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German Pages 216 [224] Year 1951
ALFONS
SIMON
- VERSTEHEN
UND
HELFEN
SCHRIFTEN DER D E U T S C H E N
GESELLSCHAFT
FÜR E R Z I E H U N G 1
ALFONS SIMON
VERSTEHEN UND HELFEN
DIE AUFGABEN DER
1. E R W E I T E R T E
VERLAG VON
SCHULE
AUFLAGE
R.OLDENBOURG
MÜNCHEN
1951
Alfons Simon, geb. am 3. 4 . 1 8 9 7 in München, Studienrat an der Lehrerbildungsanstalt in Pasing Copyright 1950 by Verlag von R. Oldenbourg München Gesetzt, gedruckt und gebunden von R. Oldenbourg, Graph. Betr. G.m.b.H., München
EIN
WORT
AN DIE J U N G E N
LEHRER
K ö n n e n wir Älteren Euch etwas übergeben, was Euch wirklich h i l f . ! H a b t I h r nicht Eure eigenen und ganz andere Probleme zu lösen? Diese Fragen, die sich jeder stellen muß, der zu Jüngeren über seine Erfahrungen spricht, stelle auch ich mir. H i e r ist die A n t w o r t : D e r Schule, das heißt zuerst uns Lehrern ist — beinahe unbemerkt — im letzten halben Jahrhundert eine neue ganz große A u f gabe zugewachsen. D a s K i n d des J a h r e s 1 9 0 0 lebte in einer Familie, die gestützt und getragen war von unerschütterten staatlichen, kirchlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mächten. Es empfing in dieser Familie H a l t und Sicherheit fürs Leben. H e u t e lebt die Familie weithin ohne diese Stützen, in Unsicherheit, in Lebensangst und Furcht vor dem Ungewissen und Millionen von K i n d e r n wachsen auf, ohne je W ä r m e , Geborgenheit, Sicherheit, Beständigkeit erlebt zu haben. D i e Schule kann dabei nicht untätig zusehen. W i r werden mehr als bisher versuchen müssen, ihnen jenes Gefühl des Vertrauens zu sich und den anderen, jene Einsicht und jenes Verständnis für die Schönheit und Schwierigkeit des Lebens zu geben, die sie in unglücklichen, zerfallenden und zerfallenen Familien nicht erfahren haben. Dies wird — neben den bisherigen Aufgaben — unsere Hauptverpflichtung f ü r die nächsten J a h r z e h n t e werden. W e r auch nur die ersten Seiten der nachfolgenden Berichte liest, wird erkennen, daß sie — obwohl aus vergangenen
Jahrzehnten
stammend — auch von seinen Problemen erzählen, von denselben Lebensschicksalen unglücklicher K i n d e r und von denselben A n f o r derungen an den Lehrer, vor denen er heute steht und morgen und übermorgen stehen wird.
Wir haben die gleiche Aufgabe, nur ist die Eure schwerer, weil das Leben inzwischen schwieriger und unsicherer geworden ist. Wir Älteren haben auf die beschriebene Weise versucht, eine menschliche Lösung zu finden. Überlegt und prüft — vielleicht hilft sie Euch dazu, Eure eigene Lösung zu finden. Denn: „Lebendig ist eine Wahrheit nur, wenn man sie selbst entdeckt oder wiederentdeckt" (André Gide").
I. V I E R
LEBENSBILDER Seite
Ein Störenfried Bild Vorgeschichte Weg Blick zurück
n Ii 14 26 44
EinMusterknabe
46
EinHilfsschüler Aus den Akten Neun Wochen Arbeit Gutes Ende Und wir Volksschullehrer ?
63 63 66 75 77
Ein wilder Mann Erster Eindruck Die Hauptschwierigkeiten Erste Arbeit Bilder aus der ersten Arbeit Einwände Vorläufiges Ergebnis Zwischenbericht Schlußbericht
84 84 92 105 109 115 123 126 132
II. U N S E R E
SCHULKLASSE
Der erste S c h u l t a g
137
A u s der t ä g l i c h e n A r b e i t Erziehung - Unterricht Die Belehrung Die Belohnung Die Strafe Die Unterrichtsarbeit
141 141 148 165 180 197
Der letzte S c h u l t a g
209
Register
,
214
I. VIER
LEBENSBILDER
EIN
STÖRENFRIED BILD
„ U n d was willst du werden?" — so h a t t e mich an meinem ersten Schultag mein Lehrer gefragt. Stolz und sicher k a m die A n t w o r t : „Ich werd ein Lehrer." Erst nach langen U m w e g e n k a m ich als Dreiundzwanzigjähriger endlich doch noch an das Ziel, das mir damals so einfach zu erreichen geschienen hatte. Nach kurzen Kriegskursen an der Lehrerbildungsanstalt u n d der damals üblichen W a r t e z e i t als P r a k t i k a n t w u r d e ich in einer mittelgroßen oberbayrischen Stadt angestellt. Meine Erst- u n d Zweitklaßbuben machten es mir nicht schwer, die guten Vorsätze durchz u f ü h r e n , deretwegen ich überhaupt Lehrer geworden w a r : menschlich und als guter Freund mit ihnen umzugehen u n d auf alle Fälle ohne den damals noch überall gebrauchten Stock auszukommen. Nach zwei Jahren hatte ich eine sechste Knabenklasse zu übernehmen. D e r bisherige Klaßlehrer übergab mir die Schülerbogen und setzte wohlwollend-ironisch hinzu: „Außerdem meine G r a tulation! D a ist einer drunter, der ist der frechste Kerl, den ich in meinen dreißig Lehrerjahren gehabt habe. An dem werden Sie Ihre neuen Ideen erproben können." Was der Sdiülerbogen meldete, w a r nicht eben aufschlußreich: 1. Klasse: „Äußerst f a u l u n d nachlässig. Sehr großer Bewegungstrieb — doch lausbubenhaft. 3. Klasse: Kurzsichtig. 4. Klasse: Sehr unruhig, bedarf ständiger Überwachung." Wie am nächsten T a g die Klasse a n k o m m t , f ä l l t Max zunächst nach einer ganz anderen Richtung als der erwarteten a u f : er ist winzig klein, weitaus der Allerkleinste u n d Schwächste, ein d ü r f 11
tiger armseliger Bub, den man gut für einen Achtjährigen halten konnte, mit abweisendem, scheuem Blick, offenbar von den Kameraden gemieden. Der Unterricht beginnt. Schnell wird deutlich, daß das Urteil des früheren Lehrers gut begründet war. In seiner Umgebung ist ewig Unruhe, Zank und Streit. Max stört seine Nachbarn auf alle erdenkliche Weise, zwickt sie, nimmt ihnen Bleistifte, Federhalter und Federn, zerbricht sie, wirft Schmutz in die Tintengläser der anderen. In den Pausen pufft und stößt er, wo es irgend geht. Auf jede geringste, oft unabsichtliche Berührung durch einen anderen bekommt er Wutanfälle, in denen er stößt und beißt. Die Erziehungsmittel, mit denen man uns im Seminar für solche Fälle versehen hatte: Besprechung, Mahnung, Warnung, Drohung erwiesen sich bei ihm als völlig unwirksam. An ihn war damit nicht hinzukommen. Nach wenigen Wochen war meine Hilflosigkeit offenkundig. Tch fragte die freundlicheren unter den Lehrern der Schule um ihren Rat. „Versuchen Sie es doch mit dem Klassengeist. Damit mache ich gute Erfahrungen." Ich tat es: eine Andeutung an die Klasse „Vielleicht werdet Ihr mit dem Störenfried, der uns keinen Tag richtig zur Arbeit kommen läßt, besser fertig"; nach der Schule eine ordentliche Tracht Prügel durch die wütende Klasse — ohne Erfolg! „Warum isolieren Sie ihn in der Klasse nicht?" rät ein anderer. Darauf eine kurze Ankündigung an Max: „Wenn du nicht unter deinen Kameraden sitzen kannst ohne sie immerfort zu stören, so mußt du eben hinten in der letzten Bank Platz nehmen. Und wenn du nicht in der Reihe mit uns die Treppe hinuntergehen kannst, so gehst du von nun an zehn Schritte hinter uns nach." Aber streiten und stören kann man auch auf Distanz. Er wirft Griffel und Federhalter und Schimpfworte über die leeren Bankreihen hinweg nach vorne und stört so nicht weniger als früher. Schnell wird meine Lage kritisch. Zu den dauernden Störungen des Unterrichts kommen bald Klagen von außen. Er verspottet Erwachsene auf oft unflätige Weise, mißhandelt drei- bis vierjährige Kinder, schlägt sie mit der Faust ins Gesicht, wirft sie den Randstein hinunter, dreht ihnen die Hände nach hinten um. Lehrerinnen der untersten Klassen berichten, daß Max in. ihre 12
ruhig abziehenden Klassen einbricht, einem Kind den Fuß legt oder ein anderes die Treppe hinunterstößt. Die Klasse wird unruhig und sieht erwartungsvoll auf mich: „Darf der ungestraft alles tun?" Lehrer der Schule, durch meine früher verkündeten pädagogischen Ideen irritiert, erkundigen sich ironisch nach den Fortschritten meiner milden Behandlung, der Schulleiter macht ein ernstes Gesicht: „So kann es nicht mehr weitergehen." Kein Zweifel: Es muß etwas geschehen! Die üblichen Erziehungsmittel waren ohne Erfolg geblieben, die sogenannte „Güte" hatte sich als zu schwach erwiesen, die Lehrer hatten Recht behalten, die vorausgesagt hatten: „Sie werden bald auch da landen, wo wir schon seit Jahrzehnten stehen und wo die Lehrer immer standen. Bei solchen Naturen bleibt eben bloß das letzte Mittel." Außerdem wagte ich selbst an eine Besserung des Buben nicht mehr zu glauben. Aufgabe konnte jetzt bloß sein, im Interesse der Klasse die gröbsten Ausschreitungen niederzuhalten. Ich war — innerlich verzweifelt — entschlossen, zu kapitulieren und den anderen Weg zu gehen. Der Absprung wurde mir leicht gemacht. An einem Vormittag stand eine fassungslose Mutter mit einem schrecklich zugerichteten dreijährigen Kinde vor meiner Schultür. Max hatte das ihm völlig unbekannte Kind an eine rauh bemörtelte Wand geführt, das kleine Gesicht daran hingedrückt und war damit an der Wand heruntergefahren. Es stand blutüberströmt vor mir. Ich ließ vom Nachbarlehrer den Stock holen und Max bekam sechs Übergelegte. Dazu die Drohung: „Bei der geringsten Gelegenheit bekommst du wieder so viel." Der Bub vollführte ein mörderisches Geschrei. Er verkroch sich zwei Tage lang wie ein verprügeltes Tier in seine Ecke und — war am dritten wieder der alte! Jetzt hieß es Konsequenz zeigen! Schon bald war es notwendig, meine Drohung wahrzumachen. Mit demselben Erfolg. Nach einigen Tagen war wieder alles beim alten. Zwar konnte ich der Klasse, den Kollegen und dem Schulleiter gegenüber beweisen, daß Max sich doch nicht alles ungestraft erlauben konnte. Irgendemen anderen Erfolg aber hatten die Strafen nicht. Ich aber mußte mir verzweifelt sagen: „Du prügelst kleine Kinder! Bist du dazu Lehrer geworden? Wohin wird dieser Weg führen?" 13
VORGESCHICHTE Das, was recht oberflächlich der „Zufall" genannt wird, trat jetzt ins Spiel. Ich erfuhr von einer individualpsychologischen Erziehungsberatungsstelle, die nach den Grundsätzen Alfred Adlers von einigen Ärzten geleitet wurde und die Eltern und Lehrern von schwererziehbaren Kindern Rat und Hilfe versprach. Aus einer ersten persönlichen Vorbesprechung beim leitenden Arzt wurde eine länger dauernde Beratung für mich. Der Bub ist nie dabei gewesen. Nach einer eingehenden Erzählung des in der Schule bisher Vorgefallenen bekam ich den ersten Rat: „Die körperliche Strafe hat offenbar keine Besserung gebracht. Sollten Sie deshalb nicht erwägen, sie — wenigstens für die nächste Zeit — fallen zu lassen? Das würde den kommenden Maßnahmen einen günstigen Boden bereiten." Ich war gerne dazu bereit. Die häßliche und demütigende Prozedur, das fürchterliche Geschrei des geschlagenen Kindes, die teils angewiderten, teils gierig-erfreuten Gesichter der anderen Kinder und die unleugbare Nutzlosigkeit des Ganzen machten mir den Entschluß nicht schwer. Es veränderte sich deswegen im Verhalten des Buben weder etwas zum Besseren noch zum Schlechteren. Bei genauerer Nachfrage nach der Vorgeschichte mußte ich gestehen, daß ich davon wenig mehr wußte als das, was ich in den vergangenen Monaten selbst miterlebt hatte. „Verschaffen Sie sich Einzelheiten aus seinem früheren Leben. Ohne sie ist eine gründliche Beurteilung des Falles nicht möglich" — dies war der nächste Rat. Was aus den recht zurückhaltenden Erzählungen des Buben, aus seinen sehr viel aufschlußreicheren Aufsätzen, aus Gesprächen mit den Klassenkameraden, mit früheren Lehrern, mit seiner sehr abweisenden Mutter in den nächsten Wochen und Monaten bruchstückweise herauskam, war dies: Max ist das zweite uneheliche Kind seiner Mutter. Sie muß den Lebensunterhalt für sich und die zwei Kinder allein aufbringen. Sie geht in die Fabrik. Max wurde gleich nach seiner Geburt zur selben Kostfrau aufs Land gegeben, bei der auch sein um zwei Jahre älterer Bruder untergebracht war. 14
Max war von Geburt an auffallend klein und schwächlich und immer krank, hatte sehr viel mit Drüsen- und Mandelanschwellungen zu tun und ist deswegen auch schon operiert worden. Weil er auch noch weit über die normale Zeit hinaus Bettnässer war, hatte die Kostfrau mit ihm unverhältnismäßig viel mehr Arbeit als mit dem älteren Bruder. Deshalb liebt sie diesen mehr als Max, bevorzugt ihn überall und setzt den Kleinen ebensooft zurück. Max hat es von Anfang an schwer gehabt, mit Kindern auszukommen. Er war ein unbeliebter Spielkamerad. Nachträgliche Beweise dafür mögen neben den Erzählungen der Kostmutter auch seine eigenen frühesten Kindheitserinnerungen sein. (Was diese ersten Kindheitserinnerungen für uns Lehrer so wertvoll macht, .ist dies, daß sie oft — auf geheimnisvolle Weise aus den Tausenden von Erinnerungen ausgewählt, die in die Vergessenheit versanken — in einem kleinen Bild die ganze damalige Kindheitssituation aufbewahren.) Maxens erste Erinnerung: Er schläft mit dem vierzehnjährigen Buben seiner Kostmutter in einem Bett. Der näßt oft das Bett, steht während der Nacht auf und schiebt ihn auf den nassen Platz. Er behauptet am Morgen, der Kleine habe genäßt. Dieser entgeht mit Mühe unverdienten Prügeln. Eine zweite Erinnerung aus der Zeit: Eine Kutsche fährt durch seine Straße. Er läuft ihr nach und will sich hinten auf die Achse setzen. Ein anderer Bub sitzt schon droben. Es wäre Platz für beide. Der andere, stärkere läßt ihn aber nicht hin. M a x versucht sich auf eine der großen Wagenfedern zu setzen, verliert das Gleichgewicht, fällt unglücklich herunter und bleibt eine Zeitlang bewußtlos liegen. Max hatte sich sehr auf die Schule gefreut, kam aber zu einer — wie er sagt — „groben alten Lehrerin" und seine Freude war schnell vorbei. Er bekam auch bald Strafe; die erste deshalb, weil er einem Kameraden, der ihn getratzt hatte, eine Feder aus der Griffelschachtel nahm und zerbrach. Das schulische Ergebnis des ersten halben Jahres (neben der Bemerkung im Schülerbogen: „Äußerst faul und nachlässig" — bei damals geltenden vier Notenstufen) w a r : Religion 4, Bibel 4, Schreiblesen 4, Gedächtnisübung 4, Schön; 15
schreiben 4, mündliches Rechnen 4, schriftliches Rechnen 4, Anschauungsunterricht 4, Singen 4, Zeichnen 4. Notensumme 64 (die schlechteste, die überhaupt zu erlangen war). J e t z t heiratete die Mutter, brauchte nicht mehr in die Fabrik zu gehen und nahm M a x zu sich. Der kam damit in die Stadtschule zu einem Lehrer, der ihn besser verstand. S o brachte es der Bub bis z u m Schluß der ersten Klasse auf die Notensumme 42 ( = im Durchschnitt 2—3). V o n jetzt ab lebte M a x also bei der Mutter und beim Stiefvater. Die H o f f n u n g der Mutter, es durch die E h e etwas besser zu kriegen, erfüllte sich nicht. Der Mann saß nächtelang im Wirtshaus, schimpfte, wenn er zu H a u s e war, sehr o f t und bedrohte die Frau mit dem Messer. D e r Sechsjährige war Zeuge davon. Die wenigen Versuche des Stiefvaters, mit dem K i n d e in Beziehung zu kommen, schlugen fehl. Ein A u f s a t z des M a x , den er zu dem T h e m a „ W i e mein Vater einmal lustig w a r " schrieb, berichtet darüber: „Wie er einmal gut aufgelegt war, sprach er zu mir: K o m m du einmal her zu mir, dann bekommst du etwas Gutes von mir. Schnell lief ich hin. Als ich fragte, was ich bekomme, sprach er: Geh nur wieder hin, wo du hergekommen bist. D a s ärgerte midi und ich biß ihn in die H a n d . D a war alle Lust vorbei. Er setzte sich auf den Stuhl und machte einen S t u t z k o p f . " Wie der Vater einmal um vier Uhr früh betrunken heimkommt, läßt ihn die Mutter nicht mehr in die Wohnung. Er k l o p f t und .schlägt eine Stunde lang gegen die T ü r — ohne Erfolg. D i e Ehe wird geschieden. Die Mutter, die M a x immer zum Vertrauten gegen den V a t e r gemacht hat, erzählt ihm jetzt, daß dieser „immer mit Anderen herumgezogen" sei. Sie ist heute ein vom Leben schwer enttäuschter Mensch. Jetzt hat sie überhaupt keinen Verkehr mit irgend jemand mehr. Seit einem halben J a h r hat kein Mensch ihre Wohnung besuchsweise betreten; denn — so erzählt der B u b — : „Alle Menschen fangen mit ihr Streit an und zerkriegen sich mit ihr." Ihr einziger menschlicher U m g a n g ist ihr K i n d . Sie erzählt ihm alle Dinge, die eine Frau ihrem Mann erzählt; ihre Erlebnisse mit den Nachbarinnen; wie ihr Arbeitgeber sie hintergeht; ihre T r ä u m e . Ein charakteristischer lautet: Sie will mit M a x weit fortfahren. In der Bahnhofwirtschaft holt sie sich noch ein Glas Bier. Wie 16
sie zurückkommt, ist er nicht mehr da. Sie sucht ihn voll Angst und findet ihn in einem Rucksack in einer Ecke. Im gleichen Augenblick saust der Zug daher. Sie schleppt den Buben im Rucksack hinaus auf den Bahnsteig. Der Zug fährt an. Sie bringt den Rucksack mit knapper N o t hinein in den Wagen; er kommt ihr aber wieder aus. Sie springt in höchster Angst aus dem Zug. Sie fürchtet, er sei unter die Räder gekollert. Max ist aber unterdessen aus dem Rucksack gekrochen und lacht. Dementsprechend ist auch das Verhältnis des Buben zu seiner Mutter. Er spielt und scherzt ausschließlich mit ihr. Das Ende all seiner Untaten in der Schule oder auf der Straße ist, daß er auf kürzestem Wege nach Hause rennt, dort mit offenen Armen empfangen und gegen alle ihn anklagenden Mütter verteidigt wird. Dies dankt er ihr durch besondere Aufmerksamkeit. So geht er z. B. am Silvesterabend wie alle armen Kinder der Stadt von Haus zu Haus, wünscht den Leuten ein gutes neues J a h r und bekommt so nach und nach etwas mehr als zwei Mark geschenkt. Er weiß, daß seine Mutter sich schon seit langem eine Bluse wünscht. In einem kleinen Damenmodengeschäft hat er in der Auslage einen Stoffrest gesehen, der zwei Mark kosten soll. Noch spät am Abend, von seinem Gang heimkommend, geht er in das Geschäft, läutet die Besitzerin auis der dahinterli-egenden Wohnung, kauft den Stoff und legt ihn der Mutter zum Neujahrsmorgen auf den Tisch. Über seine Zukunftspläne berichtet ein kurzer Aufsatz: „Ich will ein Elektrotechniker werden, weil dies ein schöner Beruf ist und weil ich viel Geld dabei verdiene. Idi werde meine Mutter zu mir nehmen. Dann braucht sie nicht mehr zu arbeiten. Es wird nicht so sein wie bei Müllers, wo die sechzigjährige Frau Müller noch immer für die Fanni, die siebenunddreißig Jahre alt ist, arbeiten muß. Das hat mir meine Mutter genau erzählt, wie faul die ist." Viele seiner Aufsätze beschäftigen sich mit dem Verhältnis zu seiner Mutter, manche in solcher Einkleidung, daß die tiefere Bedeutung ihm sicher selber nicht bewußt geworden ist. So schreibt er zu dem Thema „Die Geschichte, die mir am allerbesten gefallen hat": „Die Mutter und ihr Kind. Der König kam in die Stadt. Alle Leute verneigten sich tief. Nur 2 Simon,Verstehen und Helfen
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eine Mutter nicht. Sie trug ein kleines Kind am Arm und fürchtete, es möchte ihr entfallen. Der König schickte Diener hin, kommt sogar selbst: Warum verneigst du dich nicht? Mein Kind schrie eben, da überhörte ich Euer Kommen. Der König ward zornig, ließ ihr das Kind entreißen und ritt mit ihm fort. Die Mutter war traurig und weinte, die Leute aber lachten sie aus. Da stand plötzlich ein Knabe vor ihr; es war der Wind. Er sprach: Wenn du mir dein schönes Haar gibst, zeige ich dir den Weg zu deinem Kind. Sie gab ihm das Haar und später einer Nixe, die sie über das Meer brachte, ihre schönen Augen. Als Blinde wurde sie dann ergriffen und weil sie alle Auskunft verweigerte, in den Kerker geworfen. Ihr Kind — vom König an Kindesstatt angenommen — wurde todkrank. Dreimal rettete die Mutter unerkannt das Kind vom Tode. Der König nahm sie dafür zur Frau, kaufte Haare und Augen zurück und sie lebten nun in Freuden." Hat sich nicht, während wir diese Bruchstücke aus dem früheren Leben lesen, in uns unmerklich eine Wandlung vollzogen, ähnlich der, wie ich sie — freilich in viel stärkerem Maße — damals erlebt habe? Ist es uns noch möglich, unbedenklich und allein das „Böse" an dem Buben zu sehen? Ist durch die spärlichen Erinnerungen nicht deutlich geworden, daß er kein sehr glückliches Leben hinter sich hat? So kam es mir damals nach dieser kurzen Forschungsarbeit erst zum Bewußtsein, daß er gar nicht so aussah, wie Kinder seines Alters gewöhnlich aussehen: nicht frisch, unbekümmert, offen und zugänglich, sondern scheu, gedrückt wie ein krankes Tier. Wer sich damit zufrieden gibt, das Zustandsbild genau nachzuzeichnen, das der Bub zu Anfang bot, muß zu dem Schluß kommen: ein äußerst asozialer Typ mit ganz starken sadistischen Anlagen. Nach den Erfahrungen, die bis dahin die Umwelt und die Schule mit ihm gemacht hatten, war nicht anzunehmen, daß daran viel geändert werden kann. Die Erscheinungen deuteten auf starke, vererbte Anlagen und schienen darum ziemlich sicher unveränderbar zu sein. Die kurze Beschäftigung mit seinem Vorleben und die wenigen Daten daraus machen das Bild des Kindes viel weniger eindeutig und übersichtlich: von Anfang an fehlende Gesundheit, traurige 18
Familienverhältnisse, schlechte und gute Charakterzüge eng miteinander verflochten — im ganzen eine schwere, nicht eben glückliche Kindheit. W a s im Urteil des Betrachters ursprünglich sicher zu sein schien, erweist sich schon bei diesem oberflächlich-näheren Hinsehen als fragwürdig. Z w a r sind wir noch weit von irgendeinem Verständnis der Z u sammenhänge entfernt, aber die kurze Beschäftigung mit dem Vorleben hat uns auf einen Weg gebracht, der uns v o m m o r a lischen Gebiet auf das psychologische zu führen verspricht. D a m i t haben wir nach der Meinung des beratenden Arztes das erste Hindernis hinter uns, das einem kommenden wirklichen Verständnis entgegensteht. Ehe praktische Erziehungsmaßnahmen erwogen werden konnten, war nach dem R a t des Arztes ein weiterer Schritt zu tun. Bisher war immer nur d a v o n die Rede gewesen, wie die Welt den Buben sieht. Wenn wir einem wirklichen Verständnis näherkommen wollen, müssen wir versuchen zu sehen, wie e r die Welt sieht. Einen fremden Menschen — so setzte der A r z t auseinander — kann man erst dann verstehen, wenn man sich für einige Zeit in ihn hineindenkt, sich auf seinen Standpunkt stellt, so daß m a n die Welt mit seinen Augen sehen lernt. „ J e d e r Mensch ist so unglücklich, wie er sich fühlt" steht bei Seneca. Entscheidend f ü r unser Leben sind nicht die objektiven T a t sachen, sondern allein der subjektive Eindruck, den sie auf uns machen. Ohne seinen subjektiven Eindruck vom Leben zu kennen, ist es nicht möglich, einen Menschen zu verstehen. D a m i t ist unsere nächste A u f g a b e deutlich: Wir müssen dahinterkommen, wie das K i n d seine Welt erlebt hat. Wenn wir uns auch hüten müssen vor nachträglichen Interpretationen, einige äußere U m s t ä n d e seines damaligen Lebens und die Wirkungen auf seine innere Entwicklung sind bei aller Behutsamkeit auch jetzt noch mit Sicherheit darzustellen. Der S t a r t dieses Lebens w a r — von welcher Seite man es auch ansehen will — denkbar ungünstig. D i e schweren Organminderwertigkeiten (die abnorme Kleinheit, seine Schwäche und Anfälligkeit und immerwährende Kränklichkeit, die viel zu lange dauernde Unsauberkeit) stellten die Erzieher dieses K i n d e s schon in den ersten Lebensmonaten vor außer2*
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ordentliche Aufgaben: sich gleicherweise freizuhalten von jedem Mitleid, von daraus fließender immerwährender Fürsorge, aber auch von Ungeduld und Ärger über die zu große Beanspruchung. Die Pflegemutter des Kindes war offenbar diesen Schwierigkeiten nicht gewachsen. Sie war ärgerlich über die viele Arbeit, die der Kleine ins Haus brachte. Das Kind m u ß t e sich in seinen allerersten Lebensmonaten schon ungeliebt fühlen. Es ist eine gesicherte Erkenntnis der Tiefenpsychologie, daß die allerersten Lebensjahre entscheidend für die Charakterentwicklung eines Menschen und ausschlaggebend für sein ganzes späteres Leben sind. Max lebte sechs Jahre in dieser Umgebung. Er k o n n t e kein sehr freundliches Bild von dieser Welt bekommen, die ihn als Last empfand und auch so behandelte. Sie hatte nicht viel dazu getan, ihm als vertrauenswürdig zu erscheinen. Es gehört viel menschliche Einsicht dazu, sich mit der Rolle eines dauernd Zurückgesetzten abzufinden. Nicht viele Erwachsene kommen in solcher Lage zurecht. M a x erlebte diese Situation vom ersten Lebenstag an. Der ältere Bruder saß warm im Nest und besaß das Herz der Pflegemutter ganz. Max zog überall den Kürzeren. K o n n t e er — ein uneinsichtiges, an dem Zustand unschuldiges Kind — das anders als ein immerwährendes bitteres Unrecht empfinden? Mußte er nicht allein deshalb schon mißtrauisch und mißgünstig werden? W i r dürfen mit Sicherheit annehmen, daß die ersten tiefen W u r zeln seiner späteren feindseligen Haltung zur Umwelt hier liegen. Mit sechs Jahren kam er heim zur Mutter. Sie hätte noch manche Möglichkeit gehabt, das schiefe Bild, das M a x vom Leben mitbrachte, richtigzustellen; also ihm zu zeigen, daß er auch mit seinem schwachen und kleinen Körper seinen Platz in der Welt gut ausfüllen kann und daß nicht alle Menschen voreingenommen und ungerecht gegen ihn sind. Sie war aber selber ein z u unglücklicher Mensch, als daß sie diese nicht leichte Aufgabe hätte bewältigen können. Sie hatte nach den früheren zwei großen Enttäuschungen, daß die Väter ihrer zwei Kinder sie sitzen ließen, nun noch die dritte zu überstehen, daß auch ihre Ehe ein Fehlschlag war. Sie konnte für niemand eine Stütze sein; sie brauchte selbst Hilfe. Indem sie den kleinen Buben möglichst nah an sich heranzog, ihn zum Vertrauten gegen
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den Vater und die böse Welt machte, hoffte sie in ihm den einen Menschen zu finden, der sie verstand. Sie fand ihn wohl auch. Aber welchen Preis hatte das Kind dafür zu bezahlen? Sein mitgebrachtes Vorurteil und Mißtrauen gegen die Welt wurde durch hundert Erzählungen bestärkt: niemand konnte man trauen, alle Menschen waren Feinde! Ist es schwer, sich vorzustellen, wie ein Kind mit diesen festeingewurzelten Anschauungen sich auf dem Spielplatz, unter Kindern, unter Erwachsenen benimmt?, sich weiter vorzustellen, wie diese Kinder, diese Erwachsenen es aufnehmen? Weil es zurückhaltend und mißtrauisch an die Menschen herangeht, wird es zurückhaltend und mißtrauisch empfangen werden. Daß dabei nichts Gutes herauskommen kann, ist klar. Weil so das Kind keine guten Erfahrungen machen wird, wird es das nächste Mal noch etwas mißtrauischer an die Menschen herangehen, wird es »damit wieder schlechtere Erfahrungen machen, wird es so Stück für Stück sich immer weiter von der Gemeinschaft der anderen entfernen. Der Traum der Mutter von dem Kind im Rucksack, das sie zu verlieren fürchtet; die Geschichte von der Mutter, die Haar und Augen für ihr Kind opfert; die ersten Kindheitserinnerungen des Buben, die (so verschieden die äußeren Situationen sind) doch aus der gleichen Gemütslage stammen: „Die Älteren verdrängen mich von meinem Platz, der mir zusteht" — dies alles beweist heute noch ziemlich unwiderleglich, daß Mutter und Kind damals die Welt so feindlich, so gefährlich angesehen haben. Nun kommt der Schritt in den nädistgrößeren Lebenskreis, in die Schule. An diesem Punkt ist es nicht schwer zu zeigen, welch außerordentlich große Verantwortung die Schule, zunächst der erste Lehrer übernimmt. In jeder Klasse sitzen einige Kinder, die ähnliche Erfahrungen wie Max gemacht haben und ähnlich wie er übervorsichtig und mißtrauisch der Umwelt gegenüber geworden sind. Der Lehrer hätte jetzt die Aufgabe zu erfüllen, an der die Mütter und Väter versagt haben: das mitgebrachte Mißtrauen durch einsichtige, geduldige und wohlwollende Führung langsam zu zerstreuen. Voraussetzung hiezu wäre freilich, daß er selber nicht mißtrauisch ist, daß er optimistischer von seinen Arbeitsmöglich21
keiten denkt und nicht bei den ersten größeren Schwierigkeiten sofort -unveränderliche Anlagen annimmt, daß er ein gewisses Maß von psychologischen Einsichten in die Kindesentwicklung und ihre Störungen mitbringt, da.ß er nicht am äußeren Erscheinungsbild haften bleibt und sich nicht damit begnügt, seine Kinder nach Typen oder Verhaltungsweisen zu klassifizieren. Die erste Lehrerin des Max war dieser Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen. D a s beweist allein schon unwiderleglich die Notenßumrne 64 im ersten Zeugnis. Solch ein Kind, das — ohne geistig gestört zu sein — in allen zehn Fächern ungenügend sein soll, gibt es nicht! Auch Max war kein solches. Er machte sicher große Schwierigkeiten, war unverträglich, widerspenstig, lernte darum auch schlecht. Die Benotung aber ist viel mehr ein bleibendes Zeugnis für die Unfähigkeit der Lehrerin diesen Schwierigkeiten gegenüber als eines über die Unfähigkeit des Schülers. Was hinter diesen zehn „Ungenügend" an Demütigungen, Bloßstellungen und Strafen, auch an Unfreundlichkeiten und Häßlichkeiten der Klassenkameraden gegen ihn steht, ist nicht schwer vorzustellen. (Denn die Klasse ist immer das Spiegelbild des Lehrers.) Noch weniger Phantasie ist nötig, sich auszumalen, wie diese eiskalte Dusche auf das ohnehin schon wunde Selbstgefühl des Max wirken mußte; wie er jetzt — nach so vielen Enttäuschungen — den endgültigen Beweis dafür bekam, daß man sich auf nichts freuen, daß man niemandem außer der Mutter trauen darf, daß alle Menschen seine Feinde sind. Gerade der letzte Schluß ist besonders gefährlich. Wer mit dieser Überzeugung an die Menschen herangeht, wird fast immer von ihnen den Beweis geliefert bekommen, daß sie wirklich feindlich gesinnt sind. Wer aber will einem unerfahrenen Kind die Schablonenhaftigkeit dieser Anschauung vom Leben zur Last legen, wenn wir feststellen müssen, daß die Mehrzahl aller Erwachsenen mit solch einem Pauschalurteil ihr ganzes Leben verbringt: „Alle Franken, alle Preußen, alle Franzosen, alle Amerikaner, alle Neger, alle Juden sind . . . " ? Welche Lebensmöglichkeit bleibt einem Kinde, dem alle Fähigkeiten und jede Möglichkeit, Anerkennung zu erwerben, abgesprochen werden? Es kann zu keinem anderen Schluß kommen 22
als zu dem: „Ich passe nicht zu den übrigen; ihre Gemeinschaft ist nichts für midi." Es müßte sich notwendigerweise weiter sagen: „Ich kann da nicht mittun." Dies würde heißen, sich selbst aufzugeben, würde in allen Punkten und für immer zur passiven Rolle im Leben verurteilen. Das erträgt kein Kind. Dies erträgt natürlich auch kein Erwachsener. Stellen wir uns vor, wir wären immer und überall der Unfähige, der Dumme, der Unbrauchbare; uns würde von jedem Schulleiter und jedem Schulrat dies immer wieder bescheinigt, uns würden von ihnen alle anderen als die Tüchtigen und Überlegenen hingestellt, die wir „ja doch nicht erreichen werden" — auch wir könnten dieses Leben nicht ertragen. Auch wir kämen dahin, wohin jeder Mensch in solch einer Lage unfehlbar kommen muß. Nach der Philosophie von den saueren Trauben wird durch einen geschickten, immer unbewußten Selbstbetrug die Formel „Ich kann nicht" vertauscht mit der anderen „Ich will nicht". Damit ist das Prestige gerettet, aus der passiven eine sehr aktive Rolle geworden, damit prallt alle Zurücksetzung und alle Erniedrigung ab an dem schützenden Gedanken „Ich will ja gar nicht. Wenn ich nur wollte, d a n n . . ." Jetzt ist auch von einem Aufgeben seiner Person keine Rede mehr. Im Gegenteil: Sie zu behaupten, unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf die Mittel, das ist nun das Ziel. Der Kampf des Max gegen die Gemeinschaft geht in mehreren, einander scheinbar widersprechenden Formen vor sich. Zunächst auf der Linie des geringsten Widerstandes: gegen die kleinen Kinder. Von Gleichaltrigen kann er sich keine Anerkennung holen. Körperlich ist er zu schwach und im Lernen ist er als der Unfähige abseits gestellt. Darum geht er zu den ganz Kleinen. Ihnen gegenüber ist auch er noch der Überlegene und Große. An ihnen läßt er seinen „Ubermut" aus, wie es seine Mutter nennt. Er riskiert nicht viel dabei. Nach jeder Untat läuft er auf dem kürzesten Weg nach Hause und dort deckt ihn seine Mutter bedingungslos gegen jeden, der mit einer Klage kommt. In einem seltsamen Kontrast dazu steht sein Kampf gegen die Klasse und gegen den Lehrer. Hier kämpft er auf der Linie des stärksten Widerstandes, Hier zieht er auf sehr schmerzhafte Weise
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jedesmal den Kürzeren. Trotzdem er die Strafe fürditet wie das Feuer, tut er unaufhörlich, seit 6 Jahren genau das Gegenteil von dem, was der Lehrer will und provoziert so fast täglich diese so gefürchtete Strafe. Wie soll man diesen Widerspruch erklären können? Damit, daß er den Lehrer ärgert, wo er kann und wann er will, ist er ihm — wie der Klasse — in gewisser Hinsicht überlegen. E r hat es in der Hand, ob der Unterricht glatt und friedlich vonstatten geht, ob der Lehrer und die Klasse es schön haben. Er braucht ja bloß auf irgendeine Art zu stören und der Friede und das Vorwärtskommen sind dahin. Jeder Zornausbruch des Lehrers ist ihm eine neue Bestätigung seiner Macht. Jedesmal, wenn der Lehrer die Geduld verliert, ist er auf der Höhe seiner Selbstbehauptung. (Wie oft wurde ihm der Gefallen getan!) Dabei ist es meist so, daß in der Klasse noch mehr von der Art sitzen, die gegen den Lehrer eingestellt sind. Die lohnen es dem Max mit stillschweigender oder auch ausdrücklicher Anerkennung, wenn er den Lehrer aus dem Häuschen bringt. Und alle anderen, die zu solchen Frechheiten keinen Mut haben, bewundern ihn insgeheim auch. Kann sein Kampf gegen die Lehrerautorität im Grunde nicht auch ein Kampf um Anerkennung und Geltung — mit umgekehrten Vorzeichen freilich — sein? Ein Beweis, daß er diesen Kampf sogar für einige Zeit einstellt, wenn er die Anerkennung findet, nach der er hungert: Er schreibt gute Aufsätze; 'denn die Hemmung „Das darf man nicht schreiben" kennt er nacht, wie er überhaupt viel weniger Hemmungen kennt. Ich habe — noch in der ärgsten Zeit — dies dazu benützt, seine Geschichten der Klasse vorzulesen, ihn öffentlich dafür anzuerkennen und ihn die Anerkennung der Klasse spüren zu lassen. Für 2 und 3 Tage war er nicht wiederzuerkennen. Er beteiligte sich am ganzen Unterricht, schrieb sorgfältiger, war verträglicher. Dann aber ging es wieder im ausgefahrenen Geleise weiter. Vielleicht ist mit dieser Betrachtung das seltsam-gegensätzliche Verhalten des Buben, daß er trotz seiner Furcht von der Strafe diese doch fast täglich herbeiführt, noch nicht völlig geklärt. Wir werden eine Schicht tiefer gehen müssen, um noch ein Motiv zu finden.
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Man macht der Strafe, besonders der körperlichen Züchtigung, den Vorwurf, sie suche das Symptom zu kurieren; sie sei zu oberflächlich und komme nicht an die eigentliche Wurzel des Übels. Bei genauerer Betrachtung scheint dies aber nicht richtig zu sein. Die Strafe kommt tatsächlich an die Wurzel, freilich auf ganz andere Weise als wir es wünschen müßten. Max ist vor 6 Jahren in die Schule gekommen mit der inneren Einstellung: „Alle Kinder sind gegen mich. Niemand will midi haben." Seine ersten wie alle nachfolgenden Schulerfahrungen haben ihm tausend Beweise dafür geliefert, daß er recht hatte. Jede Zurechtweisung, jede Rüge, jede Strafe war ein neuer Beweis: „Da sieht mans wieder! Sie alle mögen mich nicht!" W a s e r dazu beigetragen hat, wie.er die Strafe herausgefordert hat, das bleibt in solchen Augenblicken außer Betracht. Das lehrt die Untersuchung des kleinsten Streitfalles zwischen Kindern wie zwischen Erwachsenen: Immer ist von dem Schuldanteil des anderen die Rede. Der eigene wird bagatellisiert oder überhaupt nicht gesehen. Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß es nicht leicht sein muß, außerhalb der Gemeinschaft zu leben. Diesen Weg konsequent zu gehen, scheint überhaupt nicht möglich. Die Verlockungen, die herüberziehen in das Lager der anderen, sind zu groß. Ihnen aber nachzugeben, muß einem Menschen, der jahrelang schlechte Erfahrungen darin gemacht hat, zu gefährlich erscheinen. In dieser unsicheren Lage zwischen zwei Welten sucht der Mensch nach einem Halt. Es klingt nur auf den ersten Blick paradox, zu sagen: Jede Strafe i s t solch ein Halt! Denn Strafe bedeutet u. a. auch dies: „Du bist schon auf dem rechten Wege! Dort drüben ist kein Platz für dich!" S o gesehen kommt die Strafe tatsächlich an die Wurzel des Übels. Sie bestätigt einem Kinde, das auf gemeinschaftsfeindlichen Wegen geht, mit jedem Mal neu das, was es braucht, um seinen abseitigen Weg weitergehen zu können: „Sie mögen mich nicht. Ich habe schon recht mit meinem Mißtrauen und mit meiner Gegenwehr." S o gesehen ist die Strafe keine Symptombehandlung, sondern immer neuer Anlaß für den Außenseiter, auszuharren im Kämpfe.
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Kehren wir zurück zur Lebensgeschichte des Max. In vielen Wochen wurden gemeinsam Tatsachen und Deutungen gesucht und gefunden. Bei der letzten eingehenden Beratung sagte der Arzt etwa folgendes: „Wir stehen am Ende unseres gemeinsamen Weges. Was jetzt kommt, müssen Sie als Lehrer selbst finden. Ich bin Arzt und kann Ihnen da keine praktischen Ratschläge geben. N u r vorher nodi dies: Sie haben gesehen, wie der Bub in 12 langen Jahren und durch tausend bittere Erfahrungen dahingekommen ist, wo er heute steht. Durch gutes Zureden wird dies alles nicht aus der Welt geschafft. Denn auch wir lassen uns Erfahrungen nicht durch freundliches Zureden nehmen, um so weniger, je schlimmer sie waren. Erfahrungen werden nur durch andere Erfahrungen korrigiert! H a t er bisher erlebt oder zu erleben geglaubt, daß Sie sein Feind sind, so muß er nun erleben, daß Sie ihm freundlich gesinnt sind; hat ihn die Gemeinschaft bisher hinausgewiesen oder hinausgestoßen, so muß ihm jetzt geduldig und beharrlich gezeigt werden, daß sie ihn hereinnimmt zu sich. Wann Sie das Zustandekommen der Schwierigkeit wirklich verstanden haben, wenn Sie selber wirklich herauskommen wollen aus Ihrer Lage, dort strafen zu müssen wo Sie doch helfen wollen — dann werden Sie einen Weg finden."
WEG Der Arzt hatte schon gleich zu Beginn der Beratung empfohlen, mit der körperlichen Strafe zunächst auszusetzen. Es sollte, hieß es, für die späteren Maßnahmen der Boden vorbereitet werden. Nach den bisherigen Überlegungen ist die Absicht des Ratschlages wohl deutlich: Es sollte Schonzeit gegeben und nicht durch dauernde Strafen die alte Wunde immer wieder aufgerissen werden. Vielleicht war noch eine andere Absicht dabei. Wenn ein Kind für eine bestimmte T a t jahrelang immer dieselbe Strafe empfängt und einmal bleibt diese schon automatisch gewordene Folge aus, so wird es doch stutzig und wenigstens für einen Augenblick nachdenklich werden. Wie tief bei Max diese Nachdenk-
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lichkeit gegangen ist, läßt sich nicht beurteilen. Ob durch das Ausbleiben der gewohnten Strafe etwas gebessert wurde, läßt sich auch nicht sagen; augenscheinlich aber ist dadurch nichts verschlechtert worden. Das ist bei der bisherigen steten Abwärtsentwicklung seit vielen Jahren gar nicht so wenig. Klassenämter (Wandtafeln reinigen, Fenster, Türen, Schränke in Ordnung halten, Hefte austeilen und einsammeln, Schulkasse verwalten, Abwesenheitsliste führen) sind zur Erleichterung des äußeren Schulbetriebes schon immer vergeben worden. Viele Lehrer aber haben bisher nicht sehr viel davon gehalten: „Die anfängliche Begeisterung verraucht schnell. Dann muß man ewig erinnern und mahnen. D a mache ich mir meine Arbeit lieber selbst. Das ist weniger mühsam." D a s Klassenamt kann aber eine größere und wichtigere Aufgabe übernehmen. Es kann ein Mittel werden, um alle die Einspänner und Außenseiter in der Klasse, die sich nodi nie viel um andere und um das Ganze gekümmert haben, am Wohl dieses Ganzen zu beteiligen und sie dabei erleben zu lassen, daß man selbst damit auch auf seine Kosten kommt. U m dieses Ziel wirklich zu erreichen, müssen wir die Sache etwas anders handhaben als es bisher geschehen ist. Statt die Ämter einfach nach irgendeiner mechanischen Ordnung zu verteilen, sollten wir sie auf freiwillige Meldungen hin vergeben und dabei schon die besondere erziehliche Absicht nicht vergessen, also möglichst jedem d a s Amt zuteilen, das ihm die Möglichkeit gibt, seine besondere Schwierigkeit damit anzugehen, also einem Unordentlichen die Schrankordnung übergeben, einen Ungehobelten mit dem Amt betrauen, Rundschreiben im Haus herumzutragen und dabei gewisse Umgangsformen zu üben, einen Vergeßlichen die tägliche Krankenliste führen lassen. Bei der Übertragung des Amtes sollte mit der Klasse ohne große Worte, aber eingehend über seine Aufgabe, seine wirkliche Bedeutung und seine besonderen Schwierigkeiten gesprochen werden Die Viertelstunde, die damit hingeht, ist nicht verloren. Wenn Kinder eine Sache ernst nehmen sollen, müssen sie sehen, daß zuerst wir sie ernst nehmen. Wir sollten weiter nicht vergessen, daß die meisten Kinder die Ausdauer gar nicht haben k ö n n e n , die nötig wäre, ein über27
nommenes Amt monatelang sorgfältig auzuüben. D a r u m ist unsere Aufgabe nidit damit erfüllt, d a ß Ämter vergeben werden. Wir müssen vielmehr das kindliche Interesse an der Sache w a r m halten. D a z u gibt es kein besseres Mittel als zu rechter Zeit sein eigenes Interesse zu zeigen. „Zu rechter Zeit" — also dann, wenn die Arbeit gerade gut gemacht worden ist. (Audi wir selber hören lieber zu, wenn eine Sache besprochen wird, die uns gelungen ist, als wenn eine mißlungene kritisiert wird.) Wenn so gelegentlich gesagt wird: „Blitzblank siehts jetzt aus in unserm Schrank. W e r ist der Schrankmann? Du Hans? Schön — laß nur nicht aus" — wenn dies möglichst beiläufig, ohne äußeren und inneren Nachdruck kommt, wird es die gewünschte W i r kung tun. Dem Angesprochenen wird es eingehen wie Honig und die Klasse wird die Ohren spitzen, denn bisher hat sie seinen Namen nur in Verbindung mit tadelnden oder absprechenden Urteilen gehört. Max bekam zunächst das persönlichste Amt, das ich zu vergeben hatte. Er d u r f t e mein R a d versorgen, also midi um 3 / 4 8 Uhr am Schultor erwarten, das R a d in Empfang nehmen, in die R a d kammer bringen, um 12 U h r allein und als erster das Klaßzimmer verlassen, u m es wieder zu holen und mich am Ausgang zu erwarten. Weil sich mein Kommen nach der Schule nicht selten sehr verzögerte, blieb ihm Zeit, zuerst allein, später mit Kameraden allerlei Kunststücke auf dem R a d zu lernen. Ich habe ihm das Amt mit einer besonderen Begründung angeboten: „Ich brauche einen Zuverlässigen f ü r mein R a d . Du bist z w a r klein und das R a d ist schwer. Aber D u bist flink und in manchem tüchtig — willst Du es versuchen?" Die Sache ging ausgezeichnet. Z w a r hatte ich einige R a d r e p a r a turen mehr als ich sie gehabt hätte, wenn ich es selbst versorgt hätte. Aber über diese Arbeitsbeziehung ist ohne viel Worte auf dem denkbar besten Weg — dem unbewußten — die erste leise Verbindung zwischen uns — Max und mir, Max und der Klasse — gewachsen. Schwierige Schüler — schlechte Schüler! Enge Beziehungen bestehen zwischen beiden. Nicht bloß in der Form, daß tatsächlich schwierige Schüler meist schlechte oder daß schlechte Schüler o f t auch schwierig sind. Auch ursächlich
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bestehen enge Zusammenhänge: aus schwierigen werden leicht schlechte Schüler u n d die meisten ursprünglich schlechten werden bald auch schwierige Schüler sein. Hier ist ein Punkt, an dem die engen Beziehungen zwischen Erziehung und Unterricht deutlich gemacht werden können. Den Kindern werden im täglichen Unterricht gerade so große und so schwere Arbeitsportionen zugeteilt, d a ß sie sie mit einiger Anstrengung eben noch bewältigen könnem. Jede so bewältigte Aufgabe bringt neben dem sichtbaren Ergebnis auch noch ein unsichtbares, einen kleinen inneren Kraftzuwachs: „Ich bin damit fertig geworden." Lassen wir unsere Kinder in den langen acht Schuljahren diese Erfahrung hundert- und hundertfach machen, so werden sich diese einzelnen kleinen Erfolgsgefühlchen summieren zu einem allgemeinen, den ganzen Menschen erfüllenden Zutrauen zu seinen eigenen K r ä f t e n : „Ich habe bisher alle meine Aufgaben bewältigt; ich werde sicher auch die künftigen bewältigen." Hier liegt die große Möglichkeit, damit aber auch idie große Verantwortung, die wir Lehrer haben. Jede lebendige und frohe Unterrichtsstunde macht den Kindern das Leben und uns die weitere Arbeit leichter. Die günstigen Folgen solch eines klug ausgewählten und gut angepaßten Arbeitspensums gehen immer quer durch den ganzen Menschen und erfassen ihn in seiner Gesamtheit. D a r u m kann auch sogar ein einziges bewältigtes Fach aufrichtende Wirkung auf den ganzen Menschen haben. Jedes Kind hat mindestens eine sogenannte „gute Seite". Die positiven Erfahrungen, die wir es damit machen lassen, strahlen aus über sein ganzes Wesen und stärken den ganzen Menschen. Ebensosehr freilich gehen die negativen Wirkungen eines unbewältigten Faches schnell auf die Gesamtpersönlichkeit des Schülers über. Ein Kind, das jahrelang erlebt, daß es beispielsweise im Redinen oder Rechtschreiben nicht mitkommt, wird nicht nur ein immer schlechterer Rechner u n d Rechtschreiber. Die hemmenden u n d schädigenden Wirkungen werden sich nach und nach anderswo zeigen, in allgemeiner Unsicherheit und Zaghaftigkeit, später auch entweder in der mehr passiven Form als Faulheit oder in der aktiveren als Trotz oder Frechheit.
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Der Weg von ursprünglichen Unterrichtsschwierigkeiten, die der Schüler h a t , hin zu den Erziehungsschwierigkeiten, die er m a c h t , ist unschwer in seinen einzelnen Etappen zu verfolgen. Es ist verständlich, daß ein Kind wie Max, das schon mißtrauisch und unsicher in die Schule kommt, durch unterrichtliche Mißerfolge schneller und unfehlbarer in weitere Abseitigkeit gedrängt wird. Er hätte vom ersten T a g an besondere unterrichtliche Fürsorge gebraucht. Man hätte vom ersten Augenblicke an darauf hinarbeiten müssen, ihm ja den Anschluß an die gemeinsame Unterrichtsarbeit zu ermöglichen und ihm so Freude an seinen Schulleisturngen zu verschaffen. Das ist nicht geschehen. Damit war nach der ersten ganz großen Enttäuschung seine Freude an der Schule endgültig dahin und die Aufgabe für alle späteren Lehrer außerordentlich erschwert. Im Rechnen, Rechtschreiben und Schönschreiben ist es in den sechs Jahren nicht mehr gelungen, ihn Anschluß finden zu lassen. Hier war er ein Versager auf der ganzen Linie. Hier erlebte er die langen Jahre, was jeder sogenannte schlechte Schüler erfährt. Weil er zu Anfang den Anschluß verpaßt hatte, kam er zu keiner Leistung. Das trug ihm Tadel und Mahnung ein, wenn nicht mehr. Dies verminderte seine Lust neuerdings, etwas dazuzutun. Das verminderte seine Leistung weiter und so ging es wie in einer Teufelsspirale bis zu dem augenblicklichen Endzustand, daß er in diesen Fächern ganz versagte und hier auch jeder Anstrengung aus dem Wege ging. Ein Umstand hat diese Entwicklung hin zum endgültigen Mißerfolg besonders gefördert. Im Schülerbogen hat der Lehrer der 3. Klasse als das ihm "Wichtigste recht lakonisch eingetragen: „Kurzsichtig". Es bleibt fraglich, ob die nachfolgenden Lehrer sich der vollen Tragweite dieses Hinweises bewußt waren; mir jedenfalls ist nur durch einen Zufall in den ersten Wochen das ganze Ausmaß seiner Kurzsichtigkeit bekannt geworden. Max war so kurzsichtig, daß er auch von der ersten Bankreihe aus von der großen Schultafel nichts ablesen konnte. Er hat, weil ihn die überängstliche Mutter keine Brille tragen ließ, in den langen Schülerjahren nicht ein einziges Wort und keine einzige Zahl an der Tafel gesehen! D a s allein könnte sein heutiges Versagen erklären.
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Eine wirkliche innere Gesundung ist bei all den Kindern undenkbar, die dauernden Störungen ihres seelischen Gleichgewichts durch unterrichtliche Mißerfolge ausgesetzt sind. Darum muß es eine der ersten Bemühungen des Lehrers sein, den Zurückgebliebenen im Unterricht nachzuhelfen. D a s scheint bei den in langen Jahren entstandenen großen Lücken eine verzweifelte Aufgabe. Glücklicherweise ist sie praktisch leichter zu lösen als es theoretisch möglich scheint. In einer Rechenstunde, in der einer gar nicht vorankam und bewies, daß ihm sehr viele Voraussetzungen zu der gegenwärtigen Aufgabe fehlten, sagte ich zu ihm: „ D u siehst^ Franz, hier kommst Du nicht weiter. Man merkt, daß Du früher, in der 4. oder 5. Klasse den Anschluß versäumt hast. Kein Maurer kann im 6. Stock weiterbauen, wenn der 4. und 5. nicht steht. Ich habe aber den Eindruck, daß Du die Sache nachholen könntest, vielleicht sogar schneller als Du selber glaubst. Ich habe das in den früheren Jahren schon manchmal erlebt. Es würde Dich nicht viel kosten: einen freiwilligen Entschluß und wöchentlich zweimal eine Viertelstunde nach der Schule. AHes andere käme dann nach. Weil Du außerdem glücklicherweise nicht der einzige Rechenheld unter uns bist, könnten der Fritz, der Max und der Karl auch mittun. Zu viert ginge es leichter. Überlegt es Euch bis 12 Uhr. Wenn Ihr wollt, können wir gleich heute anfangen." Max, absichtlich nur nebenbei genannt, blieb mit den übrigen dreien nach Schulschluß da. Wir setzten uns zusammen; auch ich saß in einer Bank mitten unter ihnen. (Dieses mitten-unterden-Kindern-Sitzen und in-Tuchfühlung-imit-ihnen-Gehen hat immer außerordentliche Wirkungen! Es ist, wie wenn allein schon dadurch eine Eiskruste schmölze. Wer erlebt hat, wie eine auf die Schulter gelegte Hand tiefer wirkt als eine wochenlange Bemühung, wie der verstockteste Bursch weich und zugänglich wird, wenn wir ihm nur einmal den Arm um die Schulter legen, der wird dieses Mittel, einem Kinde sein Wohlwollen spüren zu lassen, zwar behutsam und sparsam gebrauchen, aber doch nie mehr missen wollen.) Und nun beginnt die Arbeit. Weil ihr erstes Ziel n i c h t ist, möglichst rasch die Lücken auszufüllen, sondern den Mutlosen und Unsicheren mehr Zutrauen
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zu ihren eigenen Kräften zu geben, können wir es uns erlauben, ganz ganz weit vorne anzufangen und uns am Anfang sehr viel Zeit zu lassen. Was schadet es, wenn wir wirklich mit Rechnungen aus der 3. oder 4. Klasse beginnen? „Ich sage Euch eine Zahl; Ihr zählt im Kopf 3 dazu und schreibt das Ergebnis untereinander: 12, 25, 38, 1 5 7 . . . Jetzt 12 dazu. Jetzt 8 weg! Jetzt das Doppelte! Jetzt die Hälfte! Gut gemacht! Für heute genügt es. Es geht nicht schlecht. Besser sogar, als ich mir gedacht habe. Natürlich war es heute zum Anfang noch leicht. Aber wir werden bald Schwereres fertig bringen. Wenn Ihr nur nicht auslaßt. Wer Lust hat, kann am Freitag nach der Schule weiterfahren." Weil wir so weit vorne anfangen, sind die Fortschritte wirklich schnell sichtbar. So soll es sein. Dann fällt das Wesentliche für jeden Einzelnen ab: „Ich bin doch nicht so dumm, wie ich gemeint habe. Vielleicht komme ich doch auch noch nach." Nach einigen Wochen sind wir so weit, daß ich jedem von ihnen eine vorsichtig ausgewählte Zwischenaufgabe im Klassenunterricht vorsetzen kann. Bewältigt er sie, so genügt ein beiläufiges: „Na siehst Du — es wird schon!", um auch die Klasse aufhorchen zu lassen. Ein paar schauen anerkennend um, er spürt aus der auffälligen Stille die Anerkennung der Klasse heraus — wieder ist eine Beziehung zwischen uns geknüpft worden! Bewältigt er sie nicht und wir sagen ebenso nebenbei: „Macht gar nichts. Du kriegst es schon noch. Wir haben ja Zeit", so ist nichts verdorben. Die Arbeit führt bald dazu, daß die Kinder freiwillig zu Hause nacharbeiten, um schneller voranzukommen, und daß wir jetzt auch schon die Schulstunden zu unserer Privatarbeit benützen, während die anderen z. B. eine schriftliche Übung machen oder zeichnen. Nach 8—10 Wochen sind wir soweit nachgekommen, daß die vier bei dem nun beginnenden gemeinsamen neuen Thema der Flächenrechnung schon ganz leidlich mittun können. Max erwies sich als flink und leicht auffassend. Der innere Erfolg war ihm noch mehr als den anderen anzusehen. Er strahlte vor Stolz, wenn ihm unter den Augen der Klasse eine Sache gelang. Und immer ging es danach tagelang reibungslos mit ihm. Noch schneller zu sichtbaren Erfolgen — die für die innere Stär-
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kung jedes Unsicheren so dringend nötig sind — kamen wir auf dem Gebiet des Schönschreibens. Ein paar Wochen nach Abschluß des Rechenkurses machte ich einigen aus der Klasse — M a x unter ihnen — den Vorschlag, auf einem kurzen Weg zu versuchen, ihre Schrift ein wenig zu verbessern. Die auffälligen Erfolge des Rechenkurses für die vier waren wohl der Grund dafür, daß sich zu diesem Schönschreibkurs so viele freiwillig meldeten, daß wir ihn als Klassenunterricht durchführten. Nach einer halben Seite, geschrieben in ihrer gewöhnlichen heutigen Schrift, malten wir zunächst die einfachen Formen des kleinen Antiqua-Alphabets, das uns aus der Zeichenstunde schon bekannt ist. Darauf waren die ersten kleinen Wörtchen „in, am, und . . . " zuerst in Druckbuchstaben zu schreiben, dann die einzelnen Buchstaben miteinander zu verbinden. Dabei hieß es: „Achtet nur gut darauf, daß die schöne runde Breite jedes einzelnen Buchstaben erhalten bleibt." Diese täglichen 10 Minuten ergaben schon nach ein paar Wochen ein anderes Schriftniveau und ersetzte die oftmals engen, ineinander geschobenen, unübersichtlichen Schriftzüge durch breitere und behäbigere — zunächst freilich nur, wenn die Kinder Zeit hatten, ganz langsam zu schreiben. Dann hieß es: „Malt in Druckschrift eine Zeile T e x t ; darunter denselben T e x t in der schönsten Schreibschrift, die Ihr fertigbringt. Laßt Euch soviel Zeit dazu, wie nötig ist. Darunter das gleiche in e t w a s schnellerem Tempo. Darunter noch ein wenig schneller, aber möglichst in der gleichen Rundheit wie in der ersten Zeile. Und so noch 5 — 6 Zeilen immer rascher und trotzdem mit dem einzigen Ziel: möglichste Breite und Rundheit und Klarheit." Daraus wurden zwischendurch Schönschreib-Tempo-Diktate. Das alles machte Spaß und brachte auch vorwärts. Eines Tages hieß es: „Jetzt dieselbe halbe Seite T e x t , die Ihr vor 8 Wochen geschrieben habt. Bedingung: dasselbe Tempo wie damals. W i r wollen sehen, ob sich die Arbeit inzwischen gelohnt hat." Sie hatte sich gelohnt! Denn gemeinsame Arbeit lohnt sich immer, gleichgültig, ob äußerlich mehr oder weniger dabei herauskommt — sie verbindet! Eines konnte M a x wirklich gut. Er schrieb wesentlich bessere Geschichten als der Durchschnitt seiner Klassenkameraden. 3 Simon.Verstehen u n d Helfen
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Kinder, die sich schon früh ihrer Haut wehren müssen oder glauben, sidi ihrer wehren zu müssen, entwickeln scharfe Beobachtungsgabe. Diese Fähigkeit und seine schon besprochene Freiheit von äußeren Hemmungen gaben zwei gute Vorbedingungen für die erlebten Geschichten, die wir neben anderen mehr technischen Aufsatzübungen schrieben. Die wöchentlich eingelieferten 1 oder 2 Geschichten wurden jedesmal gründlich vor der Klasse besprochen. Kaum eine solche verging, ohne daß nicht in der Reihe der besprochenen guten Arbeiten der Name von Max auftauchte. Diese gute Seite im Kinde aufzufinden, ist nicht immer so einfach wie bei Max. Vergebens aber sucht man nie, auch dann nicht, wenn man zunächst glaubt, diesmal sei wirklich keine da. Sie dann zu pflegen ist unsere Aufgabe. Sie spielt im Plan der Erziehung von Außenseitern keine geringe Rolle. Sie gibt gleich von Anfang an die schöne Möglichkeit, das Kind positive Erfahrungen machen zu lassen. Zwei Gefahren liegen aber nahe. Man ist erfreut, daß endlich einmal nicht gemahnt und getadelt zu werden braucht und man glaubt, durch verstärktes Lob dem Fortschritt zu dienen. So wird die gute Leistung ausführlicher, weitschweifiger und mit mehr Nachdruck der Klasse vor Augen gestellt als sie es objektiv verdiente. Außerdem glaubt man die gute Gelegenheit eines Gelingens dazu ausnützen zu können, daß man ermunternd auf die minder guten Seiten hinweist: „Du kannst also, wenn Du nur willst. Nimm dich nur zusammen, dann wirst du auch im Rechtschreiben besser werden." Das ist gut gemeint. Aber eine Rückerinnerung an Situationen, in denen wir selber Betroffene waren, wird uns zeigen, daß die tatsächlichen Wirkungen solcher Besprechungen anders sind. Das zu große Wort für die zu kleine Sache entwertet die Sache und das "Wort. Die Kinder haben feines Qualitätsempfinden und können genau abschätzen, was richtig und was übertrieben ist. Außerdem schadet die Übertreibung auch dem hervorgehobenen Kinde. Die ebenso gut gemeinte Bemerkung, die die schlechten Fächer mit in die Anerkennung für die guten Leistungen einbeziehen
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will, wird kaum erreichen, was sie soll. Die Freude am Erfolg wird getrübt durch den Hinweis auf die übrigen Mißerfolge. Dadurch wird dem schlechten Fach nichts an Kräftigung zuwachsen. Es gibt für uns auch hier nur das eine: Bei allem Wohlwollen streng bei der Wahrheit zu bleiben, das anerkennende W o r t der Leistung möglichst genau anzupassen und wie überall das große Wort, die weitläufige Moralpredigt zu meiden. Die Kinder bekommen am ersten Schultag das Recht, sich ihre Plätze in der Klasse selbst zu wählen. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß zunächst nicht immer die Richtigen nebeneinander sitzen. Nach einigen Wochen habe ich gesagt: „Es sieht so aus, als ob ihr beiden — du Michel und du Georg — nicht den rechten Platz gefunden habt. Es ist ja schön, wenn sich zwei Freunde zusammensetzen. Aber wenn es so ist wie bei euch, die ihr beide im Rechnen es gleich schwer habt, dann ist das nicht günstig. Ich würde euch vorschlagen: Trennt euch für einige Zeit. W i r suchen einem jeden einen Kameraden, der euch für die erste Zeit im Rechnen nachhelfen kann und ihr bleibt solange neben dem sitzen, bis ihr nachgekommen seid." Dies gab eine allgemeine kleine Umgruppierung, bei der auch Max ganz nebenbei einen anderen Nachbarn bekam. Der half beim Rechtschreiben, ließ ihn abschreiben, wo er allein nicht weiterkam, machte ihn auf kommende Fehler aufmerksam, verbesserte mit ihm die gemachten Fehler, bekam die Ermächtigung und die Anleitung, während des anderen Unterrichtes das eine oder andere Kapitel mit ihm allein zu arbeiten — eine Zusammenarbeit, idie beiden erziehlich und unterrichtlich zugute kam: dem Max, indem sie ihm im Rechtschreiben wirklich etwas vorwärtshalf, ihm außerdem das stärkende Gefühl gab, jemand zu haben, der sich seiner annimmt und dem Helfer in der Weise, daß er, dem das Stoffliche keine Schwierigkeit mehr machte, sich um methodische Fragen kümmern mußte und daß er überdies lernte, sich um andere zu bemühen. Der Weg vom Helfer zum Freund, mit dem man nach Hause gehen, in der Freizeit spielen und manche persönlichen Dinge besprechen kann, ist dann nicht mehr weit. Gerade Außen3*
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seiter wie Max sind trotz aller früheren Erfahrungen ausgehungert nach näherer menschlicher Beziehung. Unsere Aufgabe ist es, unauffällig mit dem Helfer eine kluge W a h l zu treffen. Aber in jeder Klasse sitzen solch ein paar gesunde, gutmütige und hilfsbereite Kinder, die das Helferamt auch bei einem solch Schwierigen wie Max übernehmen, wenn wir zwischendurch ein vertrauendes, ermutigendes und lenkendes Wort für sie haben. Auch der Helfer braucht unsere Führung, wenn er Ausdauer behalten soll. So knüpfte sich menschliche Verbindung in der Klasse, aus der dann von selbst heilsame Bindung für alle wurde. Die Klassengemeinschaft wuchs langsam zusammen. Und das Schönste: Es brauchte nicht viel darüber geredet werden. Sie wurde praktiziert! D a war M a x eines Tages wegen Krankheit nicht in der Schule. Ich sagte zur Klasse: „Max ist heute krank. D a können wir etwas miteinander besprechen, worüber ich mir schon einige Zeit meine Gedanken gemacht habe. Ich habe mir von ihm einiges aus seinem Leben erzählen lassen. Dabei ist herausgekommen, daß er es eigentlich nie richtig schön gehabt hat. Seine Mutter muß verdienen und ist deshalb den ganzen T a g bis sieben U h r abends in der Arbeit; er ist bei fremden Leuten aufgewachsen. Niemand hat sich je viel um ihn gekümmert. Außer seiner Mutter mochte und mag ihn niemand. So ist er allein. Darum ist er wohl auch zu uns so bockig gewesen; denn er ist der Meinung, alle Menschen seien seine Feinde. Dabei hat er nicht einmal so unrecht damit gehabt. Ihr habt ihn in den vergangenen Jahren ausgeschlossen von euren Angelegenheiten; ihr habt ihn nicht unter euch haben wollen, habt ihn nicht mitreden und nicht mitspielen lassen. W e r von euch aber in den letzten Wochen ein bißchen seine Augen aufgemacht hat, der hat vielleicht gesehen, wie M a x schon manchmal bereit war, freundlich m i t uns zu gehen, statt wie früher feindlich g e g e n uns. Wer erinnert sich an eine solche Gelegenheit?" In dem nun sich entwickelnden Gespräch konnte den Kindern ein erster verstehender Blick hinter die Kulissen zwanglos gegeben werden: wie man nach einem Mißerfolg leicht ablehnend und ungerecht gegen die anderen wird, wie dauernde Mißerfolge entmutigen und gegen alle mißtrauisch machen, wie
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nur unglückliche Menschen Unrecht tun und wie auch der Verbittertste — das haben wir j a gesehen — bereit ist einzulenken, wenn wir ihm die Möglichkeit dazu geben. „Freilich müßten wir ihm dann in manchem am A n f a n g entgegenkommen, ihm helfen, ein bißchen nachsichtig sein, wenn er wieder Krach macht." „Aber w a r u m " — so f r a g t einer dazwischen — „ w a r u m sollen gerade w i r damit anfangen? E r tut doch das Unrecht, nicht w i r . " — „ G u t , daß du den E i n w a n d bringst. Er ist wichtig. Ich will euch als Antwort darauf eine alte lustige Geschichte erzählen: In eine kleine Stadt k o m m t ein Zirkus. D e r Besitzer ist verzweifelt: ein L ö w e ist ihm in dieser Nacht zugrunde gegangen. D a b e i ist die Eröffnungsvorstellung ausverkauft! E r geht hinaus vor das Zelt und spricht einen dürftig gekleideten jungen Menschen a n : ,Wollen Sie sich zehn M a r k verdienen? Sie haben nichts zu tun als sich heute abend in d a s Fell des toten Löwen einnähen zu lassen und bei der Vorstellung ein bißchen im Käfig herumzugehen.' Der junge Mann geht auf den H a n d e l ein. Wie er am Abend im Löwenkleid in den hellerleuchteten K ä f i g hineingeschoben wird, bleibt ihm vor Schreck das H e r z stehen: D o r t drüben in der anderen Ecke sitzt schon ein L ö w e ! Wie er in T o d e s a n g s t eine Sekunde unschlüssig steht, hört er in der allgemeinen Stille aus der Ecke des anderen ein leises bestürztes ,Gelobt sei Jesus Christus!' D e r gefürchtete Gegner war auch ein falscher L ö w e und hatte dieselbe Angst wie er! Befreit konnte er nun antworten: ,In Ewigkeit, A m e n ! ' Siehst du K a r l , so ist es auch bei uns hier mit dem M a x . Einer muß den A n f a n g machen und sagen ,Gelobt sei Jesus Christus'. Ihr werdet erleben, daß er gerne antworten wird, weil er natürlich g a r kein so wildes Tier ist, wie ihr bisher gemeint habt. Auch er hat sich ja bloß eine Löwenhaut umgebunden." Dieser ersten Besprechung folgen andere, vorbedachte und gelegentliche, solche ohne ihn und andere mit ihm, in denen immer am Beispiel eines gemeinsamen Erlebnisses, bei dem etwas gelungen war, gezeigt wurde, daß auch in ihm ein guter Kern steckt und daß der erste entgegenkommende Schritt sich wohl immer lohnt, denn wir machen uns auch unser eigenes Leben damit leichter. Es mag
gewagt oder sogar gefährlich erscheinen, vor
einer
Klasse über die persönlichen und manchmal auch über die häus-
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liehen Schwierigkeiten eines Einzelnen zu sprechen. Tatsächlich darf solch eine Aussprache auch wirklich nur mit äußerster Behutsamkeit und allem menschlichen T a k t geführt, dürfen nur Dinge berührt werden, die ohnehin jeder wissen kann und die nicht gegen Kind oder Familie ausgespielt werden können. Die Gefahr, daß ein Kind aus der Klasse so ein Gespräch einmal außerhalb der Schule mißbraucht, wird geringer, wenn alle Kinder spüren, daß wir Vertrauen in ihre menschliche Einsicht haben und wenn sie selber auch bei kleinen, scheinbar nebensächlichen Gelegenheiten erfahren, daß auch sie als Menschen vollgenommen werden (etwa in der Weise, daß a l l e Höflichkeitsformen unter Erwachsenen auch beim Umgang mit Kindern, selbst kleinen Kindern, Geltung haben). Ein anderer, oft gehörter Einwand spricht gegen „diese Einzelbehandlung auf Kosten der Klassenarbeit". Es wäre schwer zu entscheiden, wer bis jetzt mehr gelernt hat, die Klasse oder Max, und wer mehr Vorteile davon zu spüren bekommen hat. „Denn" — so werden wir einmal bei Gelegenheit an einem drastischen Bild unsere Situation aufzeigen — „wenn wir nach einer langen "Wanderung alle hungrig um die dampfende Suppenschüssel herumsitzen und ein einziger spuckt uns hinein, schmedkt es keinem mehr. Und solche, wie Max früher einer war, können uns alle Tage einmal hineinspucken!" Nicht sofort mit Ablehnung und Ausschluß reagieren, versuchen, einen Schwierigen zu verstehen, Hintergründe sehen lernen, an die Vorgeschichte denken und tätig helfen lernen — das ist den meisten von ihnen neu. Weder in der Schule noch zu Hause haben sie je davon gehört. Dabei brauchen sie es im Leben so dringend! Denn über ihr künftiges Lebensglück wird sicher weniger entscheiden, auf welche Sprosse der sozialen Stufenleiter sie einst geraten werden als das, wie sie ihr alltägliches Leben mit Frau und Kindern, mit Vorgesetzten und Arbeitskameraden bewältigen, wie ruhig und sicher sie auch mit unfreundlichen Meistern, streitsüchtigen Arbeitskameraden und bösen Nachbarn leben können.
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Denkt man sich den Fall, sie hätten in den acht Schuljahren cfiese H a l t u n g täglich praktisch geübt, so brächten sie sdion eine große Menge guter Erfahrungen in ihr späteres Leben mit. Die erste Enttäuschung nach vielen kleinen erfreulichen und ermutigenden Fortschritten in der Mitarbeit und im Betragen des Max brachten die Versuche, mit der Mutter in engere Beziehung zu kommen und sie f ü r eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Den natürlichen Anlaß zu einem Besuch bei ihr gab die Entdeckung der anormalen Kurzsichtigkeit des Buben. Ich schlug vor, sie möchte ihm eine Brille kaufen. Die Antwort war überraschend. In heftigen und erregten W o r t e n erklärte sie mir, so klug sei sie selber auch, daß sie wisse, wie ihn die Kurzsichtigkeit behindere; aber sie wisse eben noch mehr: „Wie schnell hätte er sich die Augen ausgestoßen bei seiner Lebhaftigkeit und Unberechenbarkeit. Nein, da wird nichts draus, das sage ich Ihnen. U n d im übrigen liebe ich diese Wohnungslauferei gar nicht. Wenn wir etwas braudien, komme ich schon selber." Die Ablehnung war deutlich; nicht so einleuchtend ihre Begründung. Es kamen nach und nach ähnliche Erfahrungen hinzu. Max wollte eine Geschichte „Damals war meine Mutter gut aufgelegt" zu Hause fertig schreiben, weil er in der Schule nicht damit fertig geworden war. Am anderen T a g kam er an: „Meine Mutter hat mir das Blatt zerrissen. Sie hat gesagt: Das geht den Lehrer nichts an, ob ich gut oder schlecht aufgelegt bin." Ein anderes Mal verbot sie ihm eine Fleißaufgabe zu machen: „Wir haben kein Papier f ü r solch ein Zeug." Als ich ihm f ü r solche Fälle ein H e f t schenkte, verbrannte sie es ihm. Eine Besprechung mit dem Arzt verringerte meinen Ärger über diese unverhoffte und unvernünftige Störung des schönen Fortgangs. Ich lernte einsehen, daß die Mutter offenbar eifersüchtig auf die neue Beziehung des Kindes zur Schule und zu mir war und daß hinter ihrer Ablehnung und ihrem Widerstand doch wohl nur die Furcht stand, sie möchte auf diese Weise auch noch den letzten Menschen verlieren, den sie auf der W e l t hatte. Mir wurde angeraten, mit ihr besonders geduldig zu sein, sie unbehelligt zu lassen u n d im übrigen ruhig in der Klasse weiterzuarbeiten.
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N u n aber trat ein Ereignis ein, das die hoffnungsvolle Entwicklung der letzten Monate mit einem Schlag zunichte zu machen drohte. Max wurde ernstlich krank: Hüftgelenkentzündung mit voraussichtlich monatelangem Krankenhausaufenthalt. Dies mußte für den Buben einen gefährlichen Stimmungsumschlag und für uns alle die monatelange, vielleicht dauernde Unterbrechung unserer gemeinsamen Arbeit bringen. Ob wir überhaupt noch einmal von vorne anfangen konnten? In diesem Sinne besprach ich die Sache vor der Klasse. D a sagt einer: „Das m u ß ja gar keine Unterbrechung geben! Wenn er jetzt eine Zeitlang nicht mehr zu uns kommen kann, können wir doch zu ihm hingehen." Diese spontane Äußerung gab Anlaß zu langen und eingehenden Überlegungen, wie man mit M a x auch im Krankenhaus Verbindung halten könne. Die Klasse erwirkte sich beim Chefarzt des Krankenhauses die Erlaubnis zum täglichen Besuch. Einer von denen, die gerne Listen aufstellen, teilte die Klasse in Dreier-Gruppen. Nach seinem genau festgelegten Plan ging täglich eine Gruppe hinüber zu ihm. Die drei Buben brachten ihm an Lebensmitteln mit, was sie ihren Müttern abbetteln konnten. Später kam es zur Gründung einer Krankenkasse. Jeder zahlte zwei Pfennig Wochenbeitrag. Das gab eine Mark wöchentlich, eine zweite Mark legte ich darauf. Jede Besuchergruppe bekam etwa dreißig Pfennige und brachte ihm als Geschenk das mit, was sie dafür kaufen konnte: ein paar Bananen oder Orangen oder Äpfel oder etwas Süßes, dazu Bilderund Geschichtenbücher von zu Hause. Weil diese Besuche natürlich in die Schulzeit gelegt wurden, fiel für die Besucher neben dem, was sie im Krankenhaus sahen und hörten, auch noch eine kleine Freiheit ab. Dies erhöhte ihren Eifer. A m nächsten Morgen, zu Beginn des Unterrichts, traten sie dann vor die Klasse und berichteten. Schon am zweiten Besuchstag bat M a x um Tinte und Feder, denn er wollte nicht „hintenbleiben" und die Buben sollten ihm erzählen, was in der Schule drangewesen war. Daraus entwickelte sich für die Klasse eine schöne Aufgabe. Die drei, die ihn am nächsten T a g besuchen durften, waren eifrig dahinterher, im Unterricht nichts Wesentliches zu versäumen, hatten immer Bleistift und Papier vor sich liegen, um sich alles Nötige gleich zu notieren. Wir schrieben ihm zuweilen alle einen Brief, jeder erzählte darin etwas anderes, damit es ihm nicht langweilig 40
werde und — wie es ein Einsichtiger gelegentlich formuliert hat — „damit er uns nicht wieder auskommt". Ich t r a t ihm f ü r einige Zeit einen Teil meiner Pflichten ab; er bekam die Aufsätze und Rechtsdiriften der Klasse und durfte sie mit Bleistift vorkorrigieren und vorbenoten. Es wurde eine schöne und fruchtbare Zeit f ü r uns alle. Am heilsamsten aber war sie wohl f ü r Max. Die Unterrichtshilfe, mit soviel Eifer betrieben, hielt ihn wirklich ziemlich auf dem Laufenden. D a s aber konnte nur eine Sache untergeordneter Bedeutung sein neben dem Erlebnis echter Verbundenheit und wirklicher menschlicher Hilfe. Dies brachte sogar die bisherige starre ablehnende Haltung der Mutter uns gegenüber ins "Wanken. Die Sache mit dem Buben im Krankenhaus, zu dem regelmäßig und monatelang seine Schulkameraden mit Aufgaben und Geschenken kamen, hatte sich in der Stadt herumgesprochen. Es hatte ihr sicher wohlgetan, die Mutter dieses vielbesprochenen Kindes zu sein. Ich traf mit ihr einigemale am Krankenbett zusammen und erlebte mit Uberraschung, wie sie die Sache jetzt ansah: „Jetzt sehen Sie doch endlich auch, was ich schon immer gesagt habe, daß mein Maxi ein gutes K i n d ist. Solange er lebt, hat man nur geschimpft auf meinen Buben. Besonders die Lehrer und die Kinder haben ihn alle nicht mögen." Ich hatte keinen Grund, ihr die Freude zu schmälern durch einige Richtigstellungen, soweit sie unser Verhältnis zu Max betrafen. Wir waren damit ja wieder einen kleinen Schritt weitergekommen. Nach sieben Wochen kam er wieder zu uns zurück. W i r wissen, wie sehr Kinder das Außerordentliche lieben. So wurde er freudig und geradezu festlich mit Blumen und Willkommkranz a u f genommen. D i e ersten zwei Schultage verbrachte er damit, daß er unentwegt schrieb. Am dritten Tag lieferte er das Ergebnis ab, eine Geschichte „Wie es mir im Krankenhaus erging", einen genauen, recht ungeschminkten Bericht über die Annehmlichkeiten und Widrigkeiten eines Krankenhausaufenthaltes. Es sind vierundzwanzig Seiten geworden, ein Rekord f ü r die Klasse. Das trug ihm wieder die Anerkennung der Kameraden ein. Ein Rechenschaftsbericht, zwei Monate nach der Entlassung aus
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dem Krankenhaus von mir geschrieben, sagt zusammenfassend: „ I m Lesen ist er durch die viele Lektüre bedeutend vorwärtsgekommen, im Rechnen kommt er leidlich mit und im Schreiben hilft ihm die Brille sehr, die er jetzt endlich hat. E r ist beim Durchschnitt." Vier Monate nach der Entlassung heißt es in einem weiteren Bericht: „Sehr eifrig — im Rechnen und Schreiben ganz bedeutende Fortschritte." Denken wir zurück an eine der ersten Überlegungen, die wir angestellt haben, ehe an die eigentliche Arbeit gegangen worden ist. D a hieß es: Einen Menschen wirklich verstehen können wir nur, wenn wir uns — zum mindesten auf einige Zeit — bemühen, uns auf seinen Standpunkt zu stellen. W i r haben das getan und haben (soweit man das überhaupt kann) sein Leben zu betrachten versucht, wie er es wahrscheinlich selbst angesehen hat. N u n sind wir an dem P u n k t angelangt, wo wir an die notwendige und unerläßliche Ergänzung zu jener Überlegung denken können. Haben wir uns zum besseren Verständnis seiner inneren Lage damals bewußt seinen subjektiven Standpunkt vorübergehend zu eigen gemacht, so ist es jetzt an der Zeit, d a ß er den objektiven kennenlernt. Mit anderen "Worten: H a b e n wir damals die Welt mit seinen Augen gesehen, so muß er sie jetzt mit den unseren sehen lernen. In vielen Gesprächen mit ihm allein oder nach und nach auch vor der Klasse wurde ihm immer wieder gezeigt, wie er heute die Schwierigkeiten schon ganz vernünftig anpackt, wie er aber vor noch nicht so langer Zeit auf dieselbe Sache reagiert hätte und auch wirklich reagiert hat, wie er sich sofort in seine Abwehrstellung zurückgezogen und uns die Schuld gegeben hat; wie er heute schon einsehen kann, daß auch er seinen Teil Schuld an den Konflikten trägt, während er damals immer alle Schuld uns allein zuschieben wollte. „Natürlich — heißt es weiter — haben wir es auch nicht immer richtig gemacht; natürlich war die Klasse in früheren Jahren wirklich unfreundlich zu Dir. Aber, mein Lieber, wie schwer hast D u es uns allen gemacht! Immer beleidigt, immer in K a m p f stellung!
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Aber — und jetzt kommt die Schlußwendung eines jeden solchen Gesprächs, die es erst eigentlich fruchtbar werden läßt — aber das ist ja glücklicherweise vorbei! Du siehst, wir alle haben uns geirrt und wir alle versuchen es jetzt besser zu machen und uns allen ist wohler dabei." Dies madit den entscheidenden Unterschied zwischen solchen Besprechungen und jeder Art von Moralpredigten alten Stils aus: In der Verfassung, in der Max zu uns kam, m u ß t e jede bloß moralische Belehrung mit ihrer Forderung: Du sollst, du mußt! ohne Erfolg bleiben. Er war doch im Innersten davon überzeugt, daß er das nicht tun k o n n t e , was man ihm mehr oder weniger freundlich riet. Seine lebenslange Erfahrung sprach dagegen. So blieben ihm nur zwiei Wege: öffentlich zuzugeben, daß er sich dies alles nicht zutraue oder sich so zu verhalten, als wolle er nur nicht. Jetzt war die Sache anders. Er hatte erlebt, daß er alles, was man von ihm wollte, wenn auch nicht erstklassig, so doch mittelmäßig erfüllen konnte. Er hatte in vielen Versuchen mit manchen kleinen Erfolgen soviel Mut gewonnen, auch ungewohnte Dinge zu versuchen. Darum konnte man ihm solche auch anraten ohne sofort auf seinen Widerstand zu 'stoßen. „Ich m a c h e meine Erfahrungen" — wie viele Menschen wissen, welch tiefe Einsicht in sehr untergründige psychologische Zusammenhänge in diesem so unbedenklich gebrauchten Wort stecken? Erst die Tiefenpsychologie Adlers und Freuds ist der uralten Weisheit, die das Wort ausspricht, nachgegangen und hat unseren persönlichen Anteil an unseren Erfahrungen, die scheinbar als Schickung, Fügung oder Zufall auf uns zukommen, bloßgelegt. Die eigentliche Absicht dieser unserer häufigen Betrachtungen, die sich immer an wirkliche Vorfälle in der Klasse anknüpften, war, dem Max wie allen Buben immer wieder klar zu machen, wie auch sie schlechte Erfahrungen „machten", das heißt dafür sorgten, daß ein Ereignis zur schlechten Erfahrung werde.
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BLICK
ZURÜCK
So verging ein weiteres Schuljahr. D e r Bericht nach dieser Zeit lautet: „Bis jetzt ist kein F a l l vorgekommen, der zur Klage Anlaß gegeben hat. Ein nochmaliger, zehnwöchiger Krankenhausaufenthalt und eine nachbleibende Verkürzung des rechten Beines haben ihn zunächst recht verzagt und ängstlich gemacht. Das aber hat sich bald gegeben. In dem M a ß , in dem er das kürzere Bein besser gebrauchen konnte und je mehr er wieder Anschluß an die Klasse gewann, wuchs seine Mitarbeit und sein Mut. E r ist jetzt nett, fleißig und anständig. Ein großer, nicht vorauszusehender
Glücksfall hat den
Erfolg
beschleunigt. Die Mutter hat einen „neuen V a t e r " gefunden, einen ruhigen, ernsten Menschen. Sie hat damit den letzten Widerstand gegen unsere Bemühungen, den Buben bei uns Fuß fassen zu lassen, aufgegeben. Sie braucht ihr K i n d jetzt ja nicht mehr s o unbedingt. Zu mir ist sie freundlich, zugänglich, voll Lobes über die gleiche Sache, deretwegen sie mich vor einem J a h r mit allen Mitteln bekämpfte." D e r Achtklaßlehrer, der M a x übernahm — ein Mann mit sehr viel strafferen und unpersönlicheren Methoden — hatte das ganze J a h r über keine Klage über den Buben. Ein letzter Blick zurück: Der W e g von dem gefürchteten „asozialen T y p mit sadistischen Anlagen" — als der M a x uns übergeben worden war
—
bis zu dem Normalschüler, den alle gern hatten — als der er uns verließ — scheint weit. E r wäre ohne die erste H i l f e des Arztes nicht beschritten worden. Aber vielleicht ist aus der Darstellung sichtbar geworden, daß der Erfolg das Ergebnis einfach-menschlicher und praktischer Einsichten in die seelischen Zusammenhänge und nicht
das Ergebnis irgendwelcher
stiegen-optimistischer, idealistischer oder moralischer
ver-
Theorien
war. Vielleicht ist auch das Weitere deutlich geworden: Die günstige Entwicklung ist nicht ein Ergebnis des Zusammentreffens besonderer oder einmaliger Voraussetzungen. Es ist nicht 44
gebunden an die Personen des Max, der damaligen Klassenkameraden und auch nicht an die seines Lehrers. J e d e r Lehrer in j e d e r Klasse mit j e d e m Schwierigen kann die hier geschilderten Erziehungsmaßnahmen anwenden: der Vorgeschichte des Kindes nachforschen, ihm zunächst eine Schonzeit in der Klasse zubilligen, ihm ein Klassenamt zuteilen, sein Interesse daran wachhalten, ihm in seinen schwachen Fächern nachhelfen, die guten Seiten auf die rechte Weise pflegen, die Klasse an seinen Fortschritten interessieren, sich ihre Mitarbeit sichern, die Eltern zu gewinnen suchen und endlich — wenn die ersten sicheren Erfolge f ü r alle sichtbar geworden sind — ihm ein sachliches und objektives Bild von sich und dem Leben vermitteln. Endlich hat die Darstellung ihre Aufgabe erfüllt, wenn deutlich geworden ist, ¡daß die ganze Bemühung zwar von Max ausgelöst wurde, aber in ihrem Verlauf und ihrem Endergebnis doch uns allen zugute kam. Der Gewinnanteil, der auf die Klasse fiel, ist wahrscheinlich der größte. Sie hat erlebt, wie nur der Unrecht tut, der selber in irgendeiner N o t ist, denn kein Glücklicher quält seinen Mitmenschen. Sie hat erfahren, daß es ihr erst dann wirklich gut ging, als es Max gut ging. Sie hat miterlebt, daß man auch — oder n u r — ohne Strafe in solch schweren Fällen vorankommt. Wir haben gemeinsam erlebt, daß eine Aussonderung des Störenfriedes in eine Hilfsschule oder Fürsorgeanstalt uns um unschätzbare Erfahrungen ärmer gemacht hätte. U n d ich war durch ihn gleich zu Anfang meines Lehrerlebens gezwungen worden, mit ganzem Ernst an die Arbeit zu gehen, aus der zufällig zusammengewürfelten Klasse eine Erziehungsgemeinschaft zu machen, in der sich alle wohl fühlen. Der unverhoffte erste Erfolg gab Mut zu weiteren Versuchen und zur weiteren praktischen Erprobung des eingeschlagenen Weges. So konnten wir alle am Ende der zwei Jahre einmütig sagen: Es hat sich gelohnt! 45
EIN
MUSTERKNABE
Die 7. Klasse wird dem neuen Lehrer übergeben; der frühere zeigt auf H a n s B. und sagt: „Auf den können Sie sich verlassen." Der erste Eindruck: Hans ist groß, kräftig, etwas vierschrötig, einer der Stärksten in der Klasse, sehr bescheiden im Wesen, mit einem freundlichen Gesicht; anständig und etwas ärmlich gekleidet. Sein Schülerbogen sieht so aus: 1. Klasse: In allen Unterrichtsfächern N o t e I Bemerkung: „Ein musterhafter Schüler" Notensumme 16. 2. Klasse: Notensumme 16. 3. Klasse: Notensumme 16. 4. Klasse: Notensumme 16. 5. Klasse: Notensumme 17 (Schönschreiben II). 6. Klasse: Notensumme 16. Anlagen: II. In der Schule bestätigt er den Eindruck, den sein Äußeres und sein Schülerbogen angekündigt haben. Er ist überall und jederzeit zur Arbeit zu haben. Seine Leistungen sind in allen Hauptfächern so, daß er sich auch diesmal die Notensumme 16 oder 17 holen wird. Einzig im Schönschreiben, Zeichnen und Turnen ist eine gewisse Unsicherheit zu bemerken. Im Schreiben fehlt ihm der „Zug"; er ist unbedingt getreu in den Buchstaben, die geschriebene Seite macht einen ungewöhnlich regelmäßigen Eindruck, der reibungslose Schwung aber fehlt. Deutlicher zeigt sich dies noch im Zeichnen. E r gehört zu den Strichlern; seine Linien entstehen nicht in einem Zug, er strichelt recht gehemmt. So sind auch seine Zeichnungen viel mehr Zeugnisse außergewöhnlicher Willensan-
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strengungen als spielender Leichtigkeit. Im Turnen ist auch die Seite nicht die stärkste, die gewissen natürlichen Schwung verlangt (Übungen am Barren und Reck z. B.). Dies gelingt ihm gar nicht besonders gut. Da hält er sich mit großer Anstrengung beim Durchschnitt der Klasse, um dann, wenn es zu Wettübungen im Hoch- und Weitsprung, W u r f , Lauf, Klettern oder Schwimmen kommt, unbestritten als Erster zu glänzen. Von diesen kleinen formalen Schwächen abgesehen, ist er in allen anderen Fächern der wirklich musterhaft Arbeitende. Seine „Anlagen" sind, wie der Schülerbogen richtig anzeigt, nicht außergewöhnlich. Er ist das, was man einen gutbegabten Burschen nennt. Wenn er es auf den Gebieten des Schullebens, die damals (1910) als die wichtigsten angesehen wurden, zu ganz einwandfreien Leistungen brachte, die weit über alles Verlangte und zu Verlangende hinausgingen, dann war dies allein seinem ungewöhnlichen Fleiße zuzuschreiben. W o es um Gedächtnisleistungen geht, bringt er sogar zuweilen seinen Lehrer in Verlegenheit. Jahreszahlen sind sein Fach. Bei einer Besprechung des staatlichen Zerfalls im 14. und 15. Jahrhundert erzählt der Lehrer, daß ein Fürst in Bayern dem dadurch Einhalt geboten hat, daß er im Jahre 1504 die unseligen Teilungen des Landes verbot. Hans verbesserte ihn sofort: „Bitte Herr Lehrer, das Primogeniturgesetz wurde am 8. Juli 1506 erlassen, nicht 1504." Sein Benehmen ist durchaus tadellos. Er ist, soweit es der Lehrer verfolgen kann, sehr anständig und unbedingt zuverlässig. Er steht unauffällig immer zu Diensten bereit. Zu Anfang ist dem Lehrer das öfter beobachtete Zusammensein des Hans mit ein paar Aufsässigen in der Klasse nicht erklärlich und auch nicht angenehm. Es stellt sich aber bald heraus, daß Hans guten Einfluß auf sie hat. Nach einer größeren Diebstahlsgeschichte, die von zwei Schülern der Klasse sehr geschickt und vorsichtig eingefädelt, aber trotzdem aufgekommen war, besprach der Lehrer die Sache mit Hans. Der versprach bereitwillig, seinen ganzen Einfluß auf die beiden auszuüben, um sie in Zukunft von solchen Streichen abzuhalten. Der Lehrer berichtet nachher erfreut der Mutter des Hans, wie viel menschliche Einsicht des Buben bei diesem Gespräch zutage gekommen sei. Das Verhalten der beiden ist dann auch, dank der Mithilfe von Hans, bis zu ihrem Schulaustritt einwandfrei gewesen. 47
Das Verhältnis der Klasse zum Klassenersten nimmt der Lehrer immer als Prüfstein, ob die Sache mit dem Ersten in Ordnung ist. Für gewöhnlich steht er wegen seiner ungewöhnlichen Befähigung oder noch öfter wegen seines großen Fleißes nicht eben im besten Ruf. Er ist „das Lehrerkinderl" bei den Kleinen, „der Streber" bei den Großen. Die Masse rechtfertigt und tröstet sich damit, daß sie den Ersten entwertet; er sei nur durch Schmeichelei und Liebedienerei und Streberhaftigkeit hochgekommen; wenn man das Opfer seiner anständigen Gesinnung brächte, wäre es leicht, auch dahin zu kommen. Die Lehrer bekommen diese Anwürfe ja selten zu Gehör; aber es gehört nicht viel Blick dazu, die Stimmung aus dem Verhalten der Klasse zu erfühlen. Wenn wirklich einmal der seltene Fall eintritt, daß die Spannung zwischen Klasse und Klassenerstem gelöst ist, dann wird es der Lehrer als Bestätigung für seine Annahme nehmen, daß ein Würdiger durch Tüchtigkeit und Fleiß auf den ersten Platz gekommen ist. In unserem Fall ist dies so. Hans genießt das unumschränkte Vertrauen der anderen. Die Vertrauensstellung, die er beim Lehrer hat, schadet ihm bei seinen Kameraden nicht. Er ist dort nicht der Spielverderber, der über ihnen oder gegen sie steht. Die Klippe, an der die meisten Ersten scheitern — daß sie in körperlichen Dingen hinter den robusten Mittelmäßigen stehen — hat er leicht durch seine Größe und Stärke überwunden. Selbst bei Ungezogenheiten, die sich die Klasse leistet, wenn sie den Lehrer weit vom Schuß weiß, selbst da ist er dabei; nicht als Führer, sondern als guter Kamerad. So ist sein Verhältnis nach beiden Seiten sehr gut, nach oben wie nach unten. Wenn seine Mutter sich manchmal beim Lehrer erkundigt, kann er ihr mit gutem Gewissen sagen: „Ich brauche mich um ihn gar nicht zu kümmern. Wenn ich vierzig solche wie Ihren Hans hätte, dann wäre das Schulehalten eine Freude." Von den Verhältnissen zu Hause braucht der Lehrer nicht — wie bei den Schwierigen — sehr viel zu wissen. Er erfährt, daß Vater und Mutter so viel verdienen, daß die Familie schlecht und recht das Auskommen hat. Der Vater ist Hilfsarbeiter, die Mutter näht für eine Hemdenfabrik. Die Buben müßten — so erzählt ihm die Mutter — zu Hause sehr viel helfen: Knöpfe einnähen,Bänder ein-
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ziehen, Fertiges in der Stadt abliefern. Der jüngere Fritz sei dazu eigentlich geschickter und anstelliger, der ältere Hans aber viel braver und folgsamer. Sie seien überhaupt recht verschieden veranlagt. Fritz lebendiger, aber leichtsinniger, dann und wann sogar frech. Es sei rätselhaft: er lerne zu Hause nie etwas, keinen Katechismus, kein Gedicht, er mache selten eine schriftliche Hausaufgabe. Sein Lehrer aber bestätige, daß er seine Sachen immer tadellos könne und seine schriftlichen Aufgaben immer einwandfrei brächte. Mit Hans sei das anders. Er sei in allem schwerfälliger, in körperlichen Arbeiten weniger geschickt, gehe ihnen auch aus dem Wege; er sei zum Lernen weniger begabt, aber viel fleißiger und peinlich gewissenhaft. Eine besondere, aus der F a milie schlagende Tugend sei seine ganz auffallende Frömmigkeit. Am Sonntag sei es alter Brauch, daß die ganze Familie für den ganzen T a g ausfliege. Bei solchen Gelegenheiten sei er der einzige, der zur Messe gehe, ohne daß man ihn dazu aufwecken müsse, oft schon um halb 5 Uhr früh in eine entlegene Kirche. Als einmal davon die Rede war, daß dies doch nicht unbedingt nötig sei, habe er geantwortet: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Eltern." Sonst aber sei er auch zu Hause musterhaft. Für den Lehrer gab dies die Abrundung des Bildes vom eisern fleißigen, anständigen, einsichtigen Knaben, der nicht mit Unrecht den anderen als Muster hingestellt wurde und dessen Verhalten in der Schule wie in der Familie die sichere Gewähr bot, daß einst ein tüchtiges Glied der staatlichen Gemeinschaft aus ihm werde. Endlich also wieder einmal ein Fall, der glatt, einfach und erfreulich war! Hätte der Lehrer aber näher hingesehen — stutzig gemacht durch die betonte Musterhaftigkeit und die auffallende Verschiedenheit der Brüder — , so wäre eine Fragestellung kaum zu umgehen gewesen, die ihm sehr bald einen anderen Eindruck von diesem einwandfreien Schüler gegeben hätte. Die Frage hieße: Wie ist diese Verschiedenheit im Charakter und in den Fähigkeiten der beiden Brüder zustande gekommen? W a r sie von Anfang an da, oder hat sie sich nach und nach entwickelt? Diese Fragen hätten den Lehrer zu denselben Nachforschungen über die frühe Kindheit des Hans geführt, wie sie beim M a x nötig 4 Simon,Verstehen und Helfen
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waren, und wie sie bei allen Auffälligen und Schwierigen nötig sind. (Nachforschungen, die im Falle des H a n s 20 Jahre später in einer psychotherapeutischen Behandlung nachgeholt wurden.) Seine erste Kindheitserinnerung: Eine Schulfreundin der Mutter kommt wie alle Jahre zu Besuch. H a n s ist ungefähr 4 Jahre, sein Bruder Fritz ein J a h r jünger. Sie kommt zur T ü r e herein, sieht den Bruder, nimmt ihn auf den Arm, herzt u n d küßt ihn und sagt ein über das andere Mal: „ N a , so ein herziger Bub, so hübsch und so nett!" Sie läßt ihn nicht mehr von sich. „Midi aber hat sie lange gar nicht gesehen. Ich ging dann hinter die T ü r und weinte." So o f t Bekannte kamen, wiederholte sich der Fall. Man bewunderte den hübschen, klug und flink dreinschauenden Fritz und übersah den Größeren, der ja auch schwerfälliger und weit weniger hübsch war. D a ß in dem kleinen Kerl allmählich die Stimmung wuchs: „Ich muß meinem Bruder irgendwo unterlegen sein, weil alle Menschen, die zu uns kommen, ihn lieber haben als mich", ist verständlich. „Dabei sollten sie doch eigentlich mich lieber haben, weil ich der Ältere, Größere, Stärkere und Gescheitere bin." Die Flinkheit und Beweglichkeit des Kleinen wie die größere Schwerfälligkeit des Großen k a n n nun wirklich körperlich bedingt gewesen sein. Damit aber, daß die letzte nicht durch ermutigende Beschäftigung teilweise oder ganz behoben worden ist, hat sie sich über das frühkindliche Alter hinaus erhalten. Aus der ursprünglich kleinen Verschiedenheit der beiden Brüder in ihrer Beweglichkeit ist H a n s durch ein tendenziöses Ausspielen der beiden gegeneinander durch die Eltern, die dadurch die Unterschiede kleiner zu machen hofften, langsam aber sicher in die Rolle des Ungeschickten geraten, den man zu keiner praktischen H a n d reichung gebrauchen konnte. Er erzählt anschaulich, wie es zum Beispiel war, wenn er einen Nagel in die "Wand zu schlagen hatte. Er dachte an die früheren Male, wo es ihm nicht geglückt war, den Nagel richtig hineinzubringen; wie einmal die Mauer herausgefallen sei, wie der Nagel ein andres Mal sich umbog, wie er o f t schief hineinging. Hinter ihm stand entweder spöttisch sein Bruder oder ungeduldig seine Mutter, die es beide „ja von vornherein wußten", daß er es nicht könne. Ihm fiel ein, d a ß er es sich eigentlich noch gar nie richtig hatte zeigen lassen und d a ß ihm noch gar niemand den Vorteil
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bei der Sache klargemacht hätte. Jetzt aber, wo die Sache getan werden sollte, fürchtete er den Spott und die Beschämung. Dies alles machte ihn so unsicher u n d so mutlos, d a ß es dann auch wirklich mißlang, obwohl (oder weil) er sich so zusammennahm. Später aber tat er einfach das, was alle von ihm erwarteten: er gab sich gar nicht erst noch die Mühe. „Es war ja doch umsonst. U n d ich wollte endlich Ruhe haben von allem Nägeleinschlagen." Eine andere Erinnerung aus dieser Zeit: Die Brüder waren jedes J a h r in den Ferien bei den Großeltern auf dem Lande. Der Großvater mochte den Fritz mehr als den Hans, ja mehr als seine eigenen Kinder und alle übrigen Enkelkinder. Er machte sich stundenlang die Mühe, dem Fritz wie alle anderen ländlichen Arbeiten auch das Ackern zu lernen. Er ging hinter dem Pfluge mit, f ü h r t e ihn an den Hörnern, während er den Kleinen vor sich im Pfluge gehen ließ, und lenkte die Kühe. So hatte Fritz es bald soweit gelernt, daß er es allein versuchen konnte. „Ich — so erzählte H a n s — wollte es auch einmal versuchen. Weil der Großvater nicht mitging, beutelte mich der Pflug hin und her und die Furchen wurden ganz krumm. D a schimpfte er und sagte: „Geh weg, das kannst du nicht. Das ist nichts f ü r dich!" So wie hier ging es nun allmählich auf allen Gebieten häuslicher und praktischer Arbeit. Er hatte zu o f t das W o r t gehört: „ N a ja, er hat halt kein Talent f ü r solche Dinge" oder auch, wenn er durch seine Unbeholfenheit seine Umgebung geärgert hatte: „Wie man sich nur s o dumm stellen kann." Er glaubte nun auch langsam selbst daran, daß er da zu wenig mitbekommen habe. W e n n dies alles nicht mit täglich sich wiederholenden Niederlagen u n d ebensovielen „Siegen" seines kleinen Bruders u n d einer langsam wachsenden Unsicherheit u n d lähmenden Entmutigung verbunden gewesen wäre, hätte er zufrieden sein können; man behelligte ihn jetzt immer weniger mit solchen Dingen. Aber selbst dies entmutigte .weiter, wenn es z. B. hieß: „Lassen wir die Sache solange, bis der Kleine heimkommt. Mit dem Großen kann man da nichts machen." Ein T a g aus jener Zeit ist ihm noch besonders deutlich: Es w a r Sonntag im Sommer. Die Familie war im W a l d . Jeder hatte ein Kübelchen umhängen, in das Erdbeeren gebrockt werden sollten. H a n s war in großer Angst. Diesmal mußte eine Sache aufkommen, 4
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die er seither immer hatte verheimlichen können: er fand — so sehr er sich auch anstrengte — keine Erdbeeren. Er sah sie nicht! Bald war es soweit. Jedes hatte sein Gefäß voll. Er hatte sechs oder acht Beeren. Als er unter Tränen versicherte, daß er nicht faul gewesen war, hieß es: „ D a sieht mans. Selbst d a z u ist er zu ungeschickt! Erdbeerensuchen kann selbst das dümmste Kind." Weder das Kind noch die Eltern wußten damals, was erst viele Jahre später bei einer augenärztlichen Untersuchung festgestellt wurde, daß Hans an einer angeborenen leichteren Rot-GrünFarbenblindheit litt. Die Eltern und noch mehr das Kind glaubten damals, wieder einen Beweis mehr dafür zu haben, daß es minderwertig war. Und zwar nicht minderwertig an einem Organ in einer Form, die kaum einen Schaden im Leben bringen konnte, sondern minderwertig überhaupt: „Wer nicht einmal Erdbeeren findet, muß schon sehr ungeschickt und dumm sein." Von jetzt an steht seine allgemeine Ungeschicklichkeit ziemlich fest. Das Kind tut jetzt das, was jeder vernünftige Erwachsene auch tut: es geht allen Gelegenheiten, die zur befürchteten sicheren Niederlage führen, in großem Bogen aus dem Wege. Damit bringt es sich um eine jahrelange Übung auf dem Gebiete des Formens mit Hilfe von Auge und Hand, so daß die Fähigkeit darin wirklich langsam verkümmert. So wird der Weg sichtbar, der ausgeht von jenen scheinbar so nebensächlichen Begebenheiten, vom übersehenen Vierjährigen, von dem so viel hübscheren und flinkeren kleinen Bruder zu dem Ungeschickten, den man zu nichts Praktischem gebrauchen kann, zu dem Vierzehnjährigen, der im Schreiben und Zeichnen „unbegabt" ist und versagt, wenn es im Turnen darauf ankommt, Gewandtheit und Schwung zu zeigen. Psychologisch gesehen heißt das: Die entmutigende Behandlung des kleinen Kindes, die unaufgeklärte Organminderwertigkeit (völlig harmlos, wenn sie erkannt worden wäre), die Rivalität mit dem jüngeren Bruder — dies alles hat zusammengewirkt und hat das Kind nach und nach dahin gebracht, seinen Wert als Mensch überhaupt anzuzweifeln. Man sollte sich nicht dadurch täuschen lassen, daß zu jener Zeit sich nur einige Punkte als schwach erwiesen haben. Jede Erfahrung beweist mit ziemlicher Sicherheit, daß in solchen Fällen
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immer das g a n z e Wesen in Mitleidenschaft gezogen und das allgemeine Selbstgefühl erschüttert ist. Jetzt, als ein entmutigtes Kind, war H a n s im Grunde in der gleichen Lage wie Max. D a ß der Grad der Entmutigung bei ihm geringer war, daß er einen anderen Ausweg aus seiner Entmutigung fand, einen Ausweg, der gar als Vorzug gewertet wurde, beweist nichts gegen die Wesensgleichheit der beiden Fälle. So wenig glaublich es auf den ersten Blick scheint, daß Max, der den Lehrer bis aufs Blut peinigt, und Hans, der in allem tadellos und dienstbereit ist, „Brüder im Geiste" sein sollen, es ist trotz allem so. Die Frage nach den Ursachen der Verschiedenheit im Wesen der beiden Brüder hat uns einen Schritt vorwärts geführt. Eine zweite Frage kann uns eine andere unbekannte Seelengegend im Kinde entdecken helfen. Sie kann heißen: "Welche Aufgabe hat die Musterhaftigkeit im Lebensplan des Kindes zu erfüllen? Welchem unbewußten Endzweck dient sie? Schauen wir noch einmal zu Max zurück. W a s hat sein jahrelanger hartnäckiger Kampf gegen den Lehrer unbewußt anderes bezweckt, als immer und immer wieder die Überlegenheit über den, der ihn entwertet und entmutigt hat, sich und anderen zu beweisen? Will der Musterhafte anderes als Überlegenheit? Ist nicht auch H a n s ständig im K a m p f , in einem zwar unsichtbaren, gleichsam unterirdischen, aber darum nicht weniger hartnäckigen, nicht minder gefährlichen K a m p f ? Sehen wir näher zu! Zunächst geht der Kampf gegen den, der entmutigt. Das ist ider Bruder. Gegen seine starken Seiten aufzukommen, also gegen seine Flinkheit und Tüchtigkeit, ist aussichtslos. Aber er hat doch auch schwache Stellen, von wo aus man ihn aus dem Sattel heben kann! Ist er nicht zuweilen in seinem Alleskönnen ein Luftikus? Ist er nicht dann und wann leichtsinnig? H a t man ihn doch schon gesehen, daß er an einer Straßenecke oder auf einem Bretterstapel vor der Schule seine Aufgabe machte. N i m m t er es nicht hier und da mit Mein und Dein nicht ganz genau? R a u f t er nicht viel? Ist er nicht in der Erfüllung seiner religiösen Pflichten recht lau? (Natürlich ist es nicht so, daß dies alles so klar und überlegt im
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Bewußtsein des älteren Kindes stünde. Dumpf-unbewußt, aber gerade darum besonders kraftvoll, bestimmen diese Motive das Handeln des Kindes.) A n all diesen Punkten wird eingesetzt, stillschweigend; aber so, daß es auf die Dauer nicht zu übersehen ist. Hans wird peinlich gewissenhaft, macht seine Aufgaben sofort, wenn er von der Schule nach Hause kommt; weint, wenn andere Arbeiten dazwischen kommen. E r wird übertrieben rechtlich; eine gefundene Feder stürzt ihn in Gewissensqualen: darf man sie behalten, oder muß sie abgegeben werden? Er wird überpeinlich in der E r füllung seiner kirchlichen Pflichten (dies vielleicht auch deswegen, weil es gegen die unkirchlich gesinnten Eltern geht, die ihn doch auch entmutigt haben: „Ich bin doch besser, als ihr alle miteina n d e r . " ) ' D e r liebe Gott spielt überhaupt eine große Rolle im Leben des Hans. So betet er am Tage vor der Zeugnisausgabe — noch zu einer Zeit, wo die Vernunft ihm schon sagen kann, daß die Zeugnisse ja schon längst geschrieben sind — : „Lieber Gott, mach, daß ich lauter Einser bekomme." Dies alles wird so bescheiden, so scheinbar unabsichtlich, aber doch so beharrlich gemacht, daß es nicht lange dauert, bis gesagt wird: „Der Große ist so brav und anständig, du (zum Fritz) könntest dir ein Beispiel dran nehmen." Die Sache wäre jetzt gut, das Gleichgewicht zwischen den feindlichen Brüdern hergestellt, wenn der jüngere seine einmal gewohnte Vormachtstellung so ohne Kampf aufgäbe. Wenn sich die beiden also — wie ihre Eltern ihnen so oft raten — „aneinander ein Beispiel nähmen". Sie tun es nur leider nicht! W i e sollte sich z. B. Hans, auf dem praktischen Gebiet ganz entmutigt, auf ein so gefährliches Feld begeben, wo er von seinem siegesgewissen Gegner schon so viele Niederlagen erlitten hat? Nein, der einzig sichere Weg ist, in seiner Domäne zu bleiben und sie nach Kräften auszubauen. Sein unbestrittenes Gebiet — Bravheit, Folgsamkeit, Fleiß — , das ihm zu Hause so sehr hinaufgeholfen hat, wird ihm wohl auch in der Schule weiterhelfen. Mehr als das! Hier gerade bewähren sich die drei Tugenden ausgezeichnet; hier stehen sie in höchstem Kurswert. Es fällt bei dem Lernbetrieb nicht auf, daß er in praktischen Dingen so wenig kann, in den Fächern also, die bei den Noten nicht zählen. Er ist sofort unbestrittener Erster,
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höchst geachtet vom Lehrer. Er hat immer und überall Note I und kann aufweisen: „Ein musterhafter Schüler." So hat seine Entwicklung, von ihm in den Anfängen unverschuldet, geradeswegs auf den Musterknaben hingedrängt. Damit steht er, wie er meint, ü b e r der Gemeinschaft der anderen, in Wahrheit aber a u ß e r ihr. Dem scheint zu widersprechen, daß Hans doch Kameraden hat und im Leben der Schule von seinen Mitschülern als einer der ihren angesehen wird. Zu dem Versuch, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, ist eine kurze Überlegung notwendig: Welche Wege stehen einem schon in der Vorschulzeit entmutigten Kind später in der Schule offen, wenn sie es nicht von seiner Gemeinschaftsscheu oder Gemeinschaftsfeindlichkeit erlösen kann? Die einen führen den Kampf, den sie bisher gegen Eltern oder Spielkameraden geführt haben, auch in dem neuen Lebenskreis fort. Sie werden trotzig, frech, aufsässig. Sie bleiben und stärken sich in der aktiven Rolle durch den Kampf mit dem Lehrer. Das verschafft ihnen meist volle Anerkennung von Gleichgesinnten. Mit einem erstaunlichen Mut werden die Folgen dieses Kampfes gegen den Lehrer getragen. Die anderen kommen zu ihrer eingebildeten Überlegenheit nicht durch T r o t z und Aufsässigkeit, sondern durch äußeren Gehorsam und durch unbedingte Fügsamkeit. Sie werden typische Streber. Das verschafft Ruhe von „oben", bringt aber mit Sicherheit schwere Anfeindungen von „unten", von den im Stich gelassenen Kameraden. Ein gewisser Mut gehört also auch hier dazu, die Rolle des über der Klasse stehenden Strebers unbeirrt weiterzuspielen. Auf keinem der beiden Wege bleibt, wie wir sehen, der Kampf aus. Hans hat einen dritten Weg gefunden: O b man nicht mit einer klugen Vereinigung der beiden Möglichkeiten den Versuch machen sollte? Warum nicht beide Rollen spielen? Eine gefährliche Sache zwar; man muß verdammt aufpassen, daß man sich nach keiner Seite zu weit vorwagt und so den Anschluß nach der anderen verliert. Aber Schlauheit und List sind immer noch leichter zu haben als Mut.
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Also gilt es, musterhaft zu sein, einen fleißigen, verlässigen Eindruck zu machen. Das gewinnt den Lehrer; damit hat man von ihm nichts Gefährliches zu erwarten. Darüber aber darf man ja nicht vergessen, nett zu den Kameraden zu sein; ihnen zu zeigen, daß man doch einer von ihnen ist; daß man eigentlich genau so denkt wie alle; daß man, wenn es not tut, Horchposten machen will. Unverbindlich läßt man dann auch durchblicken, daß man, wie alle, „auf den Lehrer p f e i f t " . Wenn man es recht bedenkt: T u t man schließlich anderes, als was von einem verlangt wird? Erwartet der Lehrer denn nicht bloß Fleiß und Aufmerksamkeit und legales Verhalten? H a t der Lehrer schon einmal ernstlich den Versuch gemacht, hinter die Maske zu kommen? H i l f t er aus den großen inneren Nöten? Was weiß er überhaupt von dem niederdrückenden ewigen „Auf-der-LauerLiegen", von dem tiefen Wunsch nach Ruhe und Frieden? Will er denn die volle Wahrheit überhaupt hören? Es ist s e i n e Schuld, wenn er betrogen wird. Endlich: T u n das nicht auch alle Erwachsenen, daß sie nach „oben" anders sind als nach „unten", daß sie zwei Eisen im Feuer haben? So hat sich H a n s durch jahrelange Übung einen Kompaß verschafft, der ihn sicher durch die Wirrnisse im menschlichen Zusammenleben leitet. Der Anschluß nach „oben" ist gesichert. Der Schülerbogen und die Berichte des Lehrers zeigen es. Der nach „unten", zu seinen Kameraden, braucht erst noch stärkere Sicherung. Das öftere Zusammensein des H a n s mit einigen Aufsässigen ist dem Lehrer aufgefallen, bis er bei Gelegenheit der Diebstahlsgeschichte seinen guten Einfluß merkt und sich dessen bedient. D a ß die Sache doch etwas anders war, hat er nie erfahren. Seit zwei Jahren bestand nämlich eine enge Freundschaft zwischen einer recht merkwürdig zusammengewürfelten Gruppe. Es waren dabei: ein echter Draufgänger, der „Held" der Klasse; ein großer, dicker, schwerfälliger und ängstlicher Bursch; H a n s ; sein Bruder Fritz, frech u n d „schneidig" und noch ein dem Fritz ähnlicher — „die fünf Räuber von München-Süd". Zu jener Zeit wurde hier am Rande der Großstadt sehr viel gebaut. R u n d um die Schule lagen Bauplätze mit halbfertigen Wohnhäusern. D a hin zog nun jeden Sonntag, wenn die Arbeit ruhte und die Plätze
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unbewacht dalagen, die Räuberbande. Man stieg über den Zaun, durchsuchte die Plätze und die Gebäude von oben bis unten und hatte seine Freude an der Befriedigung seiner Neugierde. Keine Schublade im Baubüro blieb undurchsucht. Sie siebten draußen Sand, sie fuhren ihn von einem Haufen zum anderen, sie löschten Kalk und mischten Kalkmilch mit Zement und Sand — sie freuten sich am Neuen und an der Arbeit. Allmählich wurde dies langweilig. Es mußte mehr Spaß dabei sein. Sie wetteten nun, wer das Fenster da drüben auf den ersten Wurf einschmeißen könne, wer drei Bleistifte aus der Bauhütte auf einmal abbrechen könne und so in der Art weiter. Eine Frage beherrschte die ganze Gesellschaft: „Wer traut sich das?" Wer traut sich, Zement in die Schublade mit Bauplänen und Zeichnungen zu schütten und dann eine Kanne mit Wasser draufzugießen? Wer traut sich, das Petroleumfaß in die Kalkgrube zu werfen? W e r traut sich, in den Koksofen, der oben ioi dritten Stock die Zimmer austrocknen soll, ein in Petroleum getauchtes Brett zu werfen? Wer traut sich, drei Rollwagen vom Berg herunter in den Abgrund der Kiesgrube sausen zu lassen? Wer traut sich, zwischen die hölzerne Verschalungswand für die Betonmauer, die bis zum ersten Stock hinaufgeht und noch unausgefüllt ist, Besen und Schaufeln zu werfen? Ein Vorschlag sollte den anderen übertrumpfen, und jeder Bub entschädigte sich damit, daß er nach seiner Tat noch etwas Gefährlicheres von den anderen verlangte. Und alles wurde ausgeführt! Das ging über ein halbes Jahr. Man suchte sich weit auseinanderliegende Bauplätze und erkundete in jedem Falle sehr vorsichtig. Es kam nie auf. Eine polizeiliche Anzeige bei der Schule brachte nichts zutage. Die übernommene strenge Verschwiegenheit wurde gehalten. Hans erzählt von der Rolle, die er bei den Streichen spielte. Ihm war gar nicht wohl dabei zumute. Er hatte immer „furchtbare Angst", es könnte aufkommen. Er war der, der unter dem Vorwand der Vernünftigkeit zur Mäßigung und sogar zur Umkehr riet. Deswegen wurde er oft als Feigling verschrien, und er konnte seinen Ruf nur dadurch wiederherstellen, daß er zitternd vor Angst einen noch schlimmeren Streich ausführte und so bewies, daß er schon Schneid hätte, wenn er wollte. Daß er überhaupt jnitging, hatte seinen Grund zur Hauptsache darin, daß er damit 57
z.u der berühmten Räuberbande gehörte, von der man in der Klasse allerhand munkelte. Es war höchst ehrenvoll, ihr anzugehören. Damit bewies er den Klassenkameraden, die wegen seines Verhaltens zum Lehrer mißtrauisch geworden waren, daß er schon ein Kerl sei, und daß das Musterhafte an ihm eigentlich nur eine Art Schutzfarbe sei, daß er aber ganz zu ihnen gehöre. Nachdem die Bauplatzgeschichte aufgehört hatte (sie war allmählich zu unsicher geworden), mußte etwas Neues, noch Schneidigeres gefunden werden. Nun erst machte die Sippe ihrem Namen Ehre. Sie kamen auf einer kleinen Anhöhe, von der aus man Straßen und Wiesen ringsum gut überschauen konnte, an den schulfreien Nachmittagen zusammen. Der Häuptling bestimmte, was sie heute „bringen" sollten: „Du schaust, daß du Käse oder Heringe bekommst, du mußt Wurst bringen, ich schau, daß ich etwas zu trinken erwische". Hans erzählt dazu: „Ich weiß noch gut, wie ich einmal einem Wagen einer Feinkosthandlung durch die ganze Stadt München nachgelaufen bin, hinten angehängt. Ich schob meine Hand unter die Zeltdecke des Wagens und tastete, was drinnen zu finden war. Immer, wenn ich ein Stück herausziehen wollte, hörte ich den Warnungspfiff meines Begleiters, der hinten nachlief und bei Gefahren zu pfeifen hatte. Endlich am anderen Ende der Stadt hielt der Wagen. Der Kutscher ging in ein Geschäft, um Sachen abzuholen. Diese Zeit benützte ich, voller Angst, um einen W ü r fel Backsteinkäse herauszunehmen und davonzulaufen. Wie wir heimkamen, hatten die anderen eine Büchse eingemachte Heringe und zwei Flaschen Punschessenz beisammen." Die Beute wurde immer an Ort und Stelle vertilgt. „Ich hatte aber keine Freude an allem. Meine Angst vor dem Erwischtwerden verließ mich nicht. Ich durfte es aber keinem sagen. Sonst wäre ich wieder der ,größte Feigling' gewesen." Er hatte überhaupt immer Angst, auch da, wo er das Erwischtwerden nicht zu fürchten hatte. So haben die Räuber einmal eine Forschungsreise unter die Stadt gemacht. Der Häuptling wußte eine Stelle, wo ein Abwasserkanal in die Isar einmündete, der gewöhnlich nur wenig Wasser führte. Er brachte zu einer Zusammenkunft das Waschseil seiner Mutter und eine Kerze mit. Sie gingen zur Mündung des Kanals, banden sich das Seil um den Leib — „ich machte den Letzten", der Häuptling zündete die
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Kerze an, und dann ging es hinein in das schwarze Loch. Der Kanal madite bald eine Biegung, und dann war es stockfinster. „Ich hörte nur das Rollen der Wagen und Straßenbahnen über uns und neben uns das leise Tropfen und Fließen des Wassers. Ich fürchtete mich sehr. W i r waren vielleicht zweihundert Meter weit drin, da löschte mein Bruder zum Spaß die Kerze aus. Ich konnte mich nicht halten und fing vor Furcht zu weinen an. Weil auch die anderen zwei mir halfen, mußten der Häuptling und mein Bruder umkehren." Das ist der gleiche Bursch, der immer Note I hat, von dem der Lehrer sagt: „Wenn ich vierzig solche hätte, dann wäre das Schulhalten eine Freude", der in derselben Zeit am Sonntag früh um halb vier U h r aufsteht, um in die Kirche zu kommen! Welches ist nun sein wahres Gesicht? Das des Musterschülers oder das des Mitglieds der Räuberbande? Oder sind beide gar keine Gesichter, sondern Masken — einer angsterfüllten Seele vorgebunden? Welch große Rolle spielt die Angst in seinem Leben! Er hat Angst, er könnte einmal nicht lauter Einser ins Zeugnis bekommen. E r hat Angst, der Lehrer könnte seine schwachen Seiten entdecken. Er hat Angst vor dem Erwischtwerden bei jedem einzelnen Streich, er weint noch als vierzehnjähriger Bursch aus Angst. Aus Angst bleibt er bei der Räuberbande. Aus Angst, als Feigling zu gelten, tut er auch bei den schlimmsten Streichen mit. Angst vor oben — Angst vor unten — Angst vor allem vor der Aufdeckung des Doppelspiels. Seine Träume aus jener Zeit sind denn auch nichts als Variationen über das eine Thema „Angst". Ihre Hauptinhalte: Angst vor der Entdeckung sorgfältig geheimgehaltener Mängel in vielen peinlichen und beängstigenden Bildern. So ist er plötzlich in feiner Gesellschaft barfuß. Im Winter entdeckt er auf der Straße, daß er keinen Mantel anhat und daß alle Leute seine zerissene Joppe sehen können. Er ist bei Menschen, bei denen er gerne Eindruck machen möchte, plötzlich ohne Kragen, ohne Krawatte, ohne Hosen. Es wäre aber irrig, wenn man bei dem Verhalten des Hans an bewußtes, überlegtes und ausgeklügeltes Doppelspiel dächte. So wenig unser eigenes alltägliches Verhalten ausschließlich oder
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auch nur zum wesentlichen Teil von Berechnung und bewußter Überlegung gelenkt wird, so wenig M a x überlegt und bewußt seinen Kampf gegen Lehrer und Kameraden geführt hat, so wenig spielt Hans sein Doppelleben bewußt. Zum Lehrer bescheiden und dienstfertig zu sein, zum Bruder ablehnend und unverträglich, an die Kameraden sidi anbiedernd — dazu ist keine bewußte Einstellung und jedesmalige Umstellung nötig. Das funktioniert fast automatisch, das ist Haltung geworden und ist auf dem Wege, ein Stüde seines Charakters und seines Wesens zu werden. Außerdem: was als Zwiespältigkeit in seinem Wesen erscheint, ist durchaus einheitlich und Hans ist wirklich — wie wir alle — ein Individuum, ein ungeteiltes Wesen und als solches mit allen Kräften danach strebend, sich durch das Leben durchzufinden, das harmloser zu betrachten ihm von Anfang an verwehrt worden ist. W i e anders die Entwicklung des Hans war, als das normale, einfache Leben eines Kindes sein kann, wird erst sichtbar, wenn wir solch ein natürliches, ungestörtes Kinderleben betrachten. Das Kind wird von seiner Umgebung mit Vertrauen aufgenommen und gewöhnt sich damit selber an eine vertrauende Haltung zur Welt. Sein angeborenes Bedürfnis, sich anzupassen, findet eine in sich geordnete, freundliche und gut zusammenspielende Umgebung vor, die ihm die Einordnung weder zu sehr zu erleichtern trachtet, noch auch erschwert. Die zweite natürliche Mitgift, der gesunde Drang sich zur Geltung zu bringen, erfährt keine unnötigen Hemmungen. Man nimmt zuerst das Spiel des Kindes ernst, man läßt es später an kleinen häuslichen Verrichtungen teilnehmen, zeigt sie ihm dabei gründlich und steht unauffällig zur Hilfe bereit, wo es noch nicht allein vorwärtskommen kann. Das schafft dem Kinde in den ersten entscheidenden Jahren die Erfahrung: Das Leben ist zwar nicht immer einfach, aber immer zu bewältigen, weil man vertrauenswürdige Menschen um sich hat. Hans hat diese Zeit nicht so erlebt. Seine frühen Kindheitserinnerungen beweisen das. Für ihn war das Leben von Anfang an bedrohlicher. Für ihn lag von Anfang an der Irrtum nahe, daß man — um nicht an die Wand gedrückt zu werden — sich mit allen Mitteln seiner Haut wehren müsse.
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Wer sich diese einfachen Gedanken nicht macht, wird auch zu der Verwirrung beitragen, die gerade bei der Beurteilung von Musterschülern noch so häufig zu finden ist. Der ganz oberflächlich zusehende Lehrer wird nichts finden, was ihm G r u n d zum Nachdenken geben könnte („Wenn ich vierzig solche Schüler hätte! — Endlich wieder einmal ein erfreulicher F a l l . . . " ) . Er wird diesen ordentlichen und zuverlässigen Schüler in jeder "Weise heranziehen, wird ihn zum Aufpasser bestellen, wenn er aus dem Zimmer gerufen wird, wird ihn allen anderen als leuchtendes Beispiel immer wieder vorstellen und wird so die Schwierigkeiten im Kinde nur immer weiter vergrößern. Ein moralischer Betrachter — vorausgesetzt, daß er überhaupt etwas von den Hintergründen erfährt — wird sich an der „inneren Verlogenheit" des Kindes stoßen, wird es durch gutes oder weniger gutes Zureden, durch Beispiele von aufrechten und aufrichtigen Menschen, durch daraus abgeleitete Belehrungen über den Wert eines geraden, offenen Wesens zu ändern suchen. Die Lebensgeschichte des H a n s zeigt deutlich, wie hoffnungslos solche Bemühungen sind. Was voll guten Willens und in der allerbesten Meinung an Belehrung, Ermahnung, Beispiel u n d Vorbild an das Kind herangetragen wird, kommt nicht an die Wurzel des Übels. Die Grundfrage — wie die Lebensangst im Kinde abzubauen ist, wie es Vertrauen zu seinem Selbst, zur Welt und zu einem geraden Weg in ihr bekommen kann — diese Frage wird durch diese Erziehungsmittel nicht einmal berührt, geschweige denn gelöst. Aber auch der Lehrer, der — ausgerüstet mit den landläufigen psychologischen u n d erziehlichen Einsichten und mit einer natürlichen menschlichen Güte — vor solch ein Kind tritt, wird wegen der offenbaren Zwiespältigkeit dieses kindlichen Wesens vor ein k a u m lösbares Rätsel gestellt. Die gelernte und gewohnte Uberschätzung der Bewußtseinskräfte und ihres Anteils an unserem täglichen H a n d e l n hindert ihn, hinter dem scheinbar zwiespältigen Wesen den Menschen z u sehen, der auf das eine große Ziel hinstrebt, sich um jeden Preis in dieser gefährlichen Welt zu behaupten. D a r u m wird auch dieser Lehrer nicht viel mehr tun können als zu versuchen, ihn durch vernünftiges Zureden zu einem offenen und vertrauenden Verhalten zu gewinnen.
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Wer der Überzeugung ist, daß man Pessimismus — das Ergebnis vieler bitterer Erfahrungen, die zu Vorsicht und Mißtrauen gegenüber den Menschen mahnen — auch nicht durch bestgemeintes Zureden abbauen kann, wird auch hier nicht viel bleibenden Erfolg erwarten. Erst der menschlich betrachtende u n d tiefenpsychologisch geschulte Lehrer wird verstehen können, wie das Kind aus unverschuldeten schlechten Erfahrungen zu seiner irrtümlichen Gesamthaltung gekommen ist. E r wird aus der Lebensgeschichte herauslesen, wie unglücklich u n d innerlich bedrückt dieses Kind hinter seiner glatten, immer freundlichen Außenseite war, wie es nie sorglosen Kinderfrohsinn erlebt hat. Dieser Lehrer wird, wenn er wie hier in den obersten Klassen vor solch eine Aufgabe gestellt wird, nach der Ergründung der Vorgeschichte dem Buben in privaten Gesprächen viel Gelegenheit geben, sich auszusprechen und dadurch schon einen Teil des Druckes loszuwerden, den er sein Leben lang mit sich herumgetragen hat. Er wird ruhig zuhören und der Versuchung widerstehen, zu f r ü h belehrend dazwischenzusprechen. Er wird dann den Buben erleben lassen, wie man leben und f r o h leben kann, ohne immer der Erste sein zu müssen; wie man die Achtung der Mitmenschen nicht verliert, auch wenn sie unsere Fehler sehen. Er wird die Dienstwilligkeit des Buben in Hilfsbereitschaft f ü r die Kameraden in der Klasse verwandeln, die Hilfe und Unterstützung brauchen. Er wird das tun, was er auch bei Max getan hat: schlimme Erfahrungen durch bessere Erfahrungen langsam unschädlich machen.
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EIN
AUS
HILFSSCHÜLER (1929) DEN
AKTEN
Einer Erziehungsberatungsstelle f ü r schwererziehbare K i n d e r w i r d vom Jugendgericht der Hilfsschüler K a r l G . überwiesen. Ehe der Bub selbst gehört wird, gibt der anwesende Jugendrichter den E r ziehungsberatern — zwei Ä r z t e n u n d den pädagogischen M i t arbeitern — ein Bild von der Familie G., von der fortgeschrittenen V e r w a h r l o s u n g des Buben u n d davon, wie seltsam verwickelt u n d k a u m lösbar der Fall augenblicklich erscheint. Aus den A k t e n ergebe sich — so referiert der Jugendrichter — folgendes: D e r V a t e r , ein seit langem arbeitsloser Hilfsarbeiter, zeige sich gegenüber der Tatsache, d a ß drei von seinen sieben K i n d e r n auf Abwege zu geraten drohen, ziemlich gleichgültig. Die M u t t e r sei gutmütig, aber der Schar der K i n d e r gegenüber viel zu schwach u n d völlig hilflos. D e r neunzehnjährige älteste Sohn und der siebzehnjährige Zweitälteste seien arbeitsscheue Gesellen; der zweite verbüße eben eine Strafe, die f ü r Bettelei u n d eine grobe Unflätigkeit v e r h ä n g t w o r d e n sei. Gegen den dritten sechzehnjährigen Sohn sei nichts Nachteiliges b e k a n n t ; dieser sei HutmacherLehrling. Zwischen diesen dreien u n d den drei jüngeren — einem dreizehnjährigen Mädchen, das in der Schule zu den schlechten Schülerinnen gehöre und schon zweimal habe sitzenbleiben müssen u n d einem vier- u n d einem zweijährigen K i n d e — stehe K a r l . D e r sei vierzehn Jaihre alt u n d besuche die sechste Klasse der Hilfsschule mit äußerst schlechtem E r f o l g . Das Schulzeugnis bestätige dies. I n Lesen, Sprachlehre, Rechtschreiben, A u f s a t z , Schönschreiben u n d
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Singen hatte er die schlechteste Note 5 = ungenügend bekommen, in allen anderen Fächern, auch im Betragen die Note 4 = mangelhaft. Der Antrag eines Arbeiterwohlfahrtvereins schildere den Buben als der Fürsorgeerziehung dringend bedürftig. Das daraufhin von der Schule eingeholte Gutachten laute so: Karl sei, seit er die Schule besuche, notorischer Schulschwänzer. Die Schule komme jedes J a h r mit dem Freiheitstrieb des Buben in Konflikt. Er habe in den acht Schuljahren 138 schuldbare Versäumnisse zusammengebracht. Er sei außerdem debil (Logasthenie) und habe deshalb nach seinem zweiten Volksschuljahr der Hilfsschule überwiesen werden müssen. Die Schule schließe sich dem Antrag auf Unterbringung des Buben in einer Anstalt an. Ein zweites, vom Wohlfahrtsamt eingeholtes Gutachten bestätige und ergänze das seither Bekanntgewordene. Der Bub sei ein sogenannter Quartalsschwänzer; wenn das Wetter sich ändere und einen Aufenthalt im Freien verlockend erscheinen lasse, sei der Bub nicht in die Schule zu bringen; er springe davon, selbst wenn ihn die Mutter bis an die Schultüre bringe. In Anbetracht der schwachen geistigen Veranlagung, des zeitweise sehr großen Bedürfnisses des Jungen nach Freiheit und Herumzigeunern und wegen der häuslichen Verhältnisse sei Anstaltserziehung nötig. Das Jugendgericht habe sich nach diesen übereinstimmenden Zeugnissen gerichtet und den Beschluß ergehen lassen, daß der Junge in eine Fürsorgeerziehungsanstalt eingewiesen werden solle. Der Vater aber habe dagegen Einspruch erhoben und diesen damit begründet, daß der Bub k r a n k h a f t veranlagt und sein Schulschwänzen u n d Streunen nur eine Folge dieses Zustandes sei. Der Amtsarzt sei jetzt eingeschaltet worden. Er sollte sich darüber gutachtlich äußern, wie weiter zu verfahren sei. Sein Urteil sei dahin gegangen, daß K a r l anscheinend an epileptiformen Zuständen leide, was weitere Beobachtung ergeben müsse. Zu dieser Beobachtung sei der Bub in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Nach den vorgesehenen vierzehn Tagen habe der Bub nur höchst ungern wieder aus der Klinik herauswollen. Die psychiatrische Klinik habe ihr Urteil dahin zusammengefaßt, daß der Bub ein feinfühliger, phantastischer Psychopath mit einer seinem Alter ungefähr entsprechenden Intelligenz sei, der bei einer gütigen, wohlwollenden u n d verständnisvollen Leitung
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leicht lenkbar sei und selbst an einer Normalsdiule gut mitkommen könne. Es stünden sich also zwei Meinungen schroff gegenüber: Schule und Wohlfahrtsbehörden seien f ü r , Vater und psychiatrische Klinik g e g e n die Fürsorgeerziehung; die ersten beiden betrachteten sie als unentbehrlich, um weitere Verwahrlosung aufzuhalten; vom Vater werde sie abgelehnt, weil das Kind offenbar krank sei und die psychiatrische Klinik sei dagegen, weil sie den Buben normal und gesund gefunden habe und nur eine wohlwollende und verständnisvolle Leitung für nötig halte, um ihn vor der Verwahrlosung zu bewahren. Der Jugendrichter hatte seinen Bericht aus den Akten noch nicht beendet, da erhob sich der mitanwesende jetzige Lehrer des Karl und wandte sich entschieden und temperamentvoll gegen das Gutachten der psychiatrischen Klinik. Der Bub sei, so begründete er seine entgegengesetzte Meinung, wirklich debil und leide an Ausfallerscheinungen. Er sei beispielsweise im Erzählen nicht ungeschickt, könne aber — im achten Schuljahr! — kein W o r t lesen. Seine abnorm schlechten Leistungen im Lesen und Rechtschreiben („weil" z. B. schreibe er immer „wlie") seien eine Folge von Logasthenie, an der er leide. Aus diesen Gründen sei seine Uberweisung an die Hilfsschule vor sechs Jahren und seine Fortführung in ihr bis heute zu Recht erfolgt. Eine Rückkehr an die Normalschule sei ganz undenkbar. Nun wurden — nach diesem Vorspiel mit Spannung von allen Anwesenden erwartet — Mutter und Bub in das Beratungszimmer geholt. Die Mutter, eine offenbar liebevolle Mutter, bestätigte das Tatsachenmaterial aus den Akten, ergänzte es nur durch eine beredte Schilderung des häuslichen Elends: neun Personen täglich bei Tisch, Mann und die zwei ältesten Söhne arbeitslos und als einziges Einkommen deren Arbeitslosenunterstützung. Mit ihrem Buben wissen sie sich keinen Rat mehr, so sagte sie weiter, nur möchten ihr Mann und sie ihn nicht fortgeben. Der Bub war kräftig und gesund, aber außerordentlich verschlossen und scheu. Er gab nur schüchterne und zögernde Antworten. Bloß die aufgegebenen mündlichen Rechnungen löste er sicher und rasch. 5 Simon,Verstehen und Helfen
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Die Ergebnisse dieser ersten Beratung waren: eine finanzielle Beihilfe aus den freiwilligen Beiträgen der Anwesenden zur Linderung der augenblicklich sehr großen Bedrängnis; einige aufklärende und ermutigende Worte des leitenden Arztes und die Übernahme der Schutzaufsicht über K a r l durch mich. Sie sollte ein letzter Versuch sein, die Überweisung in die Fürsorgeerziehungsanstalt zu vermeiden, gegen die die Eltern sich so beharrlich sträubten. Als einen ersten Schritt dahin wollten wir — der Bub und ich — den Versuch machen, den Lernschwierigkeiten nachzugehen.
NEUN
WOCHEN
ARBEIT
Genau neun Wochen später, bei seiner zweiten Vorladung zur Erziehungsberatung, liest der Bub (der „wirklich debil ist, an zweifelsfreien Ausfallerscheinungen leidet, der im achten Schuljahr kein Wort lesen kann") den Anwesenden fließend und fehlerlos eine längere Geschichte aus seinem Lesebuch vor und erzählt sie darauf ausführlich und lebendig nach. W a s ist in der Zwischenzeit vor sich gegangen? Der Hausbesuch am T a g e nach der Erziehungsberatung stimmte hoffnungsvoll. Das, was die Mutter von der großen N o t erzählt hatte, f a n d ich bestätigt; die Familie bewohnte eine armselige, windschiefe Holzhütte ganz weit draußen'vor der Stadt. W i e sie aber darin lebte und zusammenlebte, das war überraschend anders, als man es nach den Aktenberichten erwarten konnte: die kleinen Kinder freundlich, zutraulich und — an der äußeren N o t lage gemessen — sehr gut gehalten; die zwei Söhne (der älteste und drittälteste) hübsche, gepflegte, verständige junge Menschen; der Vater ein gesunder, kluger, ruhiger Mann mit einem ganz klaren Urteil über Karl und das mutmaßliche Entstehen seiner Schwierigkeiten; die Mutter, so wie wir sie schon kennen, ein freundliches, weichherziges, aber ganz zusammengesorgtes und abgearbeitetes Weiblein. Das, was der Vater über K a r l erzählte, weckte Hoffnungen. Er sei zu allem anstellig, zu jeder Arbeit im Haus, zu jedem Gang in die Stadt zu gebrauchen, zu allem willig
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und mache jede begonnene Arbeit ohne Mahnung fertig. Besonders zu loben sei seine Fürsorge für die beiden Kleinsten. So habe er sie z. B. monatelang jeden T a g auf einem fast dreiviertelstündigen Weg in den Kindergarten gebradit, — rechts und links je eines an der H a n d geführt — und auch von dort wieder nach Hause geleitet, trotz allen Gespötts von seiten seiner Schulkameraden. An der Schule freilich habe er gar keine Freude*, obwohl der jetzige Lehrer wie die früheren freundlich und nett zu ihm seien. Am nächsten T a g kam Karl nach der Schule in meine Wohnung. Ehe an die Arbeit gegangen wurde, erzählte ich dem Buben von dem guten Eindruck, den ich tags zuvor von seinem Zuhause mitgenommen habe, setzte hinzu, daß ich die feste Uberzeugung habe, daß auch im Lernen durchaus noch nicht alles verloren sein müsse, daß nach meiner Meinung sogar jetzt noch Zeit sei, Versäumtes nachzuholen und im letzten halben Jahr den schlechten Eindruck der vorangegangenen siebeneinhalb Schuljahre bei sich und den anderen auszulöschen und nach den Worten des ärztlichen Erziehungsberaters „auf ein neues Blatt zu schreiben". Unerläßliche Voraussetzung für diesen neuen Anfang aber sei dreierlei: nach den langen Jahren passiven Beiseitestehens eigene Mitarbeit; nach der langen Zeit der Willenlosigkeit oder des Gegenwillens eigener Wille hin zu dem neuen Ziel, endlich eigene Bereitschaft, nach den offensichtlichen Irrtümern der vergangenen Zeit, noch einmal den Versuch zu wagen. Zu diesem Versuch werde ihm jede mögliche Unterstützung zugesagt; das Gelingen aber sei in dem Maß zu erwarten, als er sich selbst dafür einsetze. Weil alle bisherigen Versuche, ihn mit Ermuntern und Befehlen und Fordern vorwärtszubringen, so gründlich fehlgeschlagen hätten, könne die neue Arbeit einzig auf die Freiwilligkeit gestellt sein. „Ich bin" — so schloß ich — „jeden T a g nach der Schule ab siebzehn Uhr zu Hause. Wenn du den Versuch ernstlich machen willst, kannst du kommen, so oft du willst. Verpflichtet bist du dazu nicht. Es wird — das kann ich dir im voraus sagen — besonders zu Anfang nicht leicht für dich sein, nochmal ganz von vorne anzufangen; es wird dir in der ersten Zeit langweilig vorkommen, wie ein ABC-Schütze herumzubuchsta5*
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bieren. Wenn du aber aushältst, wird es dir wohl selber bald Spaß machen. Und nun fangen wir an!" Zur Feststeilling, wie stark die Lesestörung sei, sollte Karl ein ihm unbekanntes Stüde aus seinem Lesebuch Vorlesen. Es war die ganz kurze Fabel von dem Kater, der dem Storch das Fliegen nachmachen wollte. Was dabei herauskam, war fast beängstigend: derselbe Bub, der eben noch klar und vernünftig in zwar mundartlich gefärbtem aber doch gutem Deutsch gesprochen hatte, gab jetzt im Hetztempo, begleitet von hastigen Gebärden ein völlig unverständliches Kauderwelsch von sich. Nicht ein Wort war richtig; statt Kirchturm las er Kruchtem, statt Storch — Strak, statt fliegen — fleiden, statt sitzen — scheitte usw. Es war eine alle Erwartung übertreffende Bestätigung dessen, was der Lehrer mit dem „weil — wlie" gesagt hatte. Die eigentliche Überraschung aber kam erst nachher, als er das Gelesene wiedergeben sollte. Er erzählte die in unmöglichen Lauten gelesene Geschichte vollständig klar in richtigen deutschen Sätzen nach. Jetzt sagte er richtig Kirchturm, Storch, fliegen und sitzen. Nach dieser Probe war kein Zweifel mehr, daß wirklich, wollte man der Störung auf die Spur kommen, von den allerersten Anfängen aus begonnen werden mußte. Das geschah. Es wurde in der ersten Fibel dort angefangen, wo zum erstenmal die Druck- neben den Schreibbuchstaben erscheinen. Dabei zeigte sich, daß er gleich die allerersten Buchstaben i, n, m, e, ei, ie, r zwar nach sehr langer Besinnung erkannte und benennen konnte, daß er sie aber unfehlbar miteinander verwechselte, sobald sie auch nur in leichtester Verbinidung vorkamen. „In, im, ein, nie" z. B. zu lesen, war ihm unmöglich, hier stutzte er, fing an zu raten und war so — auch wenn er es zufällig erriet — vom Lesen abgekommen. Die erste Stunde und ein Teil aller folgenden ging also darüber hin, ihm zunächst jedes einzelne Buchstabenbild so deutlich werden zu lassen, daß er es immer sicherer, in immer kürzerer Zeit für sich und im Unterschied zu anderen erkennen lernte. Es vergingen aber viele Wochen, ehe dieses Ziel auch nur halb erreicht war; viel schwerere Buchstabenbilder wie sch und st und auch äu und au erkannte er schon längst sicher, als ihm n und m immer noch Schwierigkeiten machten und nach drei Monaten, als er schon lange auf dem Weg
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war, nach Wortbildern zu lesen, kam es noch zuweilen vor, daß er über ie und ei stolperte. Ohne ein weiteres Wort über das Wiederkommen als die zu Anfang der ersten Stunde gesprochenen, die ihm alle Freiheit gaben, war er am nächsten T a g pünktlich zur angegebenen Stunde wieder da. Ohne ein weiteres Wart — das kann gleich vorausgenommen werden — machte er in den nun folgenden drei Monaten, unbehindert durch Schnee und Regen und Schmutz, nicht abgehalten durch die frühe Winternacht, jeden T a g den im ganzen eineinhalbstündigen Weg. Er hat — auch in den dazwischenliegenden Weihnaditsferien — nicht ein einziges Mal gefehlt. Er hat — auch wenn er, wie es dreimal in der Woche vorkam, erst um neunzehn Uhr heimkam — täglich noch freiwillig zu Hause gelesen; hat — wiederum freiwillig — bald in sein Heft auch zu Hause eine Aufgabe gemacht, die nie unter einer Seite, einmal — über die zwei Weihnachtsfeiertage — sogar zwölf Seiten lang war. Er hat — wiederum freiwillig — vom dritten Tag an zu Hause neben seiner ABC-Fibel aus Heftchen der Deutschen Jugendbücherei mit Hilfe des Vaters oder der Mutter die ganze Dietrichund Gudrunsage für sich gelesen und in der Stunde abschnittweise klar und gut nacherzählt. Ohne diesen fast fieberhaften häuslichen Fleiß und so, wie es ursprünglich geplant war — nur durch die gemeinsame Arbeit in der Stunde — wäre es wohl kaum recht vorwärtsgegangen. Denn auch trotz dieser überraschenden Mitarbeit dauerte es vier oder fünf Wochen, bis wir über das Stadium des mühseligen Zusammenbuchstabierens jedes einzelnen Wortes hinauskamen. Dann freilich ging es rasch weiter. Das erste vom-Blatt-Lesen war zwar immer noch eine harte Arbeit, aber bald genügte ein zweioder dreimaliges Durchlesen, daß er jedes Stück fließend vorlesen konnte. In der ersten Zeit schien es oft so, als wären wir endgültig festgefahren, als gäbe es jetzt kein Weiterkommen mehr, als wäre hier wirklich alle Bemühung erfolglos. Daß wir beide dadurch den Mut zur Weiterarbeit nicht verloren, verdankten wir nicht der Arbeit, sondern den oft eingeschalteten Arbeitspausen. Karl hatte unerwartet schnell menschliches Vertrauen gewonnen und erzählte, durch Fragen angeregt, nach und nach allerlei aus seinem Leben.
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Er verlebte seine erste glückliche Kindheit mit der ganzen Familie in einem Schweizer Gebirgsdorf, in dem Teil Graubündens, der noch romanisches Sprachgebiet ist. Der Vater, ein geborener Münchner, war als junger Handwerksbursche hier durchgekommen und hatte sich nach seiner Verheiratung mit einer einheimischen Kleingütlerstochter dort ansässig gemacht. Nach dem ersten Weltkriege siedelte er mit seiner ganzen Familie nach München um. Karl stand knapp vor seinem sechsten Geburtstag, als er aus dem verlorenen Gebirgsdorf in die Großstadt, aus einer Umgebung, die — mit Ausnahme des Vaters — romanisch sprach, in eine andere versetzt wurde, der ein derbes Vorstadt-Münchnerisch Muttersprache war. Bald darauf kam er zur Schule. Trotz großer Bemühungen einer freundlichen Lehrerin konnte er am Ende des ersten Schuljahres kein "Wort lesen und schreiben. Er hatte, wie auch die Eltern bestätigen, dreiviertel Jahre nichts von dem verstanden, was die Lehrerin und die Kinder zusammen sprachen, wurde deswegen auch ein paar Monate lang zurückgeschickt, dann aber doch wieder in die gleiche erste Klasse aufgenommen. Es wundert uns nicht, wenn wir hören, daß er es in diesem Jahre zu 16 schuldbaren Versäumnissen brachte; war er doch gezwungen, T a g für T a g in einer Umgebung mehrere Stunden lang zu leben, die er nicht verstand und der er sich nicht verständlich machen konnte. Auch der zweite Lehrer im nächsten Jahr, der von seinen besonderen Schwierigkeiten anscheinend noch wußte, hat sich sehr um ihn bemüht. Trotzdem war auch das unterrichtliche Ergebnis des zweiten Jahres in allen Fächern, die mit der Sprache engere Beziehungen haben — Sprechen, Lesen, Rechtsdireiben — völlig ungenügend, und der Abstand zu seinen Kameraden, die auf der sicheren Grundlage der ersten Klasse aufbauen konnten, war schon so groß, daß es ganz außerordentlicher Bemühungen bedurft hätte, um das nun schon in 2 Jahren Versäumte nachzuholen. Ob der Lehrer der dritten Klasse von dem unglücklichen Zusammentreffen von Sprachwechsel und Schuleintritt noch etwas wußte, läßt sich heute nicht mehr feststellen. Es scheint nicht so gewesen zu sein, denn er behielt den Buben nur ganz kurze Zeit in seiner Klasse und überwies ihn dann der Hilfsschule. Er tat dies — wenn er nach dem Eindruck urteilte, den der Bub augenblicklich machte — nicht einmal zu Unrecht. Es m u ß t e ohne die 70
Kenntnis der eigenartigen Vorgeschichte damals wie heute der Eindruck entstehen, daß man es mit einem nicht vollsinnigen Kinde zu tun habe; es war gesund und kräftig entwickelt, im ganzen anstellig, im Rechnen sogar gut, versagte aber in den Deutschfächern in einer abnormen Weise. Dabei behauptete sich diese Schwäche gegen alle ernsthaften Versuche, sie zu beheben. Also konnte das Urteil schon mit gewissem Recht lauten: „debil, Logasthenie, Ausfallerscheinung im Lesen". Als solchermaßen charakterisiertes Kind wurde er der Hilfsschule übergeben. Auch wenn man sehr vorsichtig ist mit nachträglichen Erklärungsversuchen, so kann man sich doch heute noch ein ungefähres Bild davon machen, wie dieser Wechsel auf das Kind wirken mußte. W i r wissen, wie unter ganz normalen Umständen ein so radikaler Wechsel der Umwelt (Gebirgsdorf — Großstadt; aus einem Sprachgebiet in ein anderes) selbst von einem Erwachsenen ungewöhnliche Anpassungsfähigkeit verlangt. Die Mutter z. B. hat diesen Wechsel nie überwunden. Wie viel mehr mußte dies erst das kaum sechsjährige Kind in seiner Sicherheit erschüttern. D a n n kamen zwei lange, vom Kinde völlig unverschuldete und unverstandene Jahre täglichen Mißerfolges. Dies auch in dem denkbar besten Falle; dem nämlich, daß die beiden Lehrer nicht nervös und ungeduldig wurden, wenn es hier beim Karl gar nicht vorwärts gehen wollte, während doch Lehrplan und Stoff als stete Mahnung hinter ihnen standen. D a ß das Vertrauen des Buben zu sich und zu seinen Fähigkeiten in diesen zwei Jahren langsam aber unaufhaltsam tiefer und tiefer sank — daß er ohne alle Erfahrung und Vergleichsmöglichkeit langsam selber daran glaubte, was ihm von der ganzen Welt vorgesagt oder vorgehalten wurde (denn Eltern und Geschwister, Lehrer und Schulkameraden s i n d seine ganze Welt!), daß er allmählich dem Gedanken Raum gab, er sei hier wirklich „unbegabt", ihm fehle etwas, was alle anderen vor ihm voraus hätten; er sei von N a t u r hier schlechter ausgerüstet — ja, daß er sich später sogar auf seine „Unbegabtheit" zurückzog, sie als Schild vor sich hielt, das ihn vor weiteren Anforderungen, Angriffen und Niederlagen schützte —, daß er also ein Interesse an seiner „Unbegabtheit" bekam —, daß er sich mit ihr (vielleicht unbewußt aber doch tatsächlich) vor seiner Verantwortung drückte — wem erschiene das nicht natürlich? In diesem Zustand innerer Verzagtheit und Mutlosigkeit und 71
Verantwortungsangst trifft ihn die Überweisung an die H i l f s schule. Ist es schwer nachzufühlen, wie diese auf ihn wirken muß? Sie kommt seiner Verzagtheit und Verantwortungsscheu als unverhoffte H i l f e entgegen. Sie liefert ihm das, was ihm als Sicherung nach außen noch fehlte: die amtliche, von Autoritäten ausgesprochene Bestätigung seiner „ U n b e g a b u n g " . D a r a u f kann er sich nun jederzeit und jedem Versuch gegenüber berufen, der es unternehmen wollte, seinem Mangel abzuhelfen. Er tut dies unverstanden, ohne Einsicht in die Zusammenhänge, aber doch wieder tatsächlich sogar der Hilfsschule gegenüber, schlägt sie gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen. A u d i die aus den besten experimentellen Versuchen abgeleiteten Methoden müssen an ihm scheitern. M a n hat ihn die J a h r e her zu tief entmutigt = „unbegabt". gemacht; man hat ihm durch die Uberweisung an die Hilfsschule sozusagen auch noch die Bescheinigung für sein Anders- und Minderwertigsein in die H a n d gedrückt; man sollte darum nicht erstaunt sein, daß er jetzt „ a u f seinem Schein besteht", d. h. seine Unfähigkeit weiter beweist und verteidigt. Denn er hat — das übersehen wir gerne! — diesen Freibrief, der ihm die gefürchtete Verantwortung abnimmt, sehr teuer erkauft. Er hat sie mit dem Verlust der gesellschaftlichen Gleichberechtigung unter seinen K a m e r a d e n bezahlt. Sie hat ihn nicht weniger als die gesellschaftliche Achtung seiner U m w e l t gekostet. Seit er „Deppenschüler" geworden ist (eine Bezeichnung, die bei allem besten Willen der Schulbehörden nicht auszurotten ist und sich höchstwahrscheinlich im Volke so lange behaupten wird wie die Hilfsschule selber) — seit er also in die Hilfsschule geht, ist er täglich, bei der geringsten Meinungsverschiedenheit in der G e f a h r , als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden und dies auch noch in den Formen, die bei der Münchner Vorstadtjugend üblich sind. Zu H a u s e kann er durch seine allgemeine praktische Tüchtigkeit und Brauchbarkeit seine Stellung verteidigen und so beweisen, daß er schon etwas taugt. Seinen K a m e r a d e n gegenüber aber muß er, wenn er sich behaupten will, zu handfesteren Mitteln greifen. Er wird ein R a u f b o l d , erwidert jede Anspielung auf seine Zugehörigkeit zur Hilfsschule mit derben Fäusten und entwertet die Schule dadurch, daß er sie schwänzt, wann es ihm beliebt. Wer weiß, wie hoch ein Schulschwänzer in seinen Kreisen geschätzt und bewundert wird, der 72
versteht auch, warum Karl, der dauernd ein gesellschaftliches Manko auszugleichen hatte, so viel W e r t auf Schulschwänzen legte. Mit diesem Ausschluß aus der Gemeinschaft der Normalen war sein inneres Elend noch nicht voll. Er sollte bald erleben müssen, daß er auch in seiner neuen Schulumgebung, unter wirklich Debilen und körperlich Mißgestalteten in den auch hier wichtigen Deutschfächern der Dümmste, der Schlechteste, der völlig Unbrauchbare war. Zu Anfang durfte er, weil er ein guter Rechner war, am Rechenunterricht einer höheren Klasse teilnehmen. Das hielt ihn noch eine Weile hoch. Als auch diese Vergünstigung nach einiger Zeit abgeschafft wurde, gab er es auf, völlig und für immer. Ein noch heute unwiderlegliches Anzeichen dafür: die schuldbaren Versäumnisse schnellen von zwei im letzten Volksschuljahr rapid hinauf auf dreißig Im ersten Hilfsschuljahr und halten sich dann in den nächsten Jahren auf ungefähr derselben Höhe — 34, 18, 10, 23 — . Die Bemühungen der Hilfsschullehrer, ihn zurückzugewinnen, die die Eltern heute nodi hoch anerkennen, mußten aber auch aus einem anderen Grunde von Jahr zu Jahr erfolgloser und damit die innere Lage des Buben im gleichen Maßstab hoffnungsloser werden lassen. W o die gleichaltrigen Kameraden stolz von den feinen neuen Dingen berichteten, die sie in der Volksschule hörten, von Erdkunde und Geschichte, Naturkunde, später auch von Physik und Chemie, da mußte er beschämt still sein. In der Hilfsschule hört man nichts davon. Er — hungrig nach lebendigen, nach praktischen Dingen — kommt nicht los von seinen gefürchteten Fächern, von Sprachlehre, Lesen und Rechtsdireiben. Wenn seine Kameraden jetzt im letzten Schuljahr erzählen, wie sie gelernt haben, sich eine elektrische Klingelleitung, eine Zimmerbeleuchtung selbst zu bauen, da könnte er allerhöchstens erzählen, daß er in der Heimatkunde die acht Kreise Bayerns auswendig lernen muß. Ist nicht verständlich, daß kein anderer Gedanke in ihm lebt, als der: Heraus aus der Schule — nichts mehr wissen von den täglichen Niederlagen in ihr und außer ihr — dort neu anfangen, wo man sich etwas zutraut — endlich in die Lehre, in die Arbeit! Er ist in diesen acht Jahren das geworden, wozu man ihn
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immer in der besten Absicht und mit dem ehrlichsten Willen zu helfen! — gemacht hatte: „der debile Hilfsschüler, der an Logasthenie leidet und schwere Leseausfallerscheinungen hat — der Quartalschwänzer mit der schwachen geistigen Veranlagung — der Bursdi, der anscheinend an epileptiformen Zuständen leidet — den nur mehr die Unterbringung in einer Fürsorgeerziehungsanstalt von der Verwahrlosung zurückhalten kann." Haben wir, haben die Antragsteller sehr viel Zuversicht, daß die Fürsorgeanstalt dies fertigbringt, wenn sie ihn weiter als debilen Quartalsschwänzer ansieht? (Dieselbe Fürsorgeanstalt, die ebenso wie die Hilfsschule in der Volksmeinung nicht sonderlich gut angeschrieben ist, die als Strafanstalt, immer noch als „Zwangserziehungsanstalt" gilt und es o f t auch noch — 1929! — wirklich ist). Es braucht nicht viel Phantasie, sich auszudenken, wie Karl nach zwei oder drei Jahren Anstaltserziehung, als Sechzehnjähriger oder Siebzehnjähriger, der nicht lesen und schreiben kann, mit dem dauernden Makel der „Anstalt" belastet in die Welt zurückgekehrt wäre. Es ist mehr als zweifelhaft, ob sich bei dem steten Zusammensein mit lauter Gescheiterten und aus dem Leben Gestoßenen, sein hoffnungsvoller guter Kern, nämlich seine Arbeitslust und die große Bereitwilligkeit, die häusliche N o t lindern zu helfen, durch zwei oder drei Jahre solchen Aufenthaltes erhalten hätte? Von seinen Schulschwänzereien sind die zusammenfassenden Ziffern erhalten geblieben. Geschichten aber wie die folgenden, die von seiner Brauchbarkeit und menschlichen Reife zeugen, sind der Hilfsschule nicht bekannt geworden und konnten darum das schlimme Urteil über ihn nicht richtigstellen. Die Mutter f ü h r t ihn nach ein paar geschwänzten Schultagen wieder einmal bis an die Schulhaustüre. Er verspricht, heute hinaufzugehen. Sie geht beruhigt heim, holt dort das Nötige zum Ährennachlesen auf den Feldern vor der Stadt, wozu sie sich die Erlaubnis erbeten hatte, geht hinaus, findet dort schon einen großen H a u f e n Ähren säuberlich zusammengelesen und nicht weit davon Karl in eifrigster Arbeit. Er war nicht „hinaufgegangen", sondern über die Schulhausmauer gestiegen, auf Umwegen heimgelaufen und dann hinaus aufs Feld. Ein andermal kommt er mittags zur richtigen Zeit heim — mit 74
einem Brotwecken unter dem Arm. Er hätte, so erzählt er, gestern Abend gesehen, wie in die Abfallgrube in ihrer N ä h e ein paar "Wagenladungen A b f a l l und Bauschutt geleert worden seien, sei heute vormittag statt in der Schule dort gewesen und bringe hier das Brot, das er für den Erlös aus dem gesammelten Alteisen gek a u f t habe. An Allerheiligen geht er mit seinem Bruder H a n s zum Kränzetragen auf den Friedhof, verdient sich damit jedesmal zwei bis drei Mark und liefert sie bis auf den letzten Pfennig zu Hause ab.
GUTES
ENDE
So ist in den Arbeitspausen seine Entwicklung allmählich bekanntgeworden. Nachdem ich dadurch erst selbst deutlichere Übersicht bekommen hatte, gingen H a n d in H a n d mit diesen zwanglosen Gesprächen andere, gelegentliche, oft beiläufige, die dem Buben die erzählten Stücke in einen Zusammenhang mit seiner ganzen Haltung stellten. Sie zeigten ihm die ersten Anfänge seiner Mißerfolge in der Schule, die daraus folgende Freud- und Mutlosigkeit, die Versuche, sich mit seiner Zaghaftigkeit um die Schularbeit herumzudrücken — einmal durch Schwänzen, einmal durch „Leses t ö r u n g " — ; sie zeigten auch das Endergebnis dieses unglückseligen Zusammenspiels. Diese Besprechungen waren dem jeweiligen Augenblick angepaßt und gingen in vielen Variationen immer um das gleiche T h e m a : „ D u bist trotz aller schlimmen Erfahrungen, die du bisher gemacht hast, einem Irrtum erlegen, dem nämlich, daß du meintest, du könntest etwas nicht, was die anderen vor dir voraus haben; du seist hier unbegabt, du würdest dies nie lernen und müßtest dem für alle Zeiten aus dem "Weg gehen. Die anderen hätten dich deshalb, weil du als Vierzehnjähriger noch nicht lesen konntest, nicht auszulachen brauchen (aber auch sie taten es nur im Irrtum!). D u aber hättest dich deshalb auch nicht ewig mutlos zu fühlen brauchen, denn du konntest ja so viele andere wichtige Sachen. Es ist verständlich, da du so reagiert hast, aber es ist für die Zukunft nicht verpflichtend."
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So wenig er ermahnt oder angehalten worden war, daß er lesen und wie fleißig er lesen solle, so wenig war je ein Wort über das Schwänzen gefallen. E r mußte, wenn die Umkehr von innen kommen sollte, auch hier die volle Freiheit haben. Er hat — obwohl die Hilfsschule ihr Urteil über ihn, das seit Jahren feststand, jetzt auch nicht mehr änderte — er hat seit dem ersten T a g unserer Zusammenarbeit keine einzige Stunde mehr geschwänzt! Durch die Lesefortschritte in seiner ganzen inneren H a l t u n g erhoben und gestärkt, konnte er jetzt dieses Mittel, sich zur Geltung zu bringen, beiseitelegen. Er konnte geläufig lesen. D a s war eine Tatsache, die den von allen Seiten und viele J a h r e lang gehegten Irrtum, er sei „unbeg a b t " oder überhaupt gestört, endgültig widerlegte. J a man konnte sagen: „ W e r solch eine festgefahrene Schwierigkeit in s o überraschend kurzer Zeit überwinden kann, hat bewiesen, daß er besonders tüchtig ist." Eine A u f g a b e war noch zu erledigen. K a r l hat z w a r nie ein W o r t über die Schule gesagt; daß er aber zu ihr nicht gut stand, bewies sein ganzes Verhalten. Nach den bitteren Erfahrungen in den acht Jahren kann dies auch nicht wundernehmen. Seine letzten, beweisbaren Lernerfolge mußten es möglich machen lassen, auch da noch eine Wendung zum Besseren einzuleiten, ehe er die Schule f ü r immer verließ. D a s konnte gute Wirkungen f ü r ihn wie für die Schule haben. Sie hatte damit noch eine letzte Möglichkeit, durch eine freundliche Geste das gegenseitige Verhältnis zu entspannen. Ich machte mich auf den Weg zu seinem Lehrer und wußte, daß das Vorhaben nicht einfach war. Vier Monate private Arbeit hatten fertiggebracht, was sechs J a h r e Hilfsschule nicht erreicht hatte. Mit großer Behutsamkeit mußte verhindert werden, daß es zu dieser Gegenüberstellung kam. Diese hätte den Zweck des Besuches, den wenig schönen acht Jahren einen freundlichen Schlußpunkt zu geben, sicher vereitelt. Zu dieser, für beide Teile peinlichen Gegenüberstellung ist es dann aus einem unvorhergesehenen G r u n d nicht gekommen: der Lehrer hatte von der Veränderung im Buben noch gar nichts bemerkt! D e r D r a n g der täglichen Geschäfte und das seit Jahren feststehende Urteil über den Buben hatten verhindert, daß er die Besserung sah. Auch die weiteren Tatsachen, daß K a r l seit vier 76
Monaten keine Stunde mehr in der Schule gefehlt hatte u n d d a ß er im Rechtsdireiben erstaunliche Fortschritte gemacht hatte, w a r e n vom Lehrer unbemerkt geblieben. So m u ß t e m a n n o c h vorsichtiger verhandeln, etwa auf der G r u n d l a g e : Es w ä r e f ü r den Buben schön, wenn ihm die Schule zum Schluß noch Gelegenheit gäbe, zu zeigen, d a ß er es doch noch geschafft hat. D e r Lehrer versprach, das zu tun u n d entließ midi mit dem abschließenden U r t e i l : „Aber eine Ausfallerscheinung h a t er doch!" W i r f ü h r t e n zu H a u s e unsere Arbeit zu Ende. Es w a r gelungen, eine Lehrstelle bei einem Spengler, wie K a r l es sich gewünscht hatte, zu finden. Er hat sich dort gut eingefügt, hat fest angepackt und der Meister lobte ihn als stillen und brauchbaren Burschen. Unsere Verbindung blieb bestehen; er k a m von Zeit zu Zeit und erzählte seine Erlebnisse. Er ist ein ordentlicher u n d tüchtiger Mensch geworden.
U N D WIR
VOLKSSCHULLEHRER?
D e r Lehrer an der Volksschule w i r d d a z u sagen: Dies ist ein einzelner Fall, aus dem keine allgemeingültigen Schlüsse gezogen werden können — es ist der besondere Fall eines bedauerlichen Fehlurteils, wie sie immer wieder vorkommen, so lange Menschen urteilen — außerdem ist es ein Fall, der einzeln behandelt wurde, w ä h r e n d wir doch zur Klassenarbeit bestellt sind und es ist endlich einer, der — wenn er die Schule ü b e r h a u p t angeht — die Hilfsschule trifft. W a s sollen wir Volksschullehrer damit anfangen? Diese E i n w ä n d e haben ihre Berechtigung. Sie übersehen aber, d a ß in der Sdiulgeschidite des K a r l ein P u n k t zu finden ist, der uns alle angeht, weil jeder von uns jedes J a h r an derselben Stelle stehen k a n n , ja mit ziemlicher Sicherheit stehen w i r d . Es ist die Situation jenes Lehrers, der mit der dritten Klasse damals auch K a r l b e k a m : Er übernimmt diese neue Klasse, die auch diesmal wieder ge-
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mischt ist aus Guten, Mittelmäßigen und Schlechten. Außer diesen aber haben vorher schon die Schülerbogen einen angekündigt, der in den Leistungen sehr weit unter dem M a ß des zu Erwartenden und auch im Betragen ganz und gar nicht einwandfrei zu sein scheint. Der persönliche Eindruck, den der Bub macht, stimmt nicht hoffnungsfreudiger. Er ist verschlossen, scheu, jedem Annäherungsversuch gegenüber unzweideutig ablehnend. Die Arbeit beginnt. Schnell wird seine angekündigte völlige U n braxichbarkeit in den Deutschfächern offenbar; schnell tritt auch sein Widerstand gegen die Arbeit in diesen Fächern deutlich hervor; mit finster-trotzigem Gesicht sitzt er da. Trotzdem der Bub nur höchst widerstrebend mitmacht, geht der Lehrer mit ganzer K r a f t an die Arbeit. Weil der Abstand zwischen dem, was der Bub kann und dem, wo der Durchschnitt der Klasse steht, so groß ist, d a ß ein Zusammenunterrichten von vornherein unmöglich ist, wird diese Arbeit in Nachhilfestunden verlegt. Man kommt trotz der hingebenden Bemühung des Lehrers über die ersten Buchstaben nicht hinaus. Der Bub verwechselt sie so hartnäckig, daß alle Methoden, die sonst auch bei den dümmsten ABC-Schützen Erfolg bringen, hier versagen. Nach wochenlanger ernster Bemühung steht der Bub da, wo er vorher w a r : er kann ie nicht von ei, n nicht von m unterscheiden, ist damit den allereinfachsten W ö r t e r n gegenüber hilflos, verlegt sich aufs Erraten und bringt damit nur ein aufgeregtes, sinnloses Kauderwelsch zustande. So war es damals; so kann es morgen in unserer neuübernommenen Klasse sein. Alle unsere Bemühungen stellen sich als erfolglos heraus. W i r suchen nach einer Erklärung f ü r das Versagen. W i r können nicht daran Schuld sein, denn wir haben doch wirklich getan, was wir vermochten. So k a n n der Grund nur in einer anderen Richtung gesucht werden: Vielleicht ist das Kind doch organisch gestört, nicht ganz vollsinnig, möglicherweise erblich belastet und darum hier nicht beeinflußbar, also besserungsunfähig? Vielleicht — so wird folgerichtig weitergedacht — m u ß die Mühe darum überhaupt erfolglos bleiben. Diese Gedanken werden immer mehr und mehr Einfluß auf unser praktisches Verhalten gewinnen, auch wenn wir uns bemühen, dies zu verhindern. Einige Tatsachen — bisher nicht sonderlich 78
beachtet — stärken unser Selbstvertrauen, das natürlich durch die andauernden Mißerfolge erschüttert worden ist. Wir erinnern uns der Erfolglosigkeit auch der Bemühungen der zwei früheren Lehrer, des ungewöhnlichen und schwer erklärbaren Widerstrebens des Kindes, sobald es an die Arbeit geht und endlich des auffallenden Kontrastes zwischen der übrigen Intelligenz und Brauchbarkeit des Buben und der anscheinenden Bildungsunfähigkeit in den deutschen Fächern. Niemand wird uns einen Vorwurf machen können, wenn wir nun — außerdem bedrängt durch Lehrplan, Stoffülle, zu große Klassen, Rücksicht auf die übrigen Kinder in der Klasse — nach kürzerem oder längerem H i n - und Herschwanken zwischen Bemühung und Zweifel zu dem Ende kommen: Hier ist wirklich alles Menschenmögliche getan, hier sind alle Wege gegangen und alle Mittel versucht worden. Es bleibt nichts übrig, als die ganze Bemühung einzustellen und das Kind der Hilfsschule zu überweisen, die f ü r solche Fälle besser vorbereitet ist. Die vorgeschaltete Aufnahmeprüfung bringt das erwartete Ergebnis; die Beweise f ü r die organische Gestörtheit sind überzeugend. H ä t t e man anders handeln können? Erste Voraussetzung f ü r anderes Handeln ist ein anderer Ausgangspunkt: die Grundüberzeugung, daß bei aller augenfälligen äußeren und inneren Verschiedenheit die Kinder einer Klasse e i n gemeinsames und tiefes Bedürfnis fühlen: sie hoffen darauf, in dem neuen Lehrer einen vertrauenswürdigen Menschen zu finden. U n d d i e Kinder, die in ihren Grundschichten erschüttert sind, die aus schlimmen Erfahrungen das Vertrauen in ihre Umwelt verloren haben, die hoffen besonders sehnlich darauf, wenn sie auch lange nichts davon sichtbar werden lassen. Der neue Lehrer weiß aber auch — denn er hat es o f t genug erlebt —, daß Vertrauen ansteckt, daß aus dem Vertrauen des Lehrers Selbstvertrauen im Kinde und daraus bessere Leistungen auf allen Gebieten wachsen. W a r u m sollte das, was so o f t vorangeholfen hat, nicht auch hier wirken? D a r u m sieht er auch in einem solch schwierigen Falle in der Stärkung des Selbstvertrauens im Kinde seine erste Aufgabe. Aus langer Erfahrung weiß er weiter, wie der Gedanke an die 79
mögliche Begrenztheit der Fähigkeiten im Kinde die Entfaltung der eigenen erzieherischen Kräfte hemmt. Darum versucht er nicht vorauszudenken oder vorauszusagen, wie weit oder wie wenig weit seine Arbeit mit solch einem Kinde wohl führen werde. Er hat zu oft erfahren, daß nicht die mitgebrachten Fähigkeiten der entscheidende Antrieb in der Entwicklung eines Kindes sind, sondern sein persönliches Interesse, seine Mitarbeit, seine Bemühung und seine Hingabe. So wird der Lehrer querst alles aus dem Wege räumen, was diese eigene Mitarbeit stören könnte und alles unterstützen, was Interesse und Bemühung weckt und wachhält. Nichts aber hemmt Lehrer wie Kind mehr, nichts zerstört schneller unsere und des Kindes Unbefangenheit, nichts untergräbt Zuversicht und Selbstvertrauen — die ersten und letzten Voraussetzungen des Gelingens — mehr, als der Gedanke an die „Grenze", die uns und den anderen zu nahe gesetzt sein könnte. Dazu kommt noch, daß diese „Grenze" in kaum einem einzigen der Fälle, die wir in der Volksschule in die Hände bekommen, unwiderruflich festzulegen sein wird. Es mag ein Zufall sein, daß im Falle des Karl die zuständige Stelle, die staatliche psychiatrische Klinik, von einer „dem Alter ungefähr entsprechenden Intelligenz" spricht und daß der Bub „bei einer gütigen, wohlwollenden und verständnisvollen Leitung leicht lenkbar sei und selbst an einer Normalschule gut mitkommen könne" — während die Hilfsschule auf der teilweisen Schwachsinnigkeit besteht, die eine Besserung ausschließe. Es könnte aber auch mehr als ein Zufall sein; nämlich wieder ein Beweis dafür, daß der völlig Eingeweihte aus der Fülle seiner Erfahrung und seiner Einsicht in die Untergründe, wie aus dem weiten Uberblick über die dazu gehörigen Erscheinungen mit einem Urteil sorgfältig zurückhält, das alle weitere Entwicklung ausschließt und auch da noch vermeidet, eine Grenze zu setzen, wo die Schule auf Grund acht Jahre langer Mißerfolge sich dazu berechtigt fühlt. Wie aber, wenn der neue Lehrer im Verlauf seiner Arbeit doch auf unzweifelhaft organisch bedingte Störungen, auf die konstitutionelle Grundlage eines geistigen Versagens kommt, wenn sich beispielsweise in einem ähnlichen wie dem hier beschriebenen Fall eine Ausfallerscheinung und Debilität wirklich einwandfrei und 80
unwiderruflich feststellen ließe? Muß er dann nicht alle weitere Arbeit als aussichtsloses Beginnen aufgeben? In der Medizin gewinnt die Beobachtung immer größere Bedeutung, daß alle organischen Störungen wo nicht verursacht, so doch umlagert und überlagert sind von psychischen Störungen, die das Krankheitsbild häufig um ein Wesentliches verschlimmern. Einen wie großen Anteil am Gesamtkrankheitsbild wir diesen psychischen Faktoren zuschreiben, ist f ü r uns Lehrer weniger wichtig als die Feststellung, daß sie wohl kaum in einem einzigen ider Fälle fehlen, die uns in der Schule unterkommen. Das macht unsere Arbeit auch im Falle wirklicher konstitutioneller Gestörtheit aussichtsreich. "Wie äußerst selten aber sind solche Fälle! Comenius wird recht haben: „Ganz Geistesschwache sieht man übrigens so selten als Menschen mit von N a t u r aus fehlenden Gliedern" (Große U n terrichtslehre XII/16). W e n n die Schule hier durch ihre Arbeit auch nur die psychischen Störungen zu beseitigen vermag, dann hat sie viel geleistet. Sie hat konstitutionell bedingte Unbegabtheit gebessert, sie hat — wie Alfred Adler es einmal zugespitzt formuliert hat — „aus einem Unbegabten einen Begabteren gemacht". Die heutige Praxis dagegen mit ihrer o f t eilfertigen Berufung auf die angeblich „angeborene Unbegabung" beim Auftreten der ersten großen Schwierigkeiten setzt sich der Gefahr aus, zu f r ü h oder überhaupt zu Unrecht die Bemühungen abzubrechen. Sie schadet so jenen Kindern, die tatsächlich organisch gesund, nur psychisch entmutigt sind; sie macht „aus Begabten Unbegabtere". Vielleicht sitzen doch mehr solche Kinder wie Karl auf den letzten Plätzen der Volksschulen und in den Hilfsschulen als wir es glauben wollen? Wie hätte sich der Lehrer der 3. Klasse anders verhalten können? Er hat längst Vorzüge und Nachteile der Hilfsschule gegeneinander abgewogen. Was sie vor der Volksschule bei der Behandlung weit zurückgebliebener und geistesschwacher Kinder voraus hat, ist die d a f ü r besonders vorgebildete Lehrerschaft, sind die ganz kleinen Klassen und die stark herabgeminderten Lehrziele, die f ü r den einzelnen Lehrgegenstand viel Zeit lassen; ist außerdem der U m stand, daß das in der Volksschule versagende Kind in der Hilfs6 Simon,Verstehen und Hellen
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schule, unter lauter gleich Schwachen, wieder eine Chance hat, aus der Rolle des Schlechtesten in der Klasse herauszukommen. Dem gegenüber steht auf der Minusseite, daß das Kind in der Hilfsschule aus der Gemeinschaft der Gesunden und Normalen ausgeschlossen ist. Das m u ß schwere Folgen für das Selbstgefühl jedes Kindes haben. Die Gefahr, daß aus einer Teilstörung eine Störung des gesamten Seelenhaushaltes im Kinde wird, daß — wie bei Karl — aus einem sehr schlechten Leser oder Rechner ein Mensch wird, dessen ganzes Wesen bedroht ist, diese Gefahr ist in der Hilfsschule ungleich größer als in der Volksschule. Der Lehrer wird die Sicherung ungenügend finden, die verhindern soll, daß Kinder in die Hilfsschule aufgenommen werden, die nicht hineingehören. Das Kind sitzt in der Aufnahmeprüfung verloren zwischen drei Autoritäten, dem bisherigen Lehrer, dem Schulleiter und dem künftigen Hilfsschullehrer. Es muß sich verlassen und ausgeliefert vorkommen. Alles spricht gegen es, am meisten sein eigenes bisheriges Versagen. Die Gefahr ist groß, daß völlig normale, nur im Lernen weit zurückgebliebene Kinder der Hilfsschule übergeben werden. Bedenklich kann auch das stimmen, daß so wenige Kinder je wieder in die Normalschule zurückkehren können. Der neue Lehrer denkt an seine Schulklasse und will ihr auf gar keinen Fall dadurch die unersetzliche Gelegenheit nehmen, mitmenschlich sehen und handeln zu lernen, daß er alle Schwierigen in die Fürsorgeerziehungsanstalt und alle weit Zurückgebliebenen in die Hilfsschule überweist. Er würde sie dadurch der Möglichkeit berauben, zu erleben, wie aufrichtend es ist, in einem Kreis von Nachsichtigen und zur Hilfe Bereiten aufgenommen zu sein und würde der Klasse die Gelegenheit nehmen, ihren Gemeinschaftsgeist täglich praktisch zu üben. Alle diese Überlegungen werden unseren neuen Lehrer abhalten, ein Kind wie Karl es in der dritten Klasse war, wegzugeben. Er wird mit ihm anfangen, wie er mit allen Kindern anfängt. Aus ein paar vertrauenden Worten zu Anfang spürt das Kind den Glauben des Lehrers, daß man trotz der Schwierigkeit vorankommen wird. Schon nach ein paar Wochen wird die Nachhilfearbeit unterstützt durch die Mitarbeit eines geeigneten Helfers aus den Reihen 'der Kameraden. Die Klasse bekommt einen 82
kurzen Hinweis auf die besondere Schwierigkeit, mit der der Bub zu tun hat; sie begleitet seine ersten sichtbaren Fortschritte mit Aufmerksamkeit. Sie sieht, wiederum hingewiesen durch gelegentliche W o r t e des Lehrers, auch seine guten Seiten und er sieht sich als Gleichberechtigter in ihren Kreis aufgenommen — trotz seines teilweisen Versagens. Der Lehrer wird nach seinen früheren Erfahrungen einen Widerstand gegen seine unterrichtlichen Bemühungen vom Kinde geradezu e r w a r t e n . Er weiß von sich selbst, von großen und kleinen Mitmenschen, daß man an Arbeiten, die einem schon große Mißerfolge eingetragen haben, mit erhöhtem Mißtrauen, mit Widerwillen u n d innerer Abneigung geht. Man fürchtet eine neue Niederlage und möchte sich dagegen schützen. Er versteht, daß hier bei dem achtjährigen Kinde nach zwei Jahren Mißerfolgen dieses Mißtrauen und dieser Widerstand besonders groß sein muß. Er wird darum eine längere Erfolglosigkeit der unterrichtlichen Nachhilfe als ganz natürlich von vorneherein in die Rechnung stellen und nicht als Bestätigung einer krankhaften Veranlagung ansehen. Er erklärt sich sogar die auffallende und hartnäckige Schwäche des Kindes, daß es noch nach Wochen i-ie-ei und n-m nicht voneinander unterscheiden kann, als einen psychischen Abwehrmechanismus. Hier, auf der ersten Seite der Fibel, hatten nach dem fehlgeschlagenen ersten Versuch alle weiteren Bemühungen eingesetzt; hier hatte jeder Lehrer mit ganzer K r a f t versucht, ihn auf den Klassenstand zu bringen — hier mußte die ängstliche, mutlose, am Gelingen schon verzweifelte Psyche besondere Hemmungen einbauen, die vor weiteren Angriffen schützten, die auch wirklich das erreichten, was sie — unbewußt — bezweckten: man ließ ihn immer bald wieder in Ruhe. Dieser erwartete Widerstand also wird die Arbeit nicht zu stören vermögen. So hätte der neue Lehrer die Arbeit mit Karl in der dritten Klasse begonnen. Er hätte damit dem Kinde sechs bittere Jahre erspart und ihm ebenso viele Jahre gesunder und froher Entwicklung geschenkt.
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EIN WILDER
MANN
(1928) ERSTER
EINDRUCK
Die jetzt folgende Schulgeschichte wird — insbesondere in ihrem ersten Teil — Situationen zu berichten haben, die im Leser zunächst Widerspruch, vielleicht sogar verärgerten Widerspruch auslösen werden. „ D a s geht aber nun doch zu weit", wird er sagen. „Soviel kann sich ein Lehrer nicht bieten lassen. Hier verlangt auch eine weitherzige Auffassung eine kräftigere H a n d als die im Bericht gezeigte. Wenn man ein K i n d auf solche Weise sich ungestraft austoben läßt, wird man dem Ansehen auch des besten Lehrers schaden. Es muß ein Mittelweg zu finden sein, der nicht in die alte autoritative Strenge des Lehrers, aber auch nicht zur wilden Anarchie des Schülers führt." Wir können hier, wo noch eine genauere Kenntnis der besonderen Umstände fehlt, den Leser nur bitten: Haben Sie Geduld! Stellen Sie ein abschließendes Urteil so lange zurück, bis Sie das ganze Kinderschicksal kennengelernt haben, bis Sie auch den Weg in Gedanken nachgegangen sind, den wir — die Klasse, der Bub und ich — in drei Jahren miteinander gegangen sind. Die oben gebrachten Einwände sind aber wichtig. Man kann sie nicht ernst genug nehmen. Wir werden am Schluß dieses Berichtes auf sie eingehen. *
Markus war mir, als er zu uns in die dritte Klasse kam, nicht mehr ganz unbekannt. Ich hatte ihn einige Male in einer Erziehungsberatungsstelle gesehen. Er war dorthin gebracht worden, weil er sich in der Schule außerordentlich schlecht führte, weil er dort nicht mehr mitarbeitete und weil er sich auch im H o r t so benahm, daß die Hortleiterin erwog, ob sie ihn nicht ausschließen 84
sollte. Bei den Besprechungen mit dem ärztlichen Leiter der Beratungsstelle aber machte er nicht den Eindruck, als sei er wesentlich schwieriger, als man es dort vom Durchschnitt zu sehen gewohnt war. Aus der Schule wußte ich, daß er bei den Lehrern in keinem guten Ruf stand, daß er bei den gleichaltrigen und größeren K a meraden unbeliebt und von den Kleineren wegen seiner Gewalttätigkeit und Grobheit sogar gefürchtet war. Auf mich machte das alles aber keinen besonderen Eindruck, weil man — ohne besonders hellhörig d a f ü r zu sein — aus den Berichten über seine Missetaten heraushören konnte, daß sich alle Menschen seiner Umgebung zu ihm nicht gerade richtig verhalten hatten, daß er sehr viel geschimpft und gestraft, daß er z. B. in der Schule zu jener Zeit fast täglich körperlich gezüchtigt worden war. Etwas deutlicher wurde sein Bild durch die Berichte, die mit den Schulakten kamen. Es sind dies zusammenfassende Urteile, die am Ende jedes Arbeitsjahres eingetragen worden sind. Der Kindergarten schreibt: „Ein Kind, das schon längst schulreif wäre. Dadurch, daß alle Geschwister sehr viel älter sind als er, ist er sehr selbständig in allem und hat f ü r Fußball mehr Interesse als f ü r Spielzeug. Er ist unglaublich eigenwillig. Wenn etwas gegen seinen Willen geschieht, gibt es förmlich Kämpfe, bei denen er mit Händen und Füßen arbeitet, aus Zorn brüllt und um sich schlägt. Er ist den anderen Kindern gegenüber sehr gewalttätig, schlägt und streitet o f t und neckt und ärgert die Kinder gern. Er ist wie ein junges Pferd, das einfach zuviel K r a f t hat und nicht weiß, wohin damit. T r o t z allem ist er kein schlechtes oder boshaft veranlagtes Kind; außer seinem stark ausgeprägten Eigensinn; er hängt z. B. sehr an der T a n t e und schmeichelt sogar. Seine Handfertigkeit ist nicht sehr groß." Der H o r t berichtet: „(Erste Klasse) M. ist ganz und gar ungezogen, er ist in all seinem T u n vollständig hemmungslos, kennt keine Grenzen, weder im Guten noch im Bösen. Er ist körperlich sehr kräftig und weiß scheinbar o f t nicht, wohin mit seiner überschüssigen K r a f t . Daraus erklärt sich wohl sein lautes und rücksichtsloses
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Gebaren, das ihn kennzeichnet. Für manuelle Tätigkeit ist er nicht ungeschickt und zeigt auch viel Freude dazu; er will aber immer sofort bedient sein, kennt keine Rücksicht, kein Sichfügen. Ganz allmählich bessert er sich wohl und paßt sich der Gemeinschaft an, doch fällt er immer wieder in seinen alten Fehler, was aber mit zunehmendem Alter und besserer Einsicht sich seltener wiederholen dürfte. Einstweilen braucht er noch viel Geduld und wohl auch Güte, wenngleich er instinktiv immer die Autorität fühlen muß, sonst benimmt er sich sehr ,urwüchsig'. (Zweite Klasse.) Erster Eindruck: ein unerfreulicher Bursche, unfähig sich in irgendeiner Beziehung anderen Kindern und dem Betrieb anzupassen. Bei jedem Anlaß (wenn er gemahnt wird, wenn er nicht alles erreicht, was er will) liegt er auf dem Boden und strampelt mit Armen und Beinen und brüllt dazu. Die Mutter erscheint häufig, benimmt sich immer gereizt, angreifend, schreiend; sie ist immer besorgt, daß ihr Junge schlecht behandelt, mißverstanden, ,verdorben' wird. H a u p t eigenschaft, die an M. auffällt, ist Grobheit, Rücksichtslosigkeit, Roheit. Bei einem Spaziergang w i r f t er einen anderen Jungen, der kaum bekleidet ist, in hohe Brennesseln. W i r f t mit Werkzeug um sich, fühlt sich immer angegriffen. Auch wenn eine Arbeit mißlingt, w i r f t er blindlings um sich. Für Arbeit, die eine Bemühung voraussetzt, ist er zu ungeduldig. Bekommt häufig Geld von der Mutter, um das er sich immer Süßigkeiten kauft. (Dritte Klasse.) M. ist das jüngste Kind und wird von seiner selbst sehr unerzogenen Mutter verwöhnt. Daraus erklärt sich sein kleines Herrenwesen, das sich überall im Mittelpunkt fühlen will. Die kleinen Wutanfälle, die zeitenweise sehr häufig sein können, weisen ein Übermaß von gesundem T r o t z und Eigenwillen auf. Erlebt in den Schule sehr wenig Schönes, muß ständig zurückbleiben. Im H o r t erweist er sich als durchaus tüchtig und überraschend vernünftig in kleinen Dingen. Ist wesentlich aufgeschlossener u n d weniger gereizt als früher. Mit .Autorität' ist bei diesem Kind nichts zu erreichen." Die Schule urteilt: „(1. Klasse) Schulreife noch nicht erreicht — zurückgestellt." Mündlicher Bericht aus dieser Zeit: „Fast idiotisches Benehmen."
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„(1. Klasse, ein J a h r später) H a t sich gar nicht in der Hand. Konzentration, audi für kürzeste Zeit, muß erzwungen werden. Im übrigen kann er sich lange und hingegeben in ein Grimmassieren, eine Bewegung seiner Hände und Füße vertiefen. Seine anfänglich kaum ertragbare Flegelhaftigkeit ist besser geworden. Auch einen heftigen Eigensinn und ebensolchen Widerspruchswillen hat er ziemlich abgelegt. Die Mutter ist vergafft in den Buben. N B ! H a t das Klassenziel nur mit Mühe erreicht. (2. Klasse) Von schier krankhafter Unbeherrschtheit; roh, flegelhaft, gewalttätig; droht, seine Mitschüler aus nichtigen Ursachen zu schlagen, zu erschlagen, hat auch schon einige verletzt, ist in seiner Wut, besonders wenn er glaubt, ausgelacht zu werden, fast von Sinnen und wenn unbeaufsichtigt, geradezu gefährlich. Folgen, ein Spielzeug weglegen, hergeben, mitlesen kann er nur unter Widersprechen und Schimpfen. Bei jeder körperlichen Strafe (1 Tatze) gab es eine Szene; nun hat er sich ja gegen Ende des Schuljahres etwas gebessert, ist — soweit man das von ihm sagen kann — etwas fügsamer geworden, stört aber den Unterricht immer noch oft genug durch seine Unruhe, durch Gaudimachen, er mag isoliert sitzen oder nicht. Der Bub paßt in keine Normalschule. Seine Leistungen sind mangelhaft infolge seiner geringen Konzentration; er wäre normal begabt. Von einer Uberweisung an die Hilfsschule wollen die Eltern nichts wissen. M.s Verhalten entspringt nicht gerade boshafter Veranlagung; Lob und Tadel machen einen, wenn auch kurzen Eindruck; er ist dienstbeflissen gegen die Lehrerin und bemüht sich ebenso um ein Ehrenamt wie die anderen Kinder. Im allgemeinen aber ist er ein ständiger Ärger für die Klasse. (3. Klasse) Im ganzen wie im Vorjahr. Ein ständiger Störenfried. Tagelang
völlig teilnahmslos. Hemmungslos und un-
beherrscht schimpft er Lehrer
und Lehrerin
ins Gesicht. In
seltenen Fällen auch wieder zutunlich. Repetiert!" Die Noten aus der letzten Klasse (bei 5 Notenstufen): Fleiß 4, Betragen 4, Religion 4, Deutsche Sprache 5, Heimatkunde 4, Rechnen 5, Singen 4, Turnen 4. D a ß er mit keinem von seinen bisherigen Erziehern, daß keiner von denen mit ihm auszukommen vermochte, deutete nun schon
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darauf hin, daß die Schwierigkeiten doch größer sein mußten als es zuerst den Anschein hatte. Trotzdem war mein Vertrauen, daß es gelingen werde, mit ihm in ein gutes Verhältnis zu kommen, dadurch nicht erschüttert. Denn gerade solche Buben, die mit früheren Lehrern sehr schlechte Erfahrungen gemacht, die sehr viel Strafe bekommen haben, sind nach unseren Erfahrungen, auch wenn es früher schon zu Ausschreitungen gekommen ist, bei uns manchmal von selbst, allein durch die freiere L u f t und das menschliche Eingehen auf ihre Schwierigkeiten in Ordnung gekommen. So war ich doppelt gespannt auf den ersten Schultag; es erwartete mich eine neue Klasse, 35 acht- bis neunjährige Buben, und aus der vorhergehenden der sitzengebliebene Markus. In der Vorviertelstunde dieses ersten Schultages kommen sie nacheinander an, suchen sich einen Platz, machen dabei gleich alle einen sehr netten, freundlichen Eindruck. Es läutet. Wir beginnen. Nach einer Viertelstunde klopft es. Draußen steht Frau K., hinter ihr, an sie gedrängt, weinend Markus. „Entschuldigens H e r r Lehrer, daß wir so spät kommen; aber ich hab ihn mit Gewalt herüberzerren müssen; er will um keinen Preis mehr in die Schule gehen. Er fürchtet, daß er wegen des Sitzenbleibens ausgelacht wird." Ich: „Da brauchst du keine Angst zu haben; bei uns ist noch keiner ausgelacht worden. Wirst sehen, es sind nette Buben, zu denen du da kommst. Bloß klein sind sie noch. D a bin ich jetzt richtig froh, daß du gekommen bist; so hab ich doch einen großen und starken Burschen, der mir vor und nach der Schule mein R a d besorgen kann. Das könnten die da drin doch nicht. Das ist gerade ¿eine schöne Arbeit f ü r dich. Jetzt aber gehst hinüber zum Brunnen und wäschst dich ab; sonst meinen die drinnen, es hat wer weiß was gegeben." Nach einigen Minuten kommt er herein und setzt sich ganz allein in die hinterste Bank, von den anderen getrennt durch mehrere Bänke. Wir setzen unsere vorher begonnenen Bekanntmachungsgespräche fort. Nach einer Viertelstunde sage ich beiläufig: „In der 3. Klasse wird auch auf die W a n d t a f e l kleiner geschrieben als in der zweiten; ich würde euch darum raten, euch weiter vorzusetzen. Ich glaub, f ü r den Markus wäre der Platz da (einer ohne Zwischenraum zwischen ihm und den anderen) ganz praktisch." Er nimmt seine Sachen und zieht vor; sitzt aber auch jetzt noch
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allein. „Da neben Markus ist noch ein Platz frei; wer möchte sich gerne dahin setzen?" Keine Meldung. Indem ich mir nun in der Eile einen ungefähr gleich großen und freundlich aussehenden Buben heraussuche: „Möchtest du dich nicht zum Markus hinsetzen? Ihr würdet, scheint es, gut zusammenpassen, ihr seid ungefähr gleich groß und gleich stark und könntet vielleicht später einmal gute Freunde werden; möchtet ihr's nicht ausprobieren, ob ihr zusammenpaßt?" Er sagt zu und zieht hinüber. Wir machen weiter. Markus verhält sich völlig still. Nach einer Stunde ist ein Rundschreiben fortzutragen. Ich schicke ihn damit fort. In seiner Abwesenheit spreche ich zur Klasse: „Ihr habt gesehen, wir haben jetzt den Markus bei uns. Die meisten werden ihn schon kennen. W e r ihn nicht kennt, wird ihn bald kennen lernen. Er hat in seinen früheren Klassen viel U n f u g getrieben. Aber ich könnte mir denken, daß er bei uns diese Geschichten langsam bleiben läßt. Denn ihr wißt doch, zu jedem Theater gehören nicht bloß die Spieler, sondern auch die Zuschauer, die Beifall spenden, klatschen und Bravo rufen. Wenn die Zuschauer fehlen, macht es den Spielern keinen Spaß zu spielen. Markus war auch so ein Theaterspieler; er hat bisher immer großes T r a r a gemacht mit Fluchen und Schimpfen und Dreinschlagen. Wenn ihr ihm nun heuer die Zuschauer nicht macht, wenn ihr nicht lacht oder Ui! macht oder ihn bewundert, sondern tut, als ob ihr überhaupt nichts hörtet (ich werde das gleiche tun) — ihr werdet sehen, er läßt's mit der Zeit bleiben. Besonders, wenn ihr sonst zu ihm nett u n d freundlich seid und euch durch gar nichts drausbringen laßt. Ihr seht nett und vernünftig aus; ich glaub, das könnten wir miteinander fertig bringen." Er kommt zurück, wir machen weiter. Ich kann gleich vorausnehmen: die Klasse hat ihre Sache ausgezeichnet gemacht. Ich habe sie alle paar Wochen mit einigen Sätzen daran erinnert, ihre Mitarbeit und den Erfolg davon anerkannt. Sie hat sich zwei- oder dreimal vergessen und an einer unpassenden Stelle gelacht; ein erinnernder Wink mit den Augen hat jedesmal genügt, sie sofort wieder ins rechte Geleise zu bringen. Zunächst aber war gar nichts zu lachen oder zu entsetzen, denn Markus saß die ersten drei Tage still auf seinem Platz, tat zwar nicht mit, träumte, zeichnete, beschäftigte sich sehr ausgiebig mit seinen Händen und Füßen — war aber völlig still. Ich hatte mir
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— nach früheren Erfahrungen mit frechen Schülern — auch von Markus für die erste Stunde eine Antrittsvorstellung erwartet, in der er seine bisher geübten Künste, in einer kurzen, eindrucksvollen Szene zusammengedrängt, vorführt. Daß sie ausblieb, stärkte meine Hoffnung, daß wir ihn vielleicht doch ohne große Maßnahmen für uns gewinnen werden. Am vierten Tag machte er den ersten dicken Strich durch solche Hoffnungen. Er war schon finster und unfreundlich am Morgen zur Türe hereingekommen. Erste Stunde: Rechnen. „Jetzt werden wir die Rechengeschichten von gestern zuerst fertig machen" — da kommt es laut, entschieden und wütend aus der Ecke von Markus: „Kruzifix, scho wieda rechnen; du konnst mi gern habn, i mag not." Er setzt sich halbrechts in die Bank, nimmt seinen Bleistift zur Hand und spielt mit ihm bis zur Pause. Zweite Stunde: „Teilt die Hefte aus; wir wollen es jetzt mit der neuen Lineatur versuchen." — Markus ebenso wütend: „Kruzifix, scho wieda schreibn; am A . . . kannst mi lecken; i schreib nöt"und so an dem Tag und an den folgenden, bei jeder Gelegenheit (obwohl ich niemals an ihn eine besondere Aufforderung gerichtet, sondern mich immer an die ganze Klasse gewendet hatte), immer mit der gleichen Heftigkeit: ein Fluch, eine Beschimpfung und die Ablehnung seiner Mitarbeit. Das war nun also doch die Antrittsvorstellung und ich muß gestehen, daß sie — gerade weil ich sie nicht mehr erwartet hatte — ihren Eindruck auf mich nicht verfehlte. Mir ging eine Ahnung auf, daß mein Optimismus diesmal verfrüht gewesen war. Es kam bald mehr. Während solch einer Szene, wo er gegen „dieses Scheißrechnen" schimpft, midi einen „Kruzifixhund" nennt, der „lang warten könne" bis er mittut, mir prophezeit: „Da kannst alt werdn, bis i was tu" — alles erfüllt von Wut und Erbitterung, schaut einer aus der ersten Bank nach ihm um. Er steht auf, geht vor, zieht aus und versetzt ihm — es geht so schnell, daß ich es nicht verhindern kann — eine klatschende Ohrfeige. Oder: Wir schreiben ins „schöne H e f t " . Er hat ein paar Zeilen sehr flüchtig und schlecht geschrieben, legt die Feder weg, holt seinen Schwamm heraus und vergnügt sich nun damit, daß er ihn langsam ausdrückt, den Wasserfleck mit Tintentropfen vermischt und daraus ein großes Gemälde auf seiner Heftseite macht.
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O d e r : Wir schreiben auf die Tafel. Er schreibt abwechselnd ein paar Worte, dann zeichnet er auf die Rückseite. Plötzlich ärgert er sich über etwas, w i r f t seinen Griffel auf den Boden, d a ß er zerspringt, packt seine T a f e l und zerschlägt sie an der Kante seiner Bank. Bald hat er auch seinen ersten Zusammenstoß mit dem Religionslehrer. Er stört auf seine Weise auch den Religionsunterricht. Das trägt ihm zunächst eine Mahnung ein. Er schimpft darüber. Es gibt eine kurze Auseinandersetzung, die damit endet, daß ihn der Religionslehrer leicht an den H a a r e n zieht. Jetzt beginnt er zu toben: „Kruzifix, i sags scho meiner Mutter; man darf Kinder nicht an den H a a r e n ziehen. Jetzt kannst mich ganz gern haben, jetzt geh i überhaupt nicht mehr in die Kirche." So vergeht keiner der ersten vierzehn Tage ohne wenigstens eine große Skandalszene; meist sind es deren drei oder vier pro Tag. Daneben liebt er aber noch andere Mittel der Störung. W i r gewöhnen uns allmählich daran, daß er mitten in die Stille irgendeiner Arbeit plötzlich sehr laut rülpst, in die H ä n d e klatscht, gröhlt, schmatzt, mit seinen schweren Schuhen auf dem Holzrost seiner Bank herumstampft. Aus dem H o r t wird berichtet, daß er in einem W u t a n f a l l ein Werkzeug, das er gerade in der H a n d hatte, mitten in eine ahnungslos danebenstehende Gruppe Kinder warf. Oder daß er nach einem Streit mit einem Kameraden dabei betroffen wird, wie er sich aus einem Lederstreifen eine Peitsche zusammenmacht und sie mit durchgesteckten spitzen Nägeln spickt. Auf die Frage, was er denn damit wolle, antwortete er: „ J a moana Sie denn, der soll nöt spürn, wenn ichs ihm nüberhau." Nach den ersten vierzehn Tagen war mir klar, daß dies doch der schwierigste Fall ist, den ich je in einer Klasse gehabt habe. Alle Versuche, an ihn heranzukommen, wurden von ihm in schroffster Form abgelehnt; ebenso waren alle Bemühungen danebengegangen, ihn zur Mitarbeit zu bewegen. Er träumte, randalierte, zeichnete f ü r sich, beteiligte sich an keiner gemeinsamen Arbeit und war aus meist undurchsichtigen Gründen gegen alle und alles ablehnend. W e n n es überhaupt gelingen konnte, ihn f ü r die Mitarbeit und Kameradschaft zu gewinnen, so mußte man gründlich u n d mit allen Mitteln zu Werke gehen.
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DIE
HAUPTSCHWIERIGKEITEN
Der
Wutanfall
Das, was nach meinen Vorgängern auch mir von Anfang an den stärksten Eindruck an dem Burschen gemacht hat, waren seine W u t anfälle; daß er aus scheinbar nichtigsten, meist sogar unerklärlichen Gründen seine Sachen zertrümmerte, in Verwünschungen ausbrach und maßlos und scheinbar wahllos um sich schlug. Das Auffälligste und Unerwartetste aber war, daß er am Ende solch eines Wutausbruches immer weinte, sogar dann, wenn er „gesiegt" hatte. Bei flüchtigem Hinsehen sah es außerdem so aus, als käme solch ein Ausbruch plötzlich, aus dem Nichts heraus. Dieser Anschein aber hat getäuscht. Dem Anfall geht immer eine Vorgeschichte voraus, freilich meist eine fast unsichtbare, nur dem genauen Beobachter merkbare. Eine d a f ü r typische Situation: W i r rechnen still, er auch (es ist in der 4. Woche). Ich merke, er kommt bei einer Rechnung nicht weiter. Er flucht leiser und lauter vor sich hin: „Kruzifix, Kruzifix, diese Scheißrechnung." — Jetzt darf bloß einer aus der Klasse zufällig zu ihm hinschauen oder sein Nachbar sagt f ü r sich rechnend eine Zahl etwas lauter als sonst — schon bricht die W u t aus; er gibt denen eine Ohrfeige oder einen derben Puff, löscht seine bisherige Arbeit — auch wenn er schon weit voran oder gar fertig ist — voll Zorn ab, w i r f t sich auf die Bank hin und weint, daß es ihn stößt. Also: Voraus geht immer eine Widerwärtigkeit oder Schwierigkeit, die ihm zu groß erscheint. Diese Schwierigkeiten in der Arbeit kommen nun auch f ü r die anderen; nur reagieren die anderen anders: einige hören auf, beschäftigen sich mit anderen Dingen, gehen auf den Abort, kommen heraus u n d fragen oder packen die Sache nochmal allein an — er hat keine dieser Möglichkeiten. Nach meiner Beobachtung ist also die Wurzel jedes solchen Anfalls die, daß er sich zuerst über sein Unvermögen ärgert und dann diesen Ärger auf die anderen abreagiert. Er ist also — so erstaunlich dies bei ihm klingen mag — im G r u n d doch ehrgeizig, denn sonst würde er dies Nichtbewältigen der Schwierigkeit nicht so tragisch nehmen. Sein Anfall aber ist dann auch nicht Aggressivität, sondern die Abwehr einer Hilfslosigkeit. 92
Wenn etwas an ihm abnorm ist, so dies, daß die Hilflosigkeit so schnell und wegen äußerlich so gering scheinender Ursachen auftritt. Wenn man der wirklichen Wurzel der Schwierigkeit beikommen will, kann man nicht am Ende der Reihe — beim Wutausbruch — anfangen, sondern muß am A n f a n g , bei der Hilflosigkeit beginnen. Man muß versuchen, ihm zu helfen, mit ihr fertig zu werden, muß alles tun, ihn stärker und widerstandsfähiger zu machen. Es sind also nicht die einzelnen Anfälle zu unterdrücken, sondern die ganze H a l t u n g des Buben zu ändern. In einem Buch, das sich mit der Geldwirtschaft und in einem besonderen Abschnitt mit dem Sturm auf die Banken im J u l i 1931 beschäftigt, wird eine hübsche Geschichte erzählt. Ein Bauer kommt zu seiner Sparkasse und will die 50 M, die er das J a h r vorher eingelegt hat, zurückhaben. Der Beamte legt ihm einen Fünfzigmarkschein auf den Schaltertisch. Der Bauer nimmt den Schein, betrachtet ihn genau von vorne und hinten, legt ihn hin, schiebt ihn zurück und sagt, lächelnd mit dem Finger drohend: „Ich wollte bloß sehen, ob ihr ihn noch habt." D e r Verfasser fährt fort: „ I n einer Geldkrise gilt immer die alte Regel: man soll sich der U n v e r n u n f t der Leute, welche B a n k g u t h a b e n . . . abheben wollen, möglichst wenig widersetzen. D a n n hören nämlich die Angst und die Abhebungen sofort a u f . " Dasselbe bezweckt mein Verhalten zu Markus, d. i. mein Nichteingreifen im Augenblick eines Wutausbruches. Nämlich: ich will mich seiner U n v e r n u n f t möglichst wenig widersetzen, in ihm nicht durch meine Gegenmaßnahmen den Schock und den Z w a n g steigern, ihn auf diese Weise allein und von sich aus wieder zur Vernunft kommen lassen und endlich — ein egoistischer G r u n d — mir möglichst viele Niederlagen ersparen. Denn in solchen Augenblicken wird jeder Eingriff zur Niederlage f ü r den, der ihn zur V e r n u n f t bringen will, auch wenn der es noch so richtig meint und es noch so ruhig und verständig versucht. Der Bub wirft in solchem Zustand mit Worten und T a t e n blindlings um sich. D a s heißt nicht, daß nun überhaupt nichts dagegen geschieht, sondern nur, daß im Augenblick des Wutausbruches aus der Erfahrung der Nutzlosigkeit jedes Eingreifens nicht eingegriffen wird.
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Die Feigheit Wenn Klagen von außen kommen, daß er jemand verprügelt hat, so immer von Buben der 1. und 2. Klasse; noch nicht einmal aus einer höheren Klasse. Ebenso geht er auch in der Klasse immer nur an die Schwächeren. Sogar bei Wutanfällen, die scheinbar spontan und urplötzlich ausbrechen, steht er nie in der Nähe eines, von dem er nicht ganz sicher weiß, ob er sich nicht doch sehr energisch zur Wehr setzen wird. Eine sehr typische Geschichte für diese Seite seines Wesens erzählt die Hortleiterin: Die Kinder kommen vom Spielen aus dem Schulhof und stellen sich im Treppenhaus auf. Markus trägt ein Brett, Paul (ein kleiner, körperlich sehr unterentwickelter Bub, der viel krank ist, und dem der Markus an Körperkraft haushoch überlegen ist), ein Sprungseil. Sie geraten aus irgendeinem Grund in Streit miteinander. Markus schlägt dem Paul das Brett auf den Kopf. Paul läßt sich nicht einschüchtern und schlägt dem weit stärkeren und größeren, 2 Jahre älteren Markus das Seil ums Gesicht. Was tut Markus darauf? Er gebraucht seine körperliche Überlegenheit nicht, sondern fängt zu weinen und zu fluchen an und schlägt in äußerster Wut das Brett an die Mauer, daß ein großes Stück Verputz herausfällt. Er hat es nicht gewagt, seinerseits nochmal den Paul anzupacken, frißt die Wut in sich hinein und reagiert sie an einer ungefährlichen Stelle ab. So wie hier verhält er sich überhaupt: sobald er entschiedenen Widerstand spürt, zieht er sich zurück. Gerade diese innerste Feigheit macht es auch wahrscheinlich, daß er, wenn er zu einem konsequenten, unbeugsamen, mit allen Mitteln der Schulzucht strengen Lehrer kommt, seinen äußeren Widerstand aufgibt. Es wird mich durchaus nicht überraschen, wenn ich in einigen Jahren von einem solchen späteren Lehrer zu hören bekomme: „Sehn Sie, man braucht nur konsequent zu sein, dann gibt er schon klein bei." Das ist bisher noch nicht geschehen, man hat es in der Schule doch immer noch abwechselnd mit „Güte und Strenge" versucht, und zu Hause steht gegen den strengen, aufbrausenden Vater immer noch auf der Seite des Markus die Mutter, die zu mildern und auszugleichen sucht. Die Schwierigkeiten wären also schon abzustellen, er wäre sicher zum Wohlverhalten zu zwingen, man könnte ihn schon „kurieren".
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W a s aber wäre für ihn gewonnen? W ä r e ihm damit geholfen? Ist es nicht ganz sicher, daß seine eigentlichen Schwierigkeiten nur noch ungemein vergrößert würden? Denn das, was er dabei in sich hineinfressen müßte,
käme
an einer anderen
Stelle
unbedingt
wieder heraus; nur wahrscheinlich nicht mehr in der immerhin noch leidlich ungefährlichen Form von heute, sondern früher oder später explosiv, gefährlich, höchstwahrscheinlich kriminell.
Auf lange
Sicht
Man kann wohl allgemein sagen: J e unsicherer ein Mensch im ganzen ist, desto hilfloser wird er, wenn ihn etwas unvorbereitet trifft. Markus ist dafür ein Musterbeispiel. Die kleinste Sache kann ihn, wenn sie plötzlich kommt, in maßlose W u t bringen. Dabei betrachtet er Dinge als Uberrumpelungen, die die anderen als völlig selbstverständlich
hinnehmen,
ja
oft sogar
als einen
gewissen
Reiz betrachten. Ein Beispiel: W i r üben in den ersten Wochen Rechtschreiben. Die zu schreibenden W ö r t e r stehen an der W a n d t a f e l . Zuerst lesen wir das W o r t , schreiben es ohne an die T a f e l hinauszusehen und vergleichen dann das Geschriebene mit dem, was an der T a f e l steht. Nach einigen Wörtern sage ich: „ W i r könnten es uns jetzt ein bißchen schwerer machen. W i r lesen das W o r t an der T a f e l , ich lösche es aus und ihr schreibt es auswendig. Meint ihr, das bringt ihr fertig?" Allgemeine freudige Zustimmung. Markus: „Da kannst mi gern habn, da tu i nöt mit." Er war auf die andere Art eingestellt. Diese plötzlich auftretende Schwierigkeit ist ihm zu groß. Er läßt eine Reihe von Wörtern aus und zeichnet währenddem auf sein Löschblatt. Nach dem achten oder zehnten W o r t nimmt er seinen Federhalter und schreibt mit. Nach einer Viertelstunde lasse ich haltmachen: „ J e t z t zum Schluß könnten wir noch eine Stufe weitergehen. Ich dreh meine T a f e l überhaupt um und ihr schreibt bloß nach dem Gehör. W e r meint, daß er's trotzdem fertigbringen wird?" Alle sind dabei, Markus verhält sich genau wie vorhin.
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Oder eine andere Situation: Wir haben einmal in der Woche, vom Mittwoch auf den Donnerstag, zu Hause eine Schreibaufgabe ins H e f t zu machen. Dazu besteht von A n f a n g an die Abmachung: wenn einer die Aufgabe nicht gemacht hat, kommt er am Donnerstag früh, ehe 'ich die Aufgabenhefte einsammle, zu mir heraus und sagt, daß er und warum er die Aufgabe nicht gemacht hat. Ich sage in dem Fall: „Wann krieg ich sie?" — „Heut Nachmittag" oder „Morgen f r ü h " ist die Antwort. D a n n ist sie auch bis jetzt immer gebracht worden und es hat wegen der Hausaufgabe nie Schwierigkeiten gegeben. Einzig Markus hat erst in der 15. Woche seine Aufgabe zum erstenmal am Donnerstag f r ü h gebracht. Die 14 Wochen vorher spielte sich jeden Donnerstag die gleiche Szene ab. Er brachte eine faule Ausrede (er wagte auch da nicht, wie die anderen, die Wahrheit zu sagen; alle wissen, daß ihnen die Arbeit ja in keinem Fall geschenkt wird und sagen mir darum ruhig: „Ich hab bis zum Abend Fußball gespielt" oder „Ich war so lange beim Baden"). Ich sagte ihm dann wie den anderen in solch einem Fall: „ W a n n bringst sie?" Er versprach, sie bis zum Freitag zu bringen; hat sie aber dann doch nicht. Ich: „ N a ja, du kommst halt zu Hause und im H o r t nicht dazu; schreibst sie eben in der Schule, da hast du deine Ruhe. Heute also um 11 U h r . " Das war u m ' 8 Uhr. Er hat sicher gehofft, ich werde die Sache bis 11 Uhr vergessen oder ihm die Arbeit stillschweigend schenken, denn wenn dann um 11 Uhr die anderen gingen und ich zu ihm sagte: „Also Markus, fängst halt gleich an, damit du bald fertig bist", dann begann er zu toben. Er schmiß das H e f t in einen Winkel, warf Griffel und Federhalter an die W a n d , stampfte in der Bank herum, fluchte sein Repertoir herunter, zerknüllte das H e f t , trommelte wütend auf seinem Tisch und tat nichts. Ich saß draußen und sah die H e f t e durch. Das ging so eine Viertelstunde. D a n n wurde es allmählich ruhig, ich sah, daß er zwischen den Bänken herumkroch und seine Sachen zusammenholte und dann anfing zu arbeiten. Nach einer halben Stunde kam er heraus und zeigte mir die Aufgabe. Sie war nicht einmal so schlecht geschrieben, wie ichs erwartet habe: „ N a also, jetzt bist du fertig. D u könntest ja schon lange zu Hause sein, wenn du die Zeit nicht zuerst mit dem Theater vertan hättest. Ich bin auch gleich fertig (der Eindruck, daß man sich des Kindes wegen miteiijsperrt, muß bei solchen Nacharbeiten auf alle Fälle vermieden werden. Ich bin deswegen
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dabei immer außerordentlich beschäftigt) — also: „Ich bin auch gleich fertig. Wenn du noch drei Minuten Zeit hast, könntest du absperren und mir dann das R a d heraufholen." Markus, vor einer halben Stunde noch ein tobender "Wüterich, jetzt, da die Arbeit hinter ihm liegt, völlig verwandelt und freundlich, steht nun dabei und erzählt mir allerlei. Unten auf der Straße noch einmal kurz ein Blick auf die T u r m u h r : „Was, 5 Minuten vor 12 ist's schon? Donnerwetter, da wärst du ja schon längst beim Essen. Das nächste Mal also!" So also ging es sechs bis acht Wochen lang jeden Freitag. T r o t z des friedlichen Abschlusses vom Freitag vorher und obwohl er doch langsam gemerkt haben mußte, daß ihm sein Toben gar nichts hilft — prompt kommt jedesmal das gleiche Theater. Bis ich — aus der übrigen Erfahrung mit ihm, daß ihn die Dinge ungeheuer beeindrucken, die ihn unvorbereitet treffen — die Sache anders anpacke. Donnerstag f r ü h : Markus hat keine Aufgabe. Freitag f r ü h : Er hat wieder keine. „Machst's dann um 11 U h r . " U m 10 Uhr, während wir in den Hof hinuntergehen, hole ich ihn mir her: „Heute gäbe es wieder Gelegenheit f ü r dich, Theater zu machen. Damit hast du an den letzten Freitagen immer eine Viertelstunde von deiner guten Zeit vertrödelt. Ich sag dir's drum jetzt schon, damit du dich herrichten kannst: du hast jetzt gerade eine Viertelstunde Zeit, jetzt fluchst ein bißchen, haust ein bißdien rum, schimpfst ein wenig, wirfst deine Sachen herum — im Hof hast du Platz dazu —, dann kannst du um 11 U h r gleich mit der Arbeit anfangen und bist eine Viertelstunde früher fertig." Er schaut mich finster an, ich lache ihm gutmütig ins Gesicht, er kann ein ganz leises Schmunzeln doch nicht unterdrücken, läuft der Klasse nach und spielt mit ihr. Ich bin sehr gespannt, wie er's um 11 Uhr machen wird. Es läutet, die anderen stellen sich auf und gehen, Markus nimmt unaufgefordert sein H e f t heraus und fängt sofort schweigend zu arbeiten an und ist V i l l Uhr fertig. „Gut! D a schau her, es ist erst M l 2 Uhr. Das find ich vernünftig." Manchmal geht es in dieser Sache jetzt (Oktober!) schon ohne diese Hilfe; bei anderen Gelegenheiten braucht er sie schon noch. Es genügen dazu aber meist ein paar Worte. Zum Beispiel beim Rechtschreiben: „Beim übernächsten Satz werden wir eine kleine Schwierigkeit dazunehmen. Richtet euch gleich darauf ein." Oder ausführlicher zum Beispiel beim Rechnen: „Ich weiß, manche von euch lieben 7 Simon, Verstehen und Helfen
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Überraschungen nicht; sie möchten gerne immer im alten Stiefel weitertrotten. D a s Neue ist ihnen unangenehm. Aber neue "Wege sind auch ganz schön. Wie kann man diese Rechnungen anders machen? Wie kann man sie schwerer machen?" Oder kürzer: „Jetzt zehn leichte, dann zehn mittlere, dann zehn schwere." Nach dieser Vorbereitung macht er dann immer anstandslos mit. Er macht außerdem oft selbst Versuche, Übersicht über die noch bevorstehende Arbeit zu gewinnen. Es vergeht kaum ein T a g , daß er nicht fragt: „Wieviel mächen wir noch? Wieviel Zeit haben wir noch?" oder beim Diktat: „Jetzt schreiben wir noch drei Sätze, dann hören wir auf." Womit er es manchmal trifft, manchmal aber auch nicht. D a sag ich dann: „Mit drei Sätzen sind wir noch nicht ganz fertig. Ich habe hier noch sechs." Damit ist er dann auch zufrieden. So wie man im Kleinen bei ihm mit Überrasdiungen nicht viel Gutes erreicht, so ists auch im Großen. Auch da muß die Arbeit auf lange Sicht'eingestellt werden. Es war schon oft so, daß man mit einem Ruck vorwärtsgekommen zu sein glaubte und es sich dann sehr bald gezeigt hat, daß es bei ihm so schnell nicht geht. Ich glaube nicht, daß er da bewußt und absichtlich die Bremse anzieht, wenn ihm die Fahrt zu schnell vorwärtszugehen scheint. Aber seine Psyche funktioniert wie die unsere auch außerhalb des Bewußten ausgezeichnet. Ein Beispiel: Eines Tages steht er unangemeldet vor unserer Wohnungstür: „Habens nix zu arbeiten für mi?" Er kommt herein, hilft bei allerlei kleiner Arbeit, plagt sich auch mit größerer, ist nett und freundlich und zugänglich, und ich kann nebenbei allerlei Persönliches mit ihm besprechen. Zum Schluß putzt er das R a d meiner Frau, obwohl ich ihm sage, daß es noch gar nicht nötig sei. Meine Frau macht ihm dafür eine Badehose, weil er keine passende hat, und wundert sich nachher, daß dieser aufgeschlossene und liebenswürdige Bub so sein soll, wie ich es ihr aus der Schule manchmal erzählt habe. Am andern T a g ist er in der Schule — gleichsam als wollte er mir zu verstehen geben: „Bilde dir nur ja nichts ein; so schnell kriegt ihr mich nicht" — ganz besonders aufreizend laut und unflätig und grob. Die neue Badehose hat er noch am selben T a g verloren. Oder: Der Leiter der Erziehungsberatung schenkt ihm, um ihn im Lesen zu ermuntern, das ausgezeichnete Kinderbuch von Käst98
ner „Emil und .die Detektive", worüber jeder andere in der Klasse einfach entzüdit wäre. Er sagt zu Hause nur verächtlich: „Dös wer i lesn." Er hat das Buch bis heute nicht mehr in die Hand genommen. Oder: In der Erziehungsberatung wird mit ihm besprochen, daß sein Ton zum Vater verbesserungsbedürftig wäre. Am nächsten Morgen soll er dem Vater Brot holen. Er beantwortet die Aufforderung des Vaters und gleichzeitig die Besprechung des Erziehungsberaters zwölf Stunden vorher folgendermaßen: „Alter Depp, hol dir dein Glump selber.*' Was doch alles heißt: So schnell geh ich euch nicht auf den Leim.
Früheste
Schwierigkeiten
Wie kommt es nun, daß er so ungemein verletzbar ist, daß er den Kampf verloren gibt, ehe er ihn begonnen hat, daß er jederzeit zum Rüdszug bereit ist und seine Selbstachtung nur mehr in dummen Scheingefechten retten kann? Wie ist das so geworden? Die äußeren Verhältnisse zu Hause sind geordnet. Der Vater — früher Kutscher, dann Schofför, heute Invalidenrentner, 67 Jahre alt — ist zum zweitenmal verheiratet. Die Mutter — sehr stolz darauf, daß sie früher nur bei Prinzen und Grafen gedient und sich in zwanzig Jahren 10 000 M. erspart hat (die in der Inflation verlorengegangen sind — ein Schlag, von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat) — hat aus der ersten Ehe des Mannes fünf erwachsene Kinder (heute 36, 33 . . . Jahre alt) angeheiratet. Sie hat selbst noch vier Kinder dazubekommen. Markus ist von allen neunen das jüngste Kind, heute zehnjährig. Die Mutter war in der Kleinkinderzeit des Markus tagsüber in Arbeit. Markus mußte deshalb schon als Zweijähriger in den Kindergarten gehen. Wenn die Mutter am Abend nach Hause kam, hatte sie das Bedürfnis, gutzumachen, was der kleine Kerl entbehrt hatte, weil er tagsüber unter fremden Leuten war; hatte sie aber auch das Bedürfnis gutzumachen, was s i e an ihm entbehrt hatte. Aus ihren Erzählungen über die Zeit damals und aus der Art, wie sie den Buben heute noch verwöhnt, läßt sich ein ungefähres Bild machen, wie maßlos die Mutter den Buben damals 7'
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verzogen hat. Er wurde bei jeder Gelegenheit, ob er „brav" oder „bös" war, ob er weinte oder schimpfte, mit Schleckereien traktiert, durch Geschenke, d. h. wieder durch Süßigkeiten dafür entschädigt, daß er „ja überall zu kurz gekommen ist" oder auch durch Geschenke zum Wohlverhalten gekauft, wenn er Schwierigkeiten machte. Dies wurde der erste bestimmende Eindruck, den der Zwei- oder Dreijährige vom Leben empfing: man wird verwöhnt, man kriegt sofort etwas geschenkt, wenn man aufbegehrt, man wird entschädigt f ü r alles Schlimme, das einem zustößt. Diese Art der Mutter forderte natürlich Antworten seiner übrigen Umgebung heraus. Da war zuerst die nächstältere Schwester. Sie ist 5 Jahre älter als Markus, d. h. sie war 5 Jahre lang jüngstes Kind und während der Zeit ebenso behandelt wie er. Sie wehrte sich gegen die unverstandene Zurücksetzung mit den Mitteln, die ein sechsjähriges gegen ein einjähriges Kind hat (oder ein acht- gegen ein dreijähriges). Zunächst sicher noch nicht mit Schlägen. Dazu ist der Altersunterschied zu groß. Die brauchbarste Form der Abwehr ist in dem Fall das Necken. Denn dies hat den Anschein eines Spieles, wird vom älteren Kind ganz als solches genommen; besonders auch deswegen, weil doch auch sehr o f t Erwachsene „nichts dahinter finden". Als unbeteiligter Zuschauer sieht man freilich sofort, daß f ü r das größere Kind wohl etwas dahinter zu finden ist, nämlich: die Kleinheit, Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit des Jüngeren werden ausgenützt zur Belustigung des Größeren. Die o f t verbissenen und verzweifelten, jedenfalls immer ernsten Versuche des Kleinen, sich zur Wehr zu setzen, werden vom Standpunkt des um soviel Älteren als „komisch" oder „nett" empfunden und belacht, und die Sache wird dann fast immer so weit getrieben, bis der Kleine entweder maßlos zornig wird (auch das ist noch lustig) oder hilflos weint. Das Ergebnis f ü r den Großen ist in jedem Fall, daß er sich billig das Gefühl der eigenen Überlegenheit verschafft, daß er zu einer unbewußten Vergeltung an dem vorgezogenen Kleinen und — nebenbei — auch zu einer kleinen Rache an der verwöhnenden Mutter kommt. Das also war die erste Technik der Schwester, sich gegen Markus zu wehren. Sie hatte noch eine zweite. Dazu voraus ein eigenes Erlebnis: Ich war als Hilfslehrer einem älteren Kollegen beige-
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geben. Dabei habe ich eine Erfahrung gemacht, die mir damals außerordentlich schmeichelte. Die schwierigsten Schüler, mit denen der ältere Lehrer gar nicht fertig werden konnte, ließen sich von mir um den Finger wickeln. Ich habe dies völlig falsch verstanden, wenn ich damals meinte: „ N a ja, es ist eben ein alter H e r r , und er macht es wohl auch o f t verkehrt mit ihnen." Es war einfach so, daß sie geschickt einen von uns gegen den anderen ausspielten. H a t t e er sie scharf angefaßt, waren sie bei mir umso sanfter. Sie machten mir's leicht, freundlich zu ihnen zu sein. Denn es war f ü r sie eine ganz feine Rache, zu sehen, daß der alte H e r r die Sache bemerk ce und sich darüber ärgerte. U m dies zu erreichen, zahlten sie gerne den Preis des Wohlverhaltens in meiner Nähe. Als ich dann zu erstenmal eine Klasse f ü r mich allein hatte, war ich sehr erstaunt, als dies alles ausblieb und die Schwierigen auch zu mir schwierig waren. Der Gegenspieler fehlte! Was tun Geschwister von verzogenen Kindern sehr häufig? Sie suchen sich einen Gegenspieler, holen sich Unterstützung beim anderen Elternteil. D a muß die Elternehe schon ganz einig und'unerschütterlich sein, daß dieser Keil sich nicht zwischen sie schieben kann. Es ist ja auch zu verlockend f ü r einen Elternteil, wenn eines der Kinder so ankommt und gut zu haben ist und einem alles von den Augen absieht. Es m u ß doch jemand, der die Zusammenhänge nicht durchschaut, auf die Dauer bedrücken, daß er mit einem von seinen Kindern nicht zurechtkommt, daß er mit ansehen muß, wie sich das ganze Denken und Trachten dieses Kindes auf den Ehepartner richtet. W a r u m sollte er nicht erfreut sein, an einem anderen Kind zu sehen, daß er auch noch Anziehungsmöglichkeiten f ü r ein Kind hat? Er wird dann auch leichter geneigt sein, nun seinerseits sein Kind zu verwöhnen, denn es ist viel lenksamer und umgänglicher. Bis jetzt war der Fall gesetzt, daß die Eltern unter sich einig sind. W o sie aber selbst untereinander in irgendeinem Streit liegen (am schlimmsten, wenn sie Meinungsverschiedenheiten in Erziehungsfragen haben) kann man sich das Ergebnis ausmalen. D a macht dann jetzt jedes seine Fehler an seinem Kind und versucht die Fehler des anderen am anderen Kind durch Strenge auszugleichen. Die K l u f t zwischen allen vieren wird breiter. Die Schwester des Markus hat sich auf solche Weise Unterstützung gegen den Bruder
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beim Vater geholt. Der Vater wiederum hat sich auf solche Weise Unterstützung gegen seine energischere Frau geholt. Noch heute, nach so vielen Jahren, ist dieses von Anfang an gestörte Verhältnis der vier Menschen zueinander aus jedem Wort herauszuhören, das der Vater über „seine" Tochter und die Mutter über „ihren" Buben sagt. Der Vater ist außerdem beleidigt, daß „seine" Kinder (d. s. jetzt die aus der ersten Ehe) gegen diesen Letztgeborenen zurückgesetzt werden. Dazu kommt noch als eine Erschwerung des ganzen Verhältnisses, daß er für alle seine neun Kinder, besonders aber für den Markus strenge Erziehungsgrundsätze hat — „Autorität" und „Gehorsam" stehen an erster Stelle. „Wissen Sie", sagt er zu mir, „bei neun Kindern muß man scharf dahinter sein, daß sie einem nicht über den Kopf wachsen". Oder (bei seinem ersten Besuch in der Schule, wo ich ihm vorschlage, ob wir's jetzt nicht anders als bisher mit dem Buben versuchen wollen): „Das stimmt. Es ist höchste Zeit. So geht's nimmer weiter. Ich hab den Ochsenfiesel (Ochsenziemer) schon hergerichtet. Dem werden wir die Gröberen schon herunterklauben." Er wollte seit den ersten Lebensjahren des Markus mit seiner Strenge ein Gegengewicht gegen die zu weiche Art der Mutter sein. So entstand bald ein Verhältnis zwischen beiden, das sich von einem o f f e n e n K r i e g s z u s t a n d nicht unterschied. Der Vater führte diesen Krieg mit Hilfe seiner körperlichen Überlegenheit, und der Bub rächt sich in der Form, daß er den empfindlichsten Punkt des Vaters — seine patriarchalische Würde, seinen Stolz, neun Kinder aufgezogen und sie alle „zu etwas gemacht" zu haben — durch respektlose Bemerkungen oder offene Beschimpfungen dauernd trifft. Er nennt seinen Vater „Plattensimmerl" (verspottet damit seine Kahlköpfigkeit) „alter Äff", „alter D e p p " u. ä. Die größeren Geschwister fühlen sich durch die Verwöhnung des Jüngsten zurückgesetzt, als Stiefkinder behandelt und wehren sich auf ihre Weise. Vor einigen Wochen sagte mir einer der großen Brüder, heute selbst verheiratet und Vater eines Kindes: „Wissens, Herr Simon, wenn wir uns den zehnten Teil von dem erlaubt hätten, was der Hundsbub jeden T a g tun darf, wären wir erschlagen worden." Sie wehren sich dagegen auf ihre Weise: sie sind in der Lage, dies Zurwehrsetzen zu tarnen. Es ist doch so,
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daß man von einem gewissen Alter ab nicht mehr einfach haut, sondern daß man, wenn man selber über 20 Jahre alt ist, einen soviel jüngeren Bruder „erzieht". („Man kann das doch nicht dulden", „der Kerl muß das doch einmal lernen" u.s.f.) Das haben denn auch die acht großen Geschwister reichlichst getan. Bleibt noch die Mutter. Die schöne Zeit der ersten Verwöhnung ist bald vorbei. Diese Zeit geht ja allen Müttern viel zu schnell vorüber. Hier aber war der natürliche Vorgang der ersten Ablösung des Kindes von der Mutter wesentlich erschwert. Denn die Mutter hatte bisher nadi ihrer Meinung „viel zu wenig von Markus", sie war damit bedürftiger als viele andere Mütter. Sie erlebte seine wachsenden Ansprüche und konnte sie nicht mehr alle befriedigen, einmal, weil sie oft nicht mehr zu befriedigen waren, zum anderen, weil die großen Geschwister aufpaßten wie die Luchse und ihr jede Verwöhnung vorwarfen. Sie erlebte den Unfrieden, den — nach ihrer Meinung — der Kleine ins Haus gebracht hat, und wurde darum immer öfter ärgerlich über ihn: die harmlose Zeit war vorbei! Bis hierher ist das Ganze ein fast typischer Fall von ursprünglich verwöhnender Erziehung. Den Schwierigkeiten gewachsen zu sein, setzte eine derart große Obersicht und Reife und Selbstlosigkeit voraus, daß verständlich ist, wenn diese Fälle fast alle in der gleichen "Weise enden: bei der Strenge! Denn eines Tages muß die Verwöhnung zu Ende sein. Einerseits wachsen die Ansprüche des verwöhnten Kindes automatisch und werden bald unersättlich, andererseits wachsen aber auch die Anforderungen des Lebens automatisch — zwei Kräfte, die sich genau entgegenarbeiten. Der dazwiischenstehende Erzieher — ganz gleich, ob er sich mehr auf die eine oder die andere Seite schlägt — spielt bald überhaupt keine wesentliche Rolle mehr; die Konflikte verschärfen sich von Jahr zu Jahr. Zu den Schwierigkeiten, die sich aus dem falschen Verhalten der Umgebung des Markus herleiten, kam noch eine andere. Er ist Linkshänder. Nun wäre die Linkshändigkeit an sich noch keine besondere Schwierigkeit im Leben eines Kindes, wenn sie nicht die Umgebung zu verkehrten Maßnahmen geradezu anreizte. Da wird es zuerst mit Gutzureden, Erinnern, Mahnen versucht. Weil dies nichts hilft, wird die Tonart schärfer und
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endet schließlich fast immer bei Prügeln, denn „er ist ja bloß zu faul, dranzudenken" u n d „er muß das doch lernen, wenn er sich nicht f ü r sein ganzes Leben schaden soll." In unserem Fall ist die Linkshändigkeit des Markus außerdem wieder ein Anlaß zu berechtigt scheinenden Erziehungsmaßnahmen der vielen großen Geschwister. Die Mutter erzählt,daß heute noch die ganze Familie bei Tisch darauf lauert: „Wird er jetzt den Löffel rechts oder links nehmen" und wenn er Anstalten macht, links zuzugreifen, hat er schon von irgendeiner Seite her eine Ohrfeige. D a ß Markus also leicht rebelliert, sich schnell kritisiert, angegriffen und verletzt fühlt, ist jetzt wohl verständlich geworden. Er hatte nicht wie die meisten Kinder zwei Erzieher, sondern deren zehn! Vielleicht ist uns noch nicht deutlich geworden, wie er dazukommt, so heftig, in solch barbarischen Formen auf vermeintliche Angriffe zu antworten. Ein Bild kann uns helfen: Eine Grammophonplatte wird verkratzt und die N a d e l springt nach einer U m drehung von selbst wieder in die alte Rille zurück. Von jetzt an werden die paar T a k t e unaufhörlich wiederholt. Die ersten Kinderjahre des Markus dürfen wir uns so vorstellen: Verwöhnung durch die Mutter, Sonderstellung des Kleinen in der Familie — Gegenwehr und Zurückweisung der Ausnahmestellung durch alle in der Umgebung — Auflehnung seinerseits — Strafe = die erste Umdrehung. N u n springt die N a d e l zurück in das alte Geleise: Verwöhnung durch die Mutter (jetzt auch, um die Strafe „auszugleichen", das „Unrecht gutzumachen") G e g e n w e h r . . . usw. In dieser ausgefahrenen Bahn geht es nach der Kleinkinderzeit weiter. Er kommt in den Kindergarten, in den H o r t , in die Schule. Zu Hause konnte die Mutter gegen die Einwürfe der großen Geschwister noch immer sagen: „ N a ja, er ist doch der Kleinste; er muß so vieles entbehren, was ihr gehabt ihabt, solange es uns noch gut gegangen ist; ihr seid doch schon älter und müßt eben auch vernünftiger sein." Diese Begründung fällt jetzt weg; er befindet sich unter Gleichaltrigen. Seine Ansprüche sind aber die alten. Man kann sie nicht befriedigen, man ist — das haben wir aus den Berichten von Kindergarten, H o r t und Schule gehört — erbost über die Anmaßung des Kindes, kann und will ihn nicht anders behandeln als alle übrigen, es gibt Zurechtweisungen, Drohungen, Strafen, sehr viel Strafen. Die Mutter erfährt davon, legt sich für ihren Liebling ins Zeug, findet, daß ihm Unrecht geschieht,
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steht zu ihm, hilft zu ihm, schimpft über die Kindergärtnerinnen, Hortleiterinnen und Lehrer — die Platte läuft weiter: Anmaßung einer Ausnahmestellung, Zurückweisung, Rebellion, Strafe, Verwöhnung. Wenn so zehn Jahre immer die gleiche Melodie gespielt wird, kann man sich am Ende solche Mißtöne erklären, wie sie aus den ersten vierzehn Schultagen erzählt worden sind.
ERSTE
Zwei naheliegende
ARBEIT
Erziehungsfehler
Aus seiner verwöhnten Zeit hat der Bub eine besondere Haltung mitgebracht,