeta-vates); seine Blätter bezeichnet Brant in den Titelzeilen als »avßlegung« (explanatio, interpretatio), aber auch als »gdicht«;36 sich selbst ausdrücklich als »Dichter«.37 Gedicht bedeutet hier natürlich nicht einfach Fiktion, aber hebt doch den Aspekt der Diktion hervor, d.h. der Text ist als ein kunstvoll gestalteter Entwurf mit gewissen literarischen Lizenzen markiert.38 Denn Brant verkündet seine Deutung nicht als bestallter Augur, sondern präsentiert sie in der Ich-Form, in einer rhetorischen Inszenierung von gelehrter Subjektivität. Die Flugblatttexte führen ein reflektierendes und räsonierendes Autor-Ich vor,39 das seine Vermutungen und Anmutungen in den Diskurs einbringt, d.h. Wissensformen und Verstehensebenen jenseits begrifflicher Rationalität und Rechtfertigungszwang.40 Seine Deutungen spielen unterschiedliche Varianten durch, darin der Suche der Quindecimviri nach dem passenden Orakel nicht unähnlich. Brants Auslegungen erfolgen freilich nicht aus reiner Willkür heraus, sondern auf einer Basis, die dem Sprecher und seiner Deutung Glaubwürdigkeit verleiht: Nicht die sybillinischen Bücher als Inbegriff antiken esoterischen Wissens, sondern sein persönliches Wissen über die Antike und seine Beobachtung der Phänomene, allgemein die historische, juristische, ethisch35 Knape (2006), 145. 36 Siehe oben das Eingangszitat aus der Zwiefältigen Gans (160,15): »Ußlegen mocht jn mynem gdicht […]«. Im Titel der Wunderbaren Su zu Landser ist vorsichtig von einer »versähelich ußlegung« bzw. coniecturalis explanatio die Rede (158, Überschrift). 37 152,63: »Got geb jm was der dichter begerdt.« Ebenso in der Wundersau; der Zwifältigen Gans (160,15). Inwieweit dafür konkrete literarische Vorbilder, bspw. Vergils Georgica, wirksam werden, kann ich hier nicht weiter diskutieren; vgl. dazu Harrison (1981). 38 Grundsätzlich dazu Genette (1991). 39 Z.B. 152, 125: »dar auff warlich hab gelaubt …« 40 Diese Unterscheidung nach Hogrebe (2005).

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moralische, und nicht zuletzt auch poetische Kompetenz des hochgelehrten Humanisten Sebastian Brant, Doktor beider Rechte und Autor des Narrenschiffs verbürgen die Relevanz seiner Interpretationen. Dank der Integration unterschiedlicher Wissensformen können sie das antike Vorbild sogar überbieten.41 Brant hat seine Zeichendeutungen in der Regel zweisprachig, auf Deutsch und Latein publiziert. Eine umfassende Analyse, die hier allerdings nicht angestrebt wird, hätte beide Versionen zu berücksichtigen. Schon aus Platzgründen beschränke ich mich hier auf die deutschen Blätter und greife nur sporadisch auf die lateinischen Texte zurück. Dies ist insofern gerechtfertigt, als sich mit dem Schritt in die Volkssprache eine generelle Verschiebung der Kommunikationssituation abzeichnet: Frühneuzeitliche Prodigiendeutung ist seit Brant eine Angelegenheit des Buchdrucks und steht in einem Wechselverhältnis mit dem kommunikativen Möglichkeiten des neuen Mediums. Die Verwendung der Volkssprache korreliert den neuen Distributionsmechanismen des Buchmarkts, die auch die ungelehrten, d.h. des gelehrten Lateins unkundigen Schichten in den Kommunikationsprozess integriert: Freilich geht es hier noch nicht um ein unspezifisches Massenpublikum, Brant hat auch in seinen deutschen Blättern die zeitgenössischen Funktionseliten im Blick.42 Dennoch erfahren antikes Wissen und die antike Praxis der Prodigiendeutung bei Brant eine erste mediale Entgrenzung. Dazu tragen nicht zuletzt die Holzschnitte bei, die eine Visualisierung des Wunderzeichens leisten. Das Druckmedium Flugblatt garantiert zugleich eine neue Aktualität. Brants Blätter präsentieren sich daher stets als Deutungen aktueller Ereignisse: Brants wohl noch im Herbst 1495 erschienenes Blatt bezieht sich auf die Geburt am Kopf verwachsener Zwillinge am 10. 9. 1495 in Bürstadt bei Worms. Ihre besondere Bedeutung erhielten die Zwillinge durch die zeitliche und räumliche Nähe zum Wormser Reichstag: Dann yetz bey wurmß gleich an der stat man solich ding beschlossen hat Die der gemainen kristenhayt Zu frid helffen unnd eynikait.43

Dieses Zwillingswesen definiert sich über eine spezifische Transgression, insofern hier die Grenze zwischen den Individuen partiell aufgehoben ist.44 Damit ist es geeignet, ein spezifisches Verhältnis von Einheit und Vielheit vor Augen zu führen. 41 Vgl. Wuttke (1994), 107. 42 Die lateinische Version der Zwillinge zu Worms ist dediziert an Konrad Stürtzel, den Hofkanzler Kaiser Maximilians I. Sack verweist für die deutsche Version der Wundersau auf die südwestdeutsche Reichsritterschaft (Sack [1997], 25). Ferner ist an die städtischen Oberschichten zu denken. 43 152,110–113. 44 Vgl. nochmals Foucault (2007), 86. Foucault zählt zu den verschiedenen Formen der Mischwesen auch die »Mischung aus zwei Individuen: Wer zwei Köpfe und einen Leib, zwei Leiber und einen Kopf hat, ist ein Monster.«

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Abb. 1: Ausschnitt aus Sebastian Brant, Wormser Zwillinge

Brant versteht die Zwillinge als göttlichen Kommentar zum Reichstag, aber keineswegs als prodigium, d.h. als übles Vorzeichen im antiken Sinne, sondern als Bestätigung seiner Beschlüsse, namentlich des Vertrages vom 7. 8. 1495, worin Kaiser und Reichsstände sich unter anderem auf den ewigen Reichslandfrieden, den gemeinen Pfennig und die Einrichtung des Reichskammergerichts verständigt hatten.45 Prodigiendeutung vollzieht sich über die (Re-)Konstruktion von Analogien und damit über ein Grundprinzip vormodernen Wissens:46 Die Zwillinge bezeichnen das vielfach geteilte Heilige Römische Reich; da sie am Kopf zusammengewachsen sind, hätten sie auch nur ein Hirn, ein »verstentnuß« (152,124). Die am Kopf verbundenen Zwillinge (Craniopagoi) fungieren dabei als Gegenbild der Erscheinung der im Hüftbereich verwachsenen Zwillinge (Ischiopagoi) aus der Zeit Ottos III., die nach Brant die Teilung des Reiches symbolisieren. Brant gewinnt daraus den Topos von Haupt und Gliedern, das klassische organische Modell der Beschreibung sozialer Ordnung. Die Zwillinge verkörpern damit nicht nur das Reich in neuer Eintracht, sondern als Vereinigung des Getrennten sind sie Vorzeichen einer kommenden, umfassenderen und tiefgreifenden Einheit der gesamten Christenheit. Von entscheidender Bedeutung scheint mir zu sein, dass Brant (der ja auch astrologische Blätter veröffentlichte) die Zwillinge nach dem Muster einer planetarischen Konjunktion begreift, d.h. als dynamische Verbindung und Steigerung von Kräften. Nach dieser Lesart erscheinen die Zwillingen als eine glückverheißende Konstellation. Der Zeichendeuter entwirft daher kühne politische Wunschbilder der Vereinigung von »geistlichem und weltlichem Schwert« (152,129f.), d.h. zwischen Papst und Kaiser und sogar zwischen dem römischen und dem griechischen Kaisertum, was etwas ir45 Zum Kontext vgl. Wuttke (1977); Po-chia Hsia (2004), 67ff. 46 Das System der Ähnlichkeit in der mittelalterlichen Episteme skizziert u.a. Münkler (2010), 30ff. im Anschluss an Foucault. Für die antike Prodigiendeutung vgl. Rosenberger (1998), 91ff.

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ritieren mag, existierte das Byzantinische Kaiserreich nach der Eroberung Konstantinopels 1453 zum Zeitpunkt der Publikation seit über 40 Jahren nicht mehr. Brant formuliert hier einen verklausulierten Aufruf zum Feldzug gegen die Türken, wie überhaupt die Türkengefahr für ihn ein beherrschendes Thema ist.47 Brants optimistische Deutung der Zwillingsgeburt ist insofern bemerkenswert, als Zwillinge in der römischen Tradition eher als Unheilszeichen gedeutet wurden.48 Brant streift diese Deutungstradition in der deutschen Version aber nur kurz, als indirekte Warnung an die Reichsstände, nicht aus dem Verband auszuscheren. Hier zeigt sich die rhetorische Souveränität des Dichter-Sehers, der das traditionelle malum in ein bonum umdeutet. Breiter ausgeführt ist dieser Aspekt in der lateinischen Fassung des Flugblatts, die sich an das gebildete Publikum wendet.49 In der Divergenz zwischen deutscher und lateinischer Version zeigt sich nicht nur, dass der Rhetoriker Brant adressatenspezifisch argumentiert; die Ambivalenz liegt im Wunderzeichen selbst, sie ergibt sich aus dem ebenso problematischen wie produktiven Übergang vom Bild bzw. Zeichen zum Text. Die Zwillinge werden so zu Medien der Politikberatung und prokaiserlicher Propaganda. Dabei geht es nicht nur um die Didaxe, seine besondere Wirkung entfaltet der Text als Deutung eines Vorzeichens, ohne dass Brant eine Prognostik im eigentlichen Wortsinn leisten kann und will. Die Schwäche seiner Redeposition wird hier zur Stärke: Brants aktualisierte Prodigienkommunikation soll nicht unabwendbare Verhängnisse aufzeigen, sondern politische Möglichkeiten umreißen, aus denen sich Imperative sozialen Handelns ergeben. Es geht also nicht um eine letztgültige und verbindliche Auslegung letztlich unbestimmbarer Zeichen, sondern darum, mit historischer Sensibilität und politischem Möglichkeitssinn das Irritationspotential der Zeichen für die Reflexion und den politischen Appell produktiv zu machen. In spezifischer Beziehung zu den Wormser Zwillingen steht das zweite monstrologische Flugblatt Brants, die Zwillingssau von Landser. Anlass war die Geburt eines deformierten Ferkels in Landser Anfang 1496; der Landser Amtmann Christoph von Hastatt übersendet das Zwillingsferkel am 1. März an Brant.50 Brants Deutung erfolgt auch zunächst eher tentativ, in Verweis 47 Vgl. zu diesem Aspekt Hayton (2007). 48 Vgl. Rathmayer (2000), 40f.; Mehrlingsgeburten werden etwa im Liber prodigiorum des Iulius Obsequens regelmäßig als Prodigia verzeichnet. 49 153,95–110. 50 Vgl. dazu die ausführliche Interpretation von Sack (1997). Sack nimmt an, dass es sich bei der Übersendung des Ferkels um einen groben Scherz des Amtmannes handelt, der Brant darauf hinweisen will, dass derlei Mißbildungen häufiger vorkommen und nichts Ungewöhnliches seien. Entsprechend begreift sie Brants Wundersau als satirische Antwort. Auch wenn mir diese Lesart nicht zwingend erscheint, bringt sie eine vernachlässigte Dimension der Brantschen Wunderzeichendeutung mit Nachdruck zur Geltung; Sack unterschätzt dabei allerdings das Irritationspotential des Zeichens. Beizupflichten ist ihr darin, dass der Text beständig zwischen »Scherz und Ernst« schwankt (Sack [1997], 28f.).

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Abb. 2: Sebastian Brant, Von der wunderbaren Sau zu Landser (Ausschnitt)

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auf die Fülle der seltsamen Erscheinungen, worin er durchaus ironisch auch die »Narrenvögel« einbezieht.51 Für die Deutung der Sau bezieht sich der Humanist wieder auf ein antikes Muster, das sog. Sauprodigium aus Vergils Aeneis: Aeneas wird geweissagt, er werde am Tiber eine riesige Sau mit 30 Frischlingen finden, dort solle er die Stadt gründen.52 In den 30 Frischlingen ist bekanntlich die Zahl der römischen Könige präfiguriert. Damit ist die Ferkelgeburt in einen politischen Kontext gerückt: Durch suw man ettwan küntniß macht Wann man eyn gmeynen frid betracht, Aber was dise Su bedüt Weis ich nit gantz, es gfalt mir nüt.53

Brants Missfallen rührt aus dem Vergleich mit den Wormser Zwillingen, deren säuisches Analogon ihm übel anmutet: Mich ducht lidlicher uber eyn Das kint by wurms mit lyben zweyn Wie wol es wibsch geboren wart Hatt es doch menschlich gstalt und art, ViI glyder under eym houbt syn Gfiel mir, wann diß nit wer eyn schwyn, ViI zungen under eym houbt stan Lobt ich, das nit wer Suwsch getan.54

Die Wormser Zwillinge sind, obwohl sie weiblich sind (eine misogyne Einschränkung, da dies offenbar ihren Status mindert), ein glückliches Vorzeichen. Die Zwillingssau stellt gewissermaßen die Parodie der Wormser Zwillinge dar, das Gegenbild und die Verkehrung des Wunderzeichens. Organisierendes Prinzip der Deutung ist eine der wichtigsten Grenzziehungen in der symbolischen Ordnung der Vormoderne: die Opposition von Mensch und Tier. Diese Abgrenzung folgt biblischen Vorgaben: Sie ergibt sich erstens aus der Schöpfungsgeschichte, die den Menschen zu Gottes Ebenbild erhebt und das Tier auf eine niedere Stufe verweist. Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist durch den Unterschied zwischen sensus und ratio, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, bestimmt.55 In der ursprünglichen Harmonie gehorchten die Tiere dem Menschen. Aber infolge des Sündenfalls (und das ist die zweite Vorgabe) wird diese Abgrenzung prekär: Geht doch nunmehr durch den Menschen selbst der Riss zwischen tierischer Sinnlich51 158,24ff. 52 Vergil, Aeneis III, 388–393: »signa tibi dicam, tu condita mente teneto: / cum tibi sollicito secreti ad fluminis undam / litoreis ingens inventa sub ilicibus sus / triginta capitum fetus enixa iacebit, / alba solo recubans, albi circum ubera nati, / is locus urbis erit, requies ea certa laborum.« 53 158,86–87 54 158,90–99. 55 Vgl. Friedrich (2009), 40f.

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keit und Vernunft. Dieses sinnliche Moment birgt die stete Gefahr einer Vertierung und Verwilderung des Menschen. Die sieben Todsünden etwa werden durch Tiere symbolisiert, dabei steht das Schwein traditionell für die Todsünde von Wollust und Unzucht (für die lux u¯ ria); greifbar im biblischen Bild des Schweins, das den Weinberg verwüstet.56 Das Schwein ist daher für Brant das »wüst unreyn thier« (158,102). Dieses Bild hat nicht nur einen religiösen, sondern für Brant auch einen ordnungspolitischen Aspekt: »Die monströse Sau bricht nun als wildes Tier in das umhegte und kultivierte Land ein.«57 Politisch gewendet, ist damit eine der zentralen mittelalterlichen Legitimationsstrategien von Herrschaft aufgerufen, dieses tierische, sinnenfixierte und gewalttätige Moment zu unterdrücken. Brant folgert daher: »Dar umb vörcht ich diß Su bedüt / Eyn oberkeyt der Suwschen lüt« (158,98–99). Säuische Obrigkeit – das ist der Inbegriff verkehrter Herrschaft. Brants Auslegung impliziert die eben erwähnte politische Anthropologie, wonach sich Herrschaft in der Bewältigung der Animalität legitimiert. Das Paradigma für eine animalische Herrschaft bieten für Brant zunächst die Türken. Er entwirft ein hasserfülltes Bild, wonach die unreinen Türken und Schweine wesensverwandt seien und die Sau der Türken »bruter« sei; der Ausdruck brûten steht hier wohl für den Koitus, also für die Unterstellung der Sodomie: darin vollzieht sich die Vertierung des Feindes, der mit Schweinen verkehrt.58 Allerdings kann das »Wunderschwein«, wie Brant es nennt, ebenso auf reichsinterne Phänomene bezogen werden wie den rebellischen Plebs: Wann aber unvemünfftig gmeynen Durch böß fürnamen sich vereynen Und irem houbt dunt widerstand So ist die wunder Su im land.59

Zitiert wird hier erneut der Topos von Haupt und Gliedern; die sozialen Revolten des gemeinen Mannes – Hintergrund dürften hier wohl die Bundschuhaufstände sein – werden auf Basis eines organischen Modells des politischen Körpers reflektiert.60 In diesem Modell vertreten die Gemeinen, die laboratore¯s der Ständelehre, den sinnlichen Teil, sie sind die unvernünftigen Glieder, die dem Haupt gehorchen sollen. Ihre Empörung wird daher imaginiert als drohende Überwältigung der Ratio durch animalische Sinnlichkeit.61 Sie mündet in der 56 Ps. 79,14: »vastavit eam aper de silva, et omnes bestiae agri depastae sunt eam.« (Es haben ihn zerwühlt die wilden Säue, und die Tiere des Feldes haben ihn abgeweidet.) Vgl. dazu Schmidtke (1968), T. 1, 405 und T. 2, 646 (Anm. 1266). 57 Sack (1997), 31. 58 Sack (1997), 28f. 59 158,114–117. 60 Sack (1997), 35. 61 Friedrich (2009), 36: »Das Tier fungiert (…) als Projektionsfläche von Grenzüberschreitungen des Körper in Sexualität – appetitus bestialis –, Gewalt – ira bestialis – und Wahnsinn – furor bestialis.«

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Zerstörung der gesellschaftlichen Harmonie, die gleichbedeutend ist mit Vertierung und Regression. Das ist das eygen richtig vieh Das david vorcht, das nit weis wie Es sich halt oder stellen müst Da würd eynhellikeyt verwüst.62

Die Empörer werden im Rekurs auf die biblische Autorität animalisiert,63 gerade diese Animalität impliziert ein Defizit an Orientierungsfähigkeit: Die Aufständischen sind wie das Vieh »das nit weis wie / es sich halt oder stellen müst«.64 Gerade daraus kann Brant den optimistischen Schluss ziehen, dass dieser »suwsch Rumor« eine vorübergehende Erscheinung sei.65 Die Befürchtung findet schließlich einen konkreten zeitpolitischen Anhaltspunkt im Tod des Grafen Eberhard von Württemberg, den Brant im Flugblatt anzeigt. Die Eloge auf den Verstorbenen ist ein Lob der Ordnung selbst, sie mündet in einer Akklamation der zentralen reichspolitischen Ordnungsinstanz: In einer Heil- und Segensadresse an Kaiser Maximilian, dessen glückliche Herrschaft gleichbedeutend mit dem allgemeinen Frieden sei.66 In diesem Zusammenhang bringt Brant abschließend seine Hoffnung zum Ausdruck, dass sich die Wundersau von Landser in eine »trojanische Sau« verwandeln möge.67 Diese Formulierung bezieht sich zum einen nochmals auf das Sauprodigium des Aeneas, womit sich das beunruhigende Warnzeichen in ein glückliches Vorzeichen verwandelt hätte; zum andern ist (wie in der lateinischen Version deutlicher wird) auf das berühmte römische Festessen angespielt: ein ganzes gebratenes Schwein, das mit Austern und Geflügel gefüllt wurde.68 So wird die Irritation über die Sau letztlich durch die Imagination bewältigt, dass sie schlicht einverleibt wird, dass das Tierische im menschlichen Magen aufgehoben ist. Das Gegenstück zu Brants literarischer Auslegung liefert Dürers bekannter kleiner Stich Die missgebildete Sau von Landser.

62 158,118–121. 63 Infrage kommt neben Ps. 79 (80) auch Ps. 48,13: »et homo cum honore esset non intellexit, conparatus est iumentis insipientibus et similis factus est illis«. »Kurz, wenn ein Mensch in Ansehen ist und hat keinen Verstand, so fährt er davon wie ein Vieh« (48 [49],13). 64 158,118–120. 65 158,124ff.: »Dann sie nit mer dann uff eyn nacht / Gelebt hatt do man mir sie bracht, / Als hoff ich das, ob licht glich wol, / (Do vor uns gott behuetten sol) / Eyn Suwsch rumor uff erd entspring / Das es des glich ouch bald ab ging.« Im letzten Halbsatz bezieht sich Brant auf die kurze Lebensdauer des Ferkels, das bald nach der Ankunft verendete. 66 158,155ff. 67 158,163: »Do mit eyn troysch Su dar uß wert.« 68 157,117f.: »Dii tibi dent mi rex laeta et foelicia saecla: / Porea dapes inter troica ut assa cubet.«

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Abb. 3: Albrecht Dürer, Die wunderbare Sau von Landser, 1496 oder später

Der grobe Holzschnitt in der Bildleiste des Brantschen Flugblatts entwirft das Doppelwesen in aufgerichteter Haltung, die wohl die perhorreszierte animalische Erhebung symbolisiert. Obwohl Brant das Ferkel wohl selbst gesehen haben muss, ist er an einem originalgetreuen Abbild nicht interessiert. Dürers präziser Schnitt zeigt das Zwillingsferkel hingegen als ausgewachsene Sau (vielleicht auch deswegen, weil er es nach einer Nachbildung zeichnete, die 1496 zu Ostern in Nürnberg gezeigt worden sein soll), in quasi-natürlicher Haltung auf allen vieren. Während bei Brant das Zwillingsferkel eine politische Aneignung und Instrumentalisierung erfährt, leistet Dürers veristische Detailtreue eine Objektivierung des Wunders. Dabei geht es wohl nicht nur um ein »naturwissenschaftliches Interesse«,69 sondern

69 Warburg (1920), 58.

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Abb. 4: Bildleiste Von der zwiefältigen Gans zu Gugenheim

Dürers Blatt spielt vielmehr der curiositas des Betrachters entgegen; statt eines Wunderzeichens, das immer noch eines auslegenden Textes bedarf, präsentiert er den missgebildeten tierischen Körper in seiner monströsen Ästhetik. Diese unterschiedlichen Entwürfe der Wundersau sind nicht nur bedingt durch die Mediendifferenz von Bild und Text, sondern ihnen entsprechen auch divergierende Darstellungsstrategien frühneuzeitlicher Prodigienkommunikation. Gleichermaßen aber lenken Brant und Dürer den forschenden, faszinierten und erschreckten Blick auf Missbildungen. Diese Fokussierung führt gewissermaßen zu einer ersten kleinen Überproduktionskrise der Wunderzeichen, speziell der Zwillingsmonstra. Dem Zeichendeuter werden immer neue Funde zur Kenntnis gebracht, mit dem Zwang, sie in seine Deutungen zu integrieren. Brant wird gewissermaßen zum Opfer seiner publizistischen Suggestionen. Es verwundert daher nicht, dass Brant in der eingangs erwähnten Zwiefältigen Gans zu Gugenheim und den sechsfüßigen Ferkel zu Gugenheim von 1496 ausdrücklich seine Kompetenzen als Augur dementiert. In der Bildleiste des Blattes sind noch einmal sämtliche Zeichen aufgeführt, mit deren Deutung sich Brant beschäftigt hat. Deren Vielzahl ist an sich schon ein Zeichen gestörter Ordnung. Das glückliche Vorzeichen der Geburt der Wormser Zwillinge wird durch die Häufung der tierischen Doppelwesen überlagert und konterkariert. Verstärkt wird die Unheilstendenz durch das Himmelszeichen einer Doppelsonne, das, wie Brant vermerkt, das traditionelle Zeichen eines Schismas ist. Trotz der überbordenden Komplexität seines Zeichenuniversums gibt Brant die appellative Grundstruktur seiner Flugblattexte nicht preis: Die deutlich ausgemalte Gefahr, dass die zentrifugalen Energien die Oberhand gewinnen könnten, soll die einigenden Kräfte auf den Plan rufen. Bezeichnenderweise wird dieser politische Konflikt nun nicht mehr über den Gegensatz sensus und ratio, Tier und Mensch ausgehandelt, sondern in einer metaphorischen animalischen Konstellation durchgespielt: Die Gans erinnert den Humanisten Brant natürlich an die kapitolinischen Gänse, ist damit prinzipiell ein positives Zeichen. Das deutsche

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Fragment endet mit dieser Bestimmung, in der lateinischen Fassung wird dann die Tauglichkeit der Gans aufgrund ihrer Deformation in Zweifel gezogen. Die vielfüßigen Schweine symbolisieren im Anschluss an das Zwillingsferkel die bedrohliche Beschleunigung einer unreinen und destruktiven Animalität. Brant scheut sich nicht, nochmals das Schreckbild einer widernatürlichen Vereinigung aufzurufen: »Wir wissen nämlich, dass die Schweine in den hohen Wäldern herrschen und lange Zeit dem edlen Wild beigelegen haben.«70 Als solcherart gefährdeten Waldtiere werden die Fürsten und Bürger des Reiches apostrophiert: Als Hirsche, Damhirsche, Rehe und Maulesel. Ihnen gilt das Vorzeichen (vestrum hoc augurium), sie sollen sich zusammenschließen und den Angriff der Schweine abwehren.71 Die Pointe der Brantschen Deutung liegt also darin, dass der drohenden Übermacht gewaltförmiger Animalität nur animalisch begegnet werden kann. Die Opposition von Ordnung und Anarchie wird im Feld des Tierischen wiederholt. Brant schließt konsequenterweise: »Wenn ihr siegt, wird meine Gans dann zum Schwan!«72 Das soll wohl heißen, dass das warnende Geschrei dann einem Schwanengesang Platz machte.73 In diesem mehrdeutigen Versprechen aber reflektiert Brant letztlich auch seine eigene Rolle, wie mir scheint, mit ironischer Resignation: Der Erzaugur, der seine Warnungen in immer neuen Flugblättern veröffentlichte, verhält sich ähnlich einer schnatternden Gans. Signifikanterweise hat Brant in der Folge keine weiteren monstrologischen Deutungen geliefert, sondern seine zunehmend pessimistischen Deutungen vor allem an Sternenkonstellationen geknüpft.74

4. Papstesel und Mönchskalb: Zeichendeutung im religiösen Konflikt Bei Brant fungierten die Monstren als Medien von Politikberatung. Einen ganz anderen Stellenwert gewinnen sie in der Reformationszeit, also im religiösen Konflikt. Exemplarisch soll dies anhand der wirkmächtigen Deuttung der czwo greulichen Figuren, Bapstesels zu Rom und Munchkalbs zu Freyberg jnn Meyssen funden gezeigt werden, die 1523 in Kooperation von Martin Luther, Philipp Melanchthon

70 161,109–110: »Scimus enim porcos: sylvis dominarier altis / Nobilibusque diu concubuisse feris.« 71 161,111–112: »Vestrum hoc augurium: cervi: dammaeque petulcae / Capreolique truces: hinnuleique greges.« 72 161,117: »vincetis, cygnus sic meus anser erit.« 73 Vgl. dazu Wuttke (1994), 118. 74 Hammerstein-Robinson (1999), 56f. Eine späte Reprise der Brantschen Monstrologie ist das 1512 erschienene Flugblatt Elßgred, das sich noch einmal mit der Geburt menschlicher Dicephaloi befasst. Dazu Littger (2003).

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und Lucas Cranach d. Ä. entstand.75 Der Papstesel geht zurück auf die Missbildung eines Esels, die 1496 in Rom im Tiber angeschwemmt wurde, sie scheint schon um 1500 Anlass gewesen zu sein für eine italienische antipäpstliche Satire auf den Borgia-Papst Alexander VI., der von seinen Gegnern auch als »Asinander« verhöhnt wurde; den Reformatoren dürfte aber nur das Bildmotiv bekanntgeworden sein. Bereits 1522 verfasst Melanchthon auf dieser Basis eine antirömische Flugschrift, die die persönliche Invektive ins Allgemeine transformiert. Das Mönchskalb wurde am 8. 12. 1522 aus dem Leib einer notgeschlachteten Kuh gezogen. Ein Astrologe, der zum Gefolge des brandenburgischen Markgrafen Georg gehörte, publizierte 1522 ein kurzes Gedicht, worin die Missbildung auf Luther bezogen wurde. Der Markgraf entschuldigte sich brieflich bei Luther und ließ die Schmähschrift einstampfen. Luther reagierte (wie so oft in seiner Polemik) mit einer retorsio argumenti, d.h. er wendete das Argument, in diesem Fall das suggestive Bild des Mönchskalbs gegen seine Gegner. Seine Deutung kombiniert er 1523 mit einer überarbeiteten Version von Melanchthons Schrift und den Schnitten Cranachs.76 Schon auf den ersten Blick werden die Unterschiede zwischen dieser Flugschrift und Brants Prodigienblättern sichtbar: Die Holzschnitte, bei Brant ein eher unbeholfenes Beiwerk, fungieren hier als unverzichtbare Momente eines strategischen Text-Bild-Ensembles. Die reformatorische Propaganda setzt auf eine mediale Entgrenzung und Breitenwirkung. Auch konzeptionell sind die Differenzen deutlich: Konstituierten sich Brants Deutungen in der expliziten Auseinandersetzung mit den altrömischen Modellen der Zeichendeutung, so fehlt ein solcher Bezug im Papsteselpamphlet gänzlich. Der reformatorische Referenzrahmen ist nicht die Geschichte und das Wissen der paganen Antike, sondern die Heilsgeschichte und der biblische Text. Dennoch bleiben die Reformatoren im allgemeinen Modellrahmen der Prodigiendeutung, das heißt, sie interpretieren irdische Zeichen, jedoch nunmehr auf biblischer Basis. Grob kann das Verfahren als Verknüpfung von Prodigiendeutung und prophetischer Rede bestimmt werden. Luther und Melanchthon beziehen sich in ihrer Auslegung namentlich auf den Propheten Daniel. Erst dieser Bezug konstituiert die Missbildungen als göttliche Zeichen und liefert den Referenzrahmen ihrer Deutung: Wie Daniels Visionen von Widder und Ziegenbock bestimmte Herrschaftsgebilde abbilden (Dan 8), so werden auch Papstesel und Mönchskalb als eine göttliche »abcontrafeyung« einer konkreten Machtinstitution, nämlich der römischen Kirche begriffen.77 Die Auto75 Text zitiert nach D. Martin Luthers Werke. Kritische Werkausgabe (Weimarer Ausgabe) Band 11, Weimar 1900, 357–385. 76 Zur Vorgeschichte vgl. die Einleitung in der Werkausgabe (WA 11, 357–368), Lange (1890); Grisar/Heege (1923); Ewinkel, 39. 77 WA 11, 375. Vgl. auch Luthers Bemerkung zum Mönchskalb: »Darumb wie der Bapstesel das Bapstum abmallt, So malet eygentlich dis Munchkalb die Apostel und schuler des Bapsts, das alle welt sehe, was sie bisher fur prediger und lerer gehort und noch hören.« (WA 11, 383). Vgl. Röcke (2001).

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Abb. 5: Lucas Cranach d. Ä., Der Papstesel

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Abb. 6: Lucas Cranach d. Ä., Mönchskalb

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risierung ihrer Zeichenrede erfolgt damit (wie bei Brant) indirekt: Nicht über unmittelbare Einsicht in die göttliche Providenz qua Vision oder Audition,78 sondern vermittels ihrer theologischen Kompetenz haben die Reformatoren an der Autorität der prophetischen Rede teil. Luthers Sprecherposition konstituiert sich in der ausdrücklichen Negation der riskanten Prophetenrolle: »Die Prophetische deuttung wil ich dem geyst lassen, denn ich keyn prophet bin […].«79 Die Interpretation der Figuren verweigert sich damit der Prognose, zielt jedoch auf eine Markierung aktueller Fronten im mißgebildeten Körper. Der modus dicendi ist dementsprechend exegetisch. Luther wie Melanchthon verfahren in dieser Hinsicht bewusst konventionell, indem sie das traditionelle allegorische Prozedere spiritualer Naturdeutung in Anschlag bringen, wonach die Proprietäten des Monstrums heilsgeschichtliche Zusammenhänge erhellen sollen. Neu ist lediglich der reformatorische Richtungssinn dieser Auslegung. Für den Übergang vom Bild zum Diskurs wird erneut die Grenze zwischen Mensch und Tier maßgeblich. Mit Papstesel und Mönchskalb sind Figuren entworfen, die diese Grenze überschreiten, anders als die Zwillingsgeburten Brants sind sie als »Schwellenwesen« konzipiert:80 Cranachs Schnitt zeigt den Papstesel in menschlicher, aufrechter Haltung, vor dem Hintergrund päpstlicher Machtarchitektur. Das Monstrum setzt sich aus Elementen verschiedener Gattungen zusammen: Eselskopf, Fischschuppen, der Elefantenfuß und Menschenhand, Drachenhintern usw. In der Deutung markiert die Liminalität der Figur die Verwandlung der geistlichen Institution in ein fleischliches, weltliches Machtgebilde: »Denn gleich wie sich ein esels kopff auff ein menschen leib reymett, ßo reymett sich auch der Bapst zum heupt über die kirche. So bedeutt auch in der Schrift der esel eußerlich fleyschlich wesen.«81 Im monströsen Körper gewinnt diese Perversion Gestalt und wird lesbar: So steht etwa der Elefantenfuß für das kirchliche Regiment, das die Gewissen unterdrücke, die menschliche Hand zeigt die weltliche Herrschaft des Papsttums an; »weybisch bauch und brust« verweisen auf die als »hurn volck« apostrophierten Kleriker, »denn jr leben ist nur fressen, saufen, unkeuschheit, wollust« – eine signifikante Engführung von Weiblichkeit und Animalität, die das traditionelle klerikale Phantasma der Frau als einer schamlosen und sinnenfixierten bestia insatiabilis zitiert.82 78 Klein (1997). Dies ist das Verfahren der radikalen Reformation, bspw. in der Fürstenpredigt von Thomas Müntzer. 79 WA 11, 380. 80 Begriff nach Foucault (2007). Vgl. Geisenhanslücke (2009). Signifikant ist freilich, dass Papstesel und Mönchskalb hier (und in den späteren protestantischen Sammlungen) zu einem Zwillingspaar verknüpft wurden. 81 WA 11, 375. 82 WA 11, 378. Vgl. Friedrich (2009), 158: »Die misogyne Qualifizierung der Frau als bestia insatiabilis in mittelalterlicher Theologie ist […] nur der besonders drastische Ausdruck einer prinzipiell unterstellten weiblichen Körperfixierung.«

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Während Melanchthons Auslegung im objektiv-lehrhaften Gestus des Experten verbleibt, vollzieht sich Luthers Deutung, ähnlich den Deutungen Brants, über eine rhetorische Selbstinszenierung. Es spricht der ehemalige Mönch, der es für seine Pflicht hält, eine Auslegung für seinen Stand zu leisten.83 Luthers Zeichendeutung entfaltet sich entlang Cranachs anthropomorphisierender Darstellung der Mißbildung, die Kalb und Mönch wie in einem Vexierbild zusammenführt und damit die Transgression des Mönchtums als eine fleischliche Institution inszeniert. Das Mönchskalb konstituiert sich nicht in der Kombination heterogener Elemente, sondern in der Diffusion von Bildbereichen. Die Grenze zwischen Mensch und Tier wird hier durchlässig, weder Kalb noch Mönch sind klar zu erkennen. Luthers Auslegung erschöpft sich nicht in der allegorischen Konstruktion von Bedeutungsbeziehungen, sondern verarbeitet die Ambivalenz des Zwischenwesens: »Das Gott eym kalb das geystlich kleyd, die heyligen kutten hatt angezogen.«84 Das verschafft ihm die Möglichkeit, die Transgressivität des Mönchtums, d.h. die inneren Widersprüche einer geistlichen Institution, vor Augen zu führen. Das Kalb verweist zunächst auf das goldene Kalb (2. Mose 32), was Luther zum Anlaß nimmt, die Abgötterei der Israeliten mit einem Selbstbezug monastischer Frömmigkeit in Analogie zu setzen. Ebenso wird die zerrissene Kutte auf die konfliktträchtige Vielfalt der Mönchsorden bezogen;85 am halb tierischen, halb menschlichen Maul zeige sich die Doppelzüngigkeit mönchischer Predigt;86 das für ein Kalb allzuglatte Fell weist auf Heuchelei und Schmeichelei.87 Die Transgression wird offenkundig im menschlichen Habitus des Kalbes, deren bildliche Evidenz sich der Perspektivierung durch Cranach verdankt: Auffs dritte furet das kalb aller dinge die geperde eins predigers: es streckt die hinderbeyn, als stunds und reckt auß die rechte pfotte wie ein prediger sein rechte hand und zeucht die linke zu sich, wirfft den kopff auff und hat die zunge ym maul, und ist alles gestalt, als stund es und prediget.88

In einer solchen Darstellung der Monstra zeichnet sich eine doppelte Zielsetzung ab: Indem das Pamphlet Transgressionen in Paradoxien übersetzt, dient es der satirischen Entlarvung einer monströsen Ordnung, das heißt einer Ordnung, die sich selbst außer Kraft setzt aufgrund der ihr inhärenten Widersprüche.89 Wenn die 83 84 85 86

WA 11, 381. WA 11, 381. WA 11, 382f. WA 11, 384: »Das aber das untermaul menschen maul gleich und das ubermaul mit der nasen dem kalbmaul gleich ist, bedeutt, das yhr prediget wol etwan von den wercken gottlichs gesetzs leren. Aber es reucht alles kelbisch und wirtt gewandt auf eygen gerechtickeit und frumkeit.« 87 WA 11, 385. 88 WA 11, 383. Dass das Kalb für diese Deutung »hergerichtet«, d.h. das Monstrum konstruiert worden ist, betont schon Grisar (1923), 20. 89 Vgl. Foucault (2007), 78.

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Deutung anhand der Figuren Schritt für Schritt den tierischen, fleischlichen Charakter, mithin die Verkehrung von Papsttum und Mönchtums enthüllt, werden die solchermaßen exponierten Monstra zu grotesken Spottbildern und die durch sie verkörperten Institutionen dem Gelächter preisgegeben.90 Papstesel und Mönchkalb fungieren darum als Medien polemischer Abgrenzung und Ausgrenzung. Zugleich aber sind sie »grewliche Figuren«, Abbilder einer schreckenerregenden teuflischen Perversion, die zur Warnung dienen und zur Umkehr motivieren sollen.91 Daher erscheinen die Figuren letztlich doch als Vorzeichen, genauer gesagt, sind der satirische und der eschatologische Aspekt nicht voneinander zu trennen. Auch wenn Luther die Prophetenrolle zurückweist, so bekräftigt er doch ausdrücklich die Zukunftsdimension der Zeichen, die auf eine große Veränderung hinweisen: »Mein wundsch und hoffnung ist, das der Jungst tag sey.«92 Wirksam wird hier die schon von Augustin nahegelegte Verbindung der transgressiven Figuren zur Sünde und zum Bösen.93 Das Mönchskalb bezeichnet die Mönche als des »teuffels vorleuffer«;94 der Papstesel bildet den Römischen Antichrist ab: »Hye mit will ich yederman gewarnet haben, das man solch groß zeichen Gottis nicht verachte und sich fur dem verfluchten Antichrist huete und fur seynem anhang.«95 Die Zwischenwesen, die vordem an wohldefinierten Plätzen in der Hölle oder an den räumlichen Grenzen der Oikumene angesiedelt waren, scheinen nun inmitten der Christenheit auf, sie sind Vorboten der endzeitlichen Grenze, die sich unaufhaltsam nähert.96 Im Schwellenstatus ihrer Körper manifestiert sich die kommende universale Transformation.

Zusammenfassung Monstren in der Frühen Neuzeit sind nicht nur Produkte abergläubischer Ängste, sondern bieten als göttliche Zeichen Gelegenheiten zu kalkulierter Intervention in politische und religiöse Auseinandersetzungen. Diese Interventionen vollziehen sich über spezifische Transformationen antiker Kommunikationsmodelle der

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Diesen Aspekt betont Frohne (2008), 21. WA 11, 385: »Ich will das meyne than und euch alle gewarnt haben.« WA 11, 380. Darauf verweist auch Scribner (1981), 133. WA 11, S. 385. WA 11, S. 379. So der im oberdeutschen Raum verbreitete Nürnberger Druck des Johannes Stuchs (1523): Deuttung der zwo grewlichen Figuren Bapstesels zu Rom vnnd Munchkalbs zu Freyburg jn Meyssen funden: mit anzaygu[n]g des jungstentags. Luther selbst verweist schon 1522 auf den Papstesel im apokalyptischen Deutungszusammenhang: Ain christliche und vast wol gegründe Beweysung von dem jungsten tag und von seinen zaychen (Augsburg 1522). Vgl. dazu Röcke (2000), 12f. sowie auch Weichenhan (2007).

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Prodigiendeutung. Innerhalb ihres christlichen Kontextes lassen diese Praktiken die Grenzen der antiken Modelle hinter sich. Maßgeblich dafür sind die unterschiedlichen Funktionskontexte: Bei Brant wird Prodigiendeutung zum Medium der Politikberatung und prokaiserlicher Propaganda innerhalb der zeitgenössischen Eliten. Anhand der Doppelwesen entfaltet sich ein Diskurs über soziale Integration und Desintegration, der politische Spielräume aufzeigen und gesellschaftliche Dynamiken veranschaulichen will. Bei Luther und Melanchthon hingegen verbindet sich das Modell der Vorzeichendeutung mit einem ambivalenten Rekurs auf die prophetische Rede. Papstesel und Mönchskalb fungieren als Medien des religiösen Konflikts: In ihrem Schwellenstatus zwischen Mensch und Tier lassen sie die unterstellte Perversion der alten Kirche sichtbar werden und fungieren zugleich als Vorzeichen der Endzeit. An beiden Funktionstypen zeigt sich damit exemplarisch die Produktivität prodigialer Sinnproduktion: In der Erörterung und Vergegenwärtigung der Transgressivität geht es nicht zuletzt um die Verhandlung, Bestätigung oder Einführung von Grenzen.

Literaturverzeichnis Quellen Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 2007. Brant, Sebastian, Kleine Texte, hg. von Thomas Wilhelmi, 3. Bde. Stuttgart/Bad Cannstatt 1998. Heitz, Paul (Hg.), Flugblätter des Sebastian Brant, hg. von Paul Heitz, Straßburg 1915. Brant, Sebastian, Von der wunderbaren Geburt des Kindes bei Worms, deutsche Fassung, [Augsburg: Johann Froschauer, nach 10.IX.1495] (= Gesamtkatalog der Wiegendrucke [GW], 5030). Brant, Sebastian, Von der wunderbaren Geburt des Kindes bei Worms, lat. Fassung, [Strassburg]: J[ohann] P[rüss, nach 10.IX.1495] (= GW, 5032). Brant, Sebastian, Von der wunderbaren Sau zu Landser, deutsche Fassung, [Basel: Johann Bergmann, nach 1.III.1496] (= GW, 5034). Brant, Sebastian, Von der wunderbaren Sau zu Landser, lat. Fassung, [Basel]: J[ohann] B[ergmann, nach 1.III.1496] (= GW, 5035). Brant, Sebastian, Von der zwiefältigen Gans und den sechsfüssigen Ferkeln zu Gugenheim, deutsche Fassung, [Basel: Johann Bergmann, nach 3.IV.1496] (= GW, 5036). Brant, Sebastian, Von der zwiefältigen Gans und den sechsfüssigen Ferkeln zu Gugenheim, lat. Fassung, [Basel]: J[ohann] B[ergmann, nach 3.IV.1496] (= GW, 5037). D. Martin Luthers Werke. Kritische Werkausgabe (Weimarer Ausgabe [WA]), Bd. 11, Weimar 1900.

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Sekundärliteratur Briquel, Dominique, »Divination. VII. Rom«, in: Der Neue Pauly, hg. v. Hubert Cancik/Helmuth Schneider/Manfred Landfester, Brill Online,