Die Erziehungsarbeit der Schule an Schwachbegabten: Erfahrungen und Ratschläge für Lehrende, Eltern und Behörden [Reprint 2019 ed.] 9783111579771, 9783111207148


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Table of contents :
Inhalts-Übersicht
Vorwort
A. Zur Einleitung
B. Was ist zur Erreichung der angegebenen Zwecke bisher geschehen?
C. Merkmale und Kennzeichen der sogenannten schwachen Begabung
D. Erwägungen über die Zeit nach der Entlassung aus der eigentlichen Schulpflicht und über die Fortbildung unserer bisherigen Zöglinge
Sachregister
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Die Erziehungsarbeit der Schule an Schwachbegabten: Erfahrungen und Ratschläge für Lehrende, Eltern und Behörden [Reprint 2019 ed.]
 9783111579771, 9783111207148

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Die

Erziehungsarbeit der Schule

an Schwachbegabten. Erfahrungen und Ratschläge für Lehrende, Eltern und Behörden.

Von

Dr. Otto Boodftein Schulrat in Elberfeld.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1908.

Inhalts-Übersicht. Gelte

VII—XV

Vorwort des Verfassers

Allgemeine Gesichtspunkte.

A. Zur Einleitung.

I. Der volkswirtschaftliche Standpunkt

1—16

II. Vorschläge zur Beseitigung der Bildungsgegensätze im Deutschen Volke III. Die humanitäre Seite der Hilfsschulfrage

17—35 35—38

B. Was ist zur Erreichung der angegebenenZwecke bisher geschehen? IV. Was für Anstalten haben stch im Laufe der Zeit entwickelt?

39—46

V. Wie haben die einzelnen Anstalten die Lösung ihrer Auf­ gaben bisher versucht?

46—49

a) Für die Nichtvollsinnigen:

49—53 53—57

1. Die Taubstummenanstalten 2. Die Blindenanstalten

b) Für sonstige Körperlich-Gehemmte: 1. Die Krüppel und Gelähmten 2. Die Epileptischen

57—62 62—67

3. Die Tuberkulösen c) Die verwahrlosten und sittlich gefährdeten VI. Die

Kinder Jdiotenanstalten

71—73

für mehr

oder weniger

Bildungsunfähige VII. Bildungsfähige, aber Langsamauffassende und

deshalb Zurückbleibende. Schule

bisher

für ste?

(Nachhilfestunden;

68—71

74—80

Was tat die allgemeine

Statistisches und Versuchtes.

Nebenklassen;

Abschlußklassen;

die

Mannheimer Praxis.)............................................................... VIII. Einrichtungen für geistig noch tiefer stehende Kinder.

Der Hilfsschulgedanke.

Die Pioniere

. . .

80—99 99—110

IX. EinigesTatsächliche über die Entstehung,Weiter­

führung

gedankens

und

den

Ausbau

des

Hilfsschul­

111—128

IV Seite

C. X. Merkmale und Kennzeichen der sogenannten schwachen Begabung 129—143 XL Die Ursachen für die Entstehung und Ent­ wicklung geistiger Schwächezustände und damit auch für die sogenannte schwache Begabung als dauernde Erscheinung 143—159 XII. Unterrichs- und Erziehungsprobleme überhaupt. 159—160' Unterrichtsprobleme: 1. Die allgemeine Didaktik: ihre Haupt­ zwecke und Ziele 161—168 2. Zur besonderen Didaktik: a) Auswahl der Lehrstoffe 169—173 b) ihre Verbindung untereinander (Konzen­ tration) 173—175 c) Mittel und Wege zur Erreichung der Unterrichtszwecke 175—177 d) Vorbereitung dazu: Gebrauch der Sinne; der Körperteile und Gliedmaßen; das Sprechenlernen und Verstehen des Ge­ sprochenen 177—184 3. Die einzelnen Lehrfächer: a) Die Muttersprache. (Sprechen; Lesen; Fibeln und Lesebücher; Leseapparate.s (Der Artikulationsunterricht; das Schreibenkönnen; Schriftliche Ar­ beiten; Rechtschreibung.) 184—207 Schlußbemerkungen über Bedeutung und Betrieb dieses Unterrichts. Erweckung von Interesse und weiterem Streben . 207—214 b) DaS Rechnen 214—223 c) Die Bedeutung der Raumlehre für die Hilfsschule 223-228 d) Die Frage des gesonderten An­ schauungsunterrichts 229—232 e) Der Unterricht in den Realien (Heimats- und Naturkunde) . . . 232—240 f) Der Geschichtsunterricht 241—245 g) DieGestaltnngdesReligionsunter­ richts 245-250 XIII. Allgemeines über die Bedeutung der technischen Fächer in der Hilfsschule 251-257 1. Besonderes über den Gesangunterricht . . 257—260 2. Der Unterricht im Zeichnen ....... 260—262

Sette

XIV.

XV.

D. XVI.

XVII. XVIII.

XIX. XX. XXL

3. Das Modellieren, Fröbelsche, sonstige Handarbeiten für Knaben 263—271 4. Die weiblichen Handarbeiten und derHaushaltungsunterricht 271-275 5. Das Turnen und die Jugendspiele; be­ sonders auch das Turnen der Mädchen . .275—286 6. Das Schwimmen und Baden 286—288 7. Schlußwort ............................................... 288—289 Erziehungsprobleme 289—290 1. Allgemeines. Gedankengang der Abhandlung. 290—293 2. Ausführung der Gedanken 293—305 3. Förderung gewisser Wohlfahrtseinrichtungen . . . 305—309 4. Hat die Hilfsschule sich auch mit der Erziehung der­ jenigen zu befassen, die — neben Geistesschwäche — auch Kennzeichen moralischen Schwachsinns an sich tragen? 309-314 Die Organisation der Hilfsschulen 314—315 a) Die äußere Organisation 315—321 b) Die innere Organisation. (Aufnahme, Er­ kundung der Verhältnisse; Formulare für Fragebogen und Personalberichte; Prüfungen; Eintrittszwang; Tauer des Verbleibens und des Unterrichts im einzelnen; Zuchtmittel.) 321—345 Anhang: Zur Frage der Jugendgerichte . 345—360 Erwägungen übei’ die Zeit nach der Entlassung aus der eigentlichen Schulpflicht und über die Fortbildung unserer bisherigen Zöglinge . . . 360—370 Die Lehr- und Pflegekräfte der Hilfsschule 370-386 Die Stellung des Arztes in der Hilfsschule. (Zum Schluß einige Worte über Stellung iinb Besoldung aller Pflegekräfte.) 386-393 Ein ideales Heim für die Schule 394—410 Wohlfahrtseinrichtungen zur Vervollständigung des idealen Heims 410—419 Schlußworte: Persönlicher, wirtschaftlicher und Rechtsschutz früherer Zöglinge 419—426

Vorwort. Übet sich selbst und seine Zeit, besonders aber über seine Stellung

zu gewissen Hauptaufgaben im Bereiche des Lebensberufes, klar zu werden, damach ringt jeder Denkende, besonders nach Abschluß wichtiger Lebensabschnitte. Daß solches erst recht der Fall sein werde, wenn die eigentliche Bemfsarbeit infolge irgendeines Umstandes ihr Ende erreicht hat, ohne daß zugleich Interesse, Kraft und Arbeitsneigung erschöpft wären, bedarf einer Begründung nicht, weil das Zusammen­ wirken dieser Faktoren die Hoffnung erwecken kann, daß eine — nicht durch sonstige Aufgaben bedingte oder beschränkte Fortsetzung der gewohnten Arbeit auch noch weiter einige Fmcht bringen könne, bestände sie auch nur im Sammeln, Ordnen und Begründen eigener und fremder Erfahrungen und Ergebnisse. Verhältnisse der bezeichneten Art treffen bei den: Unterzeichneten zu. Hindurchgegangen durch das eigentliche Lehramt, sodann fast 40 Jahre in leitender Stellung für verschiedene Schulgattungen tätig, davon zuletzt ein Vierteljahrhundert im Schulaufsichts- und Verwaltungs­ amt einer großen Stadt, gelangte er immer mehr zur Überzeugung,

daß zwar jede Arbeit zugunsten der Jugend und der Schulen ihr Ver­ dienst habe, wenn sie im rechten Sinne geleistet wird; daß aber den bedeutsamsten Maßstab für die eigene Beurteilung unserer Stellung zur Sache und auch unserer Leistungsfähigkeit vielleicht die Arbeit abgeben werde, die wir zugunsten der Schwachen unter unseren Schülem fertiggebracht haben. Denn wenn, wie ein altes Wort sagt, der beste Lehrer seine Mssenschaft nur halb geben kann, wenn ihm der Schüler nicht auf halbem Wege entgegenkommt, und sonst fast vergeblich arbeitet, so ist es klar, daß die Arbeit an den Schwachen der Mühen und Schwierigkeiten mehr vemrsacht, des Dankes und vielleicht sogar der Anerkennung weniger einbringt, als irgendeine andere, weil gerade

VIII den Schwachen das Entgegenkommen fast völlig versagt ist.

So mag

denn mancher Hochstrebende — auf Gmnd wenig ermutigender Erfahrungen — sich von solchem Dienste rasch wieder abgewandt haben, und Zeit und Kraft lieber aussichtsreicherer Arbeit widmen wollen; auch würde ich wenigstens es für unbillig halten, wenn jemandem daraus ein besonderer Vorwurf gemacht würde; und tatsächlich eignet sich noch lange nicht jeder zu solchem Samariterdienst. — Aber sollen deshalb

die Annen am Geiste ganz unbedient bleiben, weil ihr Acker nicht im­ stande ist, hundertfältig, sechszigfältig oder dreißigfältig Frucht zu tragen? Ganz gewiß hat es sehr lange Zeit für richtig gegolten, den Nächst­

stehenden, Eltern und Pflegern, zu überlassen, allein für solche Sorgen­ kinder das Bestmögliche zu tun; — untz im übrigen hat man das oft überaus dürftige Ergebnis als unabänderlichen Schicksalsschluß ange­ sehen, bis es doch einzelnen Menschenfreunden gelang, solche scheinbar hoffnungslosen Wüsteneien nutzbar zu machen und zu befruchten. Haben nun auch die Geistig-Armen damit eine ähnliche Behandlung erfahren wie die Nichtvollsinnigen, die Idioten, die Krüppel und sonstige Leiblich-Verkommene oder Geschädigte; so ist gerade an ihnen solche Hilfe erst verhältnismäßig viel später versucht worden, — vielleicht weil ihre Notlage sich nicht so augenfällig darstellte als die der anderen, und sie deshalb als minder hilfsbedürftig erschienen; vielleicht aber auch dämm, weil es viel weniger leicht war, bei ihnen diejenige Stelle zu ergründen, an welcher die Hilfe einzusetzen hatte. Denn wenn schon auf leiblichem Gebiete innerhalb der ganzen Natur und so auch bei den Menschen eine unendliche Mannigfaltigkeit zutage tritt, so daß man sagen kann: „nicht zwei Glieder derselben Gattung und Familie sind sich vollkommen gleich" — so trifft solches noch in ungleich höherem Maße auf geistigem Gebiete zu, weil dort die Ursachen und Merkmale unendlich viel feiner und deshalb unendlich viel schwerer erkennbar sind und oft genug selbst jahrelanger Beobachtung und Erfassung sich entziehen. So ist es recht oft vorgekommen, daß, ebenso wie die aus­ gesprochensten Anlagen, auch erheblichste Mängel wer weiß wie lange selbst von den nächsten Angehörigen verkannt oder nicht erkannt wurden, bis endlich irgendein Zufall den verhüllenden Schleier lüftete. Was das aber gerade für Unterricht und Erziehung bedeutet, hat sicher jeder Lehrer und Erzieher oft genug erfahren, — und gar manchen Eltern

hat die Erfahrung, sich in den Anlagen ihrer Kinder getäuscht zu haben.

bitteres Weh verursacht und das Haar gebleicht, wenn sie sich sagen mußten, daß sie, trotz bester Absichten, sich in den ihren Kindern gesteckten Zielen und gebahnten Wegen schwerster Verkennung schuldig gemacht.

Leider ist solches Irren einmal aller Menschen Los; andererseits aber aller Guten Bestreben, das etwa Verfehlte soweit als möglich zu bessern, und aller Weisen Bemühen durch vorbeugende Maßnahmen die Wirkung entstehender Schäden zu mildern. Erfahrungen und Erwägungen solcher Art verdanken die Hilfs­ schulen, eine Schulgattung, die vor nicht viel mehr als einem Menschen­ alter ihre ersten Anfänge erlebte und seit nicht viel mehr als 20 Jahren erst zur allgemeineren Kenntnis und Einführung gelangte, ihre Ent­ stehung und Gestaltung. Daß letztere nicht sofort eine vollkommene

war, eine vollkommene sein konnte, kann nicht wundemehmen. Denn einmal fehlte ihr von vornherein jede Tradition, und was sie glaubte

gebrauchen zu können, entnahm sie ebenso den allgemeinen Schulen, wie den geschlossenen älteren Anstalten für Idioten und Schwach­ sinnige, den Schulen für Nichtvollsinnige und anderen Bildungsgelegen­ heiten für Leiblich- und Geistig-Gehemmte; endlich auch gewissen Heil- und Besserungsversuchen, welche Seuten mit organischen oder sonstigen Gebrechen und Mängeln zugute kommen sollen. Sodann unterliegen fast alle genannten Schulen und Anstalten seit geraumer Zeit ganz erheblichen und bedeutsamen Reformvorschlägen und Ver­ suchen; erproben Wohljahrts-Einrichtungen und erfahren Erweite­ rungen stofflicher und formaler Art. Wie sollte da die Hilfsschule sofort eine feste Ordnung haben finden können! — Endlich wurde die Hilfs­ schule zunächst lediglich als eine Nebenveranstaltung der Volksschule angesehen, die sich an deren Lehrformen, die hergebrachten Unterrichts­ fächer und sogar die Stoffmengen tunlichst anzuschließen hätte; höchstens mit der Maßgabe, daß ihr für die Beibringung der letzteren etwa doppelt soviel Zeit zu Gebote stände als dieser. Erschien diese Auffassung aus Gründen des einmal bestehenden organischen Zusammenhangs und der allgemeinen Schulpflicht, für welche die Bolksschulleistungen eben als

Gradmesser zu dienen haben, auch zunächst als berechtigt, so stellte sich doch nach und nach heraus, daß die in der Volksschule im wesent­ lichen herrschende Berbalmethode für die Bedürfnisse der Hilfsschule

unzulänglich war, besonders wenn man sich dem Eindmck nicht verschloß, daß auch das aus der Volksschule ins Leben Mtgenommene selbst bei

Wohlbegabten für die sich immer steigemden Bedürfnisse des Lebens bei weitem nicht ausreiche und einer Ergänzung und Fortbildung

nicht entbehren könne. Die Hilfsschule mußte demnach sich, allerdings mit großer Vorsicht, neue Wege und neue Lehrformen suchen, um ihre — wenn auch beschränkteren — Ziele als die der Volksschule zu erreichen; denn für die Beurteilung ihrer Leistungen blieb das in der Volksschule Erreichbare immer die maßgebende Norm, wenn auch der

an sie anzulegende Maßstab ein verjüngter sein mußte. Ihre Be­ mühungen in dieser Hinsicht blieben auch nicht ohne Erfolg und ohne Anerkennung; ja, vielleicht steht sogar zu hoffen, daß sie auch nicht ohne Mitwirkung auf die hier und da etwas abgebrauchte und verblaßte Praxis der Volksschulen, zumal für die Anfängerabteilungen der letzteren, sein werden. Glücklicherweise fehlte es der Hilfsschule, nachdem ihre

Bedeutung erkannt worden war, nicht an Helfern mittelbarer und unmittelbarer Art. Hierher zu rechnen sind ebenso die Experimental­ psychologen, die Vertreter der Seelenpathologie, die Ärzte und eine ziemliche Anzahl bewährter pädagogischer Praktiker, welche durch statistische Feststellungen, Beobachtungen mannigfachster Art, hygienische Ratschläge und im einzelnen erprobte Vorschläge der gesamten Er­ ziehung, aber auch der rationellen Behandlung Geistig-Minderwertiger

gute Dienste leisten. So erscheint die Sache als in regem Flusse be­ findlich; freilich ist sie noch lange nicht abgeschlossen und immer noch in der Entwickelung begriffen. Alle Mitarbeitenden bekennen sich (nicht als Fertige, denen nichts recht zu machen ist, wohl aber) als Werdende, die für jede Handreichung dankbar sein werden. Dürfen denn aber solche Erstwerdenden und Strebenden unterwegs Station machen und, obwohl sie sich dessen bewußt sind, den Gipfel noch nicht erreicht zu haben, doch auf der Staffel rasten? Meines

Erachtens dürfen sie es ebenso, wie jeder Wanderer berechtigt ist, das zurückgelegte Stück seines Weges mit den Augen und Gedanken zu mustern und seine Wahrnehmungen den Entgegenkommenden oder Nachfolgenden mitzuteilen. Ja, das Haltmachen hat sogar das Gute, daß Übermüdung vermieden, der gewonnene Eindruck geprüft und ein verläßlicheres Fortschreiten ermöglicht wird.

Daß meine Betrachtungen in solchem Sinne ausgenommen werden, ist mein Wunsch. Die Berechtigung, sie zu veröffentlichen, halte ich dadurch für erbracht, daß ich fast 25 Jahre in unmittelbarster amtlicher

Beziehung zur ältesten Hilfsschule im preußischen Staate gestanden und an deren Entwickelung in bestimmender Weise mitgewirkt habe. Wie solche sich vollzog, beschreibt eine vor etwa 7 Jahren von mir heraus­

gegebene, jetzt aber fast völlig vergriffene und im Buchhandel nicht erhältliche Denkschrift, seiner Zeit der 10. Konferenz für Idioten- und Hilfsschulwesen, die in Elberfeld tagte, als Begrüßung entgegengebracht.

Immerhin hat sich meine Mtwirkung nicht auf solche örtliche Interessen

beschränkt. Sehr gern habe ich die Praxis der Elberfelder Schule nicht nur den Interessenten aus den Nachbarorten, sondern auch anderen uns Nachstrebenden zugängig gemacht; war Mitbegründer des rheinisch­

westfälischen Verbandes der Freunde unserer Sache und habe an vielen Kongressen und Berbandstagen, auch denjenigen des etwa ein Dutzend Jahre später erstandenen größeren Verbandes für die Hilfsschulen der

deutschredenden Länder, gern mich beteiligt; überhaupt gesucht, auch in der bezüglichen Literatur ebenso mich auf dem Laufenden zu er­ halten, wie auch von dem Betriebe aller möglichen Schulen für Leiblich- und Geistig-Gehemmte mich zu unterrichten. Nun ist es ja richtig, daß manche der in der Arbeit an der Hilfs­ schule Stehenden, also auch direkter Beteiligten, Aufsätze und größere Schriften veröffentlicht, Borträge gehalten und Vorschläge begründet

haben; so daß der Anschein entstehen könnte, als wollte ich mit meiner Arbeit noch Holz in den Wald tragen. Einige der Werke tragen eine gegeradezu beängstigende Menge von Literaturangaben zusammen und ziehen aus diesen gewisse Ergebnisse, sei es als feste Erfahmngen, sei es als Ratschläge oder als Organisationsvorschläge, für welche aber oft, zumal bei der Neuheit der Sache, die notwendigen Voraussetzungen fehlen; andere der bezüglichen Werke und Schriftstücke sind nicht viel mehr als billige Kompilationen. Auch die an manchen Orten eingerichteten Jnformationskurse, welche zum Teil in einer einzigen Woche den Inbegriff alles Wissens­ werten in gedrängtester Form an den Mann bringen wollen, geben nicht viel mehr als Rezepte, die man zwar schwarz auf weiß nach Hause

tragen kann, aber die doch in vielen Einzelheiten der schweren und überaus verantwortungsvollen Aufgabe gründlich im Stich lassen, weil sie vielfältig rein dogmatisch gehalten, den Zusammenhang gewisser Erscheinungen mit körperlichen oder geistigen Abnormitäten nicht aus­

reichend nachweisen und so auch die Behandlungsweise nicht ausgiebig

XII begründen.

So ganz leicht ist die Lösung der gerade in der Hilfsschule

den Lehrenden oft aufgegebenen Rätsel ganz gewiß nicht, daß man sich mit einer kurzen Formel zu helfen imstande wäre, und die in manchen Schulen — vielleicht auch jetzt noch — übliche Losung: stramm, stramm, stramm! alles über einen Kamm! ist nirgends weniger angebracht als gerade in ihr. Was nun gerade mich — abgesehen von den in den Eingangs­ worten angeführten Umständen — bestimmt hat, meine Erfahrungen

und Gedanken ausführlicher, als es in der oben erwähnten Denkschrift möglich war, hier niederzuschreiben, waren ebenso Anregungen, die von außen an mich herantraten, und Erwägungen, die sich mir, den» früheren Lehrerbildner, und sodann auch Erfahrungen aus meinem letzten Amte im städtischen und staatlichen Aufsichts- und Verwaltungs­ dienste ganz von selbst darboten. Uber die Anregungen von außen, die zum Teil mit Besuchen auswärtiger Interessenten in der Elberfelder Schule und unseren gedruckten Berichten über dieselbe zusammen­ hingen; gelegentlich auch als Ergänzungen zu den mechanisch-verviel-

fältigten Antworten auf Anfragen versandt wurden (bet schon erwähnte größere Bericht von 1901 wurde bis jetzt noch oft begehrt, ist aber dem­ nächst ganz vergriffen), kann ich hinweggehen, da es natürlich war, daß denjenigen, die aus den diesseitigen Erfahrungen Nutzeil zieheil wollten, mit kurzen, meist summarischeil Ailgabeil nicht genügeild gedient war. Läilgere, ail die vorgesetzteil Behörden erstattete Berichte lagen ilur geschrieben bei beit Akten und eigneten sich nicht ohile weiteres zur Abgabe an beliebige andere, zunt Teil private Stellen, und hätten auch eilte große Schreiblast nötig gemacht. Aitders lag die Sache, als nach einem Besuche zweier Herrett aus dent Ministerium sich auch dort ein aktiveres Interesse für die Sache bemerklich machte, zur ausdrücklichen Empfehlung entsprechender Ver­ anstaltungen und schließlich gar zu einer Weisung an die Seminare führte, in den dortigen Unterricht auch die wichtigsten Kapitel der Heil­ pädagogik aufzunehmetl. Darauf ergingen auch aus diesen Anstalten wiederholt Bitten hierher um Erteilung von Auskunft, Überlassung oder Bezeichnung entsprechender Literatur und ähnliches.

Das griff dann

dem alten Seminardirektor, der seinerzeit nur aus Gesundheitsrüch'ichten, aber unter bleibendem Heimweh nach dem unmittelbaren

Verkehr mit der Jugend auf die Fortführung seines Amtes als Lehrer-

bildner verzichtet hatte, ans Herz — und er beschloß, die ihm etwa noch

verbliebenen Kräfte zu einer Darstellung zu verwenden, die auch den angehenden jungen Lehrern als ausführlicher Wegweiser sollte dienen können, da die vorhandenen Werke sich meist an schon ältere und er­ fahrenere Lehrer wenden und demnach schon die Nöte mit schwach­

begabten Schülern als im wesentlichen bekannt voraussetzten. Ob seine Darbietung dann vielleicht auch noch kleine Änderungen in der herkömmlichen Lehrpraxis besonders an den Schulneulingen anregen

oder herbeiführen werde, stellt er getrost der Zukunft anheim; denn daß

der Dienst der Liebe an der Jugend, dieser Hoffnung unseres Vater­ landes, auch gewisse Schwächen habe, dürfte wohl keinem wirklichen Kinderhirten ganz entgangen sein; die mancherlei — zurzeit in der Schwebe befindlichen, zum Teil recht radikalen Reformvorschläge weisen jedenfalls auf gewisse nötige Umgestaltungen hin.

Und auch noch an Schulverwaltungen und an Aufsichtsbehörden hat er bei seiner Darbietung gedacht. Die rege Teilnahme vieler von ihnen an den immer stärker besuchten einschlägigen Konferenzen und Kongressen; die mehrfach an ihn selbst gerichteten Anfragen und Zu­ schriften legen Zeugnis dafür ab, daß die frühere — zum Teil mndweg ablehnende — Haltung einzelner derselben einer gerechteren Würdigung der Sache Platz gemacht hat; und daß, abgesehen von der rein päda­ gogischen, auch die sozialpolittsche Bedeutung der Fürsorge auch für die Leiblich- und Geistig-Gehemmten immer besser erkannt wird. Es wäre

tatsächlich auch nicht zu verstehen, wenn in einer Zeit, welche kein Atom eines Stoffs, keinen Rest verwertbarer Naturkraft, keine Spur einer sich bei Tieren zeigender Kraft und Intelligenz unausgenützt und un­ verwendet verkommen läßt; in einer Zeit, welche die früher als äußerst unwillkommene, weil fruchtbares Land bedeckende Zugabe sich er­ weisenden Schlackenberge jetzt durcharbeitet und anderen Zwecken dienstbar zu machen sucht; — größere Gemeinschaften von Menschen müßig zusehen wollten, wie einzelne ihrer Glieder, die weder Idioten, Geistesgestörte, Mchtvollsinnige, Krüppel, noch durch sonstige Umstände zur absoluten Untätigkeit verurteilt sind, geistig und körperlich nicht besser gefördert und so zur Mtarbeit für die Mgemeinheit fähig gemacht

werden sollten, zumal solches sogar bei den Ersterwähnten (Idioten,

Krüppeln und sogar Irren, bei Nichtvollsinnigen sogar in überaus günstiger Weise) möglich wird. Es wäre das eine Versündigung am Gemein-

XIV schaftsvermögen; eine noch größere aber gegenüber diesen Bemach,

lässigten selbst.

Denn wenn richtig ist, was vor Zeiten einmal Jules

Simon gesagt hat, daß „in unserer — nicht mehr wundergläubigen — Welt es nur noch eins gibt, was noch Wunder verrichten kann, nämlich die Barmherzigkeit" (dans notre monde positif il n’y a plus que la charitS qui fasse encore des miracles) so gebietet wenigstens die Nächstenliebe,

auch an diesen Minderbevorzugten und Begabten alle Mittel zu ver­ suchen, um ihnen das Gefühl, das drückende Gefühl ihrer Gering­ wertigkeit zu benehmen oder wenigstens zu mildern. So gehört auch die Arbeit der Hilfsschule zu den wichtigen, ja, kann man vielleicht sagen, zu den wichtigsten sozialen Aufgaben der Zeit;

und die Erleichterung ihrer Lösung, die durchaus nicht bloß mit materiellen Mitteln zu bewerkstelligen ist, wenngleich solche auch bei ihr, wie bei allen Bildungs- und Kulturfragen mit in Betracht kommen; sondem einen recht großen Aufwand auch geistiger und Herzenskraft erfordert, kann schon um deswillen verdienstlich wirken, weil die mit ihr in der Regel Betrauten auch eine Menge anderer Aufgaben zu lösen haben, die schon

wegen der viel größeren Menge der Beteiligten, der erheblich weiter gesteckten Unterrichtsziele und der durch beides bedingten größeren Tragweite ein Vertrautwerden mit unserem Sondergebiet nicht ohne weiteres fördem. Wenn hier ein Spezialist beim Zurechtfinden hilft; wenn er an der Hand des bisherigen Entwicklungsganges aufmerksam

macht auf die besonders bedeutsamen Stoffgebiete, die Formen und Wege der Arbeit, die Voraussetzungen für das Erfassen und Verwerten des Anzueignenden, das Erhalten und Üben des Erlemten und die

erziehliche Ausnutzung des Erarbeiteten, so daß aus alledem ein sittlich gerichteter Wille entsteht; wenn weiter — auch die ganze Organisation der Schule mit ihren Notwendigkeiten und Möglichkeiten begründet wird, da die Jndividualitätsberücksichtigung schon aus dem Gmnde beschränkt werden muß, damit die Zöglinge nicht zu ungenießbaren Eigenbrödlern werden, die innerhalb einer gewissen größeren Gemein­ schaft sich nicht zurechtfinden; wenn weiter neben der Gesundheitspflege und sonstigen Wohlfahrtseinrichtungen auch der Fortbildung nach dem Verlassen der Schule, und trotzdem der Erhaltung eines gewissen Zu­

sammenhangs mit derselben Rechnung getragen, und auch manche Mittel zur Sichemng persönlichen und Rechtsschutzes, zur Vorbereitung auf eine gewisse Volks- und hauswirtschaftliche Ausbildung; kurz und gut

dasjenige erörtert wird, was zur Einfügung in eine größere Gemein­

schaft dienen kann und unseren Zöglingen auch dort eine zwar bescheidene, aber nicht unwürdige Stellung zu verschaffen imstande ist; so dürfte damit einerseits den Zöglingen selbst, andererseits aber den Gemein­ schaften und deren Vermaltem und Bertretem ein brauchbarer Weg gewiesen sein, auch diesen Stiefkindem des Lebens und der Gesellschaft

gerecht zu werden. Wie ich zu meiner Auffassung der Aufgaben gelangt bin, habe ich

beschrieben und zu begründen versucht.

Ob sich alle Erwägungen und

Vorschläge überall werden ins Leben rufen oder als ordnungfördemd in die Schulorganismen werden einfügen lassen, muß im einzelnen erprobt werden; denn daß ein zuweitgehendes Individualisieren auch seine Grenzen hat, wenn die generalisierende Schulordnung nicht ge­ lockert oder gesprengt werden soll, konnte mir selbstredend nicht entgehen. Deshalb bitte ich, meine gelegentlichen Rezepte nicht als für unfehlbar gehaltene ansehen zu wollen. Daß ich mich durchaus gehütet habe, bei aller Fürsorge und Pflege für das körperliche Befinden der Zöglinge, die ich den Lehrenden zur Pflicht mache, ihnen etwa ein Eingreifen in die Sphäre der Ärzte gelegentlich zu empfehlen, erllärt sich schon daraus, daß ich gerade bei unseren Kindem das sorgsamste Zusammenarbeiten beider für unerläßlich erachte; aber auch keinem von beiden die Freude an der Arbeit, das Verantwortlichkeitsgefühl und endlich auch die Befriedigung über erzielte Erfolge irgendwie verkürzen möchte, weil keine andere Arbeit so des inneren Sonnenscheins ganz uneingeschränkt bedarf, wie gerade die unsrige; möge jeder unverrückt seiner Arbeit warten; wenn die Blume

selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten! Damm dem Arzte sein volles Recht und ebenso dem Lehrenden das seine; vor den Schülern bedarf jeder desselben, und deshalb darf keiner von beiden Mißklänge

hewormfen. So gehe denn das Büchlein mit freundlichem Glückauf! hinein in die Welt. Es will keiner anderweitigen Darbietung Konkurrenz machen; wohl aber mancher von ihnen, welche von anderen Gesichts­ punkten ausgegangen sind, Erwägungen anbieten, die ihnen bisher vielleicht ferner lagen. Elberfeld, Pfingsten 1908.

Der Verfasser.

A. Zur Einleitung. Allgemeine Gesichtspunkte, welche die Notwendigkeit möglichst ausgiebiger Bildungsgelegenheiten auch für geistig oder leiblich gehemmte Glieder der menschlichen Gemeinschaften begründen.

I. Der volkswirtschaftliche Standpunkt. I. Gedankengang. 1. Scheint auch der durch Naturgesetz ollen organischen Wesen auf­

erlegte Kampf ums Dasein den Krieg aller gegen alle zum allgemeinen Gebote erhoben zu haben; so erheischt doch das Sittengesetz, daß die vernunftbegabten Menschen in ihrem Gesanltinteresse sowohl wie auch im Gefühl der alle einzelnen umfassenden Gemeinschaft einem anderen Naturgesetze folgen, welches kein Atom von Stoff und Kraft unausgenützt vergehen läßt, und bestmöglich die Erhaltung und sogar die Fördemng auch der schwächeren Kräfte als ihre Pflicht anerkennen. 2. Die Anerkennung dieser Pflicht hat ihren Ausdruck gefunden in einer ganzen Anzahl von Einrichtungen, über deren allmähliche Entwicklung die Kulturgeschichte der Menschheit Bericht erstattet. Eine der bedeutsamsten Einrichtungen dieser Art ist diejenige, welche mit dem Gesamtnamen „Schule" bezeichnet und je nach der Verschieden­ artigkeit der Bedürfnisse und Verhältnisse sich verschiedenartig gestalten läßt, im wesentlichen aber in allen besser entwickelten Gemeinschaften der Besuchspflicht unterliegt. Diese allen auferlegte Pflicht muß, entsprechend der unendlichen Mannigfaltigkeit der Anlagen der ein­

zelnen, wenigstens eine allen gemeinsame Grundlage als Ziel für alle festzustellen suchen und dies als Mindestmaß bezeichnen; aber anderer­ seits doch auch die Möglichkeit darbieten, über dies Mindestmaß hinaus­ zugehen, damit nicht auf Grund allgemeinen Tiefstandes im Wissen und Können die Gesamtheit geschädigt werde.

Ziemlich allgemein

dient Lesen- und Schreibenkönnen als Maßstab, und die Statistik z. B. Boodstein, Erziehungsarbeit.

1

2 der Analphabeten im Heer bezeichnet in Deutschland den Bildungsstand der einzelnen Bezirke. Vergleicht man aber damit, was nach dem Lehrplane der allgemeinen Volksschule allgemein erstrebt werden soll, so gewinnt man wenigstens ein Urteil, wie viel mehr mau mit der über­ wiegenden Mehrzahl der Schüler erreichen zu können hofft.

3. Schon der Hinweis auf die unendliche Mannigfaltigkeit der Anlagen läßt erkennen, daß dieser Mehrzahl oder diesem Durchschnitt auch Minderheiten gegenüberstehen werden, und zwar ebenso solche,

deren Leistungsfähigkeit über das für den Durchschnitt angenommene Ziel hinausgehen, wie solche, deren Können unter demselben stehen wird. Ob und wieweit die Allgemeinheit auf das eine oder andere Rücksicht nehmen wird, hängt von ihrer Entschließung ab, welche ja sich sehr verschieden gestalten kann und — um nur der entgegengesetzten Pole zu gedenken — einerseits die unbedingte Berücksichtigung jeder

Individualität verlangt, andererseits jedes Hinausgehen über oder Heruntergehen unter den Durchschnitt als Privatsache von sich abweist, unter Umständen sogar als Uberhebung kennzeichnet, wie ja großer Reichtum, große Macht, geistige Überlegenheit Neid und sogar einen

Kampf der Gegensätze entfesselt. 4. Für alle anderen, die aus irgendwelchen Gründen unter dem Durchschnitt bleiben oder gar bleiben müssen, sucht man vielleicht ander­ weitige Vorkehrungen zu treffen, die naturgemäß sich nach der Be­ schaffenheit der Mängel oder sonstigen Verhältnisse verschieden zu ge­ stalten haben werden. Vorschläge dagegen, auch für HervorragendBeanlagte, also für solche, deren Leistungsfähigkeit das für alle vor­ gesehene Mittelmaß ganz erheblich übersteigt, besondere Fördemngsgelegenheiten auf allgemeine Kosten zu errichten, sind nur vereiuzelt gemacht oder verwirklicht worden, da das geniale Bahnbrechen, ihr Hauptkennzeichen, als ihre eigene Aufgabe gelten muß, wenn auch ihnen tunlichste Förderung, auch im allgemeinen Interesse, gewiß zu gönnen ist.

5. Die Reihenfolge dieser verschiedenartigen Gestaltungen entspricht lediglich der größeren oder geringeren Dringlichkeit des Bedürfnisses,

wie ja auch die allgemeine Schulpflicht erst der neueren Zeit ihre ge­ setzliche Geltung verdankt. Denn wenn auch schon im Altertum der Staat das Individuum für sich in Anspruch nahm, so wurde doch erst in der neueren Zeit ein Recht auch des Individuums auf sich selbst

und eine seinen Bedürfnissen und Anlagen tunlichst entsprechende

3 Bildung anerkannt und damit der Grund gelegt für die Mannigfaltigkeit von Bildungsgelegenheiten. 6. Am spätesten kamen endlich auch diejenigen zu ihrem Rechte,

die zwar noch bildungsfähig erschienen, aber — nach dem Grade ihres

Verständnisses und Könnens — selbst für die Erreichung des Mindest­ maßes nicht ausreichend befähigt erschienen, jedenfalls selbst mit den Schwächeren der allgemeinen Schule nicht Schritt zu halten vermochten.

Auch hier bereiteten vereinzelte Ansätze die umfänglichere Entwicklung vor, welche sich anderen sozialpolitischen Maßnahmen würdig anschloß.

2. Ausführung und eingehendere Begründung. Die Gesetze, die im Bereiche alles organischen Lebens sich unauf­ hörlich und unaufhaltsam zur Geltung bringen und darin bestehen, daß

teilt Atom irgendeines Stoffes und irgendeiner Kraft völlig ungenützt und unverwertet vergehen dürfe, sondern schließlich doch irgend einem

anderen Stoffe und einer in ihm liegenden Kraft zugute komme und diene, werden seitens der mit freier Bewegung und eigenem Willen begabter Wesen, besonders auch der Menschenkinder, häufig bei weitem

nicht genügend erkannt und gewürdigt. Die Folge davon ist — bei später erwachter Erkenntnis des Versäumten — sei es eigenes Bedauern, sei es eigener Schaden oder ein allgemeiner Verlust. So geht denn vor­ zeitig manches noch lebens- und fmchtfähige Ältere verloren, ohne daß

es bestmöglich oder voll ausgenützt worden wäre; — und selbst wenn später auch neues Leben aus den Ruinen erblüht wäre, ein vermeidbarer Verlust ist tatsächlich immer zu verzeichnen, selbst wenn ntan sich damit trösten wollte, daß der Kampf ums Dasein immer Opfer nnd Selbst­ beschränkung auferlege und fordere, und daß man zufrieden sei, wenn das verwesete Körnlein auch nur ganz geringen Nutzen gebracht habe. Denn selbst das Geltendmachen der einmal von Goethe forntulierten Erfahrung, daß „Mles, was entsteht, sich Raum suche und Dauer haben wolle, und deshalb ein anderes vom Platze verdränge und dessen Dauer verkürze"; oder der Schillerschen Sentenz im Wallenstein: „wo eines

Platz nimmt, muß ein andres weichen; wer nicht vertrieben sein will, der muß vertreiben" — hat einen stark fatalistischen Beigeschmack, stellt sich auf die Seite des Siegers im Kampfe und erscheint ungerecht gegen­ über dem unterdrückten Schwächeren.

4 Sucht man nun auch diese Verhältnisse mit der Unerbittlichkeit gewisser Naturgesetze zu begründen und zu rechfertigen, und zeigt keine

Spur von Mitleid solchen Naturkörpern gegenüber, welche keine Emp ­ findung zu haben scheinen, so wird man doch schon andern Sinnes

bei der Verletzung oder Vernichtung von Pflanzen, die uns Nutzen und Freude bereiten; man geht sogar strafrechtlich vor gegen Tierquälereien, ja prägt den Kindern in den Schulen und auch schon im Hause ein

Sprüchlein ein, das mit der Begründung schließt: „denn es fühlt wie du den Schmerz". Ist es nun auch selbstverständlich, daß man von alters her zunächst nach der leiblichen Seite hin dem Menschen allermindestens den­ selben Schutz angedeiheu läßt wie den Tieren und jede Verletzung

ahndet; so ist damit doch allerhöchstens nur das geschehen, was fast jedes Tier, solange es für sie zu sorgen hat, seinen Jungen instinktiv zuteil werden läßt.

Daß auch die seelische und geistige Seite des

Menschen, fast noch mit größerem Rechte, — denn ihr sind oft schwerere Aufgaben gestellt als der Leiblichkeit — des größtmöglichen Schutzes und der ausgiebigsten Pflege bedarf, wird einer Erklärung und Be­ gründung nicht benötigen, da das Geistig-Seelische das Agens, das Treibende und Belebende des ganzen menschlichen Organismus, also auch des Leibes ist, und damit das ganze Sein und Handeln des — durch seine Vernunft von allen anderen Wesen unterschiedenen — Menschen regelt. Solches wird jetzt auch durch die Gebräuche und die Gesetzgebung der meisten Kulturstaaten anerkannt: überläßt man die Pflege des Leib­ lichen im wesentlichem dem einzelnen und stellt zwingende Normen dafür nicht auf, — so ist eine gewisse Pflege des Geistes unter Zwang gestellt, wird meist vom Staate genau überwacht und erstreckt sich auf eine ziemliche Reihe von Jahren. Daß die Aufstellung einer solchen Pflicht des einzelnen zugleich das Recht der Allgemeinheit auf die Dienste des einzelnen deutlich ausspricht, ist schon im frühen Altertume zur Geltung gebracht und der Mensch als ein Zoon politikon, als ein „für den Staat geschaffenes Lebewesen" bezeichnet und gedeutet worden. Hiermit ergab sich von selbst für den einzelnen, der jener Pflicht genügte, auch ein Rechtsanspruch an den Staat auf Schutz nicht nur für Leib und Leben, sondern auch auf bestmögliche Förderung der geistigen Entwicklung, die ja selbstredend in den verschiedenen Zeitläuften ihre besonderen Bedürfnisse

5 und ihre besonderen Formen geltend machte. Erschwerend wirkte ja hierbei selbstredend die unendliche Mannigfaltigkeit aller in Betracht zu ziehenden Verhältnisse, sowohl der leiblichen, wie der seelischen,

so daß man — wie man feststellen kann, daß nicht zwei Blätter desselben Baumes sich vollständig gleichen — mit viel größerem Rechte sagen kann: wie unter den vielen hundert Millionen Menschen es körperlich

nicht zwei sich vollständig gleiche (mathematisch ausgedrückt: kongruente) gebe, so ebenfalls nicht in geistigem oder seelischem Betracht. Der Staat inußte also, um diesem Rechtsanspruch zu genügen, einen mittleren Durchschnitt festzustellen und diesem bestmöglich zu entsprechen suchen, eine gewiß schwierige Aufgabe und zwar um so mehr, als für die geistige und seelische Entwicklung sehr viel weniger — ich möchte sie mechanische

nennen — Gesetze und Beschränkungen gelten als für die leibliche: in den Hinrmel hinein können die Bäume nicht wachsen, und wer vermöchte

seiner Länge eine Elle zuzusetzen? — aber bis wohin der menschliche Geist

steigen, unter Umständen sogar sich versteigen kann; was alles die Seele mit ihrer Empfindung zu umspannen versuchen kann, das spottet jeder Beschreibung. So wird denn bei der Feststellung des Durchschnitts stets eine gewisse Willkür obwalten und zwar ebenso auf feite« des

Feststellenden wie des zur Erfüllung des Geforderten Verpflichteten, da neben dem — doch nicht völlig einzudämmenden freien Willen des letzteren auch der ihm innewohnende Grad des Könnens und Verstehens, also die sogenannte Begabung in Betracht kommt, oft genug sogar iu ausschlaggebender Weise, da sie sich oft in einer Richtung bewegt, die

für eine große Mehrzahl des Durchschnitts gar nicht in Betracht kommt:

ich denke hier an solche mit ganz einseitiger Veranlagung und wiederum auch an solche, die für manche Gebiete schlechterdings ganz ohne Auf­ nahmeorgane zu sein scheinen. Die Folge dieser Umstände ist einmal eine außerordentlich weit

reichende Ausdehnung dieses Bildungsdurchschnitts und demgemäß auch innerhalb desselben wieder noch eine mehrfache Abstufung, die sich für Deutschland etwa bezeichnen läßt als „Volksschul-, Mittelschul- Ein­

jährigen- und endlich vielleicht noch als Reifezeugnis-Mldung, und je nach der Dauer der auf ihre Pflege verwandten Zeit sich etwa bezeichnen

ließe als Achtjahrs-, Neunjahrs-, Zehnjahrs- und Zwölf- bis Dreizehn­ jahrs-Bildung. Natürlich geben diese.— rein äußere Momente charakteri­ sierenden — Bezeichnungen über den wirklich erreichten Bildungsinhalt

6 nur ein sehr schwach uinrissenes Bild, da die wichtigsten Merkmale

erworbener Bildung: die geistige Begabung, das richtige Empfinden

und die sittliche Willensrichtung weder vom Schulwissen noch von der Art und Dauer der genossenen Schulung im eigentlichen Sinne des Worts beeinflußt zu werden brauchen. So gibt es also unendlich viele Stufen der Begabung wie der Bildung — und es erscheint ganz natur­ gemäß, daß, wenn man auch die ungezählte Mehrheit der Menschen dem Durchschnitt zurechncn kann, immer noch recht viele Individuen in ihrer Leistungsfähigkeit unter dem Durchschnitt bleiben werden und,

vielleicht nach Lage der Verhältnisse, unter demselben bleiben müssen, doch auch wieder eine ziemliche Anzahl — genau läßt sich diese Zahl nicht seststellen — in ihrer Leistungsfähigkeit den Durchschnitt über­

ragen wird. Auf die einzelnen, die alle anderen weit hinter sich zurück­ lassen, bahnbrechend, lichtspendend, das Gemeinwohl fördernd, das erlösende Wort finden und aussprechen, dessen ihre Zeit und auch die Folgezeit bedarf, die Helden des Gedankens, des Wollens und Tuns kann hier nicht eingegangen werden, da sie in der Regel auf einsamer

Höhe wirken und sich nicht irgendeiner anderen Stufe cinreihen lassen, auf welcher schon viele andere Lebende stehen.

Wie aber die Durchschnittsmcnge unendlich viele Stufen und Staffeln aufweist, so sind auch die unter dem Durchschnitt Zurückbleibenden noch recht mannigfaltig zu gruppieren und zwar nicht nur nach den Graden ihres Wissens, Könnens und Wollens — denn diese Schulunterscheidungcn allein dürften uns bald gründlich iin Stiche lassen — sondern auch nach den Merkmalen, Ursachen und Folgewirkungen, die alle in Betracht gezogen werden müssen, wenn man aus volkswirtschaftlicher Rücksicht auch ihre Kraft nicht ungenützt vergehen lassen, vom sozial­ politischen Standpunkt aus ihnen ihr Menschenrecht nicht vorenthalten, und eiiblid) aus Christenpflicht ihnen die Wohltaten nicht versagen will, die ihnen als Erbteil aus der Arbeit der früheren Generationen ebensogut zustehen als den Durchschnittlem, den Überragenden und sogar den auf einsamer Spitze Thronenden — denn diese alle sind nur geworden,

was sie sind, weil auch sie nicht von vorn anzufangen brauchten, sondern auf den Schultern der Vorfahren stehend höher reichen konnten als diese selbst.

Wenn wir später versuchen wollen, wenigstens einige der

Hauptgruppen solcher Minderwertigen zu kennzeichnen, und zu be­ schreiben, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln versucht worden

7 ist, nicht nur ihnen eine Daseinsberechtigung zuzuerkennen, ihnen iin

Kampfe ums Dasein beizustehen und schließlich auch ihre geringe Kraft dem Allgemeinwohl dienstbar zu machen; so sei fürs erste nur kurz be­ gründet, daß dieses Dienstbarmachen auch der geringen Kraft wirklich ein Dienst zugunsten der Allgemeinheit, eine Forderung der sozialen

Gerechtigkeit, ein Dienst der Liebe am Nächsten und endlich ein Mittel zu unserer eigenen Selbstbehauptung im Leben sei. Das Kleine gering achten, ob es Mittel, Kraft, Verdienst, Hilfe

oder irgendetwas anderes sei, ist eine Lebensauffassung, die sich in der Ziegel bitter straft, am meisten aber an solchen, denen „Alles oder Nichts" zu erlangen als allein menschenwürdiger Grundsatz gilt, obwohl die tägliche Erfahrung das Irrige desselben deutlich beweist.

Trotzdem besteht er noch immer weiter, wenn auch vielleicht weniger auf materiellem als auf ideellem Gebiete. Auch die Lehrenden, oft auch die Eltern, besonders aber die begabteren Mitstrebenden geben solcher Auffassung

sehr leicht nach — und tun damit nicht nur den Minderbegabten, sondern der großen Gesamtheit oft einen nur sehr zu bedauernden Dienst. Daß sie sich damit aber nicht nur materiell gründlich vertun, sondern gerades­ wegs ethisch gründlich schuldig machen, ergibt sich ihnen oft genug recht bald: was ihnen in der Fabel vom Löwen und der Maus, in der Goetheschen Legende vom Hufeisen und in unzähligen Sprüchen und Sprichwörtern gepredigt wird, aber unbeachtet bleibt, das rächt sich oft bitter

mittelbar oder unmittelbar an ihnen selbst und im weitern an der Ge­ samtheit. Daß der volkswirtschaftliche Schaden jedenfalls hierbei nicht der geringste ist, läßt sich aus den Etats des Staats und der größeren und

kleineren Gemeindeverbände, sowie der einzelnen Familien, bündigst beweisen: Die Beträge der Lasten für Armenversorgung, Strafanstalten und für sonstige Drohnen der menschlichen Gesellschaft erfordern einen sehr hohen Prozentsatz des Ertrages der produktiven Arbeit, die diese Verbände leisten; ja oft genug kommt solches bei den Beratungen der Vertretung dieser Körperschaften zu sehr drastischem Ausdmck. Bis­ weilen freilich werden diese Lasten neben diejenigen für Schulzwecke gestellt und der Verfasser hat oft auf solche Hinweise mit dem Bemerken antworten müssen, daß ein erheblicher Teil des Aufwandes für jene Zwangsmittel gespart werden könnte, falls die immerhin produktive

Erziehungsarbeit rechtzeitig und in ausgiebigerer, folgerichtigerer und

8 vorbeugenderer Weise versorgt worden wäre. Auch hier heißt es: „gründ­ licher arbeiten, dann brauchte man nicht zu verzweifeln."

Wie solches

aber zu geschehen hätte, möge ein kurzer Hinweis auf eine Lehre zeige», zu welcher sich gewisse Industrien nach und nach verstanden haben, nachdem sie das Unverständige ihrer früheren Praxis erkannt hatten.

Wer an Bergwerken, Hochöfen uni) ähnlichen Arbeitsstätten vorüber­

ging, wurde in der Regel überrascht durch kolossale Abfall- und Schlacken­ berge, die einen erheblichen Teil fruchtbareir Landes bedeckten und nicht nur unbenutzt liegen geblieben waren, sondern bei ihrer Aufschichtung

viel Arbeit gemacht und viel Zeit und Geld gekostet hatten, Opfer, die alle sich teilweise bequem hätten vermeiden lassen. Nach und nach hatte der Schaden auch seine Wirkung ausgeübt und die Betriebssichrer klug gemacht. Die gewaltige« Mengeu dieser Abfälle wurden nochmals einer Durcharbeitung unterzogen, die in ihnen enthaltenen Körner noch nutzbaren Metalls gesammelt, die glasigen Bestandteile zerkleinert, der Kohlengrus zu Briketts verwandt und die anderweitig unverwend­ baren Reste als Sand oder ähnliches für Straßcnbauzwecke, zur Aus­ füllung großer Löcher imb sonstiger Unebenheiten in den Verkehrswegeu gebraucht — und damit nicht nur das bedeckte Erdreich für andere Zwecke freigemacht, sondern auch ein nicht unerheblicher Nutzen ander­ weitig gewonnen. Die Nutzanwendung auf unser Gebiet liegt nahe. Auch für uns liegt die Notwendigkeit vor, die immerhin nicht geringe Einzahl menschlicher Existenzen, denen anscheinbar beschieden ist, auf den untersten Stufen des menschlichen Daseins nutzlos zu verkommen, die nicht einmal mit den bescheidensten Früchten ihres Könnens und Mühens auf dem Jahrmärkte des Lebens aufzuwarten inlstande waren,

zur Arbeit und zu einer berechtigten Existenz zu erziehen und dann zur Arbeit zu gewöhnen, damit sie nicht rücksichtslos beiseite geschoben, vielleicht gar schonungslos zerrieben werden können. Ist ihre Kraft auch von vornherein nicht groß, ist der Trieb ihres Willens auch nicht stark, ist ihre Lust zum Schaffen auch wenig ausgeprägt — alles das

läßt sich mehren, stärken, bessern; alles das läßt sich zu ihrem eigenen Nutzen und auch zu dem der Gesamtheit verwerten — und wir sollten trotzdem diese in ihnen steckenden Werte unaufgesucht, unbeachtet, spurlos und nutzlos der Vernichtung anheimfallen lassen, sie dem kalten Brande des Eisens, dem vernichtenden Roste preisgeben? Hier gilt

es also die latenten Kräfte freimachen, sie erwecken, sammeln, erhalten,

9 gleichgiltig ob sie mehr leiblicher oder mehr geistiger 9(rt wären.

Wenn

selbst große Kräfte, unverwertet und vernachlässigt, schließlich völlig verfallen — wie wird das erst mit kleinen, unscheinbaren, die gar nicht erst zum Selbstbewußtsein gelangt sind und irgendwie erprobt wurden, der Fall sein müssen! Hier bloß mit Massenerträgen rechnen, an diesen Raubbau treiben, die kleinen Erträge verkommen lassen zu wollen, läßt sich solches mit sittlich denkender, Billigkeit übender Lebensauf­ fassung verbinden? Ganz gewiß nicht; und deshalb wird cs je länger je mehr als Grundforderung aller ethischen Kultur auftretcn müssen,

daß die mobentc Gesellschaft die Pflicht habe, die Schwachen in ihrer Existenz zu schützen, die in jedem derselben doch vorhandenen Kräfte nnd Vermögen zu ihrem und der Allgemeinheit Nutzen zu entwickeln und zu fördern. Wenn iver weiß wieviel geschieht, um die Reichen immer reicher zu niacheu, die hervorragend Begabten in ihreir Bestrebungen ausgiebigst zu unterstützen und ihneil die Wege für allerlei Erfolge bestmöglich zu bahnen, damit sie möglichst ungehindert die höchsteil Ziele zu erreichen vermögen, — da darf auch kein Mittel unversucht bleiben,

die Armen am Geiste oder die leiblich Gehemmten zu retten und zu sichern, den sittlich Gefährdeten beizustehen und den Verzagten und Verzweifelnden Mut zu machen imb die Hoffnung zu erwecken, daß auch sie nicht für dauernd verloren zu halten, soildern durch Arbeit lvieder zu heben sein mürben. Ein Teil dieser bedeutsamen, volkswirtschaftlich und sittlich un­ abweisbaren Aufgabe ist auch den Schulen Vorbehalten; und nicht erst aus unseren Tagen datieren die Benrühungen, ihre Tätigkeit den Be­ dürfnissen der einzelnen Gruppen von Menschen möglichst anzupassen. Aber wie der Gesichtspunkt einer nröglichst ausgiebigen Teilung aller Arten von Arbeit auf den verschiedenen Gebieten des Erwerbslebens sich erst innerhalb des letzten Jahrhunderts mit Macht geltend gemacht

hat, um Zeit zu sparen, die nur auf ein Ziel gerichtete Kraft zu steigern und möglichst vollkommene Einzelerzeugnisse hervorzubringen; so haben auch die Schulen erst innerhalb des genannten Zeitraumes eine viel­ seitigere, ihren besonderen Zwecken und Zielen möglichst angepaßte Gliederung und Anordnung erfahren, früher allgemein giltige Stoffe ausgeschieden und durch andere ersetzt, und auch in ihren Methoden und Gebräuchen manche Wandelungen eingeführt, an welche man in früherer Zeit nie gedacht hat. Und diese Wandelungen sind zurzeit noch gar nicht

10 irgendwie abgeschlossen, sondern wachen immer wieder neuen Platz, so daß nranche Lobredner des Altbewährten je aus gelinderer oder

heftigerer Verzweiflung gar nicht mehr herauskommen: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit"; ob aber aus den Ruinen überall neues Leben erblühen werde — das erscheint vielen doch überaus

zweifelhaft. Daß übrigens viele dieser Wandelungen einen durchaus berechtigten Kern haben, muß die Gerechtigkeit anerkennen, wenn auch manche

Reformen überstürzt erscheinen, und wie manches Gute durch Besseres werde zu ersetzen sein. Eine Seite dieser Wandelungen verdient aber das höchste Lob, nämlich, daß man endlich auch dazu gelangt ist, auch das Erwecken und Freimachen, das Sammeln und Pflegen der geistig­

schwächeren oder sonst gehemmten Kräfte ernsthaft und eindringlich

ins Auge zu fassen, und sich nicht — wie früher — damit zu begnügen, das Vorhandensein solcher als ein unabänderliches Schich'al anzusehen und zu ertragen, d. h. mit ihnen umzugehen, wie mit unverwertbaren Abfällen und Schlacken, denen man ja einen gewissen Raum und die dringendste Notdurft zugestehen müsse, bereu Förderung, Sammlung und Pflege aber über das Allernotwendigste nicht hinauszugehen brauche:

„mochten sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind!" Der eingetretene Wandel, wenn er sich auch nur überaus langsam Bahn brach und zunächst den schreiendsten Ubelständen, d. h. derjenigen,

die sich deshalb am lautesten bemerklich machten, abzuhelfen suchte, verdient ganz uneingeschränktes Lob. Eine Reihenfolge dieser schreienden Notstände aufzustellen, erscheint müßig: ob es Irre waren, Nichtvoll­ sinnige, Schwerkranke, Krüppel, Unheilbare nut Ansteckungsgefahren, angehende Verbrecher, oder sonst sittlich Verwahrloste, unschädliche Idioten oder sonstige Bildungsunfähige, tut nichts zur Sache; bei fast allen Genannten bestand die Notwendigkeit einer ständigen Überwachung oder wenigstens einer Führung und unausgesetzter leiblicher Fürsorge. Doch gerade diese Notwendigkeiten erforderten im Einzelfalle die Ver­

wendung und die Hilfe einer sonst anderweitig nutzbar zu machenden Kraft, die also anderen Zwecken zeitweilig oder dauernd entzogen werden

mußte und auch gelegentlich recht unbequemen Dienst hatte. Wie aber konnte solchen Notständen bestmöglich begegnet werden? Die getrennte Versorgung der vielen einzelnen erforderte viele Hilfs­ kräfte; sammelte titmt dagegen an einem Orte eine größere Anzahl,

11 so erschien es möglich, mit einer oder einigen Hilfskräften einer Vielheit von Leidenden zu dienen, unter Umständen sogar besser zu dienen als

cs bei einer Trennung der einzelnen möglich gewesen wäre: ersparte also

Kräfte, Mittel, Zeit und konnte auch darauf rechnen, daß das Zu­ sammensein mehrerer in einer Gemeinschaft sogar eine erziehliche Einwirkung ausüben und die einzelnen zu manchen Leistungen willig

machen werde, zu welchen sie sich sonst vielleicht nicht hätten willig

finden lassen.

So entstanden also bald hier bald da für alle ein­

zelnen Kategorien besondere Anstalten, und die in diesen

geübte

Praxis wirkte dann im weiteren vorbildlich, so daß nach und nach auch an andern Orten und für andere Kategorien Nachfolgerinnen erstanden, die weder des materiellen Erfolges, noch des inneren Segens

entbehrten. Daß man in weniger schreienden Fällen, wo eine besondere Aufsicht

und Führung entbehrlich schien, weil Gefahren für den Leidenden selbst und die Umgebenden nicht zu gewärtigen waren, von besonderen An­ stalten absah, lag in der Natur der Sache. Man verzichtete aber — wie es schien notgedrungen — auch auf Leistungen, oder begnügte sich mit den geringwertigsten. Die im wesen.tlichen passive Haltung des Minder­ wertigen ließ Vorbeugungsmaßnahmen entbehrlich erscheinen, weil sie meist keinen Eindruck zu machen schienen; man ertrug eben hier das scheinbar Unabänderliche je nachdem mit Betrübnis oder mit Ergebung; sparte gelegentlich aber auch nicht mit Borwürfen oder gar Strafen, was den Zustand aber meist nicht wesentlich oder gar nicht änderte. Wurden die Minderwertigen auch gelegentlich den Schulen zugeftthrt, sobald sie das vorgeschriebene Alter erreicht hatten, so erwiesen sie sich bald als teilnahmslos, gleichgültig, unaufmerksam, äußerlich vielleicht auch als fügsam; oft aber auch als störend, widerspensttg, eigensinnig, bisweilen gar als ganz unvernünftig. Traten nicht ganz besondere Merkmale, auf, die an anderen wenig oder gar nicht wahrzunehmen waren,

so hielt man das alles nur für kindliche Ungezogenheiten, für Folgen falscher Erziehung oder ungesunder häuslicher Verhältnisse, hoffend, daß sie sich mit der Zeit abschleifen würden. Als das letztere aber nicht eintrat, als jede Wirkung des Unterrichts und der Erziehung ausblieb, als gelegentlich sogar ganz unerklärliche Verkehrtheiten, völliges Ver­

sagen des Gedächtnisses und des Urteils, ja der Sinne in die Erscheinung traten — da kamen die Lehrenden zu der Überzeugung, daß diese Regel-

— 12 Widrigkeiten doch etwas anderes seien als Ausflüsse geistiger Trägheit, des Eigenwillens, mangelhafter häuslicher Erziehung und anderer Ur­

sachen. Verbanden sich damit auch bisweilen eigenartige körperliche Erscheinungen, die, weil nicht besonders augenfällig, zunächst nicht be­ achtet oder wenigstens nicht in Betracht gezogen waren; gelegentliche Anfälle nervöser Überreizung; sonstige Zeichen der Entartung und ge­

schlechtlich-verfrühter Schwächezustände — so mußte dem einigermaßen kundigen Beobachter der Eindruck erwachsen, daß es sich um ziemlich ticfwurzelnde seelische Abnormitäten handele, die eine besondere er­

ziehliche und unterrichtliche Behandlung erheischten. Daß diese innerhalb der normalen Schülerverbände nicht zu gewähren sei, — wollte man nicht Normale und Abnorme in ihrem Rechte verkürzen, — wurde klar. So mußte auf eine Trennung beider Kategorien Bedacht genommen werden. — Es entsprach anfangs auch durchaus dem Zahlenverhältnis der letzteren zu den ersteren, daß man für jene mit Einzelunterweisung begann und auf Grund sorgfältiger Beobachtung nach eigenartigen, der Abnormität sich tunlichst anpassenden Mitteln sein Heil versuchte.

Aus dieser oft halb privaten Einzelnachhilfe entwickelten sich dann mehrgliedrige Organisationen, bis nach und nach, besonders als sich

herausstcllte, daß neben Kindern aus bemittelten Kreisen auch viele Sprößlinge minder bemittelterLeute und uneheliche Kinder, deren Mütter ein kümmerliches Dasein fristeten, den Stempel der Minder­ wertigkeit trügen, und daß deshalb der Aufwand für deren Versorgung aus öffentlichen Mitteln aufgebracht werden müsse, eigene Abteilungen,

Klassen, ja ganze Systeme eingerichtet wurden. Auch bei diesen Neugestaltungen zeigte sich — entsprechend der

eingangs erwähnten fast unendlichen Mannigfaltigkeit der Begabungeil uiib der Defekte, ganz wie bei den Nichtvollsinnigen und sonstigen Seelischund Geistig-Beschränkten — nach und nach die Notwendigkeit einer Gruppierung nach dem Grade der Aufnahme-, Urteils- und Leistungs­ hemmung und Beschränkung oder, wie man es jetzt nennt, einer möglichst weitgehenden Differenzierung der Geistesschwachen. Eine Beschreibung und Erwägung der getroffenen Maßnahmen soll dann int speziellen Teile gegeben werden. Anhaltspunkte für die Behandlung konnten die Erfahrungen der Anstalten geben, welche schon früher errichtet waren und der unter Sinnes-, Nerven-, Körper- und moralischen Defekten Leidenden sich schon

13 früher angenommen hatten. Denn vielfältig lag den Mängeln der GeistigMinderwertigen auch eine entsprechender Sinnes-, Nerven- und körper­ licher Mangel mit zugrunde, wenn er vielleicht auch schwächer war als

bei jenen. Hier zeigte sich also zum Teil das Gegenstück zu dem alten

Satze: mens sana in corpore sano. So erwuchsen denn auch tatsächlich eine Reihe von Maßnahmen der Hilfsschulen aus jenen älteren Erfah­ rungen der geschlossenen Anstalten, und es kann nicht abgewiesen werden, wenn auch in Kürze dieser gedacht wird, ehe zum eigentlichen Thema

übergegangen wird. Bezweckten die vorstehenden Ausführungen eine Darlegung der persönlichen und sozialen Lage aller durch besondere Umstände in den« geistigen und seelischen Entwicklung Gehemmten, und der allmählichen Versuche, diese ganz gewiß nicht günstige Lage zufriedenstellender für sie selbst unb für den Kreis, in welchen sie gestellt waren, zu gestalten; so soll jetzt vor der Besprechung einzelner Gruppen

Fortgänge ihrer

und der Beschreibung gewisser zu ihren Gunsten getroffenen Einrich­ tungen kurz klargelegt werden, wie es wohl gekommen sein dürfte, daß die größten und mächtigsten Gemeinschaften, die Staaten, sich fast aus­ nahmslos sehr spät zur Mitwirkung bei der Lösung dieser Wohlfahrts aufgaben bereit fiitben ließen, ja eine Zurückhaltung beobachteten, welche auch jetzt noch nicht ganz und sicher nicht überall überwunden worden ist, gibt es doch noch jetzt einige Kulturstaaten, in denen nicht einmal die allgemeine Schulpflicht gesetzlich festgelegt, für die Geistig-Armen aber zunächst gar nicht gesorgt worden ist. Weiter muß hervorgehoben werden, daß die allgemeine Schulpflicht noch verhältnismäßig jungen Datums ist. Endlich darf daran erinnert werden, daß innerhalb der ersten zwei Zehntel des vorigen Jahrhunderts vielfältige Kriege um die Erhaltung der Existenz und Freiheit die Staaten zwangen, vor dieser

Sorge andere Notwendigkeiten in den Hintergrund zu schieben. Freilich setzte gerade der unglückliche Ausgang der Kriege diese Notwendigkeiten bald in das hellste Licht. Deshalb lautete der von Fichte der deutschen Nation erteilte Rat: „nur ein Rettungsmittel gibt es: die innere durch­

greifende Umgestaltung und Herstellung der Volksgesinnung durch Ab­ wendung von der Selbstsucht und Bekämpfung derselben durch Erzie­ hung." Deshalb die Ansprache Friedrich Wilhelms des Dritten im Un­ glücksjahre 1807 an den Königsberger Magistrat: „Nichts gereiche

14 einer Kommune mehr zur Ehre und zum Nutzen, als die Trefflichkeit

ihrer Schulen." Ergibt sich nun freilich aus dem Wortlaut dieser An­ sprache, daß der Staat — wenn er sich auch die Aufsicht und obere Ver­ waltung der Schulen vorbehielt — sie doch im wesentlichen der Fürsorge der Gemeinde anheimstellte, so kann es doch nicht wundernehmen,

wenn diese angesichts der damit zusammenhängenden gewaltigen Lasten zuerst sich derjenigen Pflichten annahmen, welche der über­

wältigenden Mehrheit zugute kamen, und nicht sofort für vereinzelte Ausnahmen sorgten. Kam noch hinzu, daß schlechterdings alle Vor­ bilder für solche Abarten fehlten; daß die voraussichtliche Unfrucht­ barkeit aller Bemühungen zu befürchten war — so entfiel ihnen nicht nur die Hoffnung auf Erfolg, sondern auch der Reiz eines vielleicht glückenden Versuches. An einen Nutzen für die Allgemeinheit zu denken,

fiel in jener Zeit sozialen Fatalismus, der die gegebenen Verhältnisse fast für unabänderliche Schicksalsschlüsse hielt, kaum jemand ein. Es fehlten demnach ziemlich alle Triebfedern für die Allgemeinheit, sich

mit der Lösung entsprechender Aufgaben zu beschäftigen, die Fürsorge also zu einer brennenden Frage der Zeit werden zu lassen und das allgemeine Gewissen etwas aufzurütteln. Erst die Not am eigenen Leibe und an nahestehenden Angehörigen; die Empfindung hilfsbereiter Menschenfreunde, die des Volks jammerte, aber ihm mit eigener Kraft doch nicht ausreichende Hilfe zu bringen vermochten; endlich das Gewissen solcher, die für unverdient empfangene Güter durch Mitteilung derselben an Bedürftige ihren Dank zu erweisen strebten — wirkten zusammen, um wenigstens Ratgeber und Mitarbeiter zu Werken der Barmherzigkeit zu vereinigen. Ein solcher Notruf ging aus im September 1857 von dem rheinischen Provinzialausschuß ftr innere Mission in Langenberg. Zu ihrem Mundstücke machte sich Pastor Julius Dißelhoff in Kaiserswerth am Rhein in einer Denkschrift über

„Die gegenwärtige Lage der Kretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern" und widmete sie dem Prinzen Carl von Preußen, dem Herrenmeister des ritterlichen Ordens St. Johannis. Ergreifend ist die Einleitung der Schrift: „Im Rate der Fürsten, wie in den Ver­ sammlungen der Frommen tut man in unsern Tagen — Gott sei daftr gedankt — den Mund nicht nur, sondern Herz und Hand für die Elenden aller Art weit auf. Die Zahl der Waisen-, Rettungs- und Kranken­ häuser, die in den letzten Jahren gegründet sind, ist eine wahrhaft er-

15 freuliche.

Selbst in die dunkelen Räume der Kerker dringt aus Staat

und Kirche das Licht der Liebe in vollen Strahlen hinein. Nur einer Klasse von Unglücklichen hat unsere Zeit die rettende Hand noch nicht geboten: Das sind die Kretinen, Blödsinnigen und Idioten, jene Ver­ lassensten unter den Unglücklichen, die Jahrhundert aus Jahrhundert

am Wege gelegen haben, ohne daß ein barmherziger Samariter sie in die Herberge geführt hätte. Zwar hat in den letzten fünfzehn Jahren hier und da sich ihnen ein Herz geöffnet, und nicht allein mit Worten, soudem auch mit der Tat sie geliebt. Aber int großen und ganzen gehen Kirche und Staat, Fromme wie Unfromme, fund das leider ganz besonders auch in unserm preußischen Vaterlande,) noch immer,

wie weiland Priester und Levit, ohne Mitleid an ihnen vorüber."

Und

nun eröffnet der Verfasser Zweck und Plan seiner Schrift; schildert den leiblichen und geistigen Zustand der Unglücklichen; schildert die bisherige Fürsorge bis in die dreißiger Jahre seines Jahrhunderts, die Erziehungsanstalt von Lehrer Goggenmoos in Salzburg und dann die

Anstalten, die in der Schweiz (Abendberg durch Guggenbühl; Spital in Sitten unb anderswo), in Frankreich, Schottland, Irland, Sardinien, Spanien, Italien, Holland, Belgien, Dänemark, Norwegen, selbst Rußland (Anstalt in Riga) entstanden seien, um schließlich aus Nord­ amerika (Massachusetts, Newyork, Philadelphia, selbst Kanada) dies und jenes zu erwähnen. Nun wird die Schuld Österreichs und Preußens und anderer deutscher Staaten beleuchtet und über die Ab­

tragung der Schuld einiges beigebracht, — bis das Schlußwort in zwei Sätzen feststellt: Es muß geholfen werden, und Es kann ge­ holfen werden; und dann mit der Frage: „Wer soll helfen?" sich an das Vaterland wendet: Der allntächtige Gott aber fragt dich, mein Vaterland, und dich, meine Mutter Kirche: „Wo sind deine blöden Kinder?" —

Wie lange itoch willst du ihm antworten: „Ich weiß cs nicht! Soll ich meiner Brüder Hüter sein?" Die Wirkung dieses Notrufes unmittelbar zu beschreiben vermag ich nicht. Daß das Vaterland und die Kirche zunächst gleichwohl tatlos blieben, ist ja leider festzustellen. Aber von manchem einzelnen bewegten

sich doch Herz, Mund und Hände, und wenn 1862 von Pastor Sengelmamr, dem Gründer der Alsterdorfer Anstalten, der schon seit 1850 im ähnlichen Sinne gewirkt hatte, ein Aufruf ergeht zur Gründung eines

16 Asyls für solche blödsinnige Kinder Hamburgs, in welchem dahin ge­ arbeitet werden solle, daß noch ein Strahl geistigen Lichts in ihre Seelen

fallen kann; wenn in München-Gladbach seit dem 24. September 1858

die Anstalt „Hephata" unter ausdrücklicher Bemfung auf Dißelhoffs Anregung ihre Pforten zu öffnen beschließt; so kann man ganz gewiß sagen: der Notruf ist gehört und beherzigt worden und ist nicht leer

zurückgekommen. So haben buchstäblich zunächst einzelne Herzen sich der Not geöffnet

und nicht bloß mit Worten, sondern mit der Tat geholfen. Und das ist ganz gewiß gut getvesen, da es durchaus nicht sicher ist, daß die Initiative des Staats, die Generalisierung der Organisation, das Reglementieren vom grünen Tische aus Aufgaben von so grundverschiedener Art, welche eine möglichst wenig bedingte Freiheit der Behandlung und die größt­ mögliche Anpassung an die einzelnen Pfleglinge und ihren Charakter erfordern, angemessen zu lösen gestattet haben würden.

Was der Staat

voraussichtlich nicht hätte zustande bringen können, dazu reichteu auch, wie es schien, die materiellen und auch geistigen Mttel der verschiedenen Kirchengemeinschaften, die leider viel zu oft sich im Kampfe um Lehr­ meinungen gegenseitig befehdeten, vielfältig nicht aus, weil sie ihrer iu anderer Richtung zu bedürfen glaubten; und weil auch das streng kon­ fessionelle Interesse das im wesentlichen ethische und rein menschliche in den Hintergrund drängte. So standen also die großen Gemeinschaften zunächst auf diesem Gebiete zurück, und es blieb einzelnen Menschen­ freunden Vorbehalten, immer wieder den Mahnruf zu erheben, anregend und vorbereitend zu wirken und so klärend und anfeuernd zu wirken. Die materielle Lage gewisser Gesellschaftsklassen bot dann den Anlaß zu reicherer sozialer Tätigkeit, und so erwuchsen auch auf diesem Gebiete lücht nur bedeutsame theoretische Anregungen, sondern auch vorsichtig erwogene Versuche, die zumal iu den letzten 20 bis 25 Jahren an sehr vielen Stellen ein lebendiges Echo hervorriefen. Das Erhalten und Nutzbarmachen jeder Spur von geistiger Kraft, das Freimachen und Ausbilden jeder Art des körperlichen Vermögens, das Erwecken eines

Strebens nach schaffensfreudiger Betätigung wurde in vielen Gemeinden die Losung zur Errichtung tioit Bildungsgelegenheiten auch für GeistigArme, so daß man auch sie zu deu hoffnungsreichen sozialpolitischen Maßnahmen rechnen kann.

17

II. Vorschläge zur Beseitigung der Bildungsgegenjaye im deutschen Volke. (Der nachfolgende Aufsatz steht zwar nur in mittelbarem Zusammenhänge mit dem Hauptgegenstande, dürfte aber auch die sozialpolitische Seite unserer Frage etwas beleuchten und dann zugleich begründen, weshalb auch die Hülfsschule ebenso wie die anderen Anstalten für Geistig Gehemmte in Stoffen und Formen den Bahnen zu folgen gewiesen sein müssen, auf denen die allgemein­ bildenden Schulen ihre Ziele zu erreichen streben.)

Professor Schmoller hat einmal in einer Erörterung über die

Ursachen sozialer Gefahren den bemerkenswerten Ausspruch getan,

daß „der letzte Grund aller sozialen Gefahr nicht in der Dissonanz der Besitzgegensätze, sondern in derjenigen der Bildungsgegensätze bestehe", uitd daraus hergeleitet, daß es „die höchste sittliche Aufgabe jedes Kultur­ staates sei, diese Bildungsgegensätze auszugleichen. Denn das Monopol der Bildung sei für die Masse des Volks vielleicht das gefährlichste aller Monopole." Dies mir zwar schon länger bekannte, aber mich doch zuerst etwas befremdende Wort fand ich wieder angeführt in einem Aufsatz der „Köln. Zeitung", betitelt „Das Recht auf Bildung", und zwar in der Einleitung zur Besprechung des Antrags einer Landtagsfraktion, welcher die Ermöglichung einer weiteren Ausbildung besonders befähigter Volksschüler seitens des Staats als besonders dringlich darstellte und mit Rücksicht auf voraussichtlich sehr wichtige politische Wirkungen eingehend begründete. Der Hinweis auf einen früheren Aufsatz der­ selben Zeitung (t)om 15. August 1906), welcher auch noch Anregungen gegeben hatte, wie dergleichen etwa geschehen könne, veranlaßte mich, einen Veteranen der Schulpraxis und Schulverwaltung, mir ein Bild

über die sich daraus ergebenden Verhältnisse zu entwerfen, denn auf Grund langjähriger Erfahrungen mußte ich mir sagen, daß die Stoffe und Formen im Betriebe der Volks- und der höheren Schulen sich doch recht erheblich unterschieden, und ein verspäteter Übertritt aus den ersteren

in die letzteren mindestens ziemliche Zeitverluste zur Folge haben könne. Solche tunlichst zu vermeiden, ohne daß man sich zu sehr verstiege, und ohne daß man denjenigen, denen man doch ebenso vorwärts helfen will wie der Allgemeinheit, statt Befriedigung und Anerkennung, womöglich Verkennung und Spott verschaffte, müßte doch das Erste sein. Denn Boodstein,

Erziehungsarbeit.

2

18 es kann doch Unglücklicheres nicht geben, als die Lage solcher Menschen,

die mit Aufgebot aller Kräfte gearbeitet und gestrebt hätten, um schließ­ lich zu erkennen, daß alles Mühen und Wirken für sie im wesentlichen doch frucht- und ergebnislos geblieben sei. Also: Der Gedanke eines „Rechts aus Bildung für alle" war mir durchaus sympathisch, und seine Erfüllung erschien mir des Schweißes

der Edlen durchaus wert; und auch daß der Staat in dieser Hinsicht

noch sehr viel mehr tun könne und müsse, lag mir sehr nahe, denn während

meiner Amtstätigkeit hatte ich recht oft mit Unbehagen empfunden, daß der Staat zwar überall hineinreglementieren wolle, ohne selbst kräftig voranzugehen und überall zu helfen. Aber wie das alles gemacht werden solle, ohne eine einschneidende Umgestaltung des Bestehenden

und eine Reihe von Neubildungen, dafür fehlte mit nicht nur zunächst der Schlüssel, die Norm und die Form; sondern auch angesichts der oben angedeuteten Verschiedenheit der Begabungen, Bedürfnisse und Ver­

hältnisse der Glaube an die Möglichkeit. Und schließlich besteht doch alle Staatskunst besonders darin, Wege ausfindig zu machen und zu be­ schreiten, auf denen das Notwendige und Erwünschte des allgemeinen und einzelnen Besten möglich und wirklich werden könne. Ist nun aber das Zweifeln der Ausgangspunkt für alles Denken (dubito, ergo cogito), so ergab sich von selbst, daß ich zunächst noch einmal den Schmollerschen Ausspruch vom Bildungsmonopol als den tiefsten Grund aller sozialen Gefahren unter die Lupe nahm und mich fragte: ist wirklich die höhere Bildung als ein Monopol zu bezeichnen? als ein Monopol, welches geknüpft ist an materiellen Besitz, der sich vererbt; an eine besondere Art der Begabung mit Erkenntnis- und Willenskräften; an Anlagen der Sinnes- und geistigen Empfindungen und auch ei« gewisses Können und Vermögen körperlicher Organe? Das dürfte ja allerdings niemand leugnen wollen, daß materieller, ererbter Besitz, Begabung und Anlagen, ein durch die Beschaffenheit gewisser leiblicher Organe unterstütztes Vermögen die Wege zur Er­ reichung eines höheren Bildungsstandes erheblich zu ebnen vermag, jedenfalls aber der gröbsten Arbeit, des eigentlichen Bahnens durchaus oder wenigstens zum größeren Teile enthebt; hat doch die Erfahrung für dergleichen das scherzhafte Wort geprägt, daß „jemand vorsichtig

gewesen sei in der Wahl seiner Eltern", oder daß der Dichter geboren werde, oder daß Musen, Grazien oder Feen an jemandes Wiege oder

19 bei seiner Taufe zu Paten gestanden haben, und was solcher Wendungen noch mehr sind.

So scheint also die allgemeine Erfahrung zu bestätigen,

daß für den einzelnen ohne eigenes Zutun sich der Bildungsweg bald

als mehr, bald wieder als weniger gangbar, und damit das Bildungsziel sich bald als leichter, bald als schwerer erreichbar erweise. Wie sollten

also diese — durch die Verhältnisse oder die Natur geschaffenen — Unterschiede so beseitigt oder ausgeglichen werden können, daß der Ge­

danke eines für eine gewisse Minderheit geltenden Monopols für die große Mehrzahl der Nichtbevorzugten oder Minderbegabten seine Schärfe und seine Bitterkeit verlöre? Ganz gewiß wird im Einzelfalle hervorragendes Können und Kennen des einen von anderen — trotz alles Strebens doch erheblich — Zurückstehenden aufrichtig beneidet, viel­

leicht sogar verkleinert und gehaßt werden; es mag auch vorkommen,

daß ein hoffnungslos sich Abmühender gelegentlich in Verzweiflung gerät oder gar zu verzweifelten Entschlüssen sich gedrängt fühlt: es fehlt ja leider auch in unserer Zeit auf diesen im wesentlichen geistigen Ge bieten nicht an Persönlichkeiten mit hcrostratischen oder ThersitesNaturellen und auch nicht an solchen, die allen Bildungsnierkmalen mit bewußter Absicht sich entgegenstemmen, weil sie darin mehr Zustände der Schwäche als der Stärke sehen und lieber rohen als edleren Trieben huldigen und folgen. So mögen also, wenn die überwiegende Mehrzahl sich solcher Auffassung hingibt, sich Gefahren auch aus Bildungsgegen­

sätzen in Einzelfällen Herausstellen; indes für absehbare Zeit dürften die Besitz- und Machtunterschiede sehr viel stärkere Gegensätze bilden, sehr viel stärker zu Kampf oder Haß und sonstigen Feindseligkeiten anregen und herausfordern als die Bildungsgegensätze. Ja, man kann sich sogar auf geschichtliche Vorgänge berufen, welche dartun, daß Ge­ schlechter und Völker, welche man als Denker und Träumer, also als Bildungsträger hätte achten und hochstellen niüssen, viel eher der Nicht­ achtung oder wenigstens der Geringschätzung ausgesetzt waren, als solche, die mit brutaler Gewalt sich zur Geltung brachten und sehr viel mehr am Niederreißen als am Aufbauen sich beteiligten. Denn wenn auch

ideell Wissen als Macht anerkannt und das darauf gegründete Können auch materiell geschätzt und geehrt wird; so weit ist die große Menge

noch lange nicht, daß sie im Bewußtsein geringerer Bildung gegen die Bessergebildeten, denen also die Führung der Menge gebührt, und die solche auch oft in gewissem Sinne ausüben könnten, lediglich um dieser 2*

20 besseren Bildung willen die Heerfolge versagten und ihren eigenen

zum Teil blinden, zum Teil wilden Trieben und Instinkten nachgingen. Gelegentlich mögen die großen Herden den berufensten und gebildetsten

unter ihren Leitern nicht nur nicht folgen, sondern sie sogar über den Haufen rennen und so für sie schwere Gefahren bedeuten, weil sie lieber den Hauptschreiern, die ihren Gelüsten schmeicheln, nachfolgen; gelegent­ lich mag sogar das Streben nach unbedingter Gleichheit und Freiheit

aller, also eine gewisse Nivellierungssucht, das Aufkommen jeder Art von geistiger Führung zu unterdrücken und zu hintertreiben bestrebt sein — der einzelne, alle anderen mächtig Überragende mag gelegentlich dem Ostrazismus verfallen, ja von der irregeleiteten Menge der Kleineren verbrannt und gekreuzigt worden sein —. Alles das hat aber nicht

der Gegensatz der Bildungsgrade, sondern der Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht, Kraft und Schwächegefühl, Druck und Beharrungs­ vermögen, — im großen und ganzen also der Selbsterhaltungstrieb

der Schwächeren bewirkt, der es nicht über sich gewinnt, sich aufsaugen zu lassen, damit ein anderer an Lebensstile und Einfluß übermäßig erstarke.

Mag dem nun sein, wie ihm wolle; möge die Schmollersche Meinung in spätester Zeit nicht nur wahrscheinlich, sondern Wahrheit werden, —

das Streben, die Bildungsgegensätze je länger je mehr zu verringern, ist ein immer deutlicher zutage tretendes Zeichen unserer Zeit; doch scheint als letzter Grund hierfür weniger die Furcht vor drohender Gefahr, als der Gedanke maßgebend zu sein, wenigstens die Ergebnisse der viel­ hundertjährigen Bildungsbestrebungen unseres Volkes und — soweit möglich — auch anderer Kulturvölker — möglichst weiten Kreisen, min­ destens aber allen denjenigen einzelnen, die überhaupt soweit bildungs­ fähig sind, um sie einigermaßen zu erfassen, zugängig zu machen. Diesen Zwecken dient zunächst-ganz allgemein die gesetzlich festgelegte Schul­ pflicht, welche darauf ausgeht, gewissen Lebensalterstufen die Mög­ lichkeit zu sichern, diejenigen Bildungsgrundlagen zu gewinnen, welche die Voraussetzung für die Teilnahme an den Ergebnissen der haupt­ sächlichsten Errungenschaften des bisherigen Geisteslebens bilden. Der ungeheuere Umfang dieser Errungenschaften erklärt dann weiter, warum die betreffende gesetzliche Pflicht im wesentlichen auf die An­ eignung formalen Wissens und Könnens sich beschränkte und beschränken

mußte.

21 Dieser Aneignung im wesentlichen formalen Wissens und Könnens

entspricht es durchaus, wenn bei Feststellung der gröbsten Form des Wissens und Könnens Lesen und Schreiben das wichtigste Unterscheidungs­ merkmal ist, und die Zahl der Analphabeten z. B. bei den neueinge­ tretenen Soldaten zur Kennzeichnung des Bildungsstandpunkts der gesamten Bevölkerung dienen kann. Liegt auch die Unzulänglichkeit dieses Maßstabes, zumal bei den Vollsinnigen, durchaus auf der Hand,

und ist man auch eifrig bestrebt, dieses Merkmal durch viele andere zu ergänzen und zu erweitern, so ist es doch schon um deswillen von erheb­ lichster Wichtigkeit, weil es nur einer ganz geringen Minderzahl der

Glieder unserer Kulturvölker möglich sein dürfte, sich ohne beides in den Besitz der wichtigsten Ergebnisse menschlicher Erfahrung und Erkenntnis zu setzen oder auch nur den Weg zur Erlangung dieses Besitzes ausfindig zu machen. So läßt sich auch verstehen, weshalb auch die verschiedensten

Versuche gemacht werden, Nichtvollsinnigen und anderen körperlich oder geistig Gehemmten die für sie mögliche Art des Lesens und Schrei­ bens — natürlich auf eine für sie passende Art und in Formen, deren sie sich bedienen können — zu vermitteln — und ihnen so das Ergebnis der geistigen Errungenschaften der Gesamtheit doch bestmöglich zugängig zu machen, ohne durch die sich ergebenden großen Schwierigkeiten irgendwie abgeschreckt zu werden. Rühmenswert ist ganz gewiß die Errichtung größerer Büchereien für Blinde; das Halten von Borträgen für Taubstumme und das Vermitteln mündlicher Wiedergabe derselben durch die des Redens und Hörens unfähigen Hörer; ja geradezu bewunde­ rungswürdig erscheint es, daß die taubstumme und blinde Helen Keller

sogar Musik zu empfinden fertig gebracht hat, obwohl sie dazu nur des Tastsinns sich bedienen konnte. Das Streben ist also allgenrein vorhanden, Grundlagen zu finden fiir die Aneignung wenigstens desjenigen Wissens und Könnens, welches die Voraussetzung für die Erweiterung der Bildung ist und deshalb zur Mindemng der Bildungsgegensätze beiträgt. Würden diese Grundlagen fehlen, so wäre möglich, daß sich wiederholte, was schon oft vorgekommen

ist, wenn zum erster: Male Träger der Bildung und Kultur bei sogenannten Wilden einkehrten und bei letzteren durch ihr Können und Wissen Furcht urrd Mißtrauerr hervorriefen, aus denen nicht bloß ein Gegensatz,

sondern Kampf auf Leben und Tod sich entwickelte: der erste Ausgang mancher Entdeckungsreisen liefert genug Beispiele für solche Gegner-

22 schäft; und auch nicht wenige Missionen sind schließlich Blutzeugen dafür

geworden. Die Möglichkeit also gewisser Gefahren, die durch Bildungsgegensätze hervorgerufen werden können, soll nicht geleugnet werden.

Anders

dagegen dürfte es um ihre Wahrscheinlichkeit stehen, wofern nur auch die in ihrer Bildung Geförderteren nicht in denselben Fehler verfallen,

dem manche materiell Reiche unterliegen, die des Sammelns nicht müde,

des Verwertens aber nie willig und fähig werden können.

Daß aus

solchen Gegensätzen im Besitz sich schließlich Theorien wie „Eigentum

ist Diebstahl" und die daraus gezogenen Folgerungen herausbilden, kann man gut begreifen, besonders, wenn der große Besitz nicht als die Frucht eigener Arbeit erscheint. Anders liegt die Sache, sobald es sich um Bildungsbesitz handelt, betreffs dessen vor allem gilt, daß er ohne eigene Arbeit sich schlechter­ dings nicht erwerben läßt. Gewiß ist es richtig, daß Umstände das Erwerben fördern und hemmen können, und daß solche Umstände ebenso­ wohl im einzelnen liegen, wie auch durch Anlässe, die außerhalb des

einzelnen liegen, herbeigeführt werden können, ja daß gewisse Umstände, die man zu den inneren Bedingungen rechnen muß, ganz ohne des einzelnen Zutun und Willen einen Zwang ausüben, dem zu wider­ streben hoffnungsloses Bemühen sein dürfte: die Natur läßt sich nicht

mit Gewalt austreiben, ja nicht einmal vorübergehend unterdrücken. Welches solche Umstände sein können, angeborne Begabung sowohl

wie eine durch Familienzugehörigkeit gewissermaßen vererbte; eine Umgebung, welche auf die Entwicklung besonderes Wissens und Könnens unwillkürlich fördernd oder hemmend wirkt; persönlicher Einfluß einzelner Erziehenden; körperliche Eigenschaften, welche einer Betätigung eine

bestimmte Richtung anweisen oder in letzterer zu einer gewissen Ent­ sagung nötigen; eiserne Willenskraft, welche durch Fleiß — die Tugend des Genies — und nicht zu ermüdendes Streben alles Entgegenstehendt

überwindet; aber andererseits doch auch solche, die, durch eine große Leichtigkeit im Erfassen und Schaffen verführt, das sorgsame Durch­

arbeiten unterlassen und so weniger Vollkommenes zustande bringet als sie vermocht hätten. Alle diese verschiedenen Umstände tragen die Schuld an der seh: erheblichen Ungleichheit, des Bildungszustandes im einzelnen; mit dieser Ungleichheit hängt natürlich auch die Möglichkeit erheblicher Bildungs-

23 gegensätzc zusantmen.

Daß solche Gegensätze gelegentlich zu erbitterten

Kämpfen und damit auch zu gewissen Gefahren in der Bildungsent­ wicklung der Allgemeinheit führen können, erscheint unausbleiblich — und nicht bloß die Bilderstürmereien, die vandalischen Vernichtungen der Bildungsprodukte früherer Zeiten, die Kämpfe um die Glaubens­

und die Religionsfreiheit sind Beispiele der erbittertsten, auf die Ver­ nichtung des Gegners ausgehenden Kämpfe, welche oft Jahrhunderte hindurch sich fortsetzten und dadurch natürlich die Entwicklung regel­

mäßigen Fortschrittes verderblichst hinderten.

Sind aber beklagens­

werte Erscheinungen dieser Art auch in der Regel nur die Wirkungen fremder Einflüsse auf solche, die in ihrer Urteilsfähigkeit sich leicht ge­

fangen geben, also nicht im strengen Sinne durch Bildungsunterschiede — denn es gibt auch sehr gelehrte und materiell gebildete Meinungs­ fanatiker — hervorgerufen —, so lassen sich doch Gefahren nicht bestreiten, sobald die minder urteilsfähigen Massen in Bewegung gesetzt und zu einer Empörung gegen Bestehendes oder Neusichentwickelndes, Hergebrachtes oder Umzugestaltendes aufgereizt werden. Angesichts dessen erscheint ja in der Tat von der Allgemeinheit

oder dein diese repräsentierenden Staate nicht genug getan, wenn er nur dafür sorgt, daß die notwendigsten Unterlagen für die spätere Fort­ bildung dem einzelnen auf den Lebensweg mitgegeben und deren Verwertung seinem durch niemand kontrollierten Wollen uni) Streben freigestellt werden. Deshalb hat man schon seit geraumer Zeit darauf Bedacht genommen, das obenbezeichnete formale Können und Wissen noch durch andere wichtige Wissensstoffe zu erweitern und so die Pflicht­ schule für alle, die Volksschule, durch (Anfügung immer neuer Sern» und Ubungsgebiete ausgiebiger und fruchtbarer zu gestalten. Durch stete Bezugnahme auf die Bedürfnisse des Lebens in allerlei Gemein­ schaften, die Stellung des Menschen innerhalb der umgebenden Natur; das Verständnis und den Gebrauch der ihm eigenen Organe; die Stärkung und Erhaltung der in diesen Organen liegenden Kräfte;

endlich durch Aufklärung über die Stellung des einzelnen zu seinem Schöpfer und Erhalter und noch durch manches andere sind aus den ursprünglichen Lese- und Schreibschulen Lerngelegenheiten entstanden,

welche die wichtigsten Grundlagen der allgemeinen Bildung zu ver­ mitteln strebten, und damit den innersten Ring für eine Anzahl konzent­ rischer Kreise bilden, die alle auf denselben Gmndlagen bemhen, quält»

24 tativ dieselben Verhältnisse behandelten und sich nur quantitativ unter­

schieden: gemeinsam aber durchweg den Zweck verfolgen, ihre Zöglinge

bestmöglich zu erziehen für ihre demnächstige Behauptung iin Leben. Wenn es trotzdem keiner der verschiedenne Schularten gelingen konnte

und gelang, ihre Zöglinge ganz gleichmäßig, in derselben Zeit vorwärts zu bringen, vorausgesetzt daß nicht ein bloß äußerlicher Drill zur An­

wendung gelangte: so hing das eben so zusammen mit der unendlich verschiedenen seelischen und körperlichen Begabung, wie mit den eben­

falls unendlich verschiedenen Verhältnissen, unter denen die einzelnen bestehen und ihre Kräfte zur Geltung bringen müssen oder sonst ent­

wickeln können. So dürfte im allerbesten Falle als allgemeiner Bildungs­ maßstab nur etwa der Inhalt des innersten und engsten konzentrischen Kreises angesehen werden, wiewohl auch hier sofort festgestellt werden muß, daß selbst dieses enge Maß für außerordentlich viele junge

Menschen unerreichbar erscheint.

Wird nun der Versuch gemacht, um diesen engsten, den Zentral­ kreis herum weitere Kreise zu ziehen, so werden die zunächst folgenden

sich in Form und Inhalt dem Zcntralkreis noch anschließen können. Je weiter sie sich aber von ihm entfernen — und die eigentliche Schulzeit muß doch auch ihre Grenze haben — destomehr werden sie darauf ausgehen müssen, nur gewisse Seiten, wir wollen einmal sagen: Seg­

mente des Grundkreises weiter zu entwickeln und auszubauen.

Die

Wirkung dieses Ausbaues wird ja freilich bei der außerordentlichen Vielgestaltigkeit der modernen Lebensbedürfnisse zwar keine Gleichheit

der Bildungselemente zustande bringen können, aber doch eine An­

erkennung wenigstens ihrer Gleichwertigkeit.

Wo aber letztere in ge­

wissem Sinne zugestanden wird, da ist dem Auftreten von schweren

Gefahren durch große Bildungsgegensätze im wesentlichen vorgebeugt: wird nur jedem sein Recht, so ergibt es sich von selber, daß — wenn die Einheitlichkeit des Gmndkreises die Grundlage für alle Bildung

abgegeben hat — die späteren Verschiedenheiten sich nicht zu Gegen­ sätzen zuspitzen werden, die zu einem Kampfe auf Tod und Leben führen

können.

Man muß deshalb solchen Bestrebungen, welche sich gegen

Standesschulen und -Nassen aussprechen und die gleiche Gmndlage für alle Anfänger verlangen, volle Berechtigung zugestehen und darf

hoffen, durch dergleichen dem oft sehr früh erwachsenden Gegensatz —

nicht zwar in der Bildung, denn solcher kann ja noch nicht vorhanden

25 sein, aber in allerlei Äußerlichkeiten, Lebensformen, Anzug usw. —

etwas den Stachel zu nehmen und zugleich den Minderbcgünstigten innerhalb der Anfängerschule bessere Bildungsverhältnisse auszuwirken.

Entsprechende Verhältnisse in der Schweiz oder wenigstens in einigen

Kantonen derselben, welche alle Bildungsgelegenheiten allen, und zwar unentgeltlich zugängig machen, wirken in solcher Hinsicht sehr vorteilhaft.

So halte ich dafür, daß der gemeinsame Grundunterricht aller Kinder der Vorteile für alle so viele bringen könne, daß befürchtete kleine

Nachteile dagegen gar nicht in Betracht kämen*).

Voraussetzung ist

natürlich, daß seine Anordnung seiner grundlegenden Bedeutung wegen auch die bestmögliche werde: kleine Schülerzahl, vernünftige Festsetzung

des Lcktionswechsels und des Arbeitsplans, ausgiebige und doch nicht ermüdende, sondern anregende Handhabung des Unterrichts, Übung der Sinnes- und Körperorgane zur allmählichen selbständigen Be­ herrschung derselben, Gewöhnung an Selbsthülfe, Maß halten, Spar­

samkeit in bezug auf Kraft und Stoff, Fernhalten alles Ungesunden, Verzierten, Unwahrhaften unb bergt mehr. Würde die Legung des Grundes

für alles weitere Wissen und

Können auch etwas mehr Zeit erfordern, als dies in den sogenannten

Schnellpressen der Fall zu sein brauchte, so wäre auch das kein Fehler:

gut Ding, also auch sicheres Wissen und Können, will immer Weile haben. Tatsächlich geht auch nichts leichter verloren, als nur im Fluge Auf­ gerafftes.

Die Erfahrung bestätigt solches hundertfältig an höheren

Schulen, welche die langsam, aber sicher fundierte Unterlage der Elenrente

in den gemeinsamen Elementarschulen verschmähen oder wenigstens teilweise verschmähen. — Wichtiger aber noch für die Beseitigung der

Gefahr der Bildungsgegensätze wirkt der Umstand, daß einmal alle

Gleichaltrigen nebeneinander in Reih und Glied hatten stehen müssen; *) Ergibt sich wohl auch aus dem Zusammenhang, daß ich nur für den Gnmdunterricht solche Gemeinsamkeit für angebracht halte, so möchte ich doch nicht unausgesprochen lassen, daß die moderne Streitfrage der sogenannten „Einheitsschule", d. h. ein möglichst weites Hinausschieben der Gabelung der höheren Schulen, mich nicht zu ihren unbedingten Freunden zählt, obwohl ich andererseits doch auch nicht in ihr solche „Gefahren für unsere nationale Erziehung" erblicke, wie Professor Dr. Hugo Müller-Darmstadt in seinem so berannten Buche (Gießen, Verlag von Alfred Töpelmann, 1907). (Vergl. des­ gleichen einen Vortrag des Provinzialschulrats Dr. (Sauer in Münster i. SB-, gehalten im Wiener Gymnasialverein.)

26 dann daß der oft künstlich großgezogene Ehrgeiz der Extraschulen in

der allgemeinen Schule nicht so leicht eine unheilvolle Stätte selbst­

süchtiger Bekundung findet; und endlich daß in dieser allgemein zu­ gängigen Arena auch der nicht durch äußere Umstände von vorn Ge­ kennzeichnete sich zur Geltung zu bringen vermag, wofern er nur stark und treu wäre. Ist in dem Gesagten scheinbar mehr auf die Charakter- als auf die eigentliche Geistesanlage Ton und Wert gelegt, so hat das darin seinen Grund, daß der Fähigkeit, sich leicht auf allen geisttgen Gebieten

zurechtzufinden, sehr leicht als Kehrseite gegenübersteht die Neigung rasch wieder etwas Neues zu ergreifen und ihm das Interesse zuzuwenden, eine Neigung, welche schon manches große Talent vorzeitig um Früchte betrogen hat, weil sie oft genug eine Oberflächlichkeit großzieht, die zumal in unserer Zeit des allgemeinen Dilettierens viel zu weit ver­ breitet ist und das Zeitigen wirklich reifer Früchte hindert. Wenn dem­ nach, wie wiederholt vorgeschlagen worden ist, der Staat Mittel bereit­ stellen oder -halten soll, um besonders hervortretenden Talenten die

Möglichkeit zur Weiterbildung zu verschaffen und zu sichern, damit auch den führenden Kreisen unseres Volks immer frisches Blut zugeführt und das Entarten dieser führenden Gesellschaftsklassen, die sich auf ihre bisherigen Privilegien verlassen, tunlichst vermieden werde, so halte ich dafür, daß nicht minder, wie auf das Talent, so auf die Charakterent­ wicklung gesehen werde, denn ohne Festigkeit und Treue kanu auch ein starkes Talent nach und nach verlumpen, wie unzählige Beispiele dartun können. So erscheint also auch bei der Bahnung der Wege für große Talente Vorsicht geboten. In welcher Weise nun solche tunlichste Ausgleichung der Bildungs­ gegensätze sich vollziehen solle, nachdem eine möglichst gleiche Bildungsgrundlage für alle geschaffen sein wird, dafür läßt sich nicht überall ein gleiches Rezept aufstellen. Den neuerdings empfohlenen Grundsatz einer möglichst frühzeitigen Differenzierung halte ich um deswillen für nicht ganz vorteilhaft, weil das Tempo für die Entwicklung der In­ dividuen, bedingt durch allerlei äußere Umstände, Körperbeschaffenheit, Temperament, Gewohnheit, das bisherige Daseinsmilieu, auch ererbtes

Sehen, Wollen, Können, ein außerordentlich verschiedenes sein kann. Das Mittel also: ein Kind mit hervortretender Begabung sofort einer

gehobenen Lerngelegenheit kostenlos zuzuführen, erscheint deshalb als

27 ein stark gewagtes, denn das schnelle Zurechtfinden m einem dem Kinde bisher zusagenden Wissensbereich verbürgt das gleiche an anderer Stelle durchaus nicht.

Das alte Wort von Comenius: „omnia sponte fluant,

absit violentia rebus!“ ist überall zu beherzigen, und erscheinen deshalb alle jähen Übergänge von vornherein bedenklich. So erscheint mir vom

Standpunkt der Schulorganismen aus die Angliederung derselben an­ einander als die wichtigste und bedeutungsvollste Aufgabe.

Ich würde

mir dieselbe etwa derartig vorstellen: a) die allgemeine Volksschule als allgemeine Elementarschule, d. h. die Schule für die Aneignung

der Elemente, durch welche der Zugang zum Wissen über das Ver­ hältnis des Menschen zu sich selbst und den anderen Menschen, zur Natur

und zu Gott, eröffnet wird. Während nun Comenius auf diese Schule die lateinische Schule aufbaute, eine Schule, die durch Aufnahme einer anderen Sprache

als der Muttersprache und im Zusammenhang damit durch Erkundung ferner abliegender Objekte den Gesichtskreis erweiterte, hat unsere Zeit

sich genötigt gesehen, wegen der außerordentlichen Vermehrung des

zugängig gewordenen Stoffes eine Teilung der Stoffgebiete zu be­ wirken, eine Bewegung, welche voraussichtlich noch eine Zeitlang an­ halten wird, da das frühere Umfassen des Gesamtwissens (ber Universitas

literarum) seit langem auch der universellsten Geisteskraft unmöglich geworden ist. Wie auf den rein technischen Gebieten eine Teilung der Arbeit Platz gegriffen hat, so daß der Hauptarbeit: der Zusammen­ fügung eines größeren technischen Werkes, die Neben- und HülfsarbeU besonderer Personen oder Maschinen vorangegangen sein muß; so be­ schränken sich auch die der allgemeinen Schule folgenden weiteren

Systeme auf die Bewältigung gewisser Teilgebiete, die im Zusammen­

hänge stehen mit Anlagen, besonderen Neigungen oder den — für die Verwertung im späteren Berufe erwünschten — Kenntnissen und Fertig­ keiten.

Demnach gliedern sich b) die weiterführenden Schulen in ver­

schiedenster Weise, — und hängt das durch ihre Vermittelung Erreichbare

ebenso von der Dauer und dem Umfang, wie auch von der Eindringlichkeit ihrer Unterrichtsweise ab; naturgemäß aber auch von der AuffassungsAnpassungs- und Gestaltungsbefähigung des Zöglings.

Daß die bisher versuchte Teilung der Schularbeit im allgemeinen sämtlichen Bedürfnissen des vielgestaltigen Lebens ausreichend habe entsprechen können, wird nicht leicht aufgestellt und bewiesen werden

28 können.

Denn gerade die Vielgestaltigkeit bedingt eine solche Vielheit

der besonderer! Aufgaben und Lösungen, der Lehrstoffe, Lehrnrittel,

Lehrwege, daß es schlechterdings unmöglich wäre, über die sogenannten Elenrente des Wisserrs und Könnens hinaus für alle Interessenten gemeirrsame Anstalten zu schaffen, die jeder Bildungsform als erste Grundlage, als erster Sattel, zum Empor- urrd Vorwärtskomnrerr

dienen könnten. Man hat deshalb bald genug lieben sogenannten all­ gemeinen, auch noch besondere Schulen, Fachschulen zu errichten für nötig erachtet und beide Hauptgattungen von Schulen dann wieder

je nach dem Umfange und der zur Erreichung des Lehrplans erforder­ lichen Zeitdauer in Gruppen geschieden, die den verschiedenen Haupt­ bedürfnissen sowohl wie auch dem erstrebten Grade des Wissens und

Könnens Rechnung zu tragen suchten. Freilich unterschieden sich die allgemeinen Bildungs- oder auch Erziehungsschulen dadurch von den Fachschulen, daß sie — neben gewissen Sonderzwecken auch der ^All­ gemeinbildung zu dienen, d. h. es auf eine Erweiterung der allgemeinen

Grundlagen, die die Elementar- oder Volksschule gewährt hatte, abzu­ sehen hatten, während die Fachschulen lediglich Sonderzwecke verfolgten und die früher erworbenen Grundlagen nur insoweit noch ausbauten, als solches den Sonderzwecken gleichfalls diente. Daß wiederum auch

bei den allgemein bildenden Schulen den einzelnen Fächern und Fach­ gruppen unterschiedliche Wertung beigemessen und je nachdem bald

den ethischen, historischen, sprachlichen, bald wieder den realistischen, mathematischen, ästhetischen Stoffen größere Bedeutung beigelegt und demnach auch ein weiterer Raum/ vielseitigere Übung und ausgiebigere Pflege gewidmet wurde, hing bald mit der Gestaltung der örtlichen Verhältnisse, der in der Einwohnerschaft sich besonders geltendmachenden

Beschäftigungs- und Erwerbsrichtung, bald wiederum mit einem ge­ wissen Herkommen, vorhandenen Stiftungen und auch gewissen Be­ rechtigungen zusammen; ändert sich freilich auch wieder mit den sich

verändernden Verhältnissen. Jedenfalls aber hat man recht getan, indem man von maßgebender Stelle aus grundsätzlich die Gleichwertigkeit

derjenigen Erziehungs- und auch Fachschulen bekundete, die unter an­

nähernd gleichen äußeren und inneren Bedingungen arbeiten. Denn jedenfalls ist damit die Gefahr eines Vernichtungskampfes der Bildungs­ gegensätze vermindert, zumal wenn dem Übergange aus der niederen

in die höhere Stufe in gewissem Sinne der Weg geebnet, das Tor ge-

29 öffnet ist: wer selbst den Marfchallstab in seinem Tornister trägt, wäre

unvernünftig, wenn er sich selbst den Weg zum Emporkommen verlegen wollte. So kann also festgestellt werden, daß die Richtung unserer Zeit wirklich dahin geht, die Bildungsgegensätze zu verringern; und eine

erhebliche Anzahl von Einrichtungen neueren Datums, — ich will mir die Volksvorstellungen, Volksbüchereien, Volkshochschulen, die populär­ wissenschaftlichen Vorträge für alle rnöglichen Wissensgebiete, sowie die

verschiedensten Arten der Fortbildungsgelegenheiten nennen, — geht

darauf aus, allerlei Forschungsergebnisse und Wissensgebiete den weitesten

Kreisen zugängig zu machen und damit die früher gähnende tiefe Kluft zwischen Ungebildeten und Gebildeten tunlichst zu überbrücken. Das Erstreben unbedingter Gleichheit in jeder Art von Besitz ist — weil

schlechterdings unerreichbar und unerfüllbar — ein hoffnungsloser Wahn, der nur von durch Eigenliebe Verblendeten oder solchen, denen die Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse fehlt, gehegt werden kann. Zugegeben kann aber werden, daß eine erhebliche Anzahl solcher,

die nicht zu tief unter dem allgemeinen Durchschnitt der normalen Begabung stehen, nicht nur das Ziel der allgemeinen (Elementar- oder Volks-) Schule zu erreichen vermögen, wofern sie nur dazu den Willen

hätten; sondern darüber hinaus in gewissen begrenzten Gebieten es zu einem Wissen und Können bringen können, welches ihre Arbeit sowohl im eigenen, wie im allgemeinen Interesse wertvoll erscheinen läßt und

sie so über dasjenige erhebt, was von ganz unselbständigen, des Antriebs und stetiger Leitung und Beaufsichtigung bedürftigen Geistern im wesentlichen mechanisch vollbracht wird. Daß aber alle diese, welche auf der Bildungsleiter eine Anzahl von Sprossen durch eigene An­ strengung erklommen haben und so zur Einsicht über ihre eigene Leistungs­ fähigkeit und die darauf verwandten Mühen gelangt sind, nicht ein

feindliches Anstürmen und ein Bekämpfen auf Leben und Tod der zu höheren und höchsten Stufen Emporgeklommenen für gut und sie selbst fördernd erachten werden, ist ganz sicher: Werdende und Selbst­

strebende werden, wie der Dichter sagt, immer dankbar sein und nicht

die Staffeln zerstören wollen, auf denen sie selbst hoffen dürfen höher zu steigen.

Für sie bestehen also nicht Bildungsgegensätze, sondern

höchstens Bildungsideale, denen sie nicht feindlich gegenüber stehen können, die sie vielmehr bewundern und lieben. — Die Pflicht nun

30 der Staatskunst, dafür zu sorgen, daß ausgiebige Gelegenheiten für alle möglichen Bildungs- und Fortbildungsgebiete sich den Strebenden eröffnen und den Fähigen zugängig werden, damit sie später der All­ gemeinheit zu dienen in der Lage und bereit seien, bedarf keiner Be­ gründung: was der Allgemeinheit nützen soll, muß von der Allgemeinheit auch mit Opfern gefördert werden, und höchst kurzsichtig wäre es, solche,

denen der Besitz zureichender Mittel versagt wäre, von der Förderung ihrer Leistungsfähigkeit auszuschließen; denn gerade dies Versagen der Förderung müßte einen Kampf entfachen, der die von Schmoller voraus

gesehene Gefahr zu einer viel verderblicheren gestalten könnte als die­ jenige um Macht und materiellen Besitz. Wie ließe sich denn aber solche Förderung möglichst vielen zugängig machen, ohne daß durch deren Einrichtung unerschwingliche Kosten erwüchsen, ohne daß daraus sich erhebliche Enttäuschungen ergäben, ohne daß junge Menschen in eine Laufbahn hineingezwungen würden, die schließlich wegen allerlei Umstände doch für sie nicht paßte und demnach zur inneren Befriedigung sie doch nicht führte? Denn daß mit beni Zu­ gängigmachen z. B. der höheren Schulen manchen Wohlbegabten kein wirklicher Dienst geleistet wird, hat die Erfahrung schon vielfältig be­ wiesen. Ich will hier auf eine Schwarzwälder Dorfgeschichte von Berthold Auerbach Hinweisen, und zwar auf „Ivo der Hairle", der von einem wohlmeinenden Geistlichen für den geistlichen Stand bestimmt und

darin kräftigst gefördert, schließlich, d. h. nach mancherlei Irrwegen und schweren Konflikten mit seinen Angehörigen den Rückweg in die Sphäre fand, die für ihn besser paßte, d. h, diejenige, aus welcher er hervor­ gegangen war. Und ähnlich ist es unzähligen anderen gegangen, die, scheinbar zu etwas Höherem geboren, füglich zu dem sogenannten

„gebildeten Proletariat" gerechnet wurden und als Unbefriedigte, als Pessimisten ein recht wenig fruchtbringendes Dasein beschlossen, sich und anderen zum Schaden und zur Last gereichend. „Nur eins beglückt zu jeder Frist: schaffen, wofür man geschaffen ist", sagt ein alter Spruch. Die Voraussetzung dafür aber bildet, daß man selbst am Finden des rechten Weges und am Gangbarmachen desselben mitgearbeitet hat. Daß hierbei frentbe Förderung und Hülfe nicht ausgeschlossen zu sein brauche, versteht sich ganz von selbst; die Hauptsache ist aber, daß man selbst zu erkennen strebe, was zu unserem Frieden dienen kann. Diese Erkenntnis stellt sich aber nicht plötzlich ein, sondern wird erst

31 nach und nach erworben, nicht mit gewaltigen Sprüngen, deren vielleicht

hier und da einmal ein Wunderkind, ein Genie, nicht aber jeder scheinbar normal oder selbst hervorragend Begabte fähig sein dürfte. So müßten also wirkliche Übergänge, wirkliche Brücken geschaffen werden, die bei angemessener Fortbildungsfähigkeit auch für solche

überwindbar wären, denen nicht sofort Siebenmeilenstiefel angeboren wären. Und zu solchen Übergängen und Brücken rechne ich Bildungs­ gelegenheiten, die sich unmittelbar auf die allgemeine Grundlage, die

allgemeine Schule, welche selbstredend gut und rechtzeitig absolviert

sein muß, aufbauen lassen. Ob das sogenannte Mittelschulen seien, deren es — wie ich vor mehr als 30 Jahren in einer kleinen Schrift über „die Seminarvorbildung" für jeden Kreis, d. h. jeden Bezirk, der eine

mäßige Anzahl von Gemeinden zu umfassen hätte, mindestens eine forderte — überall ausreichend geben müßte, und zwar in der Weise, daß der Bezirk die Kosten dafür aufzubringen und natürlich auch die Zulassung zu denselben zu beschließen hätte, oder ob es sogenannte Realschulen wären, welche mindestens die Berechtigung zum einjährigen Militärdienst gewährten, oder andere Schulen, die nicht lediglich für eine Gelehrtenlaufbahn sorgten, das mag nach Lage der besonderen Ver­ hältnisse erwogen werden — denn einer absoluten Gleichförmigkeit

kann ich nicht das Wort reden; soviel aber müßte durch diese Kreis- oder Bezirksschule vermittelt werden, daß ebensowohl das Vorwärtskommen

in den Realien und in den ethischen Fächern, wie auch in einer oder zwei Fremdsprachen ermöglicht würde. Träte solches ein, dann wäre für den 15- oder 16 jährigen Zögling die Möglichkeit der Einsicht ge­

schaffen, zu erkennen, was seiner Neigung und Begabung und seinen äußeren Verhältnissen auch wirklich entspräche.

Und was er selbst in

voller Tragweite noch nicht zu übersehen vermöchte, darüber müßte und könnte ihm seitens des Lehrkörpers Auskunft und Rat erteilt werden.

Für das weitere hätte dann der Staat zu sorgen, der ja leider in dieser Hinsicht den größeren Gemeinden viel zu viel überläßt und viel zu viel aufbürdet, um dann aus der von dieser gepflegten Saat sich den Nach­ wuchs für seine Beamtenschaft herauszusuchen, eine Praxis, die für ihn zwar bequem und billig ist, aber doch nicht ganz der Gerechtigkeit entspricht, wenn auch die Ortseinwohner den direktesten Nutzen davon haben mögen. Eins aber müßte seitens des Staats unter allen Umständen

geschehen (selbst wenn er den Grundsatz verträte, daß die Gemeinde

32 für die Zuschüsse, die sie für die höhere Bildung ihrer Einwohnerschaft

aufzubringen hätte, selbst aufkommen müsse), und zwar daß er für die Auswärtigen, die dort Unterkunft und Unterricht erhielten, jedenfalls solche Zuschüsse leistete, daß die Patronatsgemeinde wenigstens einigen Ersatz für ihre Mehrausgaben erführe. Gleichgültig wäre die Form, in welcher derartiges geschähe; ob durch Gründung von Freistellen für

Schüler, oder in irgendeiner anderen Art, hätte keine Bedeutung. Jedenfalls aber müßte verhütet werden, daß die fast unerschwinglichen Lasten der Schulunterhaltung die Gemeinden dazu brächten, die Er­ mäßigung des Schulgeldes grundsätzlich allen Auswärtigen zu versagen;

denn dies gerade könnte ja die Gefahren heraufbeschwören, die nach Schmoller aus den Bildungsgegensätzen befürchtet werden können. Ist auf die hier vorgeschlagene Weise dafür das Nötige geschehen, daß wenigstens die Normalbegabten höheren Grades in der Richtung,

welche die Entwickelung ihrer Bildung genommen hat, verwandten Zielen zustreben wie die hervorragender Beanlagten, und daß ihnen somit nicht von vornherein eine unüberwindliche Schranke jedes Weiter­ streben hindert; so wird jeder selbst ganz ernsthafte Wettbewerb kaum

die Form eines Kampfes auf Leben und Tod annehmen können, ja, gegebenenfalls eher eine gegenseitig fördernde als hemmende Wirkung ausüben, insofern die gleiche Richtung bahnend, ebnend, ausgleichend

tvirken kann. — Ganz anders aber liegt die Sache gegenüber solchen, die unter dem Einflüsse körperlicher, seelischer, geistiger Mängel auf die Mit­ benutzung solcher Bildungswege völlig oder teilweise Verzicht leisten müssen, die den Normalbegabten im wesentlichen unbeschränkt zu Gebote stehen. Für sie müssen andere Wege gebahnt und versucht werden, da ja das Fehlen oder erhebliche Versagen der Organe, welche für die Aufnahme und Erzeugung von Vorstellungen von wesentlichem Belang sind, zur Ausbildung gewisser Ersatzorgane nötigt, die nicht ohne weiteres

wirklichen Ersatz bieten können. Bekannt ist ja seit langem, daß Nicht­ vollsinnige angeleitet werden, mit Hülfe der vorhandenen und wirklich

funktionierenden anderen Sinne wenigstens Teilvorstellungen (b. h. Eindrücke gewisser Merkmale der Gesamtvorstellung) sich zu verschaffen; ja in einzelnen Fällen sogar für die Funktionen zweier den Dienst ver­

sagender Organe sich andere Organe dienstbar zu machen. Ebmso bekannt ist, daß solches einzelnen unter ihnen sogar in ganz aus-

33 gezeichneter Weise gelungen ist, und einzelne unter ihnen durch ihr Ab­

gezogenwerden von äußeren Eindrücken innerer Empfindungen in einer Weise mächtig wurden, deren viele Bollsinnige nicht hatten teilhaft werden können.

Bei ihnen hatte eben das innere geistige Leben ein

Können, Wissen und Empfinden erzeugt, welches sie vielen Bollsinnigen in dem Grade ihrer Bildung ganz gleichwertig an die Seite stellte.

Hatte ihnen freilich auch von außen her zunächst manche Hülfe geleistet werden müssen, und mag ihnen auch später ihre Beschränkung manchmal fühlbar geworden sein; so hatten sie sich doch nach und nach in ihrer

Lage zurechtgefunden und vermochten, ohne Verbitterung und Haß gegen Begünstigtere, sich doch schließlich in der Welt zu behaupten. — Was hier von den Nichtvollsinnigen festgestellt ist, kann nach manchen Richtungen auch — zumal in neuerer Zeit — betreffs solcher mit schweren körperlichen Gebrechen Behafteten, unheilbar Kranker, Krüppel usw.

behauptet werden. Auch sie können gewisser Pflege von außen her zunächst nicht entbehren; wenn aber trotz ihrer körperlichen Schwäche

ihr Geist willig und lebendig bleibt, so können sie auch noch der Allge­ meinheit brauchbare Dienste leisten und werden nicht unter beni Scheine unfruchbarer Drohnen zu leiden haben. Vielleicht die schwerste der der Allgemeinheit gestellten Aufgaben steht ihr seitens derjenigen bevor, bei denen neben unzureichendem körperlichem Vermögen noch erhebliche geistige und wohl auch sittliche Schwäche vorhanden ist, ohne daß beides ganz augenfällig und unbe­ streitbar in die Erscheinung träte. Weshalb hier besondere Schwierig­ keiten sich ergeben — ob infolge des Zusammentreffens körperlicher und geistiger Schwächen und des gleichwohl mangelnden Bewußtseins davon, oder weil der eine Teil dein anderen den Helferdienst versagt — braucht hier nicht erörtert zu werden, da die Gelegenheit dazu sich später ergeben wird. Tatsache ist aber, daß die geistigen Schwächezustände fast

regelmäßig in solchen körperlicher Art eine Unterlage haben, die bald als Ursache, bald als Folgeerscheinung auftritt, weshalb auch neuere Expe-

rimentalpsychologen den Zusammenhang beider zu erforschen streben und aus gewissen negativen Ergebnissen ost genug Rückschlüsse auf den Urzustand zu ziehen suchen. Sind diese Schlüsse vielleicht auch manchmal gewagte, weil die Beschaffung lückenlosen Beweismaterials kaum möglich ist, so bestätigt doch die Erfahrung vieler Erzieher die stete Wechselwirkung Leibes und der Seele, ohne daß sich überall genau der Boodstetn, Erziehungsarbeit.

3

34 Sitz des Krankheitserregers erkennen ließe.

Soll also überhaupt die

Heilung und Pflege in die Hand genommen werden, so muß möglichst genau festgestellt werden, welches Manko das primäre, welches das sekundäre, und inwieweit vielleicht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen beiden nachzuweiseu ist. Auf Grund der bezüglichen Feststel­

lungen dürfte dann der Versuch gemacht werden — und zwar in einer

Weise, welche aus den Erfahrungen der Anstalten für Nichtvollfinnige oder sonst geistig oder körperlich Gehemmte Nutzen zu ziehen sucht, aber auch selbstredend sich der Verwertung der methodischen und Erkeuntnisfortschritte der Pädagogen und Psychologen nicht entzieht,

gegebenenfalls auch aus der Praxis der Pflegestätten für Idioten (b. h. der fast bildungsunfähigen und deshalb steter Aufsicht bedürftigen) bald dies, bald jenes lernt und aufnimmt — bestangängig dem einzelnen zu helfen, da jedenfalls das Zusammenstellen zu größeren Abteilungen und Gruppen größere Schwierigkeiten bieten dürfte als in Schulen

für einigermaßen, wenn auch nur mäßig begabte.

Ob es solche Schwie­

rigkeiten komplizierterer Art waren; ob wegen des geringeren Hervor­

tretens gewisser Schwächen und Mängel eine—von Eltern und Lehrenden gehegte — Überschätzung der Leistungsfähigkeit oder wegen des Fehlens an sichtbaren Erfolgen eine Unterschätzung stattgefunden habe; ob man

wegen der Ergebnislosigkeit gewisser Versuche die Hierhergehörigen schlechtweg zu den Idioten oder wenigstens zu deu angehenden Idioten gerechnet hatte, mag hier unentschieden bleiben. Sicher ist, daß über manchen erst recht spät sich entwickelnden, auf gewissen Gebieten viel­ leicht später sehr leistungsfähigen jungen Menschen zu früh der Stab gebrochen worden ist; daß ernsthafte Heil- und Erziehungsversuche

zunächst nur vereinzelt unternommen wurden,

und

an besondere

Bildungsgelegenheiten für ganze Gruppen erst zu einer Zeit gedacht und geschritten wurde, und auch da zunächst nur vereinzelt, als aus

humanitären, sozialpolitischen und endlich auch aus nationalökonomischen Gründen die Fürsorge für sogenannte Schwachbegabte unabweisbar erschien. Möchte nun auch von diesen Stiefkindern der Gesellschaft, da sie doch nicht so zahlreich sind, um eine wirkliche Gefahr für die Gesamtheit zu bedeuten, infolge von Bildungsgegensätzen ein erbitterter Kampf nicht zu befürchten sein; so ist es doch gar nicht so selten vorge­

kommen, daß von Geistig-Niedrigstehenden, die oft genug auch s i t t -

35 t i ch verwahrlosen, schwerstes Unheil über ihre Nebenmenschen herbei­

geführt wurde, bis man, da sie strafrechtlich unverfolgbar waren, sie wenigstens unschädlich zu machen sich gedrungen fühlte.

Und das ist

doch jedenfalls ein sehr viel zweifelhafteres Mittel als der recht­

zeitige Versuch, alledem vorzubeugen und sie selbst, auch zum Besten der Allgemeinheit, nach Möglichkeit zu retten. Das erste, was in dieser Hinsicht zu geschehen hätte, wäre, bei ihnen das Gefühl, daß sie Stief­

kinder der Gesellschaft seien, nicht erst aufkommen zu lassen; demnach im wesentlichen verwandte Ziele, für sie aber unter tunlichster Verstärkung der Erziehungsmittel zu verfolgen; Stärkung der Schaffensfreude und Hebung des Selbstgefühls; Erweckung der Überzeugung, daß auch ihre

Arbeit dem Allgemeinwohl dienen und ihres Lohnes wert sein werde,

bei ihnen eifrigst zu fördern — kurz und gut: alles zu tun, was dazu beitragen kann, eine Vergleichung des eigenen Könnens mit demjenigen anderer in günstiges Licht zu rücken und so eine bescheidene Zufriedenheit zu erzeugen, welche sie ebenso zur gewissenhaften Verwendung der vor­ handenen Kraft, wie auch zur willigen Einordnung in die Gesetze der Allgemeinheit erziehen wird. Dann ist jedenfalls auch durch sie nicht eine Gefährdung auf Gmnd der Bildungsgegensätze zu befürchten. Es erweist sich demnach auch hier als eine mit größter Umsicht und aller Kraft zu erstrebende Hauptaufgabe unserer Kultur, der Menschheit int allgemeinen und im besonderen die richtigen Schulen zu geben, d. h. solche Schulen, die den Zögling beglücken, weil sie ihm diejenige Vor­ bildung verschaffen, die seiner Schaffensfähigkeit wirklich entspricht.

III. Die humanitäre Seite der Hilfsschulfrage tritt ja in ihrer Bedeutung für die Allgemeinheit gegen die volkswirt­ schaftliche und die sozialpolitische Seite stark zurück; indes gilt betreffs ihrer, daß „so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit" (1. Kor. 12,

26).

Es dürfte deshalb immer als besonderes Zeichen geistiger und

Herzensroheit gelten, wenn irgendeinem Mitmenschen, dem unver­ schuldet die Merkmale körperlicher oder geistiger Mängel und Krankheiten 3*

36 anhaften, nicht nur Beistand, Teilnahme, Trost versagt, sondern wo­ möglich Geringschätzung, Spott, Hohn entgegengebracht wird. So

erscheint es als Zeichen eines ganz richtigen Gefühls, wenn selbst wilde Volksstämme derartig Gekennzeichneten mit Zurückhaltung, Schonung, ja sogar mit einer gewissen Ehrerbietung begegnen, und wenn unsere

Kinder instinktiv, oft ungebeten, ihnen Hilfe leisten und ihnen so zu er­ setzen streben, was ihnen etwa fehlt. Ja, wenn solche, die selbst nicht viel haben, bei einer Begegnung unaufgefordert in die Tasche greife,: und der Darbringung des Scherfleins der Witwe zu folgen bereit sind,

so bekunden sie damit, daß ihnen das Gemeinschaftsgefühl selbst im Kampf ums Dasein noch nicht abhanden gekommen sei und daß sie wohl helfen möchten, wenn sie helfen können. Aber freilich mit solchen Bekundungen richtigen Empfindens seitens

Einzelner wird zunächst zwar weder allen Leidenden, noch der Gesell­ schaft selbst ausreichend gedient und auch noch nicht wirklich geholfen. Indes schon der Versuch der Gewährung von Hilfe stellt etwas Vorbildliches dar und ist sowohl für die Leidenden, wie für die größere Gemeinschaft, der jene angehören, von großem ethischem Wert. Denn die ersteren, deren Mehrzahl die ihnen auferlegte geistige Passi­

vität schließlich mit Gleichgültigkeit als etwas Unabwendbares erträgt

und sich des Ankämpfens gegen das über sie Verhängte völlig ent­ wöhnt hat, erfahren dadurch einen Antrieb, solchen Heil- und Besserungsversuchen seelisches Entgegenkommen zu zeigen, das erste Zeichen neu erwachenden und emporstrebenden Selbstgefühls.

Die

größere Gemeinschaft aber kann sich der empfangenen Anregung, solche Versuche auch im öffentlichen Interesse tatkräftig zu unterstützen, nicht mehr entziehen, selbst wenn sie sich zuerst scheuen sollte, die volle

Verantwortung für diese selbst zu übernehmen; denn was der Einzelne oder eine kleinere Gemeinschaft ohne Einbuße an Ansehen wagen kann, einen Versuch, der Löbliches erstrebt, selbst wenn er nicht aus

den ersten Wurf gelingt, gewinnt leicht einen fatalen Beigeschmack, wenn er von einer großen Gemeinschaft gewagt wird, weil deren Maßnahmen generelle Bedeutung haben müssen. Deshalb mag sich die letztere immer zuerst auf Gewährung von Spielraum und Wohl­

wollen beschränken; gelingen die Versuche, dann können und werden ihre Methoden und Formen allgemeiner zur Anwendung gebracht

werden.

37 Alle humanitären Einrichtungen der Welt dürften wohl gleichen Entwickelungsgang genommen haben; wer der erste sie Auwendende war, oder ob das Bedürfnis viele Köpfe und Herzen gleichzeitig in Be­ wegung setzte, kommt weniger in Betracht, wenn nur schließlich der Ausbau des Gedankens sich immer mehr vervollkommnet. In der Natur des Lehrens und des Heilens liegt aber weiter begründet, daß

die Erfahrung sich zunächst an Einzelfällen bildet, weil die große Mannig­

faltigkeit der Naturelle ein vorzeitiges Generalisieren widerrät; bei

einem Lehren, das zugleich ein Heilen werden soll — und die Aufgabe der Heilpädagogik ist ja eine solche — ist deshalb Individualisieren erste Bedingung. So war alle Behandlung der Geistig- und der LeiblichGehemmten zunächst auf den Einzelweg gewiesen — und die Geschichte aller hierher zu rechnenden Veranstaltungen geht von solchem Einzel­

verfahren aus. So erscheint es denn auch erklärlich, daß die großen Gemeinschaften, selbst nachdem sie die allgemeine Schulpflicht zum Gesetz erhoben und damit jedem Gliede der Gesamtheit die allgemeine Schule geöffnet hatten, die immerhin möglichen und tatsächlichen Ausnahmen ganz außer Betracht ließen und solches zum Teil auch noch jetzt tun, wiewohl die Gesetz­ geber doch darüber nicht in Zweifel sein konnten, daß die Fördemng auch dieser Ausnahmen nur die Konsequenz des Gesetzes und des auch den Ausnahmen damit zugestandenen Rechtes auf Bildung sei. Ob die Schwierigkeit der Aufgabe, die verhältnismäßig geringe Zahl der scheinbar Nicht-Normalen, die Unterschätzung des Leistungsausfalles für die Mgemeinheit oder irgendein anderer Umstand für die Unter­ lassung besonderer Fürsorge zunächst maßgebend und bestimmend ge­ wesen war, kann unerörtert bleiben. Vielleicht haben alle erwähnten Umstände zusammengewirlt — bis schließlich das in den verschiedenen Versuchen der Einzelhilfe zutage tretende Vorbild die Möglich­ keit eines Erfolges, einer Förderung vor die Augen führte. Daß Mittel und Wege, nächste und fernere Ziele, unmittelbare oder

spätere Folgen sofort klar ins Bewußtsein hätten treten können, erschien

ausgeschlossen; aber die Bedeutsamkeit des Problems leuchtete den Nächstinteressierten, den Eltern und den Lehrenden ein; ebenso daß die allgemeine Schulpraxis eine Art Ausgangspunkt bilden müsse, um die bisher Ausgeschlossenen nach und nach in die Reihe der Normalen einstellen, sie also auch als Glieder der Allgemeinheit an deren Wohl

38 und Wehe teilnehmen lassen zu können, selbst wenn sie nicht ganz das zu leisten imstande wären, womit man sich als Mindestmaß für die

Norinalen zufrieden gab. Die unendlich vielen Stufen, auf denen die einzelnen unter den letzteren hatten stehen bleibe« müssen oder können, ließen ein gewisses Heruntergchen noch unter diese immerhin noch als erträglich erscheinen, und so sah man über Mängel in der einen oder anderen Richtung ab und gab sich zufrieden, wenn in anderen we­ nigstens etwas fertig gebracht wurde. Dies zu bewirken, wich man im einzelnen von der allgemeinen Schulpraxis ab, und so führten sich

neue Mittel, Wege und auch Ziele ein.

Man hatte so doch eine Art

Rettung an schon Verlorengegebenen vollzogen, suchte diese zu er­ mutigen und immer weiter anzuspornen, trug ihren Neigungen und der Richtung ihres Könnens tunlichst Rechnung und gewann so auch

die Schon-Aufgegebenen zu tätigen Mitarbeitern an den Aufgaben der großen Menschheitsfamilie. — So galt auch für sie — trotz ihrer Beschränkung im Können — der Spruch: „Nur eins beglückt zu jeder Frist — Schaffen, wofür man geschaffen ist." — Zu solcher Lösung aber zu verhelfen, wollen auch die Hilfsschulen beitragen; für die an ihnen

wirkenden Kräfte ist dieser humanitäre Zweck die Hauptsache.

B. Was ist zur Erreichung der angegebenen Zwecke

bisher geschehen? IV. Wae für Anstalten haben stch im Laufe der Zeit

entwickelt? Daß das Stehen in einer größeren Gemeinschaft, wenn man an den von ihr gebotenen Vorteilen und Rechten teilnehmcn will, auch die Wahrung eines Zusammenhangs mit dieser Gemeinschaft bedingt, versteht sich von selbst. „Willst du, daß wir mit hinein in das Haus dich bauen, Laß es dir gefallen, Stein, daß wir dich behauen", sagt ein alter Spruch. Gehen wir nun darauf aus, auch Leiblich- oder GeistigGehemmte zu wirklichen Gliedern unserer Volksgemeinschaft zu machen, so müssen wir auch darauf Bedacht nehmen, daß sie sich nicht zu wesentlich von den anderen Gliedern dieser Gemeinschaft unterscheiden, sondern wenigstens gewisser Haupterrungenschaften, gewisser geistiger tmb sitt­ licher Ideale so weit teilhaftig werden, so weit eben die geistige und die

sittliche Kraft es ihnen ermöglicht. Was für uns Deutsche in dieser Hinsicht Richtschnur war und deshalb für unsere Erziehungsschulen die Grundlage ihrer Arbeit bildete, das darf ja natürlich auch unseren Sonder­ anstalten nicht ganz fehlen: es wird nur eben gesucht werden müssen, es ihren Zöglingen auch möglichst mundgerecht zu machen, eine Not­ wendigkeit, welcher auch die allgemeinen Schulen durchaus nicht völlig enthoben sind, da sie, selbst bei Aufstellung eines Mindestmaßes des zu Leisteuden, doch nicht verhüten können, daß z. B. trotz der achtjährigen Schulpflicht, trotz bestmöglicher Gestaltung der Schulverhältnisse und

sorgfältigster Aufsicht unter den diensttauglichen Soldaten immer noch ein gewisser Prozentsatz von Analphabeten sich findet, also solcher, die auf einer Bildungsstufe stehen geblieben sind, die noch nicht einmal die ersten Anfänge völlig überwunden hat. Sehen wir also auch davon ab, nach einem Maßstab zu suchen, auf dessen Erreichung unsere Sonder-

40

(infiniten unbedingt hinzuwirken haben, daß wir also die Aufstellung eines stofflich-festen Zieles nicht ins Auge fassen, so wird doch die Wahrung eines Zusammenhangs mit den sogenannten allgemeinen Volks- oder Bürgerschulen durchaus anzustreben sein. Erkennen wir also aus der oben gebrauchten Bezeichnung „Analphabeten", daß die Hauptelemente des Lesens und Schreibens überwunden sein müssen, um für jemand das Merkmal der Schulbildung in Anspruch nehmen zu dürfen; hören wir weiter von jemandem, daß er nicht bis fünfe zählen, daß er nicht einmal das Vaterunser beten könne; so ersehen wir, daß, außer Lesen und Schreiben, auch noch etwas Rechnen, etwas Religion nötig sei, um innerhalb der größeren Gemeinschaft nicht ganz unter den Strich zu kommen. Folgerichtig ist es demnach durchaus, daß alle Bil­ dungsanstalten für Leiblich- oder Geistig-Gehemmte — mögen die ihren Zöglingen sich entgegenstellenden Schwierigkeiten auch noch so groß sein, man denke an das Lesen der Blinden, das Sprechen der Taubstummen u. bergt — darauf ausgehen werden, mit Bezug auf diese Hauptkenn­ zeichen der Schulbildung dem Vorgänge der Volksschulen zu folgen. Wie sie solches anfangen müssen, ist freilich ihre besondere Aufgabe; wie weit sie ihre Zöglinge werden fördern können, hängt dann von allerlei individuellen Verhältnissen ab; erstreben aber müssen sie es, kostete es noch so viele Findigkeit, noch so viele Zeit, noch so viele Mühe — denn nach dem Ergebnisse richtet sich das Urteil über den Wert ihrer Rettungsarbeit. Gilt solches aber für alle Arten dieser Sonderanstalten, so ganz besonders für die Hilfsschulen, deren Zöglinge ja vielleicht nach dem Grade der einzelnen Mängel etwas weniger stark belastet sind als die Nichtvollsinnigen oder sonst Körperlich-Gehemmten, aber bis­ weilen gleichzeitig unter mehreren derselben leiden, gleichwohl aber — wegen des geringeren Grades der einzelnen Mängel — wenn möglich mehr leisten sollen als jene. Jedenfalls ist also der Zusammenhang nach Stoff und Form der Aneignung mit der Volksschule schon um deswillen zu wahren, weil letztere den hauptsächlichen Maßstab für die allgemeine Bildung (die Bildung der überwältigenden Mehrheit aller) abgibt. Es erscheint deshalb unentbehrlich, dem Stande der letzteren hier noch einige Worte zu widmen. Daß auch die Volksschule — wie ja allerdings auch jede andere Schulgattung — wegen des Obwaltens unvermeidlicher Umstände,

41 von denen ich an erster Stelle die große Verschiedenartigkeit der Be­

gabung nennen will, welcher sich freilich noch mancherlei andere anreihen,

die hier aber nicht in Betracht kommen sollen — oft nicht das leistet,

was sie sollte, ergibt sich schon aus den oben angeführten Analphabeten; in viel größerem Umfange aber aus der großen Zahl derjenigen, die

nicht das von den Behörden aufgestellte Mndestmaß des Wissens und

Könnens, geschweige denn das volle wirkliche Schulziel erreichen können. Es gilt eben für sie die bekannte Stelle aus Goethes Metamorphose

der Pflanzen: „Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern; und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz, auf ein heiliges Rätsel."

Und dies geheime, aber ewige Gesetz ist der Zusammenhang der Nach­ geborenen mit den Vorfahren und dies Übertragen gewisser Eigen­ schaften und Merkmale, bald günstiger, bald verderblicher Art, von den

letzteren auf die Nachkommen, ohne daß sich das Rätsel lösen ließe, von wem das eine oder das andere herrühre oder sich herschreiben lasse.

So gibt es denn in jeder Art von Schulen eine Anzahl von verkannten Größen, die oft ohne eigene Schuld, bald aber auch mit solcher, Erbteile als Segnungen oder als Lasten und Leiden während ihrer Schul-,

bisweilen aber auch während ihrer Lebensdauer zu bewältigen haben —

und sehr oft, trotz redlichen Willens, ihrer nicht Herr werden können. Mag man also immer den Grundsatz gleiches Rechtes für alle verkündigen; mag man daraus folgern wollen, daß gleiche Bildungsgelegenheiten für alle geschaffen werden—und offen stehen; daß die Allgemeinheit die daraus

erwachsenden Lasten und Kosten zu tragen habe, ohne daß dem einzelnen daraus besondere Opfer erwachsen dürfen, wie solches z. B. in einzelnen

Kantonen der Schweiz der Fall sein soll.

Alle derartigen — durch

Staatsgesetze gewährleisteten — Maßnahmen vermögen die Wirkungen

des geheimen und ewigen, wenn mich für uns oft rätselhaften — Ge­

setzes nicht aufzuheben, daß die verschiedengestaltige Begabung allen solchen

Nivelliemngsbestrebungen ein kräftiges Halt zumfen und eine oft un­ überschreitbare Schranke bieten und bieten werden.

Ganz gewiß kann

jeder dafür eintreten, daß jedem das Seine zuteil werde, aber das Seine ist durchaus nicht für jeden das Gleiche: was den einen in seinem Wissen

und Können fördern dürfte, das wird den andern wieder in seiner Ent­ wicklung hemmen; was den einen erhöbe, das würde den andern et» drücken.

Bleiben wir also auf dem einmal durch die Natur gegebenen

Boden stehen; hüten wir uns ebenso vor dem unerreichbaren sozialen

42 Ideal allgemeiner Gleichmäßigkeit der Erziehungs- und Bildungs­ möglichkeit, wie vor dem allzuweit getriebenen Individualismus, der

darauf ausgeht, boit Staats wegen wenn möglich für jeden einzelnen

ein besonderes Schultischchen und Bänkchen einzurichten.

Weder die

soziale Gerechtigkeit noch die staatsbürgerliche Einigkeit vertragen es,

wenn um des vermeintlich gleichen Rechtes willen nicht eine Besteuerung

des einzelnen nach Vermögen, geistigem wie materiellem, erfolgt, son­ dern der gleiche Maßstab an alle gelegt wird, mögen sie lang oder kurz gewachsen, stark oder schwach sein, und das gleiche von allen verlangt wird, mögen sie zu den Armen oder zu den Reichen zählen. — Das Recht soll niemandem geraubt, und gemessen soll auch jeder werden. Ob er

aber später der Garde werde eingereiht oder werde zur Ersatzreserve geschriebeu werden müssen; das kann sich erst in einiger Zeit heraus­

stellen,

wenn das Erreichen des Mindestmaßes und jedenfalls auch

eurer gewissen Leistungsfähigkeit zu hofferr oder gar sichergestellt sein

dürfte. Das einzige, was demnach erstrebt werden kann, ist, daß Einrich-

tungeir getroffen werden, um jedem mindestens die Erreichung des — wie es oben kurz genannt worden ist — Mindestmaßes zu sichern. Wie weit das zu gehen habe, braucht hier nicht bestimmt zu werden;

was aber darunter gemeint wird, mag der Hinweis darauf andeuten, daß die Militärbehörden alljährlich bei der Einstellung neuer Mann­ schaften in das Heer die Zahl der sogenannten Analphabeten bekannt

geben, eine Mitteilung, welche darauf schließen läßt, welcher Bildungs­ grad zunächst freilich nur den Eingestellten, hernach aber der Bevölke­

rung, sei es des ganzen Staates, sei es einzelner Bezirke desselben, als Mindestmaß zuzusprechen sei. Je geringer der Prozentsatz dieser

Zahl ist, desto besser steht es mit der Bildung der bezüglichen Bevöl-

kemng im allgemeinen. Weitere Durchschnitte zu ziehen ist sehr schwer, da die Rubrizierung wahrscheinlich eine außerordentliche Mannigfaltigkeit aufweisen dürfte. Die Vermittelung wiederum dieses Mindestmaßes übernimmt die allen unentgeltlich offenstehende Schule, die, weil für das ganze Volk bestimmt, Volksschule; weil das Mindestmaß oder die Elemente des Wissens und Könnens zugängig machend, Elementarschule genannt zu

werden pflegt.

Selbstredend kann mit der Erreichung dieses Mindest­

maßes das Endziel der Volksschule — möge im weiteren nur diese

43 Bezeichnung gebraucht werden — nicht angegeben sein, und gehen die Volksschulen des Deutschen Reiches und wahrscheinlich auch sehr vieler

anderer Kulturstaaten weit darüber hinaus.

Wie aber auch dieses End­

ziel sich noch durch sehr viele andere Veranstaltungen unendlich erweitern ließe, braucht hier nicht festgestellt zu werden; der Werdegang vieler

hervorragender Menschen hat mit der Volksschule nur seine erste Station durchgemacht und sich dann noch wer weiß tvieviele weitere Bildungs­

gelegenheiten sei es selbst eröffnet, sei es zugängig machen lassen, so daß die Wendung: „Man lernt im Leben nie aus!" bei den allermeisten durchaus zutreffen mag.

Sind nun schon weiter oben allerlei Umstände angedeutet, welche die Erreichung selbst eines ganz bescheidenen Mindestmaßes erschweren,

vielleicht sogar als unmöglich erscheinen lassen können; wird sodann

weiter zugestanden, daß ebenso der einzelne wie die größere Gemeinschast, der der einzelne angehört, also Familie, Gemeinde, Staat, ein erheb­

liches Interesse daran haben müssen, daß über dieses Mindestmaß soweit als irgend möglich hinausgegangen werde, — so ergibt sich von selbst

die Frage nach Mitteln, um diese erschwerenden, hemmenden oder lähmenden Umstände tunlichst zu erleichtern, zu bekämpfen oder gar zu beseitigen.

Daß es solche Mittel gebe, das haben schon einzelne,

wie auch gewisse Gemeinschaften unwiderleglich erwiesen — und nicht

nur mit staunender Anerkennung, sondern mit aufrichtigster Bewunderung

erlangen wir bisweilen Kenntnis

voll großartigster Aufopferungs­

fähigkeit, rührendstem Eifer uild unbeugsamster Willenskraft, durch welche cs gelang, scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten zu besiegen und

Brücken zu bauen über scheinbar unüberbrückbare Klüfte.

Wer ein in

neuester Zeit erschienenes Werk: Die Selbstbiographie der taubstummen und blinden Helen Keller*) gelesen hat, der wird in dem Entwicklungs­

gänge derselben nicht nur einen großartigen Erfolg menschlicher Findigkeit und Geduld, sondern geradezu eine Art Wunder der Erziehung

erblickeil müssen.

Ein 19 Monate altes Kind wird nach einer schweren

Krankheit wieder gesund, ist aber durch den Verlust von Gesicht und *) The Story of My Life (erschienen in London) oder die von P. Seliger verfaßte, von Felix Holländer mit einem Vorwort versehene Übersetzung der­ selben (Stuttgart, R. Lutz, 1904). Vergl. L. William Stern: Helen Keller, die Entwicklung und Erziehung einer Taubstummblinden (Berlin, Reuther u. Reichard, 1905).

44 Gehör in eine Welt der ewigen Dunkelheit und des Schweigens gestürzt. Sieben Jahre lang ist das Kind in dieser traurigen, klanglosen Welt eingekerkert, wobei sich zwar ihr Körper entwickelt, dem schlummernden Geist aber keine Kanäle des Gedankenaustausches eröffnet werden. Die Dame, die mit der Erziehung beauftragt wurde, fand eine kleine,

in Idiotie verfallende Wilde vor. Sie griff nach den Schüsseln, wenn ihr Speisen gereicht wurden, und lag stoßend und schreiend auf dein Erdboden. „Arger und Bitterkeit hatten wochenlang ständig an mir genagt, und diesem leidenschaftlichen Kampfe folgte tiefe Stumpfheit." So schildert sie ihren damaligen Zustand. „Bist du je auf See in einem

dichten Nebel gewesen, wenn es schien, als ob eine weiße greifbare Dunkel­ heit dich einschloß und das große Schiff mit Senkblei und Lotleine

seinen Weg zum Ufer suchte, und du Nopfenden Herzens darauf wartetest,

daß etwas geschieht? — Ehe meine Erziehung begann, war ich wie jenes Schiff, nur ohne Kompaß und Lotleine, und wußte nicht, wie nahe der Hafen war. „Licht, gebt mir Licht!" rief meine Seele wortlos — und gerade in jener Stunde schien das Licht der Liebe auf mich!" 16 Jahre später studiert dieses Kind in einer amerikanischen Universität, besitzt eine ausgebreitete Literaturkenntnis, beherrscht mehrere Sprachen und steht mit vielen der bekanntesten Männer Amerikas (j. B. Mark Twain) in vertrautem Briefwechsel. Überaus anziehend, aufrichtig und einfach,

dabei zärtlich dankbar gegen jene, die sie aus der Welt des Schattens in das Licht des Tages gehoben haben, ist ihre Lebensbeschreibung. Überaus lehrreich aber dann die Darstellung ihres Erziehungsganges, die von jenen gegeben wird, welche dazu geholfen haben, daß dieses

geheimnisvolle, von den gewöhnlichen Bekundungen der Sinne abge­ schnittene Bewußtsein, sich zur Lebenskraft entwickelte. — Was ihr gefehlt hatte und noch fehlt: Gesicht und Gehör — das wird durch ihren vorzüglich ausgebildeten Tastsinn derartig ersetzt, daß sie ihre Gedanken und Wünsche ausdrücken kann und auch versteht, was man zu ihr sagt. Und sie ist nicht die einzige, deren Entwicklung so günstig sich vollzog; allein aus neuester Zeit können wieder zwei ähnliche Fälle gemeldet werden, die in dem in der vorstehenden Anmerkung erwähnten Büchlein von Dr. L. William Stern beschrieben sind und nicht nur ein heilpädagogisches, son­ dern ein psychologisches und sprachtheoretisches Problem bilden dürften. Und nicht nur in Amerika vollziehen sich derartige scheinbare Wunderwirkungen. Was aus allerlei Krüppelheimen berichtet wird über die

45 medizinisch-pädagogische Behandlung verkrüppelter und gelähmter Kinder und erzielte Erfolge (vgl. einen solchen Bericht von Professor

Dr. A. Hofsa in Würzburg (Langensalza, Hermann Beyer & Söhne, 1901); was der Direktor S. Heller in Wien in einem preisgekrönten Heftchen: „Modellieren und Zeichnen in der Blindenschule" (Düren,

Verlag von R. Hamel, 1890) berichtet und vorschlägt; was seitens der Taubstummenanstalten in Wilhelmsdorf (Württemberg), die auch eine Anzahl wahrhaft idiotischer Zöglinge beherbergen, und wahrscheinlich noch von vielen anderen Stellen dürfte berichtet werden können, das kommt int schließlichen Ergebnis dem oben Mitgeteilten ziemlich nahe, wiewohl es bei den letzterwähnten vielleicht sich nicht um verschlossene

zwei Aufnahmetore handelt wie bei Helen Keller, Laura Bridgman oder Maud Scott, sondern nur um ein oder anderthalb von solchen verschlossenen oder wenigstens verrammelten Pforten. Endlich möge auch festgestellt werden, daß nicht nur Anstalten, die mit allen Hilfs­ mitteln zur Behandlung, Pflege, Belehmng usw. versehen sind, der gleichen fertig bringen können; sondern daß auch Eltern und einzelne Pfleger in Selbstverleugnung, Opfermut, Güte und Geduld an Ange­ hörigen und auch Fremden, die hoffnungslos der Nutzlosigkeit und dem erbarmungswürdigsten Vegetieren preisgegeben schienen, Rettungen vollbrachten, daß diese nicht mehr völlig menschlicher Brauchbarkeit und Würde zu entbehren schienen, sondern, wenn auch in gewisser Beschränkung, sich selbst und dem nächsten Kreise dienen konnten. Was das aber bedeutet, hat Herder in seinem „Geretteten Jüngling" als größten und schönsten Gewinn bezeichnet, und dürfte solches nicht nur für den Geretteten selbst, sondern für die menschliche Gesellschaft gelten. Schon die Möglichkeit solcher Erfolge an einzelnen legt — da das einzelne Elternpaar oder der einzelne Pfleger zur Leistung des Not­ wendigen nur selten oder gar nicht imstande sein dürfte — der größeren Gemeinschaft mindestens die Pflicht zur Anstellung entsprechender Rettungsversuche auf; und es mag gern anerkannt werden, daß in neuerer Zeit die größeren Gemeinschaften diese Pflicht — wenn vielleicht auch

uicht immer rechtlich, sondern tatsächlich — je länger je mehr anerkennen, mindestens sich an den hierfür zu bringenden Opfern mehr und mehr beteiligen, und so mittelbar und unmittelbar dazu beitragen, daß die­ jenigen Glieder der menschlichen Gesellschaft, die durch körperliche

Mängel gehindert sind, mit voller Kraft den vollen Arbeitsteil des

46 einzelnen Menschen zu leisten, dazu wenigstens so weit, als ihr Vermögen reicht, in den Stand gesetzt werden. Welche wichtige vermögensrecht­

liche Bedeutung solches für die Gemeinschaft habe, darüber dürften die Armenverwaltungen modernen Stils die genaueste Auskunft geben

können. Sie sorgen deshalb auch nicht nur für diejenigen, die auf Grund dieser Mängel der Leibesorgane gar nicht oder nur beschränkt zu arbeiten

vermögen; sondern, allerdings in wesentlich anderer Weise, auch fiir die entsprechende Erziehung derjenigen, die nicht arbeiten wollen:

Fürsorgeerziehung,

Rettungshäuser,

Besserungsanstalten,

Arbeiter­

kolonien, Zwangsarbeitsstätten und wohl noch andere Einrichtungen, die hier und da den örtlichen Bedürfnissen besser entsprechen, haben hier­ für Dienste zu leisten, wenn sie vielleicht auch nicht immer imstande

sind, den schlechten Willen zu bessern, da der Wille an sich von rein äußer­ licher Einwirkung sich nicht immer beeinflussen läßt.

V. Wie haben die einzelnen Anstalten die Lösung ihrer Aufgaben bisher versucht? Gehören nun auch manche der zuletzt aufgeführten Veranstaltungen nicht im eigentlichen Sinne des Worts zu den Schulen, d. h. zu den für Jugendliche oder Kinder bestimmten Bildungsgelegenheiten, so er­ streben sie doch in Wirklichkeit Verwandtes, ja Gleiches — und, wenn man wollte, könnte man auch Trinkerasyle, sowie gewisse Heilanstalten auch hierher rechnen. Das würde aber zu weit vom eigentlichen Zwecke abführen. Deshalb sei entsprechend der Fragestellung in der Überschrift

nur darauf hingewiesen, daß neben verschiedenen Anstalten für Nicht­ vollsinnige, solche für Körperlich-Gehemmte oder Bedenklich-Kranke, weiter für Sittlich-Gefährdete und endlich auch für mehr oder weniger bildungsunfähige Jugendliche gibt, deren Betrieb je in möglichster Kürze dargestellt werden soll. Daß hier, wo eigentlich nur der Betrieb der Anstalten für Schwachbefähigte ganz eingehend behandelt werden soll, auch ihrer Erwähnung geschieht, hängt damit zusammen, daß bei vielen der Schwachbegabten, deren geringe Leistungsfähigkeit zuriickzuführen sein dürfte auf Mängel oder Schwächen ihrer Sinnestätigkeit,

47 oder im Zusammenhang steht mit dem Versagen oder Gehemmtsein sonstiger körperlicher Organe, Behaftetsein mit übertragbaren Krankheitszuständen, und schließlich mit allerlei sittlichen Defekten, die ihr

Verbleiben in der Gemeinschaft mit ganz jungen Kindern oder in ihrer

bisherigen Umwelt sei es für andere, sei es für sie selbst zur weiteren Gefährdung ausgestalten könnten. Wenn zuletzt auch noch der Tätigkeit der eigentlichen Jdiotenanstalten gedacht wird, so hat dazu geführt einmal eine gewisse Nachbarschaft (wie manche behaupten das Vorhanden­

sein eines nur graduellen Unterschiedes) zwischen Schwachbesähigten und Idioten und sodann ein gewisser geschichtlicher Zusammenhang zwischen den älteren Jdiotenanstalten und den später entstandeneil Hilfsschulen, der auch lange Zeit hindurch sich geltend machte in gemein­

samen Tagungen beider. Hierzu trat nicht als letztes, vielleicht sogar als wichtigstes Moment, daß die jüngeren Schulen für ihre Praxis sich manche Erfahmngen zunutze machen konnten, die den Anstalten zu recht erfreulichen Erfolgen verholfen hatten.

Den Wert der von

ihnen empfangenen Anregungen dankbar anzuerkennen und ein weiteres freundnachbarliches Verhältnis anzubahnen, wollte sich Verfasser daher nicht entgehen lassen. Uber die Eigenart der verschiedenen Anstalts­

oder Schulbetriebe berichten deshalb die beiden folgenden Abschnitte. Bei Darlegung des Anstaltsbetriebes für Nichtvollsinnige, im weiteren auch desjenigen für Körperlich-Gehemmte, ist von vornherein darauf hinzuweisen, daß die mehr oder weniger körperlichen Mängel der Zöglinge noch durchaus nicht gleichzeitig geistige Schwächezustände zur Folge zu haben brauchen. Tatsächlich werden ja manche der ersteren

— infolge der ihnen recht erschwerten Gewinnung von Vorstellungen — in ihrer Entwicklung zurückbleiben, manchmal sogar zu den Idioten zu rechnen sein, während vielleicht andere, deren Leiden rechtzeitig erkannt und behandelt, durch Ausbildung eines Ersatzorganes gemindert werden konnte, geistig doch recht leistungsfähig zu werden vermochten.

Besonders bemerkenswerte Beispiele hierfür folgen weiter unten. — Geistige Schwächezustände körperlich Gehemmter dürften sich seltener finden und vielleicht nur dann, wenn das körperliche Übel so stark ist,

daß es die Seelenvermögen in ihrer Entwicklung allzusehr beeinträchtigt; immerhin üben alle solche Krankheitsfälle, zumal wenn sie heftig, in

Krämpfen oder übermäßiger Erschlaffung des Körpers sich äußern, einen traurigen Einfluß aus, hindern alle Arbeitsfreude — und sind

48 besonders dann, wenn sie Physisch oder psychisch übertragbar erscheinen, dazu angetan, ihre Träger von der Gemeinschaft mit anderen Kindem auszuschtießen. Manche in ihrem Gehirn- oder Nervensystem besonders reizbare Zöglinge erweisen sich sogar als ausgezeichnet begabt, weshalb bisweilen sogar das Genie als etwas Krankhaftes bezeichnet worden ist.

Wenn wir uns solches Urteil auch nicht aneignen wollen, so können wir doch zugeben, daß entsprechende Körperzustände auf die geistige Ent­

wicklung hemmend einwirken müssen. — Für die unter diese beiden

Hauptkategorien gehörigen jungen Menschen liegt es demnach zum Teil

in ihrem eigenen, zum Teil im Interesse ihrer sonstigen Schulgenosseu, wenn ihnen eine besondere Unterweisung, welche auf die obwaltenden Verhältnisse tunlichst Rücksicht nimmt, zuteil wird. — Andere Rücksichten wieder liegen vor betreffs der Verwahrlosten und Sittlich-Gefährdeten, Rücksichten, welche in dem betreffenden Abschnitte etwas ausführlicher sollen dargelegt werden und einmal ihre eigene Rettung und sodann auch die Sicherung der anderen Schüler ins Auge fassen, zumal bei

vielen unter ihnen gar nicht etwa geistige Mängel und Urteilslosigkeit über ein gewisses Unrecht im Spiele sind, sondern allerlei besondere Verhältnisse in ihrer bisherigen Umwelt, gewisse ihnen teils anerzogene, teils anderweitig beigebrachte Manien, welche sie selbst nicht mehr zu

bannen vermögen, so daß sie oft genug aus Verführten wieder selbst zu Verführern werden können.

Gehen wir nun etwas genauer auf die verschiedenen Gruppen solcher — in allgemeinen Schulen nicht ausreichend zu fördernden und zu beeinflussenden Zöglinge ein, so läßt sich wohl begreifen, weshalb

das Bedürfnis, Kindern mit offenbaren leiblichen oder Sinnesmängeln erziehlich und unterrichtlich bestmöglich und baldmöglichst beizustehen, sich früher und eindringlicher geltend gemacht hat, als dasjenige, auch für Geistiggeschwächte zu sorgen. Denn abgesehen davon, daß beginnende Geistesschwäche nicht leicht erkennbar ist und oft den nächsten Ange­ hörigen lange Zeit hindurch verborgen bleibt, tritt die Hilflosigkeit der

Nichtvollsinnigen ziemlich früh zutage und erfordert deshalb unmittel­

baren Beistand, dessen Leistung sich die Angehörigen nicht entziehen können, wenn nicht schwerer körperlicher Schaden eintreten soll. Auf

gewisse frühe Merkmale solcher Sinnesmängel hier einzugehen, erscheint entbehrlich. Festzustellen aber, daß solche Mängel auch auf die geistige Entwicklung nachteilige Folgen auszuüben vermögen, erklärt sich schon

49 aus dem Satze, daß „nichts im Verstände ist, was hier nicht in den Sinnen gewesen wäre". Erklärlich war, daß die ersten Hilfs- und Heilversuche sich auf die Sinneselbstrichteten. Kam man nun auch nach und nach davon ab, die Mängel, welche angeboren oder die Folgen schwerer organischer Erkrankungen und oft unheilbar waren, zu heilen oder wenigstens zu

mindern — Versuche, die selbst in unserer Zeit, welche ja in der Heil­

kunde auf ganz großartige, früher kaum geahnte Erfolge Hinweisen kann, meist erfolglos bleiben müssen — so hat man doch noch recht lange Nichtvollsinnige und auch Krüppel lediglich als Gegenstände des Mit­ leids, als Unglückliche angesehen und behandelt. Man unterließ es

deshalb häufig genug — obwohl Kennzeichen für ein reges geisüges und sonstiges Sinnesleben vielfach hervortraten — darnach zu forschen, ob nicht andere Sinnes- und sonstige Kräfte desto empfänglicher und leistungsfähiger würden zu gestalten sein, um jene Mängel einiger­

maßen zu ersetzen. Man quälte deshalb z. B. die Taubstummen hoff­ nungslos mit natürlich sehr unvollkommenen Hör- und Sprechverstlchcn,

die Nichtsehenden mit der Beschreibung von Formen und Farben, ohne etwas anderes zu erzielen, als daß dieses unfruchtbare Bemühen die Leidenden schließlich stumpf werden ließ. So mag es gekommen sein, daß recht oft Nichtvollsinnige — welche ja freilich wegen ihrer Mängel nicht so leicht als Vollsinnige zu unmittelbaren Vorstellungen gelangen können und deshalb allerlei Zwischenstationen zu überwinden haben, die diesen erspart bleiben, als geistig minderwertig erscheinen und gelten, ohne daß solches wirklich immer berechtigt wäre.

1. Taubstummenanstalten. Glücklicherweise hat für die Taubstummen die neuere Zeit eine andere Stellung zu den bezüglichen Fragen, die ebensowohl aus erzieh­

lichem, wie auf dem Verwaltungsgebiete liegen, eingenommen und beharrt nicht mehr unbedingt auf dem Standpunkte, einen Mangel beseitigen oder änbem zu wollen, der leider doch nicht zu ändern ist, d. h. Nichtvollsinnigen organische Funktionen anerziehen zu wollen, für welche ihnen eben die Organe fehlen. Gewiß soll damit keine völlige Verurteilung der früheren Richtungen ausgesprochen fein, denn das Bemühen, die Nichtvollsinnigen aus der Vereinsamung herauszureißen, in welche sie eben infolge ihres Sinnesmangels hineingeraten müssen, Boodsteln, Sr-tehungSardeit.

4

50 ist gewiß — schon um ihrer überaus

wohltätigen Absicht willen —

nicht nur nicht zu verurteilen oder zu tadeln, sondern durchaus lobend

anzuerkennen. Aber andererseits ist die Erwägung doch durchaus be­ rechtigt, ob der oft unendlich zu nennende Aufwand an Mühe und Kraft auf feiten des Erziehers wie des Zöglings in dem richtigen Verhältnisse stehe zu dem immerhin sehr beschränkten Ergebnis dieser Mühen, und sodann ob es für diejenigen, denen man Freund und Helfer werden möchte, nicht vorteilhafter sei, wenn man, anknüpfend an das ihnen doch immer noch nach anderer Richtung eigene Können, versuche, ihre

geistige Kraft so zu stärken und auszubilden, daß ihnen doch noch eine gewisse Teilnahme an den geistigen Errungenschaften der Vollsinnigen

ermöglicht werde. Das oben angezogene Beispiel der nur dreisinnigen Helen Keller legt dafür gewiß ein vollgültiges Zeugnis ab, daß man in dieser Richtung Bedeutendes erreichen und ein sehr fruchtbares Interesse für viele Seiten des menschlichen Wissens und Könnens er­ zielen kann, die nach früherer Auffassung vollständig verschlossen blieben.

Auf eine Erörterung des Streites hier einzugehen, welcher eine Zeitlang über die in den Taubstummenanstalten besonders betriebene Lautsprach­ methode sich erhoben hatte und dieselbe schwer angriff (vgl. darüber ebenso das Vorwort von Eduard Walther, Direktor der Taubstummeuund Taubstummenlehrer-Bildungsanstalt zu Berlin, „Handbuch der

Taubstummenbildung" sBerlin, Elwin Staede, 1895s als auch den Auf­ satz von P. Riemann-Weißenfels „Allgemein Interessantes aus dem Taubsülmmen-Unterrichte" sZeitschrift für die Behandlung Schwach­ sinniger und Epileptischer, herausgeg. v. W. Schröter und H. A. Wilder­ muth, XIX. Jahrgang 1903, Julihefts erscheint, ebenso entbehrlich wie etwa eine Aufzählung und Bewertung der verschiedenen Systeme der Blindenschrift und eine Erörterung über die Assoziation der Tast- und Gehörvorstellungen seitens der Blinden oder andere Fragen der Blinden­ pädagogik. Sicher ist jedenfalls, daß die zum Ziele führende Ausbildung des Mchtvollsinnigen mehr Schwierigkeiten bietet als die des Boll­ sinnigen und infolgedessen im allgemeinen mehr Zeit und Kraft er­ fordern dürfte als die des letzteren. Wird aber schon eine ganze Reihe

von neuen Reformvorschlägen für die Ausbildung von Vollsinnigen und Normalbegabten damit begründet, daß sie schneller und sicherer

zum Ziele führen als andere Wege, so bedarf es keines Nachweises, daß für Nichtvollsinnige nicht diejenigen Wege den Vorzug verdienen,

51 welche den Schein des nun einmal vorhandenen Sinnesmangels ab­

schwächen, sondern diejenigen,

welche

die

sonst

vorhandenen

Sinnes- und Geisteskräfte zum Ersätze der fehlenden

möglichst nutzbar zu machen gestatten. Dies wird aber immer erst dann der Fall sein, wenn z. B. der Taubstumme die Lautsprache inso­

weit sich zu eigen gemacht hat, daß er mit Worten Begriffe zu verbinden

und dieselben zu Gedanken zusammenzusetzen vermag. Ob das von ihn:

lautlich Wiedergegebene sich mehr oder weniger unvollkommen zu Gehör bringt, hat sehr viel weniger Bedeutung, als daß er selbst zusammenhän­ gender Gedanken fähig und in den Stand gesetzt wird, diese, wenn auch

vielleicht in minder vollkommener Weise, anderen initzuteilen. Vorab sei bemerkt, daß es ein Zeichen großer Takt- und Lieblosigkeit ist, sich über

solche minder vollkommene Sprechweise aufzuhalten oder dieselbe gar zu verspotten, denn es hieße nichts ünderes, als den Unglücklichen erkennen zu lassen, daß er eigentlich nicht in die menschliche Gesellschaft gehöre.

Es ist daher durchaus zu verstehen und zu billigen, daß — nachdem der Streit, ob Laut- oder Gebärdensprache in der Taubstummenschule besonders zu Pflegen sei, eine Zeitlang die Geister erregt hatte — die

Vereine der Taubstummenlehrer ganz einmütig sich für die Pflege der Lautsprache erklärt haben und dementsprechend ihren Unterricht gestalten. Daß dieser Unterricht in der Wortsprache wegen des Mangels ihres

Gehörorgansein ungeheuer schwieriger und anstrengender sei, weiß jeder,

der ihm einmal beigewohnt hat.

Daß auch die Vorbereitung auf die

Wortsprache, der Artikulationsunterricht große Schwierigkeiten bereite,

aber doch — z. B. wenn er die Normalwörtermethode berücksichtigt — zu befriedigendem Ergebnisse führen könne, hat die Erfahrung bewiesen.

Daß Taubstumme sich gelegentlich untereinander auch durch Gebärden, uuterhalten, mag ja vorkommen, bleibt aber immer ein armseliger Notbehelf.

Wer aber auch mit unb unter anderen Menschen leben muß,

für den besteht die Notwendigkeit, sich der Wortsprache zu bedienen.

Das mag nicht allen ganz gleich gelingen; bei vielen mag auch der Trieb zu sprechen sich nicht sehr stark geltend machen; auch an Worten mag

es dem einzelnen bisweilen fehlen, denn es gibt ja vielerlei abstrakte

Begriffe, die sich nur dem erschließen, der einer längeren Gedankenreihe Wort für Wort zu folgen imstande ist; auch Gefühlen Ausdruck zu

leihen, ist noch lange nicht jedes Vollsinnigen Sache — wie erst eine

solche des Taubstummen! So mag ja der Wortschatz des Taubstummen 4*

52

oft ein beschränkter bleiben; aber anch ein beschränkter Wortschatz ist hundertfach besser als gar keiner. In der Regel wird ja auch der Taub­ stumme keinen Beruf erwählen, für welchen der fließende Gebrauch der Wortsprache und ein reicher Schatz nur in Worten wiederzugebender Gedanken die Hauptbedingung ist. Seine Wortarmut wird ihn selbst­ redend schon davon abhalten, ebenso wie ein Geldarmer kein Rittergut kaufen oder ein Bankiergeschäft anfangen kann. — Die Wortsprache ist aber im weiteren noch die Voraussetzung für das Erlernen des Lesens und des Schreibens. Wendet man ein, daß die Fertigkeit des Schreibens bloß ein Können sei, welches durch Nachmachen gewisser Formen sich aneignen lasse, so ist zu bemerken, daß unter dem Schreibenkönnen doch ein erhebliches Mehr verstanden werden müsse, als das ganz mecha­ nische Nachmalen der Buchstabenformen. Soll also der Taubstumme das ihm mögliche Maß der Bildung sich zu eigen machen, so ist die Wortsprache, deren Gebrauch, das Lesen und Schreiben derselben — die unerläßliche Vorbedingung, um ihn aus seiner Vereinsamung herauszureißen, den auf ihm lastenden Bann zu lösen und ihn der menschlichen Gesellschaft einzugliedern. Sonst gilt für sie alle der Spruch, der über einem Aufruf zugunsten einer Taub­ stummenanstalt stand: „Kommt und seht und ruft erschrocken: Ach, wie ist ihr Leben bang! Ihre Kirchen ohne Glocken, Ihre Lieder ohne Sang; Die Gedanken ohne Pforte, Die Gefühle ohne Worte Und die Stimme ohne Klang: Ach, wie ist ihr Leben bang!" Diese Bangigkeit zu beseitigen, kann nur die Einführung in die Wortsprache zustande bringen. Und auch hierfür sind mancherlei Stationen zu überwinden. Oben ist schon von einem nur beschränkten Wortschatz gesprochen; im weiteren dann auch von der Schwierigkeit, Abstrakta dem Wortschatz einzufügen; füglich kann man noch sagen: die Anschauungssprache ist, wie die Gebärdensprache, eine Sprache ohne Grammatik, d. h. ohne die Hilfe der Flexion, der Bindeglieder des Satzes, kurz eine Sprache mit allerlei Umwegen, um die Abstrakta durch negierte Konkreta zu veranschaulichen. Nach und nach erst stellt sich die Fähigkeit ein, auch die Nebenglieder des Satzes zu verstehen und zu gebrauchen (vergl. hierzu die Abhandlung von H. Steinthal in seinen gesammelten kleinen Schriften Band I S. 21—45 sVerlag von Dümmler, Berlin, 1880] über die Sprache der Taubstummen). Schon diese Umstände und Umwege lassen die Bedeutung des Lesens

53 und Schreibens für die Taubstummen erkennen.

Schon hieraus ergibt

sich das Verständnis in das paradox klingende Wort: „Wer nicht liest, lebt nicht". Man kann deshalb begreifen, daß die Taubstummenbildner keinen besseren Rat für die Fortbildung ihrer Zöglinge geben können, als den, fleißig zu lesen und sich um das Verständnis des Gelesenen eifrig zu bemühen, weil sie nur so, da viele Taubstunrme nicht geistig schwach sind,

der Menschheit wiedergegeben werden können.

Die

Schwierigkeiten der Arbeit der Taubstummenbildner bedürfen hoffentlich keiner weiteren Erklärung; man wird aber jetzt auch verstehen, wie Helen Keller, Laura Bridgman und andere denen mit Erfolg geholfen

werden konnte, zu durchaus optimistischer Lebensauffassung gelangt sind und trotz ihrer Sinnesmängel hoffnungsvoll in die Zukunft blicken

konnten.

2. Die Blindenanstalten. Weiter als die in einem Beispiel dargestellte Methodik des Tanbstummennnterrichts ist die — für Wort und Gedankenreihen allerdings

sehr viel leichter handhabbare Praxis des Blindenunterrichts gekommen. Gewiß ist der Blinde in anderer Hinsicht viel abhängiger von fremder Hilfe als der Taubstunrme, zumal wenn er sich auf der Straße oder sonst in der Öffentlichkeit bewegen soll, Andererseits vermag er wieder

durch den Tastsinn deir Eindruck körperlicher Gegenstände zu gewinnen, und sein Gehör vermittelt ihm wie den Sehenden die weitere Gewinnung von Vorstellungen, die Bezeichnungen für diese und alle Einzelseiten des Sprachgebrauchs, so daß er nach und nach an allen geistigen Er­ rungenschaften der Sehenden teilnehmen kann, soweit diese nicht eben der ausdrücklichen Mitwirkung des Gesichtssinnes bedürfen. Er lernt sogar mit Hilfe seines meist sehr feinen und ausgebildeten Tastsinns der Hilfe Frenrder beim Lesen entbehren, sobald die ihm vorgelegten Lesestücke sich der ihm geläufigen Formen der Blindenschrift bedienen; ja in neuester Zeit ist sogar eine Schreibmaschine konstruiert, welche ihm das Hochdruckschreiben ermöglicht, so daß er auch in dieser Hinsicht der vermittelnden Schreibhilfe anderer entbehren und nicht bloß Sehenden, sondern auch seinen Schicksalsgenossen schriftliche Mitteilungen machen kann. Gerade diese Möglichkeit geistiger Aufnahmen

und geistiger Verarbeitung der Vorstellungen und ihrer Verwertung zu Begriffen, Urteilen, Schlüssen usw. eröffnet ihnen ein unendlich

54 reicheres Feld, als solches in der Regel Taubstummen erreichbar sein dürfte*),

wenn ja auch, wie dies durch Helen Keller und andere

dargetan ist, sogar Dreisinnigen, also Taubblinden, zu erfreulicher geistiger Regsamkeit geholfen werden kann. Blinde haben als Gelehrte und Dichter Hervorragendes zu leisten vermocht, uitb die Befolgung der Vorschläge von S. Heller scheint den Blinden nicht bloß die Möglichkeit

der Erlernung des Modellierens, sondern sogar auch die des Zeichnens

in gewissem Grade zu eröffnen**). Geradezu bewunderungswürdig ist übrigens die Ausbildung der Lehrmittel für Blinde.

Die Kgl. Anstalt in Steglitz bei Berlin — die

1907 auf ein hundertjähriges Bestehen zurückblicken konnte und als eine besonders hochstehende Musterschule angesehen werden muß — ist in

dieser Hinsicht in großartiger Weise ausgestattet. Für alle erdenklichen Unterrichtsfächer bestgeförderter Volksschulen besitzt sie sinnreich her­ gestellte Apparate, die es ermöglichen, daß mit Hilfe des Tastsinns eine innere Anschauung auch für solche Objekte und Vorgänge gewonnen

werden kann, die sich sonst nur Sehenden erschließen. Natürlich muß hier die Plastik aushelfen, und Reliefbilder und Karten vermitteln z. B. nicht nur geographische Grundbegriffe, sondern auch die vertikale Ge­ staltung der Erdteile und Länder. Ähnliche Hilfsmittel kommen der

Naturbeschreibung zugute; Nachbildungen, sogar in Lebensgröße, hm hier denselben Dienst. Daß zur Gewimmng eines Einblicks in die wich­ tigsten Gesetze der Physik, Modelle von allerlei Geräten und Maschinen verfügbar sind; daß weiter zur Veranschaulichung der wichtigsten Ver­

kehrsmittel und des Gewerbebetriebes sogar bewegliche Geräte zu *) Nach statistischen Angaben wäre solches etwa bei der Hälfte der Taubstummen ausgeschlossen, und müßten diese letzteren den Reinidioten zu­ gerechnet werden. **) Man vergleiche hierzu das durch den Blindenlehrerkongreß in Köln a. Rh. 1890 preisgekrönte Schriftchen des Direktors S. Heller in Wien: Modellieren und Zeichnen in der Blindenschule (Druck von R- Hamel in Düren). Der Verfasser hatte in einer fast 30jährigen Tätigkeit in Blindenanstalten fest­ gestellt, daß bei manchen Zöglingen erhebliche Sehreste vorhanden waren. Diese wurden gleichzeitig mit dem Tastsinn in Anspruch genommen und dann zu weiteren und in der Schrift beschriebenen Ergebnissen entwickelt. (Über gewisse hieraus und aus verwandten Erscheinungen bei anderen Gehemmten zu ziehende Schlüsse ist in der Schlußbemerkung zu unserem Abschnitte etwas gesagt.)

55

Gebote stehen, mag ebenso hervorgehoben werden, wie daß vorzügliche

Hilfsmittel die Einführung in die Ausbildung für allerlei Handarbeiten erleichtern und dadurch den späteren Betrieb gewisser Gewerbe vor­

bereiten *).

So geschieht alles mögliche, um den Verstellungskreis zu

erweitern und schließlich die Zöglinge möglichst auf die eignen Füße zu stellen und so minder abhängig zu machen, als es sonst der Fall wäre. Natürlich hängt die Aufnahmefähigkeit für dergleichen Wissen und

Können auch davon ab, unter welchen Umständen und in welchem

Lebensalter der Verlust der Sehsähigkeit eintrat. Denn daß in diesen

Beziehungen zwischen Blindgeborenen und Blindgewordenen ein er­ heblicher Unterschied herrsche, mag nur angedeutet werden.

Die sehr

verschiedene Aufnahmefähigkeit von Wissens- und Könnensstoffen hat

besonders in den ersten Entwicklungsperioden die Bildungsanstalten für Blinde zu erheblich abweichender, unterrichtlicher Behandlung geführt.

Mir ist erinnerlich, daß, als im Jahre 1897 die beiden westfälischen

Provinzialanstalten in Soest und Paderborn ihr 50 jähriges Bestehen

feierten, in einer Festschrift zu Ehren der zuletzt genannten aus deren Geschichte die ursprünglich wesentlich voneinander abweichende Tendenz

beider Anstalten geschildert wurde, iiibem die eine (Soest) ihren Zög­ lingen eine über die Elementarschulbildung ziemlich weit hinausgehcnde *) Wie unermüdlich aber auch noch von anderer Seite im Interesse der Blindenbildung und ihrer Erwerbsfähigkeit gearbeitet wird, dafür wurde auf dem XII. Blindenlehrerkongreß in Hamburg ein beredtes Zeugnis abgelegt durch Ernest Vaughan, den verdienten Leiter der ältesten französischen Blinden­ anstalt, des Hospice national des Quinze-Vingts, welcher die von ihm — in Gemeinschaft mit seiner Fran — gemachte Erfindung einer tragbareu Druckerei mit Lettern, auf deren einer Seite die Buchstaben der Brailleschen Blinden­ schrift, auf deren anderer Seite die gewöhnlichen lateinischen Schriftzeichen angebracht find. Dadurch wird erstens der regelrechte Satz und Druck von Werken für Blinde bewirkt und zugleich in seiner bisherigen Kostspieligkeit herabgesetzt; weiter bewirkt, daß ein blinder Setzer zugleich für Sehende setzen und mit ihnen nötigenfalls korrespondieren kann; endlich auch die Verwertung dieser Erfindung allen Anstalten und Staaten uneigennützig überlassen. Die Voraussetzung, daß überall das Braillesche Schriftsystem zur Anwendung ge­ lange — und nicht eins von den mancherlei anderen, welche meist minder ein­ fach find — dürfte sogar dazu helfen, daß Blinde verschiedener Länder mit­ einander würden in Verbindung treten können, was bisher durch die Mannig­ faltigkeit der Systeme erschwert war. Daß also damit den Blinden eine neue Perspektive für geistige Tätigkeit eröffnet wird, bedarf keines Nachweises. — Jetzt gibt es auch schon Schreibmaschinen für die Brailleschrift.

56 wissenschaftliche und zugleich k ü n st l e r i s ch e (musikalische) Bildung mitzugeben sich bestrebte, während die andere sich mit Elementarschul-

und Handwerkervorbildung begnügte und die Musik nur zur Erheiterung betrieb. Dieser Wettstreit, der gewiß auf beiden Seiten gut gemeint war, wurde — weil jedes der beiden Ziele doch für manche der Haupt­ interessenten (die Zöglinge selbst) gewisse Mißstände im Gefolge hatte —

schließlich in der Mitte der Bestehenszeit einer Revision unterworfen und dadurch zum Ausgleich gebracht, daß beide hinfort die Übermittelung einer guten, nicht bloß elementarsten Volksschulbildung, ange­

messener musikaUscher Unterweisung und dann auch praktischer, den Anforderungen des Lebens entsprechender Handfertigkeit sich zur Auf­ gabe stellten — und so z. T. einen Weg verließen, der entweder den geistigen Interessen zu kümmerlich diente oder einen ungemein großen Kraft- und Zeitaufwand in Anspruch nahm. Dieser Mittelweg, welcher ebensowohl den Bedürfnissen des praktischen Lebens, den besonderen

Anlagen und Neigungen der einzelnen und der immerhin etwas be­ schränkten Leistungsfähigkeit der Gesamtheit Rechnung trug, kam allen Teilen, auch der die Unterhaltungskosten tragenden Provinz zugute — und hat bewirkt, daß die aus dem Unterrichte und den Lehrwerkstätten Entlassenen fernerhin nicht mehr auf Mitleidserweisungen ihrer Um­ gebung angewiesen waren, sondern sich ihr bescheidenes Stückchen Brot selbst erwerben konnten. Daß ihre früheren Lehrer, wohltätige Vereine und deren Veranstaltungen und außerdem fromme Stiftungen ihnen dazu die Wege ebneten, hat in recht vielen Fällen dazu beigetragen, daß sie nach und nach imstande waren, auch mit ihrer Arbeit der All­ gemeinheit zu dienen, und von sich sagen konnten, daß auch ihr mensch­ liches Wirken nicht verloren sei.

Vorstehenden Mtteilungen über diese beiden Gattungen von Nichtvollsinnigen sei — wie schon in der letzten Anmerkung unter dem

Striche angekündigt wurde — noch hinzugefügt, daß nach S. Hellers Schrift die dort erwähnten Sehreste den betreffenden Kindern selbst nicht bewußt waren und sie dieselben also nicht benützt hätten, wenn nicht ihr Vorhandensein ihnen durch ein mit ihnen vorgenommenes Experiment nach und nach zum Bewußtsein gebracht worden wäre. (Wie solches geschehen sei, ist in einem Separatabdruck der Wiener klinischen Wochenschrift vom 25. April 1901 beschrieben.) Das Experiment, welches auch an anderen Zöglingen der Anstalt vorgenommen wurde.

57 aber ohne Erfolg blieb, d. h. keine Sehreste nachwies, erscheint sehr sinnreich und überzeugend. Es führt aber noch zu weiteren Erwägungen, und zwar zu der Forderung, daß die heilpädagogische Behandlung solcher, die unter Mängeln seelischen oder Sinnesvermögens leiden

und dadurch zur halben Passivität verurteilt zu sein scheinen, nicht ganz auf Versuche ähnlicher Art verzichten dürfe, da diese doch gelegentlich dazu dienen können, zu erweisen, ob nicht doch noch eine Leistungs­ fähigkeit in einer Sphäre, die den Geistig-Gehemmten sonst verschlossen schien, anzuerziehen und zu erzielen wäre. Dieses Suchen nach Ver­ standes- und Verständnisresten ist gewiß des Schweißes der Edlen wert.

— Fügt man nun noch hinzu, daß es — neben Taubstummen — auch noch Hörstumme, d. h. solche, die zwar hören, aber nicht sprechen können, gebe, so rechtfertigt sich die oben an die heilpädagogische Behandlung

aller Art von Geistesschwachen aufgestellte Forderung.

Wer sich über

die Hörstummen genauer unterrichten will, sei verwiesen auf eine Anzeige

in Dr. H. Gutzmanns „Zeitschrift für Sprachheilkunde", Mai-Juniheft 1901 von der Inauguraldissertation „Les Entendants-Muets”, verfaßt von Georges Levy, Lyon 1900. In dieser Schrift werden die Stummen in zwei große Gruppen geteilt, in „Stumme mit sehr deutlich hervor­ tretenden intellektuellen Störungen", also wirkliche Idioten, und solche, „deren Intelligenz anscheinend oder wirklich normal ist". Aus allem angeführten ergibt sich auch für unseren nächsten Zweck die fundamentale Bedeutung der Erkenntnis des — oft sehr verschie­

denen — Grades aller Arten von Geistes-, Sinnes-, Seelenschwächen zum Behufe angemessener heilpädagogischer Behandlung. — Unter den rein körperlich Gehemmten, die um ihres Zustandes willen des Schulbesuches entbehren müssen, falls sie nicht stets besonders bedient und gepflegt werden können, stehen als besondere Jammer­

bilder oben an

die Krüppel und Gelähmten. Schon weiter oben ist unter Bezugnahme auf ein Buch von Professor Hoffa-Würzburg ihrer Erwähnung geschehen. Besonders wenn sie aus ärmlichsten Verhältnissen, in denen nicht das Geringste für sie getan werden kann, stammen, erscheinen sie als die Ärmsten unter den Armen:

meist nicht imstande, sich ohne fremde Hilfe zu bewegen, fristen sie oft ein fast nur geduldetes Dasein in größter Verborgenheit. Gleichwohl

ist ihre Zahl nicht ganz gering: schon vor längerer Zeit schätzte ein Reichs-

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tagsabgeordneter die Zahl der in Deutschland vorhandenen Krüppel im schulpflichtigen Alter auf etwa 15 000*). Gleichwohl fehlte für fie fast vollständig eine öffentlich-rechtliche Versorgung — und wenn sich nicht seit einiger Zeit private Wohlfahrtspflege einer Anzahl von ihnen angenommen hätte, so hätte man den Stand der Sache als überaus trostlos bezeichnen müssen. Indes hat sich doch nach und nach auf Grimd der von privaten Seiten mehrfach ergangeneil Aufrufe um Hilfe das

öffentliche Gewissen und die Wohltätigkeit Einzelner kräftiger geregt, uild so steht wohl zu erwarteil, nachdem einzelile Staaten mit Maßnahmen vorangegangen sind, daß auch in größerem Umfange und itt gesetzlich geordneter Weise für eine möglichst ausgiebige Anstaltspflege (denn eine Einzelpslege**) erscheint, wie einige Erfahrungen im Amtsbezirke des Verfassers ihm erwiesen haben, meist als schlechterdiilgs unmöglich,

weil sie sehr kostspielig und doch — aus Mangel an wirksamen Einrich­ tungen im Elternhaufe — noch nicht einmal nur halbe Hilfe würde bringen können) nach und nach werde gesorgt werden. Immerhin dürfte auch hier

ivieder das Zweckmäßigste sein, daß — allerdings wirksam durch die Provinzialverbände und in deren Ergänzung durch den Staat unter­ stützt — die Erfahrungen sammelnden Versuche zunächst Vereinen und warmherzigeil Krüppelsreunden überlassen würden, denn keine Sache

verträgt so wenig beit Bureaukratismus wie gerade diese. Ist dann durch vielseitige Beobachtung und reichliche — nicht unter steter Kon­ trolle des grünen Tisches stehende — Erfahrungen Licht und auch Be­ wegung in die Sache gebracht; Hilst hierbei die ärztliche Wissenschaft und die werktätige Praxis geschickter Verwalter und Lehrmeister; fehlt nicht das aufmerksame Auge der überwachenden Hausmutter, die weiche Hand der die Einwickelungen, Verbände, Abwaschungen besorgenden ♦) Eine Zahl, die, wie später festgestellt werden wird, jedenfalls viel zu tief gegriffen ist. •*) Ein einzelner Fall in Elberfeld mag solches dartun: auf eine bezüg­ liche Anzeige über ein schulpflichtiges, aber nicht einmal transportfähiges Kind beschloß die städtische Behörde, dem nach geistiger Beschäftigung lechzenden Knaben eine Anzahl von Stunden in der elterlichen Wohnung geben zu lassen; zwei barmherzige Lehrer hatten sich dazu bereit erklärt. Nach einigen Wochen erklärte erst der eine, dann auch der zweite, daß die Erteilung von Unterricht in der äußerst ärmlichen Wohnung ihnen unmöglich sei. Eine Anstaltsversorgung scheiterte an dem Widerspruch der Mutter, die bald darauf verzog. Nicht lange darauf erfuhr Verfasser, daß das Kind gestorben sei.

59 Pfleger und Pflegerinnen, was sich alles nur in kleineren Anstalten zustande bringen läßt—nicht in solchen mit einem Heer von Angestellten—,

dann wird unentwegte Liebe und Opferwilligkeit, Ausdauer und Geduld sich auch schon an kleinem Erfolge genügen lassen — und nach und nach größeren den Weg bereiten, wie solches schon bisher in ganz erfreulicher

Weise geschehen ist, und hoffentlich nach und nach der ganzen Sache das leidige Gepräge des erzwungenen Almosens abgenommen hat.

Denn setzt erst scheint die Sache wirklich in Fluß kommen zu wollen,

nachdenr aus der durch die Gruppe für „Krüppelfürsorge" des Zentral­

vereins für Jugendfürsorge" gesammelten Statisttk einzelner Bezirke

sich als wahrscheinlich ergibt, daß im Deutschen Reiche am 10. Oktober 1906 mindestens 70 000 Krüppel im schulpflichtigen Alter vorhanden waren, die in körperlichem und wohl auch geistigem Siechtum verkommen, während in den vorhandenen Krüppelheimen höchstens 2500 von ihnen Plätze finden konnten, also nur etwas mehr als 3 %. So würde eine ge­ setzliche Verordnung, die ihre erziehliche Versorgung zur öffentlich-

rechtlichen Pflicht machte, zurzeit schlechthin unausführbar sein und jedenfalls zunächst viel weniger helfen als das Beispiel der Barmherzig­ keit, welches diejenigen geben, die für solche Anstalten in der oben be­ zeichneten Weise sorgen und durch ihr Anrufen der Öffentlichkeit Ver­

ständnis für solche schwere Aufgaben erwecken, für ihr Tun oft ein freund­ liches Echo und hier und da arbeitswillige Nachfolger finden. Die Be­ deutung solcher Krüppelheime auch in sozialpolitischer Hinsicht mag daraus erhellen, daß nach einer Statistik der e i n z i g e n staatlichen Anstalt dieser Art, in München, die moderne orthopädische Chirurgie sich bereit und imstande erklärt hat, 93 % der dortigen Krüppel soweit zu heilen,

daß sie aus Almosenempfängern zu selbständigen Menschen werden können.

Man kann daraus sehen, welch weites Arbeitsfeld hier noch

offen steht, und welche ungeheueren Beträge damit dem Nationalver-

mögen erspart werden können, wenn rechtzeitig geholfen wird, weil auch hier gilt: „je früher, je besser." Überaus überzeugend können auch Angaben wirken, die neuerdings bei Eröfftmng der Berlin-Brandenburgschen Krüppelheil- und Erziehungsanstalt der leitende Arzt

Dr Biefalski gemacht hat.

Sie zeigen auch, wie solche Anstalt ein­

gerichtet werden kann. Dankenswert und jedenfalls auch dieser letzterwähnten Gruppe dienend, wiewohl er zunächst an die beiden zuerst erwähnten Gruppen

60 denkt, ist ein aus neuester Zeit starnmender gemeinsamer Erlaß der preußischen Minister des Kultus und des Innern über die Anwendung

des Fürsorgegesetzes auf blinde und taubstumme Kinder, deren Pfleger ohne begründeten und berechtigten Anlaß diese dem unterrichtlichen und erziehlichen Einfluß fernhalten.

Die in dem Erlaß gegebene Er­

läuterung zum Fürsorge-Erziehungsgesetz ist gewiß überaus wichtig: ob sie aber seitens der Vormundschaftsgerichte, welche zwar in vielen Fällen der bezüglichen Anregung Folge geben, aber nur selten imstande sein dürften, leistungswillige und leistungsfähige Übernehmer der ent­

stehenden Kosten festzustellen, so wird ausgeführt werden können, daß

in allen Fällen — und gerade die dringendsten werden oft an der Wider­ willigkeit der Eltern und Pfleger nicht nur passivem, sondern aktivem Widerstände begegnen — wirkliche und bestmögliche Abhilfe eintritt, erscheint nach langjährigen Erfahrungen des Verfassers durchaus nicht sicher. Denn ihm ist es bisher recht ost begegnet, daß Eltern und Pfleger

solcher geistig und körperlich minderwertiger Kinder — selbst wenn ihnen,

was diesseits regelmäßig und meist mit Erfolg geschah, (daß nämlich die Behörden der politischen und der kirchlichen Gemeinden sich zur Über-

uahme eines Teils der Unterbringungskosten bereit erklärten), dies eröffnet wurde — nicht nur jede Beisteuer, sondern überhaupt die Trenuung von den Kindern schlechterdings ablehnten und mit einer Art von Fatalismus von vornherein jede Möglichkeit eines Erfolgs be­

zweifelten und dies auch gelegentlich vor Gericht erklärten. Erweckten sie dann beim Gericht selbst nicht den Eindruck einer gewissen Verkommen­ heit, sondern denjenigen der Bereitwilligkeit, selbst für die Kinder körper­ lich und geistig erziehlich sorgen zu wollen, so wurde ihnen die weitere Erziehung und Verpflegung der Kinder überlassen, und zwar selbst dann,

wenn ganz augenfällig war, daß sie das Bestmögliche für die Heilung oder Rettung der Minderwertigen unbedingt nicht würden bewerk­ stelligen können. Etwas wirklich Hilfebringendes dürfte sich nur danu ergeben, wenn in jedem Falle zugleich diejenige Stelle bezeichnet werden

könnte, die — beim Widerstreben oder Unvermögen der zunächst Ver­

sorgungspflichtigen — unter allen Umständen subsidiär eintreten

müßte. An Handhaben hierzu dürfte es aber vielfältig fehlen. Dan­ kenswert bleibt die ministerielle Erläuterung unter allen Umständen doch, und möge deshalb ihr Wortlaut im Nachstehenden wiedergegeben

werden.

Sie lautet: „In den Ausfiihrungsbestimmungen zu dem

61 Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger ist darauf hinge­

wiesen, daß der § 1 des Gesetzes auch diejenigen Fälle umfasse, in denen

Eltern die ihnen gebotene Gelegenheit zur Pflege und zum „Unterricht"

ihrer nichtvollsinnigen Kinder hartnäckig zurückwiesen.

Neuere Ermitt­

lungen haben ergeben, daß die Zahl der bisher nicht in Anstalten unter­ gebrachten taubstummen und blinden Kinder immer noch erheblich ist. Nun hat zwar das Fürsorgeverfahren in vielen Fällen nicht durchgeführt

werden können, weil die gesetzlichen Voraussetzungen der Fürsorge­

erziehung von den Gerichten nicht in allen Teilen als tatsächlich erwiesen

angesehen werden konnten.

Es ist jedoch in neueren Entscheidungen

des Kammergerichts zutreffend ausgeführt worden, daß der Widerstand

des gesetzlichen Vertreters gegen den Eintritt nicht vollsinniger Kinder schulpflichtigen Alters in eine Taubstummen- oder Blindenanstalt in

allen Fällen durch vormundschaftliche Anordnungen auf Grund des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuchs beseitigt werden könne.

Da es

dringend erwünscht ist, daß tunlichst allen taubstummen und blinden Kindern die Wohltat eines geordneten Unterrichts zuteil werde, so sollen

die nach § 4 Absatz 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes berufenen Beamten auf die vorerwähnten gerichtlichen Entscheidungen aufmerksam gemacht und angewiesen werden, in allen Fällen, die zu ihrer Kenntnis gelangen,

bei den Bormundschaftsgerichten entsprechende Anträge zu stellen." Daß es trotzdem immer noch Fälle geben werde, die aus physischen

oder sonstigen Gründen als absolut hoffnungslos zu bezeichnen sind, ergibt sich nicht nur aus Erfahmngen des Unterzeichneten im Amte,

sondem auch aus der vorerwähnten Statistik der Münchener staatlichen Anstalt, welche 7% aller — doch jedenfalls mit Aussicht und Hoffnung

auf Besserung des Zustandes in ihr — Untergebrachten schließlich als rettungslos bezifferte.

Bei wieviel ähnlichen mag aber von vornherein

darauf verzichtet worden sein, und deshalb die Unterbringung überhaupt unterlassen werden müssen? Soviel ist aber trotzdem immer noch sicher, daß durch medizinisch-pädagogische Behandlung, also durch das Zusammen­

wirken von Arzt und Erzieher, selbst solche Fälle sich dürften zu günstigem Ausgange bringen lassen, die durch Erkrankung des ganzen zentralen Nervensystems oder de? wichtigsten Teile desselben eine Lähmung hervor­

gebracht haben, welche die Betroffenen als geistig und körperlich ver-

kümmerte, unförmige, bewegungslose Masse erscheinen lassen.

Eine

überaus lesenswerte Beschreibung, auch der Behandlung solcher Kinder

62 gibt ein Aufsatz von Professor Dr. A. Hoffa in Würzburg, erschienen im Verlage von Hermann Beyer & Söhne in Langensalza, 1901: „Die medizinisch-pädagogische Behandlung gelähmter Kinder", und verweise

int übrigen ebenso auf die mancherlei Anregungen enthaltenden Jahres­ berichte und Aufrufe der auch in verschiedenen Bezirken Deutschlands erstandenen Krüppelpflegeanstalten, wie auf eine kleine Schrift des

Pastors Kruse in Langenberg (Rheinland): Lade die „Krüppel ein!" und eine seinerzeit über die Kopenhagener Krüppelanstalt in der „Költüschen Zeitung" (Nr. 70 vom 24. Januar 1897) mitgeteilte Beschreibung:

„Entdeckungsfahrten in eine vergessene Provinz menschlichen Jammers". Auch das Berliner Asyl „Eben-Ezer" in der Elisabethstraße dürfte mit

Mitteilungen und Ratschlägen nicht kargen. So kann man also in der Tat aussprechen, daß wie für die Nicht­

vollsinnigen, so auch für die Krüppel und Gelähmten von verschiedenen Seiten, auch von Städten, nicht nur während der Schul- und Vorbe­ reitungszeit, sondern auch darüber hinaus durch Anstalten, Stiftungen, Asyle, Büchereien, und zur Förderung eines möglichst selbstäirdigen

Daseins durch Hilfsvereine bestmöglich gesorgt wird — und daß weiter durch Anordnung der Behörden, sowie auch durch richterliche Erkennt­ nisse ein Zuführungszwang widerwilligen Eltern und Pflegern das

Recht benimmt, ihren Kindern und Pfleglingen die Möglichkeit ange­ messener und ihrer Leistungsfähigkeit entsprechender Ausbildung

vorzuenthalten.

Die Epileptischen. Eigentlich nur in Ausnahmefällen in öffentlichen Schulen zuzulassen sind zwei Klassen von Kindern, die n i ch t um ihrer mangelhaften Begabung willen von vornherein auszuschließen wären, denn ein erheblicher Teil

derselben könnte sogar zu den wohlbegabten gerechnet werden; sondern die wegen ihrer Anlage zu einem verderblichen körper­ lichen Leiden für die anderen eine nicht zu unterschätzende Gefahr bilden können.

Die unter ihrem Einfluß entstehende Gefahr wird an­

schaulich einmal durch das wiederholte und gleichzeitige Auftreten epileptischer Anfälle in einzelnen Klassen oder Anstalten, und zwar stets bei ganzen Gruppen der Kinder, so daß bisweilen sogar der Verdacht

entstand, als sei gemeinschaftlich eine Art Unfug verabredet worden,

während später auf Grund ärztlicher Untersuchungen sich herausstellte, daß von Unfug keine Rede sein könne, sondern daß tatsächlich eine Uber-

63 tragung mit allen Vorzeichen und Folgeerscheinungen stattgefunden habe, die zurückzuführen sei auf einen Vorgang bei einem oder dem anderen dazu disponierten Schüler. Erfahrungen solcher Art sind s. Z. be­ schrieben worden in einem Aufsatze des Direktors der Schweizerischen

Anstal. für Epileptische in Zürich, Herrn F. Kölle, den Verfasser vor

etwa 15—18 Jahren im „Evangelischen Schulblatt" (Gütersloh, Verlag von Bertelsmann) gelesen und für sich hatte abschreiben lassen; Erfah­

rungen solcher Art sind vor nahezu 40 Jahren im städtischen Waisenhause in Elberfeld gemacht worden, damals mehrfach aufgefaßt und beschrieben als sogenannte Erweckungen religiösen Charakters.—Die andere Gefahr

kann ausgehen von Kindern, die — sich selbst vielleicht dessen nicht be­ wußt — erfaßt sind von einem der schwersten Würgengel der Menschheit, der Tuberkulose. Bekannt ist ja ganz allgemein die gewaltige Menge von Opfern, die diese furchtbare Krankheit alljährlich ein­ fordert, und zwar in der Regel in noch ganz jugendlichem Alter. Hier tritt also an die Schulpatrone eine doppelte Pflicht heran, einmal den Krankhaft-Beanlagten die Möglichkeit einer angemessenen Bildung nicht vorzuenthalten, und sodann die anderen Kinder der Abteilung vor der Gefahr der Krankheitsübertragung zu schützen, zumal sie solches allein durchaus nicht vermögen, — vermögen solches doch selbst ausreichend unterrichtete

Erwachsene oft nicht. Da die Lösung dieser Doppelaufgabe sich nicht vereinigen läßt, so bleibt nur übrig, die Gefährdenden und die Gefähr­ deten wirksam zu trennen und zumal die ersteren — wenn möglich — in gesonderte Anstalten zu bringen, die neben der unterrichtlichen und erziehlichen Versorgung vielleicht auch deren Heilung zu fördem imstande wären. Die Begründung dieser Maßnahmen dürste sich aus folgendem ergeben, was A) betreffs derjenigen Kinder, die an Fallsucht (Epilepsie) und zwar der schwereren Form dieser Krankheit leiden, im Jahre 1882 in der „Zeitschrift des niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheits­

pflege" als Antwort auf eine vom Verfasser angeregte Frage seitens des Herrn Professors Dr. Pelman (damals in Grafenberg bei Düssel­ dorf, später in Bonn) veröffentlicht und in wenigen Sätzen zusammen­ gefaßt wurde:

„1. Die Anwesenheit epileptischer Kinder in der Schule und der ganz unvermeidliche und wiederholte Anblick ihrer Krampfanfälle

bedingt eine direkte und keineswegs gering anzuschlagende Gefahr

64 für die gesunden Mitschüler; 2. epileptische Kinder sind daher trotz

ihrer Bildungsfähigkeit vom Besuche öffentlicher Schulen unbedingt auszuschließen; 3. mit ihrer Entfernung aus der Schule allein ist es aber nicht getan, vielmehr muß in irgendeiner Weise Fürsorge für sie getroffen und zunächst ein Ersatz des Schulunterrichtes eingerichtet

werden; 4. weil aber viele epileptische Kinder, abgesehen von ihrem körperlichen und geistigen Kranksein, auch äußerst reizbar sind, so muß man versuchen, ihnen neben dem Unterrichte noch eine systematische

Behandlung, eine nach bestimmten Grundsätzen geregelte Erziehung zu verschaffen, wie sie im elterlichen Hause nur in den seltensten

Fällen herzustellen sein wird; 5. dieser, ihren Eigentümlichkeiten angepaßte Unterricht neben einer steten ärztlichen Behandlung kann

in der Regel nur in geschlossenen Anstalten gewährt werden. Es liegt im Interesse der Kinder, daß sie so zeitig als möglich solchen Anstalten zugeführt werden." Ohne die weiteren noch erteilten Ratschläge zu wiederholen und

unter Hinzufügung der Erfahmng, daß auch leichtere Fälle nicht als ganz unbedenklich anzusehen seien, sei hervorgehoben, daß entsprechende Forderungen immer wieder von ärztlicher und pädagogischer Seite bis in die neueste Zeit gestellt werden mußten, so daß sie streng genommen in Zeitschriften und Konferenzen ein stehendes Postulat bildeten und — wegen der verhältnismäßig geringen Anzahl ganz geeigneter Airstalten — noch jetzt bilden. Die von den Trägern dieser Krankheit gebildete Gefahr wird durch den Umstand, daß ihr Vorhandensein sehr schwer wahrnehmbar ist, und selbst von Sachverständigen oft nicht sofort erkannt werden kann, sondern einer meist längeren Beobachtung vielfach bedarf, so daß es erklärlich ist,

wenn Eltern und Lehrende sich durch die dazwischen liegenden — ge­ sundheitlich scheinbar ungestörten — Zustände und Zeiten täuschen lassen

und vielleicht erst dadurch erschreckt werden, wenn — nach normalen Zeiten und entsprechendem Verhalten — ihr Geistes- und Gemüts­ zustand außerordentlichen Schwankungen unterliegt und die Kranken nicht nur als schwer leidend, sondern als völlig hilflos erscheinen läst,

ja Sprach- und Denkstömngen bedenklichster Art hervorbringt, so diß Personen, die bisher durchaus intelligent, geistig und körperlich leistungs­ fähig erschienen, infolge solcher Anfälle radikal verändert erscheinen: grcße Empfindlichkeit und Reizbarkeit, Mißmut, Zom, ja Rachsucht, Bergch-

65 lichkeit, Abscheu vor Geschäften, Neigung zum Schlafen, üble Laune, Auf­ dringlichkeit u. bergt, m. zeigen, so daß auch die Umgebung, zumal wenn sie dem Rate des Arztes folgend jeden Anlaß zur Aufregung zu meiden oder aus dem Wege zu schaffen sucht, selbst schwer bäumtet leidet. Wenn auch Anfälle dieser Art sich bei ganz ruhiger Behandlung nach und nach zu verlieren scheinen, so erscheint doch eine völlige Heilung in vielen

Fällen ganz ausgeschlossen und haben infolgedessen auch Anstalten für

Erwachsene sich als notwendig und auch überaus segensreich erwiesen, weil sie den Kranken einen Schutz bieten, der im Getriebe des werk­

tätigen Lebens nicht zu schaffen wäre. — Daß der Eintritt solcher Kinder in die Schule sehr großen Bedenken unterliegt, ist klar, denn dort ist die im Elternhause allenfalls mögliche Rücksicht bei der großen Menge von Kindern oft schlechterdings unmöglich, da ja die durch andere

Kinder gegebenen Anlässe zur Aufregung des kranken eintreten können, ohne daß dem letzteren nur das geringste persönlich geschehen wäre. Aus dem bisher Angeführten ergibt sich, daß die Anfälle auf die Kranken meist eine Wirkung ausüben, die sie zeitweilig als „durchaus in die Reihen der Geistesschwachen gehörig" erscheinen läßt, und daher zur vorsichtigsten Behandlung allen Anlaß gibt. F. Kölle teilt sie auf Gmnd seiner vieljährigen und ausgedehnten Erfahrung überhaupt in vier Gruppen: Voll- und Halbidioten, Schwach- und Normal-Begabte, unter letzteren sogar Wirklich-Befähigte, die sämtlich je nach ihrer Eigenart einer besonderen Behandlung bedürfen. Es wiederholt sich also bei ihnen, wenn auch jedenfalls in einem erheblich verschiedenen Prozentsatz das, was man überhaupt betreffs aller Begabungen feststellen kann, indem jedenfalls die als normal Anzusehenden nicht das Gros bilden. Beim Auftreten solcher Zufälle in der Schule gerät aber nicht nur das leidende Kind in einen sehr peinlichen Zustand, sondern es werden

oft auch die anderen Anwesenden in bedenkliche Mitleidenschaft gezogen, Kinder und oft auch die Lehrenden geradezu fassungslos; die dazu Disponierten unterliegen sogar oft den gleichen Zufällen. Schon aus diesem Grunde ist das Ausscheiden der Kinder aus der öffentlichen Schule unvermeidlich und jedenfalls nicht lange hinauszuschieben. Was übrigens Kölle aus Anlaß seiner Gruppierung für notwendig erklärt: „daß jedes Kind — mindestens aber jede Gruppe — besondere Behandlung erfahre", macht für größere Anstalten ein großes Pflegepersonal nötig und deshalb recht erhebliche Kosten.

Auch für die Epileptiker fehlt es gerade dieses

Boodstetn, ErztehungSarbett.

5

66 letzteren Umstandes wegen noch durchaus an ausreichenden Heil- und

Ausbildungsstätten, und nicht viele Städte haben sich deshalb die Anlage

solcher erlauben können. Berlin hat seit November 1893 eine solche in Wuhlgarten bei Biesdorf eröffnet und unterhalten, die im Februarheft 1900, S. 21—25 der Schröter-Wildermuthschen Zeitschrift beschrieben

ist.

Sie beherbergt neben der Unterrichts- und Erziehungsanstalt für

epileptische Kinder auch krampfkranke Männer, und ihre Losung bei ihrer Arbeit ist in der Hausinschrift: „Des Körpers Erhaltung — des

Geistes Entfaltung" wiedergegeben. Stimmen nun auch die ärztlichen, besonders die irrenärztlichen Autoritäten im wesentlichen mit Professor Pelman überein und verlangen allgemein Ausschluß aus den Schulen und eine dafür Ersatz bietende anderweitige Fürsorge und Unterweisung, nötigenfalls außerhalb des Elternhauses, weil dort eine systematische

Behandlung in der Regel nicht möglich sei, und möglichst frühzeitige Zuführung in Anstalten, in denen ein Zusammenwirken von Arzt und Erzieher stattfinde, so erhebt doch Privatdozent Dr. Weygandt-Würz-

burg (vgl. seinen Vortrag im Mrnberger Hygiene-Kongreß von 1904) erheblichen Widerspruch einmal gegen die Generalisierung der Fälle, sodann aber besonders gegen die Unterbringung der Pfleglinge in

reinen Epileptikerklassen und -schulen. Die von ihm ausgeführten Bedenken wegen des suggestiven Charakters besonders der heftigeren Anfälle sind gewiß nicht ohne weiteres abzuweisen; aber woher eventuell Klassen nehmen, deren Schüler gegen dergleichen Anfälle völlig immun wären? Mag dem nun sein, wie ihm wolle, dem Grundsätze ist jedenfalls zu huldigen: Keine Gefährdung der Mitschüler, aber bestmögliche För­ derung der Kranken! Schließlich nur noch eine Warnung an die Lehrenden: sie sollen

sich nicht anmaßen, den Arzt vertreten zu können. Denn bei der großen Menge der Symptome, die sich bisweilen früh einstellen, sehr mannig­ faltig sind, lange Zeit nicht auftreten, und dann, auf einmal wieder sich ankündigend und vorbereitend, erfolgen; ein drittes Mal vielleicht ganz plötzlich erscheinen und dann aller Voraussicht trotzen, bedenkliche, auch moralisch bedenkliche Wirkungen erzeugen—halte ich die bestimmende

Mitwirkung des Arztes, und zwar eines gründlich sachverständigen Arztes für unbedingt nötig. Auch möchte ich noch empfehlen, daß der Lehrende

oder sonstige Laie sich nicht zu sehr auf orientierende Aufsätze über ge­ wisse Symptome, Anfälle und deren Folgewirkungen, welche gemein-

67 nützige Zeitschriften bisweilen bringen, verlasse; denn er übernimmt damit eine Verantwortung, die er schließlich vielleicht nicht rechtfertigen kann. Jedem das Seine; auch dem Arzt das Seine! — Dann um nur

noch eins anzuführen, was bisher noch nicht zur Geltung gebracht ist, — der Lehrer hat auch daran zu denken, daß die Epilepsie für eine Krankheit

gilt, die sehr oft der Heilung spottet; will er unter Umständen sich sagen lassen, er habe durch Fernhaltung oder Nichtzuziehung des Arztes eine Mitschuld an der Fortdauer des Übels? weiter: wenn wirklich wieder einmal ein solcher Anfall in der Klasse, vor Mitschülem oder Schülerinnen

erfolgt und — was auch nicht unmöglich ist — Hohn oder Spott bei einzelnen Rowdies hervorruft, hat er nicht gerade dann seine volle Ruhe und Autorität nötig, um dergleichen Ausbrüche sofort und gründlich

einzudämmen?

Er bleibe demnach bei dem, was seines Amtes ist —

dann fahren alle Teile am besten; bann wird er auch dafür sorgen können, daß die sich manchmal einstellende Scheu der anderen Kinder vor dem Kranken nicht eine Form annimmt, die diesen wirklich verletzen kann. Caveat consul — heißt es also auch hier. An das eben verhallte ernste Mahnwort mögen noch einige Mit­ teilungen sich schließen, welche einmal a) dem „Belehrung über den Cha­ rakter der Fallsucht" Suchenden Fundstätten für solche, und wieder andere,

b) welche ebenso über das Heranwachsen des Bedürfnisses, wie über erzielte Erfolge in einigen der älteren Anstalten Aufschluß zu geben vermögen. Zu a) seien genannt: 1. vr. Wildermuth: Aus dem Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege — Die Fürsorge für Epilep­ tische; 2. Kraepelin: Psychiatrie; 3.F. Kölle: Epilepsie und Anstalten für Epileptische. Zu b): Aus dem Juliheft 1892 der Zeitschrift „Nordwest" der Bericht über das Jubelfest der Bielefelder Anstalten; sodann die Berichte des Herrn Pastors F. von Bodelschwingh über die Anstalt für Epileptische von 1895, 1896, 1898; weiter die Denkschrift zur Feier

des fünfzigjährigen Bestehens der Heil- und Pflegeanstalt für Schwach­ sinnige und Epileptische in Stetten i. R. (Oberamt Cannstatt) 1899, mit dem darin befindlichen Bericht (S. 57—71) über die Abteilung der Epileptischen, erstattet von Sanitätsrat Dr. Habermaas (C. W.

Mayersche Buchdruckerei (I. Rösters in Schorndorf).

Endlich die Vor­

träge von Sanitätsrat Dr. Berkhahn-Braunschweig und Privatdozent Dr. Weygandt-Würzburg (beide abgedmckt in der Zeitschrift „des Kongresses für Schulhygieine" in Mmberg, 1904).

68 B) Viel schwerer wiegende Gründe noch sind für die Ausschließung

der Tuberkulösen ins Feld zu führen.

Die Hauptgründe sind

schon oben angedeutet worden. Läßt sich nun auch nicht verkennen, daß die ganz jähe Verkündigung und Ausführung dieser Ausschließung eine gewisse Ähnlichkeit mit der Ankündigung eines Todesurteils hätte, und deshalb auf die Lebenskraft und der: Willen zum Leben einen gerade­ zu vernichtenden Schlag führen könnte, also ein Mittel wäre, welches

ein verständiger Arzt, aber auch ein einigermaßen den Empfindungen Anderer Rechnung tragender Mensch nur in den verzweifeltsten Fällen zur Anwendung bringen dürfte, — nun so gibt es doch auch Formen für die erste Einleitung entsprechender Maßnahmen, denen alles Un­

vermittelte und Schroffe abgeht und die deshalb — was sie auch find — nur als gewisse Vorkehrungen lediglich zum Besten des Schwindsuchts­

verdächtigen angesehen werden können. Denn wenn, wie in den meisten Instruktionen für den Schularzt, diese neuere Errungenschaft der Schulen,

vorgesehen ist, dieser besonders die Schulneulinge auss allergenaueste untersuchen soll und für jedes kränklich erscheinende Kind einen Gesund­ heitsbogen anzulegen, bei jeder der häufigen Revisionen den Befund einzutragen, etwaige Ratschläge zur Weitergabe an die Eltern und sonstige Vorschläge vorbeugender, mildernder, heilsamer Maßnahmen vorzubereiten hat — kurz und gut, wenn das krankheitsverdächtige Kind vom Beginn seines Schulbesuchs an in unentgeltlicher schulärztlicher

Beaufsichtigung steht, so dürste kaum zu befürchten sein, daß ganz plötzlich

sich bei ihm Krankheitserscheinungen herausstellen werden, die nicht nur für es selbst, sondern auch die Mitschüler Lebensgefahren bergen. Die vielleicht später notwendige besondere Behandlung hat sich, ohne daß es viel davon merkt, schon von langer Hand vorbereitet; wird das Kind also nicht überraschen, sondern es wohltuend empfinden lassen, wenn —

sei es vorläufige Befreiung vom Unterricht, sei es gute Verpflegung in gesunder Waldluft und anderes ihm verordnet und auch tatsächlich dargeboten wird. Geschieht das Nötige rechtzeitig, so ist — zumal bei

den durch die Wissenschaft herausgefundenen, heute verfügbaren Me­ thoden und Mtteln der Behandlung — nicht nur eine zeitweilige Siche­ rung, sondern eine länger vorhaltende Bewahrung und Rettung gar nicht unmöglich, sondern sogar wahrscheinlich, da auch hierfür der Gemein­ sinn gerade der neueren Zeit immer größere und ausgiebigere Mittel zur

Verfügung stellt.

Auf die Wohlfahrtseinrichtungen mannig-

69 faltiger Art, die zuin Teil auch Kranke» der eben bezeichnete» Gattung zugängig gemacht werden können, schon hier einzugehen, halte ich für

verfrüht, da ein anderer Abschnitt des Buches ihrer umfassender gedenken wird. Aber—da uns ja der Unterricht und die Erziehung der Tuberkulösen und Tuberkuloseverdächtigen besonders interessieren muß — sei auch der jetzt schon — tocnn auch zunächst nur in geringer Anzahl bestehenden

— Heilstätten für unsere Kranken mit Erziehungs- und Unterrichts­ möglichkeit gedacht, da sie nach Lage der Sache eine dringende Not­ wendigkeit sind. Eine solche besteht z. B. in Görbersdorf (Schlesien) iin Anschluß an das dortige von Di Weicker eingerichtete Bolkskrankenheim. Dort sind Erfahrungen gemacht worden auf Gmnd von Ver­ suchen mit der Anstellung von besonderen Lehrkräften (akademisch

gebildeten Hauslehrern). Einer derselben, ein Herr Otto Socher, berichtet über seine Tätigkeit in der Zeitschrift „die Krankenpflege" Heft 10 des zweiten Jahrgangs 1902/3 von Seite 905—915. Auf S. 908 f. findet sich eine Beschreibung des Arbeitsplanes für diese im wesentlichen freiwillige und auf Wunsch der Interessenten in verschiedene Gmppen getrennte Schüler- und Zuhörerschast. Muß ich mir auch eine genauere Inhaltsangabe hier versagen, so sei doch angeführt, daß vorgesehen waren: Allgemeine Vorträge, solche sür Naturfreunde; Lektionen für Deutsch, für Stenographie usw. Daß natürlich für die Festsetzung des Arbeits­ plans sich mancherlei Schwierigkeiten ergaben, da gewisse, durch die Kuren bedingte Umstände unerwünschte Unterbrechungen und Störungen unvermeidlich machten, so muß doch der Gedanke selbst freudigen Wider­ hall wachrufen und hoffentlich weitere Versuche zeitigen. Das Bedeut­

same an dem Gedanken ist die durch seine Ausführung bewirkte geistige Betätigung der Teilnehmer, welche das Grübeln über die Krankheit, das Erwachsen melancholischer Gemütsstimmung und aller unbehaglichen damit zusammenhängenden Regungen und Handlungen niederhält.

Zwar sagt gelegentlich einmal Hufeland, daß „Langeweile der beste Krankenpfleger sei" und liegt mir fern, der — für gewisse akute Krank­ heiten und besondere Zustände gewiß zutreffenden — Beobachtung

des berühmten Arztes irgendwie zu widersprechen; aber andererseits hilft doch eine mäßige, sei es körperliche, sei es geistige Arbeit dazu,

die Organe auch des Leibes rege zu halten und etwas widerstands­ fähiger zu machen und damit dem Wunsche und Willen zum Leben und

70 Gesundwerden zu dienen.

Welcher Art diese inäßigc Arbeit sein könne,

das muß im Einzelfalle erprobt und kann hierbei auch der Anlage und Neigung etwas Rechnung getragen werden. Was in neuerer Zeit in Irrenanstalten mit Nutzen angewendet wird: die Beteiligung der Irren an körperlichen Arbeiten; was in Idioten- und in Besserungs-

anstalten zum Zweck eines gewissen Wachhaltens des Geistes, zum Er­

wecken des Tätigkeitstriebes und zum Fernhalten verbrecherischer Pläne mit Nutzen angewendet wird, das kann auch in Heilstätten mit Erziehungs­ möglichkeit nicht an sich schädlich sein; jedenfalls mag es probiert werden. Was die Waldschulen und Walderholungsstätten an Jung

rind Alt vorteilhaft und ohne Schaden an der Gesundheit der allerdings Minderbelasteten zur Anwendung bringen, und was diesen letzteren zufriedenere, ja freudige Stimmung einträgt, das kann, mit Vorsicht angewendet, nicht Schaden tun; ausgeschlossen müßte freilich sein eine schulmäßige, d. h. viele Leidende vereinigende Behandlung. Denn wenn selbst in der Familie sich ein Schutz gegen die Übertragung der Krankheitskeime kaum bewerkstelligen läßt, so würde ein solcher in einer Art von Schule, wirklicher Schule wohl schlechterdings unmöglich sein; eine mäßige Betätigung — ohne eigentliche Nachahmung der üb­ lichen Schulpraxis — könnte aber gute Dienste tun. Ein entsprechender

Gedanke scheint z. B. auch der Rekonvaleszentenkommission des im Bergischen Lande ausgezeichnet und opferwillig wirkenden Vereins für Gemeinwohl vorzuschweben, wenn sie neuerdings beschlossen hat, Heil­ stätten für Kinder und jugerrdliche Kranke im Alter bis zu 18 Jahren zu begründen, die freilich hauptsächlich der Heilung, aber im weiteren auch der sonstigen Betätigung würden dienen sollen und für welche die Erfolge der Waldschulen und Erholungsstätten vorbildlich sein sollen. Wird zum Schluß noch die Frage aufgeworfen, was diese Heilstätten mit den Hilfsschulen Gemeinsames hätten, so daß sie hier der Erörterung und Beschreibung angeschlossen worden seien, so habe ich zu erwidem: 1) die — infolge ihrer Krankheitsanlage Auszuschließenden können in der öffentlichen Schule nicht gefördert werden und werden deshalb zu den Zurückgebliebenen gehören, für die doch auch besonders gesorgt werden muß; 2) auch in den Hilfsschulen finden sich mehrfach lungen­ kranke oder gar schon tuberkulöse Kinder, deren körperliche und seelische Behandlung sich in einer — der obengeschilderten verwandten — Weise wird bewegen müssen; 3) inwieweit freilich Geistesschwäche mit Tubrr-

71

kulose ursachlich Zusammenhänge, läßt sich oft nicht erweisen, doch haben bei Untersuchungen von Hilfsschulkindern sowohl Ärzte wiederholt Tuberkulöse gefunden, als auch Piper führt in seiner Schrift „zur Ätio­

logie der Idiotie" allein 33 Kinder (15 Prozent der Gesamtzahl der von ihm Untersuchten) auf schwindsüchtige Eltern zurück. 4) Da die

Mehrzahl aller Schwachbegabten auch körperlich — oft sogar mit mehreren Krankheiten — belastet sind, so dürfte die gefährlichste aller Erkrankungs­ arten nicht übergangen werden, zumal sie oft eine Folgeerscheinung anderer Krankheiten ist.

Jedenfalls kann aber nur durch Austritt der Kranken aus der all­ gemeinen Schule einmal genügend für Erhöhung der Körperpflege und Gewährung der durchaus nötigen Ruhe, und sodann durch Schaffung

einer geregelten geistigen Anregung und Betätigung für ein Fernhalten des triibseligen, müßiggängerischen Hindämmerns, — eines Haupt­ hemmnisses der Lebenskraft, mit beiden also für Leib und Seele best­

möglich gesorgt werden. Das ist freilich nur möglich, wenn Gelegenheiten geschaffen werden, durch welche für eine längere Zeit, aber auch möglichst früh der Druck körperlicher und geistiger Trübsale einigermaßen gebannt werden könne. Zu den vorbezeichneten, in der Hauptsache körperlichen Ein­ flüssen, welche, zunächst im Interesse der davon Betroffenen, aber im weiteren auch der Allgemeinheit, eine Aussonderung und besondere Versorgung gewisser Schulkinder bedingen, können selbstredend auch noch andere treten, welche solchen Schaden und solches Ärgernis herbei­ zuführen imstande sind, daß die Mahnung der Schrift: „so dich ein Glied ärgert usw., so reiße es aus und wirf cs von dir" ebensowohl zu­

gunsten der großen Mehrzahl der anderen Kinder, wie auch für die Schaden und Ärger Bereitenden nicht außer acht zu lassen ist. Hierher zu rechnen sind ebenso die schon verwahrlosten und die sittlich gefährdeten

Kinder. Der Ansteckungsstoss, den sie — oft ohne ausdrückliche Absicht, aber doch tatsächlich—zu verbreiten vermögen, ist ein um so gefährlicherer, weil er sich oft lange Zeit hindurch äußerlich wenig bemerkbar macht, sondem ganz int verborgenen wirkt.

Daß er in großen Orten, wo die

Menschen sich wenig umeinander kümmem und gleichgültig aneinander

72 vorübergehen, viel länger ein verborgenes Dasein führen kann als in solchen kleinen Orten, welche eine ziemlich seßhafte Bewohnerschaft vereinigen, ist erklärlich; immerhin ist er nicht auf erstere beschränkt. Überall aber freilich kann er traurige Folgen zeitigen, — und jedem Verwalter großer Bezirke stehen gewiß erschütternde Beispiele jugend­

licher Verderbtheit zu Gebote. Ein Kennzeichen solcher Gefahren — zumal für unerfahrene und nicht genügend überwachte, wenn möglich geistig zurückgebliebene Kinder, die von ihren meist sehr geriebenen Verführern sogar oft als Werkzeuge benutzt werden — ist die Bildung von

Banden, die Unfug, ja geradezu Verbrechen ausführen, wobei die

Anstifter sich im Hintergründe halten. Die Versuche gegen solche Elemente

anzukämpfen, bleiben trotz des Fürsorgegesetzes oft ohne den erwünschten Erfolg. Läßt man aber die Urheber der Anschläge, selbst wenn sie Strafe getroffen hat, wieder in die Kreise zurück, aus denen sie hervorgegangen

sind oder die sie — durch ihre Unverfrorenheit imponierend — seiner Zeit sich unterworfen hatten, so wird das Übel in der Regel schlimmer als vorher. Die neuerdings vorgeschlagenen Jugendgerichte (denen im Anschluß an den Abschnitt: „Erziehungsprobleme" eine besondere Be­ sprechung gewidmet ist) werden hoffentlich dahin wirken, daß Maßnahmen getroffen werden nicht nur zu ihrer Unschädlichmachung, sondern zu ihrer dauernden Besserung. Ob solches in besonderen Asylen, Fürsorge-

und Zufluchtshäusem, in Jugendhorten zu erhoffen sei, muß je nach den Verhältnissen erwogen werden. Einzelne der mir bekannt gewor­

denen Rettungshäuser haben gewiß die beste Absicht, solche Rettungen zu vollbringen; aber die ihnen gleichzeitig auferlegte Pflicht, auch ganz junge Kinder, die nur leiblich gerettet zu werden brauchen, ebenfalls zu verpflegen, läßt die Unterbringung wirklicher Korrigenden nicht ganz am Platze erscheinen, wenn nicht für eine strenge Überwachung und Scheidung Sorge getragen werden kann. Jedenfalls müßten solche Erziehungsanstalten — über deren Benennung ich Vorschläge nicht machen will, eine Bezeichnung erhalten, die für solche, die wirklich

ein neues vemünftigeres Leben beginnen wollen — und viele mögen wirklich solches wünschen — eher abschreckend als anziehend ist. Tritt ihnen da ein solches Heim mit einem Namen entgegen, welcher ihre Vergangenheit schleierlos kennzeichnet und brandmarkt, so entsteht in ihnen von vornherein Scheu und Abneigung zum Eintritt: „Was braucht denn jeder den Makel meiner Vergangenheit gleich zu kennen? mir

73 wird ja dadurch der Weg zur Mckkehr iu geordnete Verhältnisse von vorn­ herein verschlossen", das ist vielfältig der Gedanke, der abstoßend wirkt und der Mcksälligkeit den Weg ebnet. Ähnliches vollzieht sich auch

in der Seele unserer — mindestens zwölfjähriger — Verwahrlosten (jüngere aufzunehmen wäre nicht ratsam, da solche ja auch noch nicht strafmündig sind), und so gilt es denn, ihnen eine Briicke zu bauen durch

Gewähmng einer Heimstätte mit etwas Behaglichkeit und Pflege; aber natürlich nur gegen sorgfältige Arbeit, anständige Führung und freund­ lichen Gehorsam. Können sie noch nicht arbeiten, so mögen sie es lernen, wie auch manches, was zum nötigsten Wissen gehört; freundlicher Ernst dürfte ihnen das wankende Vertrauen zu sich selbst und zu den Nächsten zurückgeben — und wenn sie sehen, daß der vorläufig nur mit Bleistift

gemachte Strich durch ihre Vergangenheit je länger je mehr mit unaus­ löschlicher Tinte nachgezogen werden kann, so entsteht in ihnen und besteht dann weiter die Absicht, sich femerhin als brauchbare Glieder der Gesellschaft zu erweisen. Bessemng und nicht Sühne ist ja der Haupt­ zweck der Ausschließung. Damm: „Arbeiten unb nicht verzweifeln" sagt

Thomas Carlyle. Auf Grund einer solchen Fürsorge und Absondemng dürfte nicht nur der Allgemeinheit, sondern auch den Gefährdeten vielleicht ein Dienst fürs Leben erwiesen werden. Weist man das vorgeschlagene Rettungswerk ab, gleichviel aus welchen Gründen, so kann niemand dafür gut sagen, daß aus solchen Anfängern im Verbrechen nach und nach Meister werden. Das was in England neuerdings zum Erschrecken aller festgestellt werden konnte, daß z. B. in London mehrere außer­ ordentlich geschickt organisierte und verwaltete Berbrecherschulen in Tätigkeit sind, welche Zöglinge schon ganz jung aufnehmen und für die verschiedenen Zweige der Eigentumsverbrechen systematisch aus­ bilden, das kann auch anderwärts nachgeahmt werden; ja, wer vermöchte

dafür einzustehen, daß Anfänge solcher Art nicht auch schon bei uns vorhanden sind? Denn das kann ja niemand leugnen, daß auch bei uns leider große Scharen von ganz jungen Kindern schon ganz an­

sehnliche Sündenkontos aufzuweisen haben und zwar noch ehe sie straf­ mündig geworden sind? Also — wenn solches vermeidbar ist — keine Mckkehr in das bisherige Mlieu, sondem Einweisung in neue Ver­ hältnisse !

74

VI. Idiorenanstalren für inehr oder weniger Bildungs­ unfähige. Handelte es sich bei den bisher beschriebenen jungen Menschen im wesentlichen dämm, ob und inwieweit etwa sie fähig seien, von Bildungsgelegenheiten Nutzen zu ziehen, die seitens der Staaten oder anderer größerer Gemeinschaften zugunsten aller ihrer Glieder errichtet worden waren, um ihnen als Ziel etwa ein Mindestmaß von Wissen, Können und Wollen erreichbar zu machen, und hatten wir hierbei fest­ stellen müssen, daß in einer ganzen Reihe von Fällen ihre körperlichen

Verhältnisse oder die bei ihnen obwaltenden sonstigen Umstände der Erreichung solches Zieles schwere Hindernisse bereiten, vielleicht gar ihnen selbst oder anderen zu Schaden gereichen könnten, so kommen wir jetzt zu einer neuen Gruppe, innerhalb deren die Erreichung selbst

eines ganz eng umgrenzten Zieles ausgeschlossen erscheint. Hatten wir freilich auch manchen unter den Ersterwähnten nur eine sehr be­

schränkte Bildungsfähigkeit zusprechen, die Zweckmäßigkeit oder gar die Notwendigkeit ihrer Förderung nur in Anstaltsbehandlung als wirksam bezeichnen können, weil ein Verbleiben in ihrer bisherigen Umgebung der Bildungsarbeit unüberwindbare Schwierigkeiten in den Weg zu stellen schien; so kann als uneingeschränkte Regel festgestellt werden, daß Idioten — falls nicht in dem einen oder anderen Ausnahmefalle aus besonderen Gründen einmal Einzelbehandlung unabweisbar er­ schiene, die selbstredend nach allen Richtungen hin eine unbedingte Sicherung sowohl des Betroffenen wie seiner ganzen Umgebung ge­ währte — durchaus der Anstaltsbehandlung bedürfen. Es war des­ halb, nachdem der Krankheitscharakter der Idioten erkannt worden war, zunächst ihre Unterbringung in Kranken- oder Irrenhäusern vielfältiger Gebrauch. Indes sah man bald ein, daß der Zustand der Irren und der Idioten doch ein so erheblich verschiedener sei, daß eine gemeinsame Einwirkung und Behandlung sich von selbst verbiete, — und errichtete neben den Irrenhäusern auch besondere Anstalten für Idioten. Da über die Entwicklung dieser Anstalten, eine reiche Literatur besteht, so möge hier nur der Hinweis auf einige Werke genügen, welche nicht nur die Begriffsbesümmungen, die Heilpflegeformen und ebenso medizinisch wie pädagogisch wichtiges Material, sondern auch um­

fassende statistische Nachrichten, fortgesetzt bis zur Gegenwart bringen

75 und deshalb den Interessenten eine viel ausgiebigere Auskunft an­ bieten, als in einer kurzen summarischen Besprechung möglich wäre. Es möge deshalb auch von einem eigenen Versuche einer Definition und auch einer scharf abgrenzenden Einteilung des Idiotismus abgesehen und hier nur ganz kurz wiedergegeben werden, was seitens einiger besonders erfahrener Praktiker in dieser Hinsicht aufgestellt worden ist, ohne freilich allgemeine Zustimmung auch der Theoretiker gefunden zu haben. So bestimmt der langjährige Direktor der Msterdorfer An­ stalten, Pastor vr. H. Sengelmann in seinem „Systematischen

a) Lehrbuch der Jdioten-Heilpslege" (Norden, Diedrich Soltaus Verlag 1885) S. 7s. § 3: „Die Idiotie oder den Idiotismus als denjenigen Seelenzustand,

in welchem aus physischen Ursachen oder unter Mitwirkung von Faktoren des physischen Lebens die normale Entwickelung der Geistes­ kräfte entweder unmöglich oder frühzeitig rückgängig gemacht oder gehemmt ist." Er fügt dann ©. 10 § 4 hinzu:

„Der Idiotismus, der in gradueller Beziehung als Schwachsinn, Blödsinn, Kretinismus unterschieden werden kann, ist, was die psychisch­ physische Erscheinungsform anlangt, entweder erethischer (irritierter) oder apathischer (torpider) Idiotismus und wird, was die Entstehungs­ zeit anlangt, als angeborener vom akzidenziellen (also durch zufällige Umstände herbeigeführten) und mit Rücksicht auf sein örtliches Vor­ kommen als sporadischer (vereinzelter) vom endemischen (massenhaft

vorkommenden) unterschieden." b) Dißelhoff in seinem schon wiederholt erwähnten Hülferuf (Bonn 1857 bei Adolf Marcus erschienen, aber seit langem vergriffen) be­ zeichnet als Wesen der Kretinen (Geistesschwache höheren und geringeren Grades) solche, welche zugleich an körperlichen, hauptsächlich in Skrophulosis und Knochenerweichung begründeten Deformitäten (Mßgestaltungen des Körpers) leiden; Blödsinnige als solche, denen diese Mißgestaltungen fehlen, und als Idioten endlich diejenigen, bei denen

der Blödsinn den höchsten Grad erreicht hat; verwahrt sich aber ausdrücklich dagegen, sich damit an den theoretischen Erörtemngen und wissenschaftlichen Kämpfen der Ärzte beteiligen zu wollen. c) C. Barthold, der langjährige Direktor der Anstalt Hephata in München-Gladbach, schließt sich in seinen Leitsätzen zu seinem 1901

in Elberfeld gehaltenen Vortrag über „die Jdiotenanstalten und die

76

Hilfsschulen, eine Grenzregulierung" (abgedruckt im Konfereuzberichte

des X. Kongresses für Jdiotenpflege und Hülfsschule S. 33 bis 36) den Angaben von Sengelmann über die Entstehung int wesentlichen an, unterscheidet aber eine Stufenleiter von der geistigen Nullität bis an

die Grenze der Normalität und schließlich zwei Hauptgruppen: die so­ genannten Pfleglinge, welche nicht entwicklungs- oder bildungsfähig sind, und solche, die noch beides sind. d) Dr phil. et med. W. Weygandt (Privatdozent und Spe­

zialarzt für Nervenkrankheiten und Psychiatrie in Würzburg) beschränkt sich in seinem Buche „die Behmtdlung idiotischer und imbeziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung" (Würzburg A. Stubers Verlag sC. Kabitzschj 1900 S. 6) hinsichtlich der Definition vmt Idiotie uitd Imbezillität darauf, beide als einen Zustand zu bezeichnen, der auf Grund einer Unterbrechung in der Entwicklung des Trägers der psychischen Erscheinungen vor der Geburt oder in den ersten Lebens­

jahren entstanden ist, verweist ferner betreffs der Klassifikation der Idioten und Imbezillen auf einen Ausspruch von Wildermuth, einen der besten Kenner jener Zustände, wonach er „eine prinzipielle Trennung der Idiotie von der Imbezillität nicht für richtig halte". e) Endlich sei noch aus dem „Grundriß der Heilpädagogik von Dr phil. Theodor Heller, Direktor der heilpädagogischen Anstalt

Wien-Grinzing, (Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann 1904. IX uitd

366 S. in 8°) hingewiesen auf seine Kritik zu den verschiedenen Defi­ nitionen der Idiotie (S. 12—43). Infolge derselben kommt er dazu, das ganze Gebiet als angeborenen Schwachsinn zu charakteri­ sieren und die Grade desselben dahin zu besümmen, daß

«) Idiotismus: völliger Mangel jeder apperzeptiven Fähigkeit, daher auch der passiven Aufmerksamkeit sei; die davon zu unter­ scheidende ß) Idiotie sei Erregbarkeit der passiven Aufmerksamkeit, aber keine spontane Entwicklung der aktiven Apperzeption; und endlich

7) Imbezillität: spontane Entwickelung der aktiven Apperzeption, die aber den Vorstellungen nicht die nötige Klarheit und Deutlichkeit zu verleihen vermag. Wir sehen also bei allen dieseit — vieljährigen — Beobachtern recht zahlreicher Fälle eine Übereinstimmung betritt, daß es sich hier

um Gradunterschiede handle, und zwar, wenn wir thermometrische

77 Verhältnisse bildlich zur Anwendung bringen wollten, wir sagen könnten: sie gehen alle aus fast vom Gefrierpunkt, also von ± 0 bis zu so und so vielen Wärmegraden, für welche sogar gelegentlich Bruchzahlen sich würden anwenden lassen. Vielleicht noch mehr Bedeutung zumal für

den Erzieher, der doch auf Willensbildung hinarbeiten will, könnten die Unterscheidungen eines

f) Veteranen der Anstalten für Geistesschwache I. Landenberger

(seinerzeit Inspektor in Stetten) aus dem Jahre 1861 gewinnen, der allerdings einer anderen Benennung den Vorzug gab und zwischen

Blödsinnigen, Kranksinnigen, Schwachsinnigen unterschied.

Er sagt

(S. 80 in der Denkschrift zur Feier der Stettener Anstalt bei ihrem 50jährigen Bestehen 1899 wieder abgedruckt):

„Von den eigentlich Blödsinnigen, deren Wille nur Triebwille ist (die also nur ihren Trieben folgen) unterscheiden wir die Krank­ sinnigen,

Gemütsstumpfe,

Alberne,

Aufgeregte,

mit Willensab­

sonderlichkeiten Behaftete usw., bei denen die Willkür sich zwar ent­ wickelt hat, aber nicht zum vernünftigen Leben kommt; endlich die Schwachsinnigen, welche wirklich Vernunft und Willensfreiheit haben, aber in geringerem Grade als der geistig gesunde Mensch."

Aus allen hier, von verschiedenen Standpunkten aus betrachteten und durch ihre Benennung und Beschreibung unterschiedenen Merkmalen und Kennzeichen ergibt sich, daß die traurigste Folge geistiger Schwäche die B e schränkung und Hemmung der Willensfreiheit ist und daß aus ihr sich ebenso Gefahren für die Schwachen selbst, wie für ihre Um­

gebung ergeben. Ist das aber der Fall, so bedürfen sie besonders für sich selbst des Schutzes und der Überwachung, aber nicht minder auch

beides zugunsten ihrer Umwelt, die gelegentlich schon schwer darunter hat leiden müssen, wenn, getäuscht durch den Ausdruck einer gewissen Gutmütigkeit, die Leitung und Überwachung des plötzlich hervor­

brechenden Triebwillens unterlassen worden war und dieser sich — Ver­ derben bringend — zur Geltung brachte: „vor dem Sklaven, wenn er die Ketten bricht, erzittre; vor dem sreien Manne erzittre nicht!" Solcher Schutz und solche Überwachung kann aber in der Regel nur in Anstalten gewährt werden — und können die Anstalten nicht bloß solches leisten,

sondern auch den anderen Pflichten der Allgemeinheit gegenüber dem schwachen Einzelnen entsprechen, indem sie durch die Art ihrer Fürsorge die Kräfte der ihnen Anvertrauten dem volkswirtschaftlichen Inter-

78 esse dienstbar machen; weiter durch das Gewöhnen an die Einordnung in

eine größere Gemeinschaft den antisozialen Neigungen des Geistes­ schwachen entgegenarbeiten und sie vielleicht überwinden — und endlich

auch Humanitär wirken, indem sie den Geistig-Tiefstehenden nicht nur ein Asyl gewähren, welches ihm auch einen kleinen Platz an der Sonne zur Verfügung stellt, fo daß er sich nicht mehr als zurückgestoßen, heimatlos, nur ungern geduldet und mit Verachtung angesehen zu betrachten

braucht, sondern empfindet: „Hier bist du auch ein Mensch, hier darfst du es sein." So kann man dem durchaus beistimmen, was Direktor Herberich

aus Gemünden a. M. in einem gleichfalls 1901 in Elberfeld (bergt den Kongreßbericht S. 26—33) gehaltenen Vortrage über „die ideale Seite der Jdiotenpflege" hervorhob, wenn er geltend machte, daß die

Zöglinge selbst die Vorzüge der Anstaltspflege fühlen, die Anstalt als ein Asyl anfehen, welches sie schützt vor der Lieblosigkeit, der Scheu,

und der Verspottung Böswilliger, und deshalb gern in sie zurückkehren; daß sie endlich empfinden, wie sie, die anscheinend Verlorenen und Verstoßenen emporgehoben würden aus dem öden Stumpfsinn unb

gebracht zu einer gewissen Lebensfreudigkeit und zu einer gewissen

Teilnahme an den geistigen Gütern der Besserbegabten. Über die Art, wie diese Arbeit von gleichfalls idealgesinnten Pflegern vollbracht wird, kann man sich gern unterrichten aus den von vielen

unter den Anstalten in regelmäßigen Zeitabschnitten herausgegebenen Berichten, welche meist unentgeltlich an Freunde der Sache abgegeben werden, der Sache stets neue Freunde erwecken und zumal diejenigen, welche die Mühen und Sorgen des Berufs der Jdiotenpfleger kennen

lernen konnten, mit Bewunderung und mit Mhmng zu erfüllen vermögen. Für die an den Hilfsschulen Arbeitenden, besonders aber für die Elberfelder Hilfsschule, die erste ihrer Art in Preußen, hat eine Idioten­ anstalt (Hephata in M.-Gladbach) zwar nicht vorbildlich, aber doch

nach mancher Richtung anregend zu wirken vermocht, insofern als sie den beiden ältesten Lehrern der Schule eine Zeitlang Gastrecht gewährte, so daß sie aus ihrem Betriebe manches für den unsrigen zu entnehmen vermochten. Übrigens sind auch jetzt noch eine Reihe von Hilfsschulen, wie

dem eigenen großen Verbände der letzteren angehörig, so auch Teilnehmer an den früher gemeinsamen Konferenzen für Jdiotenpflege und Hilfsschulen.

79 Zur weiteren Orientierung über den Bestand hierhergehöriger Heilerziehungs- und Pflegeanstalten seien — abgesehen von den unter

a) und g) angezeigten Schriften — empfohlen:

1. P. Stritter, Direktor der Alsterdorfer Anstalten: „Die Heil-, Erziehungs- und Pflegeanstalten für schwachbefähigte Kinder, Idioten und Epileptiker" (Hamburg 1902, Agentur des Rauhen Hauses).

Das

Buch ist eine statistische Zusammenstellung, welche neben Deutschland auch die übrigen Staaten Europas umfaßt. Bild von Pastor Dr. Sengelmann, und eine Übersichtskarte. 2. Über die Verhältnisse in der Schweiz geben Auskunft: „Die Verhandlungen der Schweizerischen Konferenzen für das Jdiotenwesen." Vorliegen dieselben von 1903 und 1905. Beide gedruckt in Glarus, Druckerei der Glamser Nachrichten. In derjenigen von 1905 befindet

sich auch ein Aufsatz darüber von Pfarrer Karl Alther in Eichberg. 3. Die Inauguraldissertation von Dr. Walther Walker: „Die neuesten Bestrebungen und Erfahrungen auf dem Gebiete der Erziehung der Schwachen" (Solothurn, Zepfelsche Buchdruckerei, 1903), umfaßt,

unterstützt durch ein reiches Quellenmaterial, alle neueren Reformbestre­ bungen in der Schweiz, Deutschland und anderen Staaten; kommt zwar nur nebenher auf die Anstalten zu sprechen, aber bringt doch manches Statistische und sonst darauf Bezügliche. 4. Von sehr hohem, besonders praktischem Werte sind endlich die Jahres- und sonstigen gedruckten Berichte einer Anzahl von wirklichen Jdiotenanstalten, deren Zuweisung die Anstaltsleitungen in der Regel sehr bereitwillig zugestehen werden. Mir, der ich in meiner peripheren Stellung weder von allen erschienenen Kenntnis haben und der ich nur

gelegentlich in ihren Besitz gelingen konnte, liegen solche vor: a) aus M.-Gladbach, Anstalt Hephata; b) aus den Kückenmühler Anstalten in Stettin (zurzeit Direktor Pastor Bernhard); c) aus den Taubstummenanstalten für normalbegabte und fchwachsinnigeZöglinge in Wilhelmsdorf bei Ravensburg (Württem­

berg), deren Direktor I. Ziegler in feinen „Grünen Blättern für seine Söhne" sehr wertvolles Material zur Charakteristik Schwachsinniger, aber auch sehr dankenswerte Winke für deren erziehliche Behandlung beibringt. Außerdem liegen nur vor, um nur das Wichtigste und Lehrreichste zu bringen:

80 d) Prospekte und Berichte über I. Trüpers Erziehungs­ heim und Kindersanatorium auf der Sophienhöhe bei Jena (Thu-

ringen) und dasselbe über e) W. Schröters Unterrichts- und Erziehungs­ anstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Dresden-Neustadt (zurzeit ist Herr P. Müller Inhaber und Direktor; Oppellstraße 44). Wer suchen will im grünen Tann — manch brauchbar Stück noch

finden kann.

VII. Bildungsfähige, aber Langfamauffassende und deshalb Zurückbleibende. Die unendliche Mannigfaltigkeit der körperlichen und geistigen Aus­ stattung der Menschen ist durch die Aussondemng der in den bisherigen Kapiteln Beschriebenen und in ihrer Entwicklung Gehemmten natürlich noch nicht entfernt erschöpft, und das schon einmal angerufene Goethesche Wort: „Alle Gestalten sind ähnlich, doch keine gleichet der andern" trifft noch in ganz anderer Weise auf die Menschen zu als dort auf die Pflanzenformen. Auf leiblichem Gebiete diese durch die Natur ge­ schaffene Ordnung ändern zu wollen, dürfte selbst dem größten Freunde von Uniformen und Uniformität nicht einfallen; daß sie auf geistigem

Gebiete bisweilen angestrebt, ja unter Umständen sogar für einen Vorzug, eine Tugend gehalten werde, ist nicht zu bestreiten. Aber freilich gegen die Natur ist nicht aufzukommen, selbst wenn, wie's im Sprichwort heißt, die Gewohnheit leicht zur zweiten Natur — man betone „zweiten" — werden sollte, wie sie zur ersten, der eigentlichen nicht werden kann. So wird also auch die allgemeine Schule,, selbst wenn sie ihren Massen­ unterricht in nachdrücklichster Weise auf die Losung: „stramm, stramm, stramm — alles über einen Kamm" einrichten wollte, daran nur so viel ändern können, als gegebenenfalls rücksichtslos angewandter Gewalt bei nicht sehr widerstandsfähigem Können und Wollen möglich wäre; es dürfte also vielleicht der Schein äußerlicher Gleichförmigkeit—und die Gesetze menschlicher Gemeinschaften werden immer nur äußere Merkmale und Grenzen bezeichnen können — sich hierbei erreichen lassen; der innere Kern aber dürfte so lange davon unberührt bleiben, als das Erstreben

des Könnens nicht durch allerlei Umstände, besonders aber den eigenen

freien Willen, unterstützt wird. Und auch in diesem Falle wird das erreichte Können recht häufig hinter dem erstrebten weitzurückbleiben müssen, selbst

wenn das festgesetzte Mindestmaß wirklich nur ein ganz minimales wäre.

Selbst eine sehr beschränkte Schülerzahl, die strengste Sortierung, unver­ drossenste und geschickteste Lehrkräfte vermögen solches nicht! — kurz

und gut: die allergünstigsten Verhältnisse versagen beim Massenunterricht

— und die allgemeine Volksschule kann dessen nicht entbehren, kann nicht dem einzelnen vollständig individuelle Behandlung zugestehen, sondern

muß sich — um nicht das Gros der Schüler zu schädigen — nach diesem

Gros richten, auch wenn der erstrebte Maßstab von der Leistungsfähigkeit

der Schwächsten ausginge und diesen bestmöglich Rechnung zu tragen suchte.

Die damit untrennbar verbundene Beschränkung der Ziele

hat indes für alle Teile, auch die leistungsfähigeren ihr Gutes, weil sie

eben alle zur gemeinsamen Arbeit und auch zur gemeinsamen Ruhe

nötigt, und so ein unnützes Verpuffen überschüssiger Kräfte verhütet.

Und das ist gut.

Denn wenn der einzelne Mensch, welcher doch an den

allgemeinen Aufgaben der Menschheit, innerhalb deren er geboren ist, mit­

arbeiten soll, und das ist doch auch seine soziale Pflicht, so darf er nicht durch die von Theoretikern geforderte Vereinzelung aus jedem Zusammen­ hänge mit der Gesamtheit herausgerissen werden; so muß er lernen, auch das Maß seiner Kräfte in den Dienst der Gesamtheit zu stellen und

sich als Glied dem Ganzen einzuordnen. Die Vorbereitung für diese seine soziale Pflicht empfängt er zwar schon in der Familie oder in der

ersten und engsten Gemeinschaft, in welche er zunächst als ganz hilfs-

bedürftiges Wesen gestellt wird, und ohne deren Hilfe er überhaupt keine Existenz gewänne; sodann in allen möglichen weiteren Kreisen, unter denen für ein gewisses Lebensalter die Schule die bedeutungs­ vollste Stelle einnimmt.

Nehmen wir nun an, daß keine der zuerst

erwähnten Absonderungsgruppen auf ihn Anspruch hätte, so böte sich ihm zunächst diejenige Schule an, welche alle „Nicht von vornherein Abzusondernden" aufnehmen müßte.

D o r t sich zu behaupten, dort

sich einzugewöhnen und sich fördern zu lassen, ist die chm gestellte Aufgabe, zumal der Stempel beschränkter Bildungsfähigkeit ihm nicht äußer­

lich aufgedrückt ist, also auch nicht ohne weiteres angenommen werden kann.

Freilich macht sich auch bei ihm geltend der erhebliche Abstand

zwischen der bisherigen Lebensführung im Hause und dem Aufenthalt Boodstein, Erziehungsarbeit.

6

82 in der Schule, so daß es bisweilen Jahr und Tag dauert, ehe ein wirk­ liches Sich-zurechtfinden in der letzteren Platz greift. Woher diese Fremdheit in der Welt der Schule auch bei normalbegabten Kindern stamme, kann hier nicht erörtert werden; wahrscheinlich rührt sie daher,

daß der im Hause gewonnene Inhalt ihres Geistes vielfältig keine oder eine nur ganz notdürftige Verknüpfung mit dem von der Schule gebotenen

geistigen Inhalt erfährt, so daß es vielen Kindern so geht wie einem plötzlich in ein sremdes Land Versetzten, der dessen Sprache nicht ver­

steht und sich vergeblich nach einem Dolmetscher umsieht.

Wenn solches

aber vielfältig schon das Schicksal Normalbegabter ist und diese oft genug eine ziemliche Zeit gebrauchen, um sich einzugewöhnen und nach und nach den fremden Inhalt zu erfassen, ohne lediglich mit dem mechani­ schen Gedächtnis arbeiten zu müssen, — so kann es nicht wundernehmen,

wenn schwächer begabte und geistig arme Kinder schließlich — nach

langem vergeblichen Mühen — Selbstvertrauen, Hoffnung und Freu­ digkeit verlieren und den glücklichen Genossen gegenüber, die — nachdem sie sich zurechtgefunden — rüstig vorwärts schreiten, je länger je mehr und uneinholbar im Mckstande bleiben.

Auch sie gehören schon zu

den Sorgenkindern der Schule, wenn auch nicht zu den scheinbar ganz hoffnungslosen.

Was tat nun bisher die Schule für ihre Sorgen­

kinder leichteren Grades? Wenn auch bereitwillig anerkannt werden soll, daß gewissenhafte Lehrende es von jeher für unverbrüchliche Pflicht erachteten, sich gerade der Zurückbleibenden anzunehmen und sie nach Lage der Verhältnisse bestmöglich vorwärtszubringen; so muß doch andererseits wieder festge­ stellt werden, daß im Durchschnitt die Beurteilung der Einzelfälle bisher einer gewissen — ich möchte sagen „fatalistischen" Auffassung unterlag, gegen welche mühsam anzugehen meist gar nicht lohne. Bekannt ist hier­

für das absolut absprechende Urteil einzelner Lehrer über einzelne ihrer Schüler, die später vielleicht sich nicht nur ganz günstig entwickelten, sondern sogar Hervorragendes leisteten. Hier könnten Dutzende von berühmten Namen genannt werden, welche passive Zeugen dafür sind,

daß Irren auch in der Beurteilung von Menschen durchaus menschlich ist. Doch auf letzteres kommt es hier nicht an, sondern nur darauf, festzustellen, daß die erwähnte fatalistische Auffassung schuld daran wurde,

83 wenn man sehr lange lieber die Hände ganz in den Schoß legte, als

daß man nach Regeln und Mitteln suchte, das scheinbar doch ganz unfmchtbare Land durch andere als die gebräuchliche Behandlung doch noch zum Fruchttragen zu bringen.

Im besten Falle folgte man der alten

Praxis auf medizinischem Gebiet: man suchte nach Kräften zunächst

dem Einzelfalle zu Leibe zu gehen. Aber man forschte früher nicht damach, ob nicht der oder jener doch häufig genug auftretendeu Krank­ heit doch vielleicht irgendein organischer Mangel zugrunde liege, den man durch vorbeugende Maßnahmen und Mittel wirksam zu bekämpfen, und als Mittel auf verwandte weitere Fälle anzuwenden imstande wäre. Erst als die Statistik mit ihrem die Gemüter aufrüttelnden und beweiskräftigen Zahlenmaterial zu Hilfe kam, wurde die Notwendigkeit

kräftigerer Maßnahmen anerkannt; denn man mußte schließlich sich sagen, daß das Brachliegenlassen einer prozentual erheblichen Menge mensch­

licher Kraft doch ein Verlust sei, der auch die Allgemeinheit empfindlich schädigen müsse, da auch s i e darauf angewiesen sei, so wie es die Natur mache, die kein Atom ungenützt verkommen lasse, ihr M ö g lichstes zu tun, um jedes bißchen Kraft zu retten,

zu erhalten und sich dienstbar zu machen. Also, was mit den Nicht­ vollsinnigen, den körperlich, geistig oder sittlich Defekten versucht werde, das, so lautete ihr Schluß, müsse auch gegenüber denjenigen geschehen, die zwar nicht normal-lei st ungsfähig erscheinen, aber

doch immer — wenigstens einigermaßen — bildungsfähig seien. Man

müsse deshalb mit dem Glaubenssatz gewisser Kreise brechen, die mit ihrer pessimistischen Auffassung, „als verfalle jeder Schwachsinnige schließlich doch unrettbar der Idiotie, die nicht mehr bildungs- sondern höchstens abrichtungsfähig werde", möglichst früh die Büchse ins Korn

zu werfen bereit sind. Deshalb seien Rettungsversuche unter allen Umständen anzustellen, denn auch hier seien höchst verschiedene Grade der Beschränktheit jedenfalls vorhanden. Um was für Zahlen es sich allein im Deutschen Reiche — hinsichtlich der Schwachbefähigten — handle, vermag ich nicht anzugeben, da der be­ zügliche Begriff noch zu flüssig ist und nicht genug bestimmt, als daß man ihn leicht anwenden könnte. Aber einige 1904 in der Frankfurter

Zeitung veröffentlichten statistischen Zahlen über die Blinden, Taub­ stummen und über die Krüppel im Deutschen Reiche dürften erkennen

lassen, daß auch die wirklich Schwachbefähigten und demnach nur

6*

84 Beschränkt-Leistungsfähigen ungleich höhere Ziffern aufweisen, als man

gewöhnlich annimmt! Die jetzt etwa in Schulklassen besonders Ver­ sorgten können ein einigermaßen richtiges Zahlenbild nicht geben, da sicher eine ungleich größere Anzahl noch unversorgt blieben und

voraussichtlich bleiben werden. Es gab also überhaupt

in den Jahren

1871

1880

1895

unter 100000 Anwesenden 1900

1871

1880

1895

1900

beim männlichen Geschlechte 90,03 ' 83,92 71,23 65,13 10 931 11258: 11 144 11054 blind. . . taubstumm . . 12 983 15 0831115 699 16 975 106,93 112,43 100,34 100,02 i blind und taub­ 1358a| 0,63 0,67 94 114 1,ii 0,60 stumm .

b eim w eidlichen G eschlechte 11 759 11245 10 125 10 302 94,08 | 81,11 | 62,46 blind. . . 80,36 90,43 taubstumm . . 11044 12 537 12 849 14 303 79,27 blind und taub­ 153 89 stumm . 1,22 0,64 79 0,49 101

i nsgesamt blind. . . 22 690 22 503 21 269 21 356 92,09 82,49 taubstumm . . 24 027 27 620 28 548 31 278 97,51 101,25 blind und taub­ stumm . 174 1,17 288 173 215 0,64

58,86 81,73

0,58

66,77 | 89,62

61,95 90,73

0,54

0,62

Von den am 1. Dezember 1900 gezählten Personen waren:

seit frühester Jugend . später geworden. ohne Angabe . . .

blind 4 992 15183 1181

taubstumm 23 510 4 679 3 089

blind und taubstumm 110 85 20.

Die Taubstummheit datiert also zumeist seit der Geburt, die Blind­ heit tritt erst später ein. Von den Taubstummen gehen mehr als die Hälfte und von den Minden etwa ein Viertel einem Erwerbe nach. Bevorzugt wird bou den Blinden die Landwirtschaft, Gärtnerei usw., sowie die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, während wir die Taubstummen neben diesen

Gewerben auch in der Bekleidungs- und Reinigungsindustrie finden. Über die Krüppel im Deutschen Reiche machte Dr. Rosenfeld auf dem Internationalen Kongreß für Schulhygiene zu Mrnberg

85 folgende Mitteilungen : In Deutschland sind zurzeit etwa 320 000 Krüppel

vorhanden, von 235 000 Erwachsenen haben ca. 40 000 überhaupt keinen Unterricht genossen, über 100 000 sind nicht in der Lage, sich auch nur in der notdürftigsten Weise zu ernähren.

Zur Förderung der wirtschaft­

lichen Lage der Krüppel schlägt Dr. Rosenberg vor, Krüppelschulen in größerer Zahl zu errichten und zu dem Zwecke größere Bezirke resp,

ganze Provinzen zusammenzufassen, so daß auf etwa 200 000 bis 300 000

Einwohner eine Krüppelschule entfällt. Können wir also zurzeit noch nicht mit Hilfe der Statistik und ihres Zahlenmaterials uns an das Gewissen und das materielle Interesse

der Allgemeinheit wenden, so hilft uns doch die wissenschaftliche For­ schung und das Experiment die Ursachen, die Einzel- und Gesamt­

erscheinungen und die Folgewirkungen gewisser geistiger Notstände erkennen, zeigt, welcher Gruppe von Zurückgebliebenen oder Schwach­

befähigten der Zögling angehöre: ob es sich bei ihm nur um einen zeit­ weiligen Notstand handele, der sich nach und nach wieder dürfte heben

lassen, oder um einen Notstand für einzelne Fächer, denen ein Besser­

beschlagensein in anderen gegenüberstehe, oder wirklich um eine allge­ meine und dauernde Mnderwertigkeit, die allerdings noch bildungs-

und leistungsfähig werden könne, aber nur in ganz beschränktem Maße. Das Ergebnis solcher Beobachtungen und Messungen, auch der Er­

müdungsmessungen infolge des Aufenthalts und der Arbeit in der

Schule, über die Herabsetzung der Sinnes- und Körperempfindungen beim Eintritt von Gemütsbewegungen und noch manches andere phy­

siologisch und psychologisch Bemerkenswerte bahnte eine sichere Einsicht

in das Seelen- und Gemütsleben dieser pingen Menschen an und nötigte den denkenden Lehrer und Erzieher zu vorsichtigerer Erwägung gewisser Maßnahmen und Methoden, die, wenn auch ost üblich und

landläufig, im Einzelfalle, versagten.

besonders bei Schwachbeanlagten völlig

Um nur eins zu erwähnen, sie erschütterten ganz gründlich

den Glauben an die Bewährung des in der Haus- wie in der Schul­ erziehung für besonders probat gehaltenen, oft grausam fein ausge-

klügelten und abgestuften Bestrafungssystems.

Denn schon die Feststellung, daß nicht nur die geistige Arbeit nach oft gar nicht langer Zeit die Leistungsfähigkeit des Kindes schon stark

herabsetze, sondern daß die mit jeder Bestrafung (selbst solcher nur mit

Blicken oder mit Worten) unweigerlich verbundene Entmutigung und

86 Einschüchterung zumal bei den Geistig-Schwächeren die Arbeitskraft, je den Tätigkeitstrieb ganz erheblich lähmen, ja vielleicht nach und nach ganz vernichten könne, hat nranchen Vater, Lehrer und Erzieher zur Zurückhaltung, Ruhe und Festigkeit, ja zu Versuchen mit freundlichem

Zureden bekehrt. Und die früher gäng und gäben Redensarten: „Schade

um jeden Schlag, der daneben fällt", oder „Er ist im Hause oder iu der Schule ganz dumm geprügelt worden", und „Lernzeit ist keine Herrenzeit" lverden wohl nach und nach freundlicher lauteirden Erfahrungen und Er­

ziehungsregeln Platz nrachen. Freilich wird sich wohl, solange das Präsenthalterr von allerlei — behördlich vorgeschriebenen — Wissensstoffeir beit

Maßstab für die Beurteilung unterrichtlichen und erziehlichen Leistens und Könnens abgibt, der Spruch Gottfrieds von Straßburg: „Der Bücher

Lehre und ihr Zwang, war meiner Sorgen Anfang" nicht ganz um­ gehen lassen; und ist solches auch ganz gut, denn ohne ein gewisses Wissen ist für absehbare Zeit ein Sichbetätigenkönnen schlechterdings ausge­ schlossen, und ohne letzteres das Leben überhaupt kein Leben mehr.

Die erwähnten Forschungen aber und die Versuche, die sich bis auf die ersten Lebenserweisungen des ebengeborenen Kindes erstreckten und dieselben dann weiter und weiter begleiteten und verfolgten, haben die unendlich vielen und unendlich feinen Fäden und Beziehungen

dargetan, welche zwischen den leiblichen und geistigen Organen bestehen und durch die besonderen Lebensverhältnisse des einzelnen bald ge­ fördert, bald gehemmt, bezw. ganz unterbunden werden können, so daß unter Umständen sogar das grob-materialistisch klingende Wort: „Was der Mensch ißt, das ist er" sich oft als zutreffend erwiesen hat.

So zeigt sich denn das, was allgemein als Begabung bezeichnet wird, als das Produkt einer unendlichen Menge von Zusammenhängen mit dem, was in dem jungen Menschen vorgeht und was neben ihm sich

vollzieht; was vor ihm bestand und auf sein Werden Einfluß übte, was seine Entwicklung bald vorübergehend, bald dauernd begleitete, und

was sonst noch Spuren einer Einwirkung auf ihn hinterließ.

Gelten

dergleichen Feststellungen für jeden — und zeigen sie f ü r g e w ö h n l i ch viele verwandte Züge, so daß es möglich wird, oft eine ziemlich große Anzahl derselben oder ziemlich gleicher Behandlung zu unter­ werfen — und darauf beruht das, was man Massenerziehung in der Schule benennt —; so sind sie doch von besonderer Bedeutung für die­ jenigen, bei denen die allgemeine Schablone versagt, die nicht mit den

87 anderen gleichen Schritt halte,: können, denen es nicht mit Wollen, wohl aber am Können fehlt, deren Mangel sich aber nicht wie bei den zuerst aufgeführten Gruppen an äußerlichen Merknmlen bald erkennen läßt, sondern erst spät und langsam darin offenbart, daß die auf sie

verwandte Saat keine oder nur ganz spärliche Frucht trägt. Gerade bei diesen — die Saat so spärlich lohnenden Feldern ist die Forschung und das Experiment mehr als bei den sogenannten Normal­

begabten am Platz. Denn während diese, oft fast ohne Saat, aus eigenem Antriebe oder Denken, durch Entgegenkommen auf halbem Wege schon

Frucht bringen, geben jene Rätsel auf, zu denen der Schlüssel fehlt. Aus vereinzelten Kennzeichen läßt sich vermuten, daß etwas geistige Kraft in ihnen ist; aber die Kraft ist, wie man in der Physik sagt, latent, verborgen und durch die übliche Reibung nicht herauszülocken. Hier gilt es also: suchen und versuchen. ' Bei ihnen bliebe also Massenunterricht

und -erziehung im wesentlichen erfolglos, weil die große Anzahl der gleichzeitig zu versorgenden Zöglinge zu beiden: nicht die erforderliche

Zeit gewähren könnte, ohne die Interessen der einen oder anderen Kategorie zu verletzen. Für beide etwa zu dem Notbehelf der Halb­ tagsschule zu greifen, erscheint erst recht nicht brauchbar und würdig. Abgesehen von diesen — einander ausschließenden — Interessen kommt

noch ein wichtiges erziehliches Moment in Betracht. Goethe bemerkt bei irgendeiner Gelegenheit einmal: „Wer ist so gebildet, daß er nicht seine Vor­ züge gegen andere manchmal auf eine grausame Weise geltend machte?" — Daß dergleichen, und zwar ebenso körperlich wie geistig, seitens gewisser

Musterschüler ihren schwächeren Genossen gegenüber bisweilen recht kräftig geschieht, hat jeder Lehrende nicht allzuselten erfahren — und der Pennalismus ist keiu schon gänzlich ausgerottetes Übel. Nun denke

man sich einen jungen Menschen, der sowieso infolge seiner offenbaren

Schwäche nicht zuviel Selbstgefühl besitzt und auch von den Erwachsenen nicht für voll gerechnet wird, auch noch unter dem Druck liebloser und sich leicht überhebender Mitschüler!

Verhöhnt bei jeder Fehlleistung; viel­

leicht auch nicht kräftig geschützt durch seine Lehrer, die ihr abfälliges Urteil vor den anderen Schülern nicht zurückhalten; gelegentlich sogar aus Schonung zu Leistungen gar nicht aufgefordert!

Wie sollte der

zaghafte, sich selbst mißtrauende junge Mensch nicht schließlich in seiner Denklust und Arbeitsfreudigkeit völlig erlahmen und ganz mutlos werden? unempfindlich sogar gegen Spott, zuletzt vielleicht gar nicht ungern mehr

-

88



die Zielscheibe fremden Witzes? Wenn es mit ihm nicht so weit kommt, verdankt er solches wohl nur der Gottesgabe eines duldsamen und un­ verdorbenen Herzens, einer Gabe, die den Geistig-Armen als ein Trost

für ihre Armut verliehen ist (Matth. 5, V. 3).

Mer auch dem Einzelunterricht der Geistig-Armen stehen erhebliche Bedenken entgegen. Wer hätte nicht — vielleicht als Hauslehrer —

an sich selbst, aber auch an seinen Schülern das Erschlaffende des Einzel­ unterrichts erfahren können? Schon einzelne Privatstunden mfen gelegentlich solche Erfahmngen hervor.

Und nun denke man sich einen

sowieso Langsam-Denkenden und -Handelnden einer unablässigen Beaufsichtigung und Anleitung unterworfen, den ganzen Tag und die Jahre hindurch, immer Gegenstand verbessernder Kritik, immer das Ziel, das alleinige Ziel der Bemühungen eines anderen, der ihm unend­ lich überlegen erscheint! Wer sich da nicht vorkommt wie einer, der an der Kette liegt, keinen eigenen Willen haben, nicht selbst sehen, hören,

schmecken, fühlen darf und gewissermaßen darauf warten muß, bis seine

Denkmaschine aufgezogen wird — der glaubt schließlich gar nicht mehr an ein eigenes Ich! Der wird schließlich auch nicht fähig werden, als tätiges Glied der Menschheit an deren Aufgaben auch sein Teilchen Arbeit

mit zu vollbringen, sei es noch so klein; immer bleibt er nur passiv; er wird geschoben, gestoßen, getragen. Das kann nicht befriedigen, das kann nicht ermutigen und zu etwas Selbstgefühl verhelfen; denn dieses letztere erwächst nur da, wo Gelegenheit geboten ist, sich selbst sein Tun, Können und Wollen auch mit demjenigen von anderen zu vergleichen, die uns nicht unerreichbar, unendlich erhaben über uns stehend dünken. „Gesell dich gem auch andern zu und laß mit ihnen deine bestem Kräfte ringen, das wird dich, wenn sie weiter sind als du, auch selber wieder weiterbringen." Die kleine Verändemng des bekannten Spmches ist eingegeben worden durch die Ersahmng, daß gerade die Geistig-Armen

— ob gerade im Gefühle ihrer Schwäche, ob bewogen durch ungünstiges Erlebte beim Zusammensein mit anderen, ob aus einem — durch ihren

Geisteszustand hervorgemfenen — Mangel an Mitteilungsbedürfnis, ob überhaupt aus allgemeiner Menschenscheu—oft genug darnach streben, sich aus jedem Verkehr zurückzuziehen, und immer mehr versimpeln, weil sie so jeder Anregung entbehren. Ist es nun schon eine Art Trost, Leidens­ genosten überhaupt zu haben, so wächst dieser Trost mit der Gelegenheit und der Möglichkeit, sein Herz auszuschütten und bei Genossen Verständnis

89 zu finden.

Und nicht nur um Trost handelt es sich hier. Unser Leben

verliert seine Schnellkraft, wenn wir nicht von Zeit zu Zeit in die Lage kommen, alle unsere Kräfte anzuspannen, um uns mit Ehren zu behaupten. Selbst wenn uns hierbei eine Art Angst befällt — es gibt wohl keinen

Menschen, -er ganz frei wäre von Kanzel-, Katheder-, Kanonenfieber im gegebenen Augenblicke — so wirkt diese nicht niederdrückend und lähmend,

sondern, weil sie überwunden werden muß, wohltätig und anregend. Trifft solches schon bei Normalbegabten zu, so erst recht bei solchen,

denen der Trieb, sich zu betätigen, durch allerlei Umstände (Mangel an Begabung und Selbstvertrauen, aber auch weil ihnen nichts Rechtes zugetraut wird) stark gehemmt, bezw. ganz versagt zu sein scheint. Es geht ihm so, wie dem kleinen Kinde, welches sich nicht getraut, einen Strohhalm zu überspringen, weil es dergleichen noch nicht versucht,

aber wohl auch von anderen noch nicht gesehen hat. Macht ein anderes Kind es ihm aber vor und nimmt es mit zum Mitspringen an die Hand, dann wächst bald sein Mut, und die Lust und besseres Selbstvertrauen stellen sich ein. — Bei Gutbegabten mag ein kurzer Einzelunterricht gelegentlich wahre Wunder wirken; wie ja bekannt ist, daß hier und da ein anregender Gedanke wie ein Geistesblitz gewirkt und einen weiten Horizont erhellt hat, so daß überaus fmchtbare Entdeckungen sich an die empfangene Anregung anschlossen und schöpferischen Verstand wirk­ samst belebten. Bei Schwachbegabten dagegen mag Blitzlicht gelegent­ lich auch wirken; aber eine Dauerwirkung übt es nicht aus, sondern er­ schreckt höchstens und blendet — und oft stellt sich tiefere Finsternis als vorher darnach ein. Deshalb ist zu Einzelunterricht und -erziehung nicht zu raten — weil hier jede Frucht nur ganz langsam zur Reife kommt. So erscheint es denn als eine wohltätige Fügung des Geschicks,

daß in den allermeisten Fällen ganz minderwertiger Begabung die Verhältnisse den Einzelunterricht von vomherein ausjchließen. Und wenn hier und da Eltern aus irgendeinem Grunde (aus Vomrteil, falscher Scham, Eigenliebe oder ähnlichem) sich gegen die Einreihung ihrer Kinder in eine kleinere Gemeinschaft verwandter Geistesarmer sträuben und sich selbst die Einzelunterweisung, deren Schwierigkeit

sie durchaus unterschätzen, Vorbehalten, so verschulden sie in den meisten Fällen, daß ihre Sorgenkinder in den Zustand völliger Nichtigkeit ver­ sinken. Aber freilich, immer wieder ist zu betonen, daß es sich stets nur

90 um eine kleinere Gemeinschaft handeln darf, da nur diese einerseits die Berücksichtigung der Individualität ohne Hervorbringung beschränktester Einseitigkeit und die Erweckung eines gewissen Gemeinsinns, andererseits aber auch eine gewisse Schaffens- und Genußfreudigkeit, die Erziehung zu werktätiger Liebe und die durchaus notwendige Hebung

des Selbstvertrauens einigermaßen verbürgen.

Wenn I. Trüper (der

bekannte Direktor der Anstalt ans der Sophienhöhe bei Jena) in der Zeitschrift „Kinderfehler" unter dem Titel: „Ein geistig schwacher, aber sittlich begabter Knabe" die Entwicklungsgeschichte eines solchen Kindes

in einem warm entworfenen Bilde darstellt und daran gewisse Nutz­ anwendungen knüpft, so habe ich wenigstens den Eindruck gewonnen,

daß gewisse sehr erfreuliche Erscheinungen der erwähnten sittlichen Begabung kaum zutage getreten wären, wenn nicht die Erziehung in einer kleineren Gemeinschaft den entscheidenden Antrieb zu entsprechender Betätigung geboten hätte. Gerade wer n „Erziehen" heißt: „die pro­

duktiver: Kräfte des Menschen wecken und pflegen", so bedeutet das doch nicht, ihm nur zum Bewußtsein zu bringen, daß er für sich da ist, denn dafür sorgt das „Ich", der dunkle Despot, schon ganz von selbst;

wohl aber, daß er für die Welt da sei und die Welt für ihn. Dazu ge­ langt aber der Schwächerbegabte, dem in der Regel die Phantasie

gar nicht oder nur überaus knapp zugemessen ist — beim auch sie gehört zur Begabung — nur wenn er tunlichst bald in eine Gemeinschaft ge­ stellt wird, die er übersehen kann, oder wenn das zuviel verlangt wäre,

nach und nach kennen lernen kann.

So wird er nach und nach bereit,

auch für diese Gemeinschaft etwas zu tun, und ihr Tun auch für sich in Anspruch zu nehmen; so wird er nach und nach fähig, Werte zu schaffen, die sich vielleicht nicht in Geldbeträgen festsetzen lassen, aber doch ihm selbst und der kleinen Gemeinschaft, in welcher er steht und die für ihn

zunächst die Welt bedeutet, Nutzen bringen.

So wird er nach und nach

gewöhnt, auch in einem weiteren Kreise sich einzufügen und dort nach Kräften nützlich zu werden und zu dienen und so mit seinen größeren Zwecken selbst zu wachsen. Der Starke mag, wie Teil sagt, am mäch­

tigsten allein sein; der Schwache aber, der selbst kein Ganzes werden kann, schließt am besten an ein Ganzes sich an und läßt durch dieses

Ganze seine Kräfte erwecken und Pflegen, was bei einer Isolierung unmöglich ist, da dort niemand ist, der, wenn die eigenen Kräfte nicht zureichen, helfend, ergänzend, ersetzend eintreten würde.

Ein Hinweis

91 auf die zumal in neuerer Zeit allgemein erkannte Bedeutung eines

Zusammenschlusses zu größeren Gemeinschaften dürfte eine weitere Begründung für dieses Eingliedern der Schwachen zunächst in eine

kleinere Gemeinschaft entbehrlich erscheinen lassen, nachdem schon nach­ gewiesen ist, daß nur in den allerseltensten Fällen eine Einzelunter-

iveisung auch materiell möglich wäre. Die Maßnahmen der Körperschaften, denen die Fürsorge für die Heranbildung ihres Nachwuchses obliegt, haben deshalb, wie schon bei

der Betrachtung der Sonderanstalten für Nichtvollsinnige und ander­ weitig Gehemmte festgestellt wurde, auch entsprechenden Erwägungen für die Zurückgebliebenen und Geistigbeschränkten Rechnung getragen

oder wenigstens Rechnung zu tragen versucht. Bestimmend waren für sic selbstredend — abgesehen von den verfügbaren materiellen Mitteln —

ebenso gewisse Anschauungen über beit Zeitpunkt, wann solche Sonder­ hilfe (d. h. von welcher Altersstufe an) sie eintreten solle und könne; welche Zahl hierbei zu berücksichtigeu sei; welcher Grad geistiger Be­ schränktheit oder sonstiger Hemmnisse der Leistungsfähigkeit für die llberweisung in solche Veranstaltungen unabweisbar sei — und endlich

ob nach Art der Beschränkung verschiedenartige Einrichtungen sich emp­ fehlen. Daß nicht sofort und überall alle bezeichneten Momente als berücksichtigungswert und entscheidend anerkannt wurden, ist um so erklärlicher, als sogar die Schulaufsichtsbehörden entsprechenden An­ regungen gegenüber sehr große Zurückhaltung beobachteten und als auch bei den Lehrenden selbst sowohl hinsichtlich der Notwendigkeit wie der Zweckmäßigkeit der Einrichtungen recht abweichende Auffassungen sich geltend machten, besonders weil auch die Jdiotenaustalten eine Zeitlang beides in Abrede gestellt hatten. Schließlich überwand doch der — in allen Schulgattungen maßgebende — Gedanke einer sehr weit­ gehenden Differenzierung (d. h. einer sehr weitgehenden Scheidung

nach Anlagen, Kräften, Denkweise, Leistungswilligkeit, Alter und sonstigen äußeren Momenten) alle Schwierigkeiten, und wenn auch örtliche und persönliche Verhältnisse Einrichtungen mit unterscheidenden Merkmalen erstehen ließen: der allen gemeinsame Standpunkt war der der Rettung, Erhaltung, Ausbildung und Pflege jeder, auch der schwäch­

sten Kraft im allgemeinen und im Einzelinteresse. — Die auf Grund solcher Erwägungen geschaffenen Förderungsgelegenheiten für zurück­ gebliebene oder wenigstens zunächst in den Abteilungen der allgemeinen

92

Schule nicht ausreichend vorwärts zu bringende Kinder lassen sich etwa folgendermaßen klassifizieren: a) Zog man in Betracht, daß nach einiger Zeit besonderer Behand­ lung die Einreihung in die Hauptklassen doch vielleicht möglich werden

werde, so half man sich — besonders in den Grundklassen — mit einer Anzahl wöchentlicher Nachhilfestunden und vermehrte diese Zahl ent­ sprechend je nach dem Grade des Zurückgebliebenseins. Einrichtungen dieser Art dürften an vielen Orten teils freiwillig von Lehrenden, die

ihren Stolz darein setzten, möglichst alle ihre Schüler versetzungsfähig zu machen, teils auf Anordnung der Behörden getroffen worden sein, zumal wenn Hemmnisse irgendwelcher Art den Prozentsatz der Zurück­ bleibenden ungebührlich in die Höhe zu schnellen drohten oder diese Wirkung schon ausgeübt hatten. Die betreffenden Kinder nahmen daun wohl an dem allgemeinen Unterricht ebenfalls teil oder waren nur für gewisse Stunden von dieser Teilnahme befreit. Unterblieb die Befreiung, so bestand die Gefahr einer Überbürdung der sowieso Geistig-Gehemmten

und damit auch des Mißlingens solcher Versuche. Gute Dienste konnten sie aber leisten, wenn es sich vielleicht nur um ein Unterrichtsfach (Lesen und Schreiben oder Rechnen) rmd vielleicht um Artikulation handelte. Jedenfalls durften solche Extralektionen sich nicht über einen zu langen Zeitraum erstrecken. In dieser Form traten also die betreffenden Kinder aus ihrer Klassengemeinschaft in der Regel nicht aus. b) Eine andere Form — die sogenannten Nebenklassen — wurde für die Berliner Gemeindeschulen etwa im Jahre 1898 (vielleicht auch schon etwas früher) zur Geltung gebracht. Der Bericht der Berliner Schuldeputatton über das Jahr 1898/99 sagt darüber folgendes, nachdem

mitgeteilt ist, daß im Oktober 1898 solcher Nebenklassen 22 mit 267 Kin­ dern bestanden hatten und für April 1899 noch weitere 18 eröffnet werden sollten: „Eine beträchtliche Anzahl von Städten hat den menschen­ freundlichen Zweck durch besondere Schulen (Hilfsschulen) zu erreichen

versucht. Diesen Weg haben wir aus zwei Gründen nicht betreten; erstens würden in Berlin die Schulwege zu weit werden, zweitens aber würde man mit der endgültigen Überweisung in solche Hilfsschulen dem Kinde den Stempel der Minderwertigkeit für alle Zeiten und oft voreilig aufdrücken.

Wir ver­

folgen den Plan, das Kind als Gemeindeschüler zu behalten, es in wenig besetzten Nebenklassen zur Entwicklung zu bringen und sobald

93

als

möglich

in

zurückzuführen.

die

Gemeinschaft

der

Übrigen

Indem wir den Nebenunterricht mit den Kin-

betn der untersten Klasse anfangen, beabsichtigen wir allmählich und je nach der Beschaffenheit der Zöglinge auf die unterste Nebenklasse eine höhere aufzusetzen und so sortzufahren, aber immer mit der Absicht, den Nebenunterricht sobald als tunlich durch den regulären zu ersetzen." Demgemäß werden die in den Nebenunterricht aufgenommenen Kinder zu

Gruppen von höchstens 12 Kindern vereinigt, welche von einem Lehrer unterrichtet werden können. Die Gruppierung geschieht auf Zeit und mit Rücksicht auf die Befähigung der Kinder und die Lage der Schulen. Die Gmppe gilt als eine Klasse der Gemeindeschule. Der Nebenunter­ richt umfaßt in der Regel durchschnittlich zwei Stunden am Tage und

erstreckt sich auf Religion, Deutsch, Schreiben und Rechnen, in geeig­ neten Fällen auch auf Handfertigkeiten, insbesondere Handarbeiten für Mädchen. Außerdem nehmen die Kinder der Nebenklassen unter Um­ ständen an einzelnen Stunden der Gemeindeschule teil, wie z. B. am Zeichnen, Tumen und Singen. Am Schlüsse jedes Halbjahres wird über die Kinder ein Bericht des Lehrers an den Schulinspektor erstattet mit der Außemng darüber, ob die Kinder dem Hauptunterrichte zuge­

führt werden können. Der Schulinspektor selbst hat dann, nötigenfalls nach eigener Beobachtung, die Entscheidung zu fällen. Bei der

Verschiedenheit der Zöglinge können für den Lehrplan nur gewisse allgemeine Regeln aufgestellt werden; dem Urteile des Lehrers muß ein weiter Spielraum bleiben. Sie haben denselben auch mit gutem Erfolge benutzt. Insbesondere zeigt sich nach dem Berichte, daß die mangelhafte Entwicklung mancher Zöglinge nicht auf ihre Begabung, sondern auf die Vernachlässigung ihrer Erzie­ hung zurückzuführen ist. Bei diesen tritt dann auch der Erfolg der individuellen Behandlung am ehesten hervor. Die Wirkung dieser Maßnahme ist dann in einem anderen amtlichen Schriftstücke („Die Gemeindeschule mit acht Klassen" vom Geh. Regiemngsrat Stadtschulrat Dr. Bertram-Berlin, Mai 1899) dahin gekenn­

zeichnet, daß in Kap. III: „Die erforderliche Absonderung ungeeigneter

Elemente von der allgemeinen Volksschule" ausgeführt ist: „Me die Ein­ richtung der Nebenklassen die Schwachen zeitweilig oder für das ganze schulpflichtige Alter von der regelrechten Schule abtrennt, ohne sie in der

94 vollen Sorgfalt zurückzusetzen und ohne ihre Gemeinschaft mit den glück­ licheren Altersgenossen völlig zu lösen, ist kürzlich sestgestellt." Im weiteren wird dann die Schwierigkeit der Einrichtungen für Verwahrloste

und Gefährdete erörtert und die Notwendigkeit unbedingter Absonde­ rung derselben betont, wenn auch zurzeit die gesetzlichen Handhaben

hierfür fehlen. — Inwieweit dann Berlin diese Einrichtungen fortge­ führt und ausgebaut hat, entzieht sich der diesseitigen Kenntnis;' be­ merkenswert aber ist, daß die ursprüngliche Absicht, die Ausgesonderten sobald als möglich in die Gemeinschaft der Übrigen zurückzuführen,

sehr bald der Einsicht wich,daß es auch eine ziemliche Anzahl geben

werde, die für das ganze schulpflichtige Alter in den Nebenklassen würden bleiben müssen, ein Umstand, der der wohlwollenden Absicht, den betreffenden Kindern den Stempel der Minderwertigkeit fernzuhalten, etwas Abbmch tut, im übrigen

aber zeigt, daß es in Berlin, wie vorher und nachher auch anderwärts, nötig erschien, dieser Wohlfahrtseinrichtung ein Schönheitspflästerchen auf­ zukleben, um nicht von vornherein vor ihrer Benutzung abzuschrecken*), c) Ehe ich zu namens- und sonstig-verwandten Einrichtungen anderer Städte übergehe, die aber in gewissen Einzelheiten charakte­ ristische Abweichungen zur Geltung bringen, sei einer Einrichtung

gedacht, die in Elberfeld auf Gmnd eines Gutachtens des Verfassers ♦) Daß das Richterlichen des vollen Schulziels in fast allen Orten Preußens stets einen recht erheblichen Prozentsatz aufweist, läßt sich schon deshalb annehmen, daß selbst da, wo in möglichst ausgiebiger Weise für Kontrolle des Schulbesuchs usw.,

also für möglichst günstige Schulverhältnisse gesorgt wird, doch in der Regel.etwa ein Drittel der Kinder nicht bis in die Oberklasse (I) gelangen konnte, und daß selbst von denen, welche sie erreichten, immer noch ein Teil sich nicht des vollen Schulziels

rühmen konnte.

Da eben von Berliner Einrichtungen gesprochen ist, so sei hier eine

Zahlenangabe aus dem Jahre 1899 (entnommen der „Deutschen Schulzeitung"

vom Januar 1901) aus Berlin wiedergegeben. Aus den damals 231 Berliner Ge­ meindeschulen sind im Laufe des Schuljahrs 19 913 Kinder entlassen worden. Die­ selben verteilen sich auf die Klassen I: 12 255 = 62 %;

II:

5119 = 25%:

III:

1997 = 10 %;

IV:

504 = 23/10 % ;

Diese Zahlen beweisen, daß in Berlin rund 2 7, % — nach 8jähriger Schulzeit aus

den drei untersten Klassen zur Entlassung gekommen sind.

95 (Beschluß der Schuldeputation vom 10. Januar 1882) über die Zahl der Unterrichtsstufen und Klassen der städtischen Volksschulen ins Leben gerufen wurde und bis etwa 1894 sich erhalten konnte, dann aber aus

demselben Grunde von der Bildfläche verschwand, der die unmittelbare Angliedemng der Nebenklasse zur Folge gehabt hatte.

Ich meine die

sogenannten Abschlußklassen. Sie entsprangen seinerzeit der Erwägung, daß es den Schulen nicht zur Ehre gereichen könne, alljährlich eine er« hebliche Anzahl von Schülern aus der Schulpflicht entlassen zu müssen, die trotz ihres die Entlassung begründenden Alters nur einen sehr beschämenden Wissensstand aufweisen könnten; daß es aber auch die Schüler selbst schwer schädige, wenn sie aus einer Unterrichtsstufe, die ihnen einen gewissen Abschluß der Volksschulbildung durchaus nicht gewährleisten könne, ins Leben treten müßten. Es könne sich, wie es

in der Einfühmngsverfügung hieß, „weniger um eine systematisch« vollständige, als um eine die Bedürfnisse des praktischen Lebens besonders berücksichtigende Stoffauswahl und Lehrmethode handeln, die zuerst das Notwendige, dann das Nützliche und, wenn Zeit übrig bleibt, auch noch dies und jenes Angenehme in ihren Bereich zieht. So würde also

die Aufgabe der Abschlußklassen darin bestehen, daß im Anschluß an das durch die Mittelklassen der sechsstufigen Volksschulen vermittelte Wissen und Können, den an Jahren schon vorgeschrittenen Kindern ein weiteres Wissen und Können vermittelt würde, welches die für die Verwertung im praktischen Leben unbedingt notwendigen Lehrstoffe und Fertig­ keiten in erster Linie berüch'ichtigte". Für die Auswahl der Lehrstoffe

und deren Behandlung sollten dann als Gesichtspunkte gelten: im Vordergründe stehe überall das praktische und das ethische Interesse und die Rücksicht auf den demnächstigen Eintritt in einen Lebensberuf; weggelassen werde alles, was nur um der systematischen Vollständigkeit willen behandelt werden könnte, aber nicht unmittelbaren Einfluß auf die Erlangung der nötigsten Kenntnisse und Fertigkeiten besäße; durch­ genommen wird wenig, aber das Durchgenommene so eingehend be­ handelt und so ausgiebig geübt und benützt, daß auch die schwächer

beanlagten Schüler einen zwar kleinen, aber sicher erworbenen Schatz von Kenntnissen und Erfahmngen bezüglicher Art aufweisen könnten. — Da die Schichale dieses Versuchs oben angedeutet sind, sollen sie hier nicht aus­ führlicher geschildert werden; um des möglichen Mißbrauchs willen, wurde eine nicht übel bewährte Gnrichtung aus vorwiegend sozialpolitischem

96 Grunde (die Abschlußklassisten gelten als Soldaten zweiter Klasse) geopfert.

Erfreulicherweise erlebt sie neuerdings zwar keine formelle Auferstehung, aber doch eine Ehrenrettung in den Maßnahmen, die sich jetzt aus den Erfahmngen an den Lehrplänen der achtstufigen Berliner Volksschulen her­

ausgebildet haben und zweifellos ergaben, „daß ein sehr bedeutender Bruchteil der Berliner Gemeindeschulkinder die erste Klasse nicht erreicht, und daß in vielen Fällen dies nicht durch die Kinder verschuldet wird." d) Wenn der ebengeschilderten Einrichtung vorgeworfen werden kann, daß sie nur die höheren Schuljahre berücksichtige, nicht aber die ersten, so ist das zwar nicht zu bestreiten, aber andererseits auch nicht, daß

die den älteren Schülern zu leistende Hilfe einen Aufschub viel schlechter

verträgt als die ganz jungen Anfängern zu leistende, zumal es den letz­ teren doch nicht ohne weiteres anzusehen ist (und oft selbst binnen Jahres­ frist der Lehrende nicht herauskennen kann), ob der und jener sich selbst werde vorwärts bringen können oder ob er sofort besonderer Hilfe bedarf. Denn der Übergang aus der Hauserziehung in die Schulerziehung be­ deutet für viele Kinder nicht nur einen recht empfindlichen Klimawechsel, sondem ein Eingewöhnen in Verhältnisse, das dem bisher an der Mutter­

hand wandelnden Kinde vorkommt wie ein Berstoßenwerden in ein Land, welches nicht seine Sprache spricht. Hier braucht das „Stramm, stramm, stramm — Alles über einen Kamm!" noch gar nicht Tages­ gebrauch zu sein; aber wohl jeder Lehrende wird Kinder kennen gelernt haben, deren Mund und Herz wer weiß wie lange verschlossen erscheint, ehe beides sich endlich einmal erschließt. — Kein Einsichtiger wird sich trotz alledem den Vorteilen gegenüber ablehnend verhalten, welche darin liegen können, wenn die Sonderhilfe in der Schule möglichst früh be­ ginnen kann. Es ist deshalb durchaus zu verstehen, daß zumal in der Welt der Lehrenden Einrichtungen, wie sie seit sechs bis acht Jahren in Mannheim bestehen und auch anderwärts Eingang gefunden haben, lobende Würdigung, mindestens aber eingehende Erwägung gefunden haben. Was dort im Gange ist, lasse ich am besten in einer Anmerkung*) *) Thema: „Welche Folgerungen ergeben sich aus der seelischen Verschiedenheit

der Kinder für die Art ihrer Gruppierung im Unterricht der Volksschule?“ Gehalten am

16. Juni 1905 in Elberfeld. Leitsätze:

1. Die geistige Förderungsfähigkeit der Schulkinder gleicher Altersstufe ist aus physiologischen, psychologischen, pathologischen «nd sozialen Gründen außerordentlich verschieden.

97 im Wortlaute gewisser Leitsätze eines Vortrags des dortigen Stadt-

schulrats Dr. Sickinger folgen: sie zeigen, wie eine recht früh beginnende und möglichst weitgehende Differenziemng der Schüler für alle Teile, die normalbegabten, die gehemmten und zurückgebliebenen, und auch

die recht schwachen, erhebliche Vorteile im Gefolge hat, denen gegenüber der Einwand, daß auch die weitestgehende Differenziemng dem Einzel­

bedürfnisse nicht völlig genügen kann, zwar eine gewisse Berechtigung haben, aber sie dennoch nicht ganz ableugnen kann.

schwache

Denn selbst ganz

Klassen (Abteilungen, die diesen Namen eben noch

2. Die Unterrichtsergebnisse der Volksschule, die in ihrer Annahme, gleiches Alter bedinge gleiche Erziehungsfähigkeit und gleiche Erziehungsbedürftigkeit, bisher

für alle Schüler ein und denselben Unterrichtsgang vorgesehen hat, bringen diese Verschiedenheit der Förderungssähigkeit zu sichtbarem Ausdruck, insofern sich erfah­

rungsgemäß die Schüler der gleichen Altersstufe hinsichtlich ihrer tatsächlichen Fort­ schritte im Schulunterricht in folgende drei Kategorien scheiden:

a) Besser befähigte Schüler, welche die vorgesehenen Klassenstufen regelmäßig zu durchlaufen vermögen. b) Minder Befähigte und durch äußere Ursachen (wie Krankheit, Zuzug) im regelmäßigen Aufrücken behinderte Schüler, die infolgedessen mit einer trümmerhaften und deshalb unzulänglichen Schulbildung ins berufliche

Leben treten. c) Krankhaft schwach befähigte Schüler, die ihre 8 jährige Schulpflicht auf den untersten Klassenstusen beschließen. 3. Die der obligatorischen Volksschule zugrunde liegende Forderung „gleiches

Recht für alle" verlangt aber gebieterisch, daß allen Kindern eine ihrer individuellen Leistungsfähigkeit entsprechende planvolle und zugleich intensive Förderung zuteil werde. 4. Zu diesem Behufe muß zu der bisherigen Differenzierung des Unterrichts­

betriebs durch die Höhengliederuug des Schulkörpers (nach Jahresstufen) auch eine

Differenzierung des Unterrichtsbetriebs in der Breitengliederung (innerhalb der Parallelabteilungen der einzelnen Klassen) hinzutreten.

5. Entsprechend den oben angegebenen drei Kategorien von Schülern der gleichen

Altersstufe, sind in der Breitengliederung des Schulkörpers zum mindesten drei nach Unterrichtsbedingungen verschieden geartete Ausbildungsmöglichkeiten (Unterrichts­

abteilungen) vorzusehen, wobei nach dem pädagogisch-hygienischen Grundsatz zu verfchren ist: „Je ungünstiger die physische und psychische Beschaffenheit des Erziehungs­

objektes ist, desto günstiger müssen die Unterrichtsbedingungen gestaltet sein." 6. Ms erster Versuch, die geforderte Psychologisierung der Unterrichtsarbeit imerhalb eines großen Schulkörpers konsequent durchzuführen, ist die Dreigliederung

der Mannheimer Volksschule in Hauptklassen, Förderklassen und Hilssklassen zu be­

trachten. Boodstetn, Erziehungsarbeit.

7

98 verdienen) bieten dem reinen Einzelunterricht gegenüber immer noch

manche Vorteile, da sie w e n i g e r a b st u m p f e n d wirken als jene.

Wie stark solche Klassen sein müßten, bestimmen zu wollen, erscheint kleinmeisterlich und unangebracht; jedenfalls dürften sie nicht zu

heterogene Elemente umfassen, Arbeit noch mehr belasten würde.

weil das die sowieso schwere

Auch der Name der Klassen, ob

Sonder-, Förder-, Spezial-, Nebenklassen oder Klasse a, b, c ist gleichgültig und dient nur als Aushängeschild,

welches nicht abschrecken darf. — Als einen Beitrag zur Frage der Organisation und zur Orientierung über diesen

Erhöhungs­

versuch der Leistungsfähigkeit unserer Volksschulen ver­ weise ich auf ein kleines Druckschriftchen von Dr Oskar Schumann: Freibergs Nebenklassen und Mannheims Sonderklassen (Leipzig, Druck

Hervorgehoben mag hierbei noch werden, daß die Einrichtung solcher Sonderklassen verschiedener

und Verlag von Julius Klinkhardt 1905).

Absicht sich nur in ganz großen Schulorganisationen so durchführen

läßt, daß der Zusammenhang mit der Hauptschule völlig gewahrt, uud so den Ablehnungen mancher Eltern begegnet wird, welche mit der Einweisung ihrer Kinder nicht einverstanden sind, weil diesen anderen­ falls, auch nach außen hin, das Gepräge der Minderwertigkeit auf­ gedrückt werde. Bei kleinen Schulsystemen (Dörpfeld z. B. empfahl besonders vierklassige) läßt sich der Zusammenhang in der Regel nicht beibehalten, weil die Zahl der gesondert zu unterweisenden Kinder in der Regel selbst zur Bildung nur einer Hilfsklasse kaum ausreichen

oder aber eine solche Menge von Abteilungen nötig machen würde, daß die Arbeit übermäßig erschwert würde. In solchen Fällen müßten sich schon mehrere Systeme vereinigen, oder aber die Hilfsbereitschaft

der Lehrenden müßte sich mit der Opferwilligkeit der Schulgemeinde verbinden, um die kleine Schar der Notleidenden durch Sonderarbeit dennoch bestmöglich zu fördern. — Aus dem Erwähnten dürfte sich

ergeben, daß alle solche Sondereinrichtungen für Minderbefähigte Sie sind aber noch

Wohlfahrtsbemühungen bedeutsamer Art sind.

mehr. Wenn von berufener Seite als Ziel unseres Jahrhunderts die Herbeiführung einer allgemeinen Volksbildung bezeichnet und damit gefordert wird, daß allen Gliedern des Volks der Zugang zu einer Bildung eröffnet werde, die den Charakter einer einheitlichen und volks­ tümlichen Geisteskultur trage, so kann damit nicht gemeint sein, daß

99 alle Teile eine Gleichheit der Bildung, die nach Quantität und Qualität

sich nicht unterschiede, aufweisen müßten. Das ist bei der schon wiederholt erwähnten unendlichen Mannigfaltigkeit der den einzelnen innewohnen­

den Kraft und der den einzelnen gebotenen Gelegenheiten schlechterdings unmöglich. Aber wenn versucht wird, auch den minderbefähigten Gliedern

der Volksgemeinschaft eine gewisse Einsicht in die Grundverhältnisse

des menschlichen Daseins zu vermitteln, sie in einfachster Weise mit

ihrem Verhältnisse zu Gott, zu der sie umgebenden Natur und den neben ihnen lebenden Menschen, und endlich zu sich selbst bekannt zu machen; wenn dafür mit Formen und einem Inhalte gearbeitet wird, die ihnen zugängig und erfaßbar sind oder es wenigstens nach und nach

werden können, so wird ihnen damit etwas gegeben, was sie in der Reihe der anderen erhält und was sie befähigt, auch an ihrem Teile zur Lösung der allen gestellten Aufgabe beizutragen. Wie wenig oder wie viel das sei, darauf kommt es nicht an; besteuert wird ja jeder nur nach

Vermögen, und unvernünftig wäre es, dem Schwachen eine Zentnerlast aufzupacken. Aber wenn er nur die Hand angelegt hat an das allge­ meine Werk; wenn er sich nur willig erwiesen hat, seinen Dienst gleichfalls

zu leisten — und die Schule hat ihm die Hauptzüge dieser Verhältnisse näher gebracht, so daß er sich dem einstigen in diese Verhältnisse nicht entzieht, so hat sie zur Verpflanzung dieser Geisteskultur auch in minderstuchtbares Land anerkennenswert beigetragen.

VIII. Einrichtungen für geistig noch tiefer stehende junge Menschen. Das schon früher erwähnte Wort: „Der beste Lehrer gibt seine Wissenschaft nur halb; wenn ihm der Schüler nicht auf halbem Wege entgegen kommt, ist des Lehrers Arbeit mehr oder weniger vergeblich gewesen" — gibt wohl eine ausreichende Erklärung dafür ab, daß die Versuche, auf geistig besonders tief stehende Menschen einzuwirken, selten ausgenommen, meist aber sehr bald wieder aufgegeben wurden.

Wenn gewisse Naturvölker solche Tiefstehenden völlig absonderten, manchmal für sie zwar mit sorgten, manchmal, aber auch sie völlig ihrem 7*

100 Schicksal überließen, so haben auch die Kulturvölker Jahrhunderte hin­ durch sich ihrer Angehörigen dieser Art meist nur leiblich angenommen, an eine geistige Hebung aber meist gar nicht gedacht, weil sie die Ur­

sachen des Tiefstandes oft in Einflüssen sahen, die außerhalb der Be-

falleuen lägen und durch menschliche Kräfte nicht zu bewältigen wären. So ließ man denn oft die Dinge sich entwickeln, wie sie wollten; half sich so gut man konnte, teils durch Duldung; bei schwereren Ubelständen aber ost mit sehr kräftigen Mitteln. An den Versuch, die Leidenden zu heben und ihre Kräfte irgendwie zu entwickeln, gingen nur einzelne,

meist nur getrieben durch persönliches, nicht aber durch allgemeines

Interesse. Boten gelegentlich Klöster oder mildtätige Stiftungen diesen Armen am Geiste auch ein Asyl (vergl. Scheffels Eckehart), pflegten sie wohl auch und hielten sie wohl auch zu gewissen Leistungen an, so wurde doch in der Regel über das „Vegetierenlassen" derselben nicht weit hinausgegangen. — Änderungen in der Beurteilung und

Behandlung des Zustandes sind erst eine Frucht der modernen und

besonders der ärztlichen Wissenschaft. Solches hier genauer nachzuweisen, würde zu weit vom eigentlichen Ziele abführen. Im übrigen könnte ich nur wiederholen, was in Darstellungen der Geschichte der Medizin überhaupt, genauer in derjenigen der Jrrenpflege — denn zu den Irren wurden die Schwachsinnigen lange Zeit hindurch gerechnet — berichtet ist. Ich beschränke mich deshalb auf einen Hinweis auf Ab­

schnitt I der Einleitung zu Di W. Weygandts schon einmal angeführtem

Werk: „Die Behandlung idiotischer,unb imbeziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung." Würzburg 1900, A. Stubers Verlag.

Unter „Historisches" ist dort auf wenigen Seiten einiges recht Drastische über den Standpunkt früherer Zeit mitgeteilt. Eigentliche Heilversuche

scheint erst der berühmte Hallische Arzt Dr Reil (Werk: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethoden auf die Geistes­ zerrüttung. Halle 1803) vorgeschlagen zu haben, Vorschläge, die sich im weiteren nur als Besserungsversuche herausstellten. Endlich vom

Beginne der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurden durch Guggenmoos (Salzburg), Haldenwang und Di Kern (Leipzig, erst

Lehrer, dann auch Arzt) wirkliche Anstalten ins Leben gerufen und damit die modernen Behandlungsweisen des angeborenen Schwachsinns an­ gebahnt. Seit jener Zeit gewinnen die Bestrebungen zur Rettung der Schwachsinnigen immer weitere Ausbreitung. Vorbilder aber wurden

101 für die Ausgestaltung zweckgemäßer Anstalten die durch Dr Guggenbnhl ins Leben gerufene Kretinenanstalt auf dem Abendberge (bei Interlaken in der Schweiz) und dann das Asyl für Kretinen im Süden der Stadt Paris, in Bicetre, wo man zuerst eigene Schulen (also nicht bloß Pflege­ stätten) begründete und wo feit 1837 Dr Eduard Seguin seine segens­ reiche Arbeit an allerlei Arten von Idioten begann und betrieb. Die späteren Anstalten — einige 70 ihrer Art gibt es in Deutschland — sind diesen Vorbildern in ihren Grundzügen gefolgt. Die Vereinigung von Pfleglingen erheblichster Verschiedenheit (also der Voll-, Halb­ idioten und leichter Belasteten) erschwerte nicht nur das Rettungswerk, sondern vereitelte oft wirklichen Erfolg, wie jede unvollendete, nur halbgetane, abgebrochene Arbeit im wesentlichen vergeblich ist. Indes der Notstand ließ zunächst eine Sortierung der Pfleglinge nicht zu: wie ja auch manche Krankenhäuser als Sammelstätten für die ver­ schiedensten Leiden dienen müssen, so daß der leitende Arzt in allen Sätteln gerecht sein muß — so mußte, besonders im Anfang, als die Anstalten noch überaus dünn gesät waren, jede für die allerverschiedensten Bedürfnisse geistiger und auch leiblicher Nöte zu sorgen suchen, für alle Hilfe versprechen, was zu leisten doch nicht möglich war. An diesem „Vielverheißen" ging Guggenbühl kläglich zugrunde, weil er Uner­ füllbares angeboten und Heilerfolge für sich in Anspruch nahm, die solchen Namen nicht verdienten. Jedenfalls hatte er eine überaus wichtige Auregung gegeben; ihrem vielseitigen Ausbau indessen, der notwendigen Teilung der Arbeit und zwar nach den sehr verschiedenen Graden der Belastung sich in der Behandlung zu richten, war er nicht gewachsen. (Vergl. Sengelmann, Systematisches Lehrbuch S. 69—76.) Beweist nun der Hinweis aus den Umfang der angezogenen Mitteilungen schon deutlich, daß das gute Beispiel eine sehr erfreuliche Werbekraft ausgeübt, immer mehr Anregung zur Eröffnung neuer Anstalten gegeben und auch zur Gewinnung immer neuer Pfleger mitgewirkt hat, so muß der Wahrheit gemäß doch berichtet werden, daß in den ersten 50 Jahren die Entwicklung sich sehr langsam vollzog, fast durchweg von privater Seite ausging, und daß trotz der von einzelnen Regierungen verordneten statistischen Erhebungen, die ein nichts weniger als günstiges Bild von der Lage der Sache und die Zahl der geistig Tiefstehenden herausstellten, sich bei den Staatsbehörden zunächst mehr ein rein platonisches als ein tatkräftiges Interesse bekundete.

102

Ganz ergreifend klingt noch 1857 (also mehr als 20 Jahre nach der Eröffnung der Abendberger Anstalt) der Not- und Hilferuf von Pastor

Dißelhoff an die deutsche Nation (Verlag von Adolf Marcus, Bonn 1857): „Die gegenwärtige Lage der Kretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern." Dieser Not- und Hilfemf ergeht zugunsten der Verlassensten unter den Elenden, erwähnt (S. 168) was zugunsten

der Taubstummen geschehen sei und fragt nun: „Sind denn der Blöden weniger? oder ist ihr Elend geringer als das der Taubstummen? Wamm

kann und will denn der Staat nicht auch für die Blöden rettende Ver­ ordnungen treffen?

Wamm nicht den Provinzen diese Vergessenen

mit gebieterischem Emste ans Herz legen?" Abgesehen von diesem Ab­

seitsstehen der Staatsregiemngen, welche anderen die Initiative über­

ließen, kam auch noch etwas anderes hinzu, was gleichfalls zu erwägen und zu bessern war, wenn wirklich geholfen, gerettet werden sollte, was zu retten war: In der Hast des Helfenwollens wurden alle Geistig­

armen in einen Topf geworfen, in eine Anstalt getan, einer Behandlung unterworfen — und damit teilweise auch der Hoffnung beraubt, gerade

die Hilfe zu erfahren, die ihrem Zustande not tat. Hier hätte sofort eine Scheidung in Aussicht genommen werden müssen, was freilich nicht

immer leicht ist. Denn — neben äußeren Umständen — haben leichtere und schwerere Fälle gemeinsame Kennzeichen.

Hinzutrat, daß die aus

Privatmitteln unterhaltenen Anstalten auch recht erhebliche Kosten ver­

ursachen, wenn Gebäude, Gelände, Zöglingsbeköstigung gesundheitlich beschaffen und auch die Besoldung des Pflegepersonals gedeckt werden muß. So mußten besonders die zahlenden Pfleglinge festgehalten

werden, und eine Trennung der Anstalt in mehrere Abteilungen war oft nicht möglich. Immerhin kam die Sache selbst, bei der meist wirklich

ideal gesinnten Leitung, die persönliche Opfer nicht scheute, schließlich doch vorwärts.

Und wenn irgendwo eine ideale Stellungnahme zur

Sache am Platze ist, so ist das hier der Fall wie bei allen Unternehmungen,

die der inneren Mssion zuzurechnen sind. Wie aber diese — ob im kirchlichen oder im pädagogischen Sinne ausgeübt — ohne reichliche

materielle Mittel ihren oft vielseitigen Pflichten und Wohltaten nicht gerecht werden kann, so traf das hier zu, wo Staaten und Gemeinden

sich die Fürsorge für die Armen am Geiste wohl gefallen lassen, aber nichts dazu beitragen wollten.

reift langsam.

Also galt auch hier wieder: Großes

Sollte nicht durch Berfrühung des Besseren das Gute

103 selbst in Frage gestellt werden, so mußte der weitere Ausbau mit aller

Vorsicht vorbereitet und gefördert werden; Schwierigkeiten persönlicher

und sachlicherArt waren viele zu überwinden, denn Patienten unserer s?srt sind nicht immer bequeme Kostgänger. Überdies verlangten die Verhältnisse eine durch die Schwere der Fälle zur Pflicht gemachte Reihenfolge, so daß zuerst a) die Voll-, sodann b) die Halbidioten (b. h.

solche, die eine Reihe von Eindrücken in sich aufnehmen und auch im Gedächtnis bewahren können); und zuletzt c) noch gewisse Imbezille, Geistesschwache von Erregbarkeit zu versorgen waren.

Die Erregbarkeit

der letzteren macht wegen der Unberechenbarkeit ihrer Handlungsweise,

ihres häufigen Stimmungswechsels und ihrer Unfähigkeit, sich in dauern­ den Verhältnissen zurechtzufinden, daß sie steter Überwachung bedürfen.

Daß diese drei Kategorien, deren e r st e sich im wesentlichen ganz un­ tätig zeigt, selbst durch leibliche Bedürfnisse sich nicht aus ihrem Be­

harrungszustande bringe« läßt, sich selbst fast nur als dritte Person

ausfaßt, also das „i ch" und das „d u" kaum kennt, in ihren ganz gelegentlichen Handlungen einen geistigen Zusammenhang nicht

erkennen, ja fast nicht einmal vermuten läßt; während die zweite

zwar zur Tätigkeit angeregt werden kann und dieselbe auch ausübt,

aber ohne eigetltliche Urteilsfähigkeit, und deshalb — wie wiederholt

sich gezeigt hat — sogar sich zum Werkzeug für Verbrechen oder

sonst

bedenkliche

Handlungen anstiften läßt —

und die oben schon gekennzeichnete dritte —, am allerbesten in geschlossenen

Anstalten gehalten werden, wird einer Begründung nicht bedürfen, da

sie ohne unablässige Fürsorge und Aufsicht bald eine Gefahr für sich selbst, bald eine solche für andere bedeuten.

Angesichts dessen mußte

zuerst für sie gesorgt werden — und daß Jdiotenanstalten in der Reihen­

folge der bezüglichen Einrichtungen die ersten und ältesten Versorgungs­ gelegenheiten bildeten, ist eine Wirkung der immer mehr sich verbreitendetl Einsicht, daß „Vorbeugen besser ist als Heilen" oder wie ein englischer

Spruch es ausdrückt: „prevention is better than eure." Schon die Notwendigkeit, die eben bezeichneten drei Gruppen der

Geistesschwachen, die oft auch ärztlich geradezu als Kranke bezeichnet werden, zu ihrer eigenen, gelegentlich auch zur Sicherung ihrer Umgebung in Anstalten unterzubringen und sie so dem Zusammenhänge mit den

Ihrigen nach Möglichkeit zu entziehen, scheidet sie von denjenigen, die im Kreise der Familie ganz unbedenklich verbleiben können. Wie aber

104 jene im eigenen Interesse ebensowohl wie in demjenigen der Allgemeinheit in Anstalten angeleitet werden, die in ihnen etwa vorhan­ denen, aber latenten Kräfte noch möglichst nutzbar zu mache«; so be­

dürfen auch die anderen, selbst wenn ihre geistigen Kräfte nicht viel

höher stehen als die der zweiten und dritten Gruppe, doch auch folge­ richtiger Anregung und Anleitung, welche in der Regel selbst bei einer Einzelbehandlung nicht gegeben werden kann. Für ihren Eintritt aber in eine Schulgemeinschaft stehen wenigstens äußerliche Hinderungsgründe nicht im Wege. Es werden solche deshalb, bevor die Beschaffenheit ihres geistigen Unvermögens sich deutlich ergeben hat, manchmal sogar

zunächst den allgemeinen Schulen zugeführt, bis sich freilich nach einiger Zeit herausstellt, daß ihr dauerndes Verbleiben für sie selbst ganz oder nahezu ganz unfruchtbar, für ihre Mitschüler aber geradezu hemmend, ja schädlich sei oder sein werde. Wenn trotzdem manche Eltern aus zwar erklärlichen, aber doch unberechtigten Gründen der Entlassung ihrer Kinder aus einem schlechterdings so ganz ungeeigneten Verhältnisse widersprechen und so der Schule, die doch eine Erziehungsanstalt ist, zumuten, für ihre Kinder lediglich eine Art von Bewahranstalt zu sein, so bleibt der Verwaltung in der Regel nur übrig, im allseitigen Interesse die Ausscheidung derjenigen Elemente zu veranlassen, die nicht nur mit ihren Genossen nicht gleichen Schritt halten, sondern sogar das bescheidenste Mindestmaß in Kenntnissen und Fertigkeiten wenigstens

in der allgemeinen Schule nicht erreichen können, zumal da eine nur vorübergehende Zuweisung in Neben- oder Spezialklassen voraussichtlich sich lediglich als Zeit- und Kraftvergeudung erweisen dürfte. Leider fehlt es den Verwaltungen noch vielfältig an einer gesetzlichen Handhabe für die bedingte oder unbedingte Ausscheidung solcher Kinder aus der Volksschule, derselbe Mangel, der ja leider auch sich der Zurückweisung jugendlicher Verbrecher bisweilen entgegenstellt. Es ist deshalb er­ klärlich, daß in den Verhandlungen der Freunde der Hilfsschulen die Fordemng nach Herstellung einer festen gesetzlichen Handhabe immer wieder laut wird. Natürlich wäre mit einer lediglich negativen Handhabe nicht der Sache, besonders aber auch den armen Kindern nicht gedient. Positive Hilfe könnte eben nur die Schaffung besonderer Unterrichts­ und Erziehungsgelegenheiten für Kinder entsprechender Beschaffenheit bringen; eine Aufgabe, der sich aber bisher nur vereinzelte Staats­

verwaltungen unterzogen haben, während allerdings eine immer größere

105

Anzahl von Stadtgemeindcn der sozialen und moralischen Notwendigkeit Rechnung getragen haben. (Der bezüglichen Statistik soll später gedacht werden; fürs erste dürfte ein Hinweis ausreichen auf eine Eingabe, welche im Jahre 1895 die Kommission für Schulgesundheitspflege der

Stadt Nürnberg an den dortigen Magistrat gerichtet hat, die in einem von Herrn Dt Paul Schubert herausgegebenen Berichte sDruck von I. L. Stich, Nürnberg. 15 Seitens mitgeteilt ist. Aus diesem Berichte,

dessen Angaben die allerweiteste Verbreitung verdienten, weil sie neben

ausgezeichneter Begründung gesonderter Schulen für Schwachsinnige auch noch Mitteilungen und Anregungen über anderweitige Wohlfahrts­ einrichtungen für bedürftige Schulkinder enthalten und z. B. auch die

Bedeutung ausreichenden Schulunterrichts für die sittliche Haltung der Menschen ziffermäßig beleuchten, sei hier nur ein ziemlich am Ende der Eingabe fS. 15] befindliche Feststellung wiedergegeben, die für sich

selbstspricht. Sielautet: „Aber die Erfolge dieserSchulen sind alle Höch st erfreulich und der weitaus größte Teil ihrer Besucher erweist sich nach Besuch der­ selben als erwerbsfähig. Ziffermäßige Nachweise darüber enthält (die sehr umfangreiche, deshalb hier nicht aufgenommenes Beilage I jenes Berichts, und daraus erhellt, daß von den Besuchern der Hilfsschulen in Dresden, Halberstadt, Kassel und Hannover sämtliche, in Braunschweigund Krefeld ............................. 90%

in Köln .............................................. 87% in Düsseldorf........................................................ 80%

in Aachen von 22Schülern............................... 15 „ .............................. 4 in Elberfeld*) und Gera die meisten sich als erwerbsfähig erwiesen, eine Tatsache, welche diesen Schulen die größte Sympathie weiter Kreise sichert, und die namentlich auch in Bremen von 6

die Ursache bilbet, daß die Einführung derartiger Schulen seitens jener Kommunen, welche solche Anstalt bereits besitzen, auch anderen Städten

ausnahmslos wärmstens empfohlen wird.") Mit diesen Feststellungen gelangen wir wieder zu unserem Ausgangspunkte, der sozialpolitischen Bedeutung der Schaffung solcher Bildungsgelegenheiten und zwar durch *) Über Elberfeld vgl. die Denkschrift von 1901, S. 18.

106 die Gemeinden, welche auch an erster Stelle insofern die Früchte solcher Einrichtungen zu ernten in der Lage sind, weil mit dem Steigen der

Anzahl der Erwerbsfähigen ganz eng zusammenhängt das Sinken der Zahl der durch Armeuunterstützung zu Unterhaltenden. Es ist deshalb eine — bei einer Gelegenheit voll einem Freunde der Hilfsschulen gemachte — Bemerkung nicht ganz unbe­

gründet, daß unter den scheinbar unproduktiven Ausgaben diejenigell für Hilfsschulen durchaus nicht als die u n p r o d u k t i v st e n anzusehen seien.

Die Möglichkeit der Errichtung solcher Klassen oder Schulen dürfte ziemlich überall gegeben sein, weil ja unter einer Schülerzahl von mehreren

hundert Kindern sich immer solche befinden werden, welche zwar noch bildungsfähig, aber in ihrer geistigen Entwicklung doch soweit gehemmt erscheinen, daß ihnen mit vorübergeheilden Hilfen nicht dauernd gedient wird. Immerhin erscheint es aber gewagt,, auch nur annährend einen Prozentsatz solcher Hilfsbedürftigen aufzustellen, da ja augenfällige

äußere Merkmale den etwa Hierhergehörigen meist fehlen und selbst sehr ähnliche Verhältnisse örtlicher und persönlicher Art sichere Zahlen­ schlüsse nicht gestatten.

Auch der gelegentliche Hinweis darauf, daß

Großstädte — wegen der Nervosität ihrer Kinder und wegen der bei ihren Einwohnern häufiger zutage tretenden Seelenstörungen — ein größeres Kontingent solcher Kinder liefern müßten, ist schlechterdings nicht zu erweisen, wie ja auch die gelegentlich von Lehrenden aufgestellte Behauptung, daß Großstadtkinder an Anschauungen ärmer find in solcher Allgemeinheit nicht aufrechtzuhalten ist. Daß aber in größeren Orten mit zahlreicher Bevölkerung nicht bloß Schülermaterial in ausreichender Menge zur Bildung von Klassen und im weiteren sogar von ganzen

Systemen allermeist vorhanden sein wird, ist durch die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre vollauf bestätigt. Kann man ja deshalb auch kleinen Orten, in denen das Bedürfnis hervortritt, die Errichtung ent­

sprechender Hilfsklassen anraten und wünschen, so ist doch auch nicht zu verhehlen, daß die Arbeit in etwa nur einer einzigen oder höchstens in zwei Klassen — wegen der hier sich ergebenden, oft sehr zahlreichen

Abteilungen — gewissen Schwierigkeiten begegnet, die bei stärker

gegliederten Systemen sich weniger fühlbar machen dürften. Unüber­ windlich sind diese Schwierigkeiten allerdings nicht, wie ja gelegentlich auch einklassige Volksschulen vorzügliche Leistungen ausweisen können und

107 wegen des längeren Verbleibens der Kinder in einer Hand erziehlich oft ganz ausgezeichnet wirksam sind.

Es hängt in solchen Fällen eben

sehr viel von der Persönlichkeit des Lehrenden und von seinem Geschick,

die Selbstbeschäftigung und Selbstzucht der Kinder bestmöglich zu or­ ganisieren. Denn wenn auch Ruhepausen gerade für unsere Kinder durchaus nötig sind, so sind doch solche im wesentlichen mehr im

Wechsel der Arbeit und der Stimmung der Kinder (Mar­ schieren im Freien, Singen, Spielen, Freiübungen) einzurichten, als im bloßen Ruhen und Hindämmernlassen, weil die vielfach sehr passive Natur unserer Kinder zu letzterem übermäßig neigt. Aber vorteilhafter' auch für die Kinder ist jedenfalls eine Schulorganisation, welche das Berücksichtigen der Alters- und Entwicklungsstufen und Grenzen nicht zu sehr erschwert. Der Vorteil des längeren Verbleibens der Kinder in einer Hand ist auch da ganz gut möglich, sei es in dem Mtaufrücken-

lassen der Lehrenden mit der ganzen Klasse oder wenigstens der oberen

Abteilung oder wenigstens der Zuweisung einiger Stunden in dem oder jenem erzieherisch-wichtigen Fache. Immerhin ist es gut, wenn auch in kleineren Gemeinden das Mögliche geschieht, uni auch denjenigen gerecht zu werden, welche nicht imstande sind, mit größeren Scharen Tritt zu halten; sind eigene Klassen für sie nicht zu erschwingen, dann muß man eben suchen, ihnen anderweitig zu helfen; Handhaben hierfür sind ja weiter oben angedeutet. Die Hauptschwierigkeit unserer Schularbeit liegt aber nicht in diesen mehr oder weniger günstigen Fragen der äußeren Organisation, sondern in dem Schülermaterial, welches unsere Schulen aufzunehmcn genötigt sind. Wollten wir die Anwärter unserer Schulen je nach dem Haupt­ anlaß für ihr geistiges Manko in Gruppen teilen, so würden wir finden, daß neben allerlei körperlichen und geistigen Schwächen abweichender Art auch soziale und sogar sittliche — aus der Umgebung der Kinder und den Gewohnheiten der Angehörigen entspringende — Verhältnisse eine gewisse Schuld tragen, und damit für die Schulen gewisse Aufgaben erwachsen, deren Bewältigung oder Lösung manche Mittel beanspruchen, die nur zum kleinen Teil im Bereiche des Schulunterrichts und der

Schulerziehung liegen können, für welche also besondere Einrichtungen zu erstreben wären. Aber es galt nicht nur besondere Einrichtungen zu treffen, sondern

auch neue Bahnen ausfindig zu machen, da es der neuen Schulgattung (die

108 Elberfelder Hilfsschule*) ist meines Wisseils die erste und älteste ihrer Art im preußischen Staate) nicht nur au jeder Tradition fehlte, sondern

der Lehrgebrauch der allgemeinen Schule an manchen Stellen gründlich versagt hatte. Solche neue Bahnen schienen aber Anstalten weisen zu können, welche ihr Liebeswerk an anderweitig körperlich oder geistig defekten Schülern mit gewissem Erfolge schon eine Zeitlang ausgeübt

hatten.

Denn wenn wir die uns angebotenen Schüler genauer beob­

achteten, so fanden wir vielfältig bald einen Zusammenhang der körper­

lichen und der Sinnesbeschaffenheit, der sozialen und der sittlichen Hauseinflüsse mit gewissen Erscheinungen der geistigen Schwäche — und es lag nahe, daß wir uns bei den Anstalten für Idioten, für Nicht-

vollsinnige, für Krüppel und dergleichen mehr umsahen und herum­ An­

horchten, und aus ihren Erfahrungen Nutzen zu ziehen suchten.

stalten dieser Art waren älteren Datums und hatten oft, trotz der bei

ihren Zöglingen vorhandenen Mängeln viel stärkeren Grades, mit ganz erfreulichen Erfolgen arbeiten können. Daß dort Anregungen zu holen seien, lag nahe. Besonders die Jdiotenanstalten, die nicht bloß Bildungs­ unfähige beherbergten, konnten in gewissem Sinne zu Vorbildern dienen.

Durch die Taubstummenanstalten wurde nahegelegt, einmal die Art des Artikulationsunterrichts bei Kindern mit Sprachgebrechen (deren recht viele zur Anmeldung gelangen) kennen zu lernen, sodann auch den

Hörstummen, die wohl hörten, aber nicht sprachen, nach und nach den Mund zu öffnen, endlich auch den Schwerhörigen zu dienen, bei denen

Anleitung zum Absehen des Gesprochenen am Platze war.

Beschränkter,

doch für die Ausbildung des Tastsinnes nicht ohne Wert waren An­

regungen, die uns die Anstalten für Blinde zu gewähren vermochten, wenn wir Hochgradig-Schwachsichtige, denen gegenüber die Hilfe des Augenarztes nicht voll zur Geltung kommen konnte, weil die äußerste Schonung des Gesichtsorganes geboten schien, um die ganz geringen

Reste des Sehvermögens überhaupt zu erhalten, auf die Hilfe der Tast­ organe praktisch hinzuweisen hatten. — Die Hauptarbeit mußte aber

die Schule selbst erproben — und sie probt auch bis jetzt noch immer weiter, oft genug auch gefördert durch Feststellungen der experimentellen Psychologie, wenn auch diese Feststellungen, als in der Regel auf Einzel­

beobachtungen beruhend, nicht von vornherein allgemeine Geltung

*) Hilfsklassen soll es schon früher, z. B. in Halle a. S., gegeben haben.

109

beanspruchen dürfen und erst durch vorsichtige Praxis auf ihre Verwert­ barkeit anzusehen sein werden. So erfüllen unsere Schulen nach mancher

Richtung

auch einen alten Wunsch Pestalozzis („Keine einzige der

Erforschung der Erziehungskunst geweihte Anstalt ist vorhanden", sagt er sSeyfarth, Werke Pestalozzis, IV., S. 256.]) nach Versuchs- und Übungs­

schulen, und werden so zu Werkstätten der fortschreitenden pädagogischen Wissenschaft, weil gerade sie vermöge ihrer schwachbesetzten Abteilungen und Klassen, wegen ihres langsamen Vorwärtsschreitens und möglichst

individuell gehaltenen Beobachtens die Gewähr bieten, daß einer War­ nung Pestalozzis Rechnung getragen werde, solche Versuche „nicht zu schnell als Staatssache allgemein zu machen".

So sind denn den Hilfsschulen neben ihrem Dienst der Liebe an Schwachbegabten noch eine ganze Anzahl allgemein interessierender Aufgaben gestellt, und angesichts dieser, recht vielseitigen Pflichten

erscheint nicht nur das Suchen nach immer mehr Mitarbeitern in unserem Weinberg, nach gemeinsamen Beratungen und Erfahrungsaustauschen mit Mitstrebenden, und endlich die Beschreibung der ange ­ wandten Methoden in Zeitschriften oder besonderen Werken, sowie in besonderen Jnformationskursen durchaus erklärlich und berechtigt.

Den Entwicklungsgang dieser Kinderforschung schildert in kurzen Strichen Direktor I. Trüper-Jena in seiner Begrüßungsansprache der VI. Ver­

sammlung des Vereins für Kindersorschung am 14.—16. Oktober 1904. Der Zusammenhang der Kinderforschung gerade mit unserer Schulgattung ergebe sich daraus, daß „wie der Sozialismus im wirtschaftlichen und politischen Leben nur mit Durchschnittsleistungen ziffermäßig rechne, so auch Schule und Unterricht nicht selten nur mit einer Durch­ schnittsseele, einer Normalseele rechne, bei der das Hervorragende wie das Minderwertige zu kurz komme". „Der Verein für Kinderforschung aber sei aus einem rein praktischen Bedürfnisse hervorgegangen." „Biele von denen, die an der Erziehung namentlich

der abnorsnen Jugend arbeiteten, fänden die Pädagogik und die päda­ gogische Psychologie (an den Universitäten fast noch weniger ausgiebig vertreten wie an den Lehrerseminarien) für unzulänglich, um damit

irgend einen sichern pädagogischen Schritt tun zu können. Die von Jena ausgegangenen Ferienkurse an der Universität haben sich zuerst dieser Sache angenommen und zum Teil auf Anregung

von Herrn Trüper zuerst Vorlesungen über physiologische Psychologie

110 und über psychologische Pathologie veranstaltet." „Daraus habe sich dann der Verein und sodann auch die „Zeitschrift für Kinderforschung"

aufgebaut und entwickelt."

Es ist also hier gegangen, wie auch ander­

wärts im Leben: solange der Fortgang und die Entwicklung eines Zu­ standes ungestört und ohne Zwischenfälle verläuft, hält man ihn für etwas

von der Natur Gegebenes und Geregeltes; treten aber Störungen und Hemmungen zutage, so forscht man nach den Ursachen und sucht

sie abzustellen oder wenigstens zu mildern. Mit anderen Worten: „Das seinem Urspmnge nach Erste ist in der Regel für unsere Erkenntnis das Letzte", oder auf unseren Fall angewendet: nachdem die Erfahrung das

Vorhandensein abnormer Geisteszustände bei vielen Menschen festgestellt, aber eine genügende Sicherheit in ihrer Beurteilung und Behandlung nicht zu finden vermocht hatte, suchte man die Anlässe dazu zu erkennen

und die Mttel zu ihrer Behebung zu begründen und zu erproben. So war es also naturgemäß, daß zunächst eine Isolierung der

Geistig-Abnormen stattfand; daß sodann Versuche gemacht wurden, dem Übel mit landläufigen oder den Erscheinungen möglichst angepaßten Mitteln beizukommen, und, als das doch nur gelegentlich gelingen

wollte, die Natur der Erscheinungen zu erkennen und mit Hilfe dieser Erkenntnis der Gründe der Erscheinungen nach Mitteln zu suchen, die

die bedauerlichen Wirkungen möglichst abschwächten oder beseitigten. In diesem Stadium befinden wir uns zurzeit noch. Eine Entwicklungsgeschichte der Hilfsschulen zu geben, wie sie nach und nach entstanden sind und im einzelnen Gestalt gewonnen haben, würde zu weit führen, auch außer dem Bereich der Möglichkeit liegen, da alljährlich neue Schulen entstehen oder sich ausbauen. Überdies

reicht ja wohl der versuchte Nachweis der Entwicklung des allen Anstalten für geistig oder körperlich Gehemmte zugrunde liegenden Gedankens zum nächsten Zurechtfinden aus.

Wer ziffermäßig die Verbreitung

solcher Anstalten kennen lernen will, der sehe sich die in amtlichen Nach­ richten oder in den Fachzeitschriften abgedruckten Statistiken an; sie

dürften ebenso von den Vorständen der Verbandsvereine wie von den Zentralverwaltungen des staatlichen Unterrichts leicht zu erhalten sein. Aber die Dankbarkeit gebietet es, hier wenigstens auf die Pioniere hinzuweisen, die, sei es als Einzelpersonen, sei es als Behörden, sich um

die Belebung des Gedankens verdient gemacht haben. im folgenden Abschnitt.

Das geschieht

111

IX. Einiges Tatsächliche über die Entstehung, Wetterführung und dann den ?lusbau des Hilfsschul­ gedankens. In einem seiner Briefe aus dem Jahre 1816 schreibt Goethe:

„Was in der Luft ist und was die Zeit fordert, das kann in hundert

Köpfen auf einmal entspringen, ohne daß einer es dem anderen abborgt. Aber hier wollen wir halt machen, denn es ist mit dem Streit über Pri­ orität wie über Legitimität: es ist niemand früher und rechtmäßiger, als wer sich erhalten kann." Dies Wort fiel mir ein, als ich es für an­ gezeigt erachtete, meinem Büchlein auch einige Bemerkungen über die

Entwicklung des Hilfsschulgedankens einzufügen. Daß die Regung, demjenigen zu helfen, der sich selbst nicht helfen kann, eine uralte ist, und in jedes rechten Menschen Herzen entstehen muß, der in geordneter

Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben gewillt ist, bedarf keines Beweises. „Brich dem Hungrigen dein Brot", predigt schon der Prophet Jesaias (ft. 98, B. 7) und verkündigt im weiteren demjenigen, der also tut, daß sein Licht in Finsternis aufgehen und sein Dunkel sein werde wie Mittag." Und was dieser Evangelist des alten Bundes als von „des Herrn Mund Gesagtes" (V. 14) bezeichnet, das wird später zum größte» Gebote der christlichen Welt und verheißt denen, die geistig arm sind, daß sie Gott schauen werden. Aber freilich, die Erfüllung dieses Gebots war nicht so leicht; und es vergingen viele Jahrhunderte, ehe neben der Darbietung des leiblichen Brotes auch die Notwendigkeit der Darbietung geistigen Brotes sich Bahn brach. Besonders das Wie? dieser Darbietung geistigen Brotes an die Armen im Geiste schien an der Unfähigkeit zur Aufnahme seitens der letzteren scheitern zu sollen; wenigstens wurde vielfältig dies Versagtsein der Aufnahmefähigkeit

— in welcher Form sie auch auftrat — als ein Schicksalsspruch angesehen, gegen welchen anzukämpfen für hoffnungslos galt. Doch die Stimme des Gewissens in der Brust des Menschen ge­ stattete nicht das völlige Überhören des Gebots der Nächstenliebe — und so versuchten wirkliche Menschenfreunde da, wo die durch die Natur geschaffenen Türen — die Sinne, das Gefühl, der Verstand — den Dienst zu versagen schienen, andere Pforten aufzutun, durch welche geistige Nahrung, Licht und Lebensbetätigung einziehen konnte. Der Weg,

112 den die Versuche zu, helfen einschlugen, fing an verschiedenen Stellen an, bald bei denen, welche als die unglücklichsten, ärmsten erschienen, bald wieder bei denen, wo sie am ersten Erfolg versprachen; Wegweiser waren aber zunächst immer nur einzelne, die des Volkes jammerte

oder denen Besonders-Hilfsbedürftige besonders nahegetreten waren. So sind es denn zunächst einzelne gewesen, die sich der Nichtvoll­ sinnigen, der Idioten, der Krüppel, der Fallsüchtigen annahmen und ihr Heil natürlich zuerst an einzelnen versuchten.

Gleichgültig ist es, ob ihre

Versuche hervorgingen aus dringender Notlage, oder aus irgendeinem Mtzlichkeitsgrunde, oder aus dem idealen Triebe erbarmender Nächsten­ liebe.

Vielen aber von diesen Pionieren ist es ergangen wie dem Klop-

stockschen ersten Eisläufer: Begraben ist in ewiger Nacht der Erfinder

großer Name zu oft!

Ist aber auch des ersten Säemanns vergessen

worden; wenn aus dem Samenkern sich Keime, Blüten, Früchte ent­ wickelten — so haben diese Spuren des Erfolges neue Pfadfinder willig gemacht, diesen Spuren nachzugehen, sie zu vertiefen und zu erweitern — und die Heilsbotschaft immer weiteren Kreisen zu verkündigen, damit nach und nach größeren Gruppen und schließlich der ganzen Klasse der Hilfsbedürftigen Hilfe, ausgiebige Hilfe gebracht werden könne. Was der einzelne Helfer dann aus eigener Kraft Neues hinzutat, und ob und wie sich das Neue bewährte oder besseren Mitteln Platz machen

mußte; ob füglich größere oder kleinere Gemeinschaften sich der Be­ strebungen annahmen, das hier ausführlich darzutun hat keinen Zweck und mag dem Spezialforscher vorbehalten bleiben, der sich der Ehren­

rettung der einzelnen Hauptmitarbeiter anzunehmen für bemfen fühlt. Uns kommt es nur darauf an, festzustellen, daß dergleichen auch für unsere Sache in der Luft lag, daß die Zeit sie forderte, daß manches Hundert von Köpfen sich ihrer nach und nach annahm — und daß füglich die Priorität und die Legitimität viel weniger in Betracht kommt, als

daß die ganze Sache sich erhält und ihren Schützlingen Nutzen bringt. Halten wir daran fest, daß vorstehender — ganz allgemein ge­ schilderter Entwicklungsgang das Naturgemäße ist und für ziemlich alles Neuauftretende (Idee, Erfindung, Gestaltung) im wesentlichen gilt; denn nichts Neues bricht sofort sich Bahn und beseitigt sosort das Bishergeltende; sondern alles Neue verschafft sich meist nur ganz langsam

Eingang.

Das trifft auch für das Schulwesen und besonders auch für

dessen Unterabteilung: die Hilfsschule zu; letzteres besonders auch um

113

deswillen, weil in der Geistesbeschaffenheit der jungen Erdenbürger,

welche der Hilfsschule zugewiefen werden müßten, eine Aussicht auf raschen Erfolg durchaus nicht verbürgt ist. So hat es, obwohl die Schul­ pflicht aller, nachdem sie zum Gesetz erhoben worden war, auch den Schwächerbeanlagten das Recht auf Beschulung und angemessene Versorgung durch Unterricht und Erziehung verleihen und gewährleisten mußte, doch lange genug gedauert, ehe man sich zu — vielleicht nicht sehr aussichtsreichen — Maßnahmen entschloß. Bemerkenswert aber ist es jedenfalls und auch erklärlich, daß in dieser Hinsicht die Schweiz

mit ihren kleinen Staatsgebilden und dann noch eine Anzahl von deut­

schen Städten zuerst entsprechende Versuche machte und so vielen großen Staatswesen den Vorrang ablief. Erklärlich ist aber auch, weshalb die großen Staaten sich im Hintertreffen halten: ihre etwaigen Ver­ suche haben eine ungleich größere Bedeutung und weiterreichende Wirkung; etwaige Fehlschläge aber sind entsprechend viel schwerer wieder gutzumachen. Überdies wird ja vielleicht auch gmndsätzlich das Aus­

probieren von Steuerungen lieber den kleineren Gemeinwesen: Ge­ meinden, Kreisen, Provinzen überlassen, wie solches bisher für die Nichtvollsinnigen-, Irren-, Besserungsanstalten usw. gegolten hat. Angesichts dieser im wesentlichen zuwartenden Stellung der

Staaten ist die Herstellung einer Statistik, selbst nur für Preußen, — und eine Statistik dürfte mit ihren Zahlen die Werbekraft des Gedankens der Hilfsschulen am bündigsten dartun — nicht ganz leicht'und viel­ leicht, wenigstens soweit sie bis auf die Anfänge zurückreicht, nicht ganz

zuverlässig, da, selbst wenn die Sache schon lange in der Luft lag und vielleicht sogar 100 Köpfe zugleich beschäftigte, diese letzteren doch nicht miteinander in Verbindung standen, vielleicht gar nicht einmal von­

einander etwas wußten. Nach und nach trat aber doch das Bedürfnis, sich zu verbinden und voneinander etwas zu hören und wohl auch zu lernen, bei den Hauptinteressenten, den Lehrem und Pflegern unserer Schulgattung, mehr und mehr hervor; und so wurde das preußische Rheinland die Stätte, welche den ersten Verband dieser Hauptinteressen­ ten entstehen sah. Die Hilfsschulen der Städte Aachen, Köln, Krefeld, Düsseldorf, Elberfeld und Essen hatten sich 1885 zum erstenmal in Elber­ feld zum erwähnten Zwecke vereinigt und beschlossen, wenn möglich

alljährlich bald hier bald dort solche Zusammenkünfte zu wiederholen. Wenn sich solches schließlich auch nicht durchführen ließ, weil die zunächst voodsteln, Erziehungsarbeit.

8

114 für zweckfördernd erachtete Beibehaltung einer Verbindung mit den

Konferenzen für Jdiotenpflege und später mit dem großen Verbände der Hilfsschulen Deutschlands, welcher, 1897 gegründet, im April 1898

seine erste Tagung in Hannover abhielt und seitdem alle zwei Jahre

seine Versammlungen wiederholt hat, sich schon um der Kosten willen und dann auch aus inneren Gründen (die behandelten Gegenstände und die Vorträge, deren Leitsätze oder Wortlaut den Verbandsmitgliedern meist später gedmckt zugehen, lassen sich gelesen auch nutzbar machen)

vielfältig verbot, so hatte doch die persönliche Berührung und Aussprache mit Gleichstrebenden so anregend gewirkt, daß, wie ich hörte, neuerdings der rheinische Provinzialverband sein Fortbestehn ins Auge gefaßt hat, zumal es sich mit geringem Geld- und Zeitaufwand bewirken lassen dürste. Daß aber größere Verbände nach außen hin zur Verbreitung des Gedankens sehr viel beizutragen vermochten, läßt sich aus einigen Zahlen dartun. Als Ende September 1879 die erste preußische Hilfs­

klasse in Elberfeld eröffnet wurde, zählte sie 18 Schüler und blieb zunächst die einzige ihrer Gattung in Preußen. Ihr Beispiel wirkte

dann zunächst auf die benachbarten, oben genannten großen Städte, die 1885 schon 23 Klassen besaßen, dann aber auch noch auf weitere Kreise und zwar nicht bloß Preußens. Ein umfassenderes Bild entwickelte sich dann bei Begründung des großen Verbandes der Hilfsschulen. 1898 besaßen schon 52 Städte

Deutschlands Hilfsschulen mit etwa 200 Klassen und 4300 Kindern. Zehn Jahre später soll es in etwa 200 Städten Deutschlands etwa 900 Klassen mit 20 000 Schülern und Schülerinnen gegeben haben. Zahlen, die, wie mir ein Zweifler bemerkte, nach oben abgerundet zu sein scheinen, aber doch durch die nachfolgenden Einzelheiten bestätigt werden,

die ich in Form einer Anmerkung*) gebe, und die auf mehr oder weniger *) Die früher eine Zeitlang beobachtete Zurückhaltung der staatlichen Behörden, besonders Preußens, ist etwa seit 1892 aufgegeben worden und hat lebhafterem In­ teresse Platz gemacht. Ob hierzu ein im Juni 1892 durch Herrn Ministerialdirektor Dr. Kügler und Geheimrat Brandt der Elberfelder Hilfsschule abgestatteter Besuch dazu beigetragen habe, bleibe dahingestellt; immerhin läßt sich solches annehmen, da ein Ministerialerlaß vom 2. Januar 1905 zuerst die Zahl der Hilfsschulen im Jahre 1892 erwähnt und dann auf mehrere spätere Erlasse hinweist. Hier nur die für Preußen festgestellten Zahlen: a) 1892 gab es in Preußen 26 Anstalten mit 64 Lehrkräften und etwa 700 Kindern.

115 offiziellen Angaben beruhen. Vorausgeschickt soll nur werden, daß von

den 8 staatlichen Anstalten 4 dem Königreich Sachsen und je 1 den Großherzogtümern Hessen und Mecklenburg-Schwerin und den Herzog­

tümern Sachsen-Altenburg und Anhalt angehören. Weitere Angaben über die Hilfsschulstatistik in Preußen bezw. in Deutschland finden sich in Heft 1 der neuen Zeitschrift: „Die Hilfsschule" (Organ des Verbandes), herausgegeben am 15. Januar 1908, S. 6—8

in einem Aufsatz von Henze. Über die Verhältnisse in anderen Staaten Auskunft zu erteilen,

ist bei der Neuheit der ganzen Einrichtung, zumal nur vereinzelte Berichte und Übersichten, meistens nur Anregungen vorliegen, nicht leicht; ich werde mich daher darauf beschränken, von dem, was ich selbst darüber

gelesen habe, nur ganz kurz die Fundstätte anzugeben.

Zuerst etwas über unsere nächsten Nachbam und zwar solche, die deutsch reden: a) Über Österreich findet sich eine kurze Erwähnung zunächst in der Einleitung zum „Handbuch der Schwachsinnigenfürsorge" von Bösbauer, Miklas, Schmer, S. 2, lautend: „Alle österreichischen Kronläitber haben zusammen die Hälfte von den Schwachsinnigenklassen der Stadt Hamburg." Auf S. 116 des Buches finden sich dann noch

b) 1900 gab es in Preußen 91 Anstalten in 42 Städten mit 233 Klassen und 4728 Kindern (Erlaß vom 6. April 1901; U. III A. 2606). c) 1904 gab es in Preußen 143 Anstalten mit 498 vollbeschäftigten Lehr­ kräften, zu denen noch 31 Handarbeitslehrerinnen traten, mit 8207 Schulkindern

(Erlaß vom 2. Januar 1905; U. III A. 3204). d) Endlich im Winter 1906/7: 204 Hilfsschulen mit 623 Klassen, 665 Lehrkräften und 13102 Kindern (vgl. S. 266 des Berichts über den VI. Verbandstag der Hilfs­

schulen Deutschlands, der in Charlottenburg vom 3. bis 5. April 1907 abgehalten wurde). e) Nach dem eben erwähnten Berichte des VI. Berbandstages gab es zu der in d) erwähnten Zeit in ganz Deutschland (die preußischen sind also mileingerechnet!) 314 Hilfsschuleinrichtungen mit 801 gemischten und 120 nach Geschlechtern getrennten,

im ganzen also 921 Klassen, in denen 20151 Kinder unterrichtet wurden. f) Betreffs Deutschlands läßt sich also — gleichgiltig ob hier ausgegangen wird von der am 16. September 1867 in Dresden-Altstadt eröffneten Nachhilfsklasse mit 16 Schülern (vgl. P. Tätzner und Jul. Pruggmayer, „Die Nachhilfeschule in Dresden-

Altstadt", S. 11 ff.; Dresden, Druck von Johannes Pähler, 1901) oder von der am 20. September 1879 eröffneten Klasse in Elberfeld (Boodstein, „Die Hilfsschule in Elberfeld", S. 4 ff.; R. L. Friderichs-Elberfeld, 1901) — getrost Hinweisen auf das Gleichnis vom Senfkorn (Luk. 13, V. 19), aus dem ein großer Baum ward, unter dessen Zweigen die Vögel des Himmels wohnen.

116 einige Ortsangaben, welche feststellen, daß nur eine einzige öffentliche

Anstalt in Niederösterreich besteht. Weiter gibt es 4 Vereins-, 3 religiöse Anstalten, einige mit Siechenhäusern verbundene Jdiotenanstalten, 4 Privatinstitute und endlich in Wien, Linz, Salzburg und in Graz zusammen fünf Hilfsschulen.

Die Gesamtzahl der Verpflegten und

Unterrichteten betrug 1905 (das Buch ist 1905 erschienen) etwas über

900. Genauere Angaben über den etwa 1900 zutreffenden Stand der Jdiotenpflege in Osterreich-Ungarn machen Mitteilungen des Herrn Direktor Antensteiner-Wien, vorgetragen in der X. Konferenz, abge­ halten in Elberfeld (Sept. 1901). Diese Mitteilungen, meist Original­

berichte der zuständigen Verwaltungen, Leiter oder Lehrer, sind abgedmckt in den Verhandlungsprotokollen der Konferenz (Dresden 1901, Hofbuchhandl. von Hermann Burdach) und zwar von S. 121 bis S. 152. Sie sind um deswillen lesenswert, weil sie den ganzen Betrieb der sehr verschiedenen Anstalten darlegen, natürlich auch manchen Besonder­

heiten Rechnung tragen und dieselben begründen. Statistische Zusammen­ fassungen sind leider nicht möglich, wenn auch manchmal solche versucht werden, so z. B. S. 149 die Zahl der Idioten in Ungarn, Kroatien,

Slavonien, Fiume 17 622, ungefähr auf 1000 Menschen ein Idiot; in Budapest allein 238, auf 2000 Menschen ein Idiot. — Die Art der

Hilfskurse und ihrer Arbeit ist generell nicht gleichartig und überwiegend Privatsache. b) Ungleich günstiger liegen alle bezüglichen Verhältnisse in der Schweiz, welche meines Erachtens durchaus mit an erster Stelle steht. Eine überaus lehrreiche Darstellung einmal der Grundzüge des schweize­ rischen Erziehungswerkes für die geistesschwachen Kinder und sodann eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für dieselben mit besonderer Berücksichtigung der in den letzten Jahren erzielten Fortschritte von C. Auer bieten die Verhandlungen der V. Schweize­ rischen Konferenz für das Jdiotenwesen in St. Gallen im Juni 1905

(S. 16—50 des in der Druckerei der Glarner Nachrichten sTschudy-

Aeblys herausgekommenen Buches). Weil es sich gegenwärtig nur um Zahlen handelt, sei erwähnt, daß im März 1905 in der Schweiz

26 Erziehungs- und Pflegeanstalten für Geistesschwache mit 1011 Zög­ lingen bestanden, und daß gleichzeitig an 24 Orten 61 Spezialklassen für 1236 schwachbefähigte Kinder im Betrieb waren. Die älteste Anstalt, gegründet 1888, gegenwärtig neunklassig, befindet sich in Basel, dem

117 dann Zürich mit 12, St. Gallen mit 4 in den folgenden beiden Jahren folgten. Bem mit 5 und Genf mit 9 Klassen bestehen seit 1892 und 1898. Mustergiltig zu nennen sind die 12 Artikel des Glaubensbekenntnisses der Konferenz (S. 26), die an anderer Stelle zu bringen ich nicht unter­

lassen kann. (Bon der Intensität der bezüglichen Bestrebungen besonders in der Schweiz, aber auch von anderwärts, legt übrigens auch Zeugnis ab die Inauguraldissertation zur Erlangung der Doktorwürde in Zürich von Walther Walker sgedmckt in Solothum in der Zepfelschen Buch-

dmckerei, Herbst 1903] betitelt: „Die neuesten Bestrebungen und Erfahmngen auf dem Gebiete der Erziehung der Schwachen." Es ist ein Werk, welches mit großem Fleiß eine Fülle von allerlei brauchbarem Stoff, auch statistischer Art, zusammengetragen und geordnet hat. Da es unter der Ägide des früheren Züricher, jetzt Königsberger Professors

vr.Meumann entstanden ist, bedarf es besonderer Empfehlung nicht.) Sonstiges schätzbares Material bieten zwei Aufsätze von Direktor K. KölleRegensberg in der Bierteljahrsschrift „Eos" und im „Korrespondenz­

blatt für Gesundheitspflege in der Schweiz", und Pfarrer K. Alther in Eichberg in einer Broschüre: „Die Entwicklung der Jdiotenfürsorge im 19. Jahrhundert und ihr gegenwärtiger Anstaltsbetrieb" (St. Gallen,

Zollikofersche Buchdmckerei 1905). Die Kölleschen Aufsätze datieren aus 1906, Heft 2, und 1903, Heft 4. c) Daß in Frankreich wenigstens Bestrebungen zugunsten der Unterrichtsverhältnisse schwachsinniger Kinder im Gange sind, lehrt folgende, dem „Archiv für Volkswohlfahrt (deutscher Verlag dafür Berlin W. 30) entnommene Mitteilung: „Ein Regierungsausschuß, mit der Untersuchung der Unterrichtsverhältnisse der schwachsinnigen Kinder betraut, schätzt deren Zahl auf 20000. Medizinisch-abnorme Kinder (Idioten, Kretins, Epileptische, Hysterische, Paralytische usw.) wurden gmndsätzlich davon ausgeschlossen und lediglich solche in Betracht genommen, die infolge geistiger oder sittlicher Minderwertigkeit für die Teilnahme am allgemeinen Unterricht sich als nicht geeignet erwiesen. Infolge des Ergebnisses hat sich die Regiemng zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes über Einrichtung von Hilfsschulen veranlaßt gesehen. Zwei Arten von Fürsorgeeinrichtungen sind dafür vorgesehen: Nach­ hilfeklassen, welche "bett öffentlichen Volksschulen anzuschließen sind, und selbständige Schulen, die auch zu Jntematen und Tagesschulen

ausgebaut werden können. Aus den ersteren können Kinder, die infolge

118 schwererer Defekte sich dafür eignen (also auch körperlicher Krankheiten wegen), in die letzteren überwiesen werden. Die Trennung der Ge­ schlechter sei durchgängig streng zu beachten." Die demnach ins Auge gefaßten Maßnahmen schließen sich also im wesentlichen den anderweitig

beobachteten an. Im übrigen sei bemerkt daß entsprechende Anregungen für Frankreich schon 1889 durch Jean Cazes und 1894 durch E. Sim-

monot gegeben worden sind. d) Über die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung schwach­ sinniger Kinder in Italien hat ein Veteran unserer Schulgattung, Karl

Richter in Leipzig, in der Schröter-Wildermuthschen Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer im Juli- und im August­ heft 1901, S. 119—136, einen bemerkenswerten und zu Vergleichungen

anregenden Aufsatz veröffentlicht. Ausgehend von dem Hinweis auf die sozialpolitischen und charitativen Bestrebungen unserer Zeit über­ haupt werden dann Mitteilungen gemacht über bezügliche Bestrebungen in Italien, die allerdings meist privater Natur sind und sich etwa unter­ bringen lassen unter die Bezeichnungen: Rettungshäuser, Asylschulen (Erziehungshäuser mit Unterricht ohne Internat); Internate nur für

solche, die nicht in der Familie bleiben können; endlich Institute medi­ zinisch-pädagogischer Art gegen Bezahlung unter pekuniärer Scheidung zwischen mittellosen und bemittelten Zöglingen; eigentliche Hilfsklassen;

und zur Ausbildung der Lehrenden ein besonderes Seminar. — Etwas genauere Auskünfte werden gegeben über die bezüglichen Wohlfahrts­ einrichtungen in Rom, Florenz, Turin, Mailand, in denen im wesent­

lichen der Grundsatz befolgt wirbt „Für Schwachsinnige bedarf es

besonders physischer und moralischer Erziehung und nicht des bloßen Wir finden also auch dort im wesentlichen Auffassungen vertreten, daß mit dem eigentlichen Unterrichte stets wechseln müsse die Arbeit, sei sie landwirtschaftlich, gärtnerisch oder sonstige Handarbeit, und sodann daß der Unterricht, wenn ihm auch täglich mindestens eine Stunde gewidmet werden müsse, doch nur kurze Lektionen ansetzen Unterrichts!"

solle. Zahlenangaben statistischen Gepräges werden nicht gegeben. Die Natur dieser meist von privater Seite errichteten und unterhaltenen Anstalten ist — obwohl ihre wohltätige Absicht nicht verkannt werden darf — eine nicht ganz festgefügte, und so dürfte von manchen von ihnen

gelten, was seitens des Nationalverbandes zum Schutze schwachsinniger Kinder gelegentlich zugestanden worden ist: „Die Programme sind

119 vielversprechend; die Erfolge oft nur gering." Es geht hier ebenso wie bei manchen derartigen privaten Wohlfahrtsgestaltungen: sie ruhen

meist nm auf wenigen Augen, wenn diese sich von ihnen abwenden oder schließen, werden sie schwach oder verschwinden ganz. Hoffen wir um deswillen auch für Italien das Beste, da sich scheinbar die

Staatsbehörden der Sache anzunehmen beginnen. e) Zahlenangaben über entsprechende Einrichtungen besonders in den Vereinigten Staaten von Nordamerika vermag ich nicht zu bringen,

da mir nur ganz gelegentlich einmal Berichte über ihr Erziehungswesen (Reports of the Commissionner of education) zu Gesichte gekommen sind, aber zurzeit nicht mehr zu Gebote stehen. Zwar haben die deutschen Delegierten zu den Weltausstellungen in Chikago und St. Louis eine Anzahl von Berichten erstattet und darin auf allerlei unsererseits Nach­ zuahmendes oder wenigstens zu Erwägendes aufmerksam gemacht,

das hier in Betracht kommende Gebiet aber nur wenig gestreift. Die in englischen und amerikanischen Schulen herkömmlichen Gebräuche stehen

uns zwar nicht ganz zu Gesicht; aber die Methode, zur Selbsthilfe, Selbst­ zucht, Ausnützung von Zeit und Kraft und zu praktischer ^Betätigung anzuregen, wäre gewiß auch bei uns, besonders auch bei unfern GeistigSchwächeren nicht außer acht zu lassen und wird auch bei uns von manchen

Seiten schon versucht. Doch läßt sich unsere Gewohnheit und Natur, die auch ihr Gutes hat, nicht von heute auf morgen ändem oder ganz ablegen. Denn eins ist unserer Schulen Hauptschwäche: es wird von ihnen nicht rechtzeitig genug erkannt, daß es nicht darauf ankommt, wieviel gelehrt, sondern wieviel gelernt wird. Jenseits des Meeres hat man solches erkannt und strebt es energisch an. Etwas besser unterrichtet sind wir über englische Verhältnisse und zwar einmal durch Dr. Eychholz, Referent über heilpädagogische Bestrebungen des englischen Mnisteriums, welcher meines Wissens

zweimal an Verbandstagen bezw. Konferenzen teilnahm, und eine

Mrs. Rodes, welche auch die Elberfelder Hilfsschule besuchte und vom Unterzeichneten mit allerlei Drucksachen und sonstigem Material über die hiesigen Hilfsschulverhältnisse ausgestattet wurde. Fand der Besuch des erstgenannten Beamten erst nach Beginn des neuen Jahrhunderts statt, so der der Philanthropin schon vor etwa 9—10 Jahren. Seitdem hat sich — angesichts des früher sehr geringen Interesses der Behörden

gegenüber dem Schicksale der Geistesschwachen — ein erfreulicher Um-



120

schwung vollzogen; es haben sich Vereine zugunsten des Wohles der

Geistesschwachen gebildet und, was uns noch näher angeht, zugleich ein Hilfsschulverband, der ganz im Sinne unserer Bestrebungen zu wirken sucht und über welchen auf dem Mainzer (IV.) Verbandstage (S. 6 des gedmckten Berichts) Mitteilungen gemacht worden waren. Eingehender wurde über diese englische Nachfolge in unseren Bestrebungen in dem

Stufrufe des Verbandsvorstandes zur Herausgabe einer eigenen Zeit­ schrift Ende 1903 berichtet, und ergab sich daraus, daß in etwa 30 Städten des Landes Schulen und Interessenten unserer Richtung bestanden

und eifrig Propaganda trieben. Genaue Zahlen über das Ergebnis können indes auch hier nicht angegeben werden. f) Schließlich noch einige Mitteilungen, die einem Vortrage ent­ nommen sind, den 1901 Herr Direktor Rolsted-Kopenhagen in der großen (Idioten- und Hilfsschulen umfassenden) Konferenz zu Elberfeld ge­ halten hat, und den der gedruckte Bericht auf S. 163—175 bringt. Galt der Bericht auch hauptsächlich der „Jdiotenfürsorge in Dänemark", so erfahren wir aus ihm einmal, daß die drei nordischen Staaten und Finnland ebenfalls sich zu „Abnormschulenkongressen" zusammengetan haben, z. B. auf dem IV. Kongreß in Kopenhagen sich durch Frage­ bogen über die Ergebnisse des Abnormenunterrichts unterrichten ließen und im ganzen erfreuliche Erfolge verzeichnen konnten. Sodann zeigt aber auch in Dänemark die ganze Entwicklung dieselben Stadien wie in anderen Ländern: zuerst nur private Hilfe und Gestaltung ohne gesetz­ liche Staatsmaßnahmen, später wenigstens staatliche Beihilfe und eine gewisse Kontrolle. Angeschlossen an diese Anstalten, die ärztlicher oder geistlicher Initiative oder beiden gemeinschaftlich ihre Entstehung und Verwaltung verdanken, auch für abnorme schulpflichtige Kinder Unter­ richtsgelegenheiten, d. h. Schulheime in der Abstufung zuerst der Probe(oder Vor-)schule und dann entweder der Leseschule oder der Arbeits­ schule bieten, die Leseschule für die Bermittelung des Elementamnterrichts,

die Arbeitsschule mindestens zur Hälfte der Handfertigkeit dienend, doch

außerdem religiöse und Anschauungsunterweifung und zur gemütlichen Erheitemng auch Teilnahme am Gesang, Tanz, an der Gymnastik ge­ während. Stets ganz geringe Schülerzahl in den Klassen, nur die der Leseschule größer, d. h. durchschnittlich 12 übersteigend. Unterricht meist

von Lehrerinnen (5 Stunden täglicher Dienst) erteilt, Arbeitsunterricht und

Jnternatspflege durch besondere Pfleger. Besondere Abschnitte schildem

121

dann die Arbeits- und Pflegeheime (Asyle), in bezug auf ihre Bedeutung für die Gesellschaft; die Stellungnahme des öffentlichen Bewußtseins zu der Schule ist schwankend und bewegt sich in Wellenlinien; bei einer größeren Betonung des Arbeitsunterrichts in der Schule wird nicht nur eine Steigerung des öffentlichen Interesses, sondern auch ein Reicher­

und Hellermachen des Lebens der Kinder erhofft. — Genaueres gerade über unsere Schulgattung in Schweden konnte ich aus dem sonst lesenswerten Buche von Palmgren-Stockholm „Erziehungsfragen" (Alten­ burg, Oskar Bonde, 1904) nicht erfahren.

Daß es an solchen Gelegen­

heiten in Schweden wohl nicht fehle, dürfte sich daraus schließen lassen, daß auch Schweden an dem oben erwähnten Abnormschulenkongresse sich beteiligt hat. Doch nun genug dieses Hantierens mit Zahlen und dieses—scheinbar selbstgenügsamen — Hinweises auf andere. Es kam ja nur daraus an,

darzutun, daß die Errichtung von Bildungsgelegenheiten für geistig­ schwächere Personen eine allgemein anerkannte Notwendigkeit ist, welcher sich Kultumationen auf die Dauer nicht entziehen können, wenn auch die von den einzelnen Bölkem eingeschlagenen Richtungen aus­ einander zu gehen scheinen. Mt der Anerkennung dieser Notwendigkeit bringen alle zum Ausdruck, was der Vorsitzende der V. Schweizerischen Konferenz für Jdiotenwesen, Herr C. Auer in Schwanden, seinerzeit

allen Konferenzmitgliedern ans Herz gelegt hat: „Vernachlässigt die geistesschwachen Kinder in der Jugend nicht; verhelst ihnen zu einer liebevollen Erziehung, entwickelt ihre schwachen Kräfte, bevor die Bil­

dungsfähigkeit abnimmt; gewöhnt sie an nützliche Arbeit — und steht ihnen auch im späteren Leben hilfreich zur Seite! Damit befähigt ihr sie zu einem menschenwürdigen Dasein; ihr löst eine vaterländische Aufgabe und erfüllt zugleich eine Pflicht der christlichen Nächstenliebe!"

Nachdem das Ergebnis der Bemühungen ungezählter einzelner und vieler Vereinigungen einigermaßen dargelegt worden, geziemt es sich, dankbar auch derjenigen zu gedenken, welche die Not der Armen am Geiste zuerst allgemein bekannt gemacht und zur Beschaffung von

Hilfe aufgefordert, meist auch gangbare Wege gewiesen haben. Da aber dies Gedenken wegen der sonstigen Zwecke meines Buchs sich in engem Rahmen halten muß, so werden kurze Hinweise auf Quellen, aus denen ich selbst geschöpft habe, und gedrängte Notizen über einzelne Bahnbrecher und Anreger genügen müssen.

Denn, wie schon oben

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gesagt, wenn auch manches Problem jahrzehntelang in der Luft liegt und Hunderte von Köpfen beschäftigt, meist ist es doch nur ein einzelner,

der die richtige Formel für die Lösung findet und das rechte, das befreiende Wort spricht. Außerdem ist nicht zu vergessen, daß alle Entwicklungen, die zu brauchbaren Reformen führen sollten, nicht unvermittelt ins Leben treten, sondem aus dem Zusammenhänge mit früheren Erschei­

nungen sich nach und nach ergeben. Aus der Einzelhilfe ging man über zu Anstalten für mehrere; die gelungene Beseitigung der schreiendsten Notstände öffnete auch die Augen für Versuche, geringeren Übelständen beizukommen und abzuhelfen; war ein scheinbar ganz Hilfloser einiger­ maßen dienstfähig gemacht, so lag es nahe, auch an minder schweren

Fällen sein Heil zu versuchen. Wie man Nichtvollsinnigen eine gewisse Leistungsfähigkeit vermittelte durch gesteigerte Nutzbarmachung ihrer anderen Sinne und Organe —, sa hat man, nachdem für Kretinen, Blödsinnige, Idioten in Anstalten nicht nur zur Pflege, sondem auch

zur Erziehung und Heilung manches hatte erreicht werden können, sich auch schließlich der Geistig-Schwachen und Unbegabten anzunehmen und sie zu retten gesucht. Die augenfälligsten unter allen Geistig-Leidenden waren unzweifel­ haft die Kretinen; die Äußemngen der sie lange beobachtenden Ärzte,

daß sie „Menschen sind und doch nicht Menschen, sondem vegetierende Tiere und noch weniger als solche", und die Beschreibungen von ihnen erklären, weshalb sich das Mitleid zuallererst auf sie richtete. Ob 1816 oder 1828 schon der Salzburger Lehrer Goggenmoos, der aus Privat­ mitteln eine erste Erziehungsanstalt für Schwachsinnige errichtet hatte, auch Kretinen bei sich ausgenommen hatte, kann ich nicht feststellen. Sicher aber ist, daß Dr. Guggenbühl durch den Anblick eines betenden Kretinen zur Errichtung der Anstalt auf dem Abendberg sich hatte be­ stimmen lassen. Auf ihn und schließlich seine Fehler und Fehlerfolge

hier einzugehen hat keinen Zweck. Wer über ihn, besonders aber die weitere Entwicklung des durch ihn in Fluß gebrachten Ge­ dankens sich unterrichten will, sei hingewiesen auf ein leider vergriffenes, aber das wärmste Empfinden bekundendes Buch von Pastor Julius

Dißelhoff: „Die gegenwärtige Lage der Kretinen, Blödsinnigen, Idioten in den christlichen Ländem. Ein Not- und Hilferuf für die Verlassensten unter den Elenden an die deutsche Nation." (Bonn, Adolph Marcus, 1857.)

Aus dem Titelblatt steht außerdem: „Der Ertrag ist für eine

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noch zu gründende Anstalt für Blöde bestimmt." Der Schlußsatz (S. 170)

aber lautet: „Der allmächtige Gott aber fragt dich, mein Vaterland, und dich meine Mutter Kirche: „Wo sind deine blöden Kinder?" Wie lange noch willst du ihm antworten: „Ich weiß es nicht! Soll ich meiner Kinder Hüter sein?" Der reiche Inhalt des Buchs, das ich nur nach langem Mühen und Herumfragen erlangen konnte, gibt sehr dankens­

werte Mtteilungen über das, was in den verschiedensten Ländern in der Sache bis vor etwa 50 Jahren geschehen war, und bespricht im

XIII. (dem Schluß-)Kapitel auch Preußen mit dem Nebentitel: „Die Schuld Preußens." Das Schlußwort stellt auf: Es muß geholfen werden. Es kann geholfen werden. Und auf die Frage: Wer soll helfen? erfolgt der obenerwähnte Appell an das Vaterland und an die Kirche. Neuerdings ist von Schulrat H. E. Stötzner in seinen „Beiträgen zur Geschichte der Heilpädagogik" (die Schröter-Wildermuthsche Zeit­ schrift für 1904 bringt in Heft 3 und 4 die betr. Artikel), Dr. Guggen-

bühls „Hilfsruf aus den Alpen, zur Bekämpfung des schrecklichen Kre­ tinismus", stammend aus dem Jahre 1840 wieder abgedruckt worden. Weiteres über Guggenbühl erfahren wir aus einer Broschüre von Pfarrer

Karl Alther: „Dr. I. I. Guggenbühl (1816—1863) und die Anfänge der schweizerischen Jdiotenfürsorge." (St. Gallen, Zollikofersche Buch­

druckerei, 1905.) — Ein anderes Werk zur Orientierung ist das von Pastor H. Sengelmann Dr. (Direktor der Alsterdorfer Anstalten) herausgegebene „Syste­ matisches Lehrbuch der Jdiotenheilpflege" (Norden, Diedr. Soltau, 1885), dessen zweiter — historischer — Teil von S. 63 an bis auf S. 164 nicht nur allerlei Geschichtliches, Persönliches, die deutschen und die

auswärtigen Anstalten Betreffendes, sondern schließlich sogar auf 12 Seiten reiche Literaturangaben bringt. Im dritten praktischen Teil

des Buches interessiert uns besonders die Behandlung der Vorfragen, die etwa in folgenden Lehrsätzen gipfeln: 1. Der Idiotismus ist sich nicht selbst zu überlassen. 2. Für die Bildungsfähigen ist Heilung, für die Bildungsunfähigen Pflege die Aufgabe. 3. Weder die Pflege noch die Heilung lassen das Haus als die geeignete Stätte erscheinen. 4. Selbst

bei Unterbringung in Anstalten braucht keineswegs eine völlige Isolie­ rung gefordert zu werden. Daß wir also neben dem Schweizer Guggenbühl und den ersten Leitern der französischen Anstalt in Bicetre die Deutschen Dißelhoff

124

und Sengelmann*) als überaus bedeutende Pioniere des Hilfswerks für Geistesschwache anzusehen haben, bedarf um so weniger einer Be­

tonung, als die das Werk begründenden und vielseitig erläuternden Schriften beider nicht nur die ethische und sozialpolitische Seite hervor­ heben, sondern auch für die physiologische und psychologische Behand­ lung und die praktische Anleitung der Pfleglinge eine Fülle brauchbarer

Anregungen gewähren. Denn gerade der in den Hinweisen auf die in verschiedenen andern Ländern und in Landesteilen gemachten Ver­

suche und Gestaltungen zutage tretende Gedanke: „Willst du dich selber erkennen, so sieh wie die andern es treiben!" konnte manche fruchtbare Anregung gewähren, deren jede, und auch unsere junge Praxis bedarf. Denn den normalen Durchschnittsmenschen kann man füglich, ohne daß er zuviel Schaden nimmt, etwas nach der Schablone behandeln; bei den Geistig-Abnormen fehlt eben die Norm, und deshalb erscheint dort die peinlichste Berücksichtigung der Individualität unentbehrlich, wie auch ein berühmter Psychiater einmal aussprach: „Ich kenne keinen Idio­ tismus, sondern nur einzelneJdioten." Je verschiedenere Praktiken uns deshalb vorgeführt werden, desto eher ist es möglich, wenn kein bisheriges Rezept auf den einzelnen wirken will, es mit dem oder jenem

anderen zu versuchen. Besonders bei Sengelmann finden sich in der Entwicklungsskizze über die einzelnen deutschen Anstalten solche brauch­ baren Handhaben. Die von ihm in seinem Buche enthaltene Statistik ist von ihm wiederholt ergänzt worden, auf Gmnd eines sehr übersichtlich gehaltenen Formulars. Sein Nachfolger, Pastor Stritter, hat die Sta­ tistik bis 1902 fortgeführt und sie seinerzeit der Elberfelder Konferenz

gewidmet. (Verlag: Agentur des Rauhen Hauses, 1902.) Neben den beiden Genannten sind noch manche andere zu nennen, die sich bald theoretisch, bald praktisch; bald mit Bezug auf die allgemeine

Hygiene, bald wieder betreffs gewisser Organe; durch Aufstellung

von Grundsätzen für die Diagnose des geistigen Mankos oder für die Therapie desselben — und noch alles möglichen anderen wohl verdient gemacht haben.

Daß wir Schulmänner besonders diejenigen mit Dank

nennen, die sich z. B. wie I. Landenberger (dem Direktor Kölle-Regensberg) ein ehrendes Denkmal in der Zeitschrift gesetzt hat (Juni und *) Eine biographische Skizze von Pastor Heinrich Matthias Sengelmann ist 1896 im Verlage von Lukas Gräfe & Sillem-Hamburg durch Senior D. Behrmann herausgegeben worden.

125 Juli 1901) in gewissen Fragen über die Entwicklung der Intelligenz usw. erklärt sich von selbst. Aber ihnen allen hier eine Extrazensur zu

erteilen, würde zu weit führen.

Danken wir ihnen also im Geiste und

seien wir überzeugt, daß sie zu handeln beflissen waren, wie es der bekannte Spruch besagt: „Tu das Gute, wirf's ins Meer; sieht's nicht der

Fisch, sieht's doch der Herr"; und eines offiziellen Dankes nicht begehren

oder begehrt haben. Da aber bei allen Wohltätern von vornherein feststand, es müsse zwischen Bildungsunfähigen und Bildungsfähigen sorgfältig unter­ schieden werden, so war es nur folgerichtig, wenn man in der Unter­ scheidung der letzteren noch weiter ging und die Bemühungen bis

auf diejenigen erstreckte, die hart an der Grenze der noch einiger­ maßen Normalbegabten wohnten, aber infolge einer geistigen

Schwäche oder Regelwidrigkeit der gewöhnlichen unterrichtlichen und erziehlichen Behandlung mit Nutzen nicht mehr unterworfen werden konnten. Natürlich trat auch bei ihnen, wenn auch vielleicht in geringerem

Grade, die bei den noch bildungsfähigen Idioten gemachte Erfahrung in ihr Recht: „nur eine möglichst weitgehende Jndividualisiemng könne ihnen helfen!" Aber freilich die Einzelerziehung wäre zu kostspielig geworden; die Unterbringung in geschlossenen Anstalten war — meist

auch um ihrer Unschädlichkeit willen — nicht geboten, und die Los­ lösung von ihrer Familie wäre vielleicht geradeswegs eine Grausamkeit zu nennen gewesen, da doch die meisten Eltern für ihre Sorgenkinder

besonders viel übrig haben.

So kam man von selbst darauf, sie mit —

allerdings nur wenigen — ihrer Schicksalsgenossen in kleinen Gruppen zu vereinigen, weil dort einerseits die Möglichkeit einer gewissen Jndi­ vidualisiemng, andererseits auch die des Eingewöhnens in eine gewisse Gemeinschaft gegeben schien.

So entstanden denn die sogenannten

Hilfsschulen, welche sich in ihrer Organisation der Praxis der Anstalten für Nichtvollsinnige tunlichst anschlossen und bei mäßigen Kosten doch vielleicht zu retten vermochten, was überhaupt zu erhalten und zu retten war. — Ist die Priorität dieses Gedankens auch nicht ganz unumstößlich

zu beweisen, so entspricht es doch durchaus der Gerechtigkeit nach Goethes Votum, sie denjenigen zuzusprechen, die dem Gedanken Lebensfähigkeit

verliehen und ihn in Lebensfähigkeit erhalten haben.

126 Als Quelle für meine Kenntnis der Sache führe ich hier an das bei Johannes Päßler in Dresden 1901 gedruckte Werk: „Die Nachhilfe-

fchule zu Dresden-Altstadt nach ihrer Entstehung, ihrem Ausbaue und dem jetzt geltenden Lehrplane." Herausgegeben im Auftrage des Lehrkörpers der Schule von P. Tätzner, Direktor, und E. Jul. Pruggmayer, Oberlehrer (Gr. 8°, 88 ©.). Indem ich auf den Inhalt dieses Buches verweise, der in den ersten 11 Seiten ein Geburtsprotokoll des Gedankens wiedergibt, berichte ich aus S. 7, daß der damalige Taub­ stummenlehrer, spätere Schulrat H. Stötzner 1865 in der Pfingsten jenes Jahres in Leipzig tagenden deutschen Lehrerversammlung über das Thema: „Über Schulen für schwachbefähigte Kinder" sprach und

durch seine Ausführungen Direktiven gab, welche im wesentlichen noch jetzt die maßgebenden auf diesem Gebiete sind. Trat nun auch Leipzig sofort über die Ausführung dieser Gedanken in Beratung, so

kam doch Dresden schneller als Leipzig zu einem glückverheißenden Anfänge (S. 9). Am 16. September 1867 wurde die erste Nachhilfe­ klasse in Dresden-Altstadt mit 16 Kindern eröffnet, und Herr Prugg-

mayer, der wohl jetzt noch an der Anstalt verdienstlich wirksam ist, wurde ihr erster Lehrer. Zieht man hinzu, daß in Halle a. S. schon 1859 eine ähnliche Anregung erfolgt sein soll, so geht es dem Liebeswerk der Hilfs­ schule fast ähnlich wie seinerzeit Homer, dessen Geburtsort zu sein sich sogar sieben Städte streitig machten. Welche von den beiden erst­ genannten dem Kolumbus im Aufstellen des Eies als frühere oder spätere gefolgt sei, hat weniger Bedeutung; viel wichtiger ist, daß Dresden

gezeigt hat, wie es zu machen sei, und daß sich seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein erfreulicher Wettbewerb um die bestmögliche Versorgung der Zöglinge durch viele unserer Schulen bemerklich machte,

und daß solches sich nach den verschiedensten Seiten hin: körperlich und geistig, unterrichtlich und erziehlich, durch Lehre und

Vorbild, Spiel und Arbeit betätigte; daß

man sie auch über die Schulzeit hinaus zu beraten, bewahren und zu schützen sich bemühte und seitdem regen Anteil nimmt an allen Seiten

einer gedeihlichen K i n d e r f o r s ch u n g, sich oft genug versammelt, um Erfahrungen und Beobachtungen auszutauschen — alles in der Regel nicht um Lohnes, sondern lediglich um der guten Sache willen! Wo es irgend angeht, werden Pflege- und Schutzvereine

gebildet; die gesetzgebenden Körperschaften, die Zen-

127 tralbehörden,Wohlfahrtsvereine werden angerufen, das Sparen der Kraft, Zeit und auch des Geldes sucht man den Kindem anzugewöhnen;—kurz und gut, wenn irgendwo — in Haus und Schule —

-er Ruf: Lasset uns unsern Kindem leben! Bedeutung und Geltung hat — in den Hilfsschulen wird er ganz gewiß gehört und beherzigt. Die Sache ist fetzt gut im Gange. Über den Umfang der Entwicklung ist ja im Eingang des Kapitels ziffermäßig Rechnung abgelegt,

wenigstens soweit die Zahl

der Schulen, Klassen, Schüler, Schülerinnen in Deutschland, aber auch die des Auslandes in Betracht kommen. Nach innen und nach außen hin wird eifrig gearbeitet, geübt und geworben. Da

der persönlichen Begegnung doch immer gewisse Schranken gesetzt

sind und jedenfalls ein einmaliges Zusammenkommen etwa in Jahres­ frist für gewisse brennendere Fragen nicht ausreicht, so hat man zuerst verwandtstrebende Zeitschriften für unsere Sache interessiert, seit kurzem sogar eine eigene Zeitschrift gegründet, und sogar ein enzyklopädisches Sammelwerk ist in Arbeit genommen worden. Reicher

gegliederte Anstalten haben sogar periodische Berichte heraus­ geben können; ausführliche Lehrpläne liegen gedmckt oder autographiert vor und stehen Auskunftsuchenden bereitwillig zur Ver­ fügung. Auch sind an manchen Orten Jnformationskurse ins Leben gerufen, ja in Preußen ist sogar den Seminarien die Weisung ge­ geben worden, ihre Zöglinge auch in das Gebiet der Psychopathologie und in die unterrichtliche Behandlung der Geistig-Minderwertigen einzuführen, damit den schwächeren Schülern diejenige Hilfe nicht fehle, die sie wenigstens einigermaßen über Wasser zu

halten vermöge. So ist denn wirklich in den letzten 20 bis 25 Jahren — denn alles Vorhergehende war nur ein verhältnismäßig schwacher Anfang gewesen — recht vielerlei für den Ausbau des Hilfsschulgedankens schon geschehen und noch in weiterer Entwicklung begriffen. Für solche, die sich über die Einzelheiten des Lehrplans unterrichten lassen wollen, weise ich neben dem schon weiter oben erwähnten Berichte über die Schule in Dresden-Altstadt hin auf a) den Lehrplan der Hilfsschule für Schwachbefähigte in Leipzig,

der zwar als Manuskript gedmckt, aber doch wohl entweder von der Schule selbst oder durch Vermittlung der Druckfirma: Hesse L Becker

128 in Leipzig zu beziehen sein dürfte; an gleicher Stelle dürften auch die Jahresberichte (der VII. Bericht ist 1902 gedruckt) erlangt werden

können; b) einen Bericht mit kürzerem Lehrplan der Hilfsschule zu Braun­ schweig — (wohl durch Vermittlung der dortigen Schulleitung [Sperrn H. Kielhorn) zu erlangen); der Bericht c) über die Hilfsschule zu Bremen wird durch Vermittlung des Verfassers, früheren Leiters der Schule, Herm A. Wintermann, der noch in Bremen lebt, zu erlangen sein. Etwas umfänglicher ist

d) „Die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder in Elberfeld", eine kurze Geschichte ihrer Entwicklung und ihrer Erfahmngen in den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens. Herausgegeben im Auftrage der städtischen Schuldeputation durch den Verfasser dieser Schrift.

(Zu erhalten durch die städtische Schuldeputation, solange die für die

Konferenz im Jahre 1901 seinerzeit als Begrüßungsschrift gedruckte Broschüre noch vorrätig fein dürfte.) Wahrscheinlich werden auch anderwärts Berichte, Lehrpläne und

Unterrichtsergebnisse — manche vielleicht in den Jahresberichten der Schulverwaltungen oder in Fachzeitschriften — herausgegeben worden sein; genaueres ist mir darüber nicht bekannt geworden. Anderweitige Fundstätten für Erfahrungen und Vorschläge oder mehr theoretische Erwägungen sind die Konferenz- und Verbandstage­ berichte, welche den Verbandsmitgliedem in der Regel für einen mäßigen Beitrag unentgeltlich zugehen. Organisationsfragen sind wiederholt auf der Tagesordnung verzeichnet; dann aber auch Darlegungen didak­ tischer Art über die grundlegenden (Sach-, Sprach-, Anschauungsunter­ richt), besonders schwierigen (Rechnen, Lesen), für das Berufsleben besonders wichtigen Fächer (Handarbeit für Knaben und Mädchen, Haushaltungsunterricht); endlich auch über Fortbildungs-, Rechtsschutz-, Mlitärpflichtfragen usw. — Jedenfalls bemühen sich unsere Hilfsschulen und ihre Freunde und Pfleger eifrigst, den gegenwärtigen und früheren Zöglingen nicht nur für die Gegenwart, sondem auch für die Zukunft Liebe zu erweisen und Licht zu verschaffen; endlich sie auch für den

Kampf ums Dasein bestmöglich auszurüsten.

129 X Merkmale und Rennzeichen der sogenannten schwachen Begabung*). Sind bei den bisher besprochenen Körperlich- oder Geistig-Ge­ hemmten die Merkmale ihrer Schwächen oder Mängel physiologisch nicht allzuschwer erkennbar, und kennzeichnet sich die moralische Minder-

wertigkeit der Verwahrlosten durch einzelne oder eine Reihe von Hand­ lungen oder Kundgebungen der Gesinnung; so entbehrt die sogenannte schwache Begabung meist einer ganz unzweideutigen Signatur. Weder der Physiologe noch der Psychologe oder der Kriminalist können in

Kürze aus untrüglichen Symptomen feststellen, ob überhaupt und wo es an geistigen Anlagen fehle, und welches die Ursache sei für gewisse Erscheinungen geistiger Teilnahmlosigkeit, die im allgemeinen oder im besonderen hier und da hervortrete. Häufig genug können nicht einmal

die nächsten Angehörigen mit klareren Anschauungen und Beobachtungen aufwarten, und über die Gründe für gewisses tatsächlich Wahrgenommene fehlt oft selbst den Eltern jede Erklärung, selbst wenn ihnen das Manko

in der Leistungsfähigkeit gewisser Organe nicht verborgen geblieben war. So darf es also auch nicht zu sehr wundemehmen, wenn den Lehren­ den in stark besetzten Klassen der Einblick in den Grad der — hinter der normalen stark zurückbleibenden — Begabung oft nicht deutlich und klar *) Wird im Nachstehenden hauptsächlich Bezug genommen auf Erscheinungen, die im Bereich der allgemeinen (also der Volks-)Schule zur Beobachtnng gelangen, so soll damit nicht gesagt sein, als ob nur diese letztere Schwachbegabte beherberge. Auch in den höheren Schulen gibt es solche mit ganz denselben Merkmalen und Kenn­ zeichen: herabgesetzter Aufmerksamkeit, schwachem Gedächtnis, Mangel an begriff­

lichem Denken und noch manchem anderen, was die Aufnahmefähigkeit für die er­ weiterten Aufgaben der höheren Schulen (fremde Sprachen, Mathematik usw.) auf das erheblichste beeinträchtigt. Die höheren Schulen sind nur insofern gegenüber den Volksschulen im Vorteil, als sie befugt sind, solche durch Unversetzbarkeit gekenn­ zeichnete Schüler auszuweisen.

Ein vor einigen Jahren im Berliner Gymnasial­

lehrerverein gemachter Vorschlag, höhere Söhne und Töchter dieser Gattung in Sonderklassen unterzubringen, mußte natürlich abgewiesen werden — gleichgiltig ob das Zurückbleiben auf medizinische (d. h. vom Arzte festgestellte) oder auf pädagogische

Gründe zurückzuführen sei: wer nur bei übermäßig großer Arbeitszeit täglich höchstens

ganz notdürftig das Klassenziel zu erreichen vermöge, gehöre eben nicht in die höhere Schule. — Für verkannte Größen dieser Art dienen ja vielfältig Privatanstalten,

wenn die Unterbringung in Hilfsschulen nicht für standesgemäß erachtet wird. — Boodstetn, Erziehungsarbeit.

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geworden ist; desgleichen ob diese Minderbegabung eine allgemeine oder eine nur teilweise ist, d. h. eine solche, die sich auf alle Fächer oder nur auf einzelne erstreckt. Gewisse Feststellungen über sogenannte beliebte oder unbeliebte Schulfächer (die z. B. Dr. William Stern-Breslau bei dritthalbtausend schlesischen Schulkindern und der Psychologe Lobsiens an etwa 500 Kindern in Kiel vorgenommen und veröffentlicht hat),

werfen zwar einiges Licht auf den Tatbestand, können denselben aber weder allgemein noch ausreichend erklären, da zwar die maßgebenden Umstände persönlicher, örtlicher, sachlicher Art, hervorgerufen durch die unendliche Mannigfaltigkeit der gebenden (lehrenden) oder der emp­

fangenden (lernenden) Individuen Faktoren sind, mit denen stets gerechnet werden muß, die aber auch stets der Allgemeingiltigkeit ent­ behren werden. So ist das Aburteilen der Lehrers über den Grad der Begabung

der einzelnen Schüler nur mit größter Vorsicht zu handhaben. Denn schon die Erfahrungen über die Entwicklung einzelner, später sogar be­ rühmt gewordener Menschen, und über das Schicksal frühreifer Wunder­

kinder, die füglich alle Hoffnungen und Erwartungen getäuscht haben, mahnen zur Vorsicht. Läßt man aber auch solche Fälle allzuweit getrie­ bener Unterschätzung oder Überschätzung beiseite, weil sie ja seltenere Ausnahmen bilden, so ist auch innerhalb der mittleren und niederen Sphären der Begabung eine ganz richtige Einschätzung und Erkenntnis nichts weniger als leicht, da sich der Eintritt gewisser Einflüsse, der Ein­ druck gewisser Ereignisse, Beispiele, Dinge bisweilen so im Verborgenen

vollzieht, daß auch die Allernächststehenden, wieviel mehr die Lehrenden! keine Ahnung, ja nicht eine Empfindung davon haben konnten. Hier hilft eben nur ausdauernde Beobachtung, liebevolle Berücksichtigung aller fördernden Umstände und Geduld: wartet doch auch der Ackers­

mann auf die köstliche Frucht! (Jak. 5, V. 7). Nach und nach begründet sich dann mehr und mehr die Einsicht in die obwaltenden Verhältnisse und deren Ursachen, und im Zusammenhänge damit auch die Erwägung

der etwa anzuwendenden Mittel. Ergibt sich dann als Tatsache, daß der gewährte oder versuchte Unterricht ohne Ergebnis, oder wenigstens ohne einigermaßen genügendes Ergebnis geblieben sei, vielleicht sogar bleiben mußte — dann mag wenigstens versucht werden, die hemmenden Einflüsse möglichst unwirksam zu machen, und so günstigere Bedingungen für fördernde Eindrücke zu schaffen.

Denn besonders eines darf die

131 Schule nicht außer acht lassen: die Welt der Schule ist für viele Kinder

eine so völlig fremde und neue, und eine von derjenigen, in welcher sie bisher gelebt haben, so sehr abweichende, daß oft sehr lange Zeit

nötig ist, um sie nur einigermaßen zu verstehen und sich dann in ihr zurechtzufinden. Man denke nur an die Sprache: im Hause vielleicht die Mundart, in der Schule die Schriftsprache; ferner an die Anschauungs­ welt; an das Verhältnis zu Vater und Mutter; an die Umwelt und deren

Umgangsformen, die an der einen Stelle vielleicht völlig fehlende Anregung und die an der anderen dargebotene Fülle von Worten und Begriffen, mit denen gearbeitet werden soll; hier vielleicht das einzige Kind, dem aller Wille getan wird, dort die unumgängliche Einfügung in eine größere Gemeinde, deren Glieder ihm ganz fremd sind; endlich der Eindruck der Lehrenden auf die Kinder mit ihrem Anspmch auf unbedingte Autorität, auf unbedingten widerspruchslosen Gehorsam.

Zwar wird von der Schule gefordert, sie solle zunächst die elterliche Tonart anstreben, damit sich möglichst rasch ein Vertrauensverhältnis bilde; aber was das heißt bei einer großen Schar von Kindern aus den ver­ schiedensten Kreisen, in denen die verschiedensten Tonarten gäng und gäbe sind, kann sich jedermann vorstellen. Dazu noch die Gewohnheit mancher Eltern, unfügsamen Kindern die Schule als demnächstigen Strafort anzudrohen — und andererseits die Gepflogenheit, den Neulingen eine Düte mit Zuckerwerk durch den Lehrenden überreichen zu lassen. Hier in kurzer Zeit eine gewisse Harmonie herstellen zu sollen, ist gewiß ein Kunststück, das oft durchaus nicht gelingen will. So bedarf es jedenfalls einer ziemlich langen Zeit schon zur leidlichen Akklimatisierung; zum Hervorbringen wirklicher Früchte natürlich noch einer viel größeren. Ist nun womöglich — neben dieser seelischen Ungleichheit

und Unreifheit — auch noch das körperliche Befinden kein ausreichend gefestigtes, so daß es nicht nur der Rüchicht, sondern sogar aufmerksamer Pflege bedarf, so kann das erste Schuljahr vergehen, ohne auch nur Ansätze zu Früchten zustandezubringen. Es ist deshalb gut zu verstehen, wenn Ärzte eine Hinausschiebung des schulpflichtigen Alters bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres dringend befürworten, weil erst dann

eine ausreichende Festigung der seelischen und körperlichen Kräfte an­ zunehmen sei. Den Eintritt in die Schule aber zu verfrühen, damit das Kind von der Straße fortkommt, und die Schule zu einer Kinder-

9*

132 Verwahrungsanstalt zu stempeln, weil damit der Vorteil einer früheren

Beendigung der achtjährigen Schulpflicht geschaffen werde, ist für eine ziemliche Anzahl von Kindern als eine Art von Raubbau zu be­ zeichnen, der sich natürlich höchst bedenklich rächen kann. Erfahrungen solcher Art haben deshalb viele Schulverwaltungen bestimmt, da ja vielfältig das sechste Lebensjahr gesetzlich als der Eintritts­

termin in die Schulpflicht festgesetzt ist, erst das achte Lebensjahr für die Aufnahme in die Hilfsschule abzuwarten, damit nicht die möglicher­ weise verfrühte Überweisung und die daun verlangte Rücküberweisung Anlaß zu Vorwürfen und Angriffen biete, welche keiner der Schularten

zugute kommen würden.

Nach zweijähriger Beobachtung dürften Fehl­

griffe im Urteil eher zu den Seltenheiten gehören, ohne freilich ganz ausgeschlossen zu sein und ohne zunächst mehr festzustellen, als daß die Leistungsfähigkeit eine erheblich beschränkte oder in gewisser Beziehung

völlig fehlende sei.

Viel wäre freilich mit diesem negativen Ergebnis

noch nicht gewonnen, aber immerhin etwas, wenn nur die Zeit des ersten Auftretens der Erscheinung, die wahrscheinlichen Ursachen, und

ob diese dauernde oder vorübergehende seien, endlich ob sie je länger je mehr zugenommen haben, irgendwie festgestellt werden könnten.

Kann der bisherige Lehrer darüber zuverlässige Angaben nicht selbst machen, so werden die Angehörigen, der Arzt mit zu Rate zu ziehen, und dann während einer gewissen Probezeit besondere Beobachtungen zu machen fein, auf Grund derer dann die Behandlung sich zu gestalten hätte.

Denn je nachdem die Fehler auf Mängeln gewisser Organe,

auf Vererbung beruhten, oder durch besondere Umstände erworben wären und sich so tiefer oder minder tief eingewurzelt erwiesen, wäre die Hoffnung auf Erfolg im Einzelfalle und demnach auch das Jnsauge-

fassen eines Ziels zu bemessen. Dann wäre ganz langsam, Schritt für Schritt vorwärts zu gehen, wären Ruhepausen zu gewähren, um das

Erreichte möglichst zu behaupten und zu sichern.

Denn das müssen wir

festhalten, daß die Mehrzahl der unsererseits zu übernehmenden Kinder nicht ohne weiteres als schwachsinnig im landläufigen Sinne und als geistig erkrankt anzusehen sind. Immerhin sind die festgestellten Schwächen und Regelwidrigkeiten pathologischer Art, nicht mit kompli­ zierten Medikamenten, sondern unter Anwendung des Hauptgrundsatzes der Naturheilmethode zu bekämpfen, d. h. so daß die Natur — angeregt und vielleicht etwas unterstützt — sich schließlich selbst helfen könne.

133 Diese Methode, — ich möchte sie Psychisch nennen, weil sie die seelischen Kräfte des Leidenden mobil zu machen strebt — verspricht einmal über

den Grad des vermeintlichen Nichtkönnens einiges Licht zu verbreiten, und sodann das Selbstvertrauen, welches infolge bisheriger Fehlver­

suche sehr herabgesetzt war, soweit zu steigern, daß wenigstens der Wlle erwacht zur Anstellung neuer Versuche. Denn alle diese Schwächen des Leistungsvermögens, ob sie — ich folge hier einem Leitsätze von I. Trüper (©. 31 seines Vortrages über „Die Anfänge der abnormen

Erscheinungen im kindlichen Seelenleben"; Altenburg, Verlag von

Oskar Bonde, 1902) — auftreten als Regelwidrigkeiten der Sinnes­ empfindungen, der Denkvorgänge, des Gefühlslebens, des Wollens und

des Handelns, äußern sich zunächst in der Form eines Versagens jeder Betätigung. Teilnahmlos, gleichgiltig, verschlossenen Sinnes und Mundes, fast ohne jede willkürliche Bewegung sitzen oder stehen die Kinder da; in den meisten Fällen haben sie fast keine Empfindung davon, daß sie fast nur vegetieren, und daß ihr geistiges Leben sich in einem Zustande befindet, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beginne des

Gefrierens des Wassers hat. Hier gilt es also zunächst Bewegung, Entwicklung usw. durch Erwärmen, Reiben, Antreiben hervorzumfen und so das Überhandnehmen der geistigen Erstarrung möglichst fernzu­ halten.

Wenn solches gelingt, so ist damit ein Merkmal zunächst freilich

latenter Bildungsfähigkeit in Erscheinung getreten, welches man nutzbar machen, d. h. erweitern soll. Diesen Funken anzufachen und dann nach

und nach zum wirklichen Brennen und Leuchten zu bringen, ist ja frei­ lich erst längerer und späterer Arbeit möglich; fürs erste kommt es aber darauf an, wenigstens festzustellen, ob die Sinnesempfindungen auch regelrecht, der Körper in seinen Organen auch wirklich zu funktionieren imstande sei. Aus dem Erwachen des Bewußtseins eines gewissen Könnens erwächst dann je länger je mehr auch ein Betätigungs trieb desselben, und diesen Trieb wach zu erhalten und, durch die Schaffung einer gewissen Abwechslung, mit einer Art Lustgefühl zu verbinden, wird dann eine weitere Aufgabe des Erziehenden werden können. Die Feststellung also dieses Merkmals, der Fähigkeit zu regelrechten

Sinnesempfindungen, dürfte schon um deswillen von besonderer Be­ deutung sein, weil es auch das sicherste zur Unterscheidung zwischen Schwachbegabten und Idioten ist, zumal es den letzteren durchaus abgeht und — entsprechend dem Hauptgrundsatz aller Psychologie, daß

134 „nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensibus“ — die Voraus­ setzung bildet für alle Denkvorgänge und Gesühlseindrücke und somit auch für das Wollen und Handeln.

Daß diese Fähigkeit zu regelrechten

Sinnesempfindungen natürlich in recht verschiedenen Graden dem einzelnen zugeteilt sein kann; daß sie zusammenhängt mit der Beschaffen­ heit der entsprechenden körperlichen Organe, braucht als allgemein bekannt nicht besonders hervorgehoben zu werden; gilt doch dergleichen

auch für alle anderen Lebewesen, zumal für die höheren Tiere, während den niederen Tieren oft nur gewisse Ersatzorgane zu Gebote stehen.

All solches hat die Physiologie seit langem nachgewiesen und dement­ sprechend bei wesentlicher organischer Verschiedenheit auch sehr ver­ schiedenartige Wirksamkeit der Organe.

Am augenfälligsten ist solches

hinsichtlich der Entwicklung des Gesichtssinnes möglich gewesen, denn noch heute finden sich bei den verschiedenen Tierklassen die verschiedensten Lichtempfindungsapparate. Dergleichen hier durch Beispiele zu be­ legen, hat wenig Zweck. Ebensowenig nötig ist der Hinweis auf Schutz­ farben und Formen zum Zwecke der Sicherung im Kampfe ums Dasein. Denn dem Menschen bieten gerade die Sinnesorgane und der durch

diese gewährte vielseitige Vorzug Mttel sich im Leben zu behaupten, ja die Herrschaft über die anderen Lebewesen sich zu verschaffen. Sind deshalb die Sinnesorgane mangelhaft oder fehlen einzelne ganz, so entbehrt er der wesentlichsten Schutzmittel und muß versuchen, sich

irgendwie einen Ersatz zu schassen, der seine geistige Leistungsfähigkeit Unsere Schule, die ihm hierbei Helsen soll, hat also in erster Linie darauf zu sehen und festzustellen, bis zu welchem Grade regel­ rechter Sinnesempfindungen der einzelne fähig ist, weil sie darnach

steigert.

ihre Hilfe zu gestalten hat. Fingerzeige hierfür bietet ihr auch die Praxis der Anstalten für Nichtvollsinnige, und zwar solche um so mehr, je mehr etwa gewisse Mängel der Organe Regelwidrigkeiten

der Sinnes­

empfindungen hervorbringen.

So muß also wiederholt werden, daß die Feststellung des Grades der Sinnesempfindungen eines der bedeutsamsten Kennzeichen der Be­ gabung und damit zugleich der Bildungsfähigkeit bildet. Daß die Be­

deutung der einzelnen Organe hierfür nicht eine gleiche ist, liegt auf der Hand; denn Geschmack und auch Geruch lassen sich mit Gesicht und Gehör nicht auf eine Linie stellen, obwohl der Störung des Geruchssinns

vielfältig sich auch Störungen der Gehirnfunktionen anreihen, die

135 diese letzteren schwer beeinträchtigen.

Und auch der Tastsinn kann bei

nervenschwachen Kindern Regelwidrigkeiten (gewaltige Schmerzempsindungen usw.) Hervorrufen, welche erkennen lassen, daß seine über den ganzen Körper verbreiteten Organe in gewisser Beziehung den Dienst versagen. Bon größter Bedeutung werden immer für die Schule Gesichts- und Gehörempfindungen sein, denn selbst geringere Schwächen,

wenn sie nicht früh erkannt werden, können starke Schädigungen ver­ ursachen, wie kurzsichtige und schwerhörige Schüler oft genug erfahren.

Deshalb erscheint eine Prüfung der Sinnesempfindungen als eines

der ersten Erfordernisse. — Bon nicht geringerer Wichtigkeit ist eine sorgfältige Prüfung der übrigen Körperlichkeit. Schon der alte Spmch: „mens sana in corpore sano“ weist darauf hin, daß ein gesunder Körper die Voraussetzung für seelische und geistige Gesundheit sei, und ließe sich aus ihm der Rückschluß ziehen: wo Seele und Geist nicht gesund, richtiger vielleicht: nicht normal sei, könne der Körper nicht gesund sein. Immerhin wollen wir soweit nicht gehen, denn bisweilen sind Schwachbegabte scheinbar

von strotzender Gesundheit gewesen; und andererseits hat oft genug in gebrechlichstem, kränkstem Körper eine hochherzige Seele, ein Geist von ausgiebiger Schöpferkraft, von unermüdlicher Denk- und Wislensschärfe gewohnt. Generalisieren wir also in dieser Hinsicht nicht ohne weiteres. Stellen aber die von Berufspsychologen erfolgten Messungen fest, daß auch bei körperlich und geistig normal beschaffenen Menschen infolge oft gar nicht zu langer Tätigkeit sich Zeichen einer erheblichen Herabsetzung des Könnens, selbst wider Willen einstellen, weshalb überall eine Verkürzung der Ar­ beitszeit angestrebt und dringend empfohlen wird; so ist es klar, daß bei jungen, in der körperlichen Entwicklung erst begriffenen und noch nicht zur Vollkraft gelangten die Folgen von starker Ermüdung sich besonders früh und stark bemerklich machen werden. Der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege hat deshalb ganz allgemein, also auch für

kräftige und wohlbegabte Schüler jeder Gattung, eine Verkürzung sowohl der Dauer der Lektionen als auch der sonstigen Lernarbeit und einen sorgfältig überlegten Wechsel in Stoff und Art der Beschäftigung für unabweisbar erklärt, weil sonst eine nicht wieder gut zu machende Schädigung körperlicher und geistiger Gesundheit eintreten könne.

Ja, die sich vielfältig zeigende hochgradige Newosität bei Jung und Alt,

136 und eine Reihe anderer unliebsamer Erscheinungen sei mit eine Folge der in vielen Schulen herkömmlichen Anspannung und Einseitigkeit,

und gefährde somit im weiteren bedenklichst das Gemeinwohl und die nationale Entwicklung. Gilt dergleichen schon für das grüne Holz, d. h. den gesunden und normalen Teil der jungen Bevölkerung, dieser Hoffnung des Vater­

landes, — so ist es klar, daß für die körperlich und geistig schwächeren Elemente jede Art von Übermüdung schwer und verderblich wirken

und schließlich die ganze etwa vorhandene Kraft schmälern oder gar

vernichten könne.

Freilich ist durch Beobachtungen und Messungen

über die Beziehungen zwischen Intelligenz und körperlicher Entwicklung

manches, jede allgemeine Regel ausschließende Ergebnis gewonnen worden, und zwar ebenso betreffs des Wachstums, des Körpergewichts,

der Körperkraft, des Bmstumfangs und sogar des Schädeldurchmessers, der eine Zeitlang den Gradmesser für die Intelligenz abzugeben schien.

Um mit dem letzteren zu beginnen, so galten lange Zeit hindurch ebenso

die Wasserköpfe (also besonders umfängliche Köpfe), wie auch die Mikro­ zephalen (also besonders kleine Schädel) für sichere Merkmale des Schwach­

sinns.

Beides braucht aber durchaus nicht zuzutrefsen, und könnten

zahlreiche Beispiele des ausgesprochensten Gegenteils angeführt werden,

falls solches nicht zu weit von der Hauptsache abführte.

Zugegeben kann

freilich werden, daß bei vielen Schwachbegabten und Schwachsinnigen

die Schädelmaße von denjenigen Normalbegabter abweichen.

Weiter

kann angeführt werden, daß nicht ein absolutes Maß für die Schädel­ größe sich feststellen läßt, sondern daß höchstens aus dem Mißverhältnis

derselben gegenüber den anderen Körpermaßen zu schließen sei: in der Entwicklung des Gehirns und seiner Behausung sei manches nicht in

Ordnung. Im übrigen sei aber nicht bestritten, was auf Grund eingehen­ der Untersuchungen sowohl englischer, wie auch deutscher Ärzte und

Pädagogen*) an einer größeren Menge von jungen Menschenkindern

wenigstens tatsächlich gefunden worden ist, und deshalb auch unserer♦) Auf englischer Seite beziehe ich mich auf die Berichte des Professors Karl

Pearson — unterstützt durch zwei wissenschaftlich ausgebildete Damen — an die Royal Society in London und mitgeteilt in der „Naturwissenschaftlichen Wochen­

schrift", und deutscherseits auf den Bericht des Bonner Professors Dr. med. I. A. Schmidt und des dortigen Hauptlehrers an der Hilfsschule H. H. Lessenich, mitgeteilt in der „Zeitschrift für Schulgesundheitspslege", Jahrgang 1903 Leipzig und Berlin,

137

seits in Betracht zu ziehen ist, wenn wir ein Urteil über die schwache Begabung von Kindern abgeben wollen: 1. für gewöhnlich bietet ein gesundes, körperlich sich wohl entwickeln­ des Kind mehr Gewähr für eine günstige Leistungsfähigkeit, die sich im Schulerfolg ausspricht, als ein kränkliches und in seiner Körperentwicklung

gehemmtes; 2. in gewissen Stadien des Schulalters (z. B. im 8. bis 9. Lebens­ jahre und sodann vor Eintritt in die Geschlechtsreife) macht sich vielfach eine Verminderung der Leistungsfähigkeit bemerklich; in den — diesen beiden Perioden unmittelbar vorhergehenden oder nachfolgenden

Jahren ist meist eine Erhöhung der Leistungsfähigkeit wahrnehmbar; 3. fast regelmäßig entspricht der Grad der Intelligenz auch dem Grade der Körperkraft, die sich lediglich in der Form der Druck- und Zugkraft zum Ausdruck bringen ließ; 4. auch in bezug auf Körpergewicht wiesen die Besserbegabten Vorzüge gegenüber den Minderbegabten nach; doch scheint es, als seien ie in bezug auf die Körpergröße gegen die letzteren etwas im

Rückstände geblieben. Immerhin haben aber diese Unterschiede keine derartige Bedeutung und Wichtigkeit, daß man ohne weiteres die — kurz bezeichnet: Geistesmenschen als eine auch körperlich vor ihren weniger intelli­ genten Mitmenschen sich auszeichnende Gruppe bezeichnen dürfte. Also die Körperbeschaffenheit kann nicht absolut für ein Signalement der geistigen Mnder- oder Mehrwertigkeit nutzbar gemacht werden; wohl aber wird sie relativ ebenso zur Aufklärung und Begründung geringerer Schulerfolge, wie auch als Fingerzeig zur Anstellung von Heil- und Bessemngsversuchen verwertet werden können. Denn der ununter­ brochene Zusammenhang zwischen Körper und Geist ist eine Tatsache, die sich beim besten Mllen nicht ändem läßt. Angesichts dieses ununterbrochenen Zusammenhangs ist selbst­ redend zumal bei Schwachbegabten die Erforschung und Berücksichtigung der körperlichen Verhältnisse eine noch viel dringendere Notwendigkeit (Verlag von B. G. Teubner). Beide Berichte beziehen sich nicht bloß auf schwach­ befähigte Untersuchte, sondern auch auf normal- und gutbeanlagte; beide drücken das

Ergebnis in Prozenten aus und ziehen vorzugsweise das mittlere Schulalter in genaueren Betracht. Daß sie inihren Klassifikationen sich etwas unterscheiden, tut nichts zur Sache,

da ja jede Gradangabe rein subjektiv ausfallen wird.

138 als bei Normalbegabten: denn wenn bei diesen der in jedem Menschen vorhandene Selbsterhaltungstrieb sich schließlich auch einmal selbst zu helfen imstande ist, so ist bei jenen solches viel weniger der Fall, selbst wenn sie hier und da die Hilssbedürftigkeit mehr oder weniger deutlich suhlen sollten. Überdies spielen bei ihnen oft auch die häuslichen Ver­ hältnisse eine mehr oder weniger verhängnisvolle Rolle, da gerade

dort entweder das Verständnis für dergleichen oder das Vermögen zu helfen fehlt. Gar oft sind auch mangelhafte Körperlichkeiten leidiges Erbteil der Familie; wer wäre da objektiv genug, solche ererbte Mankos richtig einzuschätzen? Hier wird also der Lehrer, oft unter Zuziehung des Schularztes, sorgen und bestmöglich helfen müssen; (inwieweit ihm selbst dazu die Mittel fehlen sollten, wird in einem anderen Kapitel,

bei der Besprechung von Wohlfahrtseinrichtungen öffentlichen oder privaten Ursprungs, ausführlicher erörtert). Die Hauptsache dürfte

fein, daß der Lehrer erkennt, woran es dem Kinde fehlt oder gefehlt

hat: ob an richtiger oder genügender Ernähmng, an wirklicher Pflege, an der Erziehung zur Sauberkeit, Wahrhaftigkeit, Keuschheit; weiter ob etwa Mißbrauch getrieben wurde in der Ausnützung der Kinder

zum Erwerb, zum Betteln, ja gar zum Diebstahl; ob schandbare Bei­ spiele verderbliche Angewohnheiten gezeitigt haben, die mit dem körper­ lichen auch den geistigen Ruin zur Folge haben müssen u. bergt m.

Alle solche Umstände bleiben dem scharfblickenden und forschenden Lehrerauge auf Grund gewisser Merkmale auf die Dauer nicht verborgen, — und er wird suchen müssen, die Quellen für solche Erscheinungen, sobald er sie erkannt hat, möglichst abzugraben, um noch zu retten,

was zu retten ist. Dies ist natürlich nur möglich durch weitgehendes Eingehen auf die Individualitäten und durch fülle, den Opfern solcher

Verhältnisse eine öffentliche Beschämung möglichst ersparende Einzel­ rettungsarbeit. Wie und woran man solche Merkmale erkennt, hier im einzelnen anzugeben, würde nicht nur zu weit führen, sondern geradezu unmöglich sein, weil ziemlich jedes Kind in seinen Fehlem auch Eigen­ tümlichkeiten aufweist, die, wenn auch ähnlich und verwandt, doch nicht genau unter dieselbe Schablone passen wollen und deshalb sich auch nicht durch ein allgemeines Rezept heilen lassen. — Wer durch persönliches Interesse für das einzelne Kind sich getrieben fühlt (— und gerade

bei unseren Kindem ist solches persönliche Interesse der Hauptschlüssel für das Erkennen der Übel —) der wird schon bald sehen, welche Seite,

139 die leibliche, geistige oder sittliche Seite des jungen Menschen die am

meisten gefährdete und deshalb die anderen gefährdende sei, und je nachdem dort zuerst einsetzen mit seinen Rettungsmaßnahmen; inwieweit dann die anderen sich werden auch noch berücksichtigen lassen, wird sich von selbst ergeben, weil eben der Zusammenhang sich wohl lockem, aber nicht ganz aufheben läßt. Eine richtige Diagnose des Ursitzes des Übels ist also von grundlegender Bedeutung; auf ihr baut sich die übrige

Behandlung auf, deren schließlichen Erfolg niemand vorhersehen und Vorhersagen kann, der aber sicher ausbleiben wird, wenn dem Gmndübel nicht beigekommen werden kann. Deshalb ist das Erforschen der Verhältnisse schlechterdings nicht zu entbehren. — Zu diesen—zum Teil außerhalb unserer Patienten liegenden—

Verhältnissen treten natürlich noch andere, die wieder in ihnen selbst liegen, und zu denen zu rechnen sein wird das Temperament. Ohne eine Definition des Temperaments, das — nach Dr. Eduard Hirt —

eine Ablaufsform physio-psychologischer Vorgänge, also das Ergebnis physischer und psychischer Verhältnisse ist, hier zu versuchen; ohne die Typen der vier (— andere zählen deren noch mehr auf —) Tempera­ mente kurz zu beschreiben, und ohne endlich festzustellen, daß kaum je ein Temperament in voller Reinheit auftritt — muß doch seine Be­

deutung für jede Art des seelischen Erlebens rückhaltlos anerkannt werden. Wie jedes derselben sich zur Wirklichkeit, zum Schmerze, zur Freude, zum Gewinn oder Verlust, kurz zu allem Erlebten oder Bevorstehenden stellt oder stellen wird, haben geistreiche Beobachter in allerlei Beispielen und Gleichnissen darzustellen versucht — und auch oft genug nicht weit fehlgegriffen, sondem im wesentlichen den Erfolg gewisser Eindrücke richtig taxiert. Schließlich besitzt aber doch jeder, da sein Temperament das Ergebnis einer Mischung besonderer psychischer und physischer Ele­

mente ist, die, je nach Anlaß in verschiedenen Mengen wirksam werden, auch hierin seine besondere Gestalt, die entsprechend seinen Trieben und Neigungen anders ausfallen dürfte als die Äußerung anderer.

So gibt sich der Melancholiker anders als der Sanguiniker, und der Choleriker anders als der Phlegmatiker — und es wird darauf ankommen, bald die Erregbarkeit des einen einzudämmen und die des andern zu beleben, hier den Trotz zu brechen, dort die Verzagtheit zu bannen — kurz und gut, bald anzufeuern, bald zu löschen, bald emporzuheben, bald etwas zu dämpfen, bald kalt, bald warm zu blasen. Ohne Einsicht

140 — in die Temperamentsbeschaffenheit des einzelnen wird man also im

Dunkeln tappen, und es wird dem Erziehenden, der alle diese Erschei­ nungen mit gleichem Maße messen will, gehen, wie demjenigen, der beim Suchen genereller Formen und Mittel zu der Erkenntnis gelangt, die einst Direktor Kölle-Regensberg drastisch kennzeichnete mit den

Worten Solliers: „Es gibt keinen Idiotismus, es gibt nur Idioten." Also auch hier gilt es, zu individualisieren und sich nicht darauf zu ver­

lassen, „daß in jedem Gesichte steht seine Geschichte, sein Hassen und

Lieben deutlich geschrieben, sein innerstes Wesen tritt hier an das Licht". Der Dichter hat recht, wenn er diesen Zeilen hinzufügt:

„Doch nicht

jeder kann's lesen, verstehn jeder nicht!" —

Eine andere Form der Begabung ist die des Gedächtnisses für Worte, Formen, Zahlen und für alle möglichen Dinge, die sich behalten lassen, aber auch von Normalbegabten sehr verschieden behalten werden.

Daß manche unserer Kinder in dieser Hinsicht sehr gut bestellt, andere

wieder ganz leer ausgegangen sind, kann jeder Hilfsschulmann aus

seiner Erfahrung bestätigen.

Ist diese Begabung auch manchmal, be­

sonders wenn sie sich auf Daten und Zahlen beschränkt, eine ziemlich mechanische, fast möchte ich sagen eine instinktive, weil der Gründe

für ein rechnerisches oder der Genesis von Vorgängen entsprechendes

Verfahren nicht wirklich bewußte, so erscheint sie doch schon als erheb­ licher Vorzug und Vorteil gegenüber einem vollständigen Mangel oder einer erheblichen Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der

Vorstellungsfähigkeit von Mengen, Formen, Vorgängen.

Die Be­

deutung des Gedächtnisses für jede Art von Lernen und Anwenden des Gelernten und Geübten bedarf keiner Erklärung und Begründung. Setzt das Gedächtnis das Erfaßthaben eines gewissen Inhalts,

gewisser Formen und Vorgänge schon voraus, so ist das Unterscheidungs­ vermögen ein geistiger Vorgang, der auf unmittelbarer, in der Gegen­ wart dargebotener Sinnesanschauung beruht und gewissermaßen die Probe daraufhin ablegt, ob die Sinnesorgane wirklich und richtig funk­

tionieren und sich auch einigermaßen geistig betätigen, d. h. dem Geist

den Dienst nicht versagen; im weiteren natürlich auch darüber, ob die anderen Organe des Körpers, die Glieder und sonstigen Kräfte des

Leibes den Weisungen des Zentralorgans gehorchen.

So erscheint denn

— auch im Interesse der schon oben erwähnten Notwendigkeit, über die

Tätigkeit der Sinnesorgane und die körperliche Beschaffenheit des

— 141 Hilfsschulanwärters einigermaßen unterrichtet zu sein — die Feststellung

des Unterscheidungsvermögens und einer gewissen Herrschaft über den Körper und seine Außenorgane von erheblicher Bedeutung. Bekannt ist ja, daß manche Erwachsene, die durchaus nicht zu den Geistig-Minder­

wertigen gehören, obwohl sie sehen können, farbenblind sind, und daß bisweilen Eisenbahnunfälle solcher Farbenblindheit der Beamten ihr

Entstehen verdankten.

Diese Farbenblindheit ist nicht gleichbedeutend

etwa mit dem Unvermögen, feinere Farbennüancen ohne gleichzeitig

gegebene Gelegenheit zur Unterscheidung von verwandten Färbungen sofort zu bezeichnen, denn bezügliches Vermögen setzt große Übung voraus und ist auch nicht gleichbedeutend mit dem Nichtbenennen-

können einer Farbe, vorausgesetzt, daß diese nicht eine Grundfarbe wäre, die besonders häufig vorkommt. Wohl aber kommt es nicht selten vor, daß Kinder nicht einmal imstaüde sind, aus einer Menge verschieden­

farbiger Deckel oder Platten und Stäbchen die gleichfarbigen zusammen­ zulegen, sie mit dem Hauptnamen der Farbe zu bezeichnen usw. Ganz Ähnliches gilt von der Unterscheidung von Formen, dem Erfassen der Lage mehrerer Gegenstände zueinander, dem raschen Erfassen einer

kleineren Anzahl von gleichen Dingen und was dergleichen noch mehr ist, wie etwa die Größe, Breite, Dicke, kurz der Dimensionen von Flächen

und Körpern. — Die Unterscheidung von rechts und links, oben und unten, vorn und hinten, und anderem am eigenen Körper und die Vornahme entsprechender Bewegungen auf Grund von Weisungen, ist häufig genug nicht vorauszusetzen — ünd doch gewiß selbst von Minderbefähigten nicht zu viel verlangt, wenn sie nachweisen sollen, ob wirklich eine Hoff­ nung für sie bestehe, wenigstens etwas von demjenigen sich anzueignen, was als Mindestzeichen der Bildungsfähigkeit gilt: ein Erkennen- und

Wiedergebenkönnen gewisser Formen und Regeln, die dem Schreiben, Lesen, Zeichnen, Rechnen dienen, und sodann auch eine gewisse Herr­ schaft über den eigenen Körper, vermöge deren er zeigt, daß ihm be­

wußtes, eigenes — d. h. durch seinen Willen bestimmtes Handeln mög­ lich wäre — und nicht bloß automatisches, durch Instinkt und leibliche

Der Grad also dieses Unterscheidungsvermögens und einer nur etwa auf dem Standpunkt Bedürfnisse bedingtes Bewegen und Handeln.

ganz junger Kinder verbliebenen Gewalt über die Leiblichkeit bietet weitere Merkmale für die Erkenntnis der schwachen Begabung — und muß deshalb auch sorgsam beobachtet werden. —

142

Daß sich zu diesen Kennzeichen im eigentlichen Sinne des Worts

oft genug auch noch andere Mängel gesellen, die aber nicht Merkmale, sondern oft nur Folgeerscheinungen geistiger Schwäche sind, ist eine

Tatsache, welche schon an sich imstande wäre, die Dringlichkeit von Heil­ versuchen zu begründen. Sie alle hier aufzuzählen, besonders wenn mehr eine zufällige körperliche Disposition, als die geistige Schwäche selbst sie veranlaßt hätte, würde zu weit führen.

Denn wenn, wie schon

oben angeführt, manche unserer Kinder auch mit körperlichen Gebrechen behaftet sind (in meinem zweiten Berichte über die Elberfelder Hilfs­ schule vom Mai 1888 mußte ich aufzählen das Vorhandensein: rechts­

seitiger

Lähmung,

schlotternder

Beine,

Verwachsensein

(Skoliose),

Flecken auf der Pupille, Speichelfluß — eine Serie körperlicher Mängel, die sich später erheblich erweiterte*) —), so fehlte ihnen doch jedenfalls der unmittelbare Zusammenhang mit der geistigen Minderwertigkeit. Anders verhält sich dagegen die Sache, wenigstens oft genug, bei dem Vorhandensein von Sprachgebrechen. Der eben erwähnte Bericht zählt unter den bis dahin aufgenommenen 148 Kindern (von denen

auf Gmnd einer Prüfung nach Vollendung des 14. Lebensjahres 61 ent­ lassen worden waren, während 22 aus anderen Gründen abgingen) 36 mit wirklichen Sprachgebrechen auf; doch können zu diesen noch weitere

10 gerechnet werden, die sehr schwerfällig sprachen. So ergibt sich die Notwendigkeit, bei der Aufnahmeprüfung für die Hilfsschule — neben einer Prüfung der rein geistigen Begabung — besonders folgende Umstände (oder Fragen) in Betracht zu ziehen:

1. welche besonderen Umstände haben das weitere Belassen der Kinder in der allgemeinen Schule als nicht mehr wünschenswert er­ scheinen lassen? und zwar ebenso mit Rücksicht auf die Schule selbst als

auch mit Rücksicht auf das einzelne Kind?

*) Die angegebenen Gebrechen belasteten — die Hilfsschule bestand damals

etwa 8 Jahre — 11 Kinder von 65, die in 3 Klassen untergebracht waren: sollten noch die an Veitstanz, Wasserkopf, Mikrozephalie, Skrofulose deutlich leidenden 14 weiteren

hinzugezählt werden, so bedeutete das fast 40%, eine erschrecklich hohe Zahl, die sich nach und nach erheblich gemindert hat, aber daraus erklärlich wird, daß in den ersten Jahren des Bestehens im wesentlichen nur besonders schwer- und auffällig-belastete

Kinder Aufnahme fanden.

Später wurde die Aufnahme erheblich erweitert, aber

offenbar idiotischen Kindern nicht zugestanden.

Für sie und schwere Epileptiker

suchte man die Unterbringung in besonderen Anstalten zu ermöglichen.

143

2. liegen Merkmale vor, welche ein regelrechtes Funktionieren der Sinnesorgane oder wichtiger innerer Organe (Herz, Lunge, Gehirn) in Zweifel stellen? 3. weist die sonstige körperliche Beschaffenheit Merkmale auf,

welche der geistigen Entwicklung Hemmnisse bereiten? (leiden die Kinder an offenbaren Gebrechen? haben sie schwere Krankheiten bestanden und welche sind es? leiden sie noch unter den Nachwirkungen besonderer

Unfälle? erscheint die Bewegungssähigkeit der Gliedmaßen beeinträchtigt? 4. liegen allgemeine Schwächezustände vor, welche jede größere Ermüdung als Hemmnisse nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Entwicklung erscheinen lassen? und worin haben diese Schwäche­

zustände ihren Grund? in schlechter Ernährung und sonstiger Pflege?

in ungehöriger Ausbeutung ihrer Kräfte für Erwerbszwecke? 5. welche schädigenden Einflüsse scheinen im Hause oder der Umwelt

(dem Milieu) der Kinder obzuwalten? erscheinen die Eltern selbst körper­ lich und sittlich gesund? 6. wie erscheint das Temperament der Kinder? 7. wie beschaffen ist das Gedächtnis? 8. wie das Unterscheidungsvermögen der Kinder? 9. machen sich im Sprechen der Kinder besondere Mängel be­ merklich?

XI. Die Ursachen für die Entstehung und Entwicklung

geistiger Schwächezustände und damit auch für die fc> genannce schwache Begabung als dauernde Erscheinung sind sicher ebenso mannigfaltig, wie die Merkmale, in denen diese Zu­ stände sich kundgeben. Die Psychologen suchen sie zwar durch Bezeich­

nungen über die Zeit und Art ihres ersten Bemerktwerdens zu unter­ scheiden und sprechen von angeborener, ererbter, später aufgetretener, selbstverschuldeter Geistesschwäche, verbinden sogar je zwei der erwähnten Bezeichnungen als im wesentlichen gleichbedeutend, doch dürfte oft

gerade diese Verbindung tatsächlich unrichtig sein und sodann auch wenig zur Erklärung über die wirklichen Ursachen beitragen.

Immerhin

144

ist das Wissen der Zeit des ersten Bemerktwerdens nicht ohne Bedeutung, denn es ergibt sich daraus doch vielleicht ein Schlüssel für die Erscheinung selbst, ihren äußeren Anlaß und sogar für die letzte Ursache, die ja — wie alles, was feiner Entstehung nach das frühere ist — in der Regel erst

später, oft sogar erst zuletzt erkannt wird, wenn das Rätsel überhaupt

von uns gelöst werden kann. Selbstredend ist sowohl die Begriffsbestimmung der Geistesschwäche im allgemeinen wie auch ihre Abgrenzung im besonderen, etwa nach Maßgabe der oben erwähnten Unterscheidungen, nicht ganz einfach. Solches ergibt sich z. B. auch daraus, daß wiederholte Versuche hierfür, obwohl sie von hervorragenden Psychiatern ausgingen, besonders darum bemängelt wurden, weil sie entweder in der Bestimmung der Merk­ male, der Art ihres Auftretens, oder in der Angabe und Beschreibung der Ursachen nicht vollständig und klar genug feien (vgl. z. B. Heller,

„Grundriß der Heilpädagogik", S. 13 ff.). Man wird es mir deshalb nicht übel nehmen, wenn ich als Laie einen bezüglichen Versuch gar

nicht erst wage*), sondern mich an Tatsächliches halte und eigene Wahr­ nehmungen sowohl wie auch die Ergebnisse sachverständiger Feststel­ lungen kurz zusammenfasse und mit der sogenannten „angeborenen Geistesschwäche" beginnend, diese — als für unsere Schulen hoffnungs­ loseste Krankheitsform bezeichne, weil die von ihr Befallenen durchaus

des intellektuellen Vermögens entbehren, welches für jeden Schulunter­ richt die unumgängliche Voraussetzung bildet. Worin besteht denn nun solcher Mangel des intellektuellen Ver­

mögens bald nach der Geburt? Zunächst in dem Fehlen gewisser Ein­ drücke auf die Sinnesorgane, die beim normalen Kinde oft schon im

Augenblicke der Geburt wahrnembar find; es gilt das sowohl für das *) Natürlich ist mir nicht unbekannt, daß solche Erscheinungen aus Erkrankungen oder Veränderungen wichtiger Gehirnteile zurückgeführt werden, als Folge von

Unfällen, akuten Krankheiten, epileptischen Anfällen und ähnlichem auftreten; ge­

legentlich mit der Mißbildung, mit Wucherungen, Defekten gewisser Sinnes- oder der Sprachorgane Zusammenhängen; auf das Fehlen oder die Entartung der Schild­ drüse Hinweisen u. dergl. mehr — kurz und gut oft einen körperlichen Untergrund haben.

Aber — weil vielfältig dieser Zusammenhang — wenn auch wahrscheinlich — doch

höchstens vom Arzte nachgewiesen werden kann, so verzichte ich auf die Anführung

eigener Wahrnehmungen oder anderwärts berichteter Beispiele, zumal gerade bei unseren Kindern besonders hochgradige Fälle einschlägigen Charakters seltenere sein

werden.

145 Gesicht tote auch für das Gehör (ich verweise auf die bezüglichen Physio­ logischen Merkmale, die auf S. 77—80 des Buchs von Demoor „Die anormalen Kinder" angegeben find); weiter in dem Fehlen gewisser Reflexbewegungen, die schon bei der Geburt bestehen und die Demoor zunächst als Saugen, Mesen, Schreien bezeichnet (S. 80): „das Fehlen

derselben weise auf eine organische Unzulänglichkeit oder auf eine be­ deutende allgemeine Anomalie hin." Betreffs der anderweitigen Be­ weglichkeit der assoziierten Muskeln, wie solche hervortritt in dem soge­

nannten Lächeln, in dem Vorstrecken der Lippen, den Bewegungen

gewisser Teile der Hand zum Zwecke des Ergreifens (Bedeutung des den anderen Fingern entgegengestreckten Daumens!), weiter der Geh­ versuche usw.; die innerhalb des ersten und allenfalls auch des zweiten Lebensjahres vorgenommen werden, kann auch nur gesagt werden, daß, wenn sie fehlen sollten, auch das Nervensystem mangelhaft sei. Die weiteren (— im engeren Sinne intellektuell zu nennenden —) Äußemngen gehören in das Gebiet des Sprechens, Wollens, Behaltens, Aufmerkens: wenn sie ganz fehlen, oder ganz regelwidrig auftreten, sind sie unzweifelhaft Zeichen schwerer organischer Defekte und vervoll­

ständigen das Bild angeborener Geistesschwäche, die schließlich zur aus­ gesprochenen Idiotie wird und als solche endet, also die Aufnahme­ fähigkeitfür irgendeine Art von Schulunterricht schlechterdings ausschließt. Auf alle angeborenen Fälle die Bezeichnung „ererbt" oder „vererbt" zugleich anwenden zu wollen, wäre nicht richtig, da bisweilen auch die

Kinder gesunder und normal veranlagter Eltern durch besondere Zufälle während des Aufenthalts im Mutterleibe oder bei der Geburt (schwere Geburt, Frühgeburt) solche — eben beschriebene, sie schwer schädigende Mängel davongetragen haben. Angeboren (d. h. mit der Geburt oder unmittelbar nach der Geburt festgestellt) sind sie allerdings; aber da sie durch unglückliche Zufälle über sie gekommen sind, kann von einer direkten Vererbung nicht die Rede sein, denn eine solche setzt Vererber voraus, die doch hier fehlten. Der Ausdruck Vererben oder Ererbt-Haben wäre höchstens in ähnlichem Sinne zu deuten, wie in der bekannten Stelle

des Faust: es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort — weh dir, daß du ein Enkel bist! d. h. weil wir Enkel von Menschen,

kann auch uns alles Menschenmögliche zustoßen. Ganz anders liegen die Fälle, in denen die Kinder die Folg en der Sünden oder Mängel ftüherer Generationen wahllos zu tragen haben, Bsod stein, Erziehungsarbeit.

10

146 Fälle, die so außerordentlich häufig sind, daß z. B. der Württembergische Psychiater Dr. Wildermuth für fast 70% der Schwachsinnsträger das Borwalten erblicher Belastung annimmt, ein Satz, der eine gewisse Bestätigung in Berichten anderer z. B. von A. Wintermann: „Die Hilfsschule in Bremen" dadurch empfängt, daß dieser auf S. 7 bei 25% seiner Zöglinge den Alkoholismus der Eltern als Ursache der-Geistes­

schwäche einschätzt. Und außer dem Alkohol gibt es doch noch eine erhebliche Menge anderer Schwachsinnserreger! — Um als dritten Gewährsmann noch einen der ersten Kinderärzte Berlins, Professor Dr. Heubner, anzuführen, beziehe ich mich auf dessen Vortrag in einer Hauptversammlung des Kongresses für Kinderforschung (Anfang Oktober

1906), mitgeteilt in dessen gedrucktem Berichte S. 56—61 (Verlag: Hermann Beyer & Söhne in Langensalza, 1907). Herr Professor Heubner erwähnt, daß er im Laufe der Jahre 9200 kranke Kinder zu

behandeln gehabt habe, von denen 307 mit Idiotie und verwandten Zuständen behaftet waren. Rechne er dazu noch 92 Fälle von Epilepsie, von denen wenigstens ein wesentlicher Teil auch in seinen psychischen Funktionen gestört gewesen sei, so ergebe das 4,3%, oder unter 25 Kin­

dern, die ihm zugeführt wurden, war eins chronisch gehirnleidend. Ist aber solchen Zahlen auch kein absoluter Wert beizumessen, denn für eine ganze Reihe von Fällen tritt außer der Abstammung von krankhaft veranlagten Eltern das eine oder andere, den Geisteszustand beschwe­ rende Moment hinzu: Mangel an ordnungsmäßiger Pflege und Er­ nährung ,eine vielleicht von anderen empfangene Infektion u. dgl m., zumal bei Unehelich-Geborenen nicht selten. Halten wir also immer die Vererbung für eine in sehr vielen Fällen wahrscheinliche Entstehungsursache; hüten wir uns aber vor der Be­ hauptung voller Sicherheit in Fällen, wo ältere und auch jüngere Ge­ schwister normalen Typus aufweisen; ist ja doch oft genug die erste Geburt auch einer Mutter schwerste Geburt und dadurch auch für das älteste Kind zu einem schweren Verhängnis geworden, ohne daß man die Eltem mit einer Schuld belasten darf. Vergessen wir ferner richt, daß auch die Eltem selbst schon Krankheitsanlagen überkommen haben und ohne eigene Schuld Übertragungs-Media gewesen sein kämen. Generalisieren und vemrteilen wir auch hier nicht ohne weiteres und

ohne voraufgegangene unvoreingenommene Untersuchung, nötigersalls auch des Arztes. Machen wir uns aber auch zu nutze und beziehen wir

147 uns auf die Ergebnisse der in neuester Zeit mit großem Eifer betriebenen experimentellen Kinderforschung, welche sich bemüht, nicht nur über

gewisse Erscheinungen aufzuklären, sondem auch für ihr Entstehen einigermaßen sichere Unterlagen mitzuteilen; — so kommen wir doch zu der Überzeugung, daß in vielen Fällen tatsächlich ein Zusammenhang zwischen krankhaften Anlagen und Zuständen der Eltern und Kinder bestehen kann, selbst wenn er sich bei letzteren in veränderter Form

zeigen sollte. Immerhin hinterläßt — wie in der Natur aller organischen

Wesen — die Beschaffenheit des Samens und des Bodens auf die Entwicklung der Fmcht bestimmenden Einfluß ausübt, auch wenigstens die Leiblichkeit der Eltem und die Art ihrer Fürsorge für die Kinder

in der Regel erkennbare Eindrücke bei diesen.

Selbstredend kommt

hier auch in Betracht, daß die dem Menschen innewohnende Willens­ freiheit der Entwicklung seines Seelenlebens den Zwang mehr fern« hält, den der Mutterboden auf die bewegungslose Pflanze ausübt. Unterliegt demnach die Leiblichkeit, wie auch das Seelenleben des

Menschen nicht in gleichem Maße solchen beschränkenden Entwicklungs­ gesetzen wie die bodenständigen oder gewissen Instinkten unterworfenen anderen organischen Geschöpfe, so empfängt er doch auch von seinen Erzeugern ein — seinem eigenen Wunsch und Willen durchaus nicht völlig unterworfenes — Gepräge, welches seinen Zusammenhang mit seinen Vorfahren deutlich bezeugt, ohne daß damit gesagt wäre, welche besonderen Merkmale es in jedem Falle aufweisen müsse. Diese Merkmale

können — wie solches geschieht, ist nicht aufgeklärt — günstige, fördernde, gute, aber auch ungünstige, hemmende, ungute sein, je nachdem sie gewisse Vorzüge oder greifbare Mängel der Eltem abspiegeln oder sonst wiedergeben. Daß aber entsprechende Erfahmngen schon uralte sind, ergibt sich aus der Drohung und Verheißung, die schon in der mosaischen Gesetzgebung (2. Mos. 20 B. 5) ausgesprochen ist, wonach der Väter Missetat an den Kindern heimgesucht wird, also Folgen hat, die in dem Zusammenhänge und der Einheit der Familie ihre Ursache haben und ihren Ausdmck finden. Wenn nun weiter die Tatsache des Zusammen­

hangs der Körperbeschaffenheit mit gewissen Seelenzuständen schlechter­ dings nicht zu leugnen ist (unter den Merkmalen schwacher Begabung ist die entsprechende körperliche Einwirkung auf das geistige Leben schon beschrieben), so ist es klar, daß offenbare Schädigungen des Körpers auch auf geistige Vorgänge Einfluß ausüben können, ob solches nun 10*

148 sofort oder erst später bemerklich werde. Weiterhin ist es denn auch nicht ausgeschlossen, daß die Entartung der Körperverhältnisse der Eltern

sich im weiteren auf Kind und Kindeskind ausdehne oder wie es in der angezogenen Bibelstelle heißt: bis ins dritte und vierte Glied. So läßt sich fast in jedes Menschen Schicksal erfahren und zeigen, daß Sünden und Mängel der Eltern sich an den Kindern gerächt, d. h. ihre verderb­ liche Wirkung auch auf die Kinder ausgeübt haben. Dieser Wahrnehmung entsprechend glaubt nun z. B. Erziehungs­ inspektor H. Piper in seiner Schrift: Zur Ätiologie der Idiotie (Berlin, H. Kornfelds Verlag 1893) auf Grund einer sehr eingehenden Unter­ suchung einer größeren Anzahl von Zöglingen der ihm unterstellten Dalldorfer Jdiotenanstalt als Ursachen der seelischen Erkrankung an­ nehmen zu sollen: 1) Geisteskrankheit der Eltern oder sonstiger Ver­ wandten; 2) Schwindsucht; 3) Trunksucht; 4) Syphilis; 5) Krämpfe

(Epilepsie); 6) allerlei erschwerende Umstände während der Schwanger­ schaft der Mutter; Frühgeburt, oder Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft; 7) Schwachsinn oder Nichtvollsinnigkeit der Eltern; 8) endlich auch nahe Verwandtschaft der Eltern. Es dürfte keinen Zweck haben, die Prozentsätze im einzelnen der von Herrn Piper untersuchten 215 Fälle hier anzuführen; doch möge hervorgehoben werden, daß etwa die Hälfte der Fälle auf die unter 1 bis 3 bezeichneten

Ursachen zurückgeführt werden; ferner aber auch daß bei 20 Fällen, etwa = 9% ein Zusammenhang nicht nachweisbar erschien. Inwieweit in den betreffenden Fällen neben der angenommenen Vererbung auch noch eigene Verschuldung der Belasteten hinzugekommen sein mag, ist nicht festgestellt und kann auch meist nicht festgestellt werden, da ja die eigene Verschuldung vielfältig als eine Folge der vererbten Anlage angesehen werden kann und so den Grad der Belastung nur gesteigert haben dürfte. Ähnliche Prozentsätze finden sich auch in anderen Berichten, die

auf Grund genauer Untersuchungen viel größerer Anzahlen von anor­ malen Kindern festgestellt wurden; so in dem ausgezeichneten Buche von De Jean Demoor, Professor der medizinischen Fakultät usw. in Brüssel: Die anormalen Kinder und ihre erziehliche Behandlung in Haus und Schule (Band III der von Chr. Ufer herausgegebenen Inter­ nationalen Bibliothek für Pädagogik und deren Hilfswissenschaften; Menburg, 1901, Druck und Verlag von Oskar Bonde) S. 18 ff. Ist

149 dort einerseits angeführt, daß die hauptsächlichen Ursachen krankhafter

Vererbung in: organischer Minderwertigkeit der Eltern, Tuberkulose, Syphilis, Alkoholismus und in nervösen Störungen zu suchen sind,

so wird gleichzeitig hingewiesen auf eine Statistik über 2380 Fälle von Blödsinn und Geistesschwäche, die Shuttleworth und Fletcher Beach bearbeitet haben und wo sie Geisteskrankheiten der Eltern ganz aus dem Spiele lassen, aber Schwindsucht, Epilepsie, Unmäßigkeit, Syphilis cadens der Eltern und Unfälle während der Geburt für die anormalen Erscheinungen verantwortlich machen. Die Blutsverwandtschaft der Eltern als Ursache ist dort mit 5% beziffert. Betreffs der dort sehr ein­ gehend behandelten Entwicklungsgesetze und des Einflusses der Ver­

erbung verweise ich auf das Buch selbst und beschränke mich darauf, über die Bedeutung der Vererbung die Einleitungsworte zu Abschnitt I des zweiten Kapitels (S. 17 f.) zu zitieren, weil diese einmal das Gesetz der Vererbung überhaupt bestätigen, im übrigen aber meine Zurück­

haltung zu der unbedingten Annahme der Vererbung im Einzelfalle einigermaßen rechtfertigen. Die Worte lauten: „Die normale Vererbung macht aus dem Kinde ein Wesen, dessen sämtliche morphologischen und

funktionellen charakteristischen Eigenschaften auf der Durchschnitts­ linie stehen. Neben diesem physiologischen Einflüsse jedoch muß noch der krankhafte in Betracht gezogen werden, der in den meisten (!) Familien besteht und die Nachkommenschaft von jener organischen Harmonie abweichen läßt, die wir Gesundheit nennen. Bei der Untersuchung des krankhaften Zustandes, den das Kind bei seiner Geburt mitbringt, ist es oft schwer, den wirklichen Ursprung der Symptome zu entdecken. Rührt der Zustand des kleinen Kindes von einer fötalen Krankheit her? Muß er einer Gesundheitsstörung der Mutter zugeschrieben werden,

wodurch eine mangelhafte Ernährung des Organismus im fötalen Zustande veranlaßt worden ist? Soll man ihn mit einer Krankheit des Vaters, der Mutter, oder beider in Verbindung bringen, die die Fort­ pflanzungszellen beeinflußt und somit eine direkte Übertragung des Übels bewirkt hat? Diese Fragen müssen oft ohne Antwort bleiben und doch sind sie, wie wir weiter sehen werden, von großer Wichtigkeit." Alsdann

folgt eine Beschreibung des Einflusses gewisser Vererbungsfaktoren, der organischen Minderwertigkeit usw., die ich schon oben aufgezählt hatte.

Demnach geht hieraus, zumal wenn ein krankhafter Einfluß in den meisten Familien besteht, nicht nur die Möglichkeit, sondem sogar

150 die Wahrscheinlichkeit krankhafter Vererbungen bei sehr vielen Kindern

Inwieweit davon außer den leiblichen auch die rein seelischen oder geistigen Kräfte berührt und in Mitleidenschaft gezogen werden können und ob solches unmittelbar geschieht oder nur mittelbar, das

hervor.

ist eine Frage, die nicht allgemein gültig beantwortet werden kann, sondern von allerlei begleitenden Umständen abhängig ist. So können also bei Menschen, die noch nicht oder nicht mehr in der Vollkraft der Gesundheit stehen, die Kinder auch Schwächezustände geistiger und

sonstiger Art erben, die sie unter die Normallinie bringen; doch braucht solches nicht immer der Fall zu sein, wenngleich die Erfahrung lehrt, daß Keime oder Wirkungen des die Eltern schwächenden Übels sich besonders dann auch bei den Nachkommen zeigen werden, wenn nicht frühzeitige Fürsorge vorbeugend der unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung entgegenwirkt. Die schon oben erwähnten Krankheits­

zustände der Eltern können also die Kinder schädigen; müssen es aber nicht tun. Betreffs der nahen Blutsverwandtschaft ist Demoor der Meinung, daß sie meist nur dann die Kinder gefährden werden, wenn aus der Anhäufung gleicher krankhafter Dispo­ sitionen

bei

Gliedern

derselben Familiengruppe gewissermaßen

doppelter Jnfektionsstoff sich auf die Kinder überträgt. Erscheint nach dem Bisherigen nicht bloß die Möglichkeit, sondern

auch die Wahrscheinlichkeit einer Vererbung leiblicher und auch seelischer

Anlagen und Mängel seitens der Eltern auf die Kinder jedem Zweifel entrückt; so dürfte doch der überzeugende Nachweis unbedingter Not­ wendigkeit und eine genaue Angabe des Prozentsatzes der Fälle und

des Stärkegrades nicht zu erbringen sein, weil außer den durch Erzeugung und Geburt vermittelten, doch noch eine Anzahl anderer Momente und Verhältnisse in Betracht kommen, welche bald verstärkend, bald mildernd, unter Umständen sogar geradezu aufhebend wirken können. Steht unter den letzteren die möglichst frühzeitige Erkenntnis der Gefahr und das möglichst ausgiebige Fernhalten aller den Krankheitsstand

fördernden Anlässe obenan; so kann doch das Verbleiben in dem bis­ herigen Milieu und unter den dort herrschenden Einflüssen, die bisherige persönliche, diätetische, moralische Behandlung, die fehlende Rücksicht-

nahme auf Körper- und Gemütszustand nicht nur verstärkend, ja ge­

radezu vertierend wirken, wie ja vielfältig aus bloß langsam sich Ent­ wickelnden, von Hause aus Gutartigen, aber körperlich Gebrechlichen

151 und mit gewissen Untugenden (Bettnässen, Ausschlag, Unsauberkeit usw.j Behafteten durch lieblose Vernachlässigung, gelegentlich sogar durch menschenunwürdige Verpflegung und Behandlung Trottel der schlimm­

sten Art, wahre Menschenfeinde blindwütigster Art geworden sind. So kann denn neben der durch Vererbung von krankhaften Anlagen entstandenen Disposition zu leiblichen und seelischen Defekten noch durch die Art der Ernährung und Pflege, durch verderbliches Beispiel und üble Gewohnheiten, durch Berfühmng zu gröblichem Sinneskitzel und Verfrühung geschlechtlicher Ausschweifungen eine Menge weiterer Ur­

sachen geschaffen und zur völligen unheilbaren Zerrüttung der Leibes­ und Geisteskräfte der Grund gelegt werden. Damit ist zu dem, was ich unmittelbare Vererbung nennen möchte, weil kein Mttelglied die Übertragung gewisser Mängel und Nachteile von den Eltern auf die Kinder besorgt, noch eine mittelbare Vererbung angedeutet, welche

durch Personen und Sachen bewirkt werden kann, die eine weit schlimmere Herrschaft über den Patienten des elterlichen Erbteils ausüben können als dieses allein; aus welcher Sklaverei es auch nur eine Befreiung gibt: die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt mit ihrer ununter­ brochenen, jede schädliche Berührung ausschließenden Überwachung und ihrer planmäßigen Gewöhnung zu einer Beschäftigung, die den noch vorhandenen Kräften entspricht und sie zu erhalten sucht, wenn eine Weiterbildung nicht mehr möglich wäre. Während die physiologischen Merkmale des angeborenen Schwachsinns schon bald nach der Geburt sich zeigen und ihre Träger sich im weiteren auch durch das Fehlen der Beweglichkeit gewisser Or­ gane und durch den Mangel an Äußerungen intellektuellen Inhalts von

normalbeschafsenen Neugeborenen unterscheiden; tritt der Einfluß der Vererbung bisweilen schon früh, häufiger aber erst mit dem 6. oder 7. Lebensjahre; bei manchen gar erst sehr viel später hervor, gelegentlich sogar nur durch eine einzige Handlung oder eine Reihe solcher, die sich nicht durch eine plötzliche Umnachtung erklären lassen. Hat aber die Schule mit den letzteren nur vielleicht ganz vereinzelt einmal zu tun (— es gibt ja Beispiele verbrecherischer Anlagen schon bei ganz jungen Kindem; bei andem treten solche viel später auf; haben doch wiederholt

Mädchen in den Entwicklungsjahren, also erst nach Austritt aus der Schule, unerhörte Grausamkeiten, Brandstiftungen und Ähnliches begangen —) so bringt der Eintritt in die Schulpflicht und die damit an

152

die Kinder sich richtenden Forderungen gelegentlich das Vorhandensein geistiger Störungen zutage, welche oft den Eltem durchaus verborgen

geblieben waren. Es hat deshalb einen sehr guten Sinn, wenn diese Schulunterrichtszeit den Schulärzten besonders weitgehende Beobachtungs- und Untersuchungspflichten auferlegt. Hier werden sich Schularzt und Lehrer vereinigen müssen, um nicht nur die physiolo­ gischen und psychischen Verhältnisse, sondern auch die Verhältnisse des ganzen Mlieu der abnorm scheinenden Kinder immer wieder der Prüfung zu unterziehen; denn gerade die letzteren tragen oft genug

mindestens in gleichem Grade zur fortschreitenden Entartung bei, wie die von den ersteren beeinflußten Anlagen, welche vielleicht ein zeit­ weiliges Zurückbleiben, nicht aber die überraschend schnelle Entwicklung der Degenerationsmerkmale erklären. So gehört also das aus der Um­ welt der Kinder, ihrer Umgebung, Emährung, Pflege, Gewöhnung, Lebensauffassung auf sie übertragene Kapital von Ungesundheit, Un­ wahrhaftigkeit, Eigennutz, sittlicher Verderbtheit auch in das Gebiet der Vererbung, welche fortzeugend und fortwirkend Böses muß gebären. Dieses Beobachtungsmaterial zu gewinnen, ist oft nicht leicht, vielfach sogar äußerst peinlich; denn es verlangt ein Eindringen in Verhältnisse,

welche die Eltern zu offenbaren meist durchaus nicht geneigt sein werden, so daß selbst der bei Heller: Grundriß der Heilpädagogik S. 189 f. aus­ geführte Fragebogen von S. Kalischer aus dessen Schrift: Was können wir für Unterricht und Erziehung der schwachbegabten Kinder tun? (Berlin, 1894, L. Oehmigke) meist nur durch gemeinsames Nachforschen der Lehrer und Ärzte annähemd richtig dürfte beantwortet werden. (Man vergleiche über die Notwendigkeit solcher Aufschlüsse Demoor

S. 98, Mttelabschnitt.) Aus dem Angeführten- ergibt sich, daß zur Feststellung der Bererbungsursachen weder eine Frageschablone, noch zu ihrer Abstellung ein allgemeines Erziehungs- und Unterrichtsrezept genügen kann; sondern daß hier nur das genaueste Erforschen der indivi­

duellen Verhältnisse und die sorgsamste Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse helfen wird, und man wohl verstehen kann, wenn ein be­ deutender Forscher auf unserem Gebiete einmal ausgesprochen hat:

„er kenne keinen Idiotismus, sondem nur Idioten, also nur Individuen von abnormer Geistesbeschaffenheit." So gibt es also eine außerordentliche Fülle von Ursachen für die Entstehung und die Entwicklung von geistigen Schwächezuständen, und

153 ich halte es für entbehrlich, nachdem der angeborenen und der durch

verschiedene Umstände der Vererbung erworbenen Geistesschwäche, die

dauernd und periodisch, früher oder später auftreten kann, eingehend gedacht worden ist, noch gewisse Ursachen für selbstverschuldete Abnor­ mität eingehender zu beschreiben, weil dasjenige, was die Ubertragungs-

und Vererbungsfähigkeit entsprechender Schwächeerscheinungen zur Folge haben,

auch die eigene Erkrankung mit allen möglichen Folgen ver­

schulden kann, besonders wenn eine gewisse Disposition vorhanden und die Widerstands Willigkeit nicht entwickelt ist. zustände,

hervorgerufen

Sind Physische Schwäche­

durch mangelhafte Ernährung,

Blutarmut,

Aufenthalt in ungesunden Räumen, Knochenerweichung, Abstammung von schwerkranken Eltern usw., oder Mängel im Nervensystem, epilep­

tische oder sonstige Krampfanfälle vorhanden; treten Zeichen geschwächter oder gelähmter Gehirnfunktion zutage; zeigt der Zustand des Körpers

und Geistes deutliche Spuren schneller Ermüdung; besteht daneben wohl noch eine Neigung zum Alkoholgenuß und ist womöglich eine Gewöhnung zu solchem schon frühzeitig eingepflanzt worden — so

bedarf es keiner sehr intensiven Anstöße, um nach und nach eine Geistes­

schwäche herbeizuführen, aus welcher wirkliche Krankheitszustände sich

leicht entwickeln können, die die Leistungsfähigkeit aufs schwerste beein­ trächtigen müssen.

Mmmt man nun auch wohl an, daß eine solche

Selbstverschuldung bei Schulpflichtigen sich nicht zu häufig finden

dürfte; so muß doch betont werden, daß sie sich doch auch nicht zu selten vorfindet, wenn sie auch nicht immer mit bewußter Absicht, sondern

durch ungünstige Einflüsse, üble Gewöhnung, gebotene Gelegenheit

herbeigeführt sein kann und Besserungs- wie Rettungsversuche durch das Haus und die Familie nicht unterstützt werden. —

Alle hier bezeichneten Ursachen können den selbstredend sehr ver­

schiedenen Graden geistiger Schwächezustände zugrunde liegen; und auch in den Hilfsschulen wird es nicht an Individuen völlig fehlen,

denen sei es durch Vererbung, durch die häuslichen und besonderen

Verhältnisse, sei es durch nicht frühzeitiges Erkennen der Geistesbeschaffen­

heit, durch Mangel an Einsicht in die Verderblichkeit gewisser Gewohn­ heiten und Genüsse eine Abnormität ausgeprägt worden ist, die sie der

Erfüllung menschenwürdiger Pflichten unfähig zu machen droht. Indes

brauchen es nicht durchweg so tiefgründige Ursachen zu sein, welche die Rückständigkeit der — gesonderten Unterrichtsbedürftigen verschuldet

154 haben.

Körperliche und persönliche Verhältnisse: schwere akute Krank­

heiten, die zwar überwunden sind, aber doch noch nachteilige Folgen hinterlassen haben; Mängel einzelner Sinnesorgane; Sprachgebrechen und Störungen der Sprachorgane durch angeborene Schäden (z. B.

Hasenscharten, Wolfsrachen); gewisse Zahn- und Nasenatmungsleiden; die Folgen ererbter Skrofulose und leichterer — vielleicht nur seltener

aufgetretenen — nervöser Zufälle und, infolge ihrer, große Reizbarkeit und Schreckhaftigkeit; kleinere Schäden an den Gliedmaßen, Zittem und Zucken derselben, was ihre Leistungsfähigkeit schwer beeinträchtigt, vielleicht sogar Spott herausfordert und noch dies und jenes andere, was das Selbstgefühl herunterdrückt — bringen gelegentlich zustande, daß die Betroffenen sich schließlich gar nicht an irgendeine Arbeit heran­

wagen, weil sie lieblose Bemerkungen der Umgebung herausfordern könnte. Treten zu diesen Entwicklungshemmnissen noch gewisse häusliche Trübsale hinzu, die weiter oben schon berührt wurden: schroffe Be­

handlung seitens der Angehörigen, die das Kind häufig fühlen lassen, daß man es für Umstände verantwortlich macht, die es nicht selbst ver­

schuldet hat; kurz und gut — entsteht bei diesem Stiefkinds des Hauses der Eindruck, daß es allen eine Last sei, mit Unlust geduldet werde — so entwickelt sich schließlich eine Passivität, eine Gemütsverstimmung,

unter Umständen sogar ein Trotz, der jede bessere Willensregung erstickt. Wie sollte eine Pflanze gedeihen, die niemals Sonnenschein erlebt? Wie sollte auch bei so verdüsterter Existenz auch etwas Schaffensfreude erstehn?

Daß dergleichen Verhältnisse bei unehelichen Kindem, die

dafür büßen müssen, daß sie einem Vergehen der Mutter oder des Vaters das Leben verdanken, besonders häufig vorkommt, ist leider eine nicht seltene Erfahrung — und fast jede Hilfsschule dürfte eine ziemliche

Anzahl solcher Kinder der Liebe beherbergen, die Liebe nie genossen, sondern stets zu entgelten haben, daß die Eltern sich ihretwegen schämen

müßten.

Erklärlich ist deshalb, daß S. Kalischer in dem schon oben

erwähnten Fragebogen als erste Frage hinstellt: Name des Kindes?

ehelich? unehelich? Zu diesen generellen Ursachen der sogenannten schwachen Be­ gabung treten natürlich auch noch besondere. Wie Georg Ebers (der bekannte Ägyptologe und Romandichter) einmal sagt, ruht in jedem Menschen für irgendeine Wirksamkeit oder einen Beruf eine vorwaltende

Anlage und eine für ihre Ausbildung in gleichem Verhältnis stehende

155

Kraft. Ob das richtig sei oder nicht, bleibe hier dahingestellt. Tatsache ist jedenfalls, daß es unter den Schwachbegabten, ja sogar unter denen,

die zu den Idioten gerechnet wurden, Leute gab und wohl auch noch gibt, die z. B. ausgezeichnet rechnen konnten, ja geradezu Rechenkünstler

waren; während es andererseits solche gibt, die, obwohl sonst geistig normal, angeblich schlechterdings das Rechnen nicht lernen. — Weiter gibt es solche, die ein staunenswertes Gedächtnis besitzen für Zahlen, Namen, Dinge ohne Zusammenhang, die dem judiziösen Gedächtnis große Schwierigkeiten bereiten dürften. Ein klassisches Beispiel für letzteres führt Karl Ludwig Roth in seiner Gymnasial-Pädagogik ((Stuttgart, I. L. Steinkopf 1865) S. 112 f. in einem Blödsinnigen August Weck an. Derselbe hatte ein ungemein starkes Wort-, Sachund auch Ortsgedächtnis, durch welches er die ihm mitgeteilten Töne vollständig und oft nach langer Zöit ganz genau wiederzugeben wußte, ohne sich den Inhalt jemals angeeignet zu haben.

Dasselbe galt auch

von den Wegen, die er gemacht; den Aufträgen, die er wortgetreu ausrichtete, und noch nach Monaten und Jahren anzugeben vermochte. Seinen Abschied vom Mlitär, welcher ihm vorgesagt und schriftlich

mitgegeben war, sagte er buchstäblich einschließlich der Worte: „er sei seines Blödsinns halber entlassen worden" auf, so daß man merken konnte, daß diese Worte, wie manches andere, was in dem Abschied stand, ihm schlechterdings unverständlich war. — Außer diesem Zahlen- und Wort­ gedächtnis läßt sich auch ein musikalisches Gedächtnis — sogar bei Idioten

— feststellen. Für diese und ähnliche Erscheinungen eines überraschenden Kön­ nens*) eine Ursache oder auch nur eine Erklärung anzngeben, erscheint fast ebenso schwer, wie das Erfassen des Schaffens eines Genies in seinen innersten Beweggründen; und selbst der Versuch — gegenüber der sonst angenommenen Hemmung

der Gehirnentwicklung, auf welche der Schwachsinn meist zurückgeführt wird — dies Können auf die nicht bewirkte Hemmung eines besonderen Gehirnteils, dessen Funktion dieses Festhalten von allerlei Aufgenom*) Daß Menschen, die die Natur auf einem einzelnen Gebiete der Wissen­ schaften und Künste mit hervorragenden Geisteskräften ausgestattet hat, durchaus nicht

immer von außergewöhnlicher allgemeiner Begabung sind, ist eine durch tausendfältige Erfahrung erhärtete Wahrheit.

Oft sogar entpuppen sich solche bei näherer Prüfung

als gewöhnliche Durchschnittsmenschen.

Seltener zeigt sich dergleichen aber bei

156 tnenetn sei, begründen zu wollen, dürfte keine Sicherheit gewähren. Man mag also dieses Wort- oder Zahlen- oder Tongedächtnis als etwas

Gegebenes ansehen; darf ihm aber einen übertriebenen Wert schon um deswillen nicht beilegen, weil dies Können immer ein mechanisches, beschränktes, und nicht durch wirkliches Verständnis hervorgebrachtes ist. Vielleicht beruht es oft auch auf einer Art Erbschaft, wie ja bekannt sein dürfte, daß gewisse Anlagen nicht nur in Familien und Stämmen, (In Schlesien nannte man z. B. alle wandernden Musikkapellen schlechtweg „Böhmaken",

sondern sogar in ganzen Völkern sich vererben.

weil sehr viele Glieder derselben aus Böhmen stammten. Andererseits dürfte bekannt sein, daß mit dem Satze: „Frisia non cantat“ den Friesen alle Gesangsgabe abgesprochen worden ist.) — Daß neben diesem ge­ dächtnismäßigen Können auch bei Schwachbegabten ein Erfassen und

Handhaben gewisser Formen, die im Schönschreiben, Zeichnen, Model­ lieren, Schnitzen und anderen Fertigkeiten zur Geltung kommen, sich nicht ganz selten findet, mag sich zum Teil auch als Familien- oder Stammes­ erbteil erklären lassen: was jemand von frühester Kindheit erst gesehen,

dann immer wieder geübt hat, womit er unter Umständen den ©einigen etwas erwerben hilft, darin bringt er es oft zu einem Können, welches ein der Sache Fernstehender gar nicht begreift. Das Einzige, was wir

daraus entnehmen wollen, ist, daß wir darnach trachten, es soweit zu fördern, daß es dem Handhabenden zur Erlangung eines bescheidenen Stückchen Brotes dienen kann. Hier gilt also auch aus der Not eine Tugend zu machen.

Liegt nun dies eben erwähnte Können auch im wesentlichen außer­ halb dessen, was man unter Schulwissen in der Regel versteht, weil alle zumeist technischen Fächer in den allgemein bildenden Schulen meist

nur für halbvoll gelten und trotz ihrer Bedeutung fürs Leben hinter den eigentlichen Wissensfächern erheblich zurückstehen müssen — so erscheint wirklich Geistesschwachen; immerhin kommt dergleichen, wie oben an einem Bei­

spiel gezeigt,, vor.

Hier noch ein paar Fundstellen, die über andere Auskunft geben.

Dißelhoff z. B. in seinem Aufruf zugunsten der Kretinen erwähnt einen solchen bis 1853 in Salzburg lebenden sogenannten Zahlenfex, der die schwierigsten Auf­

gaben kopfrechnend unglaublich schnell löste (S. 21). Ufer über Sinnestypen (S. 101)

ebenfalls einen solchen, der zum Gehörtypus gehörte, die Zahlen scharfartiknliert vor­

gesprochen verlangt, und dieselben dann ebenso scharf artikulierend löst.

vr. Wizel

berichtet im „Archiv für Psychiatrie" über eine Irre, die nicht bloß rechnet, sondern auch in Reimen sprechen, also dichten kann.

157 es doch gerade für die Hilfsschule dringend notwendig, das Erzielen solches Könnens mit zur Hauptaufgabe zu machen und das MehrTheoretische nicht allzusehr zu betonen. Natürlich kommt hierfür die Berücksichtigung der Veranlagung und besonders die der praktischen Veranlagung besonders in Betracht; — und der Erzieher sowohl wie

auch der Schulärzte erste Aufgabe dürfte sein, zu erkunden, wohin diese Veranlagung — und sie wird sich durch die Neigung, sich darin zu betätigen, schon früh genug erkennbar machen — sich richtet.

Dann

wird es gelten, dieser Richtung nachzugehen und von ihr aus den Eingang in andere Gebiete, auch solcher mehr theoretischer Art, einigermaßen offen zu legen. Aus dem Dargelegten dürfte sich ergeben, daß das — was wir Schulbildung und Schulanlage nennen, für unsere Zöglinge weniger Bedeutung hat, wenn wir auch durchaus nicht verkennen, daß

auch ein gewisses Schulwissen für das anzustrebende Können gute Dienste

leisten kann. Wenn Herbart einmal sagt: „Die Schule soll zunächst das allgemeine vorziehen, weil dadurch das meiste erreicht wird. Denn wer das Allgemeine weiß, der weiß von jedem Einzelnen, innerhalb dessen

auch das Allgemeine vorkommt, schon etwas; er findet sich vorbereitet, das Einzelne nun noch vollends auszulernen und so seine Kenntnisse zu erweitern;" so müssen wir für unsere Zöglinge es jedenfalls umge­ kehrt machen, immer mit dem Einzelnen beginnen, ihnen dieses Einzelne bestmöglich nahe bringen und vertraut machen; später dürften sie bei

Verwandtem schon herausfinden, welche gleiche oder ähnliche Haupt­ merkmale beidem gemeinsam sind und dadurch etwas Allgemeinbildung, wie sie in den Schulen für Normalbegabte besonders erstrebt wird,

sich aneignen.

Umwege — dem System zu liebe — dürfen hier nicht

gemacht werden; und ihnen ist ein begrenztes, aber möglichst sicheres

Können und Wissen nützlicher, zumal wenn beides sich ihren physischen und geistigen Anlagen anpaßt, und den demnächst zu wählenden Beruf

tunlichst berüchichtigt. Handhaben für diese Wahl bietet den Lehrern und Ärzten die genaue Kenntnis der Ursachen und Formen ihrer Schwächen. — Anleitung zur Erlangung solcher Erkenntnis bietet die sogenannte experimentelle Psychologie, die jetzt rüstig an der Arbeit ist und neben allerlei Messungen über Leistungsfähigkeit und Ermüdung, die Art des Arbeitens, Auffassens, Urteilens sowohl für Knaben wie für Mädchen und auf den verschiedenen Altersstufen praktisch verwert­

bare Beobachtungen mitteilt.

158 Also auch hier ist Forschen der Lebensgeist des Lehrers und zwar

um so mehr, als bei unsern Zöglingen die Ursachen ihrer Schwächen viel weniger offen liegen als bei Nichtvollsinnigen und solchen, die stärkere Grade des Schwachsinns bezw. gar der Idiotie aufweisen.

Das per­

sönliche Interesse für das einzelne Kind, das Gewinnen seines Vertrauens, sobald es solches in dem ganzen Verhalten des Lehrers zu ihm erkennt, die ruhige, gleichbleibende Behandlung ohne Donner und Blitz; Festig­ keit und doch Wohlwollen, Ermutigung ohne übertriebene Zumutungen

— hilft zum Erkennen der Kräfte und der Schwächen, der Neigungen und der Fehler, der üblen Gewohnheiten — und schließlich wohl auch

des s i t t l i ch ausbildbaren inneren Kerns. — Zum Schluß einige Werke, aus denen Anregung für die Art der Forschung sich gewinnen lassen wird:

a) G. Stanley Hall, „Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Heilpädagogik." Übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen und Zusätzen versehen von Dr. Joseph Sümpft. Oskar Bonde, 1902.)

(Altenburg, Verlag von

b) Dr. med. I. Demoor, „Die anormalen Kinder und ihre erzieh­ liche Behandlung in Schule und Haus." (Ebenda, 1901.) c) Dr. ph.il. Th. Heller, „Grundriß der Heilpädagogik."

Kap. 3,

5, 6, 8—11. (Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1904.) d) H. Ebbinghaus, „Über eine neue Methode zur Prüfung der

geistigen Fähigkeit und ihre Anwendung bei Schulkindern." und Leipzig, Leopold Voß, 1897.)

(Hamburg

e) Dr. Alfred Spitzner, „Psychogene Störungen der Schulkinder." (Leipzig, E. Ungleich.)

f) I. Trüper, „Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kind­ lichen Seelenleben." Derselbe: „Ein geistig schwacher, aber sittlich begabter Knabe."

(Altenburg, Bonde, 1902.) g) Allerlei Aufsätze und Vorträge im „Bericht über den Kongreß für -Kinderforschung und Jugendfürsorge in Berlin" (Oktober 1906). (Langensalza, 1907, H. Beyer & Söhne.) (Besonders: Meumann,

„Wissenschaftliche Untersuchung der Begabungsunterschiede"; Eisen­ hans, „Die Anlage des Kindes"; Delitsch, „Individuelle Hemmungen";

Pabst, „Notwendigkeit des praktischen Unterrichts"; Heubner, „Idiotie und Kinderarzt"; Baginsky, „Jmpressionabilität der Kinder"; usw.)

159

h) Dr. Th. Ziehen, „Geisteskrankheiten des Kindesalters". (Berlin,

Reuther & Reichard, 1902.) i) Dr. phil. Lucy Hoesch und Prof. E. Meumann, „Das Schulkind in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung." Otto Nemrich in Leipzig.)

Bd. 1.

(Verlag:

Band 2, „Das Behalten und Vergessen bei Kindern und Erwach­ senen nach Untersuchungen von Dr. Radossawlewitsch." k) Endlich wären noch eine Anzahl von Aufsätzen oder Vorträgen

anzuführen, die in Versammlungen gehalten wurden: Prof. Dr. StiedaKönigsberg, „Die Lokalisation im Gehirn"; Dr. Jmhofer-Prag, „Musi­ kalisches Gehör bei Schwachsinnigen"; Arthur R. H. Lehmann, „Krank­ heit, Begabung, Verbrechen".

Aus allem wäre zu ersehen, wie Dr. Schlesinger-Straßburg in einer Untersuchung vieler feststellt, daß zwar äußerliche physiologische Kenn­ zeichen der schwachen Begabung gelegentlich sich finden; bei der Mehrzahl

der von ihm Untersuchten nicht vorhanden waren.

XII. Unterrichts- und Erziehungsprobleme. „Eine Schule ohne Zucht ist wie eine Mühle ohne Wasser", sagt schon der alte Comenius — und unfruchtbar erweist sich tatsächlich aller Unterricht, der nicht zugleich erziehlich wirkt. So greifen denn die Auf­ gaben der in der Theorie zwar unterschiedenen beiden Arbeiten der Schulpraxis fortwährend ineinander über — und ein Lehrender, selbst wenn er mit Menschen- und Engelszungen zu reden verstände, bliebe stets nur ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle, wenn er es nicht zustande brächte, Einfluß auszuüben auf Verstand, Gefühl und Willen der ihm anvertrauten Zöglinge. Was ihm aber die Macht solches Ein­

flusses verleiht, das ist seine lebendige Teilnahme für die Sache selbst und seine Schüler, welche, wie Professor Friedrich Paulsen einmal

sehr schön sagt, „lebendige Kräfte in den Seelen weckt! Denn der Lehrplan tut's nicht; die vollkommenste Methode und der schönste Ge­ sinnungsstoff ist tot an ihm selber; noch weniger tut's Aufficht und Kon­ trolle. Der Mensch tut's, der selbst von der Sache erfüllt, den der Menschen­ seele eingeborenen Trieb zum Wahren, Guten, Schönen zu wecken weiß."

160 Wenn dergleichen überhaupt das Wesentlich-Wirksame ist, so ist es in

doppeltem Sinne notwendig in der Hilfsschule. Denn während jeder normalbegabte Schüler dem also beschaffenen Lehrer auf halbem Wege entgegenkommt, und zwar deshalb, weil der ihm eingeborene Trieb zum Wahren, Guten, Schönen sich früh treibend und anregend bemerklich macht und nicht immer erst aufs Winken, Rufen und Ziehen wartet;

so fehlt solcher Trieb dem Schwachbegabten fast völlig, weil seine Sinne

höchstens instinktiv funktionieren: er sieht wohl, aber weiß nicht, was er sieht; und versteht nicht, was er hört; der Klang der Worte dringt wohl

an sein Ohr, aber er weiß sie nicht zu deuten, nicht wiederzugeben; und selbst der Sinn einer Handlung, eines Vorgangs, eines Beispiels bleibt ihm zunächst verborgen, denn er ahnt meist nicht, daß dies alles

dazu bestimmt ist, von ihm ausgenommen, gewürdigt, nachgeahmt zu

werden: weder die Anwendbarkeit, noch die ihm durch die Vorführung gestellte Aufgabe ist ihm offenbar geworden. So kann es überaus lange dauern, ehe er den Versuch macht, dem Lehrenden etwas entgegen­ zukommen. Es bleibt diesem also nur übrig, den ganzen Weg bis zum Zöglinge zu gehen und ihn dann bei der Hand zu nehmen und ihn empor oder vorwärts zu ziehen, ihn überhaupt in Bewegung zu setzen und

wenn möglich in Bewegung zu erhalten. Erhellt daraus die Schwierigkeit unserer Aufgabe ganz von selbst, und wird sie dadurch scheinbar noch verwickelter, weil in das an sich schwierige Erziehen das noch schwierigere Unterrichten — denn die rein geistigen Mängel dürften sich bei unseren Zöglingen stärker bemerklich

machen als etwa diejenigen des Fühlens und Wollens, man vergleiche die schon einmal erwähnte Charakterisierung eines zwar geistig tief­

stehenden, aber sittlich begabten Knaben — als größeres Beschwernis fortwährend übergreift, so erscheint es doch notwendig für ein Lehrbuch,

welches der Systematik doch nicht ganz entbehren darf, zwischen den eigentlichen Unterrichtsaufgaben und denjenigen der Erziehung eine Trennungslinie zu ziehen, die nicht wirklich trennt, aber doch die beider­ seitigen Aufgaben auseinanderhält, wie die Linien der geographischen Längen- und Breitengrade solches tun, ohne in Wahrheit zu bestehen.

Wenn ich von diesen — hier getrennten — Aufgaben als von Pro­ blemen spreche, so will ich damit nur die Schwierigkeiten ihrer Lösung andeuten, die ja bei Schwachbefähigten immer größer sein werden,

als bei ganz Normalgebauten und -ausgestatteten.

161

Unrerrichrsprodlenre. Die Scheidung dieser Aufgaben in solche, die für den gesamten Unterrichtsbetrieb gelten, also alle Fächer betreffen, und deshalb allge­ meine sind; und in solche, welche nur das einzelne Fach für sich angehen, ist schon um deswillen geboten, damit Mederholungen vermieden wer­ den. Was aber für unsere Schulgattung Schwierigkeiten bereitet, ist

ebenso die Feststellung eines Zieles — (etwa dasjenige, was wir für die allgemeine Schule als Mindestmaß bezeichneten) — wie andererseits auch die Auswahl der Stoffe und ihrer Verbindung und Durcharbeitung. Der Grund liegt darin, daß eben jede Norm allgemeinerer Art fehlt, und keine Voraussetzung sich als allgemein zutreffend erweist. So bleibt nur übrig, mit dem etwa Erstrebenswerten zu rechnen und das Best­ mögliche zu versuchen, um es zu erreichen. Beschränken wir uns des­ halb aus die Darlegung des Erstrebenswerten.

1. Für die

allgemeine

Didaktik der Hilfsschule

andere Grundsätze aufstellen zu wollen, als welche für alle Arten von Erziehungsschulen gelten, erscheint als wenig fruchtbares Bemühen. Die beiden Hauptzwecke alles Lehrens und Lernens; einmal die geistigen Kräfte überhaupt anzuregen und durch allerlei Übungen zu stärken und

so nach und nach zu immer selbständigerer Arbeit zu befähigen (man nennt solches „formal bilden"), und sodann den Geist mit einem Inhalte auszustatten, der dem einzelnen sowohl für feine Betätigung als Mensch und Mitglied der menschlichen Gesellschaft, als auch vorbereitend für die Erlernung und Ausübung eines Lebensbemfes zugute kommt — sind ja doch bei keiner Schule außer acht zu lassen, vielmehr jedem Arbeits­ pläne zugrunde zu legen. Ja, sogar die reinen Fachschulen, besonders wenn sie jüngere Leute in einen Beruf einzuführen unternehmen, dürfen des erstgenannten Zweckes Anwendung nicht ganz unterlassen, wollen sie damit nicht mittelbar bekunden, daß ihr Zweck im wesentlichen in der Übermittlung einer gewissen Routine bestehe und der auf andere und allgemeine Interessen sich gleichfalls erstreckenden Geistesrichtung der Zeit keine Rechnung trage. Für die Hilfsschule aber ist der erst­

erwähnte didaktische Zweck unter allen Umständen die Hauptsache, weil gerade bei ihren Zöglingen das Bewußtsein, überhaupt geistige

Kräfte zu besitzen, sehr beschränkt oder fast gar nicht entwickelt ist, und Boobftetn, Erziehungsarbeit.

n

162 deshalb erweckt und nach und nach gesteigert werden soll; gegebenen­ falls durch Zurückgreifen auf den Standpunkt einer früheren Alters­

stufe, durch Anregung zur Betätigung der Sinne und Ausbildung stärkeren körperlichen Empfindens und Könnens. Um das, was er­ strebt werden muß, mit anderen Worten auszudrücken, kann man sagen:

Der Hauptzweck der Hilfsschulen ist: die gebundenen oder nicht zutage tretenden geistigen, sittlichen und auch körperlichen Kräfte der Zöglsnge sollen nach und nach freigemacht und zum Bewußtsein gebracht werden. Daß das im weiteren, besonders wenn durch eingehende Beobachtung erkannt worden ist, auf welche Richtung gewisse Begabungsanzeichen Hinweisen, durch Pflege einzelner Tätigkeitsgruppen gefördert werde, um einigen Anhalt zu späteren Vorschlägen für die Wahl eines Berufes zu gewinnen, dürfte sich von selbst ergeben, zumal wenn neben der Übung des Könnens die Erzielung eines gewissen Verstehens im Auge

behalten wird.

Denn die durch Fachschulen bisweilen erzeugte Über­

schätzung des Könnens gegenüber dem Verstehen dürfte in der Hilfs­ schule nicht am Platze sein, weil das Können erst dann dauerhaft und verwertbar sein wird, wenn es auf einem sicheren Verständnis beruht,

eingedenk der alten Erfahrung, daß die Formeln und die Regeln (für die Lösung von Aufgaben) nur dem wahrhaft nützen, der sie entbehren

kann, da er sie, wenn sie ihm je entfallen sein sollten, durch eigene Kraft wiederfinden und ersetzen kann; während der andere in solchem Falle vor einem Schlosse stände, zu dessen Eröffnung ihm der Schlüssel fehlt. So hat also auch die Hilfsschule beiden Zwecken zu dienen, wie jede andere moderne Erziehungsschule, wenn auch selbstverständlich sowohl quantitativ, d. h. mit Bezug auf den Umfang und die Menge der Stoffe erhebliche Beschränkungen notwendig sein werden, und

qualitanv, d. h. in der Art der Verwendung der Unterrichts- und Ubungsformen, weiter betreffs der einzuschlagenden Wege, der Aus­

wahl der Anschauungs- und Lehrmittel, der erziehlichen Behandlung der Zöglinge erhebliche Abweichungen von dem hergebrachten Ge­

brauch der Schulen für Normalbegabte sehr häufig geboten sein dürften. Dies letztere immer wieder zu betonen, erscheint auch um deswillen unab­ weisbar, weil auch bei überzeugten Anhängern dieser neuen Schulgattung immer wieder die Meinung durchbricht, daß die Hilfsschule — und ihr

Name sowohl wie auch die an vielen Orten für sie gegebene Organi­ sation stützen diese Annahme — nichts weiter sei als ein Annex, ein

163 Anhängsel der allgemeinen Schule, und sich deshalb so weit als möglich dem Betriebe der letzteren anzuschließen, ihren didaktischen Überliefe­

rungen zu folgen, ihre äußeren und inneren Ordnungen zu beobachten habe. Sprechen hierfür auch gewisse Nützlichkeitsgründe und Rücksichten auf die Zöglinge selbst und deren Eltern, damit der Schein einer Krän­

kung ihres Selbstgefühls vermieden werde; ist ferner auch vielleicht die Möglichkeit eines Wiedereintritts der Kinder in die Schule für Nor­

malbegabte etwas im Auge zu behalten, und deshalb auch äußerlich ein gewisser Zusammenhang der Schulordnung und auch des Lehrverfahrens anzustreben und zu bewahren; so dürfte doch eine sehr sorgfältige Vor­ prüfung für die Aufnahme, die Wiederholung einer Prüfung nach einiger Zeit, sowie das Hilssmittel der zunächst nur versuchsweise zugestandenen Aufnahme — eine Rückversetzung in den vorigen Status

verhüten können, zumal eine solche in den meisten Fällen eher vom Übel als ein Vorteil sein dürste. — Mit Genugtuung war deshalb ein Erlaß des preußischen Kultusministers vom 6. April 1901 (U. III. A. 2606) zu begrüßen, der solche Mckversetzung schon älterer Kinder in untere

Klassen der Volksschulen dringend widerrät. Denn da fast alle Hilfs­ schüler letzteres erst nach erfolglosem Besuche der unteren Volks­ schulklassen geworden sein werden, so dürften sie bei der Mcküberweisung jedenfalls immer einige Jahre älter sein als die normalen Besucher dieser Klassen — und sich dann oft als recht zweifelhafte Elemente in diesen Klassen erweisen. Daher möglichst strenge Sichtung vorher und nötigenfalls nur bedingte Zulassung. —

Daß sich den beschriebenen beiden Hauptzwecken der Hilfsschul­ didaktik noch gewisse andere Zwecke angliedern werden, hängt mit der Beschaffenheit der oft ziemlich bunt gemischten Hilfsschülerschaft zu­ sammen. Körperlich oder geistig im wesentlichen gesund dürfte von den Kindern keines sein, selbst wenn die äußerlichen Merkmale gewisser Mängel sich erst nach und nach kenntlich machen. Tunlichst auf diese Zustände der einzelnen Mcksicht zu nehmen und demgemäß die Lehr­

arbeit verschieden zu gestalten, ist gar nicht zu umgehen; und deshalb

eine reiche Fülle persönlichen Interesses und richtigen Taktes, eine schonende Behandlung selbst fehlerhafter Eigenart, tunlichstes Vermeiden öffentlicher Bloßstellung und Beschämung, um die Leistungs­ willigkeit nicht zu beeinträchtigen — dabei aber doch das Stehen in einer Gemeinschaft unterrichtlich und erziehlich nutzbar zu machen — das 11*

164 sind Erfordernisse, die die Kunst des Lehrenden immer vor neue Auf­ gaben stellen. Hierzu genügt aber nicht bloß geistige und körperliche

Spannkraft; sondern Herz und Charakter müssen beide regulieren, Wenn irgendwo, sind

damit weder zu viel noch zu wenig geschehe.

gerade im unterrichtlichen Verkehr mit Geistig-Beschränkten vielerlei Kleinigkeiten zu beobachten, die bei rein wissenschaftlicher Arbeit nicht in dem Maße mitzählen: schon mit den mäßigsten Leistungen, ja mit bezeigtem guten Willen zufrieden sein, damit nicht die Arbeitswilligkeit

erlahme; sich durch Fehlschlüsse nicht die freundliche Laune verderben lasfen, damit nicht durch bittere Worte das erwachte Selbstvertraueu

sich wieder zurückziehe; sich das Aufsuchen stets neuer Wege nicht ver­ drießen lassen, falls die bisherigen versagen, damit die Schüler an der gleichmäßigen Ausdauer des Lehrenden sich ein Beispiel nehmen und im eigenen Streben nicht nachlassen. — Aus dem vorstehend gegebenen Versuch einer Zweckbestimmung der Hilfsschuldidaktik ergibt sich von selbst, daß die Aufstellung eines Erziehungs- und Bildungsideals für Geistig-Beschränkte unausführbar

ist, weil die, wie schon früher gezeigt ist, außerordentliche Mannigfaltig­

keit der Beschränktheit die Erzielung einer gewissen Vollkommenheit, des charakteristischen Merkmals jedes Ideals, von vornherein aus­ schließt.

Denn gerade bei ihnen trifft die Behauptung eines alten latei­

nischen Sprichworts, daß „sich nicht aus jedem Holze ein Merkur schnitzen lasse" vollinhaltlich zu, besonders wenn — wie auch wohl alle Philo­ sophen zugeben — auch die höchstbegabten und besonders begnadeten Menschen stets noch ein erhebliches Stück hinter dem allgemeinen Mensch­

heitsideale zurückbleiben. Man wird sich also daran genügen lassen müssen und können, von der allgemeinen Aufstellung eines Ziels abzu­ sehen und nur das Erreichbare mit allen verfügbaren Mitteln zu er­

streben. Daß aber auch betreffs des Erreichbaren ganz gewaltige Unter­ schiede Platz greifen werden, lehrt schon die Erfahrung in den Schulen für Normalbegabte, in denen selbst bei Leistungsvergleichungen im

Bereiche des als Mindestmaß Bezeichneten höchstens von einer relativen Gleichheit gesprochen werden dürfte. Soll und will aber auch die Hilfsschule für ihren Unterricht ein Ziel bezeichnet haben, so tut man am besten, von jeder festen Normierung abzusehen und höchstens von Erstrebbarem zu sprechen und, innerhalb des Erstrebbaren zwischen

Haupt- und Nebensächlicherem zu unterscheiden.

Welche Formen

165 und Stoffe aber zu dem ersteren oder zum letzteren zu rechnen seien, wird ebenso von der körperlichen und geistigen Beschaffenheit des ein­

zelnen Zöglings, wie auch von der Richtung abhängen, welche sein Wollen zu nehmen scheint. Der Zusammenhang dieser drei Umstände ist zwar kein unbedingt notwendiger, aber ein doch tatsächlich oft genug nachweis­ barer, und geistige Minderwertigkeit häufig genug mit moralischer Minderwertigkeit gepaart. Dürfte es nun vorläufig auch ein unlös­ bares Problem bleiben, Krankheit, Begabung und Unsittlichkeit als allgemein in ursächlichen Beziehungen zueinander stehend nachzuweisen