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German Pages 175 Year 2004
Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 117
Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals Von
Christoph Schmelz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH SCHMELZ
Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals
Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 117
Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals
Von
Christoph Schmelz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Philipps-Universität zu Marburg hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-11660-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
„Vor allen Dingen aber lernt die Geschichte kennen. Sie lehrt Euch, was schön ist und was schimpflich, was Nutzen bringt und was nicht . . . Ohne Kenntnis der Geschichte kann weder öffentliches noch privates Leben bestehen; ohne sie ist eine gesunde Verwaltung der staatlichen wie der häuslichen Angelegenheiten undenkbar“. Philipp Melanchthon
„Poesie in der höchsten Potenz ist die Historie“ Friedrich von Schlegel
Vorwort Die Arbeit ist am Institut für Rechtsgeschichte – Germanistische Abteilung – der Philipps-Universität im SS 2001 und WS 2003/2004 unter der akademischen Leitung von Prof. Dr. Stephan M. Buchholz entstanden. Er hat mir eine großzügige wissenschaftliche Gestaltungsfreiheit gewährt, in der er mir gleichzeitig die Idee von „geistiger Arbeit“ und akademischer Tradition vermittelt hat. Seine besondere pädagogische Vorgehensweise bestätigt die Richtigkeit jener Maxime Savignys, „die ganze Kunst eines Lehrenden“ bestehe darin, „die productive Energie des Schülers methodisch zu beleben und ihn die Wissenschaft selbst ausfinden zu lassen“1. Mein Dank gilt weiterhin Prof. Dr. Dieter Werkmüller, der mein erster akademischer Lehrer in Rechtsgeschichte war. Er hat mit seinem begeisternden Unterricht mein Interesse für Rechtsgeschichte geweckt. Zudem danke ich ihm für die Erstellung des Zweitgutachtens. Neben all denjenigen, die nicht genannt werden möchten, danke ich ganz besonders Dr. Nils Jörn (Greifswald/Berlin) – Habilitand der DFG –, der mir einen regen Gedankenaustausch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vermittelte. Ferner gilt mein Dank Archivar Dr. Hans-Konrad Stein-Stegemann (Stadtarchiv Wismar) und dem Ltd. Archivdirektor Dr. Helmut Backhaus (Riksarkivet Stockholm). Bei ihnen bin ich auf ein hohes Maß selbstloser Hilfsbereitschaft gestoßen. Dem schwedischen Kollegen Dr. Per Nilsén (Juridiska Fakulteten vid Lunds universitet) bin ich für das Zurverfügungstellen und Übersetzen schwedischer Literatur und der Erstellung der schwedischen Zusammenfassung zu Dank verpflichtet. Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle der sprachlich schon fast nicht mehr auszudrückende Wert einer harmonischen und allseits unterstützenden Familie. Meinen Eltern ist die vorliegende Arbeit deshalb gewidmet. Wiesbaden/Marburg, April 2004
Christoph Schmelz
1 Brief an Henry Crabb Robinson vom 9. Januar 1803, bei A. Stoll, Der junge Savigny, Berlin 1927, S. 217.
„Der Historiker ist ein rückwärtsgewandter Prophet“ Friedrich von Schlegel „Geschichtsprophetie ist möglich, wenn der Prophet die Geschichte selber macht“ Immanuel Kant
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel § 1 Prooemium I.
Warum Rechtsgeschichte? – Einige Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
II. Methodisches Procedere – Status quaestionis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Historisch-hermeneutische Zitateneinordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Bedeutungsgehalt des Zitates aus heutiger Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2. Kapitel § 2 Richterliche Konfliktlösung im Schatten des Leviathan I.
Signifikanz der Rechtsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
II. Kernbereich des Art. 19 IV GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 III. Forschungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 IV. Inhalt des Art. 19 IV GG aus der Perspektive des Jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3. Kapitel § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei I.
Prolegomenon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
II. Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 III. Inhalte des Polizeibegriffs im „sacrum imperium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 IV. Justizsachen versus Polizeisachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 V. Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
10
Inhaltsverzeichnis
4. Kapitel § 4 Einordnung des Votums von Cramer im Hinblick auf den Schutz privater Rechte I.
Thematisierung und Kontextualisierung des Votums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
II. Analysierende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
5. Kapitel § 5 Bezugnahme auf die Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität der Territorialherren I.
Prinzipien territorialer Gerichtsverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
II. Folgen des Votums von Cramer auf die territoriale Souveränität. . . . . . . . . . . 78 III. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
6. Kapitel § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten I.
Dogmatische und terminologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
II. Ordentliche Justiz versus verwaltungsinterne Kammerjustiz . . . . . . . . . . . . . . . 91
7. Kapitel § 7 Zur ideengeschichtlichen Einordnung 8. Kapitel § 8 Schwedische Gerichtsbarkeit – Wismarer Tribunal – im Alten Reich I.
Introductio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
II. Das Appellationsprivileg nach dem Westfälischen Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Der Begriff der „Policey“ in Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 IV. Verfassungsstruktur im schwedischen Konglomeratstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 V. Inhalt der Wismarer Tribunalsordnung unter dem Blickwinkel „Justiz“ und „Policey“ und „Effektivität des Rechtsschutzes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv und den Werken von Augustin von Balthasar und F. U. Mehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Inhaltsverzeichnis
11
9. Kapitel § 9 Richterliches Methodenbewußtsein I.
Exordium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
II. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. . . . . . . 135
10. Kapitel § 10 Vergleichende Analyse und Conclusio I.
Vergleichende Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
II. Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
11. Kapitel § 11 Schwedische Zusammenfassung Sammanfattning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Quellen und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ Walter Benjamin1
1. Kapitel
§ 1 Prooemium I. Warum Rechtsgeschichte?2 – Einige Bemerkungen Rechtshistorische Dissertationen mögen zunächst bei einer flüchtigen Auseinandersetzung zu einem kritischen Hochziehen der Augenbrauen führen. Wozu die Beschäftigung mit (Rechts-)Geschichte? Es ist doch bereits alles vergangen. Doch diese „vorschnelle“ Einschätzung hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Deswegen ist ein caveatur voranzustellen: Bei genauerem Nachdenken wird man feststellen, daß Geschichte Gegenwart ist. Und genau in diesem Sinne ist die vorliegende Dissertation zu verstehen und zu begreifen. Geht es doch um die Vergangenheit der Gegenwart bzw. anders ausgedrückt um die Gegenwart der Vergangenheit. Die Vergangenheit und die Gegenwart fließen nämlich ineinander zu erhöhter Gegenwart. Sprachlich bringt Heller diese Feststellung treffend in folgende Formel: 1 Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Band I.2, 3. Auflage, Frankfurt 1990, These IX, S. 697. Walter Benjamin hat den Engel der Geschichte 1940 kurz vor seinem Tod auf der Flucht vor den deutschen Faschisten in den Pyrenäen beschrieben. 2 Inspirationsquelle für diesen Titel ist die Festschrift für Hans Hattenhauer mit dem Titel „Der praktische Nutzen der Rechtsgeschichte“, Jörn Eckert (Hrsg.), Heidelberg 2003.
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1. Kapitel: § 1 Prooemium
„Alle Geschichte bleibt aber auch – noch für den objektivsten Historiker, der in reiner Treue nur darstellen will, „was gewesen ist“ – immer „Geschichte der Gegenwart“, d.h. aus der Perspektive des Jetzt gesehen“3.
Vor diesem Hintergrund läßt sich gut die Aussage von Michael Stolleis4 anführen, der einmal prägnant formulierte, daß es sich bei der Rechtsgeschichte „nicht um eine naive Nacherzählung, sondern vielmehr um die Rekonstruktion sprachgebundener Vergangenheit handelt“. In Anknüpfung an dieses Zitat ist die Dissertation als neuer „Marketingversuch“ für die Rechtsgeschichte zu begreifen. Denn Geschichte ist zugleich Mahnung und Erinnerung für die Zukunft. Auch das Recht hat eine historische Entwicklung. Aufgabe des Rechts ist es nämlich, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Konfliktpotentiale zu lösen und auch aufzulösen. In diesem Sinne soll Rechtsgeschichte als „res publica“ betrieben werden. Die Arbeit selbst soll an die von Joseph Kohler5 initiierte und von Ernst Rabel6 fortgesetzte und weiterentwickelte Programmatik, wonach Rechtswissenschaft „stets philosophisch, geschichtlich, rechtsvergleichend und dogmatisch zu sein hat 7“, anknüpfen. Wenn nun schon Rabel erwähnt wird, so bleibt in Anlehnung an eine von ihm geprägte Formulierung8 zu sagen, daß die Rechtsgeschichte einen „vielblumigen Wiesenflor“ aufweist und zudem als Schlüssel für das Verständnis heutiger Rechtsinstitute zu werten ist. 3
Heller, Staatslehre, 4. Auflage, Wien 1970, S. 28. Ausführlicher als hier: Michael Stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt. Zur Entbehrlichkeit von „Begriff“ und „Tatsache“ (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. 22), 1997. Auf Seite 6 schreibt Stolleis: „Jeder beobachtet bei sich selbst mindestens Spurenelemente schöpferischer Willkür des Künstlers, der seinen Stoff arrangiert. Jeder Historiker, der die Stimmen der Toten hören und wiedergeben will, kann dazu nur seine eigene Stimme benutzen. Jeder weiß, daß es ‚die‘ Wahrheit nicht gibt, so wie es bei jeder ‚Beziehungsgeschichte‘ zwei, drei oder vier Wahrheiten gibt, die parallel erzählt waren“. 5 Zu dieser Rechtspersönlichkeit sei auf die Schrift von Günther Spendel verwiesen. Spendel, Joseph Kohler. Bild eines Universaljuristen, 2. Auflage, München 1995. 6 Rabel selbst knüpfte auch an die Universalrechtsgeschichte von Kohler an, ohne jedoch den neuhegelianischen Ansatz zu übernehmen. Vgl. Hofer, in: Stolleis (Hrsg.), Juristen – Ein biographisches Lexikon, 2. Auflage, München 2000, S. 523. Zudem sei auf die vorbildlich skizzierte Lebensbiographie von Kegel über Rabel verwiesen. Kegel, Ernst Rabel – Vorkämpfer des Weltkaufrechts, in: Heinrichs/ Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 571–593. 7 Zitat nach Luig, in: Stolleis, op. cit. (Fn. 6), S. 362. 8 Rabel, Eine Anregung zum Kollisionsrecht des Kaufs, in: Mélanges Streit II, Athen 1940, S. 360 a. E.: „vielblumige(r) Wiesenflor des internationalen Privatrechts“ (nur als Sonderdruck vorhanden, Mélanges Streit II ist nicht erschienen). 4
III. Historisch-hermeneutische Zitateneinordnung
15
Abrundend zu diesem Komplex bleibt festzuhalten, daß das historisch fundierte Denken und Überlegen dem kurzatmigen Reagieren und Überlegen überlegen ist. Hier zeigt sich der wahre und existentielle Kerngehalt rechtsgeschichtlichen Arbeitens. Die Rechtsgeschichte ist somit – um den praktischen Nutzen von Rechtsgeschichte zu exemplifizieren – das Fundamentum für rechtspolitisches Argumentieren9.
II. Methodisches Procedere – Status quaestionis Zum methodischen Procedere bleibt einleitend zweierlei festzuhalten: Zum einen soll der Weg einer Gesamtdarstellung ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit gewählt werden. Dieser paradoxe Ansatz soll einem die frustrierende Erfahrung und auch Erkenntnis ersparen, daß man vor lauter „rechtshistorischem Gestrüpp“ nicht mehr den Wald sieht. Vor diesem Hintergrund sind Gegenstand der Arbeit sog. schlüsselspezifische Ansätze aus Zeitenwenden in Wendezeiten respective aus Wendezeiten in Zeitenwenden, die als Schlüsselaspekte die rechtshistorische Bewußtseinsbildung markieren. Zum anderen wird die Dissertation ihren Ausgangspunkt von einer ganz zentralen Aussage, welche die Rechtsentwicklung im 18. Jahrhundert in eindringlicher Weise widerspiegelt, aus nehmen und die weitere Bearbeitung gleichsam als „roten Faden“ durchziehen bzw. quasi „ummanteln“. Es handelt sich um eine Enunziation des Kammergerichtsassessors Johann Ulrich Freiherr von Cramer aus seinem Werk „Wetzlarische Nebenstunden“: „Daß Polizeisachen an und vor sich betrachtet auch bei den höchsten Reichsgerichten kein objectum iustitiae sind, ist wohl außer allen Zweifel gesetzt. Sobald aber dieselbe contentiosae werden, sind sie unter den Justizsachen tamquam species sub genere enthalten: einfolglich auch ein objectum sowohl deren höchsten Reichs- als Unter-Gerichten . . . Sie sind aber pro contentiosis so bald zu halten, als außer dem politico jura et laesiones Partium mit in Consideration zu nehmen.10“
III. Historisch-hermeneutische Zitateneinordnung Unterzieht man dieses Zitat zwecks eines verständnisvolleren Zugangs in die zu bearbeitende Materie einer „summarischen“ hermeneutisch-histori9
In Anlehnung an Kjell Å. Modéer, Rechtliche Identität und Tiefenstruktur, in: Jörn Eckert (Hrsg.), op. cit. (Fn. 2), S. 331, 334. 10 v. Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, Worinnen auserlesene beym höchstpreißlichen Cammergericht entschiedene Rechts-Händel zur Erweiter- und Erläuterung der teutschen in Gerichten üblichen Rechts-Gelehrsamkeit angewendet werden, 128 Theile, Ulm 1755–1772, WN I, S. 88.
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1. Kapitel: § 1 Prooemium
schen Einordnung, so läßt sich folgendes festhalten: Der Textauszug zählt zu den Werken der kameralistischen Dezisionenlitaratur („iurisprudentia cameralis“)11. Unter dem Begriff der Kameralistik versteht man die wissenschaftlich-literarische Tätigkeit von Richtern am Reichskammergericht12. Der Begriff „Dezisionismus“13 läßt sich im Wege einer inhaltlichen Umzäunung als rechtsphilosophische Anschauung definieren, welche durch ein „lebensnahes“ und einzelfallbezogenes Entscheidungsdenken geprägt ist14. Mit seinem Erscheinungsjahr 1755 weist der Text auf eine Entstehungszeit hin, in der in Europa der Gedanke entwickelt wurde, daß der Staat nicht mehr allein nach dem Willen des Monarchen regiert werden solle, sondern daß der Ausübung der Regierungsgewalt durch Gesetze Grenzen zu ziehen seien. Der Text fällt in eine Epoche, die sich zwischen den beiden Gravitationszentren „productive state“15 und „protective state“16 orientierte, wie „die Schildkröte zwischen zwei entgegengesetzten Schilden“. Eine erste – noch wenig differenzierte – Lektüre der Aussagen von Cramer läßt bezeichnende Elemente dieser Entwicklung anklingen. Der Autor des Textes gehörte zu jenen juristischen Schriftstellern unter den Assessoren, die durch ihre justizreformerischen Überlegungen die Entwicklung zu einem modernen Rechts(-wege)staat nachhaltig beeinflußt haben. Diese soeben im Rahmen einer „Kontextualisierung“ aufgezeigte juristische Grundtendenz des Cramerschen Werkes wird sich als Kontinuum in der weiteren Aufgabenbearbeitung widerspiegeln. Um die Aussagekraft der Aussagen von Cramer überprüfen und ggf. auch bestätigen zu können, erfolgt weitergehend eine Untersuchung exemplarischer Fälle aus der Judikatur des Reichskammergerichts und der territorialstaatlichen Obergerichte – namentlich des Wismarer Tribunals.
11
Kroeschell, Polizeisachen und Justizsachen, in: Gerichtslauben Vorträge. Freiburger Festkolloquium zum 75. Geburtstag von Hans Thieme, hrsg. von Karl Kroeschell, Siegmaringen 1983, S. 57, 63. 12 Köbler, Begriff „Kameralistik“, in: Köbler, Lexikon der europ. Rechtsgeschichte München 1993, S. 275. 13 Der Begriff als solcher geht in seiner Sprachschöpfung auf Carl Schmitt zurück, der seine Leitgedanken antithetisch aus den Extremen oder im dialektischen Dreischritt entwickelte und seine hieraus gewonnenen Ergebnisse gerne mit der Attitüde kalter Distanziertheit als „realistisch“ präsentierte. Vgl. hierzu: Stolleis, in: Stolleis, op. cit. (Fn. 6), S. 562. 14 In Anlehnung an: Kaufmann/Hassemer, Einführung in die Rechtsphilosophie und die Rechtstheorie der Gegenwart, 6. Auflage, Heidelberg 1994, S. 147. 15 Unter diesem Begriff ist die Förderung öffentlicher Wohlfahrt zu verstehen. 16 Damit ist die Begrenzung der Staatsaufgaben gemeint.
IV. Bedeutungsgehalt des Zitates aus heutiger Sicht
17
IV. Bedeutungsgehalt des Zitates aus heutiger Sicht Das Zitat von Cramer läßt die historischen Vorstufen des heutigen Systems des verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes anklingen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß verwaltungsgerichtliche Fachkreise der weiteren Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht ohne Sorgen entgegensehen, zeigt sich die Notwendigkeit des Blickes durch die „rechtshistorische Brille“ in zwei Aussagen17: zum einen des ehemaligen Präsidenten des BVerwG Franßen, zum anderen des heutigen Präsidenten am BVerwG Hien. Die Aussagen sollen zugleich als themenbezogene Kontaktschwelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart dienen. Im Jahresbericht 2001 notiert Franßen, „der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz, wolle er sich künftig gerade in den für die Entwicklung unserer Gesellschaft besonders wichtigen Bereichen nicht selbst weitgehend überflüssig machen, müsse alles dransetzen, um diesem Bedürfnis nach schneller Klärung der Rechtslage zu genügen“.
Und Hien führt im Jahresbericht aus, „die schwierige Balance von Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gerate ins Wanken, wenn der Richter das eigentliche Rechtsschutzbegehren des Bürgers aus dem Auge verliert oder nur zum Vorwand dafür nimmt, um in eine ungefragte, unbeschränkte und unsensible Fehlersuche einzusteigen“.
In diesen Aussagen zeigt sich auch die weiterhin zentrale Frage nach der richterlichen Kontrolldichte. Ihre Beantwortung wird das BVerwG auch in den nächsten Jahren beschäftigen. Aber eine vernünftige Beantwortung ist eben nur durch die „rechtshistorische Brille“ möglich. Im Sinne von Otto v. Bismarck ist „die Geschichte in ihren Revisionen noch genauer als unsere preußische Oberrechenkammer“. Damit geht einher die Warnung vor dem „Autoritätsverlust des Rechts“18. Wir leben nämlich in einer Zeit, in der bürgerliche Freiheitsrechte, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit als selbstverständliche Errungenschaften angesehen werden, die scheinbar keiner weiteren Pflege mehr bedürfen. Dem ist jedoch, wie Spurenelemente in beiden obigen Aussagen gezeigt haben, keineswegs so. „Groß ist die Kraft des Gedächtnisses, das Orten innewohnt, und mit gutem Grund gründet die Kunst des Erinnerns auf sie“. Von Marcus Puplius Piso sind diese Worte überliefert19. Er unterhält sich mit Cicero während eines Nachmittagsspaziergangs auf den Wegen der Akademie vor den To17 Beide Aussagen entstammen dem Aufsatz von Redeker. Redeker, NVwZ 2003, S. 641, 643. 18 Die Begriffspaarschöpfung geht auf Karl Doehring zurück. Doehring, Der Autoritätsverlust des Rechts, in: Festschrift für Ernst Forsthoff zum 70. Geburtstag, hrsg. von Roman Schnur, 2. Auflage, München 1974, S. 103–118.
18
1. Kapitel: § 1 Prooemium
ren Athens. Das war um das Jahr 80 vor Christus unserer Zeit. Gedächtnisorte der Rechtsgeschichte erleichtern uns das Erinnern. Sie fordern uns heraus, setzen unser Denken in Bewegung. Sie machen uns vertraut mit ihren Menschen und ihrer Kultur. An solchen Orten des Erinnerns verdichtet sich der Raum zur Zeit. Sie sind das Fundament unserer Gegenwart. Ich möchte das Präludium mit einer Aussage des Philosophen Sören Kierkegaard, das den rechtshistorischen Aufgabenbereich zu beschreiben vermag, abschließen: „Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden“. Dieses Satzes mit einer Skepsis gegenüber menschlicher Steuerungskompetenz sollte man immer eingedenk sein20.
19
Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum. Über das höchste Gut und das größte Übel. Übersetzt und hrsg. von Harald Merklin, Stuttgart 1989, Fünftes Buch, S. 395 f. 20 In diesem Sinne: Mohnhaupt, Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration. Kulturelle Bedingungen europäischer Rechtseinheit und vergleichende Beobachtungen, in: Europäische Rechtsgeschichte und europäische Integration, Festschrift für Heinz Mohnhaupt, hrsg. von Kjell Å. Modéer, Stockholm 2002, S. 17, 57.
IV. Bedeutungsgehalt des Zitates aus heutiger Sicht
Johann Ulrich von Cramer (1706–1772), o. J. Schabkunstblatt von Johann Jacob Haid (1704–1767) Reichskammergerichtsmuseum Wetzlar
19
„Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existirt, kann allein das wissenschaftliche System derselben seyn. Daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der Wissenschaft näher komme, – dem Ziele, ihren Nahmen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu seyn, – ist es, was ich mir vorgesetzt“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel
2. Kapitel
§ 2 Richterliche Konfliktlösung im Schatten des Leviathan1 I. Signifikanz der Rechtsinstitute In der zuvor erfolgten kursorischen Bewertung der Textaussage von Cramer klingen bereits deutlich Rechtsinstitute an, deren Existenz heutzutage als Selbstverständlichkeit angesehen wird. In diesem Zusammenhang wären zu nennen die Figur des subjektiven Rechts, die Rüthers2 als „elementare juristische Errungenschaft“ ansieht, die Rechtswegegarantie und die Effektivität des Rechtsschutzes. All diese zentralen Rechtsgarantien haben sich in einem langwierigen und mühevollen historischen Prozeß herauskristallisiert und sich nach und nach in den Verfassungstexten konkretisiert. Diese Grundsätze symbolisieren den Kern „rechtsstaatlicher Freiheit“. Und eben diese Freiheit erfordert, um den Bogen wieder in die Gegenwart zu spannen, im Sinne des Bundesverfassungsgerichts „eine Verläßlichkeit der Rechtsordnung“3. Diese Verläßlichkeit mußte sich jedoch zunächst einmal etablieren. Ganz im Sinne des von Ihering gewählten Ausspruchs vom „Kampf ums Recht“4. Das Recht konnte nur durch seine praktische Verwirklichung Geltung erlangen.
1 Der Titel lehnt sich an die von Uwe Wesel gewählte Aufsatzüberschrift „Streitschlichtung im Schatten des Leviathan“ in NJW 2002, S. 415 an. 2 Rüthers, Rechtstheorie, 2. Auflage, München 2004, passim. 3 BVerfGE 60, 253, 267. 4 Ihering, Kampf ums Recht, 23. Auflage, Wien 1946.
III. Forschungsansätze
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II. Kernbereich des Art. 19 IV GG Nimmt man die Vorschrift des Art. 19 IV GG, die Jürgen Schwabe als „Rechtsschutzgeneralklausel“ bezeichnet, genauer unter die Lupe, so offenbart diese Vorschrift ein Bündel von Problemaspekten und auch rechtshistorischen Grundfragen, die es in den „historischen Vorläuferformen und -erscheinungen“ des Grundgesetzes zu lösen galt. Neben der bereits erwähnten Rechtsverletzung stellt sich die Frage, in welchen Fällen der Rechtsweg eröffnet wurde und wie er nun auch möglichst effektiv gestaltet werden konnte im Sinne eines tatsächlich wirksamen Gerichtsschutzes. In der heutigen rechtspolitischen und -philosophischen Diskussion wird mit wohlklingenden Worten – um nur an Ronald Dworkin5 zu erinnern – vom „subjektiven Recht als Trumpf“ gesprochen. Doch dieser „Trumpf“ hatte einen schwierigen Geburtsprozeß.
III. Forschungsansätze Aus rechtshistorischer Perspektive soll die Entwicklung eines der zentralen Bausteine unseres heutigen Rechtsstaatssystems beleuchtet werden, nämlich die Justitiabilität von Hoheitsakten. In diesem Kontext wird die gerichtliche Überprüfung von Hoheitsakten sowohl auf Reichsebene als auch auf territorialstaatlicher Ebene zur Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation untersucht. Damit einher geht die Geschichte der Eröffnung von Rechtswegen gegen Hoheitsakte. In einem weiteren Arbeitsschritt soll dieser Forschungspunkt dahingehend konkretisiert werden, daß weiterhin der Frage nachgegangen wird, in welcher Form sich die Effektivität des Rechtsschutzes entwickelt hat. In diesem Zusammenhang wird ein besonderes Augenmerk auf die Kompetenzen und Befugnisse der Territorialgerichtsbarkeit zu richten sein. Dieser soeben skizzierte Prozeß soll anhand der diversen Kompetenzkonflikte6 zwischen Justiz und „guter Policey“ im 18. Jahrhundert analysiert werden. Die Untersuchungen werden zu dem Ergebnis führen, daß das 18. Jahrhundert, insbesondere die Phase zwischen 1750 und 1790, als „saeculum mirabilis“ und Geburtsstunde des heutigen Art. 19 IV GG anzusehen ist. Mit dieser Bewertung soll zugleich ein Beitrag zu einer respektableren Würdigung des Alten Reiches geliefert werden, das man – so die Aussage von Uwe Wesel – „noch vor kurzem nicht sonderlich schätzte, weil es angeblich schwach war, die Einheit verlorenging und nicht so interessant war wie das malerische Mittelalter“. Zugleich soll der Blick für folgendes Phänomen „geschärft“ werden: Die Entwicklung 5 6
Dworkin, Taking rights seriously, Frankfurt 1990, passim. Die Dimension dieses Konfliktes klingt bereits in dem Zitat von Cramer an.
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2. Kapitel: § 2 Richterliche Konfliktlösung im Schatten des Leviathan
des modernen Rechts(wege)staates ist keineswegs „nur“ ein Produkt der französischen und nordamerikanischen Revolution. Gerade auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation haben sich nach und nach – wenngleich in einigen Fällen in „versteckter“ Art und Weise – elementare Mosaiksteinchen des heutigen Rechtsstaates entwickelt. Die von Stolleis geprägten Begriffe „vom Nutzen der Historie vor 1806“ sind keineswegs als marginal einzustufen. Geht es doch vielmehr, um auf das vom Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte für die Zeitschrift „Rechtsgeschichte“ initiierte Forschungsfeld zu verweisen, im Rahmen der Rechtsgeschichte um „die Geschichte der Evolution eines sozialen Systems“. Der Nukleus des Rechts wächst und wuchert immer weiter. Der „historische Zeitstrahl“ der Dissertation wird drei elementare Wendepunkte – genauer gesagt „Zeitsignaturen“ – zum Inhalt haben. Ausgangspunkt bildet immer der Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“. Zunächst einmal wird ein begriffsgeschichtlicher Abriß des Begriffs „Policey“ am Anfang, in der Mitte und am Ende des 18. Jahrhunderts geliefert. Im Anschluß an diesen Arbeitsschritt wird untersucht, inwieweit mit der jeweiligen begrifflichen Ausprägung des Polizeibegriffs eine gerichtliche Kontrolle hoheitlicher Akte einherging bzw. überhaupt möglich war. Diese Entwicklungslinien werden dann zu dem Ergebnis führen, daß sich Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer Neuorientierung vom absolutistischen Polizeibegriff hin zu einem naturrechtlich gefärbten – neben der Eröffnung von Rechtswegen – eine weitere „rechtsstaatliche Ausbaustufe“ entwickelte: Es ging um die Frage der Effektivität des Rechtsschutzes – also um die „Bürgernähe“ gerichtlicher Kontrollkompetenzen. In diesem Zusammenhang kam der Gerichtsorganisation der Territorialstaaten eine tragende Rolle zu. Ging es doch nunmehr darum, die reichsgerichtlichen Vorgaben auf territorialer Ebene effizient und fruchtbar zu machen. Eine geradezu vorbildliche Rolle in diesem Prozeß nahm das Oberappellationsgericht Wismar für die Gebiete Schwedisch-Pommerns ein. Damit offenbart sich zugleich ein Phänomen: Das höchste Gericht für das schwedische Territorium im Alten Reich hat sozusagen eine Pionierrolle in dem soeben skizzierten Problemkontext eingenommen. Die Untersuchung des Wirkens des Wismarer Tribunals widerlegt zugleich die Annahme einer gemeineuropäischen Homogenität des policeylichen Eingriffs. Mit der „Erkenntnisthese“ von der Pionierrolle des Wismarer Tribunals wird zugleich die Feststellung von Landwehr widerlegt, wonach „die subjektiven Rechte gegen den fürstlichen Machtmißbrauch nicht innerhalb eines Landes geschützt werden konnten, sondern nur durch die Reichsgerichtsbarkeit“7. Vielmehr bestand, um die 7 Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen, Frankfurt am Main 2000, S. 57.
IV. Inhalt des Art. 19 IV GG aus der Perspektive des Jetzt
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von Sellert8 geprägte Formel vom „Konkurrenzverhältnis zwischen Reichskammergericht und Reichshofrat“ zu bemühen, ein Quasi-Konkurrenzverhältnis zwischen dem Reichskammergericht und den obersten Territorialgerichten in diesem Bereich. All diese zunächst skizzenhaften Ausführungen dokumentieren den signifikanten Stellenwert des Themas mit Blick auf den heutigen normativen verfassungsrechtlichen und auch einfachgesetzlichen9 Kontext. Im Mittelpunkt steht also die „lange Reise“ der drei Rechtsinstitute „subjektiv-öffentliches Recht“, „Eröffnung von Rechtswegen“ und „Effektivität des Rechtsschutzes“ in das moderne Verfassungsrecht.
IV. Inhalt des Art. 19 IV GG aus der Perspektive des Jetzt Die Frage nach dem Inhalt des Art. 19 IV GG erlangt vorliegend ihre Bedeutung vor dem Hintergrund, daß nur bei einer genauen inhaltlichen Umzäunung dieses Artikels des Grundgesetzes der Rahmen für die historische Grundlagenforschung abgesteckt werden kann. Nur wenn man die sog. „essentialia negotii“ dieser Verfassungsbestimmung eruiert hat, kann man gezielt diese „essentialia“ in Korrelation setzen zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung. Erst somit wird das Nachzeichnen einer durchschaubaren Entwicklungslinie möglich sein. Was sich hinter dem Begriff der „Rechtswegegarantie“ verbirgt, so hat dies der ehemalige Präsident des BAG, Dieterich, anschaulich erklärt. Er führt aus, daß „das Grundgesetz schon im ersten Artikel von den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft spreche und die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet“10. Die Rechtsprechung des BVerfG habe „diesen Ansatz in äußerster Konsequenz und mit weitreichenden Folgen zu Ende gedacht“.
In seiner Abhandlung führt Dieterich darüber hinaus folgendes aus: „Wenn man nun die Rechtswegegarantie und die Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf für jedermann berücksichtige, könne man wirklich von einer kopernikanischen Wende gegenüber der Zeit des Rechtspositivismus sprechen“. 8
Sellert (Hrsg.), Reichskammergericht und Reichshofrat, Köln 1999. Diesbezüglich wäre die Vorschrift des § 42 II VwGO zu nennen, die für die Klagebefugnis eine Verletzung des subjektiv-öffentlichen Rechts voraussetzt. 10 Dieterich, Das Verhältnis von Recht und Politik, in: Auftrag Grundgesetz – Wirklichkeit und Perspektiven, hrsg. v. Martin Pfeiffer, Stuttgart 1989, S. 44, 48. 9
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2. Kapitel: § 2 Richterliche Konfliktlösung im Schatten des Leviathan
Dem Recht und damit auch der Justiz sei „in unserem demokratischen Rechtswesen eine völlig neue, eine zentrale, ja integrative Rolle zugewiesen worden. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mit den Verhältnissen der Weimarer Republik“. 1. Vergegenwärtigt man sich diese Aussagen vor dem „geistigen Auge“, so läßt sich nahtlos an eine zentrale Vorgabe des BVerfG anknüpfen, daß „die Bedeutung des Artikels 19 IV GG vornehmlich darin sieht, daß er die Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger beseitigt11. Das strukturelle Telos dieser Vorschrift „sei unmißverständlich: Kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden. Doch natürlich stehe der Weg zu den Gerichten nicht schrankenlos offen. Die Garantie setze nicht alle herkömmlichen Grundsätze des Prozeßrechts, die rechtlich oder tatsächlich eine Erschwerung des Zugangs zu den Gerichten bewirken, außer Kraft. Die meisten dieser Prinzipien dienten der Rechtssicherheit, dem geordneten Gang der Rechtspflege und damit in weiterem Sinne ebenfalls dem Rechtsschutz des Bürgers“12.
2. Der Art. 19 IV GG besitzt selbst Grundrechtsqualität13 und wird von den einen in der staatsrechtlichen Literatur als „Krönung des Rechtsstaats“14 oder als „Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaats“15 gefeiert, andere hingegen stellen eine von ihm ausgehende „Entfesselung der dritten Gewalt“16 oder eine „Hypertrophie der Justizstaatlichkeit“17 fest, die mehr und mehr zur „Subalternisierung der öffentlichen Verwaltung“18 führe. Das Bundesverfassungsgericht erblickt in Art. 19 IV GG „eine Grundsatznorm für die gesamte Rechtsordnung“19. Von seinem Inhalt her gewährleistet Art. 19 IV GG nicht den Gerichtsschutz als objektive Rechtskontrolle schlechthin, sondern Individualrechtsschutz20. Dieser Individualrechtsschutz erstreckt sich nach nicht unumstrittener Ansicht21 unter Be11
BVerfGE 10, S. 264, 267. BVerfGE 10, S. 264, 267. 13 Bettermann, Der Schutz der Grundrechte in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in: Grundrechte III/2, hrsg. von Hans-Carl Nipperdey, München 1959, S. 779, 783. 14 Ebers, Die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich, in: FS für Wilhelm Laforet, 1952, S. 269, 271. 15 Thoma, Über die Grundrechte im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Recht – Staat – Wirtschaft, Bd. 3, 1951, S. 9. 16 van Husen, Die Entfesselung der Dritten Gewalt, in: AöR 78 (1952), S. 49 ff. 17 Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem der Gegenwart, Stuttgart 1970, S. 92 ff. 18 Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, Berlin 1979, S. 7. 19 BVerfGE 58, S. 1, 40. 20 Papier, Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: HbStR VI, 2. Auflage, Heidelberg 1984, § 154 Rn. 2. 12
IV. Inhalt des Art. 19 IV GG aus der Perspektive des Jetzt
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zugnahme auf den Topos „öffentliche Gewalt“ „nur“ auf die gesamte vollziehende Gewalt. Neben dem Rechtschutz gegen öffentliche Gewalt beinhaltet der Art. 19 IV GG auch das Recht des Bürgers auf eine „tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“22. Der Gerichtsschutz muß eine richterliche Prüfungskompetenz in bezug auf die Rechtmäßigkeit der Ausübung öffentlicher Gewalt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beinhalten23. 3. Unter dem Topos des subjektiv-öffentlichen Rechts ist nach dem heutigen Begriffsverständnis ein Recht zu verstehen, das durch ein zwingendes Gesetz den Individualinteressen des einzelnen zu dienen bestimmt ist und dem einzelnen eine Rechtsmacht zur Durchsetzung seines Interesses verleiht24. Forsthoff deutet das subjektive öffentliche Recht als „die Schutzfunktion einer dem einzelnen durch Norm oder Rechtsgeschäft gewährten Rechtsposition . . ., das Vermögen, vom Staate oder einem sonstigen Träger öffentlicher Gewalt ein dieser Rechtsposition entsprechendes, konkretes Tun oder Unterlassen verlangen zu können“25.
Der Soziologe Luhmann formuliert zu diesem Problembereich pointiert und verschärft: „Das subjektive Recht ist das ungerechte Recht, das Recht, das in sich selbst keinen Ausgleich hat“26.
Damit offenbart sich zugleich die von Henke angesprochene Problemkomponente, wonach „das Problem des subjektiv-öffentlichen Rechts sich zugleich auch als Problem des gerichtlichen Rechtsschutzes“27 darstellt. Und gerade das Problem des gerichtlichen Rechtsschutzes wirft natürlich zwangsläufig die Frage auf, wann denn nunmehr sich richterliche Kontrollkompetenzen „im Schatten des Leviathan“ herauskristallisiert haben. Damit werden die geschichtlichen Wurzeln des Rechts auf den gesetzlichen Richter i. S. d. Art. 101 GG tangiert. Diese Vorschrift markiert nach den Ausfüh21 Insbesondere betont Voßkuhle (Rechtssschutz gegen den Richter, München 1993), daß nicht nur der Rechtsschutz durch den Richter, sondern auch der gegen den Richter Bestandteil der öffentlichen Gewalt ist. Zu diesem Problemkontext ist die inzwischen durch das BVerfG bestätigte und auf der Grundlage der Arbeit von Voßkuhle übernommene Auffassung zu beachten: BVerfG, NJW 2003, 1924 ff. 22 BVerfGE 35, S. 263, 274; 40, S. 272, 275; 61, S. 82, 111. 23 BVerfGE 51, S. 268, 284. 24 Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 7. Auflage, München 2004, Art. 19 Rn. 21. 25 Forsthoff, Lehrbuch des Allgemeinen Verwaltungsrecht, 10. Auflage, München 1973, S. 186. 26 Luhmann, Zur Funktion der „subjektiven Rechte“, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, 1970, S. 321, 325. 27 Henke, Das subjektive öffentliche Recht, Tübingen 1968, S. 18.
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2. Kapitel: § 2 Richterliche Konfliktlösung im Schatten des Leviathan
rungen des Bundesverfassungsgerichts „eine wichtige Ausprägung der rechtsstaatlichen Rechtssicherheit“28 und des „rechtsstaatlichen Objektivitätsgebotes“29. Damit lassen sich im Wege einer zusammenfassenden Ergebnisanalyse und in puncto „konkreter Arbeitsauftrag“ folgende wissenschaftliche Zielvorgaben festhalten: a) Wie wurde im 18. Jahrhundert der Rechtsweg – also der Individualrechtsschutz gegen hoheitliche – im neuzeitlichen Sinne exekutive – Maßnahmen eröffnet? b) Wie wurde dieser Individualrechtsschutz möglichst effektiv gestaltet?
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BVerfGE 20, S: 336, 344. BVerfGE 82, S. 159, 194.
„Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt; sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird“ Johann Wolfgang von Goethe1
3. Kapitel
§ 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei I. Prolegomenon Unterzieht man im Rahmen einer anschaulichen Problemeinführung vor dem Kontext des noch zu erörternden Kompetenzkonfliktes zwischen Justiz und Polizei die Formulierung von Cramer, „daß Polizeisachen an und vor sich betrachtet auch bei den höchsten Reichsgerichten kein objectum justitiae sind“2, einer eingehenderen Betrachtung, so offenbart sich in dieser Aussage eine der Gerichtsverfassungsstruktur des „sacrum imperium“ virulent innewohnende Konfliktlage: Polizeisachen unterlagen keiner gerichtlichen Kontrolle und Überprüfung3. In moderner Terminologie gesprochen, waren Polizeisachen also nicht justitiabel. Dieses Spannungsverhältnis erfuhr in der zeitlichen Dekade Mitte des 18. Jahrhunderts ihren „point de culmination“. Es entwickelte sich in dieser Zeit eine mit Verve geführte Debatte in bezug auf die der Justiz zustehenden Kompetenzen. Um sich diesem Problemkanon der Kompetenzgrenzen in einer sachadäquaten und plausiblen Weise nähern zu können, bedarf es zunächst einer Skizzierung elementarer historischer Grundtatsachen im Wege einer „tour d’histoire“. Zu diesen Grundtatsachen gehört zum einen die historiographische Entwicklung des Begriffs „Polizei“ im 18. Jahrhundert. Zum anderen ist als weitere Grundtatsache die Gerichtsverfassungsstruktur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Rahmen einer deskriptiven Erfassung und Rekonstruktion zu skizzieren. Dieser deskriptive Ausgangspunkt erlangt seine Plausibilität dadurch, daß man auf diesem Wege der konkreten juristischen Aufgabe, um die es geht, gerecht wird.
1 Goethe, Maximen und Reflexionen, zitiert nach Schmidhäuser, Verbrechen und Strafe – Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt, 2. Auflage, München 1996, S. VIII. 2 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 3 Als marginale Ausnahme ist in diesem Zusammenhang die erstinstanzliche Zuständigkeit des RKG’s bei Verstößen gegen Polizeigesetze des Reiches zu nennen.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
II. Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“4 1. Bevor man sich einer Darstellung der Gerichtsverfassungsstruktur des „sacrum imperium“ zuwendet, sollte man sich folgende Aussagen vergegenwärtigen: Zunächst wäre die berühmte „Charakterisierung“ des Alten Reiches durch den bedeutenden Historiographen des 19. Jahrhunderts Leopold von Ranke zu nennen. Ranke hat das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit einem gotischen Dom verglichen, „an dem Jahrhunderte gebaut haben, der über zahlreiche Abteilungen verfügt, dessen Säulen sich zwar alle ähneln, aber dennoch unterscheiden, und der trotz aller Mannigfaltigkeit im einzelnen eine in sich geschlossene und harmonische Einheit bildet“5.
Dieser Vergleich führt einem zugleich das Verfassungsgefüge vor Augen und leitet über zu der Erkenntnis, daß eine systematische Darstellung und Erfassung der Verfassungsrechtslage „nicht möglich“ ist6. Die Verfassungsstruktur des Reiches ist „mit den Mitteln juristischer Logik nicht zu begreifen“7. Diese von Menger und Willoweit formulierten Aussagen sind vor dem Hintergrund zu verstehen, daß eine anerkannte Rechtsquellenlehre mit Normenhierarchien und Präferenzregeln nicht existierte8. Trotz dieses einschränkenden Sachverhalts soll der Versuch einer übersichtlichen Systematisierung und Kategorisierung der Typologie der Gerichtsverfassung des Alten Reiches unternommen werden. Es geht also um den Versuch, etwas im Sinne von Menger und Willoweit scheinbar Unerklärbares zu erklären. Der Leser soll sich wie Dante von Vergil auf seinem Gang durch die Labyrinthe des Purgatorio an die Hand genommen fühlen. 4 Für Samuel von Pufendorf war das Reich keiner Staatsform klar zuzuordnen. Vor diesem Hintergrund versteht sich die von Pufendorf unter dem Pseudonym „Severinus de Monzambano“ in dem Werk „De statu imperii Germanicii ad Laelium fratrem liber“, Genevae 1667, insbes. Cap. VI, § 9 veröffentlichte Formel: „Nihil ergo aliud restat, quam ut dicamus, Germaniam esse irregulare aliquod corpus, et tantum non monstro simile“. So beachtenswert die scharfe Analyse des Reichsstatus ist, so unbefriedigend sind eigentlich seine Vorschläge und Ratschläge zur Besserung. Sie haben eher den Charakter eines „halbflüssigen Zustandes“. Für Pufendorf war das Alte Reich im Hinblick auf die aristotelische Staatsformenlehre als „res puplica irregularis“ anzusehen. Es schwanke zwischen beschränkter Monarchie und einem Staatenbund hin und her. 5 von Ranke, Sämmtliche Werke, 2. u. 3. Gesamtausgabe, Bd. 49/50, Leipzig 1887, S. 137. 6 Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. Auflage, München 1993, Rn. 26. 7 Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, 4. Auflage, München 2001, § 24 I., S. 167. 8 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 4. Auflage, München 2003, Rn. 94.
II. Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“
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Die Gerichtsverfassung des Alten Reiches bietet aus heutiger Sicht ein recht kompliziertes Bild, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß sie einem steten Wandel unterworfen war. Die Verfassung des Reiches hatte zum Teil in einer Reihe von Reichs-Grundgesetzen ihren Niederschlag gefunden. Dazu gehörten jedenfalls die Goldene Bulle von 1356, der Ewige Landfrieden von 1495, der Augsburger Religionsfrieden von 1555 („Cuius regio, eius religio“) und der Westfälische Frieden von 1648 („Instrumenta Pacis Westphalicae“)9. Später zählten auch noch die kaiserlichen Wahlkapitulationen, die Reichskammergerichtsordnung von 1555 und die Reichshofratsordnung von 1654 dazu. Chronologisch betrachtet haben die Reichsgrundgesetze einen Bereich und eine Institution der Reichsverfassung nach der anderen erfaßt und einer schriftlichen Fixierung zugeführt10. Nach der zunächst noch auf den karolingischen Grundlagen beruhenden mittelalterlichen Gerichtsverfassung blieb der König Richter im gesamten Reich, d.h. er blieb Inhaber der obersten Gerichtsgewalt11. Damit konnten alle Rechtsstreitigkeiten vor den König gebracht werden, der König konnte jeden Prozeß an sich ziehen und selbst entscheiden. Die diese Zeit prägende Übertragung des Gerichtsbannes vom König auf den Richter (Bannleihe) verschwand jedoch in der Folgezeit fast ganz und behauptete sich nur noch vereinzelt12. Diese Entwicklung kulminierte in den Bestimmungen des Westfälischen Friedens von 1648, welche den Reichsständen die sog. ständische Libertät zuerkannte. Diese ständische Libertät führte letztlich zu einer immer mehr anwachsenden Territorialgewalt. Die Stärkung der Territorialgewalt, welche eine Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Reich und Territorien bewirkte – dieser Vorgang wird in der rechtshistorischen Literatur als „Doppelung der Staatsmacht im Reich“13 bezeichnet –, ging einher mit einer Zunahme der Jurisdiktionsgewalt in persona des Landesherrn. Es ist bis heute nicht eindeutig geklärt, welches die rechtlichen Grundlagen der Landesherrschaft, später der Landeshoheit, sind14. Jedoch gilt es als rechtshistorisch anerkannt, daß die Jurisdiktionsgewalt der Landesherrn zur Definition der Territorialgewalt gehörte15. Diese für die Rechtswissenschaft des 16. Jahrhunderts charakteristische Auffassung über den Zusammenhang zwischen Herrschaftsrecht und Juris9
Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Auflage, Berlin 1996, S. 143. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 4. Auflage, München 2004, Rn. 162 a. 11 Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Band 1, 2. Auflage, Stuttgart 1997, S. 13. Aretin spricht sogar vom „Kaiser als Hüter des Rechts“. 12 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, 2. Auflage, Karlsruhe 1962, S. 374. 13 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, Karlsruhe 1966, S. 114. 14 Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 7, Köln 1980, S. 6. 15 Eisenhardt, op. cit. (Fn. 10), Rn. 164. 10
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
diktionsgewalt behielt auch für die kommenden Jahrhunderte ihre Gültigkeit16 und ist somit auch als prägende Tendenz des 18. Jahrhunderts anzusehen. Durch den Westfälischen Frieden17 wurde zwar das Aufkommen zentrifugaler Tendenzen begünstigt, jedoch blieb die Rechtseinheit des Reiches im Kern gewahrt. Die Reichsinstitutionen blieben intakt, auch wenn sich ihre Wirksamkeit abschwächte18. Kaiser und Reich oblag vielmehr eine „gebremste Staatsgewalt“19. Mit der Gründung des Reichskammergerichts20 als „erste überregionale unabhängige Gerichtsinstitution auf deutschem Boden“21 im Zuge der 16
Willoweit, op. cit. (Fn. 7), § 23 II., S. 157. Heckel liefert für den Westfälischen Frieden die plastische Umschreibung vom „Instrument internationaler Friedenssicherung und religiös-weltanschaulicher Koexistenzordnung“. Vgl. Heckel, JuS 1988, S. 336. 18 Link, JZ 98, S. 1, 8. 19 Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 1: 1600– 1800, München 1988, S. 392. 20 Johann Wolfgang von Goethe hat in seiner Eigenschaft als Praktikant am Reichskammergericht über dessen Probleme wie folgt berichtet: „Aber alle diese späteren und früheren Gebrechen entsprangen aus der ersten, einzigen Quelle: aus der geringen Personenzahl. Verordnet war, daß die Beisitzer in einer entschiedenen Folge und nach bestimmter Ordnung vortragen sollten. Ein jeder konnte wissen, wann die Reihe ihn treffen werde, und welchen seiner ihm obliegenden Prozesse; er konnte darauf hinarbeiten, er konnte sich vorbereiten. Nun häuften sich aber die unseligen Reste; man mußte sich entschließen, wichtigere Rechtshändel auszuheben und außer der Reihe vorzutragen. Die Beurteilung der Wichtigkeit einer Sache vor der andern ist, bei dem Zudrang von bedeutenden Fällen, schwer, und die Auswahl läßt schon Gunst zu; aber nun trat noch ein anderer bedenklicher Fall ein. Der Referent quälte sich und das Gericht mit einem schwer verwickelten Handel, und zuletzt fand sich niemand, der das Urteil einlösen wollte. Die Parteien hatten sich verglichen, auseinandergesetzt, waren gestorben, hatten den Sinn geändert. Daher beschloß man, nur diejenigen Gegenstände vorzunehmen, welche erinnert wurden. Man wollte von der fortdauernden Beharrlichkeit der Parteien überzeugt sein, und hierdurch ward den größten Gebrechen die Einleitung gegeben; denn wer seine Sache empfiehlt, muß sie doch jemand empfehlen, und wem empföhle man sie besser als dem, der sie unter Händen hat? Diesen ordnungsgemäß geheimzuhalten, ward unmöglich; denn bei so viel mitwissenden Subalternen, wie sollte derselbe verborgen bleiben? Bittet man um Beschleunigung, so darf man ja wohl um Gunst bitten: denn eben daß man seine Sache betreibt, zeigt ja an, daß man sie für gerecht hält. Geradezu wird man es vielleicht nicht tun, gewiß aber am ersten durch Untergeordnete; diese müssen gewonnen werden, und so ist die Einleitung zu allen Intrigen und Bestechungen gegeben“ (Dichtung und Wahrheit, III 12, Band 10, München 1996, S. 529 ff.). Ein interessantes Beispiel zum Komplex „Bestechung“ liefert die Biographie des Kammergerichtsassessors Christian von Nettelbla. Siehe hierzu: Jörn, Johann von Ulmenstein und Christian Nettelbla: Zwei Assessoren aus Norddeutschland am Wetzlarer Reichskammergericht, in: Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, hrsg. von Nils Jörn und Michael North, Köln 2000, S. 143–184. 17
II. Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“
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Reichsreform auf dem Reichstag zu Worms 1495, das somit an die Stelle des königlichen Kammergerichts getreten war, wurde ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur besseren Übersichtlichkeit und Überschaubarkeit der Gerichtsverfassung des „sacrum imperium“ gelegt. Die Wohlfahrt des Reiches sollte in Zukunft weniger von Personen als vielmehr von dauernden Institutionen abhängig sein. Das zeigt sich besonders darin, daß das Gericht nicht am königlichen Hof angesiedelt wurde, sondern in einer freien Reichsstadt. Mit der Gründung und Installation des Reichskammergerichts in einer freien Reichsstadt wurde der erste Schritt zu einer Gewaltenteilung getan22. Die Zuständigkeit bzw. der Kompetenzbereich des Reichskammergerichts – neben der Wahrung des Ewigen Landfriedens – erstreckte sich auf Streitigkeiten zwischen oder gegen Reichsunmittelbare23. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der gerichtlichen Prüfungskompetenz nahmen die Rechtsstreitigkeiten zwischen mittelbaren Reichsuntertanen und ihrer Landesobrigkeit ein24. Als den Gliedern des Reiches übergeordnete Rechtsmittelinstanz war das Kammergericht in besonderem Maße ein wichtiges Kontrollorgan25 gegenüber der Jurisdiktion in den einzelnen Territorien zu klassifizieren. Denn es war zuständig für die Appellationen26 mittelbarer Reichsangehöriger gegen Entscheidungen der obersten landesherrlichen Gerichte, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft werden konnten. Neben das Reichskammergericht trat als weiteres höchstes Reichsgericht der Reichshofrat, der quasi als „Konkurrenzinstitution“ zum Reichskammergericht anzusehen ist. Der Reichshofrat war ein in Wien residierendes kaiserliches Regierungs- und Verwaltungsorgan27. Reichskammergericht und Reichshofrat gehörten zu den Klammern, die das Reich bis zu seinem Ende im Jahre 1806 – wenn auch zum Teil nur lose – zusammenhielten28. In Bezug auf den Assessor von Nettelbla findet der Ausspruch des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna, wonach in Deutschland „corrupta iustitia“ sei, seine Berechtigung. Oxenstierna, I Tyskland är ingen revision och derföre corrupta iustitia. SRP 1646 (27. Juli), S. 426. 21 Schmidt-von Rhein, NJW 90, S. 489. 22 Odersky, NJW 95, S. 2901, 2902. 23 Schroeder, JuS 78, S. 368, 371. 24 Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 3, Köln 1976, S. 42; Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 33, Köln 1999, S. 3. 25 Diestelkamp spricht von einem Kontrollmechanismus, „der zur Festigung der Stellung des Kammergerichts beitrug“. Vgl. hierzu: Diestelkamp, Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, Frankfurt 1999, S. 199. 26 Im Sinne moderner Dogmatik bezeichnet der Begriff „Appellation“ (lat.: appellare) ein Rechtsmittel mit suspensiver und devolutiver Wirkung. Eisenhardt, op. cit. (Fn. 10), Rn. 158. 27 Schmelzeisen, JuS 75, S. 427, 428.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Die Reichsgerichtsbarkeit erstreckte sich allerdings nicht ausnahmslos auf das gesamte Reich. So waren aufgrund von Exemtionsprivilegien einzelne Reichsteile von der höchsten Gerichtsbarkeit ausgeschlossen. Zudem waren die Wirkungsmöglichkeiten der obersten Reichsgerichte durch ein weiteres historisch bedingtes Faktum nicht unerheblich eingeschränkt: das waren die kaiserlichen privilegia de non appellando. Hatte zunächst der König bzw. der Kaiser als oberster Gerichtsherr im Reich den Richtern im Hinblick auf die Hochgerichtsbarkeit den Gerichtsbann übertragen (Bannleihe), entfiel unter anderem aufgrund der wachsenden politischen Macht der Territorialfürsten diese Übung seit dem 13. Jahrhundert fast ganz29. Mußte zuvor der Inhaber der Hochgerichtsbarkeit den Gerichtsbann (Königsbann) vom König einholen und diesem dafür einen Eid schwören, so wurden später die Fürsten zu Gerichtshaltern des Königs30. Damit hatte eine starke Territorialisierung des Gerichtswesens eingesetzt, welche durch die bereits erwähnten kaiserlichen privilegia de non appellando verstärkt und zementiert wurde. Das Spezifikum der privilegia de non appellando bestand darin, daß es einem an einem Rechtsstreit Beteiligten verwehrt war, sich mit einem gegen das Urteil eines landesherrlichen Gerichtes gerichteten Rechtsmittel, das etwa seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in der Regel die „Appellation“ war, an Gerichte zu wenden, die nicht Gerichte der Landesherrn waren31. In concreto bedeutete dies, daß der Rechtsweg an das Reichskammergericht und den Reichshofrat gesperrt war. Jedoch bleibt zu erwähnen, daß trotz bestehender „privilegia de non appellando“ die Reichsfürsten nach wie vor bei den Reichsgerichten verklagt werden konnten32. Das „normale“ rechtshistorische Bild war dadurch gekennzeichnet, daß die Gerichte der Landesherrn und Städte insofern der Reichsgerichtsbarkeit unterworfen waren, als derjenige, der sich durch ein Urteil dieser Gerichte beschwert fühlte, sich mit einem Rechtsmittel an die Reichsgerichte wenden konnte. Dies klingt auch schon in der Formulierung von Cramer an, wenn er von „iura et laesiones Partium“ spricht33. Durch die kaiserlichen privilegia de non appellando wurde die Abschließung der Justiz in den Reichsständen gegenüber dem Reich gefördert34. 28
Eisenhardt, op. cit. (Fn. 10), Rn. 186. Eisenhardt, op. cit. (Fn. 14), S. 10. 30 Conrad, op. cit. (Fn. 12), Bd. I, S. 376. 31 Eisenhardt, op. cit. (Fn. 14), S. 12. 32 Kroeschell, Polizeisachen und Justizsachen, in: Gerichtslauben Vorträge. Freiburger Festkolloquium zum 75. Geburtstag von Hans Thieme, hrsg. von Karl Kroeschell, Sigmaringen 1983, S. 57, 66. 33 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 29
II. Gerichtsverfassungsorganismus des „sacrum imperium“
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2. Versucht man nunmehr nach der erfolgten Skizzierung der gerichtsverfassungsrechtlichen Entwicklungslinien im „sacrum imperium“ auf der Basis eines normativen Resümees den Gerichtsverfassungsorganismus trotz der eingangs erwähnten Unmöglichkeit einer Darstellung „mit Mitteln der juristischen Logik“ in eine systematische Struktur zu kleiden, so läßt sich konstatieren, daß im wesentlichen zwei Elemente die Gerichtsverfassungsstruktur des Alten Reiches im 18. Jahrhundert geprägt haben: Zum einen wäre in diesem Kontext die extrem stark ausgeprägte Territorialisierung35 des Gerichtswesens zu nennen, welche durch die bereits erwähnten kaiserlichen „privilegia de non appellando“ forciert wurde; zum anderen ist als zweite prägende Tendenz die Schaffung und der Ausbau einer Reichsgerichtsbarkeit zu nennen, welche in einem engen Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Reichskammergerichts zu sehen ist. Der Gerichtsverfassungsorganismus erscheint vor diesem Kontext nicht schlechthin als „persona mystica“. Vielmehr kann man davon sprechen, daß sich das bipolare Spannungsfeld zwischen Kaiser und den Territorialstaaten in eine polyzentrische Konfliktlage wechselnder Auseinandersetzungen umgeformt hat. Das soeben gewonnene Ergebnis dokumentiert, daß sich auf der gerichtsverfassungsrechtlichen Ebene dasselbe Phänomen widerspiegelte wie auf der politisch-verfassungsgeschichtlichen: nämlich ein evident ausgeprägter Dualismus zwischen territorialstaatlichem Partikularismus und nationalem Unitarismus. Diese Dichotomie ist primär das Ergebnis des „buntscheckigen Flickenteppiches“, welcher die historische Faktizität im „sacrum imperium“ kennzeichnete. Dieses Konfliktpotential klingt bereits in den Ausführungen von Cramer dahingehend an, daß „Polizeisachen, sobald sie contentiosae werden, auch ein objectum sowohl deren höchsten Reichs- als UnterGerichten sind“36. Die Reichsgerichtsbarkeit muß demzufolge in Verbindung mit dem Geflecht der in den Territorien existierenden fürstlichen, korporativen und individuellen Berechtigungen und Verpflichtungen, welche die Landeshoheit innerlich begründen und begrenzen, gesehen werden37. Weitzel skizziert in seiner Dissertation den Inhalt der Gerichtsverfassung als Spiegelbild der Reichsverfassung38. 34 In diesem Sinne: Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches, 3. Auflage, München 1994, S. 177. 35 Laufs spricht in diesem Zusammenhang von einem „territorialpolitischen Ehrgeiz“. Vgl. Laufs, op. cit. (Fn. 9), S. 41. 36 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 37 Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, Göttingen 1983, S. 60. 38 Weitzel, Der Kampf um die Appellation an das Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 4, Köln 1976, S. 341.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Dieses im Zusammenhang einer globalen Bewertung gewonnene Ergebnis markiert einen immens wichtigen Baustein für den Kompetenzkonflikt und die Kompetenzgrenzen zwischen Justiz und Polizei.
III. Inhalte des Polizeibegriffs im „sacrum imperium“ 1. Eine Orientierung an der etymologischen Wortbedeutung führt in dem zu untersuchenden Kontext zu einer entscheidenden begrifflichen Vorklärung. Die Physiognomik des Polizeibegriffs zeigt folgendes Bild: Der Begriff der Polizei39 hat nicht von Anfang an einen feststehenden Inhalt; mit dem Ausdruck „Polizei“ sind in den einzelnen rechtsgeschichtlichen Epochen sehr unterschiedliche Vorstellungsinhalte verbunden worden40. Das Begriffsverständnis von „Polizei“ ist vielmehr als „gesellschafts-politische Dimension“41 zu begreifen. Götz benutzt die plastische Umschreibung eines „getreuen Spiegelbildes der verfassungsrechtlichen und politischen Situation“42. Das Wort „Polizei“ ist griechischen Ursprungs und geht zurück auf den Ausdruck „politeia“, der die Verfassung des städtischen Gemeinwesens und den bürgerschaftlichen Status bezeichnete43. Genauer gesagt wird der griechische Begriff „politeia“ vom Wort „polixein“ („polizein“) abgeleitet, das soviel bedeutet wie „miteinander eine Mauer um die Stadt bauen“44 45. Auf dem Wege über die lateinische Sprache („ius politiae“)46 39 Eine hervorragende Übersicht und einen ebenso vorzüglichen Einblick in puncto „Polizeibegriff“ liefert die Dissertation von Preu, op. cit. (Fn. 37). 40 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht des Bundes und der Länder, 9. Auflage, Köln 1986, § 1, S. 2. 41 Schoch, JuS 94, S. 391, 392. 42 Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht 12. Auflage, Göttingen 1995, Rn. 12. 43 v. Unruh, DVBl. 72, S. 469. 44 Pausch/Prillwitz, Polizei- und Ordnungsrecht in Hessen, 2. Auflage, Stuttgart 1995, S. 25 Fn. 2. 45 Mit diesem Inhalt wird der griechische Begriff bereits von Homer in der „Ilias“ verwendet. In diesem bedeutenden literarischen Werk schildert Homer, wie sich Poseidon bei Zeus beklagt, daß die Archäer um ihre Schiffe eine Mauer errichtet haben, ohne zuvor den Göttern geopfert zu haben. Hierdurch würde das große Werk, das er mit Apollo vollbracht habe, von den Menschen vergessen (Homer, Ilias. Übersetzung von Roland Hampe Stuttgart 1979, Siebenter Gesang, Vers 445 ff.). Auch das Hauptwort „polis“ – im Sinne von „Burg“ – findet sich schon bei Homer. Ihm folgt „polites“, der zum Gemeinwesen gehörende Bürger, der im Schutz der gemeinsam errichteten Mauer mit anderen Bürgern zusammenlebt. „Politeia“ wird zuerst bei Herodot – dem „Vater der Geschichtsschreibung“ – im Sinne von „Bürger sein“ bezeugt – wozu vor allem das Leben, der Stand und andere Rechte des freien Stadtbewohners gehören.
III. Inhalte des Polizeibegriffs im „sacrum imperium“
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erhielt der Begriff „politeia“ Einzug in die deutsche Rechtssprache47, und seine Übertragung auf die gesamte staatliche Ordnung hat sich in Deutschland im Mittelalter fortgesetzt48. Vor diesem Hintergrund gilt zu konstatieren, daß der Begriff „Polizei“ in abstracto – also zunächst losgelöst vom jeweiligen historischen Rahmen – eine spezifische Ordnungsproblematik umreißt, die wiederum durch die entsprechende historische Faktizität bestimmt wird. 2. Nachdem nun der Terminus „Polizei“, gründend im Griechischen „politeia“, sich im 15. Jahrhundert in der deutschen Rechtssprache etabliert hatte, zeigte sich seine kodifikatorische Verfestigung zugleich in den Reichspolizeiordnungen49 von 1530, 1548 und 1577. Dieser Prozeß ist historisch bedingt und geht einher mit der Urbanisierung im Mittelalter. Durch den Urbanisierungsprozeß entwickelte sich die Polizei zu einem spezifischen Ordnungsphänomen dahingehend, daß das Aufkommen neuer städtischer Lebensformen das Bedürfnis nach einer rechtlichen Ordnung aller Lebensbereiche der Untertanen bedingte50. Die Inhaltsbestimmung des Begriffes „Polizei“ war in der Zeit vom 15.–16. Jahrhundert durch eine auf die Herstellung und Erhaltung eines Zustandes guter Ordnung des Gemeinwesens gekennzeichnet51. Dieses Wesensmerkmal wird von Knemeyer illustrativ als „christliche Polizei“ umschrieben52. Die im 15. und 16. Jahrhundert geprägte Entwicklungslinie des Polizeibegriffs steht in der Tradition der aristotelischen Politiken, wenn der Gedanke der „societas civilis“ akzentuiert wird53. Auf der Grundlage dieses Verständnisses regelten die 46
Bei den Römern Verstand man unter dem Begriff „Polizei“ nichts anderes als „adminstrare Rempublicam“. Vgl. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), VII, S. 79. 47 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Auflage, München 2000, § 1 I. Rn. 2. 48 Pausch/Prillwitz, op. cit. (Fn. 44), S. 25. 49 Gelegentlich begnügte man sich damit, den Scherz von Christian Thomasius zu zitieren, daß die „Policey-Ordnungen von niemand als von den Kirchthüren und anderen Örtern, daran sie wegen der Publikation angeschlagen und feste gemacht werden, gehalten“ würden. von Unruh, in: Kurt Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band I, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, Anm. 11 unter Bezugnahme auf G. K. Schmelzeisen (Bearb.), Polizei- und Landesordnungen (Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, hrsg. v. W. Kunkel, G. K. Schmelzeisen, H. Thieme), Köln 1968/69, der wiederum C. Thomasius, D. Melchiors von Osse Testament gegen Hertzog Augusto usw., Halle 1771, Cap. 1, Note 256 zitiert. 50 Boldt, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, München 1992, A. Rn. 2 ff.; Schoch, JuS 94, S. 391, 392. 51 Bader/Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte, Berlin 1999, E. II. 4. a), S. 197. 52 Knemeyer, Artikel „Polizei“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 4, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, S. 875, 878. 53 Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 7.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Reichspolizeiordnungen aus den Jahren 1530, 1548 und 1577 ebenso wie die Polizeiordnungen der Territorien und Städte die unterschiedlichsten Lebensbereiche, wie etwa den Wirtschaftsverkehr, die ständische Gliederung, die Berufsausübung (u. a. das Gesindewesen), das allgemeine Verhalten (u. a. das Verbot des Luxus), das Vertragswesen (u. a. das Verbot des Wuchers) oder das Erbrecht54. Hier zeigt sich die umfassende sozialethische Bestimmung der „Polizei“ im Sinne aristotelischer Politik und einer von Friede und Recht erfüllten „guten Ordnung“55. 3. Gegen Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts vollzog sich eine „spielentscheidende“ inhaltliche Verschiebung von der aristotelischen „societas civilis“ zu einem hoheitlich-obrigkeitlich formal bestimmten Polizeibegriff56. Diese neue innere rechtliche Struktur des Polizeibegriffs geht auf die geschichtliche Entwicklung des Absolutismus zurück. Kennzeichnend für diese Epoche ist die Säkularisierung des politischen Denkens: An die Stelle von Glauben und Seelenheil trat das Gemeinwohl als Staatsinteresse57. Die theoretische Legitimation für dieses neue „Staatsmodell“ lieferte Jean Bodin in seinem Œuvre „Les six livres de la république“. Die Bodin’sche Konstruktion war maßgebend durch die umfassende Autorität des Herrschers gekennzeichnet, der „legibus solutus“ regierte58. Vor dem Hintergrund dieses neuen gedanklichen Entwurfs ist unter dem Begriff „Polizei“ im Zeitalter des Absolutismus eine sich erheblich verdichtende Staatstätigkeit zu verstehen, welche zum juristischen Inbegriff der absoluten Herrschaft über die Untertanen wurde59. Eine „gute Ordnung“ war unter diesen Umständen und Vorzeichen einer neuen Staatszweckbestimmung nicht mehr das, was erhalten werden sollte, sondern was vom Staat gestaltet werden mußte60. Die Polizei wuchs also in die „Funktion eines Steuerungsinstruments“ hinein61. Diese neue Begriffsbestimmung bedeutete Kompetenzausweitung und Zuwachs an Definitionsmacht für denjenigen, der die Inhalte der Polizei festlegen konnte. Mit Ausnahme der Kriminal- und Privatrechtspflege, der geheimen Staatssachen, des Kriegswesens und des innersten Kerns der Kirchensachen gehörte praktisch die gesamte innere Verwaltung 54 Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, Band II, 2. Auflage, Heidelberg 2000, § 7 Rn. 2. 55 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 369. 56 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 369. 57 Frotscher/Pieroth, op. cit. (Fn. 8), Rn. 107. 58 Willoweit, op. cit. (Fn. 7), § 23 I, S. 148; Würtenberger, JuS 86, S. 344, 345. 59 Schoch, JuS 94, S. 391, 392. Vgl. hierzu auch: Schulze, Polizei und Gesetzgebungslehre, Berlin 1982, S. 60. 60 In diesem Sinne: Boldt, in: Lisken/Denninger, op. cit. (Fn. 50), A. Rn. 11. 61 Simon, „Gute Policey“ – Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der frühen Neuzeit, Frankfurt 2004, passim.
III. Inhalte des Polizeibegriffs im „sacrum imperium“
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bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Polizei62. Stolleis bringt die sich in dieser zeitlichen Periode vollziehende Entwicklung plastisch auf den Nenner, daß es weder in der Staatslehre des Absolutismus einen prinzipiellen und allzwingend angesehenen Gegensatz zwischen Gesetz, Verordnung und Einzelakt gab noch der Individualrechtsschutz ein umfängliches Thema war; Gesetzgebungs- und Befehlsmacht lagen gebündelt in der Hand des Souveräns63. Anhand der von Stolleis präsentierten Formulierung erlangt die Formulierung von Cramer, „daß Polizeisachen an und vor sich betrachtet auch64 bei den höchsten Reichsgerichten kein objectum iustitiae sind“65 ihre „bekennende Authentizität“. Dieses Herrschafts- und Regierungsverständnis findet seine Legitimation in der „plenitudo potestatis“ des Regenten und geht einher mit einer Bündelung von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit in persona des Monarchen. Per saldo läßt sich für die untersuchungsrelevante Epoche konzedieren, daß das wesentliche Aufgabenfeld der dem Herrscher zustehenden Polizeigewalt („ius politiae“) als territorialer Verwaltungstätigkeit darin bestand, den staatlich gesetzten Normen durch möglichst dichte Verhaltenskontrolle und konsequente Sanktionierung von Normverstößen ein Höchstmaß an faktischer Wirksamkeit zu verschaffen, um auf diese Weise das Verhalten der Herrschaftsunterworfenen in dem politisch intendierten Sinne steuern zu können66. Die Polizei diente realiter der „Effektivität“ und „Durchsetzung“ herrschaftlicher politischer Programme. Gerhard Oestreich hat diesen Prozeß der umfassenden Normierung des gesellschaftlichen Lebens als „Sozialdisziplinierung“ respective „Sozialregulierung“ bezeichnet, die das politische und soziale Ergebnis des monarchischen Absolutismus sei67.
62 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 370. Otto Mayer prägt in seinem berühmten Lehrbuch zum Deutschen Verwaltungsrecht die Definition von einer „Art Generaltitel für alles Mögliche“ (Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., München 1924, S. 30). 63 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 373. 64 Im Wege eines „argumentum e contrario“ folgt aus dieser Feststellung, daß Polizeisachen auch nicht Prüfungsgegenstand vor den Untergerichten waren. 65 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 66 Simon, Policey im kameralistischen Verwaltungsstaat: Das Beispiel Preußen, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hrsg. v. Karl Härter, Frankfurt 2000, S. 473. 67 Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 179, 188.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
IV. Justizsachen versus Polizeisachen 1. Die soeben im Wege einer systematisierenden Darstellung der Regelungsbereiche „Gerichtsverfassung“ und „Polizei“ im Alten Reich aufgezeigten historischen Entwicklungslinien dienen dazu, das Konkurrenzverhältnis von Justiz und Polizei anschaulicher zu beleuchten. Es gilt nämlich als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis, daß die Funktion der Unterscheidung von Justiz- und Polizeisachen nur aus dem Zusammenhang der Justizverfassung des Alten Reiches in der Dekade des 17. und 18. Jahrhunderts heraus verstanden werden kann68. Die Untersuchung der Gerichtsverfassung des Alten Reiches hat zu der Erkenntnis geführt, daß der Begriff „Justiz“ positiv besetzt ist und die gerichtliche Überprüfung bestimmter Verhaltensweisen und Handlungen meint. Die Aufgabe der Gerichtsbarkeit dient in der damaligen Zeit also nur dem Zweck des antinomisch verfaßten Staatszielverständnisses: Bewahrung der Individualrechtssphäre69. Demgegenüber ist der Polizeibegriff im absolutistischen Zeitalter durch „justizfreie Räume“ gekennzeichnet. Eine Kontrolle „staatlicher“ Handlungen durch eine vom Herrscher unabhängige Institution läßt dieses Polizeiverständnis im Aggregatzustand des absolutistischen Fürstenstaates nicht zu. Genau an diesen Bedeutungsgehalten der Begriffe „Justiz“ und „Polizei“ entzündete sich Mitte des 18. Jahrhunderts die Debatte um eine pragmatische Trennung und Grenzlinie von Justiz und Polizei; diese Debatte ist zugleich eine Frage des Dualismus von Recht und politischer Gewalt. Um eine umfassende Würdigung des Konkurrenzverhältnisses von Justiz- und Polizeisachen zu gewährleisten, sind zunächst die jeweiligen literarischen Ströme in der Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts („ius publicum imperii“), welche ein breites Material zu diesem Problemstand liefert, näher zu beleuchten. Im Anschluß daran soll versucht werden, diesen Problemkreis anhand eines Beispielfalles aus mikrohistorischer Perspektive zu illustrieren. 2. Ausgangspunkt der Frage nach einem Rechtsschutz gegen hoheitliche Maßnahmen der Landesherren vor den Reichsgerichten bildet das Rechtssprichwort „politica non sunt appellabilia“, in Polizeisachen gibt es keine Appellation. Jedoch gab es zugleich keine reichsgesetzliche Regelung, welche Aufschlüsse in bezug auf das „ob“ und das „wie“ des Rechtsschutzes der Untertanen vor den Reichsgerichten lieferte70. Der Begriff der Justizsache fand sich zwar in reichsgesetzlichen Regelungen – so etwa in Art. XIV § 15, XXVII § 1 Wahlcap. –, er war jedoch im positiven Reichs68
Kroeschell, op. cit. (Fn. 32), S. 57, 64. Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, Frankfurt a. Main 1971, S. 73. 70 Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 65. 69
IV. Justizsachen versus Polizeisachen
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recht nicht im Sinne einer griffigen Legaldefinition definiert. Demzufolge kam der Auseinandersetzung um den Rechtsschutz bzw. im Zusammenhang des Kompetenzkonfliktes zwischen Justiz und Polizei in der zeitgenössischen Literatur § 106 JRA71 eine immense Bedeutung zu. Diese Vorschrift bestimmte, daß der Richter auch bei Appellationen an das Reichskammergericht in Sachen, „die den, bei einem Stande insgemein eingeführter guter Policey, Zunfft- und Handwerks-Ordnungen anhangen, jedes Orts Obrigkeit und des Status publici mit einlauffendes Interesse“ bei der Entscheidung „wohl erwegen, fürnemlich aber in dergleichen Sachen keine Inhibition leichtlich erkennen“72 sollte. Man kann demzufolge § 106 JRA als „spannende Schnittstelle zwischen Justiz und Polizei“ klassifizieren. Erschwerend kam noch das Faktum hinzu, daß das Verhältnis von „Policey“ und „Justiz“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Teil der politischen und juristischen Auseinandersetzungen zwischen Reichs- und Territorialgewalt war73. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Reichsständen und Reichsgewalt war durch Art. 8 § 1 IPO begründet worden, der den Reichsständen die Territorialhoheit in Policey-, Justiz- und Religionssachen“ zubilligte74. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen Territorial- und Reichsgerichtsbarkeit war genuin schon in den Reichsgrundgesetzen verwurzelt. 3. Betrachtet man die Abgrenzung zwischen Justiz- und Polizeisachen unter dem Blickwinkel einer betont reichs- und rechtszentristischen Sichtweise, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß in Polizeisachen die Möglichkeit einer Appellation – vorbehaltlich etwaiger privilegia de non appellando – besteht75. Man begreift also die Polizeigewalt nicht als eine Staatsfunktion neben der Justizgewalt, sondern geht im Gegenteil von einer reichsgerichtlichen Kontrolle aus. Damit wird die dem Landherrn zustehende persönliche Jurisdiktionsgewalt zum Gegenstand einer Überprüfung vor den Reichsgerichten. Eine entscheidende Abstützung und Akzentuierung dieses 71
JRA = Jüngster Reichsabschied. Zitiert nach: Buschmann, Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, München 1984, S. 501. 73 Pahlow, Justiz und Verwaltung – Zur Theorie der Gewaltenteilung im 18. und 19. Jahrhundert, Goldbach 2000, S. 86. 74 Art. VIII. § 1 IPO: „. . . omnes singuli electores, principes et status imperii Romani in antiquis suis iuribus, praerogativis, libertate, privilegiis, libero iuris territorialis tam in ecclesiasticis quam politicis exercitio, ditionibus, regalibus horumque omnium possessione, vigore huius transactionis ita stabiliti firmatique sunto, ut al nullo unquam sub quocunque praetextu de facto turbari possint vel debeant“. Zitiert nach: Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigeren Teile und Regesten. Bearb. von Konrad Müller, Bern 1949, S. 47 f. 75 Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 62. 72
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
dogmatischen Ansatzpunktes auf wissenschaftlicher Ebene erfolgte in persona des Kameralwissenschaftlers Johann Heinrich Gottlob von Justi, der Kammergerichtsassessoren Johann Ulrich Freiherr von Cramer und Johann Friedrich Neurath und des Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter, die die soeben bezeichnete Tendenz im Wege einer wissenschaftlichen Binnendifferenzierung in Einklang mit dem Wandel der politischen Perspektiven im „Aufgeklärten Absolutismus“ gebracht76 bzw. die umfassendere justizielle Kompetenz in praxi postuliert haben. In seinen Ausführungen geht Cramer zunächst von der Erkenntnis aus, „daß Polizeisachen bei den höchsten Reichsgerichten kein objectum iustitiae sind“77. Damit erkennt er prima facie die Parömie von inappellablen Polizeisachen an. Um aber dennoch die Möglichkeit einer justiziellen bzw. gerichtlichen Kognition zu ermöglichen, führt von Cramer das Begriffspaar „iura et laesiones Partium“ an, welches eine reichskammergerichtliche Prüfungskompetenz begründen soll. Damit kommen den Rechten und (absichtlichen) Verletzungen der Parteien eine entscheidende Bedeutung zu. Der „tiefe Sinn“ des reflexiven Gehalts dieser Äußerung von Cramer manifestiert sich darin, daß das Geltendmachen einer Rechtsverletzung im Sinne einer neuzeitlichen Terminologie die Klagebefugnis begründet. Der Begriff der Justizsache wird demzufolge vor dem Hintergrund einer von den Parteien angeführten Rechtsverletzung ausgedehnt; dieser Prozeß geht einher mit einer Zurückdrängung der Polizeigewalt. An einer anderen Stelle akzentuiert von Cramer seinen Standpunkt, wenn er betont, daß eine Justizsache vorliege, wenn ein „ius privatorum fürgeschützt“ werde78. Damit wächst dem Recht gerade durch eine metaphysische Begründung eine besondere Dignität zu79. In dieser rechtsphilosophischen Perspektive läßt sich nunmehr die Entwicklung nach einer sauberen Grenzlinie zwischen Justiz und Polizei als „Verdrängungswettbewerb zwischen echtem Recht und freiheitsbeschränkendem Polizeirecht“80 beschreiben. 76
Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 379. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 78 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), S. 92 ff. 79 Schulze, Polizeirecht im 18. Jahrhundert. Anmerkungen zu einem Beitrag von Wolfgang Naucke, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtstheorie/Symposium für Adalbert Erler, hrsg. von Gerhard Dilcher und Bernhard Diestelkamp, Berlin 1986, S. 199, 200. 80 Stolleis, Anmerkungen zum Verhältnis von echtem Recht und freiheitsbeschränkendem Polizeirecht, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtstheorie/Symposium für Adalbert Erler, hrsg. von Gerhard Dilcher und Bernhard Diestelkamp, Berlin 1986, S. 188, 193. 77
IV. Justizsachen versus Polizeisachen
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Einen weiteren Grund für die Kontrollbefugnis der Reichsgerichte leitet von Cramer, wenn man seine Ausführungen zum Problem der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Polizeisachen81 näher studiert, aus dem Polizeirecht des Kaisers, also der Oberaufsicht über die Stände ab: Würde man schon dann, wenn das Interesse des Gemeinwesens betroffen sei, den Rechtsweg verweigern, so bliebe davon nichts mehr übrig. Beschwere sich jemand darüber, daß bei einer Untersuchung in einer Polizeisache nicht „via iuris“ verfahren worden sei, handle es sich um eine Justizsache82. Die von Cramer eingeschlagene juristische Grundlinie findet sich auch beim Reichskammergerichtsassessor Neurath. Neurath definiert in seiner Dissertation, die der Abgrenzung zwischen Polizei- und Justizsachen gewidmet ist: „Iurium proprie sic dictorum perfectorum irrevocabilium, nomine mihi hic veniunt, quae constitutionibus imperii universalibus, et provinciae particularibus fundamentalibus, Reversalibus Principum, ut vocant, pactis, privilegiis, concessionibus vel onerosis vel gratuitis, ac rebus iudicatis nituntur et possessione immemoriali aliisque modis lege approbabatis, quaesita sunt, et pro quorum retentione et defensione remedie et actiones concedunt“83.
Es handelt sich zugegebenermaßen um ein langes Zitat. Aber es lohnt sich, es genau zu lesen. Neurath nimmt – kursorisch übersetzend – eine Justizsache an, „so oft eine Anordnung wohlerworbene unwiderrufliche Rechte, welche als mit dem Staatsbesten vereinbar hätten bestehen können, zu berühren und zu verletzen scheint“. Der Grundsatz der Unwiderruflichkeit bedeutet im Kontext der Abhandlung von Neurath jedoch nur, daß der Rechtsweg eröffnet ist84. An einer anderen Stelle in seinem Opus führt Neurath aus: „Quatenus ordinationem, cuius causa querelae moventur, iura singolorum, iura proprie sic dicta, perfecta, irrevocabilia et quae salua salute publica subsistere possunt, tangere et laedere apparet, eatenus sit causa iustitiae. Sufficit interesse et ius privatorum allegari, ut contradicens audiendus, et causa cognitioni iudicii subiicienda sit“85.
Die Polizei wurde somit der richterlichen Kontrolle unterworfen. Damit ist jedoch noch nichts über die Bestandsgarantie gesagt, oder anders ausgedrückt, darüber, ob Polizei dem Recht unterworfen wurde86. Die Auswer81
Vgl. hierzu: v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88–118. In diesem Sinne: Sailer, op. cit. (Fn. 24), S. 433. 83 Neurath, Dissertatio inauguralis iuridica sistens observationes nonnullas de cognitione et potestate iudiciaria in causis quae politiae nomine veniunt, Erlangen 1780, S. 14 ff. 84 Sailer, op. cit. (Fn. 24), S. 440. 85 Neurath, op. cit. (Fn. 83), S. 13. 86 Sailer, op. cit. (Fn. 24), S. 440. 82
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
tung der kameralistischen Dezisionenliteratur zeigt, daß eine Polizeisache gleichwohl vor Gericht gebracht werden kann. Eine Justizsache ist immer dann gegeben, wenn eine Verletzung von Rechten geltend gemacht wird. Es ist nicht erforderlich, daß eine Rechtsverletzung vorliegt, sondern es genügt, daß sie substantiiert wird87. Akzentuieren läßt sich diese von Cramer entwickelte rechtliche Grundposition damit, daß er an anderer Stelle betont: „Eben deswegen, weil es bey einer Policey-Sache auf diese Frage ankommt, wird sie contentiosa, und dadurch zugleich eine Justiz-Sache; mithin auch ein Objectum derer höchsten Reichs-Gerichten88.“
Somit kann Cramer, wenn keine „iura et laesiones partium“ in Betracht zu ziehen seien, eine Definition der Polizeisache liefern: „diejenige nemlich sind es, deren Objectum allein das politicum oder Status publici ist, ohne daß Iura et Laesiones vel publici vel privatorum mit einschlagen“89. Unter den soeben skizzierten Voraussetzungen wurde eine Polizeisache als „figura iudicialis“ und mithin als „objectum iustitiae“ qualifiziert. Dieses gedankliche Leitbild von Cramer läßt sich durch einen Blick in sein Lehrbuch aus dem Jahre 1765 bestätigen und weiter fortentwickeln. In diesem Opus bestimmte er das Verhältnis von Ius publicum und Ius privatum so: „Ius publicum heißt also dasjenige Recht, was zu seiner Raison die gemeine Wohlfahrt hat, und nach derselben die Handlungen der Bürger oder Unterthanen determiniert . . . wann die Raison, warum ein Recht die Handlungen der Bürger vielmehr so einrichtet, in der besondern Wohlfahrt oder dem Interesse eines jeden zu finden ist, so heißt dieses Ius privatum. E. gr. Die Zölle werden directe der gemeinen Wohlfahrt halber oder zum Besten des Staates angelegt, daher sagt man, daß sie ad ius publicum gehören; dann müssen zu dem iure gehören, welches die Staats-Affairen, oder die Actiones civium, in so weit sie sich auf die gemeine Wohlfahrt oder das Beste des Staats refriren, regulirt. Hingegen dasjenige Ius privatum, wobey die Absicht das Privat-Interesse eines jeden ist . . . freilich aber, weil die besondere Wohlfahrt der Unterthanen mit der gemeinen Wohlfahrt der Unterthanen verknüpft ist, so fällt gleich in die Augen, daß bey dem iure privato zugleich allemahl mit auf die gemeine Wohlfahrt gesehen wird, damit sie ungestöhrt bleibt, und die Actiones der privatorum auch derselben gemäß determinirt werden. Diese beiden Arten des iuris, sind nun Arten des iuris civilis“90. 87
Kroeschell, op. cit. (Fn. 32), S. 57, 69. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 104. 89 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 90 J. U. v. Cramer, Academische Reden über die gemeine Bürgerliche RechtsLehre, wodurch dieselbe in ihrem natürlichen Zusammenhang vorgetragen, und zugleich Georg Adam Struvens Juriprudentia Romano Germanica Forensis dergestalt erläutert wird, daß ein zur Erlernung der Rechte gewidmeter von selbsten im Stande ist, sich dieselbe schon in der Jugend beyzubringen, und auf Universitaeten zu de88
IV. Justizsachen versus Polizeisachen
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Die sprachliche Kolorierung des Mißtrauens gegenüber willkürlichen, despotischen Entscheidungen des Landesherrn kommt besonders deutlich im Votum des Assessors von Weidenfeld zum Ausdruck: „Kein privilegium und auch kein ius quaesitum kann gegen das Wohl des Staates oder der Menschheit bestehen. Sie durch Gesetzesstellen oder Authoritäten stützen zu wollen, hieße, die aus der gesunden Vernunft und dem inneren Rechtsgefühl und dem allgemeinen Staatsrecht hervorgehende Wahrheit zu verdunkeln. Der unumschränkte Regent hat nie die Macht affectirt, Gesetze oder Privilegien gegen das öffentliche Wohl der Menschheit geben zu können und kein Hofschmeichler hat es noch gewagt, den Gesetzen oder Privilegien irgendeines irdischen Monarchen solches das gemeine Wohl der Menschheit schmälernde Recht beizulegen“91.
Der bekannte Göttinger Staatsrechtler Pütter92, der nach der Gründung der Göttinger „Georgia Augusta“ als strahlender Stern am akademischen Himmel aufging und 60 (!) Jahre an der Universität lehrte, hat sich ausführlich mit dem Problemkanon „Polizeigewalt und Justizgewalt“ befasst. Zunächst einmal führt er zu den Elementen materieller Rechtsstaatlichkeit aus, daß „die Teutsche Reichsverfassung in der That sich von einer sehr vortheilhaften Seite zeiget, da ein jeder Reichsstand in seinem Land zwar Gutes zu thun freye Hände hat, aber Böses zu thun von einer höheren Gewalt abgehalten werden kann“93. Als Garant dieser Bindung erscheint die Reichsgerichtsbarkeit94 – trotz ihrer überaus problematischen Verfassung, die Pütter in einer seiner wenigen kritischen Schriften mit Verve offenlegt95. Die Reichsstände sind verfassungsrechtlich der Reichsgerichtsbarkeit bei der Ausübung ihrer Landeshoheit unterworfen. Dies freilich in unterschiedlicher Weise. Soweit es um Eingriffe in wohlerworbene Rechte der Untertanen geht – „causa iustitiae“, findet der Rechtszug von den Landes- zu den Reichsgerichten statt. Auch wo er durch Appellationsprivilegien abgeschnitten ist, kann diese Schranke mit der Behauptung der Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung übernen Vorlesungen vorzubereiten, auch solche zu wiederholen. Erster Band, Ulm 1765, S. 14. 91 BA (Bundesarchiv, Frankfurt a. M.) Ar 1/I 370: Protokolle des 2. Justizsenats aus dem Jahre 1800, fol. 95, Votum des Assessors von Weidenfeld. 92 Zu dieser Persönlichkeit: Vide infra § 9 Fn. 600. 93 Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte, 2 Bde., Göttingen 1777/79, I, S. 305. 94 Pütter, op. cit. (Fn. 93), I, S. 303 ff. 95 Pütter, Patriotische Abhandlung des heutigen Zustandes beider höchsten Reichsgerichte, worin der Verfall des Reichsjustizwesens, sammt dem daraus bevorstehenden Unheil des ganzen Reichs, und die Mittel, wie denselben vorzubeugen, erörtert werden, Hannover 1749. – Hierbei handelt es sich um seine im WS 1747/ 48 auf lateinisch gehaltene Göttinger Antrittsvorlesung.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
sprungen werden96. Demgegenüber besteht im Bereich der Polizei – in Pütters97 Verständnis derjenige Bereich der inneren Staatsverwaltung, der bei rechtmäßiger Ausübung wohlerworbene Rechte der Untertanen nicht beeinträchtigt – grundsätzlich kein vergleichbarer Rechtsschutz. Denn, so sagt es ein Zeitgenosse mit – mutatis mutandis – bleibender Aktualität98: Würde man den Gerichten die Befugnis zusprechen, darüber zu urteilen, „ob der Fürst die ihm anvertrauten Hoheitsrechte wohl gebrauche . . ., (so) wäre die höchste Gewalt in der Richter Hände“99. Durch eine Verletzung von Reichsrecht aber und/oder durch einen Übergriff in rechtlich geschützte, wohlerworbene Rechte der Untertanen werden die verfassungsrechtlichen Fesseln dieses Hoheitsrechts gesprengt100. Für Pütter stellt im besonderen Maße die Reichsgerichtsbarkeit die „Einheit des Staatskörpers“ dar, so daß jede Einschränkung zugunsten der Territorialgewalten die Axt an die Wurzel des Reichsverbandes legt101. In seinen weitergehenden Ausführungen widmet sich Pütter dem neuralgischen Punkt der „iura quaesita“ und des „ius eminens“102. Bei den wohlerworbenen Rechten muß der Eingriff einer besonderen qualitativen Komponente entsprechen. Zwar sind auch sie „von der höchsten Machtvollkommenheit nicht ganz ausgeschlossen“, aber doch nur für den Fall einer „schwerwiegeden Collision mit dem Gemeinwohl“103. In keinem Fall genügen fiskalische Motive104. Die wohlerworbenen Rechte sind grundsätzlich gesetzesfest105. Das sog. „ius eminens“106 – man kann es plastisch als sog. 96
Pütter, op. cit. (Fn. 93), I, S. 303 ff. Der Begriff der „Polizei“ wird bei Pütter wie folgt definiert: „Ea supremae potestatis pars, quae exercetur cura avertendi mala futura in statu Reip. Interno in commune metuenda, dicitur ius Politiae . . . Promovendae salutis cura proprie non est Politiae. . .“ (vgl. Pütter, Institutiones iuris publici Germanici, Göttingen 1770, § 331). 98 Link, Johann Stephan Pütter, in: Staatsdenker in der frühen Neuzeit, hrsg. von Michael Stolleis, 3. Auflage, München 1995, S. 310, 321. 99 Strube, Nebenstunden, Bd. III, Hannover 1750, S. 63. 100 Link, op. cit. (Fn. 98), S. 310, 321. 101 Pütter, op. cit. (Fn. 95), § 66. 102 Das „ius eminens“ ist die Befugnis des Landesherrn, unter den Voraussetzungen der necessitas et utilitas publica in die „iura quaesita“ der Untertanen einzugreifen. 103 Pütter, op. cit. (Fn. 93), I, S. 355 f., 358, 361. 104 Pütter, Kurzer Begriff der Teutschen Reichsgeschichte, Göttingen 1779, S. 171. 105 Pütter, op. cit. (Fn. 93), I, S. 361; ders., Anleitung zur juristischen Praxis, Göttingen 1753, § 119. 106 Zur Geschichte des „ius eminens“: v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Ausgabe, Aalen 1958, S. 291 f. und ders., Genossenschaftsrecht III, S. 616 f. 97
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Notrecht bezeichnen – berechtigt ausnahmsweise bei „einer schwerwiegenden Collision“ zur Durchbrechung der von den „iura quaesita“ aufgezogenen Schranken. Pütter allerdings warnt expressis verbis vor dem Mißbrauch107 und stellt die Justitiabilität derartiger Eingriffe nachdrücklich heraus108. Auf kameralwissenschaftlicher Ebene gelangte Justi109 110 – nach den „geistigen Steilvorlagen“ der Kammergerichtsassessoren – zu ähnlichen Ergebnissen. Zwar zeigt sich bei Justi in deutlicher Weise der Zusammenhang mit der „Politik“ und dem Methodenideal des Philosophen Christian Wolff, wenn er zunächst betont, daß das Wohl des Staates und der von ihm beherrschten Untertanen identisch sei. Das, was den Staat stärkt, kommt den Untertanen zugute111. Eine Differenz zwischen staatlichem und nichtstaatlichem Handeln ist zunächst nicht erkennbar, wenn auch Justi nach der „gemeinschaftlichen Glückseeligkeit“ strebt. Vorkehrungen gegen Feuersund Wassernot, Kriminalität, Tumulte usw. werden durchgesetzt von einer der Justiz verschiedenen Polizeigerichtsbarkeit. In seinem zweibändigen Handbuch „Die Grundfeste zu Macht und Glückseeligkeit der Staaten; oder eine ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft“ aus dem Jahre 1760/61 wird von ihm folgendes ausgeführt: „Die Gesellschaft als Gesamtheit ihrer Grundeinheiten, der „Familien“, und der Staat müssen nun durch die Leistungen der Verwaltung in einer „harmonischen In der Literatur wird oft auch der Begriff des „dominium eminens“ verwandt, ohne daß jedoch in der unterschiedlichen Formulierung ein unterschiedlicher Bedeutungsgehalt zu erblicken ist. Das RKG führte zum „ius eminens“ einmal aus: Daß es „ex Dominio Principiis eminenti herfließet, daß res privatorum . . . eingezogen werden können, si praesertim hoc utilitas & necessitas publica suadeat imo exigat“. Vgl. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), XIII, S. 1 f. 107 Pütter, op. cit. (Fn. 93), S. 361 f. 108 Pütter, op. cit. (Fn. 95), § 299. 109 Zur Biographie: Inama, ADB 14 (1881), S. 747–753; Dittrich, NDB 10 (1974), S. 707–709; Wilhelm, Der Deutsche Frühliberalismus. Von den Anfängen bis 1789, Frankfurt 1995, S. 119–151. – Zum Werk: Roscher, Der sächsische Nationalökonom Johann Heinrich Gottlob von Justi, in: Archiv für die sächsische Geschichte 6, 1896, S. 76–106; Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten, München 1986, S. 87 ff.; Dreitzel, Justis Beitrag zur Politisierung der deutschen Aufklärung, in: Bödeker/Herrmann (Hrsg.), Aufklärung als Politisierung – Politisierung der Aufklärung, München 1987, S. 158 ff. 110 In seinem die Kameralistik grundlegend verändernden Werk spiegelt sich der Wandel vom absolutistischen zum aufgeklärt-absolutistischen Polizeibegriff wider. Träger eines politischen Gemeinwesens war nach ihm nicht der Staat, verkörpert im monarchischen Souverän, sondern die Vielzahl der den Staat bildenden gesellschaftlichen Gliederungen. Policey hat nach Justi vor allem die Schaffung der Rahmenbedingungen für privates ökonomisches Handeln zum Gegenstand. 111 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 380.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Übereinstimmung und Verhältnis . . . erhalten“ werden. Eine apriorische Harmonie gibt es nicht mehr. Die aufgeklärte Bürokratie trägt die Leistung der Vermittlung und des Ausgleichs, sie regt die Gesellschaft an, zieht ihr aber auch ihre Schranken. Sie überwacht die Bevölkerungsentwicklung durch Statistiken“112.
Das Instrumentarium des Staates wird differenzierter und somit liberaler, das Zutrauen in die Eigeninitiative wächst. Die entscheidende „gedankliche Feinsteuerung“ hin zu einer ökonomisch freieren Gesellschaft manifestiert sich jedoch in dem Punkt, wo betont wird, daß das Wohl der Gesamtheit sicherer auf dem Weg durch Förderung des Individualwohls als im direkten Zugriff zu erreichen sei113. Damit vollzieht sich eine Abkehr vom eudämonistischen Polizeibegriff, welche zugleich eine bessere Justitiabilität in Polizeisachen eröffnet. Die dem Fürsten zustehende „cura suprema politiae“ erfährt eine inhaltliche Aufweichung. Die Justizgewalt des Reiches erstreckt sich somit auf Rechtsstreitigkeiten, die sich auf die Verletzung „wohlerworbener Rechte“ („iura quaesita“) beziehen bzw. zum Inhalt haben. Die Landeshoheit wird demgegenüber nur als „complexus regalium“ verstanden, die sich zu den „iura quaesita“ der Landesuntertanen wesentlich als Aufsichtsrecht verhalten114. Verletzt eine Maßregel der Landesobrigkeit ein solches Untertanenrecht, so wird sie dieser Auffassung nach außerhalb ihrer Hoheitsrechte tätig, weshalb in diesem Fall von einer Schmälerung der Landeshoheit durch die dann tätig werdende Reichsjustiz nicht die Rede sein kann. Vice versa zu der soeben skizzierten „reichsjustizstaatlichen Lehre“115 formierte sich eine Gruppe von Autoren, die eine diametrale Gegenposition116 vor dem Hintergrund der Interessen des Landesherrn entwickelte. Diese Autoren bilden sozusagen einen „emphatischen Kontrapunkt“. Erichsen spricht in diesem Kontext von einer „rechtsschutzfeindlichen Interpretation“117. Im Mittelpunkt stand eine Beschränkung der Reichsgerichtsbarkeit. Diese auf eine grundsätzliche Immunisierung der Landeshoheit gegenüber der Reichsgerichtsbarkeit abzielende Lehre118 wird vornehmlich aus zwei 112 Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, oder ausführliche Vorstellung der gesamten Polizeiwissenschaft, 2 Bände, Königsberg 1760/ 61, Bd. I, 7. Buch, §§ 794 ff. 113 Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 380. 114 Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 63. 115 Begriffsprägung von: Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 64. 116 Diese Gruppe von Autoren gehört der Publizistik des „ius publicum territoriale“ an. 117 Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 66. 118 Vgl. auch Reitemeier, Grundsätze der Regentschaft in souveränen und abhängigen Staaten, Berlin 1789, S. 32 f. In diesem Werk führt er folgendes aus: Wenn dem Fürsten „die Jurisdiction, es sey durch uralten Besitz oder durch Ertheilung
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Quellen gespeist: Zum einen sind es die Abhandlungen von David Strube119 zum Verhältnis von Polizei und Justiz, zum anderen ist es die Dissertation von Georg Christoph Schreiber120 über Polizei- und Justizsachen. Der berühmte geheime Justizrat Strube führt in seiner Schrift121 folgendes aus: „Man wird hoffentlich einräumen, daß die Policey-Sachen den Justiz- oder Gerichtssachen entgegen zu setzen; hieraus folget nun wie diejenige Geschäfften welche eine richterliche Entscheidung erfordern, ihrer Art und Eigenschaft nach keine Policey-Sachen sind. Warum sollte ein Richter nicht sowohl Policey-Ordnungen als andere Gesetze auf die vorkommende Fälle appliciren? Wann das Factum zweifelhaft, bedarf es nicht weniger in diesen als andern Sachen einer sorgfältigen Erörterung . . . Sehr viel solcher Zwistigkeiten betreffen vielmehr iura singularia als die gemeine Wohlfahrt, und können ohne Nachtheil des Staats durch einen ordentlichen Prozeß ausgemacht werden. Widrigenfalls wäre dieser Umstand wohlvermögend einen Gesetzgeber zu veranlassen, in dergleichen Sachen den beschwehrten schleunigere Hilffs-Mittel als in andern zu verleihen, keineswegs aber selbigen der richterlichen Erkänntniß gar zu entziehen“.
Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß Strube in den „Nebenstunden“ auch eine Passage integriert hat, die mit den justizreformerischen Bestrebungen konform geht – jedoch nur in bezug auf Streitigkeiten zwischen Privatleuten. Dort heißt es: „Wenn aber jemand prätendiret, ein ius quaesitum aus einer schon gemachten Concession oder Privilegio zu haben, und von jemanden, zumalen von einem andern Privato oder Privatis dagegen beleidigt, oder verkürzet zu seyn . . ., so kann denen Partheyen mit Recht nicht verwehret werden, sich einander mit Vorbeygehung der Gemeinden Raths-Stube vor dem ordentlichen Richter zu belangen“122.
Strube hatte in diesem Punkt keine Bedenken, die richterliche Erkenntnis über „Policeyordnungen“ anzuerkennen: „Sehr viele solcher Zwistigkeiten betreffen vielmehr iura singulorum, als die gemeine Wohlfahrth, und können ohne Nachtheil des Staates durch einen ordentlichen Prozeß ausgemachet werden“123. vom Reich . . . zukommt, so hat er auch das Recht . . . die Art und Weise zu bestimmen, wie die Gerichtsbarkeit ausgeübt werden soll, ob durch ihn unmittelbar oder durch einen Beamten“. 119 Strube, op. cit. (Fn. 99), S. 52 ff. 120 Schreiber, De causarum politiae et earum quae iustitiae dicuntur conflictu et differentia, 2. Auflage, Göttingen 1762, Sectio III §§ 3, 4, S. 66 ff. 121 Strube, Gründlicher Unterricht von Regierungs- und Justizsachen; Worin untersuchet wird: Welche Geschäfte ihrer Natur und Eigenschaft nach vor die Regierungs- und oder Justiz-Collegia gehören, Hildesheim 1733, S. 56. 122 Strube, op. cit. (Fn. 99), S. 53 f. 123 „Warum sollte aber ein Richter nicht so wohl in Policey-Ordnungen als andere Gesetze auf die vorkommende Fälle appliciren? Wenn das Factum zweifelhaft,
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Sein geistiger Partner auf dieser gedanklichen Linie, Schreiber124, führt folgendes in der Sectio III unter der Überschrift „De causis politicis, quatenus naturam iuricarum induunt deque appellatione in iisdem licita“ aus: „Nun hat keinen Zweifel, daß wann quaestion von neuen Verordnungen in Policey-Sachen zu machen vorkommt, die Sache vor Unsere Geheimbte Raht-Stube und nicht vor unsere Gerichte gehörig“125.
Mit dieser Aussage bezieht Schreiber deutlich eine Gegenposition zu der Reichspublizistik. So ganz scheint aber auch er sich nicht dem Charme der Reichspublizistik entziehen zu können, wenn er weiterführend die Passage erwähnt: „Wann auch von Haltung über schon gemachte Policey-Verordnungen die Frage ist, so kann die Sache woll certo respectu vor die Geheimbte-Rath-Stube, und certo respectu vor die ordinaire Gerichte gehören, Wann aber jemand praetendieret, ein ius quaesitum aus einer schon gemachten Concession oder Privilegio zu haben, und von jemanden, zumahl von einem anderen privato oder privatis dagegen beleidigt, oder verkürzet zu seyn, und wann es folglich auf iura privatorum und tertii lediglich oder vornehmlich ankommt, so kann denen Partheyen mit Recht nicht verwehret werden, sich einander mit Vorbeygehung der GeheimbtenRath-Stube vor dem ordentlichen Richter zu belangen“126.
Bei Schreiber hat somit das in Frage stehende „ius quaesitum“ die Wirkung, den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten zu eröffnen. Das „ius quaesitum“ ist also für ihn der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Aber auch nur wie bei Strube bei Privatangelegenheiten. Die weiteren Aussagen von Schreiber in seinem Opus lassen ihn jedoch weiterhin als Anhänger der Stärkung der territorialstaatlichen Justiz erscheinen. Beide Autoren nehmen ihren Ausgang von der territorialstaatlichen Lage und rekurrieren auf die vernunftrechtliche Staatstheorie dahingehend, daß es sich bei dem Reich um einen aus Einzelstaaten zusammengesetzten Staat handelt, mit der Konsequenz, daß die „summa potestas“ bei den Gliedstaaten liegt und nur in Teilbereichen auf übergeordnete Einheiten übertragen bedarf es nicht weniger in diesen als andern Sachen einer sorgfältigen Erörterung . . .“, zitiert nach: Flöhrcken, Erörterung der Rechts-Frage: Ob und wie ferne Policey-Sachen vor die Justitz-Collegia gehören, und in selbigen gerichtliche Prozesse und gewöhnliche Rechts-Mittel wider die darinnen ertheilte Bescheide und Urtheile statt haben?, Halle 1760, § 5, S. 10, Anm. m. Für Flöhrcken war es „nicht zu läugnen, daß bey dergleichen Policey-Sachen zum öftern einige Strittigkeiten sich ereignen können . . ., welche . . . lediglich nach den Privat-Rechten entschieden werden müssen, und in solchem Fall können selbige der Untersuch- und Beurtheilung derer Justitz-Collegiorum . . . nicht schlechterdings entzogen werden“. Vgl. Flöhrcken, op. cit. (Fn. 123), § 5, S. 10. 124 Schreiber, op. cit. (Fn. 120), Sectio III §§ 3, 4, S. 66 ff. 125 Schreiber, op. cit. (Fn. 120), Sectio III, § 3, S. 72. 126 Schreiber, op. cit. (Fn. 120), Sectio § 3, S. 72 a. E.
IV. Justizsachen versus Polizeisachen
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wird127. Damit wird das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Appellation und Appellationsbeschränkungen zugunsten der Territorialgewalt umgekehrt. Ausgehend vom Primat der Territorien erscheinen dieser Lehre die Subordination unter das Reich und die Kompetenz der Reichsgerichte nur als restriktiv zu fassende Beschränkungen der Landeshoheit128. Die Autoren dieser „literarischen Couleur“ deuten die Regelung des § 106 JRA dahin, daß in den dort genannten Streitigkeiten eine Anrufung der Reichsgerichte unzulässig sei. 1. Um der Dogmatik von Polizei- und Justizsachen und dem Aspekt der Effektivität des Rechtsschutzes noch eine bessere Plastizität und Aussagekraft zu verleihen, möchte ich mich auf einen Beispielsfall des Kammergerichtsassessors von Cramer129 und auf dogmatisch aufbereitete Fälle von Johann Melchior Hoscher130 beziehen, die geeignet scheinen, die methodischen und sachlichen Aspekte des Problems per saldo zu verdeutlichen. von Cramer – Sachverhalt131 Die Ostseestadt Rostock, eine Stadt lübischen Rechts und als selbstbewußte Handelsmetropole ein wichtiges Mitglied der Hanse, war – anders als Lübeck – keine Reichsstadt. Zwar hatten die Herzöge von Mecklenburg endgültig im Jahre 1358 ihre gesamte Gerichtsbarkeit an die Stadt veräußert, aber die Stadt hatte andererseits in einem Erbvertrage von 1573 die Herzöge als „ihre Landes-Fürsten, Erbherren und von Gott geordnete“ Obrigkeit anerkannt. Der Herzog nun hatte daran Anstoß genommen, daß dem Rostocker Rat zu viele nahe Verwandte gleichzeitig angehörten; er hatte von der Stadt verlangt, diesen Mißbrauch abzustellen und ihm darüber zu berichten. Die Stadt entgegnete, man habe bei den Ratswahlen weder gegen das lübische Recht noch gegen die eigenen Statuten und Gewohnheiten verstoßen. Als der Herzog auf seiner Forderung bestand und an die Stadt ein entsprechendes Reskript richtete, appellierte diese an das Reichskammergericht.
In diesem Fall zeigt sich bei einer genauen Analyse das Spannungsverhältnis zwischen Justiz- und Polizeisachen. Geht man von dem Standpunkt aus, es handele sich um eine Angelegenheit im Rahmen des „ius politiae“ und einem daraus resultierenden „ius reformandi politicum“, so hätte diese „herzogfreundliche“ Sichtweise die Unzuständigkeit des Reichskammergerichts zur Folge. Das Reichskammergericht wies die Einrede seiner Unzu127
Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 67. Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 64. 129 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 68 ff. von Cramer hat für diesen Abschnitt folgende Überschrift gewählt: Von dem einem Landes-Herrn zustehenden Iure reformandi Politico. 130 Hoscher, Beyträge zur neuesten Geschichte der Empörung deutscher Untertanen wider ihrer Landesherrschaft. Aus gerichtlichen Akten, Gießen 1790. 131 Nach: Kroeschell, op. cit. (Fn. 32), S. 57, 60 ff. 128
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
ständigkeit zurück, entschied aber in der Sache zugunsten des Herzogs. Denn es ging um die Frage, ob ein Untertan durch die Anordnung des Herzogs sein erworbenes Recht verliere oder in seinen Privilegien und Freiheiten verletzt werde132. Das tragende Argumentationsmuster für eine Justizsache und damit einer kammergerichtlichen Nachprüfbarkeit liefert von Cramer mit folgendem Satz: Was nun also Policey-Sachen sind, welche den Statum civitatis publicum anbetreffen, da hat kein Subditus und Privatus ein legales ius contradicendi; mithin noch weniger das ius appellandi, meliren sich aber jura privatorum, so hört es auf, eine wahre Policey-Sache zu sein, wann auch gleich dieser oder jener Articul aus der Policey ansam liti gegeben hätte. Genug wird ein ius privatorum fürgeschützt, darüber muß der Kontradizent gehöret und ihm die Justiz administriret werden, und da kann ja nun wohl ein Regierungs-Collegium weder in propria causa iudex noch auch sonst iudex et pars zugleich sein133.
Mit diesem Votum steht von Cramer in der Kontinuität seiner im Band I der „Wetzlarischen Nebenstunden“ entwickelten Ansätze. Maßgebend für das Vorliegen einer Justizsache ist die Geltendmachung einer Rechtsverletzung; das Begriffspaar „iura et laesiones Partium“ bewirkt eine Kompetenzausweitung der Justiz. Das Votum des Kammergerichtsassessors von Cramer läßt sich abschließend wie folgt umschreiben: Um trotz anzuerkennender Inappellabilität in Polizeisachen den Kompetenzbereich der Justiz nicht weiter zu schmälern, sondern vielmehr auszudehnen und zu erweitern, ist die Geltendmachung einer Rechtsverletzung erforderlich. Wird eine Rechtsverletzung geltend gemacht, so „werden die Polizeisachen sowohl bei den Reichs- als Untergerichten contentiosae“134. Dieses neue und von Cramer entscheidend geprägte Begriffsverständnis von Justizsachen soll verhindern, daß der princeps Justizsachen unter deren Einkleidung in Polizeigegenstände an sich zieht, unter diesem Vorwand der Gerichtsbarkeit der höchsten Reichsgerichte ausweicht und aus dem Kabinett Befehle erläßt. Methodisch gesehen liefert die Analyse von Cramer noch wichtige Aufschlüsse: Er bedient sich in geradezu exemplarischer Weise der Argumentationsfigur des sog. argumentum a maiore ad minus135 insofern, als daß er ausführt: „Ist nun in Lübeck selbsten, welches bevorab eine unmittelbare Stadt ist, die nach Anverwandschaft in dem Raths-Collegion verboten (§ 7), und hat diese unangese132
Kroeschell, op. cit. (Fn. 32), S. 57, 62. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 84. 134 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 135 Zu dieser Argumentationsfigur: Schneider, Logik für Juristen, 5. Auflage, München 1999, § 36. 133
IV. Justizsachen versus Polizeisachen
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hen des alten Rechts selbsten gefunden, daß es dem gemeinen Weesen höchst schädlich seye so viele nahe Anverwandte in einem Collegio zu zehlen; haben auch Kayserl. Majest. in einer solche immediiaten Stadt, . . ., vi Supremi Juris reformandi Politici136 das Recht, dergleichen schädliche Gebrechen abzuschaffen; so muß eine unmittelbare Stadt, wie Rostock ist, sich noch mehr gefallen lassen, von ihrem Landes-Herrn, wie in nostro casu geschehen, beschuldiget und überführet wird, dem Landesherrlichen Juri reformandi Politico sich noch mehr unterwerffen, und den Missbrauch abstellen“137.
J. M. Hoscher – Sachverhalte und Analysen a) Der erste Fall betrifft bürgerliche Unruhen und Revolutionen im fürstlich-lüttischen Staate. Hier hat das Reichskammergericht – ohne vorherige Anrufung des Fürsten und des kaiserlichen Fiskals – quasi ex officio entschieden, obwohl der Fürst über seinen Anwalt mitteilen ließ, alle Entscheidungen in dieser Sache zu suspendieren. An die Untertanen wurden Patentes erlassen und zudem ein Mandatum auxiliatorium & protectorium erkannt138. Das – ja man möchte fast sagen – „ungehörige“ und revolutionäre an diesem Fall manifestiert sich darin, daß ohne Gewährung rechtlichen Gehörs gegenüber dem scharf protestierenden Fürsten das Reichskammergericht in der Sache entschieden hat. Daß das Votum zugunsten der Untertanen ausfiel, ist ein weiterer Beleg einerseits für die immer weiter fortschreitende untertanenfreundliche Rechtsprechungslinie und andererseits für die Qualität des höchsten Gerichts als „Bollwerk“ gegen die Obrigkeit. Der Fall läßt auch bereits Spurenelemente einer anthropologischen Rechtsausrichtung dergestalt erkennen, daß es um die Integrität und Autonomie des Bürgers resp. Untertans im Sinne einer „personalen Leitidee“ des Rechts geht. Damit stehen im Zentrum der Rechtsdogmatik der Judikatur des Reichskammergerichts die von der Person als Rechtssubjekt und maßgeblichem Anknüpfungspunkt rechtlicher Vorschriften ausgehende Betrachtungsweise und die Figur des subjektiven Rechts in der heutigen Terminologie. Somit verkörpert das Fallbeispiel – vorsichtig gesprochen – bereits ein „rechtssoziologisches Programm“ in Gestalt eines Brückenschlages 136 Was nun in concreto der Inhalt des „ius reformandi“ ist, wird von Cramer wie folgt erläutert: „. . . also trifft man auch ein solches in Politicis an, welches in der Ober-Aufsicht des Landes-Herrn über das Policey-Wesen bestehet, damit nicht Missbräuche dabey einreissen, und die eingerissenen aufgehoben werden mögen, oder eni Ius ist, quod semper occupatur circa tollendos abusus Polititae, falso interim plenario legitimo usu jurium & Privilegiorum civitati vel collegio concessorum“. Vgl. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 64. 137 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 74 f. 138 Nach Hoscher, op. cit. (Fn. 130), S. 49 ff.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
zwischen Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik. Die Rechtsprechung erweist sich als fortschrittliche Gesellschaftspolitik gegen verkrustete und etablierte gesellschaftliche Strukturen und Systemzwänge. Sie hat nicht nur die Aufgabe einer obrigkeitlichen Rechtsordnungsleitung, sondern darüber hinausgehend schon die Funktion einer dauernden politischen Gestaltungs- und Durchsetzungsaufgabe in allen konkreten politischen und sozialen Situationen ergriffen. b) Der zweite Fall liefert Aufschlüsse über die Anforderungen an ein – in heutiger Terminologie – vorläufiges Rechtsschutzersuchen. Es wird die Frage diskutiert, ob die bloße Furcht allein schon vor bürgerlichen Unruhen die richterliche Entscheidungsbefugnis begründen kann. Das Reichskammergericht bejaht diese Frage in seinem Decretum139 gerade im Hinblick auf den Bedeutungsgehalt des Landfriedensbruchs. In diesem Argumentationsmuster lassen sich Parallelen zum heutigen Polizeirecht ziehen, wenn die Frage im Raum steht, welche qualitativen Anforderungen an die Gefahrenprognose im Rahmen der sog. Polizeiwidrigkeit zu stellen sind. In diesem Punkt ist tragendes rechtliches Kriterium der Schutzgehalt des bedrohten Rechtsgutes. Je höherwertiger das bedrohte Rechtsgut ist, umso geringere Anforderungen sind an die Gefahrenprognose und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintrittes zu stellen. c) In einem weiteren Fall werden die inhaltlichen Anforderungen an das sog. vorläufige Rechtsschutzersuchen konkretisiert. So bedarf es in solch gelagerten Fällen einer „besonders begründeten Bescheinigung“140, um überhaupt erfolgreich mit einem solchen Begehren durchdringen zu können. Methodisch gesehen ist zunächst also das Vorliegen einer Rechtsverletzung zu prüfen. Nur eine solche kann den Rechtsweg eröffnen. Weiterhin reicht die bloße Gefahr von Unruhen nicht aus. Eine solche muß eben hinlänglich bescheinigt werden. Dies entspricht der heutigen Form der Glaubhaftmachung im einstweiligen Rechtsschutz, wonach ein widerspruchsfreier Vortrag vorliegen muß, der Vortrag selbst sich auf dem Wege zu einem Beweis befinden muß und er nicht unter ernsthaften Zweifeln leiden darf.
V. Resümee 1. Die anhand der zeitgenössischen Quellenlage und Reichspublizistik gewonnenen Ergebnisse zeigen, daß die Abgrenzung und damit der Inhalt der Begriffe Justiz- und Polizeisachen bis zum Ende des Reiches außeror139 140
Hoscher, op. cit. (Fn. 130), S. 241 ff. Hoscher, op. cit. (Fn. 130), S. 33.
V. Resümee
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dentlich umstritten war. Dies verwundert jedoch nicht angesichts der Tatsache, daß in dieser historischen Epoche die bewahrende und die gestaltende Staatsfunktion aufeinanderstoßen141 und für erheblichen Konfliktstoff gesorgt haben. Zudem hat der untersuchungsrelevante Problemkreis die in diesem Zusammenhang relevante Frage nach dem Inhalt des Polizeibegriffs evident decouvriert. Der bis zum Ende des Alten Reiches bestehende funktionale Antagonismus zwischen Gesetz und Recht – diesen Problemkreis bezeichnet Smend als „altes Problem von Recht und Macht in der Geschichte“142 – hat sich besonders deutlich in dem prozeßrechtlichen Fragenkreis „Polizei- oder Justizsache“ gezeigt, wobei sich in der Kameraljudikatur dokumentiert, daß der Dualismus bis zum Ende des Alten Reiches weiterbestand143. 2. In der Unterscheidung von Justiz- und Polizeisachen schlagen sich also „polare Staatszweckvorstellungen“144 nieder. Hier stoßen das dynamische, auf Gemeinschaftsgestaltung angelegte Herrschaftsrecht und der auf Bewahrung und Erhaltung des status quo ausgerichtete Teil der Staatsgewalt aufeinander; in diesem antinomischen Staatszielverständnis liegt ein wesentlicher Grund für die Unsicherheit der Abgrenzung von Justiz- und Polizeisachen145. Das Wesen der Polizei wird im Gemeinwohl-, das der Justiz im Privatwohlbezug gesehen. Erstere befaßt sich mit der utilitas oder salus publica, letztere mit den iura quaesita146. Das Justizwesen betrachtete man, so die von Simon gewählte „systematische Formel“ –, seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert mehr und mehr als ein polizeifremdes, zur Polizei in Gegensatz stehendes Gebiet147. Die Entwicklungen in bezug auf den Wandel des Polizeibegriffs lassen zugleich die farbigen und vielgestaltigen Morphologisierungen von frühmoderner Staatlichkeit demonstrieren und exemplifizieren. Normgebung und Normdurchsetzung gingen jeweils eine „idyllische Interaktion“148 ein. Dem Problemhorizont liegen demzufolge – wie Preu in seiner Dissertation anschaulich formuliert – in der Regel drei gedankliche Schritte zugrunde: 141
Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 73. Zitiert nach: Weitzel, op. cit. (Fn. 38), S. IX. 143 In diesem Sinne auch: Sailer, op. cit. (Fn. 24), S. 429. 144 Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 104. 145 Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 104. 146 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 80 ff., 84 ff. 147 Simon, Einleitung, in: Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. II/1, hrsg. von Karl Härter und Michael Stolleis, Frankfurt 1998, S. 48. 148 Stolleis, Was bedeutet „Normdurchsetzung“ bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit, in: Grundlagen des Rechts, Festschrift für Peter Landau, hrsg. von Richard H. Helmholz, Paul Mikat, Jörg Müller und Michael Stolleis, Paderborn 2000, S. 739, 745 f. 142
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Zuerst wird gefragt, ob die Obrigkeit zum Zwecke der Polizei tätig geworden sei, dann untersucht, ob dies iura quaesita berührte, also eine Justizsache vorliegen könne. Im dritten Schritt schließlich wird geprüft, ob dies mit Rechtsgrund geschah, was eine Rechtsverletzung und Justizsache ausschließt149. Es bleibt jedoch summa summarum zu konzedieren, daß die vorhandene Unsicherheit in der Abgrenzung von Justiz- und Polizeisachen nicht notwendig zu Lasten der rechtsschutzsuchenden Untertanen gehen mußte. Insbesondere die Spruchpraxis des Reichskammergerichts hat den Rechtsschutz gegen Maßnahmen der Landesherren durch eine extensive Interpretation150 des Begriffs der Justizsache ausgedehnt151. Damit avancierte das Reichskammergericht zum „edelsten Kleinod des teutschen Bürgers“152. Georg Schmidt griff diesen Gedanken auf und baute ihn weiter dahingehend aus, daß der Rechtsweg vor allem durch „das Gefühl, als Rechtspartei mit dem eigenen Herrn gleichgestellt zu sein und die Beobachtung, daß sich das territorialstaatliche Gewaltmonopol ebenso gegen die Grund- und Gerichtsherren wenden konnte“ populär wurde und damit zu einer weitestgehend friedlichen Konfliktkultur im Alten Reich führte153. Illustrativ läßt sich dieser Gedankengang durch die Herangehensweise der verantwortlichen Richter am Reichskammergericht exemplifizieren. Ein namentlich nicht genannter Assessor äußerte in einem Gespräch mit seinem RKG-Praktikanten Johann Nikolaus Becker folgende Worte: „Glauben Sie mir, ich nehme die Acten in Sachen der Unterthanen gegen ihre Fürsten immer mit dem Glauben zur Hand, daß der Fürst Unrecht hat, denn mir ist seit der langen Zeit, daß ich mein Amt bekleide, noch kein Fall vorgekommen, daß die Klagen der Unterthanen ganz ungegründet gewesen wären“154.
Zudem kam der Reichsgerichtsbarkeit eine besondere Form der Integration zu. Da es sich bei dem Alten Reich – wie eine sog. „technische Schnittzeichnung“ durch den Verfassungsorganismus gezeigt hat155 – um ein hierar149 Preu, op. cit. (Fn. 37), S. 77. Ebenso: Härter, Das Reichskammergericht als Reichspoliceygericht, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa, Festschrift für Bernhard Diestelkamp, hrsg. von Friedrich Battenberg und Filippo Ranieri, Köln 1994, S. 237, 248. 150 Erichsen spricht sogar von einer „exzessiven Interpretation“. Vgl. Erichsen, op. cit. (Fn. 69), S. 105. 151 Der Kammergerichtsassessor von Cramer hat mit seinen Feststellungen wesentlich mit dazu beigetragen. 152 Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts, 2 Bände, Berlin 1794, Staatsrecht I, S. 456 ff. 153 Schmidt, „Wo Freiheit ist und Recht . . .“, da ist der Deutsche untertan?, in: Identität und Geschichte, hrsg. von M. Werner (Jenaer Beiträge zur Geschichte, 1), Weimar 1997, S. 105, 113. 154 Schmidt, op. cit. (Fn. 153), S. 105, S. 116. 155 Vide supra § 3 II.
V. Resümee
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chisches System mit stark föderativen Elementen – also um einen komplementären Reichsstaat – gehandelt hat –, diente das Reichskammergericht der Rechtsvereinheitlichung und vermittelte synchron hierzu eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl über die Grenzen der territorialstaatlichen Regierungssysteme hinweg. Damit sind wir bei der Sentenz von Diestelkamp156 angelangt, wonach die Reichsgerichtsbarkeit neben dem Lehnsrecht als „die wichtigste Klammer der Reichszugehörigkeit“ anzusehen ist. Als weiteres Beispiel zu der – man möchte sagen – existentialen Wechselwirkung zwischen reichsjustiz- und territorialstaatlichen Bestrebungen läßt sich eine Passage aus dem Opus von Schelhaß anführen, der unter der Überschrift „Von den aussergerichtlichen Rechten der Reichsgerichte, wenn dergleichen Klagen noch in der untern Instanz anhängig sind“ gedanklich klar ausführt, „. . . zu verhindern, daß den Unterthanen der gebührende Weg Rechtens versagt werde . . . Wenn demnach die Landesgerichte zum Nachtheil der Unterthanen den summarischen Rechtsgang einschlagen wollen in Sachen, welche offenbar ihrer Natur und Umfang nach denselben nicht vertragen – dann können die Reichsgerichte ihnen befehlen, diesen Weg zu verlassen und den gewöhnlichen ordentlichen Weg einzuschlagen“157.
Um weiterhin zu verhindern, daß die Untergerichte nicht förmlich verfahren, wird die Anweisung an die Reichsgerichtsbarkeit ausgesprochen, „vermög ihrer Oberaufsicht darauf zu sehen, daß bey leztern (damit sind die Untergerichte gemeint, Anmerkung des Verfassers) keine von den Gesezen vorgeschriebene Feyerlichkeiten unterlassen werden“158. 3. Die Ausführungen haben zugleich ein weiteres Faktum offenbart: Wo die ethischen, ökonomischen und politischen Normen sich über die landesherrliche Obrigkeit in konkrete Gebote umsetzen, wo ein gesetzgeberischer Impetus wach wird und ein intensiver Durchsetzungswille zu Sanktionen greift, dringen Juristen in Ratsstuben und Kanzleien vor, bringen das „Policey-Gebot“ in eine gleichmäßiger werdende Form und bauen entsprechende Sanktions- und Reaktionsmechanismen auf159. Damit ist der „Kristallisationspunkt“ der „Sozialdisziplinierung“ der Neuzeit erreicht. 156
Diestelkamp, Königsferne Regionen und Königsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, hrsg. von Gerhard Köbler und Hermann Nehlsen, München 1997, S. 151, 162. 157 Schelhaß, Über die Gerichtsbarkeit der höchsten Reichsgerichte in Klagen zwischen den mittelbaren Reichsunterthanen und ihrer Landes-Obrigkeit, Stuttgart 1795, S. 121. 158 Schelhaß, op. cit. (Fn. 157), S. 129. 159 So Stolleis, op. cit. (Fn. 19), S. 337.
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3. Kapitel: § 3 Kompetenzkonflikt zwischen Justiz und Polizei
Der bereits erwähnte Gerhard Oestreich hat diese Phänomene prägnant so zusammengefaßt: „Bürokratismus, Militarismus und Merkantilismus, ziviler, militärischer und ökonomischer Staatsdienst, bilden gleichsam Erscheinungsformen der Sozialdisziplinierung auf den Gebieten der Verwaltung, des Heereswesens und der Wirtschaft. Die zivilen Minister und Beamten, die Offiziere und Soldaten, die ökonomischen Unternehmer und Handwerker, nicht zuletzt überhaupt aller Untertanen wurden in ihrer Arbeit und ihrer Haltung diszipliniert. Die Entwicklung von altständischer, regional abgesicherter Freiheit zu modern-politischer Ordnung, die Umwandlung von mittelalterlich-feudalen Herrschaftsformen zu frühmoderner Staatlichkeit setzte eine umfassende Straffung und Formung voraus: die der Herrschaftsapparate, die der inneren Staatskräfte, die mit der dem neuen Staate verbundenen, oft auch von ihm gelenkten Kirchen, die der staatlich organisierten Heere und die der staatlich gelenkten Wirtschaft“160.
Es sind dies Grundgedanken, die auch Max Weber161 entwickelt und die Norbert Elias162 aus der Perspektive der Kulturgeschichte bestätigt hat.
160 161
Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Wien 1969, S. 191. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auflage (Studienausgabe), München
1972. 162
Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 7. Auflage, Frankfurt 1980.
V. Resümee
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Das ordentliche Gerichtsverfahren 1655. Die Darstellung zeigt den Verlauf eines Verfahrens. Im oberen Bild trägt die klagende Partei ihr Problem vor, links darunter wird die Gegenpartei zur Erwiderung aufgefordert. Kläger und Beklagte werden daraufhin rechts gegenüber zur Beweisaufnahme eingeladen. In der 2. Szene links wird das Urteil verkündet, rechts gegenüber wird es vollstreckt. Im unteren Bild wendet sich die beklagte Partei an die nächsthöhere Instanz und appelliert gegen das erstinstanzlich ergangene Urteil163. Original: Germanisches Museum Nürnberg 163 Aus: Wismarer Beiträge (Schriftenreihe des Archivs der Hansestadt Wismar, Heft 15), Wismar 2003, S. 48.
„Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft. Aber was der Mensch täglich treibt, läßt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, daß etwas dabei herauskomme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart, und so haben sich drei Jahrhunderte hindurch die würdigsten Männer mit diesen Arbeiten und Gegenständen beschäftigt. Eine charakteristische Galerie solcher Bilder würde noch jetzt Anteil erregen und Mut einflößen“ Johann Wolfgang von Goethe1
4. Kapitel
§ 4 Einordnung des Votums von Cramer im Hinblick auf den Schutz privater Rechte I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums 1. Das von Cramer postulierte Votum in bezug auf die privaten Rechte begründet im Sinne einer neuzeitlichen Terminologie die Klagebefugnis. Der Schutz der privaten Rechte war der dogmatische Ansatzpunkt für den Rechtsschutz2 – in neuzeitlicher Typologie gesprochen: für die Zulässigkeit des Rechtsweges. Eine Parallele findet sich heute im Zivilprozeß- und im Verwaltungsprozeßrecht in den Rechtsfiguren der Prozeßführungs- und der 1 Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 12. Buch, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 9, Autobiographische Schriften, München 1996, S. 528 ff. In diesem doch sehr resignativen und ernüchternden Sinn äußerte sich 1782 auch der RKG-Assessor Franz Dietrich von Ditfurth, der die vom RKG ausgehenden Urteile als ein kraftloses Papier (die) keinem Menschen nützen können, sondern das Gericht verächt- und lächerlich machen bezeichnete. Zitat nach Sigrid Jahns, Die Personalverfassung des Reichskammergerichts und Anpassungsdruck. Lösungen im Spannungsfeld zwischen Modernität und Überalterung, in: Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, hrsg. v. B. Diestelkamp, S. 59. Weiterhin ist die von Fehr geprägte Formel zu erwähnen, wonach die die Reichsgerichtsurteile „ohnmächtige Phantome der Luft“ sind (Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Auflage, Berlin 1937, S. 207. Für Friedrich Carl von Moser stand „der allerschwerste Punkt in der ganzen Reichs – Justiz – Pflege in der würklichen Vollziehung der Reichsgerichtlichen Urtheile“ (Moser, Patriotische Briefe, o. O., 1767, S. 276.). 2 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 bis 1842, Bonn 1962, S. 28.
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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Klagebefugnis. Dabei spielte die uns heute geläufige Unterscheidung3 zwischen privatem und öffentlichem Recht im objektiven Sinne keine Rolle. Die Reichsgerichte entschieden gleichermaßen Prozesse, bei denen es auf privatrechtliche wie auch öffentlich-rechtliche Verhältnisse ankam; der Kläger mußte lediglich ein subjektives Privatrecht geltend machen4. Damit eröffnen sich aber zugleich zwei neue Problem- und Fragenhorizonte: Zum einen stellt sich die Frage, was denn nun genau unter „privaten Rechten bzw. Rechten der Parteien“ zu verstehen ist, zum anderen ist zu untersuchen, auf welchem geistesgeschichtlichen Fundamentum die Vorstellungen von Cramers basieren. Dieser Fragenkreis gewinnt umso mehr an Relevanz als doch von Cramer mit seinem Votum eine neue, progressive Grundtendenz in der Kameraljudikatur einschlägt. 2. Zunächst einmal soll unter Zuhilfenahme der zeitgenössischen Rechtsquellen und Literatur eine Begriffsbestimmung der privaten Rechte, welche zudem als synonym für die bereits erwähnte Kategorie der „iura quaesita“ fungieren, versucht werden. Der Begriff der „wohlerworbenen Rechte“ ist eine Sammelbezeichnung für subjektive Rechte, die im Rahmen eines Rechts erworben wurden5. Bei Cramer erscheinen als Erwerbsgründe der Vertrag zwischen Herrscher und Untertanen, die Verleihung von Privilegien und die Verjährung: „Pacta inter Principem et Subditos inita, Privilegia his ab illo concessa, sive onerosa sive gratuita, vel Iura quaesita per praescriptionem“6.
Als konstitutiv erscheinen in erster Linie der Vertrag und die Verjährung, da auch die Privilegien zunächst nach vertragsrechtlichen Regeln beurteilt wurden, obwohl sie per definitionem als Gesetze und damit als durch Hoheitsakt erworben gelten7. Auch in der Definition des Göttinger Professors Johann Stephan Pütter „ius quaesitum i. e. ni fallor quod, speciali titulo adquisitum, non ex sola libertate naturali obtinet“8 läßt sich diese bereits von Cramer herausgearbeitete Formel erkennen, da ein „titulus“ eben vor allem aus Vertrag oder Verjährung entsteht. Ebenso wie der Vertrag gehört nach überwiegender Auffassung in der naturrechtlichen Staatstheorie auch das Eigentum zu den wohlerworbenen Rechten. So schreibt etwa Pütter: 3 Diese Unterscheidung zeigt sich im Rahmen des § 40 I VwGO, wo bei der Frage nach einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit auf die von Hans-Julius Wolff entwickelte modifizierte Subjektstheorie rekurriert wird. 4 Rüfner, op. cit. (Fn. 2), S. 27. 5 Pirson, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann, Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 5 Bände, Berlin 1971 ff., Art. „iura quaesita“, S. 472. 6 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 92. 7 Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 440. 8 Pütter, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 97), § 119.
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
„Was ein jeder an besonderen Gütern oder Gerechtsamen als rechtmäßig erworbenes Eigentum („ius quaesitum“) sich zuzueignen berechtigt ist“9.
Als Objekt des Eigentums kommen nicht nur Sachen, sondern „die Gesamtheit der vermögenden Rechte“10 in Betracht. Rechte im eigentlichen Sinn, „iura proprie sic dicta, perfecta, irrevocabilia“, konnten auch ständische Rechtspositionen, insbesondere Mitwirkungsrechte an der Gesetzgebung oder Wahlrechte sein11. Neurath präzisiert dies dahingehend: „Iurium proprie sic dictorum perfectorum irrevocabilium, nomine mihi hic veniunt, quae constitutionibus imperii universalibus, et provinciae particularibus fundamentalibus, Reversalibus Principum, ut vocant, pactis, privilegiis, concessionibus vel onerosis vel gratuitis, ac rebus iudicatis nituntur et possessione immemoralia aliisque modis lege approbatis, quaesita sunt, et pro quorum retentione et defensione leges remedia et actiones concedunt“12.
Aber bei der Frage, was nun in concreto der Umfang der iura quaesita sei, traten so manche Zweifelsfragen auf. So wurde David Strube dafür kritisiert, daß er (angeblich)13 nur vertraglich begründeten Rechten gerichtlichen Schutz gewähren wollte14. Resümiert man nunmehr die soeben ausgewertete Quellenlage, so gelangt man zu der Quintessenz, daß es allgemein der „communis opinio doctorum“ entsprach, demjenigen, der sich auf ein wohlerworbenes Recht berief, rechtliches Gehör zu gewähren. In diesem Sinne ist die Formulierung von Pütter zu verstehen, wenn er meint, „der allgemeine Begriff der Justizsache bringe es mit sich, daß jedem, der behaupte, ihm werde wider seine Gerechtigkeit etwas auferlegt, rechtliches Gehör gestattet werden müsse“15. Die Rechtsschutzfähigkeit dieser eng umgrenzten wohlerworbenen Rechte stand außer Streit. Für alle Autoren war somit das wohlerworbene Privatrecht der Ausgangspunkt für die den Untertanen zustehenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Nicht die Fiskustheorie und die Aufspaltung des Staates in zwei verschiedene juristische Personen deuten die Rechtslage im Zeitalter des Absolutismus, sondern die Entscheidung darüber, ob das Privatrecht eines Untertanen, sei es vermögensrechtlicher oder anderer Art16, vom Gewalthaber verletzt 9
Pütter, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 93), S. 355. Häberlin, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 152), Band II, S. 296 ff. 11 Neurath, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 83), S. XIII f. 12 Neurath, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 83), S. XIV f. 13 Kroeschell, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 32), S. 57, 69. 14 Strube, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 99), S. 81. 15 Pütter, Auserlesene Rechts-Fälle aus allen Theilen der in Teutschland üblichen Rechtsgelehrsamkeit in Deductionen, rechtlichen Bedenken, Relationen und Urtheilen, theils in der Göttingischen Fakultät, theils in eigenem Namen ausgearbeitet, Göttingen 1760, 2. Bd., 4. Teil, S. 1074. 16 Vgl. hierzu: 3. Kapitel Fn. 103. 10
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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wurde17. Festzuhalten bleibt anhand der skizzierten Quellenlage, daß es bei einem gerichtlichen Rechtsschutz in Justiz- und Polizeisachen18 auf den Unterschied zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht nicht ankam. Der Reichspublizist Gönner hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „Rechtsverletzung, eine Klage über verletztes Recht ist also die einzige Eigenschaft, welche an einem Objekte gefordert wird, um es zu einer Justizsache zu qualifizieren . . . Man sieht die Rechtsverletzung als etwas Abstraktes“19.
Eine kategoriale Zweiteilung in Öffentliches Recht und Privatrecht existierte zur damaligen Zeit noch nicht20. Erst in der Folgezeit kam es zur Ausprägung eines genuin Öffentlichen Rechts. 3. Im Anschluß an die bereits erwähnten iura quaesita als „Einfallstor“ einer reichsgerichtlichen Prüfungskompetenz stellt sich in logischer Konsequenz die Frage, ob die Reichsgerichte auch mit der Begründung angerufen werden konnten, die natürliche Freiheit sei durch die Staatsgewalt verletzt worden. Die Entwicklung drängte nämlich dazu, jeden Machtmißbrauch und jede Überschreitung der Grenzen der Staatsgewalt vom Richter beurteilen zu lassen. Dazu mag beigetragen haben, daß die iura quaesita nicht mehr eine absolute Schranke für die landesherrliche Gewalt waren21. So konstruierte die absolutistische Staatslehre ein besonderes, dem Herrscher zukommendes und die Wirkungen der iura quaesita durchbrechendes „ius eminens“22. Jedoch bleibt zu erwähnen, daß gegen die Ausübung des ius eminens weiterhin unmittelbar Rechtsschutz gewährt wurde23. So verlangte § 106 JRA, daß „der Richter . . . des Status publici mit einlauffendes Interesse mit in seinen Umständen wohl erwegen“ sollte. Auch das Reichskammergericht hat z. B. in einer von Cramer mitgeteilten Entscheidung auf eine Klage gegen die Ausübung des ius eminens sich für berechtigt gehalten nachzuprüfen, ob die utilitas et necessitas, die in der Streitsache bestritten wurden, gegeben waren24. 17 v. Unruh, in: Kurt Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band I, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 404. 18 Letztere als Inbegriff der Regierungssachen überhaupt. Vgl. hierzu: Weitzel, op. cit. (Fn. 38), S. 313. 19 Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses, 2. Auflage, Erlangen 1804, S. 37 ff. 20 Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1800– 1914, München 1992, S. 51. 21 Rüfner, op. cit. (vgl. Fn. 2), S. 33. 22 Pirson, op. cit. (Fn. 5), Art. „iura quaesita“, S. 473. 23 Erichsen, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 69), S. 75. 24 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN XIII, S. 1 ff. Diesen Abschnitt hat Cramer wie folgt tituliert: Vom Recht eines Landes-Herrn Jure Dominii Eminentis Zuchthäuser zu errichten.
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
Bezeichnet man – wie es damals wohl beabsichtigt wurde – als bürgerliche Freiheit jenen Bereich, der rechtmäßigen Eingriffen potentiell unterliegt, so kann per definitionem nur die natürliche Freiheit durch materiell rechtswidrige staatliche Eingriffe verletzt werden; hingegen ist die Verletzung bürgerlicher Freiheit durch verfahrensrechtswidrige Maßnahmen möglich25. Klippel liefert in diesem Kontext eine anschaulichere und eher rechtsphilosophische Definition, wenn er davon spricht, daß „die natürliche Freiheit nicht nur dem Naturzustand angehört, sondern auch im Staat erhalten bleibt, so besteht dessen Zweck gerade darin, den Menschen den Genuß ihrer Freiheit zu ermöglichen“26. Die Bedeutung der natürlichen Freiheit für den Rechtsschutz von Untertanen hat nämlich in der Literatur schon mehrmals Beachtung gefunden: Die Hypothese von Rüfner, „im 18. Jahrhundert sei bei ruhiger Weiterentwicklung die natürliche Freiheit alsbald allgemein und uneingeschränkt prozessual dem ius quaesitum gleichgestellt worden“27, darf jedoch seit Erichsen, der diesem Ansatzpunkt mit „gewisser Skepsis“ begegnet28, als widerlegt gelten. Diese Feststellung soll anhand nachfolgender Fallrelationen aus der Judikatur des Reichskammergerichts exemplifiziert und verifiziert werden. So wird in der zeitgenössischen Reichspublizistik – namentlich von Häberlin – die Rechtsschutzfähigkeit der Freiheit mit den Worten abgelehnt, „es dürften die Gerichte nicht auf die Klagen einzelner Unterthanen sich eine Beurteilung dieser Handlungen (zur Einschränkung ihrer natürlichen Freiheit) anmaßen“29. Diese Auffassung wurde auch von Leist30 und v. Bülow/Hagemann31 geteilt. Es bleibt also festzuhalten, daß die natürliche Freiheit nicht als „ius quaesitum subditorum“ klassifiziert wurde; dies beinhaltet jedoch nicht, daß der Figur der „libertas naturalis bzw. civilis“ in der Rechtsprechungspraxis des Reichskammergerichts nur eine marginale Rolle zugekommen wäre. Der erste Fall, der für den soeben aufgeworfenen Problemkanon Aufschlüsse gibt, beschäftigt sich mit der Frage, wie weit das Bannrecht einer Schenkstadt reicht. Dieser Fall32 stammt aus den von Cramer edierten „Wetzlarischen Nebenstunden“. Das Bannrecht der Schenke hatte die Ge25
Erichsen, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 69), S. 78 Fn. 86. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 113 ff. 27 Rüfner, op. cit. (Fn. 2) S. 42. In diesem Sinne auch: Henke, op. cit. (vgl. 2. Kapitel Fn. 27), S. 14. 28 Erichsen, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 69), S. 79. 29 Häberlin, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 152), S. 467. 30 Leist, Lehrbuch des Teutschen Staatsrechts, Göttingen 1803, § 175. 31 Friedrich v. Bülow/Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, Band IV, Hannover 1804, S. 139 ff. 32 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN XII, S. 85–102. 26
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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meinde Köthen eingestanden, nicht jedoch die Verpflichtung, auch alle Ehrenzechen und Hochzeiten in der Schenke des Lorenz Dillsberger abhalten zu müssen. Die Vorinstanz hatte gegen die Gemeinde entschieden, da sie den Besitz der fraglichen Rechte als bewiesen ansah, der durch Observanz zu einem Privileg erstarkt sei. Das Bannrecht sei auch nicht der Ordinationis Politicae zuwider, da niemand zum Trinken, sondern nur zum Zahlen gezwungen werde. Außerdem sei es billig, daß Dillsberger in seinem Besitz geschützt werde, da auch er hohe Akzisen und Umgelder an die Herrschaft abführen müsse. Das Reichskammergericht entschied jedoch in der Sache anders: Die „rationes decidendi“ der Vorinstanz seien nicht so beschaffen, daß „dadurch die ohnehin durch eine zugestehende Zwang-Schenck-Stätte eingeschränkte natürliche Freiheit der Gemeinde Köthen, durch annoch über das dreyfach aufzubürdende Beschwerden völlig zu Boden gedruckt, und aufzubürden, und auf eine in Reichslanden nicht wohl erhörte Weiß völlig benommen und entzogen werden möge. Das Recht der Natur33 erlaubt einem jeden Unterthanen den Wein und Bier zu kauffen, und Zechen zu halten wo er will. Wer also denen Unterthanen solches Recht absprechen will, der muß erweisen, daß sie sich dessen entweder gutwillig begeben, oder daß Ihnen solche von der Obrigkeit Rechts erlaubter Weis entzogen werden“34.
Unterzieht man die Entscheidungsgründe des Reichskammergerichts einer genaueren Analyse, so stellt man fest, daß in dem streitgegenständlichen Kontext das Argument der natürlichen Freiheit als Auslegungsprinzip eine Rolle spielt. Zugleich wird das Auftreten eines Spannungsverhältnisses zwischen den alten Gerechtigkeiten und der natürlichen Freiheit sichtbar. Das Reichskammergericht entschied sich hier für eine einschränkende Auslegung des ius quaesitum, um der natürlichen Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen35. Entscheidend für die Beurteilung dürfte auch der Verdacht des Gerichts gewesen sein, der Landesherr wolle hier nur seine Staatskasse bereichern36. Das Monopol wird deshalb nicht als erlaubtes angesehen, sondern unter die verbotenen gerechnet. Um der Spezifik des Topos von der „libertas naturalis“ noch mehr eine „bekennende Authentizität“ zukommen zu lassen, sei auf einen weiteren Rechtsstreit vor dem Reichskammergericht verwiesen, der sich ebenfalls in den „Wetzlarischen Nebenstunden“ von Cramer37 finden läßt. In concreto ging es um einen Rechtsstreit zwischen den Mehlhöckern und den Weiß33
Hierbei handelt es sich um eine besonders gekennzeichnete Hervorhebung seitens des Verfassers im Hinblick auf eine neue Begriffstendenz. 34 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN XII, S. 88. 35 Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 464. 36 Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 465. 37 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN LX, S. 46–98.
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
und Fastenbäckern in Lübeck. Die Bäcker, die in Lübeck wie alle Handwerker das Recht besaßen, mit dem Material Handel zu treiben, das sie verarbeiteten, verlangten ein Ausschließungsrecht gegen sämtliche Mehlhökker, die Kleinhandel mit Mehl betrieben. Das Reichskammergericht war jedoch der Auffassung, daß derjenige, der ein ius prohibendi beanspruche, die „eines anderen natürliche Freyheit ohne eine Untersagungsbefugnis nicht einschränken könne“38. Die Vorinstanz, die Juristenfakultät Leipzig, hatte dagegen von seiten der Mehlhöcker den Nachweis der Befugnis zum Handel von Mehl verlangt und den Besitz des Rechts als nicht ausreichend anerkannt. Das Reichskammergericht drehte – in einem neuzeitlichen „terminus technicus“ gesprochen – die Beweislast um. Es formuliert: „War es also nicht ungereimt, daß die Höcker nebst ihrer natürlichen Handlungsfreyheit und deren Besitz noch eine besondere Befugnis und Privilegien darthun sollten?“39.
Diese Begründungsschiene des Gerichts lief in deutlichem Maße darauf hinaus, daß man von den Bäckern den Beweis verlangte, die sich auf Wettbescheide und Ratsdekrete berufen hatten, in denen den Höckern der Handel mit Weizenmehl, nicht jedoch mit Roggenmehl verboten worden war. Die Bäcker hatten aber weder ihre Zunftrolle vorgebracht, noch sonst ihre Gerechtsame nachgewiesen, so daß es bei der allgemeinen Handlungsfreiheit der Bäcker bleiben müsse. Damit zeigt sich auch in diesem Beispielsfall, daß die natürliche Handlungsfreiheit nur dann als eingeschränkt gilt, wenn ein förmliches Privileg vorliegt40. Die soeben skizzierten Fälle haben gezeigt, daß in der reichskammergerichtlichen Entscheidungspraxis eine Tendenz der Verlagerung des materiellen Rechtsschutzes vom Schutz wohlerworbener Rechte zur allgemeinen Handlungsfreiheit erkennbar war, auch wenn diese nicht als subjektives Recht angesehen wurde41. Der allgemeinen Handlungsfreiheit als Element der natürlichen Freiheit kam aber die Wirkung eines „quasi-subjektiven Rechts“ zu. Die Anerkennung der natürlichen Freiheit als Rechtsprinzip erfolgte über die Begriffsgruppe des „salus publica“ dahingehend, daß nur in den Fällen, wo die Aufhebung der Freiheit für alle dem Gemeinwohl dient, die Figur des „salus publica“ die Aufhebung oder Einschränkung wohlerworbener Rechte legitimieren konnte42. Diese sich in der Judikatur des Reichskammergerichts widerspiegelnde Tendenz findet sich auch in ver38
v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN LX, S. 48. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN LX, S. 74. 40 In diesem Sinne die Begründung von Sailer. Vgl. Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 465. 41 Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 465. 42 Sailer, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 24), S. 477. 39
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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schiedenen Passagen der Ausführungen von Cramers. So führt Cramer in seinen „Wetzlarischen Nebenstunden“ mit folgenden Worten aus: „Wo gegen eine Landesobrigkeit directe wegen unter dem Schein des Besten der Handelschaft und des gemeinen Stadtwesens, ja selbsten des allgemeinnen Commercii zu eines Privati totalen Ruin missbrauchten obrigkeitlichen Ordinationen Klage erhoben wird, da bedarf es noch vor deren Exekution weiterer oberrichterlichen Kognition und Entscheidung und hat das Sprichwort nicht statt: In Polizeisachen gibt es keine Appellation“43.
Diese Textstelle dokumentiert, daß der Sache nach das Reichsrecht nahe an die Anerkennung der natürlichen Freiheit als Recht herankam. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang zur „globalen Abrundung“ liefert eine Entscheidung des Reichskammergerichts aus dem Jahre 1787, die als „Fall Heißler“44 in die Annalen der Rechtsgeschichte eingegangen ist. In diesem Fall wurde es dem Bischof von Speyer untersagt, seine Untertanen – das war in concreto das Ehepaar Heißler – ohne deren Zustimmung von einem Ort an einen anderen Ort umzusiedeln. Dieses Urteil belegt zugleich die Schutzfähigkeit der natürlichen Freiheit, obgleich das Reichskammergericht die natürliche Freiheit nicht per se als schutzwürdig anerkannt hat; in der Sache jedoch ist es nahe an eine solche Anerkennung herangekommen45. 4. Läßt man die dargelegten Entwicklungslinien der Kameraljudikatur Revue passieren, so kann man unumwunden feststellen, daß der Schutz natürlicher und bürgerlicher Freiheit durch die Rechtsprechung im Rechtsschutzverfahren der Untertanen einen besonderen Stellenwert einnimmt. In diesem Konnex spricht Diestelkamp zu Recht von einer „freiheitssichernden Rechtsprechung“46. Der Lauf der Geschichte drängte realiter dazu, den Machtmißbrauch und jede Überschreitung der Grenzen der Staatsgewalt im Wege einer richterlichen Kompetenz überprüfen zu lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint es als nicht verwunderlich, daß – wie Weitzel in seinen Untersuchungen festgestellt hat – etwa drei Prozent der Entscheidungen des Reichskammergerichts der Freiheitsproblematik gewidmet waren47. Die Er43
v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 96 ff. Endurteil abgedruckt bei: Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 3 (seit 1650), 3. Auflage, Opladen 2001, S. 122–123. 45 Weitzel, Das Reichskammergericht und der Schutz von Freiheitsrechten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Die politische Funktion des Reichskammergerichts, hrsg. von Bernhard Diestelkamp, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 24, Köln 1993, S. 157, 177. 46 Diestelkamp (Hrsg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts, Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 24, Köln 1993 S. 5. 47 Weitzel, op. cit. (Fn. 45), S. 157, 164. 44
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
weiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten über die Figur der natürlichen Freiheit wurde allgemein als Ersatz des naturrechtlichen Widerstandsrechts betrachtet48. Zwar ermöglichte das Reichskammergericht keinen umfassenden Rechtsschutz; zumindest aber einen wirksamen Rechts- und Willkürschutz, indem es das prinzipiell übergeordnete Reichsrecht49 als Maßstab heranzog50. Die natürliche und persönliche Freiheit wurde vermutet und konnte – wie die Fallanalysen gezeigt haben – nur durch besondere Rechtstitel eingeschränkt werden. So wurde beispielsweise, um sich wieder den Schriften von Cramers zuzuwenden, die Baufreiheit („praesumtio libertatis“) als Bestandteil der natürlichen Freiheit definiert51. Diese Tendenz in der Judikatur darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Freiheitsschutz „in iudicando“ nur punktuell entfalten konnte. Unter der Ägide des Reichskammergerichts wurde nunmehr eine Epoche eingeleitet, die „eine freiheitliche politische Ordnung gegen die Tendenz des Despotismus“52 zu wahren versuchte. 5. Die in diesem Arbeitsschritt gewonnenen Ergebnisse über die „freiheitssichernde Rechtsprechung“ des Reichskammergerichts sagen jedoch noch nichts darüber aus, aus welcher Quelle diese progressiven und pragmatischen Ansätze gespeist wurden bzw. wo die Wurzeln dieser Ansätze zu suchen sind. Eine Antwort darauf soll nachfolgend geliefert werden. In den Überlegungen von Cramers und in der Judikatur des Reichskammergerichts lassen sich in erheblichem Umfang geistige Impulse des Rationalismus und des Naturrechts vorfinden. Diese Impulse fungierten bei den Überlegungen und Voten als „Inspirationsquelle“. Auch wenn nicht direkt auf bestimmte philosophische Anschauungen oder ihre Vertreter Bezug genommen wird, so hatten sie jedoch eine Vorbildfunktion und somit eine besondere Strahlkraft. Die in der Kameraljudikatur eingeschlagene neue justizreformerische Richtung fällt in eine historische Epoche, in der sich das Staatsverständnis grundlegend zu wandeln begann. Die Werteordnung des Ancien Régime begann peu à peu zu bröckeln. Hatte Hobbes53 in seinem „Leviathan“ noch ein düsteres Menschenbild gezeichnet54, wenn er dies mit den Worten „homo homini lupus est“ um48 Peters, Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus, Frankfurt a. Main 1993, S. 56. 49 Aus heutiger Sicht wäre die sog. Normenhierarchie der relevante rechtliche Ausgangspunkt und Prüfungsmaßstab für diese Sichtweise. 50 Weitzel, op. cit. (Fn. 45), S. 157, 176 ff. 51 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 52. 52 Würtenberger, Verfassungsrechtliche Streitigkeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit, Festschrift für Ernst Benda, hrsg. von Eckhart Klein, Heidelberg 1995, S. 443, 455.
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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schrieb und auf dieser Basis die Unterwerfung unter den Herrscher legitimierte, so entwickelte sich ein neues und positiveres Menschenbild. So erwähnte Locke, daß die Menschen frei und nicht als Sklaven geboren seien55. Leidenschaftlich verteidigte er in seinem Œuvre die Freiheit des Menschen: „The Natural Liberty of Man is to be free from any Superior Power on Earth, and not to be under the Will or Legislative Authority of Man, but to have only the Law of Nature for his Rule. The Liberty of Man in Society56 is to be under no other Legislative Power, but that established by consent in the Commonwealth, nor under the Dominion of any Will, or Restraint of any Law, but what that Legislative shall enact according to the Trust put in it“57.
Ähnliche Gedanken finden sich bei Christian Wolff 58, dessen Schüler von Cramer59 war. Wolff spricht von der „libertas naturalis homini“60 und führt 53 Weiterführende Literatur zu Thomas Hobbes: Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994; Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt/New York 1993; Strauss, Hobbes’ politische Wissenschaft, Neuwied/Berlin 1965; Weiß, Das philosophische System von Thomas Hobbes, Stuttgart–Bad Canstatt 1980; Willms, Der Weg des Leviathan. Die Hobbes-Forschung von 1968–1978, Berlin/München 1979. 54 Für Hobbes galt folgende „soziologische Ausgangslage“: Die Dinge, nach denen die menschliche Natur strebt, sind auf Selbsterhaltung und Lustbefriedigung („commodus living“) zurückzuführen. Da aber der Lustgewinn die Grenzen sofort dort erreicht, wo zwei Individuen dasselbe Objekt begehren, ist der Konflikt zwischen ihnen unausweichlich. Da aber alle Güter begrenzt sind, also nicht alle Subjekte gleichermaßen diese knappen Güter erhalten können, tritt die Kategorie der Macht als Durchsetzungsgewalt gegen die Ansprüche anderer auf den Plan. Macht wird als das vorzüglichste Mittel zur Lustbefriedigung erkannt und deren Größe als eine Relation in der menschlichen Interaktion bestimmt. Machtstreben und Konkurrenzverhalten können nur dort aufhören, wo eine noch viel größere Macht entgegensteht. Diese Macht herzustellen bedeutet die Geburtsstunde des Leviathan. 55 Locke, Two Treatises of Government, hrsg. von Peter Laslett, Cambridge 1960, Buch I, S. 159 ff. 56 Hier erscheint bereits die Unterscheidung von natürlicher und bürgerlicher Freiheit. 57 Locke, op. cit. (Fn. 55), Buch II, S. 301. 58 Zu Wolff als „Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland“ (Kant): Schneiders, Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, 2. Auflage, Hamburg 1986; Stipperger, Freiheit und Institution bei Christian Wolff (1679–1754), Frankfurt 1984; Thomann, Christian Wolff, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Auflage, München 1995, S. 257–283. 59 Von Cramer als Wolff-Schüler der ersten Generation hat versucht, die Überlegenheit der von Wolff entwickelten demonstrativen Methode auch im positiven Recht nutzbar zu machen. Vgl. v. Cramer, De optima iura docendi methodus, in: ders., Opuscula, III, Marburg 1755, S. 232–248. 60 Wolff, Institutiones Juris Naturae et Gentium, Halle 1750, § 95, S. 49 ff.
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
aus, daß „das Recht nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem innersten der Philosophie zu schöpfen sei“61. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß gerade Christian Wolff 62 mit seinen philosophischen Überlegungen den absolutistischen Polizeistaat legitimierte, wenn er den Untertanen, die ihr Recht nach Glück nicht erkennen können, „beschränkten Verstand“ attestierte63. Diese soeben skizzierten staatsphilosophischen Denkansätze führten zu einer Änderung in Rechtslehre und Rechtspraxis. Die Naturrechtssysteme64, vor allem ihre öffentlichrechtliche Spielart des „ius publicum universale“, „Staatsrecht nach der Vernunft“, bildeten die „philosophische Traditionslinie“65. Das Naturrecht lieferte als Leitdisziplin die maßgeblichen Argumente und Theoreme. Dem Naturrecht kam, um eine Begriffsprägung von Klippel zu wählen, eine „juristische Funktion“66 zu. So erklärt es sich, daß die zahlreichen Naturrechtssysteme bereits die modernen Stichworte des konstitutionellen Denkens einbrachten: Die Bindung staatlicher Eingriffe an Gesetze, die Kontrolle der Polizei, die Separierung von Justiz und Polizei sowie Rechtsschutz gegen „Willkür“67. Damit kam man dem Postulat von Kant, welcher schrieb, daß „die Qualität des Menschen darin bestünde, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein“68, nahe. Denn diese von Kant aus der Menschenwürde destillierte Entwurfsfähigkeit des Menschen setzt neben der prinzipiellen Freiheit auch die prinzipielle Gleichheit der Menschen voraus69. 61 Vorrede zu Institutiones (Fn. 60). Auseinandersetzung mit Pufendorf in Oratio de Sinarum philosophia practia, Anmerkung 190. Siehe auch Anmerkung 65: „Qui ad distinctam rerum cognitionem mentem elevant ac appetitu, quem Philosophi rationalem vocant in bonum feruntur, illi voluntate libera ad actiones bonas determinantur, nec ut in bono persistant superiore opus habent“. 62 Die demonstrative Methode entwickelt Wolff in folgendem Werk: De Iurisprudentia civili in formam demonstrativam redigenda, in: ders., Horae subsecivae Marburgenses anni MDCCCXXX quibus Philosophia ad publicam privatumque utilitatem aptatur, Trimestre Brumale, Frankfurt und Leipzig 1731, S. 84–150. 63 Schoch, Jus 94, S. 391, 392. 64 Die rechtsdogmatische Grundlage der Naturrechtssysteme war der sog. „Staatsgründungsvertrag“. Dieser „Grundvertrag“ zwischen Fürst und Untertanen verpflichtete im Sinne des aufgeklärten Absolutismus den Regenten im Rahmen der ihm obliegenden Förderung des Gemeinwohls vor allem zur Aufrechterhaltung von Recht und Sicherheit innerhalb der staatlichen Gemeinschaft. Vgl. Seelmann, Der Weg zur neuzeitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit – Ihre Vorstufen und dogmatischen Grundlagen, in: Helmut R. Külz/Richard Naumann (Hrsg.), Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. 1, Karlsruhe 1963, S. 25, 47. 65 Stolleis, op. cit. (Fn. 20), S. 50. 66 Klippel, ZNR 2000, S. 1. 67 Stolleis, op. cit. (Fn. 20), S. 50. 68 Kant, Die Metaphysik der Sitten, hrsg. von Hans Ebeling, Stuttgart 1990, S. 76.
I. Thematisierung und Kontextualisierung des Votums
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Für Kant70, der mit seinem experimentalphilosophischen Vorschlag für eine Selbständigkeit der ethischen Selbstbestimmung eintrat, mündeten seine Vorstellungen von einer aufgeklärten Staats- und Regierungsform in den Aufsatz „Was ist Aufklärung?“, der am 30.9.1784 erschien71. In diesem Aufsatz wird folgendes ausgeführt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“72.
Mit der Bezugnahme auf das Horaz’sche „Sapere aude“ wird deutlich, daß Freiheit und Verstand sich also wechselseitig bedingen und zwischen ihnen in letzter Konsequenz eine Wechselwirkung besteht. Zum anderen ist die Freiheit die Voraussetzung, den Siegeszug der Vernunft realiter zu ermöglichen. Wenn Kant weiter ausführt, „zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsonniert nicht! Der Offizier sagt: räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsonniert, so viel ihr wollt; und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung der Freiheit“73,
so zeigt sich die Beschränkung der Aufklärung auf die geistige Freiheit. Daraus folgt auch eine strikte Ablehnung der Revolution. Denn aus der Perspektive von Kant ist folgendes zu bedenken: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall vonn persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen“74. 69 Zu diesem Bereich: Kopp, Das Menschenbild im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Rechtsstaat, Kirche, Sinnverantwortung, Festschrift für Klaus Obermayer, hrsg. von Richard Bartlsperger, München 1986, S. 53, 61. 70 Vgl. neuerdings die Biographie von Manfred Kühn. Die Biographie selbst ist wissenschaftlich präzise, aber literarisch nüchtern geschrieben. 71 Kant, Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift vom 30.9.1784. 72 Kant, op. cit. (Fn. 72). 73 Kant, op. cit. (Fn. 72). 74 Kant, op. cit. (Fn. 72).
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
In einem weiteren Werk wird in Anknüpfung hierzu ausgeführt: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemeinen gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich; also kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn als einzelne Person (Monarch) unter dem Vorwande des Missbrauchs seiner Gewalt (tyrannis) Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben (monarchomachismus sub specie tyrannicidii). Der geringste Versuch hierzu ist Hochverrath (proditio eminens), und der Verräther dieser Art kann als einer, der sein vaterland umzubringen versucht (parricida), nicht minder als mit dem Tode bestraft werden“75.
Unter Berücksichtigung des „Ideenhaushalts“ von Kant läßt sich sagen, daß von Cramer mit seinen Gedanken in einer „Vor-Kontinuität“ der vom Königsberger Philosophen entwickelten Gedankengänge steht. Eben nicht durch Revolution, sondern vielmehr durch Evolution soll der „libertas naturalis“ zu ihrem Recht verholfen werden. Insofern kommt der Evolution auch ein revolutionärer Charakter zu.
II. Analysierende Bemerkungen 1. Faßt man die bisherigen Beobachtungen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Über die Figur der „iura et laesiones Partium“76 ergab sich eine reichskammergerichtliche Zuständigkeit und Prüfungskompetenz, so daß die Untertanen in Polizeisachen kammergerichtlichen Beistand und Unterstützung erhielten. Diese richterliche Prüfungskompetenz bot somit eine Widerstandsmöglichkeit gegen obrigkeitliche Polizei und Sozialdisziplinierung77. 2. Es ging in concreto nicht darum, den umfassenden innenpolitischen Regelungsanspruch der Polizei seitens des princeps nennenswert zu restringieren, sondern vielmehr rückte die Frage des Rechtsschutzes gegen die Polizei in den Mittelpunkt der juristischen Diskussion. So führt von Cramer bezüglich der Sachentscheidungskompetenz der Gerichte in seinem Publikandum aus: „Es kommt also hiebey lediglich darauf an, daß jedesmahl, so offt die Frage entstehet, ob diese oder jene Sache ad Causas politicas oder Justitiae gehöre? Genau untersucht werde, ob die von dem Landesherrn oder dessen Regierungen intendirte Verordnungen oder Veränderungen, wann sie auch gleich das gemeine We75 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Teil, 1. Abschnitt, Allgemeine Anmerkung, A. 76 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 77 Härter, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 149), S. 237, 252.
II. Analysierende Bemerkungen
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sen betreffen, also beschaffen sind, daß dadurch die Unterthanen ihre iura quaesita nicht verliehren, noch an ihren Privilegiis und Freyheiten gekränket werden?“78.
Durch die Eröffnung von Rechtswegen über die Geltendmachung einer Rechtsverletzung suchte das Reichskammergericht den Ausbau eines schrankenlosen Absolutismus zu verhindern. Es ging also darum, möglichst umfassend „justizfreie Räume“ abzubauen und damit im Wege einer gerichtlichen Kognition eine transparentere Kontrolle herrschaftlicher Maßnahmen und Entscheidungen zu gewährleisten. Judizierte das Reichskammergericht unter diesem Blickwinkel, so übernahm es – wie Härter formuliert – die Tätigkeit eines „Reichspoliceygerichts“79. Im Hinblick auf eine solch naturrechtlich grundierte Rechtsprechungspraxis avancierte das Reichskammergericht – um den Bogen zur heutigen Verfassungspraxis zu spannen – zur „Sachwalterin eines modernen Grundrechtsschutzes“80. Vor diesem Hintergrund verallgemeinert von Berg nicht ohne Übertreibung, daß „bei den Reichsgerichten der teutsche Bürger Hülfe gegen allen Despotismus, gegen gesetzwidrige Urtheile, gegen Verweigerung oder Verzögerung der Justiz, gegen ungerechte Gesetze, gegen verfassungswidrige Eingriffe in seine Freiheiten, gegen willkürliche Auflagen, gegen jeden Missbrauch der Regierungsrechte finde“81.
3. Das Votum von Cramer, welches unter dem geistigen Einfluß des Rationalismus und der Aufklärung steht, ermöglichte bezüglich der privaten Rechte also eine umfassendere Prüfungskompetenz des Reichskammergerichts, so daß das Reichskammergericht zur damaligen Zeit unter Bezugnahme auf die „iura et laesiones Partium“ rechtliche Betätigungsfelder abdeckte, die heute vom Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht und Bundesverfassungsgericht82 genuin wahrgenommen werden. Eisenhardt spricht in bezug auf das Reichskammergericht als historischer Vorläufer dieser Gerichtszweige von einer Kontinuitätslinie, die zeitweise deutlicher zu sehen war, zeitweise kaum83. 78
v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 84. Vgl. auch S. 89. Härter, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 149), S. 237, 248. 80 Würtenberger, op. cit. (Fn. 52), S. 443, 451. 81 Berg, Über Teutschlands Verfassung und die Erhaltung der öffentlichen Ruhe in Teutschland, Göttingen 1795, S. 61. 82 Nicht im Sinne ausgebildeter Verfahrensarten, wohl aber der Idee nach kann man in diesem Zusammenhang von einem Vorläufer der Verfassungsbeschwerde sprechen. Vgl. Robbers, JuS 90, S. 257, 258. 83 Eisenhardt, Zu den historischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa, Festschrift für Bernhard Diestelkamp, hrsg. von Friedrich Battenberg und Filippo Ranieri, Köln 1994, S. 17, 38. 79
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4. Kapitel: § 4 Einordnung des Votums von Cramer
Für Roellecke läßt sich das Reichskammergericht in seinem Funktionsspektrum wie folgt charakterisieren: „Dem Range nach kann man es (Reichskammergericht) nur mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichen, den Kompetenzen nach eher mit dem US-Supreme Court: Nicht mehr der „Kaiser im Gericht“ veranstaltete das Verfahren, sondern an seiner Stelle ein Kammerrichter, der ein Fürst oder wenigstens ein Graf oder Freiherr sein musste (vgl. § 1 RKO von 1495)“.
Und er bemerkt weitergehend: „. . . was damals als nüchterne Zweckmäßigkeit erschien, erwies sich als Strukturveränderung. Rechtsprechung und Herrschaft wurden getrennt, ein revolutionärer Vorgang, wenn man bedenkt, daß die Gerichtsbarkeit der Kern herrscherlicher Gewalt war, um so revolutionärer, wenn man hinzunimmt, daß alles scheinbar beim alten blieb“84.
84 Zitiert nach: Haft, Aus der Waagschale der Justitia – Ein Lesebuch aus 2000 Jahren Rechtsgeschichte, 3. Auflage, München 2001, S. 17.
„Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel1
5. Kapitel
§ 5 Bezugnahme auf die Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität der Territorialherren I. Prinzipien territorialer Gerichtsverfassungen 1. Eine sachgerechte interpretatorische und juristische Würdigung der Formulierung von Cramer, daß „Polizeisachen im Falle von iura et laesiones Partium auch bei den Unter-Gerichten ein objectum iustitiae sind“2, erfordert zunächst, die Begrifflichkeit einer bestimmten historischen Sítuation – in concreto die Strukturen territorialer Gerichtsverfassungen – darzustellen. Die historische Entwicklung – in diesem Zusammenhang verdienen die Bestimmungen des Westfälischen Friedens aus dem Jahre 1648 besondere Beachtung – führte zu einer größeren Unabhängigkeit der Länder, die sich teilweise „auf dem Weg quasi-souveräner Staatlichkeit“3 befanden. Dieser Prozeß ging zudem einher mit einer größeren Unabhängigkeit von der Gerichtsbarkeit des Reiches. Es kam – wie Link anschaulich beschreibt – zu einer „Staatsbildung im Reichsverband“4. Gerade in der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts wandelte sich die Stellung des Monarchen zum Gericht grundlegend5. Die immer weitere Ausgestaltung territorialer Staatlichkeit in Folge des Westfälischen Friedens6 führte dazu, daß der Gerichtsgewalt und der Gesetzgebungsbefugnis des Landesherrn eine besondere Bedeutung zu1 Hegel war es, der als junger Philosoph im Jahre 1800 dem Alten Reich den Totenschein ausstellte, bevor der Exitus wirklich eingetreten war: „Deutschland ist kein Staat mehr . . . Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr . . . das Ganze ist zerfallen, der Staat ist nicht mehr“. Vgl. Hegel, Die Verfassung Deutschlands (1800–1802), in: Frankfurter Theorie – Werkausgabe in zwanzig Bänden, Bd. 1, Frankfurt 1971, S. 451 ff.; Maier, Hegels Schrift über die Reichsverfassung, Politische Vierteljahresschrift 4 (1963), S. 334–349. 2 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 3 Härter, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 149), S. 237, 251. Es bleibt jedoch anzumerken, daß die volle Souveränität der Territorien im Reichsverband nie erreicht wurde. 4 Link, JZ 98, S. 1, 8. 5 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München 1954, S. 39.
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
kam. Mit der Entwicklung zum monarchischen Absolutismus kristallisierte sich das Phänomen der uneingeschränkten monarchischen Souveränität zum konstitutiven Prinzip der innerstaatlichen Ordnung heraus7. Begünstigt wurde dieses Aufkommen durch die Gewährleistung der bereits erwähnten „privilegia de non appellando“, welche den Ausbau einer eigenständigen landesherrlichen Gerichtsgewalt forcierte. Zur Landesherrschaft als der Summe einzelner Rechte, aus denen unter dem Einfluß des neuen Staatsdenkens des Absolutismus8 die Landeshoheit als oberste Gewalt im Staate wuchs, aus der die einzelnen Hoheitsrechte abgeleitet wurden, zählte neben dem Recht der Gesetzgebung und der Polizeigewalt vor allem die Gerichtshoheit (Justizhoheit)9. Der Jurisdiktionsbegriff ist in der Systematik des Territorialstaatsrechts nicht an lokalen Herrschaftsrechten orientiert, sondern bezeichnet die höchste Gerichtsherrlichkeit des Landesherrn10. Darin manifestiert sich in letzter Konsequenz der betonte Zusammenhang zwischen „iurisdictio“ und „territorium“. Die Jurisdiktionsbefugnis11 ist somit Wesensmerkmal und integraler Bestandteil der Territorialhoheit. Diese auf der „summa potestas“ des Fürsten aufbauende staatstheoretische Konzeption führte zum ius territoriale und zu der „superioritas territorialis“. Es vollzog sich somit aus historischer Perspektive eine Entwicklung, die in den Territorien Analogien zur „maiestas“ auf der Ebene des Reiches nahe legte12. Diese absolutistische Staatskonzeption blieb nicht ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Stellung und Position des Richters. Nachhaltig geprägt wurde in der Zeit des Absolutismus die Funktion des Richters durch das Weisungsrecht des Landesherrn als des höchsten Richters; vor allem war der urteilende Richter als Beamter in der Streitentscheidung vom Herr6 Vgl. hierzu: IPO, Art. VIII, §§ 1, 2. Die französische Fassung spricht sogar vom „droit de souveraineté“ (§ 62). 7 Simon, Krise oder Wachstum? Erklärungsversuche zum Aufkommen territorialer Gesetzgebung am Ausgang des Mittelalters, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell, hrsg. von Gerhard Köbler und Hermann Nehlsen, München 1997, S. 1201. 8 Den staatstheoretischen Impetus lieferte Bodin, dessen Lösungen für die frühen deutschen Publizisten einen „faszinierenden juristischen Grundgedanken“ (Stolleis) lieferten. 9 Conrad, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 13), Bd. II, S. 286 ff. 10 Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 188. 11 Die archaische Verbindung von Herrschertum und Richteramt wird auch darin deutlich, daß in der griechischen Mythologie gerechte Könige (Minos und Rhadamanthys) Richter im Totenreich werden. Vgl. Merten, Die Justiz in Hohenzollern Testamenten, in: Staat und Parteien, Festschrift für Rudolf Morsey, hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Berlin 1992, S. 13, 46 Fn. 244. 12 In diesem Sinne: Stolleis, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 20), S. 185.
I. Prinzipien territorialer Gerichtsverfassungen
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scher abhängig13. Mit den direkten Eingriffen des Landesherren in die Justizpflege war die Substanz des Richteramtes betroffen14. Der Richter wurde in diesem Staatsgefüge in erster Linie als königlicher Diener und erst in zweiter Linie als Richter betrachtet15. Eine besondere Brisanz in dem Verhältnis zwischen Richter und Landesherrn im Zeitalter des Ancien Régime manifestierte sich in dem Faktum, daß dem Landesherrn zudem die Auslegung von Gesetzen vorbehalten war. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Interpretationsvorbehalt bzw. der „interpretatio authentica“16. Mohnhaupt liefert das Bild von der Subordination des Richters gegenüber dem Gesetzgeber, in welcher der politische Machtanspruch des Souveräns im absolutistisch geführten Staat seinen Ausdruck fand17. 2. Auf der Grundlage der solchermaßen gewonnenen Basisinformationen erscheint es an dieser Stelle angebracht, sich eingehender den privilegia de non appellando zu widmen, die im Hinblick auf die Souveränität der Territorialherren von immenser Bedeutung waren. Denn es ist als wesentliches Faktum anzusehen, daß, wenn man bereits antizipativ eine Aussage treffen möchte, die Appellationsprivilegien und die territoriale Justizorganisation als Bedingungsfaktoren für die Äußerungen von Cramer anzusehen sind. Bei den Appellationsprivilegien ist zwischen den privilegia illimitata und den privilegia limitata zu differenzieren. Unbeschränkt (illimitatum) war ein Privileg dann, wenn ohne Rücksicht auf den Wert und die Art des Streitgegenstandes überhaupt die Möglichkeit ausgeschlossen werden sollte, von einem landesherrlichen Gericht an ein Gericht zu appellieren, das nicht ein Gericht des privilegierten Reichsstandes war18. Hingegen sprach man von einem privilegium limitatum in den Fällen, wo die Möglichkeit von Appellationen an das Reichskammergericht nur dann unterbunden wurde, wenn nicht eine bestimmte Appellationssumme erreicht wurde19. Diese Verleihung von Appellationsprivilegien hatte zur Folge, daß, je umfangreicher das privilegium war, das der Kaiser einem Reichsstand ver13 Dilcher, Der deutsche Juristenstand zwischen Ancien Régime und bürgerlicher Gesellschaft, in: Wirkungen europäischer Rechtskultur, Festschrift für Karl Kroeschell, hrsg. von Gerhard Köbler und Hermann Nehlsen, München 1997, S. 163, 173. 14 Willoweit, Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, hrsg. Okko Behrends und Christoph Link, Göttingen 1987, S. 123, 145. 15 Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München 1954, S. 40. 16 Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 10), Rn. 381. 17 Mohnhaupt, Potestas legislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commune IV (1972), Frankfurt, S. 188, 220. 18 Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 10), Rn. 371. 19 Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht, München 1995, S. 28.
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
lieh, die Landesherrschaft immer eigenständiger und stärker ausgeprägt wurde20 21. Diese Feststellung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade die Erlangung von Appellationsprivilegien die Gerichtsorganisation in den Territorialstaaten maßgeblich beeinflußt hat. So wurde ein unbegrenztes Appellationsprivileg nur dann gewährt, wenn eine dem Reichskammergericht gleichwertige Appellationsinstanz in dem jeweiligen Territorium geschaffen wurde. Dies führte zur Ausbildung zentraler oberster Landesgerichte. Ein anschauliches Beispiel liefert in diesem Kontext, um wieder den Bogen zu einem mikrohistorischen Blickwinkel zu spannen, die Installation des Oberappellationsgerichts Wismar im Gebiet Schwedisch-Pommern. Die Krone Schwedens22 konnte ein illimitiertes Appellationsprivileg nur unter der Prämisse erlangen, daß zugleich ein den Reichsgerichten gleichwertiges Appellationsgericht errichtet wurde. Weitzel bezeichnet die Appellation im Justizbereich als den „neuralgischen Punkt im Kampf der Reichsstände um ihre Unabhängigkeit vom Reich“23. In dem Bestreben der Reichsstände nach Abschließung ihrer Justiz durch die Erlangung von Appellationsprivilegien („Gerichtsimmunisierung“24) ist eine rechtspolitisch respektable Intention zu erblicken: Wenn die Appellation an die Reichsgerichte unbegrenzt zugelassen worden wäre, gäbe man den Verurteilten ein Mittel in die Hand, den Prozeß endlos in die Länge zu ziehen und die Vollstreckung des Urteils zu verhindern25. Durch die auf diesem Wege ermöglichte Beschleunigung der Prozesse wurden Rechtssicherheit und Vertrauen in die Justiz gefördert, was dem Ansehen des Landesherrn und dem Vertrauen der Untertanen in seine Macht zudem auch förderlich war26. 20
Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 14) S. 54. Vgl. auch Anonym, Abhandlung von der Gerichtsbarkeit der höchsten ReichsGerichte in Policey-Sachen, aus den klaren Reichs-Grund-Gesetzen entworfen, in: Hannoversches Magazin, 1. Jg., 1763, Sp. 573: „. . . so gewiß ist es doch, daß die höchsten Reichsgerichte das unstreitige Recht besitzen, wenn die Unterthanen Klage wider ihren Regenten in Policey-Sachen erheben, Berichterstattung von den Reichsständen deswegen zu fordern. Die teutschen Reichsstände sind würklich der Jurisdiction der Reichsgerichte unterworfen“. 22 Einen instruktiven Überblick zur Gerichtsbarkeit in den schwedischen Territorien gibt Kjell Å. Modéer in seiner vorzüglichen Dissertation „Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichtsterritorium, I. Voraussetzungen und Aufbau 1630–1657, Rättshistoriskt Bibliotek, Tjugofjärde Bandet, Stockholm 1975. Vide infra: Kapitel § 8: Schwedische Gerichtsbarkeit – Wismarer Tribunal – im Alten Reich. 23 Weitzel, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 38), S. 5. 24 Man spricht auch von territorialen Abschließungstendenzen. Für noch mehr sprachliche Plastizität läßt sich der Begriff „Abschottungstendenz“ wählen. 25 Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 14), S. 58. 26 Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 14), S. 58. 21
I. Prinzipien territorialer Gerichtsverfassungen
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Gerade in dieser Entwicklung manifestiert sich ein ganz zentraler Baustein der landesherrlichen Souveränität. Die Territorialherren waren daher – wie Rüfner bündig ausführt, bestrebt, sich der „Aufsicht der Reichsgerichte“ zu entziehen27 28. 3. Resümiert man die soeben skizzierten Prinzipien territorialer Gerichtsverfassungen, so gewinnt man folgendes Bild: Aus der ihnen zustehenden Jurisdiktionsbefugnis leiteten die Landesherren die Kompetenz ab, Gerichte zu halten und Recht zu sprechen, Gerichte einzurichten, auszugestalten und den Rechtszug zu regeln – soweit ihnen die vom Kaiser erteilten oder in den Reichsgesetzen garantierten privilegia de non appellando dies gestatteten – und Gerichts- und Verfahrensordnungen eigenständig zu erlassen29. Es formierte sich eine „monolithisch gefügte Gerichtspyramide“30. Diese innere Struktur der Rechtsordnung wirkt jedoch – wie Willoweit formuliert und die weiteren Analysen noch zeigen werden – gerade im 18. Jahrhundert wie ein schwankender Boden, der durch das Recht weniger gestützt als in Bewegung gehalten wird31. Diese Feststellung läßt sich anhand einer Aussage von Schellhaß exemplifizieren, der in seinem Werk schreibt, daß „. . . zu diesen häufigen und oft wiederholten Klagen der Stände über Nichtbeachtung der vorgeschriebenen alten Landgerichtsordnung und . . ., über willkürliche Überschreitung der Befreyungsvorrechte und Verweigerung der Berufung an die höchsten Reichsgerichte gesellen sich . . .“32.
27
Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 46. Vgl. auch: Gavard, Abhandlung über die politischen Fragen: welches sind Justizsachen? welche Gegenstände gehören zur Policei? wie sind die Gränzlinien zwischen beiden zu bestimmen? wobei ein neuer Ideengang eines Systems für Policei und Jurisprudenz in Hinsicht einer deutschen Legislation aufgestellt wird, 1. Teil, Nürnberg 1795, S. 12: „Die teutschen Fürsten sehen sogar die Polizei für ein Mobiliarstück ihrer Hofhaltung an, und erlauben in dieser Rücksicht den Reichsgerichten nicht den geringsten Eingrif oder eine Einwirkung; die Appellation in Polizeisachen hat daher nicht statt, weil man die ganz für ein anderes Geschöpf als die Jurisprudenz ansiehet; man disputiret öfters pro und contra, ob der Gegenstand eine Justizoder Policey-Sache sey?“. 29 Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 10), Rn. 373. 30 Willoweit, in: Kurt Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band I, Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, S. 75. 31 Willoweit, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 7), S. 185. 32 Schelhaß, Über die Gerichtsbarkeit der höchsten Reichsgerichte in Klagen zwischen den mittelbaren Reichsunterthanen und ihrer Landes-Obrigkeit, Stuttgart 1795, S. 103. 28
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
II. Folgen des Votums von Cramer auf die territoriale Souveränität 1. Vergegenwärtigt man sich zunächst noch einmal die Grundstrukturen der territorialen Souveränität, so gewinnt man den Eindruck, als sei der Landesherr bei der Ausübung der staatlichen Hoheitsgewalt nicht der Kontrolle der Landesgerichte unterworfen. Demzufolge erfährt folgende Formulierung von Strube ihre Berechtigung und Plausibilität: „Wollte man die Landesgerichte darüber erkennen lassen: Ob der Fürst die ihm anvertrauten Hoheitsrechte wohl gebrauche, oder ohne Notwendigkeit und Nutzen des Staats die Unterthanen um das Ihrige bringe? so wäre die höchste Gewalt in der Richter Händen. Selbige haben ihre Gerichtsbarkeit von dem Landesherrn empfangen und üben sie in dessen Namen. Wer aber kann glauben, daß dieser sich seinen Unterthanen unterwürfig machen wollen?“33.
Resümiert man diese Aussage von Strube, so spiegelt sich in ihr eine evident zum Ausdruck kommende Konzession an das absolutistische Staatsverständnis wider. Jedoch darf diese gedankliche Essenz – wie der nachfolgende Problemabriß zeigen wird – nicht überbewertet werden. 2. Durch die Verleihung von Appellationsprivilegien an die Territorialstaaten kam es, wie bereits aufgezeigt wurde, zur Installation von Appellations- bzw. Oberappellationsgerichten, die als Appellationsinstanz an die Stelle des Reichskammergerichts traten. Durch diese Entwicklung bedingt kam es dazu, daß die Hofgerichte des 17. Jahrhunderts, welche als oberste Gerichte der Territorialstaaten aus der persönlichen Rechtsprechung des Landesherrn hervorgegangen sind34, Erscheinungen des Niedergangs zeigten. Damit präsentierte sich auch in den Territorien – ebenso wie auf Reichsebene – eine Zweispurigkeit in der Gerichtsorganisation. Mit den Hofgerichten bzw. den an ihre Stelle getretenen Oberappellationsgerichten konkurrierte die Rechtsprechung des Landesherrn im Rate (Hofrat, Kanzlei, Geheimer Rat). Dieses Konkurrenzverhältnis führte in letzter Konsequenz dazu, daß der Landesherr die Zuständigkeit seines eigenen Obergerichtes anerkannte35. So erklärt sich auch die von Strube formulierte Passage zu der These, der Landesherr sei richterlichem Spruch nicht unterworfen: „Allein nicht zu gedenken, daß solche Lehre wichtigen Zweifeln unterworfen, so ist sie jedoch allenfalls nur in souveränen Staaten applicabel“36. 33
Strube, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 99), S. 20. Conrad, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 12), S. 287. 35 Kroeschell, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 32), S. 57, 67. 36 Strube, Rechtliche Bedenken, Band 3, hrsg. von Ernst Spangenberg, Hannover 1828, S. 246. 34
II. Folgen des Votums von Cramer auf die territoriale Souveränität
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So schreibt Strube37 in einem anderen Werk, daß es um 1733 immer gebräuchlicher war, daß die Landesfürsten vor ihren eigenen Gerichten Recht gaben. Vor dem Hintergrund der soeben aufgezeigten Entwicklungslinien erscheint es verständlich, daß von Cramer auch vor den Untergerichten Rechtsschutz gewähren will, wenn er schreibt, daß „Polizeisachen ein objectum (iustitiae) sowohl der Reichs- als Unter-Gerichte sind“38. Vergegenwärtigt man sich dieses ex recensione gewonnene Ergebnis, so gilt zu konstatieren, daß von Cramer in seinen Überlegungen bereits von einer als allgemein anerkannten rechtlichen Grundtatsache ausgeht, nämlich, daß die Landesherrn die Rechtsprechungsbefugnis ihrer eigenen Landesgerichte anerkannten. Die Anerkennung der Zuständigkeit der eigenen Landesgerichte seitens des Landesherrn, welche ihren Gerichtsstand nach dem Reichsrecht bei den Reichsgerichten hatten, konnte – wie Moser39 schreibt – nur als Austräge40 oder als diesen gleichwertiger Ersatz angesehen werden41. Diese rechtliche Sichtweise hätte dazu führen müssen, daß von dem Spruch dieser Austräge die Appellation an die Reichsgerichte zulässig sei42. Mosers „Bejahung der korporativen Freiheitsrechte im Zusammenhang mit der kaiserlichen Stellung43 gehört in das politische Denken der späten Aufklärung. Sie war aber noch gepaart mit einem kräftigen Reichsbewußtsein“44. Die Folgerung von Moser45, die Gerichtsbarkeit der Landesgerichte nur eingeschränkt anzuerkennen, wurde jedoch in praxi nicht umgesetzt. In die37 Strube, Gründlicher Unterricht von Regierungs- und Justizsachen. Worin untersuchet wird: Welche Geschäfte ihrer Natur und Eigenschaft nach vor die Regierungs- oder Justiz-Collegia gehören, Hildesheim 1733, S. 39. 38 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 39 Johann Jakob Moser war für Robert von Mohl als „Vater des deutschen Staatsrechts“, als „Gründer des positiven Völkerrechts“ und „unbeugsamer Märtyrer für die Verfassung seines Vaterlandes“ anzusehen. Vgl. v. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften II, Stuttgart 1856, S. 402. 40 Darunter ist eine Art Schiedsinstanz zu verstehen. Zur Austrägalgerichtsbarkeit näher: Merzbacher, Art. „Austrägalinstanz“ (instantia austregalis), in: Handwörterbuch der Rechtsgeschichte, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 5), Bd. 1, S. 273 f. Die Austrägalinstanz konnte in seltenen Fällen durch besondere Verfahrensarten umgangen werden, etwa durch die sog. Extrajudizialappellation. Zu deren Funktion und Voraussetzungen: Seeger, Die Extrajudizialappellation, Köln 1992, S. 31 ff., 73 ff., 206 ff. 41 Moser, Von der Teutschen Justiz-Verfassung, 1. Theil, Frankfurt 1774, S. 31. 42 So ausdrücklich: Schelhaß, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 157), S. 231 ff. 43 Für Moser war der Kaiser der „Sachwalter des Rechts“. 44 Press, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 123 (1975), S. 172. 45 Moser traute dem Urteil des gemeinen Mannes in Respekt nicht wenig zu. So schreibt er: „Nach der Erfahrung gelte vox populi vox Dei: Wie die gesunde Bau-
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
sem Zusammenhang fügt Schreiber hinzu, daß bei Vorhandensein eines „privilegium de non appellando“ die Rechtsverletzung durch den Landesherrn von dessen höchsten Gerichten untersucht werden müsse46. 3. Die Tatsache, daß die Landesgerichte zusehends von den Landesfürsten in ihrer Rechtsprechungstätigkeit anerkannt wurden und somit die Funktion des Reichskammergerichts auf territorialer Ebene ausfüllten, liefert noch keine genauen Erkenntnisse darüber, wie weit die Kompetenzbefugnisse der Landesgerichte gespannt waren. Darüber soll nachfolgend Aufschluß gegeben werden. Bezieht man sich vor diesem Problemhorizont auf die von Cramer entwickelte rechtliche Grundlinie, im Falle einer Rechtsverletzung Polizeisachen als Justizsachen auch vor den Untergerichten „contentiosae“ werden zu lassen, so liegt der Schluß nahe, daß zwischen den Kompetenzbefugnissen des Reichskammergerichts und der Landesgerichte eine inhaltliche Kongruenz zu bestehen hat. Der weite reichsrechtliche Begriff der Justizsache wird somit auf die territoriale Ebene transponiert. Diese Essenz erlangt prima facie ihre Plausibilität e contrario dahingehend, daß im Falle einer vom Reichsrecht abweichenden Begriffsentwicklung der Justizsache die Landesherrn ihr Ziel, die Reichsgerichte auszuschließen, nicht erreicht hätten. Trotz eines gewährten privilegium de non appellando illimitatum hätten sich die Reichsgerichte der Klage, mit der ein Kläger „wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs“ abgewiesen worden war, annehmen können und müssen, da sie bei Beschwerden wegen Justizverweigerung immer zuständig waren47. Die Gerichtsbarkeit der Landesgerichte war jedoch, wie ein Blick auf die zeitgenössische Publizistik offenbart, nicht so weitreichend bzw. ausgedehnt wie die der Reichsgerichte. Für den hier interessierenden Fragenkreis lohnt es sich demzufolge aufzuzeigen, für welche Justizsachen die Landesgerichte nicht zuständig waren. Wichtige Erkenntnisse darüber liefert das literarische Werk von Strube. So ist in seinem Œuvre „Gründlicher Unterricht von Regierungs- und Justizsachen“ zu lesen, daß die Fürsten in der Regel einen Prozeß über die Grenzen der Landeshoheitsrechte ren-Philosophie in Praxi offt vil brauchbarer ist als die spitzfündigste Cartesianische, Thomasische, Wolfische etc., so urtheilet auch der gemeine Mann und ein mit keinen sonderlichen Staats-Leuten beseztes landschaftliches Collegium auch in Staats-Sachen, wie es der erfolg beweiset, zuweilen vil gründlicher als ein durch eine übertriebene Ambition, andere Effecten oder das Interesse etc. angetriben-, verleitet- und verblendeter Regent samt seinem ganzen Staats-Ministerio“. Vgl. Moser, Neues Teutsches Staats-Recht, 20 Teile, Stuttgart 1766–1775, Bd. 13, S. 497 f. 46 Schreiber, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 120), S. 73. 47 Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian Friedrich Menger, hrsg. von Hans-Uwe Erichsen, Köln 1985, S. 3, 4.
II. Folgen des Votums von Cramer auf die territoriale Souveränität
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vor ihren eigenen Gerichten nicht zuließen48. Über die Grenzen der Landeshoheit hatten die Landesgerichte nicht zu befinden49. Damit geht zunächst die Frage einher, was in concreto unter dem Begriff „Landeshoheit“ zu verstehen ist. Unter der Landeshoheit wurde nur die Herrschaftsgewalt des Fürsten im engsten Sinne verstanden50. Zu dieser zählten u. a. die Polizeigewalt und das Recht der Gesetzgebung51. Dieses Begriffsverständnis läuft de facto auf die Kategorie des bereits erwähnten „ius eminens“ hinaus. Die Reichspublizistik ließ also die Regeln, die für die Jurisdiktion der Reichsgerichte aufgestellt wurden, nicht auf die Landesgerichte übertragen. Strube führt an, daß die Landesgerichte ihre Gerichtsbarkeit vom Landesherrn abgeleitet hätten; würden die Landesgerichte über den Gebrauch der Hoheitsrechte urteilen, so wären sie selbst im Besitz der höchsten Macht52. Die rechtliche Grundtendenz der Reichspublizistik läßt sich resümierend auf folgenden Nenner bringen: Die vom Fürsten getroffenen quasi-souveränen Entscheidungen sollten nicht Gegenstand einer Kontrolle seitens der Landesgerichte sein. Beschwerden bezüglich der Ausübung von Hoheitsrechten konnten nur bei den Reichsgerichten angebracht werden. Die von von Cramer formulierten Maximen können in einer systematischen Zusammenschau nur in dem Sinne interpretiert werden, daß auch die originären Hoheitsrechte des Landesherrn einer justiziellen Überprüfung und Anfechtung zugänglich sein sollen. Argumentativ abstützen läßt sich dieser Gedankengang wie folgt: Das oberste Ziel von Cramer, das die zu bearbeitende Textstelle leitmotivisch durchzieht, ist die Gewährleistung von Individualrechtsschutz. Um diesen Individualrechtsschutz möglichst umfassend zu gewährleisten, müssen zunächst Rechtswege eröffnet werden. Dies geschieht durch die Geltendmachung der „iura et laesiones Partium“53. Die zweite gedankliche Grundüberlegung besteht darin, den Rechtsweg nicht nur zu eröffnen, sondern ihn zugleich auch so effektiv wie möglich zu gestalten. Dies kann nur dadurch realisiert werden, indem auch auf territorialer Ebene sich die Justiz organisatorisch verfestigt und somit eine „Emanzipation der Rechtsprechung aus monarchischer Einflußnahme“54 stattfindet. Dies hat aus der Sicht des Landesherrn die Konsequenz, sich der Jurisdiktion der eigenen Landesgerichte zu unterwerfen. Gerade das Argument der sog. lokalen Nähe ist als maßgebliches Kriterium für die Effektivität des Rechtsschutzes in der Mitte des 18. Jahrhunderts anzusehen. 48 49 50 51 52 53 54
Strube, op. cit. (Fn. 37), S. 40. Strube, op. cit. (Fn. 37), S. 88 ff. Weitzel, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 38), S. 313. Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 50–51. Strube, op. cit. (Fn. 37), S. 63. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. Würtenberger, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 52), S. 443.
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
Ein Beispiel par exellence in diesem Kontext liefert die Kompetenz des bereits erwähnten Oberappellationsgerichts Wismar im Gebiet SchwedischPommern. In diesem Fall hat der Fürst seinen Gerichten ohne irgendeine Schmälerung seiner Autorität eine über das übliche Maß hinausgehende Gewalt eingeräumt. Die Autorität des Fürsten wurde per se nicht eingeschränkt, jedoch die ihm zustehende „summa potestas“55. Durch den von Cramer anvisierten Rückzug des Fürsten in iudicando und den damit einhergehenden Prozeß von der Ersetzung der Herrschermajestät durch die Gesetzesmajestät kommt es zu einer Zurückdrängung und Reduzierung der den Territorialherren zustehenden Souveränität. Daß dieser Prozeß nicht zugleich einen Eingriff in die Hoheitsgewalt beinhaltet, belegt folgende Passage von Cramer, wo er schreibt, „nur der Mißbrauch wird unter Ober-Richterliche Erkänntnüß gezogen“56. Diese „ratio essendi“ kann vorliegend auch auf die Rolle der Landesgerichte übertragen werden. Die Bezugnahme von Cramer auf die Untergerichte ist vor dem Hintergrund der soeben skizzierten Gedankengänge im Sinne einer umfassenden Zuständigkeit und Prüfungskompetenz der Landesgerichte auch in Fällen streitgegenständlicher Hoheitsrechte, insbesondere der Polizeigewalt, zu verstehen. Haben doch die Ausführungen zum Votum von Cramer im Hinblick auf den Schutz privater Rechte57 gezeigt, daß sich in den Überlegungen Postulate der Aufklärung widerspiegeln; so sind die Elemente aufklärerischer Ideen58 axiomatisch auf die richterlichen Kognitionsbefugnisse der Untergerichte zu übertragen. In concreto soll auch auf territorialer Ebene dieselbe Qualität des Rechtsschutzes ermöglicht werden wie auf Reichsebene. 55 Vide infra: Kapitel § 8: Schwedische Gerichtsbarkeit – Wismarer Tribunal – im Alten Reich. 56 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 97. 57 Vide supra § 4. 58 Hahn hat in seiner Habilitation zur Wetzlarer Stadtgeschichte aus dem Jahre 1988 konstatiert, daß „das Reichskammergericht von seiner Struktur her in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts einen recht günstigen Nährboden für die Ausbreitung aufklärerischen Gedankenguts bot“ (Hahn, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, Reihe „Stadt und Bürgertum“, Bd. 2, München 1991, S. 167 f.). Nach meiner Einschätzung muß man diese Auffassung wissenschaftlich nachhaltig – auch gegen die Kritik von Härter (Härter, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Ius commune 21 (1994), Frankfurt, S. 215–240, bes. S. 217 f.). – unterstützen. Gerade die Auswertung der Analysen von Cramers in den Wetzlarischen Nebenstunden führt im Rahmen eines sog. Rundumbeweises die sachliche Legitimation für diese Ansicht ins Feld. In diesem Sinne auch: Neugebauer-Wölk, Reichskammergericht, Reichsstadt und Aufklärung. Wetzlar im späten 18. Jahrhundert, in: Recht – Idee – Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideengeschichte, Festschrift für Rolf Lieberwirth, hrsg. von Heiner Lück und Bernd Schildt, Köln 2000, S. 89, 91.
III. Schlußbemerkung
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Das Modell des reichsgerichtlichen Rechtsschutzes erscheint somit „en miniature“ auf territorialer Ebene. Eine andere Argumentationsebene würde bedeuten, mit der Figur des subjektiven Privatrechts, die dem Rechtsschutzsuchenden eine durchsetzbare und durchsetzungsfähige Rechtsstellung einräumt, nicht Ernst zu machen. Die Kernintention von Cramer besteht doch darin, die Freiheit des Bürgers zu schützen. Freiheit erfordert eben – wie es das Bundesverfassungsgericht einmal formuliert hat – „Verläßlichkeit der Rechtsordnung“59. Eine Gewähr für die „Verläßlichkeit der Rechtsordnung“ kann nur eine inhaltlich mit den Reichsgerichten gleichwertige Prüfungskompetenz der Landesgerichte bieten. Damit kommt dem Reichsrecht trotz aufstrebender und aufflammender intermediärer Gewalten auf diesem Wege weiterhin eine immediate Stellung zu.
III. Schlußbemerkung Versucht man mit Blick auf die von Cramer angesprochene Kompetenz der Reichs- und Untergerichte eine inhaltliche Bilanz zu ziehen, so läuft diese schlagwortartig auf den Topos „Herrschaft des Rechtes“ hinaus. Das von Montesquieu60 postulierte Ideal, der Richter solle als „Mund des Gesetzes“61 amtieren, scheint somit erreicht. Mit dem von Cramer intendierten Ausbau des Rechtsprechungsapparates soll die Möglichkeit administrativer Willkür reduziert werden. Die Tätigkeit und Funktion des Richters soll sich nicht mehr in dem Bild vom „Diener des Fürsten“ erschöpfen, sondern soll durch die Ausweitung von Prüfungskompetenzen einen neuen Aggregatzustand erreichen, nämlich die richterliche Unabhängigkeit. 59
BVerfGE 60, S. 253, 267. Vgl. die Biographie von Robert Shackleton. Shackleton, Montesquieu. A Critical Biography, 2. Auflage, Oxford 1963. 61 Willoweit, War das Königreich Preußen ein Rechtsstaat?, in: Staat, Kirche und Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für Paul Mikat, hrsg. von Dieter Schwab, Berlin 1989, S. 451, 456. Die berühmte Metapher, wonach Montesquieu aus dem Richter un être inanimé habe machen wollen (in diesem Sinne Radbruch, AfS 22 (1906), S. 358), habe in Wahrheit – wie Otto Bachof in seiner Rektoratsrede ausführt –, „niemals der Montesquieuschen Vorstellung eines reinen Subsumtionsapparates entsprochen“. Vgl. Bachof, Grundgesetz und Rechtswissenschaft, Tübingen 1959, S. 8. Die Vision vom Subsumtionsautomaten entstand aufgrund der griffigen Formulierung der Richter als „bouches de la loi“, „als willenlose Wesen, die weder seine Schärfe noch seine Strenge zu mildern vermögen“. Vgl. Forsthoff, Vom Geist der Gesetze, Band I, Tübingen 1951, S. 225. Im Originaltext findet sich die Wendung „. . . les juges de la nation ne sont, comme nous avons dit, que la bouche qui prononce les paroles de la loi; des êtres inanimés qui n’en peuvent modérer ni la force ni la rigueur“. 60
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5. Kapitel: § 5 Untergerichte im Hinblick auf die Souveränität
Wirft man nunmehr einen Blick auf die heutige Verfassungskonzeption, so haben die gedanklichen Ausgangspunkte von Cramer in bezug auf die Eröffnung von Rechtswegen und die Effektivität des Rechtsschutzes ihre verfassungsrechtliche Konkretisierung in Art. 19 IV GG62 gefunden. Die positiv rechtliche Normierung der richterlichen Unabhängigkeit hingegen findet sich in Art. 97 GG. Das heutige verfassungsrechtliche Pendant einer organisatorisch verfestigten Gerichtsorganisation ist in Art. 101 GG verankert. Diese Bestimmung gewährleistet das Recht auf den gesetzlichen Richter. Die Vorschrift des Art. 101 GG steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit Art. 19 IV GG63, so daß sich demzufolge ein abgerundetes Bild einer rechtsstaatlichen Konzeption ergibt. Vor diesem Hintergrund avancierte die kammergerichtliche Rechtsprechung zu einem wichtigen Teil des Kampfes um eine modernisierte, rechtsstaatliche Gerichtsorganisation und die richterliche Unabhängigkeit64. In den Ausführungen Cramers finden sich eben solche Bausteine, die den Weg hin zu rechtsstaatlicher Rechtssicherheit und Objektivität maßgeblich beeinflußt und geprägt haben.
62 Diese Vorschrift evoziert gegensätzliche Interpretationen. Einige sehen in Art. 19 IV GG den „Königsartikel der Verfassung“, andere erblicken in ihm einen „Freibrief für Prozeßhansel“. Vgl. die im 2. Kapitel Fn. 14–18 genannten Autoren. 63 Jarass/Pieroth, op. cit. (vgl. 2. Kapitel Fn. 24), Art. 101 Rn. 1. 64 Diestelkamp, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 156), S. 172.
„Das Recht als Gerüst und Kreuz der Rechtsgeschichte“ Gerd Roellecke1
6. Kapitel
§ 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten I. Dogmatische und terminologische Grundlagen 1. Um eine saubere Problemanalyse des Konkurrenzverhältnisses zwischen der Kammerjustiz der Territorialfürsten und den Prüfungskompetenzen der ordentlichen Gerichte zu gewährleisten, gilt es zunächst, das Phänomen „Kammerjustiz“ in seiner rechtshistorischen Totalität näher zu beleuchten. Das Aufkommen der Kammerjustiz ist in einem engen Zusammenhang mit der Etablierung territorialer Staatlichkeit zu sehen. Wenn die Landesherren – wie die bisherigen Analysen deutlich gezeigt haben – bestrebt waren, sich vom Reich gerichtlich möglichst unabhängig zu machen, so bedeutete dies nicht, daß sie nun etwa die Jurisdiktionsbefugnisse ihrer eigenen Landesgerichte in vollem Umfang anerkannten. Da die Fürsten in ihren Territorien ohnehin die obersten Gerichtsherren waren, unternahmen sie nunmehr Anstrengungen, das Verständnis von „guter Polizei“ im Verhältnis zur Justiz durch eine Konzentration der Hoheitsrechte im Begriff der „Majestät“ praktisch abzusichern. Die theoretische Absicherung in diesem Kontext lieferte das Allgemeine Staatsrecht. Es gehört nämlich zu den charakteristischen Merkmalen des aufgeklärten Absolutismus, daß dieser sich zur Durchsetzung und Erweiterung seines staatlichen Einflußbereichs auch gegen die vielerorts festgefügten ständischen Strukturen und intermediären Gewalten wandte2. Die politische Theorie lieferte mit der eudämonistisch definierten Staatszielbestimmung die Legitimation der antiständischen Politik. Das geeignete Instrumentarium für die Umsetzung dieser politischen Ambitionen war eben die „gute Polizei“, die – wie bereits festgestellt wurde3 – ein brei1 Roellecke, Theoretische Überlegungen zum Verhältnis von Rechtsgeschichte und Rechtspraxis, in: Der praktische Nutzen der Rechtsgeschichte, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 2), S. 425, 432. 2 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte I. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1996, S. 235. 3 Vide supra § 3.
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6. Kapitel: § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten
tes Handlungsfeld zum Inhalt hatte. Die Polizei wurde zu einem „Instrument zur Durchsetzung von Partikularinteressen“4. Wenn der preußische Kameralist Pfeiffer die herausragende Bedeutung der Justiz für den Staat wie folgt betont: „Nichts ist gewisser, als daß die Verwaltung der Gerechtigkeit einen mächtigen Einfluß in das Aufnehmen des Nahrungsstandes, und in den innerlichen Wohlstand des ganzen Staatskörpers habe“5,
dann war es die logische Konsequenz, daß die „Polizeiwissenschaft“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Zweckbestimmung der Polizei ein Aufsichtsrecht über die Justiz ableitete6. So beschreibt Justi in einem seiner Traktate die Entwicklung in dem Sinne, daß „die Justiz-Collegia . . . dem höchsten Collegio des Landes, welches die Policey und andere innerliche Angelegenheiten besorget, unterworfen seyn“7. In einer weiteren Passage wird dezidiert hervorgehoben, es sei allein Sache der obersten „Policey-Collegiis“, die verschiedenen Gerichtsbarkeiten der Unterobrigkeiten und landes-herrlichen Bediensteten zu bestimmen, den Instanzenzug zu regeln und die Art und Weise des gerichtlichen Verfahrens anzuordnen8. Denn das landesherrliche Interesse war auf die Ausweitung seiner eigenen, nämlich der zentralen Kompetenzen und Betätigungsfelder fixiert, nicht zuletzt also auf Kosten ständischer Justizprivilegien9. Interessant und erhellend erweisen sich in diesem Punkt auch die Ausführungen von Joseph Butschek aus dem Jahre 1778, der ausführt, daß überhaupt „die ganze Gerichts- oder Prozessordnung in nichts anderem . . . als in einer umständlichen Polizeyamtsbelehrung (Instruction)“ bestehe10. In Anknüpfung hieran wird die Funktion der Justiz näher beleuchtet und in dem Sinne umschrieben, daß, „nimmt man es mit dem Richter sowohl, als mit Advocaten so, wie es zu nehmen ist, wird man eingestehen müssen, daß 4 Dinges, Frühneuzeitliche Justiz: Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Vorträge zur Justizforschung, Bd. 1, hrsg. von Heinz Mohnhaupt und Dieter Simon, Frankfurt 1992, S. 269, 288. 5 Pfeiffer, Natürliche aus dem Endzweck der Gesellschaft entstehende Policeiwissenschaft I, Göttingen 1779, S. 538. 6 Pahlow, ZNR 2000, S. 11, 14. 7 Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten Zusammenhang und zum Gebrauch Academischer Vorlesungen abgefasset, 3. Auflage, Göttingen 1782, S. 292. 8 Justi, op. cit. (Fn. 7), S. 294. 9 Pahlow, ZNR 2000, S. 11, 17. 10 Butschek, Abhandlung von der Polizey überhaupt, und wie die eigentlichen Polizeygeschäfte von gerichtlichen und anderen öffentlichen Verrichtungen unterschieden sind, Prag 1778, S. 41.
I. Dogmatische und terminologische Grundlagen
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beyde als thätige Werkzeuge zur Befolgung der Gesetze bestellet sind“11. Der Justiz sollte lediglich die Anwendung der Gesetze bleiben, ohne daß ihr auch nur die Möglichkeit einer Auslegung zugestanden wurde. Nach dem bereits erwähnten Justi „müssen sich die Justitz-Collegia allein mit der Application der Gesetze beschäftigen; und gleich wie die Erklärungen der Gesetze im Grunde nichts anderes als neue Gesetze sind; so müssen auch diese allein dem höchsten Collegio in innerlichen Landes-Angelegenheiten vorbehalten bleiben“12. Insoweit erscheint es als konsequent, wenn Butschek meint, „wenn sich außer diesem noch Rechtsgelehrte zu etwas andern, es sey aus eigenem Antriebe, oder durch gesetzmäßigen Auftrag veranlasset, gebrauchen lassen; so sind sie dießfalls nicht mehr als Rechtsgelehrte zu betrachten, und sie müssen sich dießfalls viel mehr nach Polizeigrundsätzen verhalten“13.
Neben der Formulierung konkreter „Regieanweisungen für die Justizaufsicht wurden auch genaue Anweisungen zu deren Durchführung und Durchsetzung genannt. So führt Bergius in seinem „Cameral-Magazin“ zu diesem Problembereich an, daß die Polizeibediensteten darüber wachen sollen, „ob der vorgeschriebenen Justitzverfassung genau nachgelebt werde“14. Weiterhin sollten Beschwerden15 gegenüber Richtern nicht vor die Justizkollegien, sondern vor „das höchste Collegium in innern Landes-Angelegenheiten“, also in concreto vor die Polizeibehörden gehören16. Johann Reitemeier kritisierte dementsprechend die Motive des Reichskammergerichts, die landesherrliche Kammerjustiz einzudämmen. Wenn dem Fürsten „die Jurisdiction, es sey durch uralten Besitz oder durch Ertheilung vom Reich . . . zukommt, so hat er auch das Recht . . . die Art und Weise zu bestimmen, wie die Gerichtsbarkeit ausgeübt werden soll, ob durch ihn umittelbar oder durch einen Beamten“17. Die Vertreter einer Absicherung der absolutistischen Herrschaftsrechte in Richtung Beschneidung der Kompetenzen der Justizkollegien führten vielfach landesökonomische Aspekte ins Feld. So schreibt Justi: „Wo hingegen gute und schleunige Justiz . . . gepflegt wird, . . . da lehbet man gern, da werden Waaren creditiret, da nimmt Handel und Wandel zu, wobey das Land in unverwelktem Flor erhalten wird“18. 11
Butschek, op. cit. (Fn. 10), S. 52. Justi, op. cit. (Fn. 7), § 344, S. 294. 13 Butschek, op. cit. (Fn. 10), S. 41. 14 Bergius, Policey- und Cameral-Magazin, 9 Bände, Frankfurt 1767 ff., Bd. 5, S. 281. 15 Heute erweist sich die Dienstaufsichtsbeschwerde als das entsprechende Instrumentarium. 16 Bergius, op. cit. (Fn. 14), S. 282. 17 Reitemeier, Grundsätze der Regentschaft in souveränen und abhängigen Staaten, Berlin 1789, S. 32 f. 12
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6. Kapitel: § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten
Denn wenn die wirtschaftliche Verfassung der Justiz im argen war, dann führte sie natürlich zu einer Beeinträchtigung und Entschleunigung des Prozesses der „Glückseligkeit der Untertanen“. Soweit „die Verfahrensart in den Gerichten übel eingerichtet und langwierig ist, wenn die Gerechtigkeit nicht unpartheyisch verwaltet, sondern durch Gunst und Geschenke geleitet wird; so siehet man leicht, daß dieses der Glückseligkeit der Unterthanen und der gesammten Wohlfahrt des Staates zum grossen Nachtheile gereichen muß“19. Neben ökonomischen Aspekten strömten aber auch in einem erheblichen Maße politische Faktoren mit ein. Das 18. Jahrhundert war auf territorialer Ebene durch einen fast nicht mehr zu durchschauenden Dschungel von nicht klar definierten Zuständigkeiten der etwa als „Hofgerichte“, „Justitz-Collegiis“ oder „Regierungen“ bezeichneten Instanzen20. Zudem beeinflussten die Stände die Besetzung dieser landständischen und landesherrlichen Gerichte. Das Wesensmerkmal von Justiz war gerade in dieser Dekade „ständische Gerichtsbarkeit“ respective „Patrimonialgerichtsbarkeit“21. Insgesamt herrschte ein stark ausgeprägtes Mißtrauen gegenüber dem Justizpersonal. Es wurden in geradezu akribischer Art und Weise dezidierte „Anleitungen“ für bestimmte Prozeßformen geliefert. Bergius erwähnt in seinem Werk das Beispiel von sog. Taxen: „Man kann keinem Collegio, und noch weniger denen einzelnen Richtern . . . die Freyheit gestatten, diese Taxen nach ihrem eigenen Gutdünken und Gefallen anzusetzen. Selbige müssen von dem höchsten Landescollegio bestimmet und vorgeschrieben werden“22.
Aus der Funktion der Reglementierung der Justiz durch die landesherrliche „Policey“ als Instrument staatlicher Politik „folget . . . von selbst, daß die Vorsorge vor die Justizverwaltung hauptsächlich vor die Landespolicey gehöret“23. Die Begründungsversuche der „Policeywissenschaft“24 25 lieferten aus der Sicht der Fürsten eine geradezu exzellente „Steilvorlage“ für ihre praktische 18
Justi, op. cit. (Fn. 7), S. 292. Justi, op. cit. (Fn. 7), § 342, S. 291 f. 20 Gerteis, Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Reiches vor der Französischen Revolution, Trier 1983, S. 183. 21 Hierzu Werthmann, Vom Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit, Frankfurt 1995. 22 Bergius, op. cit. (Fn. 14), Band 8, S. 143. 23 Bergius, op. cit. (Fn. 14), Band 5, S. 274. 24 Zur Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin: Vgl. Johann Pauly, Die Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin, Frankfurt 2000. 25 Damit ist natürlich nicht die Frage geklärt, ob die Polizeirechtswissenschaft notwendig an eine rechtliche Begrenzung der Polizei gebunden und damit nur im modernen Verfassungsstaat denkbar ist oder sich auch in vorkonstitutioneller Zeit 19
I. Dogmatische und terminologische Grundlagen
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Umsetzung. Die Kammerjustiz26 erscheint daher als Versuch des aufgeklärtabsolutistischen Reformstaates, die herkömmliche, weitgehend ständisch beeinflußte Gerichtsverfassung durch die Bildung einer staatlichen Entscheidungsinstanz bei Streitigkeiten in „Policey-Sachen“ zu reformieren27. Genau in diesem Punkt manifestiert sich die Geburtsstunde der Kammerjustiz28. 2. Des weiteren ist der Kompetenzbereich der sog. Kammern näher zu beleuchten. Über die o. g. Ausführungen hinaus wurde seitens der sich immer mehr etablierenden „Policeywissenschaft“ nicht nur die Aufsicht und Kontrolle über die herkömmliche Gerichsbarkeit propagiert, sondern darüber hinausgehend auch judizielle Aufgaben. Die Justiz wurde vor dem Hintergrund einer solchen theoretischen Konstituierung als Teil der „Policey“ angesehen. Insoweit verwundert es nicht, wenn Butschek feststellt, „die ganze Rechtspflege mit ihren Grundsätzen sei als besonderer Theil des Policeywesen zu betrachten“29. Dies wird auch mit einer geradezu lapidaren Selbstverständlichkeit konstatiert30. Als weiterer Aspekt wurde die unbestimmte – wie auch immer befriedigte Bedürfnisse nach rechtswissenschaftlicher Bearbeitung der Polizeinormen aufzeigen lassen [So Pauly, op. cit. (Fn. 24)]. Forsthoff führt in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts hierzu folgendes aus: „Die Verwaltung des Polizeistaates war kein Gegenstand einer systematischen Rechtswissenschaft. Denn der von der unbeschränkten monarchischen Machtvollkommenheit getragene Vollzug der Staatsfunktionen stellte keinen Rechtsvorgang im strengen Sinne dar. Jedes Recht setzt eine Begrenzung, eine Schrankenziehung voraus“. Vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts. 10. Auflage München 1973, S. 41. 26 Im Wege historischer Genauigkeit müsste man eigentlich von einer „Kammerund Kommissariatsjustiz“ sprechen, da die neue Verwaltungsjustiz nicht nur den Kammerbehörden, sondern auch einzelnen landesherrlichen Kommissaren übertragen wurde. In diesem Sinne: Seelmann, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 64), S. 25, 37 Fn. 33. 27 Pahlow, ZNR 2000, S. 11, 17. 28 Eng verbunden mit dem Phänomen der Kammerjustiz ist auch die sog. Kabinettsjustiz, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Regent „ex plenitudine potestatis“ korrigierend in gerichtliche Entscheidungen eingriff und ihr letztlich eine ganz andere inhaltliche Richtung gegeben hat. Bekanntestes Beispiel aus der Rechtshistorie sind die Machtsprüche von Friedrich II. im Verfahren gegen den Müller Arnold. Dieser Komplex ist bei Malte Dießelhorst vorzüglich aufbereitet worden (Dießelhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, Göttingen 1984). Weitergehend sei auf die Dissertation von Regge verwiesen, der das Phänomen unter strafrechtlichem Blickwinkel historisch aufbereitet (Regge, Kabinettsjustiz in Brandenburg-Preußen: eine Studie zur Geschichte des landesherrlichen Bestätigungsrechts in der Strafrechtspflege des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1977). 29 Butschek, op. cit. (Fn. 10), S. 39. 30 Bei Joachim Darjes wird die Justiz nicht unter die Aufsicht der „Policey“ gestellt, sondern die Justiz erhält in einer weiteren qualitativen Abstufung lediglich „Vorschläge“ für die Erhaltung der Landeswohlfahrt: „Aus dieser Ursache wendet sich die Policey zur Gerechtigkeit, sie bittet die Gerichte also einzurichten, daß hier-
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6. Kapitel: § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten
angemessene Verfahrensweise der Justiz kritisiert, so daß dies in logischer Stringenz nur auf einen weiteren Kompetenzzuwachs der sog. „Cammern“ hinauslaufen konnte. Bei Vetter heißt es zu diesem Punkt: „Soll die wahre Wohlfart derer Unterthanen . . . von einer beständigen Dauer seyn: So ist gantz ohnstreitig der richtige und fest stehende Schluß, daß das PoliceyCollegium auch alles dasjenige besorgen müsse, . . . was zur Beförderung und Aufrechterhaltung des Rechts und der Billigkeit unter den Unterthanen kann und mag gerechnet werden“31.
Der Justiz wurde in polizeilichen Angelegenheiten eine mangelnde und unzureichende Sachkompetenz vorgeworfen. Diese seien nämlich so beschaffen, daß „zu ihrer Entscheidung entweder eine besondere Kenntniß der ächten Policey-Grundsätze oder eine vollkommene Einsicht in die Natur der Gewerbe und das Wesen des Nahrungsstandes, erfordert wird, welche die ordentlichen Richter selten haben“32. Nach der Überzeugung von Georg Lamprecht gehörte es zu den „nicht zu duldenden Missbräuchen . . ., wenn die Zünfte eine ordentliche Gerichtsbarkeit sich anmassen“33. Um dem Grundsatz nach einer aufgeklärt-absolutistischen Herrschaftsgefügeerweiterung möglichst großflächig nachkommen zu können, wurde der Aufgabenbereich der Polizeibehörden auch auf Materien bezogen, die „sedes materiae“ nur strafrechtliche Streitgegenstände aufwiesen. So heißt es bei Vetter: „Und so muß ein Policey-Collegium in solchen und dergleichen Sachen, da einer dem andern an Guth, Leib, und Vermögen, oder an der Ehre, Ruhm, und guten Nahmen einen Schaden zugefüget hat, . . . genau und richtig untersuchen und ernstlich scharff bestrafen“34. durch der Credit im Lande könne erhalten werden“ (Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften darinnen die Haupttheile sowohl der Oeconomie als auch der Policey und besonderen Cameral-Wissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung zu Gebrauch seiner academischen Fürlesung entworfen, 2. Auflage Leipzig 1768, S. 464 und 467). 31 Vetter, Deutlicher Unterricht von der zur Staats- und Regierungs-Wissenschaft gehörenden – und in einem jeden Lande so nöthig – als nützlichen Polizey, Wetzlar 1753, S. 239 f. 32 Justi, op. cit. (Fn. 7), S. 300. Bergius, op. cit. (Fn. 14) schreibt hierzu: „Der ganze Zusammenhang der Policeyverwaltung würde zerrissen werden, wenn die Policeyangelegenheiten von dem Policeycollegio angeordnet, die dabey vorfallende Streitigkeiten aber von einem Justitzcollegio entschiedenm und auch von letzterm die Vergehungen wider die Policeygesetze bestrafet werden sollten: so verstehet sich von selbst, daß die Collegia, welche die Policey verwalten, zugleich die Policeyjustitz administriren“, S. 120. 33 Lamprecht, Versuch eines vollständigen Systems der Staatslehre mit Inbegriff ihrer beiden wichtigsten Haupttheile der Polizei- und Kameral- oder Finanzwissenschaft zum Gebrauch academischer Vorlesungen, 2 Bände, Berlin 1784, S. 510. 34 Vetter, op. cit. (Fn. 31), S. 243 f. In diesem Zusammenhang führt Justi (Fn. 7) aus: „Die Verwaltung der Gerechtigkeit durch die „Policeygerichte“ . . . muß . . . wider alle Rootirungen, Unfug und Selbsthülfe zureichende Gesetze und Anstalten
II. Ordentliche Justiz versus verwaltungsinterne Kammerjustiz
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Die auszusprechenden Sanktionen der Kammern in puncto Polizeistrafen wurden in der kameralwissenschaftlichen Literatur unisono damit legitimiert, daß „die Unterthanen allein durch Strafen dahin gebracht werden, daß sie sich denen Gesetzen und Anordnungen der Policey gemäs bezeugen“35. Im Wege einer sog. „analyse raisonnée“ läßt sich feststellen, daß mit einem geradezu beachtlichen argumentativen Aufwand versucht wurde, die weit gefassten Zuständigkeiten der Kammern theoretisch zu unterfüttern und zu legitimieren. 3. Bringt man die soeben dargestellte historische Entwicklung in die Form einer klaren und präzisen analytischen Kategorie, so läßt sich die Kammerjustiz als eine Art Gerichtsbarkeit im Hinblick auf die speziellen Interessen der Verwaltung begreifen. Seelmann bringt das Phänomen der Kammerjustiz auf die Formel „Rechtspflege durch Verwaltungsbehörden“36. Daß diese Form der Verbindung richterlicher und administrativer Befugnisse in Form der verwaltungsverbundenen Gerichtsbarkeit ein „latentes Konfliktpotential“ in sich barg, erscheint vor dem Hintergrund der immer lauter werdenden Plädoyers in Richtung einer Trennung von Justiz und Verwaltung unter dem Banner des justizstaatlichen Geistes nicht als überraschendes Faktum.
II. Ordentliche Justiz versus verwaltungsinterne Kammerjustiz 1. Nachdem nunmehr die Spezifik der Kammerjustiz in ihrer rechtshistorischen Totalität in abstracto beleuchtet wurde, können der Zusammenhang und das Spannungsverhältnis zwischen der ordentlichen Justiz und der Kammerjustiz umfassend historisch und juristisch gewürdigt werden. Einleitend sei in diesem Problemkontext auf eine sehr treffende Feststellung von Simon verwiesen. Er prononciert, daß sich – so wie in der heutigen Zeit die zu große Reichweite und Dichte justizieller Kontrolle der Verwaltung als Gefährdung einer schnellen und effektiven Administrativtätigkeit empfunden wird – auch im 18. Jahrhundert das rechtliche und politische Problem stellte, ob und wie Regierung und Verwaltung – also die „Policey“ – von den Behinmachen; und sie hat . . . wider Diebstahl, Gewaltthätigkeiten, Unsicherheit der Strassen und herumschweifendes liederliches Gesindel ernstliche Maaßregeln zu ergreifen“ (S. 16). 35 Bergius, op. cit. (Fn. 14), Bd. 7, S. 127. Siehe auch Justi, op. cit. (Fn. 7): „. . . und eine Aufsicht, die ohne genugsames Ansehen und ohne die Macht zu strafen statt finden soll, ist eine leere und vergebliche Anstalt, die nicht die geringste Wirkung haben kann. Die Strafen sind Mittel, wodurch die Endzwecke der PoliceyAnstalten erreicht werden müssen“ (S. 300). 36 Seelmann, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 64), S. 25, 41.
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6. Kapitel: § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten
derungen und Bindungen gerichtlicher Kontrolle freigestellt werden sollten37. Kernpunkt dieser Debatte ist die Justitiabilität von Polizeisachen und die Ausdehnung der Kammerjustiz. Diese Problematik war in einer großen Zahl von Territorien bekannt und akut: außer in den preußischen Gebieten etwa in Braunschweig-Lüneburg, Hannover, Hildesheim, Mecklenburg und Württemberg. Am anschaulichsten kann die Problematik am Beispiel von Preußen und dem Hochstift Hildesheim dokumentiert werden. 2. Der Behördenaufbau in den Territorien war gekennzeichnet durch das Nebeneinander verschiedener, oft rivalisierender Verwaltungskörperschaften mit unklaren, einander vielfach überschneidenden Kompetenzen. Polizeiund Justizbegriff wurden hier relevant für das Verhältnis von landesfürstlicher Verwaltung, im allgemeinen „Kammern“ genannt, auf der einen und den Justizkollegien, die in Preußen in der Mittelinstanz die Bezeichnung „Regierung“ tragen, auf der anderen Seite. Die teilweise heftigen Kompetenzkonflikte entzündeten sich daran, daß die Kammerjustiz aus der Perspektive des Gesetzgebers38 unverzichtbar war, da nur sie der von den ordentlichen Justizinstanzen zu wenig berücksichtigten Polizeigesetzgebung zur vollen Geltung verhelfen konnte39. Demzufolge versuchten die Kammern, die Gerichtsbarkeit in Rechtsstreitigkeiten, die für die von ihnen wahrzunehmende Polizei von Bedeutung sind, an sich zu ziehen. Auf territorialer Ebene eröffnete sich somit – wie bei der Frage nach der Justitiabilität von Polizeisachen auf Reichsebene – ein weiterer „juristischer Kriegsschauplatz“. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang stellt die Schrift40 von Strube dar. Sie beruht auf einem von ihm als Syndikus der Hildesheimischen Stände und Hofgerichtsassessor erstellten Gutachten, und ihre Erkenntnisse wurden vom Erzbischof von Köln als Landesherrn beim Erlaß der Hofgerichtsordnung für das Stift Hildesheim im Jahre 1730 verwertet. Ausgangspunkt war eine Beschwerde von Hildesheimischen Ständen, daß die Fürstliche Kanzlei am Hofgericht schon „introduzierte und rechtshängige, auch teils allbereit ausgemachte und entschiedene Sachen unter praetext einiger feudalitaet, praetensi iurisdictione conflictus oder anderer unerheblicher Ursachen avoziert, reuszitiert und aufs neue bei Fürstl. Kanzlei ventiliert, ja sogar mandata contra mandata abgegeben . . .“41. Diese Beschwerde stammte aus dem 37 Simon, Policey im kameralistischen Verwaltungsstaat: Das Beispiel Preußen, in: Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hrsg. von Karl Härter, Frankfurt a. Main 2000, S. 473, 490. 38 Mit dem Begriff „Gesetzgeber“ ist der Fürst (Landesherr) gemeint, dem die sog. „potestas legislatoria“ zustand. 39 Simon, op. cit. (Fn. 37), S. 473, 496. 40 „Gründlicher Unterricht von Regierungs- und Justizsachen“ 41 Strube, op. cit. (vgl. 5. Kapitel Fn. 37), S. 31.
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Jahre 1690. Aber 40 Jahre später kam es erneut in diesem Punkt zu einem heftigen Streit, anläßlich dessen die Schrift von Strube entstanden ist. Auf den Inhalt der Ausführungen von Strube wird nach der Problemeinführung noch genauer eingegangen. In Preußen kristallisierten sich im wesentlichen drei Gesichtspunkte heraus, anhand derer die Urteilstätigkeit der Kammern argumentativ abgesichert wurde: Zunächst wurde angeführt, daß die Organe der ordentlichen Justiz die tatsächlichen, insbesondere ökonomisch relevanten Gegebenheiten des Landes gar nicht kennen würden42. Eng mit diesem Gesichtspunkt ging das Faktum einher, die ordentlichen Gerichte orientierten sich nahezu ausschließlich an den Rechten und berücksichtigten nur marginal die königliche Gesetzgebung. Die Gerichte sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, nur die „Rechte“, nicht aber die polizeilichen Ordnungs- und Steuerungsnormen anzuwenden, ja diese Gesetze nicht einmal zu kennen43. Als ganz wesentliche Rechtfertigung der Kammerjustiz wurde schließlich immer wieder das Kosten- und Zeitargument angeführt: Die Prozesse vor den ordentlichen Gerichten, denen man ebenso wie dem Reichskammergericht in gewissem Maße „institutionelle Gebrechen“ bescheinigte, dauerten wegen der dort üblichen Anwendung des gemeinrechtlichen Prozeßrechts zu lange. Immer wieder wurde von den Kammern darauf hingewiesen, daß das langatmige Verfahren vor den ordentlichen Gerichten eine Verschwendung von Arbeitszeit und finanziellen Ressourcen des Landes darstelle und deshalb vor allem dort durch die raschere und formlosere Kammerjustiz ersetzt werden müsse. Einer der wesentlichen Verfahrensgrundsätze der Kammerjustiz bestand darin, „de simplici et plano et sine omni strepitu judicii“ zu verfahren44. Preußen bietet im Bereich des Kanons der Kammerjustiz über die o. g. Grundsätze hinausgehend deswegen ein facettenreiches Beispiel, da sich die Wandlungen der Kammerjustiz in ihm plastisch gestalteten. Carl Gottlieb Svarez führte in seinen „Vorträgen“ aus, daß sich „das Recht, öffentliche Ämter einzurichten und Beamte zu setzen, . . . auf die Pflicht des Staats gründete, dahin zu sehen, daß Regierungsgeschäfte, die von dem Oberherrn selbst nicht besorgt werden können, durch andre, die dazu mit den erforderlichen Eigenschaften versehen sind, besorgt werden“45. 42
Simon, op. cit. (Fn. 37), S. 473, 493. Simon, op. cit. (Fn. 37), S. 473, 493. 44 Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen. Ein Beitrag zur Preußischen Rechts- und Verwaltungsgeschichte, Halle 1914, S. 62. 45 Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. von Herrmann Conrad und Gerd Kleinheyer, Köln 1960, S. 61. 43
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Vor diesem Kontext war es integrale Pflicht des Staates, „alle seine Beamten unter beständiger Aufsicht zu halten“46. Scheidemantel ergänzt diesen Ideengang noch dahingehend, daß „ein jedes Amt vornämlich genau zu bestimmen ist, die Absicht, Grenzen und die Art anzuzeigen, nach welcher dieses Fach bearbeitet werden soll“47.
So gelang es dem preußischen König, sukzessive bis 1717 ein umfassendes landesherrliches Bestätigungsrecht auch gegenüber ständischen Gerichtsherrn in Strafsachen einzuführen. In Kammersachen müsse hiernach „eine gewisse Willkühr herrschen, welche kein Bedenken trägt, sich über das bisher Uebliche hinwegzusetzen“48. So wurde gerade in Preußen mit einer enormen Dynamik versucht, sich der tradierten Formen der Zunftgerichtsbarkeit zu entledigen49. Gerade am Beispiel Preußen zeigt sich, wie sich die jeweiligen Rechtsschutzkonzepte in schneller Folge entwickelten. Wurde im Regulativ vom 12.2.1782 der Kammerjustiz eine weitere Vervollkommnung zuteil50, so wurde im Ressortreglement vom 3.3.1797 bereits eine Abkehr von dieser Form der Rechtspflege durch die Verwaltungsbehörden deutlich. In dieselbe Richtung zielte § 80 EALR: „Alle Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupte des Staates und seinen Untertanen sollen bei den ordentlichen Gerichten nach den Vorschriften der Gesetze erörtert und entschieden werden“.
Die Verordnung51 vom 26.12.1808 schloß diese Entwicklung ab, indem unter strenger organisatorischer Trennung von Exekutive und Judikative für Justizsachen eine Allzuständigkeit der ordentlichen Gerichte begründet wurde. Die justizstaatliche Lösung hatte sich folglich als Pyrrhussieg erwiesen52. Trotzdem blieb das justizstaatliche Konzept die Forderung des liberalen Bürgertums in den theoretischen Auseinandersetzungen um die rich46
Svarez, op. cit. (Fn. 45), S. 62 Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, Jena 1775, S. 91. 48 Klein, Ueber die Wichtigkeit des Ressort-Reglements und der Jurisdictionscommission in den Preußischen Staaten, nebst verschiedenen Nachrichten und Verzeichnissen, welche sich darauf beziehen, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit für die Preußischen Staaten, Band 14, 1796, S. 301. 49 Deter, Handwerksgerichtsbarkeit zwischen Absolutismus und Liberalismus. Zur Geschichte der genossenschaftlichen Jurisdiktion in Westfalen im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1987, S. 157. 50 Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Kommentar zur VwGO, Heidelberg 2003, Einleitung zu § 40, Rn. 73. 51 Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden, PrGS 1806–1810, S. 464. 52 Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 131. 47
II. Ordentliche Justiz versus verwaltungsinterne Kammerjustiz
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tige Form der Verwaltungskontrolle, die das erste und zweite Drittel des 19. Jahrhunderts beherrschte53. E contrario sah man in den Prozeßmaximen der Justiz einen erheblichen Nachteil für die Entscheidung von „Policey-Sachen“. Bei Vetter findet man folgende Stellungnahme: „Soll die wahre Wohlfart derer Unterthanen . . . von einer beständigen Dauer seyn: So ist gantz ohnstreitig der richtige und fest stehende Schluß, daß das PoliceyCollegium auch alles dasjenige besorgen müsse, . . . was zur Beförderung und Aufrechterhaltung des Rechts und der Billigkeit unter den Unterthanen kann und mag gerechnet werden“54.
3. Das soeben skizzierte „aggressive Eindringen“ der Kammerjustiz in das Kompetenzterrain der ordentlichen Justiz hatte eine Vielfalt von literarischen Diskussionsbeiträgen und reichsgerichtlichen Judikaten zur Folge. Ging es doch darum, eine Dejustizialisierung der Aufgaben- und Tätigkeitsprofile der Kammerjustiz zu erreichen. So kann die Relation von Kammern und Justizkollegien, von Polizeisachen und Justizsachen als Indikator für das Verhältnis von fürstlicher Gewalt und ständischer Gesellschaft gelten55. Pahlow umschreibt diese Relation als „Kampf zwischen staatlicher Gewalt und ständischem Privileg“56. Realiter zielte dieser Konflikt darauf ab, durch die Stärkung der „bürgerlichen“ Justiz ein Gegengewicht gegen die „monarchische Exekutive“ zu bilden57. Das der Kammerjustiz entgegengebrachte Mißtrauen manifestierte sich nicht nur darin, daß die Stände keinen Einfluß auf die Besetzung der Kammern hatten, sondern auch in der Feststellung, daß im 18. Jahrhundert der Grundsatz „in camera non est iustitia“ galt58. Das Verfahren vor den Kammern war noch summarischer als das vor den Justizkollegien. So findet sich bei Justi die Darstellung: „Die gerichtliche Verfahrensart in den Polizeigerichten kann nicht anders als summarisch, das ist ohne alle sonst gewöhnlichen Rechtsformalitäten und so kurz als möglich sein. Es ist hier weiter nichts als die Untersuchung der Sache nach allen ihren Umständen nötig, ohne daß dabei Fristen, Beweis und Gegenbeweis oder 53 Dazu: Ogorek, Individueller Rechtsschutz gegenüber der Staatsgewalt, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hrsg. von Jürgen Kocka unter Mitarbeit von Ute Frevert, Bd. 1, München 1988, S. 373, 384 ff. 54 Vetter, Deutlicher Unterricht von der zur Staats- und Regierungs-Wissenschaft gehörenden und in einem jeden Lande so nöthig – als nützlichen Polizei, Frankfurt 1773, S. 239 ff. 55 Preu, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 37), S. 85. 56 Pahlow, Justiz und Verwaltung. Zur Theorie der Gewaltenteilung im 19. Jahrhundert, Goldbach 2000, S. 94. 57 Stolleis, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 19), S. 241. 58 Erichsen, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 69), S. 98.
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Bescheinigung und Gegenbescheinigung, rechtliches Einbringen und Sätze oder dergleichen, am allerwenigsten aber Advokaten zugelassen werden können“59.
In der Darstellung von Justi klingt bereits ein nicht ganz unzutreffendes Argument an, das von den Kritikern der Kammerjustiz ins Feld geführt wurde: Es bestand der Verdacht, daß die Kammern Richter in eigener Sache seien60. Über den Kammern schwebte der Makel einer nicht ganz gerechten und unparteiischen Justiz61. Sie fungierten in der zentralen Zielsetzung ihrer Aufgaben- und Tätigkeitsprofile als Instrument territorialfürstlicher Machtsicherung. Um einer solchen Tendenz Einhalt zu gebieten, entwickelte sich in der Justizreformliteratur und der Reichspublizistik der Gedanke, daß das Verhältnis von Polizei- und Justizsachen als Grundlage der Kompetenzabgrenzung von Kammern und Justizkollegien grundsätzlich so zu bestimmen war, wie es in der Frage der Appellation an die Reichsgerichte geschah. Eine Justizsache und damit zugleich die Kompetenz der Justizkollegien war nach der in der Reichspublizistik ganz dominierenden Auffassung – wie Strube62 bezüglich des Konflikts in Hildesheim schreibt – gegeben, sobald ein ius quaesitum in Frage stand. Auch von Cramer betrat dieselbe Argumentationsebene in seinen „Wetzlarischen Nebenstunden“63. Damit steht er in Kontinuität seiner bereits in Band I entwickelten Gedankengänge64, die über die Geltendmachung einer Rechtsverletzung auch den Untergerichten rechtliche Prüfungskompetenzen einräumen sollen. Zugleich impliziert aber der Verweis auf den Aspekt, „daß Polizeisachen an und vor sich betrachtet kein objectum iustitiae sind“65, die Anerkennung und Respektierung der jeweiligen territorialen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Diese Anerkennung wird aber durch eine vom reichsverfassungsrechtlichen Blickwinkel ausgehende rechtliche Interpretation, die sich zentral in dem Begriffspaar „iura et laesiones Partium“ manifestiert, differenziert, mit der Folge, daß die territoriale Kammerjustiz in ihren Zuständigkeitsbereichen eine Dejustizialisierung erfährt. Nachdem nun zuvor auf Reichsebene durch eine neue Begriffsbestimmung von Justizsachen über die Figur der „iura quaesita“ für die Untertanen eine neue Rechtsschutzmöglichkeit „installiert“ wurde, konnte sich 59
Justi, Grundfeste, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 113), Bd. II, § 512. Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 65. 61 Aus einer heutigen „ex post-Perspektive“ erscheint es als unvorstellbar und geradezu als „rechtsstaatliches Schreckensszenario“, wenn die Verwaltung selbst – quasi „propria causa iudex“ – über angefochtene Bescheide rechtsverbindlich befinden und entscheiden würde. 62 Strube, op. cit. (vgl. 5. Kapitel Fn. 37), S. 42. 63 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN VII, S. 80–85. 64 Vgl. hierzu: v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 65 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 60
II. Ordentliche Justiz versus verwaltungsinterne Kammerjustiz
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damit auch auf territorialer Ebene diese Entwicklung einer „dynamischen rechtlichen Modernisierung“ etablieren. Das Spannungsverhältnis um die Kompetenzgrenzen zwischen ordentlicher Justiz und verwaltungsinterner Kammerjustiz ist als exemplarisches Beispiel für die „Initialzündung“ einer Entwicklung der Trennung von Rechtsprechung und Verwaltung zu werten. Dies erklärt sich daraus, daß es doch um die Verwirklichung eines vorgegebenen Richterbildes ging. So lieferte von Cramer dazu folgende Passage: „Alle Rechte verabscheuen denjenigen, qui sibi ius dicit“66. Diese Aussage liefert zugleich – auch unter Zuhilfenahme des Votums von Cramer im Hinblick auf eine Kompetenzerweiterung der Landesgerichte67 – die rechtliche Implikation für die Infragestellung der Kammerjustiz. Eine Ausdehnung der Jurisdiktionsbefugnisse der Landesgerichte konnte nur einhergehen mit einer Zurückdrängung der Kammerjustiz. Grundlage der Bestrebungen war de facto in letzter Konsequenz, die Justizsachen unparteiischen Gerichten zuzuweisen, nicht die Kontrolle der Verwaltung durch die Justiz, was mit dem damaligen Rechtsschutzverständnis unvereinbar gewesen wäre68. 4. Vergegenwärtigt man sich abschließend die skizzierten Inhalte, so läßt sich feststellen, daß die rechtstheoretischen Erörterungen mit einer Kompetenzerweiterung zugunsten der Justizbehörden endeten. Die ins Auge gefaßte Zementierung des Rechtsprechungsmonopols der ordentlichen Gerichte erklärt sich u. a. vor dem Hintergrund, daß – wie Bergius in seinem Publikandum ausführt, „die Anbringung dergleichen Beschwerden wider die Stadtpolizey . . . weder eine Appellation . . . noch effectum suspensivum nach sich ziehen könne“69. Dieser Hinweis der zeitgenössichen Literatur läßt erahnen, daß es zweifelhaft ist, ob eine Beschwerde gegen Maßnahmen der „guten Polizei“ einen heutigen Maßstäben auch nur annähernd entsprechenden Rechtsschutz nach sich zog. Demzufolge ist die These, die Kammerjustiz könne als eine Art Vorläufer der Verwaltungsgerichtsbarkeit betrachtet werden70, streng genommen nur noch unter erheblichen „dogmatischen Bauchschmerzen“ haltbar, und der Begriff „Kammerjustiz“ führt eher in die Irre, als daß er zur begrifflichen Erhellung beiträgt. Von einem Ver66
v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN XXV, S. 91. Vgl. hierzu § 4. 68 In diesem Sinne: Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 59. 69 Bergius, Artikel „Polizeyjustitzverwaltung, in: ders., Polizey und Cameralmagazin. In welchem nach alphabetischer Ordnung die vornehmsten und wichtigsten bey dem Polizey- und Cameralwesen vorkommende Materien nach richtigen und vernünftigen Grundsätzen practisch abgehandelt und durch landesherrliche Gesetze und hin und wieder wirklich gemachte Einrichtungen erläutert werden, Band 7, Neue Auflage, Wien 1788, S. 173. 70 Rüfner, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 2), S. 3, 7. 67
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6. Kapitel: § 6 Rolle der Kammerjustiz der Territorialfürsten
fahren, wie es die herkömmlichen Gerichte praktizierten, waren die „Kammern“ des 18. Jahrhunderts jedenfalls weit entfernt. Selbst die zeitgenössische Literatur läßt ihre Skepsis und „halbkritische Distanz“ gegenüber einer o. g. Einschätzung erkennen. Die „Anbringung dergleichen Beschwerden wider die Stadtpolicey . . . könne weder eine Appellation . . . noch ein effectum suspensivum nach sich ziehen“71. Darüber hinaus wird noch folgendes Monitum eingeschoben: „Daß aber die Policei überhaupt ihre besondere Gerichtsbarkeit haben müßte, auch wider ihre Aussprüche keine Appellationen statt finden, wenigstens selbige kein effectum suspensivum haben können, ist aus der Natur der Sache und Absicht der Polizei begreiflich“72.
71
Bergius, op. cit. (Fn. 69), Band 7, S. 126. Pfeiffer, Natürlich aus dem Endzweck der Gesellschaft entstehende Policeiwissenschaft, 2 Theile, Frankfurt a. M. 1779, Band 1, S. 541. 72
„Das Leben des Rechts ist nicht Logik, sondern Erfahrung. Die erlebten Notwendigkeiten der Zeit, die herrschenden moralischen und politischen Anschauungen, bewusste und unbewusste, sogar die Vorurteile, welche die Richter mit ihren Mitmenschen gemeinsam haben, haben die Regeln des Rechtes bei weitem stärker bestimmt als logische Ableitungen“ Oliver Wendell Holms1
7. Kapitel
§ 7 Zur ideengeschichtlichen Einordnung 1. Nachdem die vorangegangenen Ausführungen, bei denen die Textstelle von Cramer2 als zentraler Fixpunkt diente, sich themenbezogen mit rechtshistorischen Schwerpunkten beschäftigt haben, sei nun im Anschluß der Versuch unternommen, kurz die justizreformerischen Bestrebungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts, bei denen von Cramer eine bedeutende Rolle spielt, in den ideengeschichtlichen Kontext der aufklärerischen Gedankenwelt zu stellen. 2. Zentrales Anliegen des naturrechtlichen Gedankengebäudes war, daß der Staat nicht mehr allein nach dem Willen der Monarchen regiert werden, sondern daß das Recht die Staatstätigkeit berechenbar machen soll. Der Schutz der Freiheit um der Menschenwürde des Bürgers willen wird zum Leitmotiv, in dessen Akkord die Vorstellung mitschwingt, daß Eingriffe in eben jene Freiheit eines Rechtstitels bedürfen und daß damit das Recht die Schranken zwischen staatlicher Eingriffskompetenz und bürgerlicher Freiheit befestigt3. Als weitere wichtige Person neben den bereits erwähnten Kant und Wolff ist bei den justizreformerischen Bestrebungen der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz4 zu nennen. Als gelernter Jurist hat Leibniz von Beginn seiner wissenschaftlichen Arbeit an versucht, die Jurisprudenz in sein Konzept einer Universalwissenschaft einzubauen. Es ging ihm dabei in concreto um zweierlei: Einerseits sollte das historisch überkommene Recht 1
Holms, The Common Law, 1881, S. 1. v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 3 Link, Rechtsstaatsgedanken in der deutschen Staatsrechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts, in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, Berlin 1986, S. 775, 776. 4 Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Darmstadt 1962 (Nachdruck der Ausgabe von 1902). 2
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7. Kapitel: § 7 Zur ideengeschichtlichen Einordnung
in einer Weise systematisiert werden, die die Vielzahl der regionalen Rechte5 und das römische Rechte vereinheitlichte. Diesen gedanklichen Ansatz hat Leibniz bereits 1667 in seiner „Nova methodus discendae docendaeque Jurisprudentiae“ bereits entwickelt. Auf der anderen Seite hat er schon als Student versucht, Entscheidungsfindungen im Recht mit logischen Prinzipien zu begründen und sicherer zu machen. Als Maßstab schwebte dem Philosophen eine „iustitia universalis“ vor, die Moral und Recht nach einem einheitlichen Prinzip fasste. Dieses „christliche Naturrecht“, das er in der Einleitung zu seinem „Codex iuris gentium diplomaticus“ aus dem Jahre 1693 darstellte, ging von seiner zentralen Gerechtigkeitsdefintion „Iustitia est caritas sapientis“ aus. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Leibnizsche Konzeption einer Verpflichtung des Staates, „das Recht zu verwirklichen und jedermann Gerechtigkeit (iustitia) widerfahren zu lassen und eine Ordnungsgemeinschaft“6 mit sozialer Ausgleichsfunktion werden zu lassen. Diese sozialethische Bindung der Staatsgewalt an das Naturrecht ist nach Leibniz auf drei Ebenen (gradus) wirksam: dem zwingenden Recht (ius strictum), verbunden mit der ausgleichenden Gerechtigkeit, ordnete er auf der untersten Stufe die Pflicht zur Gesetzestreue (neminem laedere) im Sinne von Rechtschaffenheit (probitas) zu. Aufgrund der Trilogie fasst Leibniz all jene ethischen Gebote zusammen, denen sämtliche Staaten gleichermaßen unterworfen sind und die auf den einzelnen Ebenen in unterschiedlicher Weise auch das öffentliche Recht (ius publicum) bestimmen7. 3. Insofern läßt sich die untersuchte Textpassage von Cramer aus seinem Werk „Wetzlarische Nebenstunden“ als dogmengeschichtlicher Beitrag zur Rechtsbindung im Bereich staatlicher Eingriffsverwaltung qualifizieren. Damit zeigt sich zugleich – im Vergleich zur Entwicklung in Westeuropa – ein 5 Leibniz vertrat unter Rückgriff auf die bei Conring verfaßte Dissertation des späteren hannoverschen Vizekanzlers Ludolf Hugo: „De statu regionum Germaniae“ (Hugo, Dissertatio de statu regionum Germaniae et regimine principum summae imperii reipublicae aemulo, Helmstadiae 1661) den Standpunkt, daß die Unabhängigkeit der Landesfürsten eine staatliche Einheit innerhalb des Reiches ebenso wenig ausschließe, wie die Glaubensspaltung im Rahmen der „Respublica Christiana“ eine Kirchenunion hindere. Damit begründete er die für das spätere deutsche Verfassungsleben außerordentlich fruchtbare Theorie vom „ständischen Bundesstaat“. In diesem Sinne bereits v. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Ausgabe, Aalen 1958, S. 246 f. Zum Begriff des zusammengesetzten Staates stellte Gierke fest, daß „Leibniz ihm eine noch näher an moderne Fassungen des Bundesstaatsbegriffs streifende Prägung verlieh“. 6 Leibniz schreibt hierzu „Magistratus constituuntur tuendi juris causa“. Vgl. Leibniz, De tribus juris naturae et gentium gradibus, um 1678 (?), abgedruckt bei: Mollat, Mittheilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, Leipzig 1893, S. 14. 7 „Ius publicum stricte dictum agit de reipublicae forma, seu constitutione summae potestatis“ (Tractatio nach 1690/95), abgedruckt bei Grua, Tome II, Paris 1948, page 801.
7. Kapitel: § 7 Zur ideengeschichtlichen Einordnung
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die deutsche Rechtsstaatsentwicklung prägendes Charakteristikum: Die Bereitstellung und Verfügbarkeit der Justiz als ausreichende Sicherung der individuellen Freiheitsrechte, ohne daß eine Anbindung an die Menschenrechte dies inhaltlich determinierte. Im Gegensatz dazu war die Rechtsstaatskonzeption in Westeuropa mit dem Gedanken verbunden, den Rechtsstaat im politischen Prozeß durchzusetzen und zu garantieren. Gewaltenteilung, Parlamentarisierung und Rechtsstaatsgedanke bildeten eine Einheit. Wegen der Bindung an die materialen Werte der Menschenrechte spricht man vom „materialen Rechtsstaatsbegriff“, der mit dem in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland sich entwickelnden „formalen Rechtsstaatsbegriff“ „konkurrierte“. Den deutschen Rechtsstaat charakterisierte, daß der Staatsbürger vor Willkür der Staatsgewalt dadurch zu sichern sei, daß ihm Gelegenheit geboten werden müsse, gegen staatliche Handlungen, die ihn beeinträchtigen, vor Gericht klagen zu können8. Das Recht des einzelnen wurde zum Korrektiv der staatlichen Gewalt9. Von Cramer stellt sich mit seiner Auffassung10 in die Reihe derjenigen, die die Idee der Rechtsstaatlichkeit sich zu einer „rechtslogisch-statischen Kategorie“11 entwickeln lassen und nicht – wie im westlichen Europa – zu einer politisch-dynamischen. So fanden gerade in der späteren Rechtsprechung und ideellen Rechtsorientierung des Reichskammergerichts diese Überlegungen ihre Fortsetzung. Durch diese Tendenz zum Zwecke des Schutzes der „iura quaesita“ folgte, um an eine Formulierung von Forsthoff12 anzuknüpfen, „das System des Rechtsschutzes in seinem Aufbau und seiner Fortentwicklung der Gesamtstruktur des Rechts, die ihrerseits wieder durch die Struktur des Staates bestimmt wurde“13.
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Diestelkamp, Reichskammergericht und deutsche Rechtsstaatskonzeption, in: Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, hrsg. von Bernhard Diestelkamp und Ingrid Scheurmann, Bonn und Wetzlar 1997, S. 131, 141. 9 Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Auflage, München 1980, S. 163. 10 Vgl. hierzu insbesondere: v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), WN I, S. 88. 11 Link, in: Schnur, op. cit. (Fn. 3), S. 775, 795. 12 Zu dieser nicht ganz so wie sein Lehrer Carl Schmitt umstrittenen Juristenpersönlichkeit: Karl Doehring, Ernst Forsthoff, in: Juristen im Portrait, München 1988, S. 341 ff. 13 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Band I, Allgemeiner Teil, 6. Auflage, München 1956, S. 446.
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7. Kapitel: § 7 Zur ideengeschichtlichen Einordnung
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), o. J. Kupferstich von Johann Martin Bernigroth (1713–1767) oder Johann Georg Mentzel (1677–1743), beide Leipzig
So lange die Rechtswissenschaft sich nicht auf einen neuen Boden stellt, nämlich auf die Historien- und die VölkerVergleichung, wird es bei dem unnützen Kampfe von grundfalschen Abstraktionen verbleiben, welche heute sich als Philosophie des Rechts vorstellen und die sämtlich vom gegenwärtigen Menschen abgezogen sind“ Friedrich Nietzsche1
8. Kapitel
§ 8 Schwedische Gerichtsbarkeit – Wismarer Tribunal – im Alten Reich I. Introductio 1. In diesem Kapitel soll im Wege einer rechtsvergleichenden Analyse2 der Einfluß der schwedischen Gerichtsorganisation auf das Alte Reich untersucht werden. Die bisherigen Untersuchungen haben die rechtsgeschichtliche Essenz anklingen lassen, daß sich in Schwedisch-Pommern durch das Oberappellationsgericht in Wismar eine sehr bürgerfreundliche und auch progressive Rechtsprechungslinie entwickelt hatte. Vor diesem Hintergrund drängt sich nebenbei auch die Frage auf, ob in Schweden ein anderes Begriffsverständnis von „policey“ vorherrschte und wie sich ein solches auf die schwedischen Besitzungen im Alten Reich auswirkte bzw. niederschlug. Inspiriert durch die Forschungen des Lunder Rechtshistorikers Kjell Å. Modéer3 und die Skizzierung der allgemeinen Rahmenbedingungen für das Wirken des Tribunals4 – direkte Forschungen zum Wirken und zur Analyse 1
Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre hrsg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1997, S. 870 f. 2 Vgl. auch Rabel, Deutsches und amerikanisches Recht: RabelsZ 16 (1951), S. 340: „Rechtsvergleicher sind gewohnt, in fremde Dickichte einzudringen, und darauf gefaßt, daß unter jedem Busch ein Eingeborener mit Pfeilen lauert“. 3 Kjell Å. Modéer, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium. I. Voraussetzungen und Aufbau 1630–1657, op. cit. (vgl. 5. Kapitel Fn. 22). 4 Vgl. J. G. L. Th. Kosegarten, Pommersche und rügische Geschichtsdenkmäler, Greifswald 1856; Th. Pyl, Beiträge zur pommerschen Rechtsgeschichte, Greifswald 1891; H. Backhaus, Reichsterritorium und schwedische Provinz, Göttingen 1969; ders., Verfassung und Verwaltung Schwedisch-Pommerns, in: Unter der schwedischen Krone. Pommern nach dem Westfälischen Frieden, hrsg. von der Stiftung Pommersches Landesmuseum, Greifswald 1998, S. 29–40; C. F. Lundin, Wismars pantsättande till Mecklenburg-Schwerin, Uppsala 1892; E. Zetterquist, Grundlägg-
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
der Rechtsprechung des Gerichts existieren noch nicht in dem Maße wie zum Reichskammergericht5, erscheint es sehr spannend, das Wirken des Wismarer Tribunals im schwedischen Konglomeratstaat näher zu untersuchen und zu analysieren. 2. Bevor eine Zuwendung zu diesem Aspekt erfolgt, noch eine Bemerkung zum rechtsvergleichenden Ansatz. Gerade die historische Rechtsvergleichung ist als Erkenntnisgewinn für Wissenschaft und auch Praxis anzusehen. In Reminiszenz an Thomas Mann läßt sich an dieser Stelle cum grano salis einfügen, daß „der Vergleich eine relative Bestimmung der eigenen Position ermöglicht“6. Die Rechtsvergleichung ist nämlich im Sinne von Zweigert7 als universale Interpretationsmethode zu klassifizieren. Vor mehr als 24 Jahren war Zweigert davon überzeugt, daß „von der großen Mehrzahl der deutschen Juristen die Rechtsvergleichung als eine esoterische und für nur wenige wissenschaftliche Randfragen nützliche Spielerei einer kleinen Zahl von Spezialisten“8 zu betrachten sei. Der schwedische Rechtshistoriker Modéer wählt in seinem Festvortrag anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald das sog. Zwillingsbild. Für ihn hat die Rechtsgeschichte in der Rechtsvergleichung „einen Zwilling gefunden“. Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte sind heutzutage zwei Fächer, die in dieselbe Richtung gehen9. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und beide Fachdisziplinen ningen af det svenska väldet i hertigdömena Bremen och Verden, Oskarshamn 1891; O. Malmström, Bidrag till svenska Pommerns historia 1653–1660, Helsingborg 1894. 5 Zum Wismarer Tribunal und dem aktuellen Forschungsstand: Jörn, Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Geschichte des Wismarer Tribunals, in: Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, hrsg. von Nils Jörn/Michael North, Köln 2000, S. 235–273; ders., Gerichtstätigkeit, personelle Strukturen und politisch relevante Rechtsprechung am Wismarer Tribunal 1653–1815, in: Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, hrsg. von A. Baumann, S. Wendehorst, S. Ehrenpreis, Köln 2001, S. 219–267; ders., Integration durch Recht? Versuch eines Fazits und Perspektiven der Forschung, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), hrsg. von N. Jörn, B. Diestelkamp, K. Å. Modéer, Köln 2003, S. 387–408. 6 Mann, Gesammelte Werke V, 2. Auflage, Frankfurt 1974, S. 142. Mann schreibt dort die Sentenz: „Denn nur durch eine Vergleichung unterscheidet man sich und erfährt, was man ist, um ganz zu werden, was man sein soll“. 7 Zweigert, RabelZ 15 (1949/50), S. 5. 8 Zweigert/Puttfarken, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Rechtsvergleichung 1978, passim. 9 Kjell Å. Modéer, Rechtskultur im Ostseeraum – rechtshistorische und forschungspolitische Perspektiven, in: Ernst-Moritz-Arndt-Universität (Hrsg.), Ehrenpromotion Kjell Å. Modéer, Greifswalder Universitätsschriften, Neue Folge Nr. 97, Greifswald 2001, S. 19, 22.
I. Introductio
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als „Horizonterweiterungswissenschaften“10 begreifen. Die Überprüfung und Inbezugsetzung der Rechtssysteme auf ihre „Ähnlichkeiten, Verschiedenheiten und gegenseitige Beeinflussung“ hin bezeichnete der große Ernst Rabel11, der die moderne Rechtsvergleichung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland begründet hat, als die grundlegende Aufgabe der Rechtsvergleichung12. Rechtsvergleichung läßt sich jedoch nur über den Begriff der „Rechtskultur“ verstehen13. In diesem Konnex läßt sich die Formel „Rechtsfortentwicklung durch Rechtsvergleich“14 anführen. Ihre Verifizierung wird diese Formel durch den nachfolgenden Diskurs im Rahmen eines rechtshistorischen und rechtskulturellen Vergleichs15 zwischen Schweden und den Eigentümlichkeiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erfahren. Hinsichtlich der zugrundegelegten Objektgröße dieses konkreten rechtsvergleichenden Ansatz wird sowohl die Perspektive des Makro- als auch die des Mikrovergleichs gewählt. Der Makrovergleich fokussiert auf den Geist und Stil, die allgemeine Arbeits- und Denkweise. Essentiell für diese generelle Vergleichsweise ist die Untersuchung von Gesetzgebungstechniken, die Methoden der Gesetzesauslegung und das Verhältnis von Gesetzes- zum Richterrecht. Im Gegensatz 10 Diese Wortschöpfung geht auf den Passauer Zivilrechtler Prof. Dr. Johann Braun zurück. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert, München 2001, Einleitung S. VII. 11 Zu dieser beeindruckenden Juristenpersönlichkeit: Kegel, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 6). 12 Rabel, in: Gesammelte Schriften II, hrsg. von H. Leser, München 1965, S. 1, 3. 13 Zu den zusammenfassenden Definitionsversuchen und Analysen von „Rechtskultur“ vgl. z. B. Kjell Å. Modéer, Global ans National Legal Cultures, in: Globalization and its impact – on Chinese and Swedish Society, ed. Cecilia Lindquist, Stockholm 1999, S. 275, 277 f.; Richard A. Posner, Cultural Studies and the Law, in: Raritan, A Quartely Review, Rutgers University/New Jersey 1999, S. 42–53; Franz Wieacker, Grundlagen der Rechtskultur, in: Tradition and progress in modern legal cultures, ed. Stig Jörgensen, in: ARSP Beiheft 23, Stuttgart 1985, S. 176–190. 14 Zum Bereich der Verknüpfung der europäischen Rechtskultur mit der Geschichte des europäischen Verfassungsrechts sei auf den Aufsatz von Schulze verwiesen. Schulze, Vom Ius Commune bis zum Gemeinschaftsrecht – das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte, in: Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, hrsg. von Reiner Schulze (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3), Berlin 1991, S. 3–36. 15 Zum Aspekt des rechtskulturellen Vergleichs sei schwedischerseits hingewiesen auf drei neuere Dissertationen: Nordin, Ett fattigt men fritt folk. Nationell och politisk självbild i Sverige från sen stormaktstid till slutet av frihetstiden, Stockholm 2000; Eng, Det svenska väldet. Ett konglomerat av uttrycksformer och begrepp från Vasa till Bernadotte (Studia Historica Upsaliensia, 201), Uppsala 2001; Önnerfors, Svenska Pommern. Kulturmöten och identifikation 1720–1815 (Ugglan, Minervaserien, 6), Lund 2003.
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
dazu behandelt die Mikrovergleichung einzelne Probleme und Interessenkonflikte. Solche Konfliktfelder sollen durch exemplarische Fälle aus dem Rechtsprechungskanon des Oberappellationsgerichts Wismar dokumentiert werden. Dieser Forschungsansatz kann durch die neue und professionelle Erschließung unter der bewährten Leitung von Dr. Hans-Konrad Stein-Stegemann, der u. a. die Findbücher für den Oberhof in Lübeck16 als Oberappellationsgericht und für Schleswig17 erstellt hat, zumindest einige nennenswerte Überlegungen in die rechtsgeschichtswissenschaftliche Diskussionsrunde einstreuen.
II. Das Appellationsprivileg18 nach dem Westfälischen Frieden Um ein besseres rechtshistorisches Grundverständnis für die schwedischen Eigentümlichkeiten in der Gerichtsbarkeit im Alten Reich zu erlangen, ist es unverzichtbar, sozusagen im „Krebsgang“ in der juristischen Zeitgeschichte zurückzublättern. Ausgangspunkt bildet der sog. Westfälische Friede19 aus dem Jahre 1648. Mit diesem Friedensvertrag nach dem 16 Vgl. Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, 14/I & II = Gesamtinventar, Nr. 13), Schleswig 1987. 17 Vgl. Hans-Konrad Stein-Stegemann (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, 16/I & II = Gesamtinventar, Nr. 10), Schleswig 1986. 18 Der besondere Stellenwert des Appellationsprivilegs wird in der Folgezeit besonders von F. U. Mehlen in seinem Werk in der Vorrede hervorgehoben, wenn er schreibt, daß „die Lehre von der Appellation und andern Anfechtungs-Mitteln gegen richterliche Erkenntnisse es vorzüglich zu verdienet scheint, etwas ausführlicher als in einem Handbuch über den Proceß oder über die Pandekten geschehen kann, vorgetragen und mit Mustern erläutert zu werden“ (vgl. F. U. Mehlen, Ueber die Appellation und andere Impugnativ-Mittel gegen richterliche Erkenntnisse, besonders in Rücksicht auf Schwedisch Pommern und Mecklenburg, Berlin und Stralsund 1791). 19 Die auf dem Abschluß des Westfälischen Friedens geschlagene Münze faßt auf ihrer Rückseite unter dem Motto „Der Frieden ist das Beste aller Dinge“ den Ausgang des Dreißigjährigen Krieges zusammen: Drei Tauben, die die langjährigen Kriegsparteien Altes Reich, Frankreich und Schweden symbolisieren, schweben über Krone und Zepter, Insignien des Heiligen Römischen Reiches, und deuten mit dem Hinweis auf den endlich erreichten Frieden auch den Machtverlust des Reiches an, da die beiden auswärtigen Mächte infolge der Vereinbarungen von Münster und Osnabrück als Garanten des Friedens verfassungsmäßig anerkannt wurden. Johann Oxenstierna und Johann Adler Salvius waren die beiden schwedischen Gesandten auf dem Friedenskongreß in Osnabrück. Johann Oxenstierna (17.5.1611 in Stockholm – 5.12.1657 in Wismar), Sohn des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna, reiste nach Studien in Uppsala in die Niederlande, nach England und
II. Das Appellationsprivileg nach dem Westfälischen Frieden
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großen Schlachten wurde die Geburtsstunde des Völkerrechts und der Diplomatie der Moderne eingeläutet. Am 14. Oktober wurde in Münster neben dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich (IPM20) der Friedensvertrag zwischen Deutschland und Schweden (IPO21) unterzeichnet. Die in diesem Zusammenhang wichtigste Bestimmung der Friedensverträge normiert Art. X § 12 IPO22. Zum besseren Verständnis wird diese Bestimmung23 zitiert. Zwecks einer besseren Übersichtlichkeit werden dieser Bestimmung Absätze in Form von römischen Zahlen vorangestellt. I. Deinde concedit eis in omnibus et singulis dictis feudis privilegium de non appellando; sed hoc ita ut summum aliquod tribunal seu appellationis instantiam commodo in Germania loco constituant eique idoneas praeficiant personas, quae Frankreich und trat danach an die Seite seines Vaters, der seinerzeit als Generalgouverneur in Preußen wirkte. Nach einer Ausbildung durch seinen Onkel, den Reichsmarschall Gustav Horn, wurde er Oberst des Roten Regiments. Bereits zu Beginn der 1630er Jahre holte ihn sein Vater nach Frankfurt a. M. und setzte ihn für verschiedene diplomatische Missionen in England und den Niederlanden ein. 1635 war er Gesandter zu den Friedensverhandlungen zwischen Schweden und Polen. 1637 wurde er zum Kammerrat, 1639 zum Reichsrat und Kanzleirat, 1641 zum Legaten in Deutschland ernannt und nahm als solcher an den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück teil. 1650 war er für die Verhandlung des Grenztraktats mit Brandenburg in Pommern verantwortlich, 1654 wurde er zum Reichsmarschall ernannt. 1655 wurde er erneut ins Reich gesandt und übernahm von seinem Cousin Bengt die Präsidentschaft am Tribunal. In diesem Amt verstarb er 1657. Siehe zu ihm die kommentierte Leichenpredigtvon Nils Jörn in: Servorum Dei Gaudium. Das ist Treuer Gottes Diener Freuden = Lohn. Lebensbeschreibungen aus dem Umfeld des Wismarer Tribunals, hrsg. von Nils Jörn (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, 3), Greifswald 2003. Johann Alder Salvius (1590 in Strängnäs – 24.8.1652 in Stockholm), Sohn des Stadtschreibers von Strängnäs, wurde nach Studien in Uppsala, Rostock, Helmstedt, Straßburg und Marburg und seiner Promotion zum Dr. iur. in Valence zum Assessor am Svea Hofgericht berufen und 1622 auf diplomatische Missionen nach Sachsen und Dänemark entsandt. 1624 zum Staatssekretär ernannt, folgte er Gustav II. Adolf 1626 nach Livland und Preußen. Mit seiner Entsendung zum Lübecker Friedenskongreß wurde er 1629 in den Adelsstand erhoben. 1631 wurde er schwedischer Resident in Hamburg, 1634 Hofkanzler und Geheimer Rat. 1641 wurde er neben Johann Oxenstierna zum schwedischen Gesandten auf dem Friedenskongreß in Osnabrück bestellt, 1648 zum Reichsrat ernannt. Seine letzte diplomatische Mission führte ihn 1651 zum Friedenskongreß mit Polen nach Lübeck. Vgl. Findeisen, Der Dreißigjährige Krieg. Eine Epoche in Lebensbildern, Graz 1998, S. 413–417. 20 Instrumentum Pacis Monasteriense. 21 Instrumentum Pacis Caesareo – Suecicum Osnabrugense. 22 Sverges traktater med främmande magter. Hrsg. von C. Hallendorff, Band VI., Stockholm 1903–15, S. 376 f. 23 IPW, Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigeren Teile und Regesten. Bearbeitet von Konrad Müller. Bern 1949 (Quellen zur neueren Geschichte. 12/13), S. 53 f. und S. 141.
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
unicuique ius et iustitiam secundum imperii constitutiones et cuiusqueloci statuta absque ulteriori provocatione causarumve avocatione administrent. II. Et contra vero si contigerit ipsos tamquam duces Bremenses, Verdenses aut Pomeraniae vel etiam ut principes Rugia aut dominos Wismariae ex causa dictas ditiones concernente ab aliquo legitime conveniri, Caesarea maiestas liberum eis relinquit, ut pro sua commoditate forum eligant vel in aula Caesarea vel camera imperiali, ubi actionem intentatam excipere velint. Teneantur tamen intra tres menses a die denunciatae litis sese declarare, coram quo iudicio se sistere velint.
Deutsche Übersetzung nach Willoweit/Seif 24 Art. X § 12 IPO. I. Ferner räumt er ihnen in allen und jeden erwähnten Lehen das Privilegium de non appellando ein; dies jedoch unter der Bedingung, daß sie einen obersten Gerichtshof oder eine Appellationsinstanz an einem passenden Ort in Deutschland einrichten und mit geeigneten Personen besetzen, die einem jeden Recht und Gerechtigkeit handhaben sollen gemäß den Reichssatzungen und den Rechten eines jeden Ortes, ohne fernere Appellation oder Advokation der Prozesse. II. Wenn es sich dagegen aber zutrüge, daß sie in ihrer Eigenschaft als Herzöge von Bremen, von Verden oder von Pommern, oder auch als Fürsten von Rügen oder Herren von Wismar wegen einer die erwähnten Herrschaften betreffenden Sache von jemandem in rechtmäßiger Weise belangt würden, so stellt die kaiserliche Majestät es ihnen frei, sich nach ihrer Bequemlichkeit einen Gerichtshof zu wählen, entweder am kaiserlichen Hof oder vor dem Reichskammergericht, wo sie sich auf die erhobene Klage einlassen wollen; jedoch sollen sie gehalten sein, sich innerhalb dreier Monate vom Tag der Ankündigung des Rechtsstreites an zu erklären, vor welchem Gericht sie sich zu stellen wünschen.
In Absatz 1 wird sowohl das Appellationsprivileg als auch das zukünftige Appellationsgericht geregelt. In Absatz 2, greift man insbesondere die Formulierung „teneantur tamen intra tres menses a die denunciatae litis sese declarare, coram quo iudicio se sistere velint“ heraus, findet sich eine Regelung über das sog. privilegium electionis fori. Ausgehend von diesen beiden Kardinalbestimmungen läßt sich die schwedische Rechtspolitik im Alten Reich leichter nachvollziehen. Die beiden Privilegien zeigen eine gewisse Ambivalenz der verfassungsrechtlichen Stellung der schwedischen Krone innerhalb des Reichsverbandes an: Das Appellationsprivileg indiziert einerseits die Unterstellung unter die gerichtliche Oberhoheit des Reiches; das Elektionsprivileg neutralisiert andererseits diese Reichshoheit durch eine die Souveränität der schwedischen Krone stützenden Autonomie bei der Wahl des obersten Reichsgerichts25. Mohnhaupt bringt diesen Befund 24
Willoweit/Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, München 2003, S. 190. Mohnhaupt, Organisation und Tätigkeit des „Hohen Königlichen Tribunals zu Wismar“, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. 25
III. Der Begriff der „Policey“ in Schweden
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auf den Punkt einer „kombinierenden verfassungsrechtlichen Konstruktion, die einander als ergänzende und komplementäre Einheit zu sehen ist“26.
III. Der Begriff der „Policey“ in Schweden 1. Der Begriff der „Policey“ hat in Schweden – es bleibt hier eindringlich festzuhalten, daß am Oberappellationsgericht in Wismar deutsches Recht anzuwenden war27 –, eine ganz andere rechtshistorische Tradition auf- und vorzuweisen als derjenige des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ein Blick auf Schweden im Wege einer sog. longue durée-Perspektive28 kann jedoch nur den Blickwinkel verschärfen und erscheint insoweit angebracht. Vorweg kann man zugleich das Ergebnis konstatieren, daß es kein „Phänomen“ einer gemeineuropäischen Homogenität des Ereignisses „Policey“ gab. In seiner Abhandlung führt Pär Frohnert zugleich aus, daß der Policeybegriff in Schweden zunächst sporadisch und eher semantisch offen verwendet wurde29. In Schweden wurde das Wort „Policey“, auf schwedisch politi, zum ersten Mal in einem Brief König Gustav Wasas 1538 verwendet30. In der Folgezeit kann man dann von einer gewissen „Popularisierung“ und „Salonfähigkeit“ des Begriffs „Policey“ sprechen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde er zusehends häufiger gebraucht und dabei inhaltlich genauer ausgefüllt, ohne seine ursprüngliche Offenheit abzulegen31. cit. (Fn. 5), S. 215, 219; Pauli, Det Svenska Tyskland – Sveriges tyska besittningar 1648–1815, o. O., 1989, S. 103. 26 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 219. 27 Buchholz, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas – Pommern, Berlin 1999, S. 238. In der mir vorliegenden Ausgabe der Tribunalsordnung von 1739 steht handschriftlich kommentiert folgende Passage in Titel I zu § 1: „Tribunalis locus infra Germaniae fines esses debet, quia civibus germaniis ibi jus dicitur, quoniam id per Leges imperii corroboratum, quod extra germaniam evocari non debeant“. Vgl. Der Königlichen Majestät und Reiche Schweden Hohen Tribunals – Ordnung, von Dem . . . Fürsten und Herr, Herrn Carl Gustaf, Der Schweden, Gothen und Wenden Könige, . . ., Aufgerichtet und zu halten befohlen, Immassen dieselbe publiciret in Wißmar 1657. Stralsund 1739, S. 9. Die Bindung an das Recht des Ortes wurde offensichtlich als „als identitätswahrendes Element eigenständiger tradierter Rechtskultur empfunden und betont“ (so Mohnhaupt, op. cit., S. 222). Das war auch bereits im vertraglichen Text in Art. X, § 12 des IPO fixiert. 28 Braudel, La longue durée, 13 Annales, Paris 1958. 29 Frohnert, Policeybegriff und Policeygesetzgebung im frühmodernen Schweden, in: Stolleis (Hrsg.), Policey im Europa der frühen Neuzeit, Frankfurt 1996, S. 531, 537. 30 Frohnert, op. cit. (Fn. 29), S. 531. 31 Im 17. Jahrhundert wurde gewöhnlich die Form politie, aber auch policey (1643) und policie (1664) benutzt.
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In einem Wörterbuch aus dem Jahre 1773 heißt es bezüglich des Policeybegriffs, das Wort bedeute „die Verwaltung einer Stadt betreffend Ordnung und Sauberkeit“32. In einigen Fällen konnte der Begriff sogar „die Stadtleitung“ bezeichnen; so etwa in einem Text über die Stadt Falun: „die Stadt war mit Rat und Ämtern versorgt, und somit war ihre Policey im Gange und in ihrer passenden Form“33.
In der schwedischen Freiheitszeit von 1718 bis 177234, die wesentlich durch Schwedens neues Rechtsgesetzbuch von 1734 geprägt wurde, wurden „die Sachen, die unter speziell eingerichtete Gerichte gehörten, oder was Ökonomie- und Policey-Verordnungen anbetrifft“, nicht aufgenommen. Der sog. Bestätigungstext zum Gesetzbuch35 spricht sowohl von Ökonomie als auch von Policey in einem Satz. Sjöholm meint, daß die Begriffe in vereinter Benutzung die „zusammenfassende Benennung sämtlicher Gebiete der öffentlichen Verwaltung mit Ausnahme des Gerichtswesens“36 bezweckten. Der Jurist Gabriel Thulin merkt in seiner Arbeit an: „Aber wie der Unterschied zwischen Ökonomie und Policey gezogen werden soll, ist unklar. Deutlich ist jedoch, daß der Policeybegriff gewissermaßen eingeschränkt wird“37.
Nach diesem skizzenhaften Abriß kann man festhalten, daß der schwedische Begriff der „Policey“ eine andere inhaltliche und sprachliche Dichte erfahren hat als im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Er hat das staatspolitische Denken nicht so prägend beeinflußt wie im Alten Reich. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch demzufolge nicht verwunderlich, daß man den Begriff „Policey“ in Schwedens neuer Nationalenzyklopädie vergeblich sucht38.
IV. Verfassungsstruktur im schwedischen Konglomeratstaat Die obigen Skizzierungen zum Appellationsprivileg haben deutlich die Konnexität und die Interdependenzen zwischen der Jurisdiktionsgewalt und dem Territorium gezeigt. Damit zeigt sich das Phänomen der Gesetzgebung 32
Archiv der Svenska akademiens ordboksredaktion (im folgenden: SAOB), Archiv, „politi“: Abraham Magnus Sarlstedt, Svensk ordbok med latinsk uttolkning, Stockholm 1773. 33 SAOB, op. cit. (Fn. 32), „politi“: Bergsordningar, S. 129. 34 Ein vorzüglicher Überblick über die Freiheitszeit findet sich bei: Roberts, The age of liberty. Sweden 1719–1772, Cambridge 1986. 35 Das Gesetz trat am 1.9.1736 in Kraft. 36 Sjöholm, Om politimakten och dess begränsningar, Stockholm 1964, S. 25. 37 Thulin, Om konungens ekonomiska lagstiftning. Studie i svensk statsrätt, Lund 1890, S. 189. 38 So Frohnert, op. cit. (Fn. 29), S. 531, 574.
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als herrschaftliches Steuerungs- und Ordnungselement. Dies ist besonders deutlich von Bodin herausgestellt worden, der konstatierte, daß die „puissance de donner loy à tous en general“ zur „première marque du prince souverain“39 gehört. Die Rechtsprechung umfaßte vor der Trennung der beiden Hoheitsfunktionen Jurisdiktion und Exekutive ursprünglich auch gesetzgeberische Maßnahmen. Dieses Faktum ist in der sog. Statutendoktrin mehrfach festgelegt worden: „. . . statua condere est iurisdictionis: quia statuit, qui ius dicit . . .“40. Das Recht zur Gesetzgebung war ein integraler Bestandteil der dem Souverän zustehenden höchsten Gerichtsbarkeit. Das hatte die Glosse zum Sachsenspiegel bereits erläutert, wenn es dort heißt: „. . . auch magst du hie sehen, daß alle Herrschaft allein daher kommt, daß man über Leute zu richten hat . . .“41. Damit läßt sich konstatieren, daß die Gerichtsstruktur in den deutschen Lehen der schwedischen Krone von der spätrömischen Devise des „Suum cuique tribuere“ charakterisiert wurde. Die Gerichtsbarkeit war sowohl eine Frage der politischen wie rechtlichen Macht42 (dahinter steckt das sog. „territorium et iurisdictio-Prinzip“43). Die „territorialisation des pouvoirs“44, die eine Identität der Jurisdiktionsgewalt und des sog. „dominus terrae“ beinhalten, bestimmten nicht nur die Gerichtsbarkeit des Reiches45 sowie die Position der Territorialgewalten und ihrer Jurisdiktionsrechte innerhalb des Reichsverbandes. Das gilt namentlich für die souveräne schwedische Krone in ihrer Doppelrolle als Gerichtsherr und Reichsstand des Reiches und im Reich vor dem Hintergrund der ihr durch den Westfälischen Friedensschluß 1648 übertragenen Rechtspositionen46. Der erste Vize-Präsident am Summum Tribunal war der bekannte David Mevius47. 39 Bodin, Six livres de la république, 3. Edition, Paris 1578, S. 161 (livre I, chapitre X). 40 Baldus, Com. ad Dig. 1.1.9 (lex „omnes populi“), Nr. 9. 41 Glosse zum Sachsenspiegel, Landrecht III, Art. 52, hier zitiert nach: Hamel, Deutsches Staatsrecht I – Grundbegriffe, Berlin 1971, S. 18. 42 Modéer, Die Gerichtsstruktur in den deutschen Lehen der schwedischen Krone, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. cit. (Fn. 5), S. 123; ders., Unter dem schwedischen Zepter, in: Recht und Sprache, hrsg. von Jörn Eckert; Hans Hattenhauer, Sprache – Recht-Geschichte, Rechtshistorisches Kolloquium, Heidelberg 1991. S. 213 ff. 43 Hierzu näher: Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Wien 1975. 44 Hespanha, L’espace politique dans l’Ancien Régime, Coimbra 1983, S. 30. 45 Vgl. Ausführungen in Kapitel § 3. 46 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 216 f. 47 Als David Mevius als erster die Direction der Gerichtlichen Händel bey dem Gericht und dessen Cantzley am 17. Mai 1653 übernahm, bezog er sich in seiner Rede ausdrücklich auf das privilegium de non appellando. In seinem Werk „De Ju-
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Bezüglich des Verhältnisses des Tribunals zu der Verfassungsstruktur des Alten Reiches sei noch auf die Jubiläumsrede48 von Hermann Heinrich von Engelbrecht49 aus dem Jahre 1753 verwiesen, in der er betonte, welche Berisdictione summi tribunalis regii“ bezeichnete er das erteilte Appellationsprivileg als Grundgesetz: „Haec est lex fundamentalis Tribunalis Regii orta ex conventione Pacis Publicae, autoritate Caesaris et consensu Ordinum corroborata, inter Pragmaticas Imperii Romano Germanici sanctiones per idem Instrumentum Pacis relata, Fundamentalibus Imperii legibus accensita . . .“ (vgl. Mevius, Jurisdictionis Summi Tribunalis Regii, quod est Vismariae . . ., editio tertia, Francofurti et Stralsundi 1681, sine pagina (S. IV)). Zur Familiengeschichte David Mevius’: vgl. neuerdings Servorum Dei Gaudium. Das ist Treuer Gottes Knechte Freuden = Lohn. Lebensbeschreibungen aus dem Umfeld des Wismarer Tribunals, hrsg. von Nils Jörn (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, 3), Greifswald 2003. Zu Leben und Werk des Mevius: von Balthasar, Monumentum aeternae memoriae Davidis Mevii, Wismariae 1770; Barkow, De Davide Mevio naratio, Greifswald 1856; Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 2. Abt., München–Leipzig 1884, S. 124–139; Molitor, Mevius, in: Die Greifswalder Juristenfakultät, in: Festschrift zur 500-Jahr-Feier der Universität Greifswald, II, Greifswald 1956, S. 6 ff.; Köhler/Sellert, David Mevius, in: HRG, III, Berlin 1984, col. 533–535; Jägerskjöld, David Mevius, in: SBL (Svenskt Biografiskt Leksikon), XXV, Stockholm 1985, S. 454–456; Buchholz, Mevius, in: NDB (Neue Deutsche Biographie), XVII, Berlin 1994, S. 281–283. Von den einzelnen Lebensstationen handeln bezüglich Greifswald: Seth, Universitetet i Greifswald och dess ställning i svensk kulturpolitik 1637–1815, Uppsala 1952; bezüglich Wismar: Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege, Berlin 1953, S. 26, 298, 302 f., 307, 423. Zu einzelnen Aspekten seines Werkes: Molitor, Der Entwurf eines mecklenburgischen Landrechts von David Mevius, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 61/1941, S. 208–233; Knothe, Zur Entwicklung der Gutswirtschaft im deutschen Ostseeraum im Spiegel von Mevius’ Abhandlung über die „Bauersleute“, in: Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum. Erster Rechtshistorikertag im Ostseeraum, hrsg. von J. Eckert, K. Å. Modéer (Rechtshistorische Reihe, 251), Frankfurt 2002, S. 237–274; Jägerskjöld, Studier rör receptionen främmande rätt i Sverige under den yngre landslagens tid, Stockholm 1963; ders., Utländsk juridiske literatur i svensk juristbibliotek fran tiden före ar 1734, Lund 1965. 48 Die Rede findet sich mit einem kommentierten Fußnotenapparat in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. cit. (Fn. 5), S. 29–38. 49 Engelbrecht, Observationem selectiorum forensium maximam partem accessionum ad Mevii opus decisionum specimen, Wismariae et Lipsiae 1748. Hermann Heinrich von Engelbrecht (27.7.1709 in Greifswald – 4.9.1760 in Wismar) wurde als Sohn des Hofgerichtsassessors Hermann Christoph Engelbrecht geboren. Nach dem frühen Tod beider Eltern wuchs er bei seinem Großvater, dem Tribunalsassessor Albert Heinrich Hagemeister, in Wismar auf. Nach Studien in Greifswald, Halle, Leipzig, Jena und Helmstedt trat er seinen Dienst als Hofmeister bei der schwedischen Grafenfamilie Bielke in Lund an, den er fünf Jahre versah. 1737 promovierte er in Greifswald zum Dr. iur., 1737 wurde Professor an der Juristischen Fakultät der Greifswalder Universität, bald darauf Assessor am dortigen Konsistorium, dessen Vorsitz er 1744 übernahm. Im Jahre 1745 wurde er von der Pommerschen Ritterschaft als Assessor an das Wismarer Tribunal präsentiert und
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freiung es für die Pommern war, daß sie nicht länger nach Wetzlar mit ihren Rechtskonflikten fahren müßten. Es war befreiend, daß sie nicht mehr durch die „Anwendungen und Einmischung frembder Rechte ersticket, sich durch die Römische Spitzfindigkeiten überwältigt, die frembden Richter besser als jene bekannt“50. Zudem wurde es weiterhin als befreiend empfunden, daß die schwedische Krone das Tribunal errichtete, mit von den Ständen vorgeschlagenen Richtern, „zu deren Redlichkeit und Geschicklichkeit sie ein Vertrauen hegen und die des Vaterlandes Rechte kennen. Wann alles mit wenigern Kosten und in kurtzer Zeit abgerichtet wird, wann Sie einreißende Mängel bey zeiten Selbst ablehnen helfen können“51. Die Jubiläumsrede wurde mit den Worten und der Hoffnung geschlossen, daß „der Allerhöchste seien und seiner Nachfolger Hertzen und Triebe dergestalt lencken“ wolle, daß „nach hundert Jahren von uns und ihnen ohne Schmeicheley gesagt werde, was ich mit Überzeugung von unsern Vorfahren sagen können“52.
Umstritten war auch im Rahmen der Verfassungsstruktur der schwedischen Reichslehen die Frage, ob Appellationen53 gegen Entscheidungen der schwedischen Landesregierungen für zulässig zu erachten waren. Damit zeichnet sich die bereits skizzierte Rechtssituation im „Sacrum Imperium“ auch auf der Ebene der schwedischen Konglomeratstaaten ab. Auch hier zeigt sich der klassische Konflikt zwischen der staatlich-monarwirkte in diesem Amt bis zum Tode des Vizepräsidenten Samuel von Palthen, dessen Stelle er seit 1750 bis zu seinem eigenen Tode im Jahre 1760 einnahm. Engelbrecht trat wissenschaftlich durch seine Beschäftigung mit der Reichsgeschichte und der pommerschen Landesgeschichte hervor und knüpfte am Tribunal an das Wirken David Mevius’ an. Wie sein berühmter Vorgänger gab er kommentierte Urteilssammlungen des Tribunals heraus und sorgte dafür, die Arbeit des Gerichtshofes reichsweit populär zu machen. Vgl. Jörn, 100 Jahre Wismarer Tribunal, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (Fn. 450), S. 29, Fn. 2 und ders., Christian von Nettelbla – Augustin von Balthasar – Hermann Heinrich von Engelbrecht. Kollegen, Konkurrenten, Gelehrte von europäischem Rang?, in: Juristische Fakultäten und Juristenausbildung im Ostseeraum. Papiere des Zweiten Rechtshistorikertages im Ostseeraumes, hrsg. von Jörn Eckert, Kjell Å. Modéer, Frankfurt 2003. 50 Zitiert nach: Modéer, 350 Jahre Wismarer Tribunal, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. cit. (Fn. 5), S. 1, 3. 51 Zitat nach: Modéer, op. cit. (Fn. 50), S. 1, 3. 52 Zitat nach: Modéer, op. cit. (Fn. 50), S. 1, 3. 53 F. Thudichum zählt auf S. 209 ff. Fälle auf, in denen Landstände von Reichsfürsten, die das „privilegium de non appellando“ besaßen, ihren Landesherrn vor Reichshofrat oder Reichskammergericht verklagen durften (vgl. Thudichum, Das vormalige Reichskammergericht, in: Reichsfürsten, Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft, 1861, S. 209 ff.). Vor allem gegen die Einführung und Erhebung neuer Steuern konnte, wenn sie ohne Zustimmung der Landstände vom Landesherrn einseitig durchgeführt wurden, trotz des Appellationsprivilegs jederzeit vor den höchsten Reichsgerichten Klage geführt werden (So auch Eisenhardt, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 14), S. 26 f., 57).
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chischen Souveränität auf der einen Seite und der Rechtesicherung54 der Stände55 unter dem Blickwinkel der „iura quaesita“ auf der anderen Seite. Die schwedische Regierung verbot Appellationen56 an das Tribunal gegen sog. Gouvernements-Entscheidungen57. Die sog. „simplex querela“ an die Reichsregierung in Stockholm sollte jedoch weiterhin möglich sein58. Auch in den schwedischen Gebieten des Alten Reiches zeigte sich wie auf der Reichsebene der typisch politische Zündstoff des dualistisch geprägten Ständestaates59. Diese Spannungen zeugen jedoch zugleich von einem le54 Exempli gratia sei in diesem Zusammenhang auf folgendes verwiesen: Im Herbst 1653 berichtete die Landesregierung von Bremen-Verden über einen Prozeß zwischen freien Ständen und Marschländern des Herzogtums Bremen vor dem RKG, den die Regierung durch das Tribunal entscheiden lassen wollte. Die Prozeßparteien wehrten sich dagegen und bestanden auf der Entscheidung vor dem RKG. Landesregierung und Tribunal setzten sich jedoch schließlich durch (NStaaSt, Rep. 5a, Fach 74, Nr. 20; Rep. 5a, Fach 95, Nr. 3). Am 10.5.1655 befahl Carl X. Gustaf seinen Landesregierungen in Stade und Stettin, alle Fälle, die vor dem Westfälischen Frieden an die obersten Reichsgerichte getragen wurden, vor das Wismarer Tribunal zu ziehen (LAG, Rep. 40, VI, 10). In den ersten Jahren des Bestehens des Tribunals gab es immer wieder Versuche einzelner Parteien, gegen vom Tribunal gefällte Urteile an das RGK zu appellieren. Diese wurden jedoch durch die schwedische Krone durch Proteste an das RKG mit Hinweis auf die Ergebnisse des Westfälischen Frieden unterbunden (RAS, Wismariensia 1). 55 So polemisiert ein Pommerscher Untertan namens Johann Erich Breitsprecher in einer Eingabe vom 9. August 1794 scharf gegen die Leibeigenschaft in Pommern und fordert deren Aufhebung (RAS, Pommeranica 271). Die Eingabe ist sprachlich in einer solchen Schärfe abgefaßt, daß der damalige schwedische Außenstaatssekretär Nils Bark an den König schreibt: „S. K. M. will in Gnaden die untertänige Äußerung Ihrer Pommerschen Regierung darüber einholen, ob es sich wirklich so verhält, wie der Suchende betr. die Einziehung der Bauerndörfer anführt und wie solches künftig verhütet werden kann. Schloß Stockholm am 13. Februar 1795. Gemäß allerhöchsten Befehls – NILS BARK“. – Der Originaltext lautet: „Kongl. Maj:t vill i Nåder hafva inhämtat Dess Pomerska Regerings underdaniga yttrande om det sig värkel. Så förholler som sökanden anfört i anseende til bondbyarnas indragning samt på hvad sätt sådant för en framtid kunde förekommas. Stockholms Slott den 13. Februarii 1795. På Nådigste Befallning – NILS BARK“. 56 Tatsächlich ließ das „privilegium de non appellando“ die Klage gegen den Landesherrn vor den höchsten Reichsgerichten grundsätzlich zu. In Fällen von „iustitia denegata vel protracta“ sowie bei erfolgreicher Nullitätsbeschwerde hatte jeder Reichsangehörige die Möglichkeit, Klage vor den höchsten Reichsgerichten zu führen. Eine Ausnahme machten lediglich die Untertanen der habsburgischen Erbländer. Vgl. Buchholz, Schwedisch-Pommern als Territorium des deutschen Reichs 1648–1806, in: ZNR 1990, S. 14, 16 Fn. 5. 57 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 227. 58 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 227. 59 Im Osnabrücker Friedensvertrag (X, 16) hatte die schwedische Krone sich gegenüber den Ständen und Untertanen der abgetretenen Gerichte verpflichtet, ihnen bei der Huldigung „competentem eorum libertatem, bona, iura et privilegia communia et peculiaria, legitime acquisita vel longo usu obtenta“ zu konfirmieren.
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bendigen Kommunikationssystem „Altes Reich“60. Darüber hinaus dokumentieren sich auch die Interdependenzen zwischen Reichsintegration und Ostseeraumintegration61. Die Stände62 nutzten in diesem Kontext oft geschickt die ältere Bedeutung des Begriffs „Jurisdiktion“ aus, wonach die Tätigkeit der Verwaltungsund Gerichtsbehörde nicht streng geschieden und die Ausübung der „iura ducalia“ mit einbezogen war63 64. Interessante Aufschlüsse zu dem soeben angesprochenen Problemkreis liefert die Korrespondenz des Geheimen Ausschusses des schwedischen Reichstags von 1723. Dort heißt es: „. . . wir betrachten es als Pommerns sicherste Verteidigung, das Land dem Schutz Seiner Kaiserlichen Majestät sowie der Gesetze und Verfassungen des deutschen Reichs zu unterstellen. Diese Gesetze und Verfassungen sind zum Schutz sämt60 Diese Sprachschöpfung geht auf Michael North zurück. Vgl. North, Integration im Ostseeraum und im Heiligen Römischen Reich, in: Jörn/North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, Köln 2000, S. 1, 11. 61 North, op. cit. (Fn. 60), S. 1, 5. 62 Die Landstände Schwedisch-Pommerns drohten in finanzpolitischen Auseinandersetzungen mit ihrem Landesherrn, der schwedischen Krone, häufig mit einer eventuellen Klage vor den Reichsgerichten, zuletzt ließen sie nicht 1799 durch ihren Syndikus eine umfangreiche Klageschrift gegen die damals geplanten Steuerreformen aufsetzen (vgl. Stadtarchiv Stralsund, Rep 13, Nr. 1660). Zu den genauen Hintergründen der juristischen Auseinandersetzung: Vgl. Jörn, Die Auseinandersetzungen zwischen den schwedisch-pommerschen Ständen und ihrem Landesherrn wegen der Veränderung der Landesmatrikel 1799–1801, in: Geographische und Historische Beiträge zur Landeskunde Pommerns, Eginhard Wegner zum 80. Geburtstag, hrsg. von I. Asmus, H. T. Porada, D. Schleinert, Schwerin 1998, S. 160–165. 63 In diesem Sinne: Back, Die Stände in Schwedisch-Pommern im späten 17. und 18. Jahrhundert, in: Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Dietrich Gerhard, Göttingen 1969, S. 120, 125. 64 In einem Supplement aus dem Jahre 1692 zur Tribunalsordnung wurde bestimmt, daß das Gericht nicht unnötig Berufungsklagen gegen Beschlüsse der Regierung in Fragen, die zu den „iura ducalia“ gehörten, gestatten sollte. Politische Sachen sollten nur dann vom Tribunal entschieden werden, wenn privatrechtliche Fragen hineinspielten. Die Stände erkannten diese Zusätze niemals an und betrachteten sie als eine Kränkung des „uralten Rechtes“ und der Stellung, die das Tribunal als Eckstein der pommerschen Verfassung erlangt hatte. 1721 sah sich der Herzog gezwungen, das Scheitern seiner Absicht zuzugeben, auch formal kehrte man aufs alte Gleis zurück (vgl. Back, op. cit. (Fn. 63), S. 120, 127. Thomas Heinrich Gadebusch wies 1786 in seiner berühmten Schwedisch-Pommerschen Staatskunde mit Nachdruck darauf hin, daß „nach des Landes Privilegien und Fundamentalsatzungen . . . zu allen Sachen von Wichtigkeit, worauf des Landes Wohl- und Übelstand“ beruhe, „der Stände Mitwissen, Rath und Beystimmung“ erforderlich sei (RAS, Gadebuschka samlingen 1, S. 350 ff.).
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licher Reichsstände sowie zur Konservation von Recht, Frieden und Wohlfahrt geschaffen: Es darf daher wohl mit Recht angenommen werden, daß sich die reichsväterliche Fürsorge des Kaisers in allen vorkommenden wichtigen Angelegenheiten auf das schwedische Vorpommern wie auf die anderen deutschen Reichsfürstentümer erstreckt“65.
Der Geheime Ausschuß legte dezidiert gegenüber dem König und Reichsrat dar, daß seine Richtlinien peinlichst genau zu beachten seien66. Gerade in dem politischen Agieren der Preußen nach dem Nordischen Krieg, der zugleich die schwedische Großmachstellung erheblich minimierte, sah der Geheime Ausschuß des Reichstags von 1726/27 eine nicht zu unterschätzende Bedrohung: „Von dem König in Preußen kann man nichts anderes vermuten, als daß er Schwedens augenblickliche Schwäche gern sieht, da wir nunmehr desto weniger imstande sind, seine unbillige Gier auf Stralsund und den dazugehörigen Teil Pommerns in die Schranken zu weisen“67.
Vorpommern wurde seit 1720 in permanenter Gefahr vor einer Invasion durch preußische Truppen gesehen: „Einmal könnte es den König in Preußen danach gelüsten, das Land und die Festung (Stralsund) anzugreifen“68. Weiterhin ist im Rahmen des Verfassungsstruktur im schwedischen Konglomeratstaat der (verfassungsrechtlichen) Stellung und Position des Sum65 Geheime Denkschrift des Geheimen Ausschusses an den Reichsrat, den 23. April 1723, gedruckt in: Svenska Riksdagsakter, Andra Serien, Första Delen (SRA II: 1). 66 Vgl. Malmström, Sverige politiska historia, I, S. 233: „Alle Angelegenheiten, die der Geheime Ausschuß König und Reichsrat vorlegte, sollten gültig und bindend sein“. 67 Übersetzung aus: SU: s var på KM: s sekreta proposition beträffande utrikesärenden med betänkande angående Sveriges stellning till främmande makter samt med fram-hållande af tysthetens vikt . . . och med underrättelsen om tillvaron af ett hemligt direktiv (sekreta bihang) för utrikespolitiken. Stockholm, den 4. (15.) August 1727 (= Verbindliche Stellungnahme des Geheimen Ausschusses auf die geheime Reichstagsproposition von König und Reichsrat, die Außenangelegenheiten betreffend, mit einem Gutachten über Schwedens Beziehungen zu auswärtigen Mächten sowie mit nachdrücklichem Hinweis auf die Bedeutung der Geheimhaltung mit Bestimmungen über die Arbeit in der Geheimen Kommission und mit Information über eine geheime Direktive (Geheimer Anhang) zur Außenpolitik, gedruckt in: T. Westrin (Hrsg.), Svenska riksdagsakter, 2:a delen, 1913: „Om konungen i Preussen kann man sig ingen annan tanka giöra, än att han Sveriges rikes närvarande försvagade tillständ giärna ser, emedan det således destomindre förmår att stäcka hans oskiälige begiärelse till Stralsund och den dertill hörande öfrige delen af Pommern . . .“ (SRA II: 2, 531–532). 68 Westrin, op. cit. (Fn. 67), SRA II: 1, 194 (Gutachten des Geheimen Ausschusses, betreffend die Zusammenziehung preußischer Truppen in Stettin und Möglichkeiten, die daraus sich ergebende Gefahr für Schwedisch-Pommern abzuwehren): „SU ang en tillärnad sammandragning af preussiska trupper till Stettin och utvägar att afvärja den möjliga faran däraf för Svenska Pommern. 23. April 1723.“.
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mum Tribunal in Wismar besondere Beachtung zu schenken. In diesem Kontext bietet sich die Analyse einer anonymen Streitschrift aus dem Jahre 1772 mit dem Titel „Til Författaren af Berättelsen om Pommern“ (dt.: „An den Verfasser des Berichtes über Pommern“)69 an. „Gegen alle Beeinträchtigung ihrer Rechte suchen die Landstände per appellationem Schutz beim Königlichen Tribunal. Das Königl. Tribunal ist das höchste Justiz-Kollegium in Pommern. Seine Einrichtung wurde im Westfälischen Frieden verfügt und das der Provinz zugelegte Ius de non appellando wird durch das Tribunal ausgeübt. Das Tribunal ist anstelle der Gerichte des Deutschen Reichs eingerichtet, und sein Ansehen ist größer als das Ansehen der Tribunale der übrigen deutschen Fürsten. Es übt omnimodam Iurisdictionem aus. Alle Sachen und Personen gehören unter diese höchste Instanz; und alle Angelegenheiten, die per appellationem an dieses Gericht kommen, werden von dem selben so abgeurteilt, daß selbst der Landesherr seine Beschlüsse nicht abändern kann. Alle Verordnungen der Königlichen Regierung sind der Untersuchung und der Aburteilung dieses Höchsten Gerichts unterworfen, in dem Falle eine Appellation interponiert wird. Aus diesem Grunde verkündet das Königliche Tribunal seine Dekrete im Hohen Namen seiner Königlichen Majestät, und es ist der einzige und der letzte Zufluchtsort für das ganze Land und alle einzelnen Einwohner, sofern denselben irgendeine Art von Unrecht widerfahren sollte. Selbst wenn der Landesherr irgendwelche Befehle oder Verordnungen erteilt, von denen die Landstände oder Landeseinwohner der Ansicht sind, das sie ihnen zu nahe treten, können sie darüber eine Beschwerde beim Königl. Tribunal anhängig machen und dort suspensiva bewirken, bis das das Königl. Tribunal über die Beschwerde geurteilt und sie behoben hat. Die Autorität dieses höchsten Gerichts gründet sich auf den Westfälischen Frieden, und die Hohen Mächte, die diesen Frieden garantiert haben, werden gemeinsam mit dem Kaiser und dem Deutschen Reich dasselbe verteidigen, im Falle, daß der Autorität und Universellen Jurisdiktion dieses hohen Gerichts in irgendeiner Weise zu nahe getreten würde. Die hochlöblichen Stände des Schwedischen Reichs haben anläßlich des 1769er Reichstags auf die rechtfertigste Weise die Hoheit und das Ansehen dieses höchsten Gerichts garantiert“70.
In diesen Zusammenhang paßt auch vorzüglich die Publikation des nach Schweden ausgewanderten Rüganers Johann Friedrich Krüger, der 1737 die „Vortrefflichkeit des schwedischen Staats“71 rühmte. Er schreibt folgendes Statement: „Es wird ja den Teutschen fast in keinem Lande besser begegnet als in Schweden . . . Viele 1000. Teutsche haben in allen Ständen und Professionen ihr reichliches 69 Zwecks eines besseren Verständnisses sei angemerkt, daß es sich bei dieser Schrift um eine Replik auf die Schrift „Berättelse, Om Pommern“ (dt.: Bericht über Pommern) aus dem Jahre 1771 handelt. 70 Anonym, Berrätelse, Om Pommern, Stockholm 1771 (unpaginiert). 71 So Önnerfors, Deutsche und schwedische Rechtskultur im zeitgenössischen Vergleich, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. cit. (Fn. 5), S. 139, 142.
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Brod hier in Schweden gefunden: Viele von Ihnen sind aus dem Staube erhoben und unter die Fürsten des Reiches gesetzet worden . . . Manche vornehme Familie hat ihren Ursprung aus Teutschland und einige 1000. Teutsche befinden sich noch heutiges Tages unter dem löblichen Schwedischen Zepter. Man sage mir doch, welche Nation sich rühmen könne, sich so um die Teutschen meritirt gemacht zu haben“72.
Im Anschluß daran versucht Krüger die Vorzüge der schwedischen Rechtskultur argumentativ mit affirmativer Volte dergestalt zu unterstützen, daß er ausführt, „sie (damit sind die Gesetze und jeweiligen Prozeßordnungen gemeint – C. S.) sind mit solcher Deutlichkeit geschrieben, daß auch Bauren, welche nicht sehr einfältig sind, solche verstehen können“. Weitergehend führt er unter Bezugnahme auf das Sveriges Rikes Lag aus dem Jahre 1734 aus, daß „ein jeder der nur seinen gesunden natürlichen Verstand hat, dieselben zur Genüge verstehen kann“73. Die o. g. Ausführungen haben gezeigt, daß sich das Tribunal – wie Backhaus vor kurzem äußerst treffend formuliert hat –, „im Spannungsfeld zwischen Schweden, dem Alten Reich und provinzialer Autonomie bewegte“74 und der ständige Kampf um die Appellation die Gerichtsstruktur der hier in Frage stehenden Teile des Ostseeraums prägte. Als es gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu immer schärferen Auseinandersetzungen und Dissonanzen zwischen dem schwedischen König und den Landständen kam, wurde in Stockholm das Tribunal als das „Zentrum ständischer Unbotmäßigkeiten“75 betrachtet. Um das Oberappellationsgericht als Instrumentum der Landstände gegen königliche Ansprüche zu entschärfen, begann König Gustav IV. Adolf, die leitenden Stellen mit ihm ergebenen Personen zu besetzen. Hierzu bot sich natürlich der Posten des Präsidenten an, der mit einer Person schwedischer Staatsangehörigkeit besetzt sein mußte. Der damalige Präsident, Freiherr Thure Leonhardt Klinckowström, erhielt 1799 sogar seinen Abschied. Dies war insofern ungewöhnlich, als daß die Präsidenten bis zu ihrem Tod im Amt blieben oder in höchste Reichsämter berufen wurden. Nachfolger wurde der bereits erwähnte Nils Bark76, bis dato Außenstaatssekretär und ein recht enger Ver72 Krüger, Untersuchung des Temperaments einer gantzen Nation, oder angestellte Probe über Herrn Joh. George Walchens weltberühmten Doctoris und Professoris Theologiae Primarii auf der Academie Jena. Ungegründete Beurtheilung des Naturells der Völcker vorjetzt mit dem Exempel der Schwedischen Nation, Stockholm–Uppsala 1737, S. 240. 73 Krüger, op. cit. (Fn. 72), S. 241 ff. 74 Backhaus, Pommern in der Schwedenzeit – Über die Rahmenbedingungen für das Tribunal, in: Intergration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1806), op. cit. (Fn. 5), S. 43, 49. 75 Buchholz, op. cit. (Fn. 56), S. 14, 31.
V. Inhalt der Wismarer Tribunalsordnung
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trauter des Königs. Unter der Ägide von Bark mutierte das Tribunal zu einem willfährigen Instrument des Königs.
V. Inhalt der Wismarer Tribunalsordnung unter dem Blickwinkel „Justiz“ und „Policey“ und „Effektivität des Rechtsschutzes“ 1. Eingangs bleibt festzuhalten, daß die Tribunalsordnung – genauso wie die Reichskammergerichtsordnung77 – keinen Passus enthielt, aus dem sich in glasklarer Schärfe die genaue Trennung zwischen „Justiz“ und „Polizei“ ableiten ließe. Somit erwies sich der Problemkanon auch vor dem Summum Tribunal als mit dem vor dem Reichskammergericht kongruent78. Aufschlüsse kann die Tribunalsordnung aber über Grundsätze zur Prozeßbeschleunigung und des effektiven Rechtsschutzes liefern. 2. Die Bestätigung der Wismarer Tribunalsordnung79 erfolgte am 30. September 1656 seitens des Königs. Im gleichen Jahr erfolgte die Publikation durch Drucklegung. In der Tribunalsordnung erfolgte die gesetzliche Festlegung der materiellrechtlichen Entscheidungsgrundlagen, welche zugleich das sog. Rechtsquellengattungstrias80 widerspiegelt. Es heißt nämlich im 1. Theil, Titel V, § 3: „Die Assessores gleichwie der Praesident und Vice-Praesident, sollen im decretiren, Sprechen und Urtheilen ihre reflexion haben, auf die gemeine beschriebene Rechte, des Heiligen Reichs, und eines jeglichen Hertzog-Fürstenthumbs, Herrschaft und Landes, daraus die Sache kompt, vernünftige Constitutiones und Abscheide, wie auch gute ehrbare Ordnung, Statuta und rechtliche beständige Privilegia, Willkühr und Gewohnheiten, so fern die für Sie gebraucht und Ihnen Kund gemacht“81. 76
Vgl. Fn. 55. Vide supra § 3. 78 F. U. Mehlen, op. cit. (Fn. 18) verweist darauf, daß „in einer Policey-Contribution und andern Steuer-Sachen gesprochenen Urtheln nicht appelliret werden kann, ausser, wenn dabey von Jemandes Privat-Rechten die Frage ist“ (S. 95). 79 Die mir vorliegende glossierte Tribunals – Ordnung in der Ausgabe Greifswald und Stralsund 1739 enthält ein eingeklebtes Ex libris „Ex Bibliotheca Summi Regii Tribunalis“ und wurde vom Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte unter der Leitung von Prof. Dr. H. Coing im Jahre 1969 antiquarisch erworben. Mohnhaupt spricht die Vermutung aus, daß der Band offensichtlich aus Gründen der Devisenbeschaffung von der DDR auf dem westlichen Markt verkauft wurde“ (vgl. Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 234. 80 Darunter sind die Gesetzgebung, Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft zu subsumieren. 81 Tribunalsordnung, op. cit. (Fn. 79), S. 14. 77
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3. Inhaltlich gesehen hat die Tribunalsordnung des Summum Tribunal in Wismar folgende interessante Bestimmungen zum Bereich „Prozeßbeschleunigung“ aufzuweisen: So wurden die Prokuratoren in § 16 XII ermahnt, sie sollten „in ihren mündlichen Recessen und Vorträgen sich der kürtze befleissigen . . . und so sie etwas weitläufiges vorzubringen hätten, dasselbe, wofern allein die Beschleunigung des Processes kein anders erfordert, welches zu des Gerichts Arbitrirung und Erkäntnis stehet, in Schrifften thun, und sich alles unförmlichen recessierens, wie auch des mündlichen Vortrages, so die Haupt-Sache und deren Materialia betriff, bey willkührlicher Straffe enthalten, keine Citationes und Compulsoriales, Inhibitiones, Mandata, Promotoriales und andere dergleichen Processe . . . nicht mündlich, sondern durch schriftliche Supplicationes suchen, alles, was zugleich Hauptsächlich oder in einem Haubt-Punct zu handeln, zusammen in ein Produkt thun . . .“82 83.
Auch das rechtsprechende Personal hat sich die für die Prozeßparteien aufgestellten Maxime zu eigen gemacht. Dies läßt sich wie folgt bestätigen: Der Umfang der einzelnen Akten ist sehr viel geringer als derjenige der Akten des Reichskammergerichts. So hat beispielsweise eine Mecklenburger RKG-Akte im Durchschnitt einen Umfang von etwa 5 cm, eine Akte aus dem Wismarer Tribunalsbestand aber nur 1,5 cm. Die von Jörn84 besorgte Auswertung der Assessorenvoten, deren vollständiger Bestand für die Zeit zwischen 1759 und 1815 sich im Landesarchiv Greifswald befindet, hat in puncto Akzeptanz der Urteile bei den Parteien folgendes Bild ergeben: Bei Entscheidungen mit politischem Hintergrund wurden die Urteile von Seiten der Assessoren schnell und sachverständig gefällt; die so gefällten Entscheidungen wurden anerkannt und umgesetzt. Auf diese Weise erwarb sich das Tribunal eine große Kompetenz und Anerkennung. In der Tat sind keine Beschwerden über das Wirken einzelner Assessoren am Tribunal überliefert, wie man sie etwa für das RKG findet85. Gerade in politischen 82
Tribunalsordnung, op. cit. (Fn. 79), XII § 16. In einem anderen historischen Zusammenhang kommt einem die Erinnerung an eine Stelle in dem Rhetorik-Werk von Aristoteles. Dort wird sich primär gegen das unsachliche, persuasive Reden vor Gericht gewendet, auch gegen die Verwendung gleicher Technik bei Volksreden und bei Gerichtsreden. 84 Jörn, Gerichtstätigkeit, personelle Strukturen und politisch relevante Rechtsprechung am Wismarer Tribunal 1653–1815, in: Prozeßakten als Quelle – Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, hrsg. von A. Baumann, S. Westphal, S. Wendehorst, S. Ehrenpreis, Köln 2001, S. 219, 249. 85 Vgl. Jörn, Familienbeziehungen am Tribunal – Probleme und Chancen, in: Gemeinsame Bekannte. Schweden und Deutschland in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Helmut Backhaus, hrsg. von Ivo Asmus, Heiko Droste, Jens E. Olesen, Berlin– London 2003. 83
V. Inhalt der Wismarer Tribunalsordnung
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Prozessen, darunter faßt man nach dem von Ranieri für das RKG vorgelegten Schema86 Fälle, in denen die (schwedische) Krone, die jeweiligen Landesregierungen oder die Stände teilweise bzw. insgesamt als Partei auftraten und sich über die Erhöhung oder Neufestlegung von Steuern, die Grenzen der Autorität des Tribunals oder anderer grundlegender Rechte einer der beteiligten Parteien auseinandersetzen87, kam die skizzierte Sachverständigkeit der Assessoren zum Vorschein. Auch die einzige Visitation88 stellte dem Personal ein positives Zeugnis aus89. Zudem ist im Zusammenhang mit dem Kanon der Prozeßbeschleunigung und effektiven Prozeßförderung einer Eingabe des Vizepräsidenten Lillienstedt an den König besondere Beachtung zu schenken. In ihr gibt der Vizepräsident allein den Advokaten die Schuld an den „langweiligen Prozeßerledigungen“, da durch die den Prozeß verzögernden Maßnahmen der Advokaten nur zusätzliche Gebühreneinnahmen erstrebt und unnötige Kosten mutwillig verursacht würden. Wenn die Gesetze klar seien, dürften „Keinerley Rechts-Gelehrten Meinungen, Exempla, Gewohnheiten oder Praejudicata zur Seiten gesetzet oder attendiret werden“. Die jeweiligen Prozesse 86 Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption, Köln 1985, S. 493 ff. 87 Jörn, Stand und Aufgaben bei der Erforschung der Geschichte des Wismarer Tribunals, in: N. Jörn, M. North, op. cit. (Fn. 60), S. 235, 244. 88 Zwar gibt es im Zusammenhang mit der Visitation des Tribunals folgende Instruktion von Karl X. vom 14. April 1688 für die Arbeit der Visitationskommission: Demnach wir hochnöthig erachten, daß die zwischen unserem Tribunal und beiden Regierungen unser deutschen Provincen bisher entstandenen vielfältigen Differentien und Irrungen, woraus nicht geringe Inconvenientien undt Angelegenheiten, Verabsäumung und Hinderungen unserer Angelegenheit und Diensten, Zerüttung des gemeinen Wesens in besagten Unseren Provincen, wie nicht weniger unanstendliche Ärgernisse sowohl bey den Unterthanen als Nachbarn sich häuffig hervorthun wollen, forderlich remediret und aus dem Grunde weggeräumet und abgethan werden mögen“ (StaG, Rep. 5, Nr. 210). In einer späteren Instruktion an de la Gardie vom 9. May wurde folgendes festgelegt: „Weilen verschiedene Missverständnisse und Irrungen zwischen Tribunal und beyden Regierungen, sowol der Herzogthümer Bremen und Vehrden, als auch des Herzogthums Pommern, sich daher entsponnen, weil man diverse Sentiments gehabt, de casibus non appellabilibus; Als wird deshalb ein gewisses Reglement zu Ihro Königl. Majestät fernern gnädigsten Approbation und Ratification zu entwerfen und abzufassen seyn, damit die Collegia allerseits in eine gute Harmonie wieder gesetzet, und solchergestalt allerhand unanständliche Collisiones und unglimpfliche Schrift-Wecheselung verhütet werden möge“ (Königl. Instruction an den Grafen de la Gardie, wegen abzuhelfenden Punkte bey der bevorstehenden Tribunals-Visitation, vom 9. May 1688, in: Dähnert, Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge und Constitutionen und Ordnungen, Bd. III, Stralsund 1765–1769, S. 33). 89 In diesem Zusammenhang sei auf die im Werden befindliche Dissertation des Lunder Rechtshistorikers Patrick Reslow verwiesen.
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müßten unbedingt abgekürzt und mißbräuchlich eingelegte Rechtsmittel unter Strafe gestellt werden. Wenn das Haupturteil gesprochen sei, dürfe die „Restitutio in Integrum“90 nur noch bei unverspätetem Vorbringen neuer Tatsachen zugelassen werden91. Es geht realiter um die Eindämmung von Kosten für die gerichtlichen Schutz suchende Bevölkerung und die Rationalisierung der Prozesse, wie sie sich auf preußischer Ebene in den Reformvorschlägen von Samuel Cocceji widerspiegeln. Langwierigen rechtswissenschaftlichen Erörterungen sollte der Boden vor Gericht entzogen werden, wenn der Gesetzeswortlaut klar sei. In dieser Forderung klingt noch – wie Mohnhaupt schreibt – das „optimistische aufklärerische Ideal“92 mit, daß ein „ius certum“ und eine interpretationsfreie Gesetzgebung93 realisierbar seien. Auch die Richter am Summum Tribunal in Wismar bemühten sich wie auf Reichsebene immer wieder, die richterliche Rechtsgewähr für die Untertanen und die Stände sicherzustellen. So überwies der schwedische König Karl XI., der in Schweden dem Absolutismus zu seiner Geltung verholfen hat, einen zwischen ihm und seinen Untertanen strittigen Konflikt94 zur Entscheidung an das Wismarer Tribunal. Das Tribunal handelte im Interesse der Landstände, die ein sog. Nebenmodus-Recht des Königs bestritten, als es seine Entscheidung verzögerte, bis schließlich nach Kriegsausbruch des Jahres 1700 andere Fragen wichtiger erschienen und der Nebenmodus in den Hintergrund rückte95. In der Praxis behielten die Landstände den Nebenmodus. Hier hatte das Tribunal praktisch eine „Politik der Rechtsverweigerung“ an den Tag gelegt. Erst Gustav IV. Adolf ließ es im Jahre 1799 erstmals auf eine Klage der pommerschen Landstände vor einem Reichsgericht ankommen. Die Landstände hatten, freilich ganz im Einklang mit den Reichsgesetzen, wieder einmal damit gedroht, den König vor den Reichsgerichten zu verklagen, als dieser sich anschickte, ohne Zustimmung der Landstände die Erhebung der Grundsteuern auf die moderne Grundlage einer geometrischen Landesvermessung zu stellen. Diesmal replizierte der König, daß ihm die Drohung 90 Nach moderner Prozeßrechtsdogmatik ist hierunter die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verstehen. 91 Sämtliche Wortzitate stammen aus „Exp. Ordre nebst einer Copey an die Pommersche Regierung“ vom 5. May 1731 (RAS, Wismariensia 18. 92 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 25), S. 215, 232. 93 Hierzu: Vide infra § 9 „Richterliches Methodenbewußtsein“. 94 Es ging in diesem Fall darum, ob der König berechtigt ist, Einnahmen aus dem Nebenmodus, einer Steuer, die von den freien Leuten, die auf dem platten Land wohnten und keinen Grundbesitz hatten, für die Bedürfnisse des Militärs zu verwenden. 95 Buchholz, op. cit. (Fn. 56), S. 14, 29.
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nicht imponiere: „Wollten sie ihre Drohung ins Wer setzen, so müsse es die Königliche Majestät darauf ankommen lassen“96. Die Landstände leiteten die Klage ein, der König machte von dem bereits erwähnten „privilegium electionis fori“ Gebrauch und wählte den Reichshofrat als zuständiges Gericht. Kurz darauf willigten die Landstände in eine recht drastische Erhöhung der Kontribution ein97. 4. Im Zusammenhang mit einer möglichst effektiven Rechsschutzgewährleistung lohnt es sich weiterhin, einen Blick auf das Präsentationssystem zu den Assessoraten zu werfen. Jörn stellt es als Faktum heraus, daß die Auswahl und Berufung der Assessoren an einem regional tätigen Oberappellationsgericht wesentlich unkomplizierter verliefen als bei einem Reichsgericht98. Die Präsentationsberechtigten sollten nach der Bekanntmachung einer vakanten Stelle am Tribunal „zwei zu dem erledigten Ambt wol qualificierte Personen vor Unserem Tribunal in Schriften nominieren, auch zugleich die literas praesentatis an Uns gerichtet, dem selben zu übergeben“99. Die klare Aufteilung und Reihung der Präsentationsberechtigten – innerhalb der Territorien wurde die Präsentation zur jeweils ersten freiwerdenden Stelle der Landesregierung, zur zweiten der Ritterschaft und zur dritten dem Ständekollegium zuerkannt100 – und die Festlegung, „daß derjenige Standt oder dasselbe Collegium, so den abgegangenen vorher praesentiert, dessen erledigte Stelle durch abermahlige Nominierung zweyer anderer subjectorum wieder ersetze“101, geht in starkem Maße auf den Einspruch der pommerschen Landstände zurück102. Der Präsentationsmodus am Tribunal läßt sub signo „Effektivität des Rechtsschutzes“ zwei tragende Prinzipien erkennen: Einerseits hatten alle beteiligten Seiten dafür zu sorgen, daß die ständige Arbeitsbereitschaft des Gerichts gewährleistet war, andererseits mußten Vakanzen sehr schnell be96
Dalgren, Pommern och Sverige 1792–1806, Uppsala 1914, S. 62. Buchholz, op. cit. (Fn. 56), S. 14, 29. 98 Jörn, op. cit. (Fn. 60), S. 219, 222. 99 StA Stralsund, StUrk 2402. 100 Jörn, op. cit. (Fn. 60), S. 219, 223. 101 StA Stralsund, Rep. 13, 2160. 102 Im Rahmen der Friedenverhandlung zum Westfälischen Frieden plante die Kommission zur Einrichtung des Tribunals ursprünglich, die Stände das „Beneficium nominandi et praesentandi Assessores“ ausüben zu lassen (vgl. Modéer (Fn. 318), S. 358). Die pommerschen Landstände wandten sich jedoch gegen einen solchen „modus vivendi“, da sie befürchteten, „das solchergestalt Ihnen, den Landständen, weil der königliche Regierung authoritet, bey einem oder dem anderen vorfallenden casu, sie allem absehen nach nur würden weichen müssen, und keine liberam votorum et praesentationis facultatem behalten können, mit solchen privilegio praesentationis, bey dem deshalb arrestirten schweren salariandi onere, wenig, ja gar nicht gedienet sein mochte“ (StA Stralsund, Rep. 13, 2160). 97
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
setzt werden bzw. wurden sehr schnell besetzt, um eine zügige „Administrirung der Justitz“ zu gewährleisten. Dabei hat sicherlich auch das Desiderat von David Mevius in seiner Rede bei den Feiern zur Einweihung des Tribunals eine entscheidende Rolle gespielt: Unter Bezugnahme auf die Länge der RKG-Prozesse bekräftigte Mevius den Anspruch des Tribunals, die Prozesse „mit wenigern und kurzern Terminen, geringern kosten und viel geschwinder zu führen“103. Auch von höchster Seite in persona des schwedischen Königs Friedrich I. wurde akribisch auf die Einhaltung der Regularien in puncto „unparteiische Gerichtsinstanz“ geachtet. So ließ er am 18. April 1726 seiner Landesregierung ein Promemoria zusenden, dessen „eigentliche und geheime Absicht es war, zu praevaciren, daß der Land-Syndikus Caroc weder praesentiert noch a Tribunali erwehlet werden möchte“. Der König forderte die Landesregierung auf, die Ritterschaft nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß das Tribunal „seinen besonderen Ruhm und Credit von anfang her durch desinteressierte unpartheiische Administrirung der Justice erworben“ habe und daß daher nur Personen vorgeschlagen werden sollten, „wieder welche niemand in diesem falle mit grund und Recht das geringst einwenden oder sagen habe könne, . . ., wodurch denn allen Streitigkeiten und Fractionen im Tribunal gehöriger Weise würde vorgebeuget werden“104. Damit schließt sich der Kreis zu der Formulierung und Kommentierung von Pär-Erik Back, wonach der Einfluß der Stände auf die Unterhaltung des Tribunals das Ziel hatte, „daß die bezahlten Mitglieder des Tribunals gleichsam in den Dienst der Landstände treten sollten“105.
VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv106 und den Werken von Augustin von Balthasar107 108 und F. U. Mehlen109 a) Der erste Fall aus dem Tribunalsarchiv110 handelt von einem Rechtsstreit der Bewohner der Insel Poel gegen den Amtmann im dortigen König103
Mevius, Jurisdictionis Summi Tribunalis Regii Quod est Vismariae, Frankfurt–Stralsund 1675, S. 329. 104 StA Stralsund, Rep. 13, 2179. 105 Back, Herzog und Landschaft. Politische Ideen und Verfassungsprogramme in Schwedisch-Pommern um die Mitte des 17. Jahrhunderts (Samhällsvetenskapliga studier, 12), Lund 1955, S. 327 f. 106 Für das Zurverfügungstellen der Akten aus dem Tribunalsarchiv und weiteren ergiebigen Gesprächen bin ich Dr. Hans-Konrad Stein-Stegemann zu Dank verpflichtet.
VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv
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lichen Amtsgericht Poel namens Jörns111. Der Rechtsstreit selbst wurde durch Betreiben des Tribunalsprokurators Dr. Hertzberg als gewesener Justitiar des königlichen Amts Poel eingeleitet. Streitgegenstand ist die Beeinträchtigung der königlichen Amtsjurisdiction in puncto „privationis exercitii“. Das Tribunal bezieht sich in seinem Decretum auf die Rolle der Justiz in Prozessen gegen Untertanen im Falle ihrer Rechtebeeinträchtigung durch hoheitliche Gewalt. Der Amtmann Jörns selbst ist ja „verlängerter Arm“ 107 Augustin von Balthasar (20.5.1701–20.6.1786) entstammte einer Juristenfamilie. Sein Vater Jakob (24.12.1652–1.5.1706) war seit 1685 Professor in Greifswald, wurde 1689 Syndikus und 1704 Regierungsrat und Vizedirektor der Justizkanzlei in Mecklenburg. Nach seinem frühen Tod wuchs Augustin bei seiner Mutter Anna Catharina Gerdes und deren Bruder, dem Greifswalder Prof. Philip Balthasar Gerdes, auf. Er studierte in Greifswald, Jena und Halle und reiste anschließend durch das Alte Reich und die Niederlande. 1726 kehrte er nach Greifswald zurück, legte seine Lizentiatenprüfung ab und wurde Adjunkt der Greifswalder Juristenfakultät und Syndikus der Universität. 1728 wurde er Advokat am Tribunal, 1730 promovierte er zum Dr. iur. und erhielt im Jahre 1734 einen Lehrstuhl. 1739 gründete er eine „Teutsche Gesellschaft“ in Greifswald und wurde deren Direktor. Im Jahre 1743 war er Direktor des Konsistoriums und mehrfach Rektor der Universität. Im Jahre 1763 wurde er von den pommerschen Ständen zum Assessor am Tribunal präsentiert. Und übte dieses Amt bis zum Jahre 1778 aus. Seit dieser Zeit wirkte er bis zu seinem Tode im Jahre 1786 als Vizepräsident des Gerichts. Siehe zu ihm: Im Hause des Herrn immerdar. Die Lebensgeschichte des Augustin von Balthasar (1701– 1786) von ihm selbst erzählt, hrsg. von Dirk Alvermann (Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, 2), Greifswald 2003. 108 von Balthasar, Rechtliche Abhandlung der Gerechtsame und Universal-Jurisdiction des hohen Schwedischen Tribunals zu Wismar, wie selbige nach dem Instrumentum Pacis Westphalicae und den Pommerschen Landesgesetzen sowohl in Ansehung der eigentlichen Justiz, as dahin einschlagenden Regierung-, Kameral- und Policeysachen, wenngleich derselbe unmittelbar vom Landesherrn gewissen Commissariis aufgetragen worden, Wismar. 1770. 109 F. U. Mehlen, Ueber die Appellation und andere Impugnativ-Mittel gegen richterliche Erkenntnisse, besonders in Rücksicht auf Schwedisch-Pommern und Mecklenburg, Berlin und Stralsund 1791. 110 Tribunalsarchiv (Wismar) F 188 (1772). 111 Amtmann Jörns hat – wie die Sichtung der bisher von Dr. Stein-Stegemann verzeichneten Akten zeigt – eine sehr unrühmliche Rolle eingenommen und immer wieder durch zahlreiche Prozesse vor dem Tribunal in negativer Hinsicht von sich reden gemacht. Er schien auch die gesamte Klaviatur von Gewalttätigkeiten mit stetiger Konstanz abspielen zu wollen. So ist z. B. überliefert, daß Jörns zeitweilig mit einer Peitsche durch das Königliche Amtsgericht Poel ging, um die Untertanen und Insulaner zur Räson zu bringen. Amtmann Jörns war der höchste (und neben seinen zwei Dienern auch einzige) Vertreter der schwedischen Zivilverwaltung im Amt Poel. Er hatte sowohl administrative Aufgaben als auch den Vorsitz im Amtsgericht inne. Er war dem Tribunalspräsidenten unterstellt, der die „iura ducalia“ der schwedischen Krone für die Herrschaft Wismar verwaltete.
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
des Souveräns112. Es hebt die besondere Bedeutung einer schleunigen Justizgewährung hervor und unterstreicht mit Nachdruck ihren signifikanten Stellenwert. In der Sache selbst wurde gegen den Amtmann Jörns entschieden. Der Appellationszug vom Amtsgericht Poel113 an das Tribunal ist wohl eine Besonderheit des Wismarer Bestandes. Hier fehlte die filternde Funktion eines Hofgerichts oder einer Regierungskanzlei, was auf die Häufigkeit der Prozesse und auf den Umfang der Akten einwirkte. Ähnliches gilt durch die räumliche Nähe des Gerichts auch in Bezug auf die Wismarer Stadtgerichte114. b) Als nächstes Fallbeispiel eignet sich ein bei Mehlen abgedruckter sog. „Gemeiner Bescheid“. In diesem geht es um die Voraussetzungen eines schleunigen Justizbetriebes. Vorab sei noch erläuternd darauf verwiesen, daß die „decreta communia“ eine Rechtsprechung der Gerichte – und auch des Wismarer Tribunals – repräsentieren, die in Ermangelung gesetzlicher Regelungen Entscheidungen fällten, die „allgemeinverbindliche Bescheide bezüglich des Prozeßverfahrens“115 darstellen. Die „decreta communia“ besaßen eine sog. „vim legis interimisticae“, solange nicht der Gesetzgeber oder – im Reich – die „commissarii Caesarei cum Visitatoribus, praevia causae cognitione“ eine gesetzliche Regelung getroffen hatten116. Die gemeinen Bescheide repräsentieren gleichsam eine Anpassungsgesetzgebung mit dem Anspruch ergänzender Legislation durch Jurisdiktion117. Zurück zu dem gemeinen Bescheid des Wismarer Tribunals vom 9. Juli 1745118. Hier wird im Rahmen einer wissenschaftlich-dogmatischen Auseinanderzetzung mit den Bestimmungen in der Tribunalsordnung mit Nachdruck darauf verwiesen, daß „bey Interponirung der Appellation sehr nachläßig zu Werke gegangen werde; indem öfters weder Principales, noch deren Sachwälde, wie ihnen doch gebühret, solche persönlich verrichten, 112 In diesem Zusammenhang kann man den französichen Ausspruch, wonach der „Richter die Stimme des Souveräns“ ist, zugrundelegen. 113 Vgl. F. U. Mehlen, op. cit. (Fn. 109), S. 95. Die hierzu getroffenen Feststellungen gelten auch für den Instanzenzug vom Amtsgericht Neukloster an das Wismarer Tribunal. 114 So Stein-Stegemann, Bericht über den Tribunalsbestand im Stadtarchiv Wismar und Vorschläge zur Verzeichnung der Tribunalsakten, in: Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653–1803), op. cit. (Fn. 5), S. 367, 368. 115 Vgl. die Definition bei R. Schröder/E. Frh. von Künssberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Auflage, Heidelberg–Berlin 1932, S. 948 Fn. 68 b. 116 Zitiert nach W. Kirchner, Generell bindende Gerichtsentscheidungen, Leipzig 1932, S. 14. 117 Mohnhaupt, op. cit. (Fn. 5), 215, 231. 118 Abgedruckt bei F. U. Mehlen, op. cit. (Fn. 109), S. 331 f.
VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv
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sondern nur per famulum . . .“. Die Aufforderung zu einer möglichst schleunigen Realisierung des Justizbetriebes wird sprachlich dahingehend ergänzt, daß konkrete „Regieanweisungen“ an die Beteiligten erfolgen. So heißt es: „Als haben Advocati und Notarii . . . ihre Obligenheit hienächst besser, als geschehen zu beobachten; und müßten Notarii in Zukunft nicht allein richtige Protocolle halten, sondern auch ins besondere die Appellation nicht anders, als in Gegenwart des Requierenten und der Zeugen verzeichnen, weil nicht genug, daß sie von dem ad Requisitionem für sich geschehenen Verzeichnisse, nachher allererst den in Documento benannten Personen gelegentlich Nachricht ertheilen“.
Am 26. Januar 1748 werden die Prokuratoren nochmals in einer verbal etwas schärferen Gangart ermahnt. So wird moniert, daß sie sich „so wenig zur Publication der gerichtlichen Bescheide, als zu Wahrnehmung sonstiger Vorkommenheiten in ihrer Parteyen Sachen sich in der Canzley einfinden . . . und einige auch ohne specielle Erlaubis und vorher besorgter Substitution ganze Tage und Wochen aus der Stadt reisen“119.
Diese Beispiele dokumentieren, daß die Richter die Tribunalsordnung nicht als statisches Regularium angesehen, sondern sie jeweils kritisch zeitbezogen überprüft haben. Sie haben somit einen erheblichen Beitrag zu einer – vorsichtig formuliert – „soziologischen“ Jurisprudenz jenseits praxisferner Rechtswissenschaft geleistet. c) Das Werk von Augustin von Balthasar eignet sich für eine nähere Untersuchung insofern hervorragend, als daß zum einen in knapper aber illustrativer Form Fallbeispiele zum Problemkanon „Policeysachen“ geliefert werden, zum anderen aber in einer beeindruckenden dogmatischen Präzision Hilfestellungen für Zweifelsfälle gegeben werden. Dem letzteren Gesichtspunkt soll sich primär gewidmet werden. Balthasar führt einleitend aus, daß das Tribunal „in puncto Appellabilität von Regierungs-, Cameral- und Policeysachen mit der Königl. Regierung und Kammer, und in Ansehung der Grenzen der Jurisdiktion dieses hohen Gerichts in diesen Sachen viele Streitigkeiten gehabt“120. Für die Appellation in Policeysachen erfolgt gleich eine „Regieanweisung“ in Form von drei Regeln, wobei die erste von besonderer Bedeutung ist. Es heißt: „Daß durchgehends alle Sachen, welche entweder vor der Königl. Regierung, oder Königl. Cammer gehören und dahin gebracht worden, so bald ein ius tertii dabey concurriret, in Ansehung dessen, auf eine angewandte Beschwerde des gravirten Theils, zur Cognition des Königl. Tribunals, als höchsten Appellationsgerichtes dieser Provinz, gehören“121. 119 30. Gemeiner Bescheid – abgedruckt bei F. U. Mehlen, op. cit. (Fn. 109), S. 333 f. 120 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 25 n. 4. 121 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 25 n. 5.
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
Weitergehend sind auch „Policeysachen“ „nirgends ab appellatione eximiret“. Als Beleg hierfür wird eine plastische Formulierung von Mevius angeführt, in der es heißt: „Quemadmodum enim bona Politia non est exlex, sic nec plane a iudiciis aliena. Quando enim ex Legibus certam accepit formam, istaeque non tantum negotiis civilibus regulam, sed et ius tribuunt Civibus aut omnibus, aut quibusdam; ita quoque iis, ubi iuri Politiae contraria irregantur, vel sub obtentu Politiae ius alicui suum demitur, vel impeditur, non oportet defensionem deesse – – – Tantum, si vel extra istas quaedam accidunt, vel sub istarum finistra applicatione aliquis gravatur; vel ubi res dubia est, multo magis si contra illas quidquam iniquum, vel insolitum irrogatur, appellationi locus sit: Proprie loquendo causa non est politica, sed iuridica, ubi non tam de usibus publicis, quam de iure singulorum quaestio est“122.
Für das Tribunal war die Appellabilität dank präziser Ausformungen in der Vergangenheit – namentlich durch Mevius – kein so evident neuralgischer Punkt wie auf Reichsebene. Das Tribunal ging diesen Problemkreis pragmatisch rechtsschutz-freundlich an. So führt es in seiner Replik auf das von der Bremischen Regierung eingegebene Monitum aus, daß, „was Policeysachen betrifft, wie auch diejenigen, welche Statum Provinciae et tranquillitatem publicam concerniren, bey jenen gleichfalls offenbar ist, daß dieselbe denen Reichssatzungen, gemeinen Rechten, und der natürlichen Billigkeit123 nach, nicht simpliciter ab appellatione et a cognitione iudiciali zu eximiren stehen“124. Für das Tribunal fand allemal eine Appellation in Policeysachen statt, wenn „das ius tertii dabey lädiret wird; oder sonst die Handlung widerrechtlich wäre“125. Zur argumentativen Absicherung in diesem Punkt wird auf Art 1 einer „Pommerschen Regierungs-Canzley Instruction“ aus dem Jahre 1669 verwiesen, in der es heißt: „Alle andere Sachen, welche das interesse privatum angehen, und unsern statum, oder hoheit, daselbst principaliter nicht touchiren; Es sey in causis politicis, oder ecclesiasticis; mit denenselben soll Unsere Regierung daselbst sich weiter nicht, als beregte Regierungsform an die Hand giebet, belegen lassen, oder auch sich selbst anmaßen; sondern ein jedes, an die geist- oder weltlichen Gerichte, wohin es, seiner Natur und Eigenschaft nach, gehöret, zur Ausführung alsofort verweisen“126. 122
Zitiert nach: von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 33 n. 4. Über das Begriffspaar „natürliche Billigkeit“ war zugleich ein Einfallstor für eine untertanenfreundliche Judikatur gegeben. 124 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 33 n. 3. 125 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 26 n. 1. und § 33 n. 2 („iura partium dabey controvers werden“). 126 Zitiert nach: von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 25 n. 3. 123
VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv
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Auch im Bereich der Frage, was nun Justizsachen sind, werden von Balthasar klare Richtlinien dem richterlichen Personal an die Hand gegeben. Die Justizsache wird wie folgt definiert: „Justizsachen hingegen sind, wenn über das meum et tuum, nemlich über Eigentum, oder sonstigen Rechtsanspruch, an einer Sache unter Communen, oder privatos, auch wohl mit dem Landesherrn selbst, gestritten wird . . . Wobey denn auch zu merken ist, daß, so bald in Sachen ersterer Art, nemlich den RegierungsRegiments- Policey- oder Cameralsachen ein streitiges Interesse entweder einer Commune, oder eines privati, mit hineinschlägt, oder auch sonst in modo procedendi dabey pecciret worden, dieselbe sogleich eine Justizsache degenerire, weil sodann der Oberherr sowohl, als ein jder privatus, an die bereits gemachte Gesetze gebunden, und ein jedes der interessierenden Theile darnach sein Recht entschieden und proportione arithmetica, d.i. aufs genaustem zugetheilet haben will“127.
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß, sobald „ius privatorum quando laeditur in Regierungs- Regiments- Policey- und Cameralsachen, degeneriren selbige in causam iustitiae128 und gehören alsdenn zur Cognition der Landesgerichte und des Königl. Tribunals“129. Auf dem Sektor des Untertanenrechtsschutzes nahm das Tribunal eine sehr fortschrittliche Rolle ein und protegierte ihn entsprechend. So wurde formuliert, daß „jemand außer Gerichte von denen, dem Tribunal immediate unterworfenen Personen oder Gewalten durch beschwerliche Anordnungen sich gravirt zu seyn vernmeinte, demnselben an dieses Obergericht zu appeliren frey seyn sollte“130. Sowohl „die Stände, als jeder privatus, bey allen Ansprüchen des Landesherrn an das Land insgemein und jeden Unterthan desselben, wider alle gewaltthätige Ueberfahrung und widerrechtliche Beschwerden gesichert sind“131.
Diese Konzeption zeigt sich auch in einem Fall, in dem sich der König von Schweden an das Tribunal wandte, da der Herzog von Mecklenburg versuchte, die Stadt Wismar wegen eines vermeintlichen Eingriffs in seine Territorialgerechtsame unter Ausschaltung des Tribunals unmittelbar vor der kaiserlichen Kammer zu belangen. Der schwedische König forderte vom Tribunal „billige Satisfaction“. In der Sache gab das Tribunal dem König recht und verurteilte die „Vorbeygehung“ des Hohen Tribunals132. 127
von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 3 n. 1. von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 3 n. 1; § 24 n. 14; § 40 n. 1; § 54 n. 13; § 55 n. 4. 129 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 25 n. 5; § 27 n. 2; § 33 n. 3. 130 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 28 n. 3. 131 von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), § 9 n. 2. 132 Beylage Num. III. Abgedruckt bei von Balthasar, op. cit. (Fn. 108). 128
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8. Kapitel: § 8 Wismarer Tribunal
Die herausragende Stellung des Tribunals und seine Standhaftigkeit gegenüber den Landesfürsten und dem König kommt vor allem in folgender Passage deutlich zum Ausdruck, wenn es heißt: „. . . soll allen unpartheyisch administriret werden ohne Furcht und Ansehung der Person . . . Wenn deren Lauf durch Königliche Rescripta gehindert wird, ist das Tribunal denen zu folgen nicht gebunden“133.
In dieser Absage an die sog. Kabinettsjustiz dokumentiert sich auch das mit gewissem Stolz zur Schau getragene richterliche Selbstbewußtsein gegenüber dem Souverän und markiert einen weiteren Baustein für den Weg der Judikative aus der „babylonischen Gefangenschaft der Exekutive“.
133
von Balthasar, op. cit. (Fn. 108), Vorrede n. 6 und § 26 n. 26.
VI. Fallanalysen aus dem Tribunalsarchiv
Augustin von Balthasar (1701–1786), o. J. Stadtarchiv Stralsund
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„Was soll man halten von den wiederholten Vorschlägen und Versuchen, nationale Rechtsprinzipien oder auch nur „oberste Grundsätze des Rechts“ in eine Kodifikation aufzunehmen? Gar nichts! Die elementaren Weisheiten des Richters und seine Kunst entziehen sich glücklicherweise der Druckerschwärze der Gesetzblätter. Die programmatische Aufzählung von „Grundrechten“ einer Nation ist Sache des Demagogen und der Jurist hat nur die schlecht gedankte Aufgabe, hinter solche Schloßfassaden eine noch eben wohnliche Baracke wirklicher Rechtsnotwendigkeiten unter Dach zu bringen – wetterfest ist sie auch nicht (. . .) Wahrheiten werden nicht durch Gesetzgebung wahr, sondern durch stets nachprüfende Forschung“ Josef Esser1
9. Kapitel
§ 9 Richterliches Methodenbewußtsein I. Exordium Das Zitat von Esser führt vor Augen, daß die von ihm betonten „Weisheiten des Richters“ denen des Gesetzgebers ebenbürtig waren. Deswegen sind methodische Grundsatzüberlegungen erforderlich, welche von einer geschichtlich denkenden Rechtsdogmatik ausgehen2. Insofern hat die Problematik nichts an ihrer Aktualität eingebüßt und eignet sich geradezu, die Wechselwirkungen3 auch aus heutiger Perspektive zu beleuchten. Picker 1 Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Auflage, Tübingen 1956, S. 330 f.; unverändert in der 4. Auflage, Tübingen 1990. 2 Picker, Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte, AcP 201 (2001), S. 763–859. 3 Siehe dazu aus der Fülle der Stimmen, die durchweg auch die Frage nach dem Zweck der Rechtsgeschichte und mit ihr die intensive Diskussion der Methoden umfassen: Bader, Aufgaben und Methoden des Rechtshistorikers, 1951, S. 3, 18; Dilcher, AcP 184 (1984), S. 247 ff.; Hattenhauer, in: Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988–1990), Frankfurt 1991, S. 805 f.; Klippel, Juristische Zeitgeschichte, 1985, S. 1 ff.; Landau, VWSG 61, 1974, S. 145 ff.; J.-M. Scholz, in: ders. (Hrsg.), Vorstudien zur Rechtshistorik, 1977, S. IX ff.; Stolleis, RJ 4, 1985, S. 251, 253 f.; Zimmermann, JZ 1992, S. 8 ff. – Zu einer entsprechenden Diskussion in der Historik siehe etwa: Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 4. Auflage, 1978, S. 109 ff., S. 128 ff.; K. Hübner, Th. Nipperdey, W. Geiss, W. J. Mommsen, in: Jäckel/Weymar (Hrsg.), Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, 1975, S. 41 ff.; Lückerath, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, 1980, S. 9 ff.; Rüsen, Konfiguration des Historismus, 1993,
II. Entwicklungstendenzen der Interpretationstheorie im 18. Jahrhundert
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spricht in seinem Aufsatz zwar davon, „daß Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte sich einander entfremdet haben; sie sind nicht nur, wie viel beschrieben und häufig beklagt wird, als akademische Disziplinen getrennte Wege gegangen“4. Aufgabe dieses Abschnittes ist es, eine „historisch belehrte Gegenwartsdogmatik“ und eine „gegenwartsdogmatisch instruierte Historik“ zu einem sog. vernunftbegründeten Sollen5 zusammenzuführen. Denn gerade die Kombination6 von Dogmatik und Historik führt zu einer Vertiefung der Erkenntnisgewinnung, in der Jurisprudenz also ihre Synthese zu einer neuen, methodisch geschärften „geschichtlichen Rechtswissenschaft“7. Eine geschichtslose Jurisprudenz ist nämlich „gefährlich“8.
II. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie9 im 18. Jahrhundert In der zeitlichen Dekade des 17. Jahrhunderts bis zum 18. Jahrhundert verengt10 die Rechtstheorie den Interpretationsbegriff erheblich. Nach der S. 331 ff., 357 ff.; siehe auch die Diskussionen in: Kocka/Nipperdey (Hrsg.), Theorie der Geschichte, Bd. 3, 1979. 4 Picker, op. cit. (Fn. 2), S. 763. 5 Die Begriffsprägung geht auf Picker zurück. Vgl. Picker, op. cit. (Fn. 2), S. 763, 859. 6 Dieser Kombination erklärte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders entschieden Hermann Kantorowicz allen juristischen Goldgräberseelen den Kampf: „Es sei, so heißt es bei ihm, „höchste Zeit . . . die unglückliche Ehe zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik“ zu scheiden. Vgl. Kantorowicz, Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 4, 1907/1908, S. 108. 7 Siehe hierzu: Hübner, Festschrift für Kegel, München 1987, S. 235, 246 Fn. 43. 8 Rüthers, op. cit. (vgl. 2. Kapitel Fn. 2), Rn. 645. 9 Von juristischer Seite sind vor allem die Arbeiten von Clausdieter Schott und Stefan Vogenauer zu nennen. Vgl. Schott, Gesetzesinterpretation im Usus modernus, in: ZNR 21, 1999, S. 45–84. ders, „Interpretatio cessat in claris“ – Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbedürftigkeit in der juristischen Hermeneutik, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, München 2001, S. 155–189 und Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischer Grundlagen, Tübingen 2001. Von philosophisch-philologischer Seite sind die Werke von Maclean und Scholz zu nennen. Vgl. Maclean, Interpretation and meaning in the Renaissance. The case law, London 1992 und Scholz, Ius, Hermeneutica iuris und Hermeneutica generalis – Verbindungen zwischen allgemeiner Hermeneutik und Methodenlehre des Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Schröder (Hrsg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 1998, S. 85–99.
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9. Kapitel: § 9 Richterliches Methodenbewußtsein
nunmehr bekannten Definition von Thomasius11 besteht sowohl die juristische als auch die nichtjuristische Interpretation darin, zu erklären, „was ein anderer in seinen Schriften hat verstehen wollen und welches zu verstehen etwas schwer oder dunckel ist“12. Nach der Definition von Thomasius wird die Willensmeinung des Autors entweder „aus den dunckelen Worten“ („grammatische“ Interpretation) oder „aus andren Umbständen“ („logische Interpretation) erklärt13. Die Interpretation erscheint somit vor diesem Kontext als Ermittlung des Willens des Gesetzgebers; diese Vorstellung findet man auch bei anderen maßgebenden Autoren dieses Zeitraumes: von Pufendorf, der von der Ermittlung des „genuinus sensus“14 des Textes spricht, bis zu Thibaut, nach dem es gleichfalls um die Entwicklung des „Sinnes der Gesetze“ geht15. Thomasius macht mit seiner Interpretationslehre in den „Institutiones jurisprudentiae divinae“16 deutlich, daß es immer – ob bei der Feststellung des Sinnes zweifelhafter Worte, ob bei der Ausdehnung oder der Einschränkung der Worte aus dem Sinn – um dieselbe Frage der Sinnermittlung und ihrer Hilfsmittel geht17. Zudem führt er an die Stelle der alten, hilflosen und ergebnisorientierten Einteilung in deklarative, extensive und restriktive Interpretation – bzw. vor sie – erstmals die „Ausübung der Vernunftlehre“ an18. Damit einher geht auch die Zulässigkeit des Heranziehens positiv-historischer Hilfsmittel. 10 So wurde unter Interpretation nicht nur die Auslegung und Sinndeutung von Rechtstexten verstanden, sondern fast alles, was ein Jurist sonst noch so tut, unter anderem auch die geordnete, ehrhafte Darstellung des Rechts. Vgl. hierzu: Schröder, op. cit. (Fn. 9), passim. 11 Zu seiner (juristischen) Interpretationstheorie: Schröder, Christian Thomasius und die Reform der juristischen Methode, Leipzig 1997, S. 28 ff.; Danneberg, Die Auslegungslehre des Christian Thomasius in der Tradition von Logik und Hermeneutik, in: Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, Tübingen 1997. – Zu Christian Thomasius: Grunert, in: Werner Schneider (Hrsg.), Christian Thomasius 1655–1728, Hamburg 1989, S. 335 ff.; ders., in: Vollhardt, op. cit., S. 481 ff. 12 Thomasius, Ausübung der Vernunft-Lehre, Halle 1691, 3. Hauptstück, Nr. 25, S. 163 f. 13 Thomasius, op. cit. (Fn. 590), Nr. 34, S. 166. 14 Pufendorf, De iure naturae et gentium libri VIII (1672), in: ders., Gesammelte Werke, IV, hrsg. v. Böhling, München 1998, lib 5, cap 12, § 17, S. 535. 15 Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des römischen Rechts, 2. Ausgabe, Altona 1806, S. 71. 16 Institutionem jurisprudentiae divinae libri tres, 7. Ausgabe, Halle 1730, lib. 2 cap. 12, S. 223 ff. 17 Schröder, Recht als Wissenschaft: Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500–1850), München 2001, S. 134. 18 Schröder, op. cit. (Fn. 17), S. 134.
III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts 135
Mit dieser Entwicklungsstufe der juristischen Interpretationslehre geht einher die Positivierung der „ratio“. Sie soll jetzt einfach mit dem Motiv und Zweck des Gesetzgebers kongruent sein, sie ist „der Grund, der den Gesetzgeber zu dem Gesetz bewogen hat“19.
III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Die Assessoren am Reichskammergericht und am Oberappellationsgericht in Wismar haben ihren Decisiones neben den bereits skizzierten philosophischen Grundsätzen des Naturrechts – man kann in diesem Zusammenhang mit begründeter Berechtigung von einem „naturrechtlichen Höhenflug“ sprechen – auch ein ganz besonderes Grundgerüst modernen Staatsdenkens zugrunde gelegt. In diesem Zusammenhang erscheinen die Ausführungen des namhaften deutschen Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter20 21als besonders vertiefungswürdig. Aus der Perspektive von Pütter stehen die privaten Rechte der Untertanen nicht außerhalb des Staatsrechts; für die Bestimmung der Rechtsverhältnisse zwischen Untertanen und Landesherrschaft bildet das Staatsrecht vielmehr die alleinige Rechtsgrundlage22. In einer Enzyklopädie23 schreibt Pütter: „Auch im Staatsrechte sind also auch der Unterthanen Rechte und Verbindlichkeiten zwar sowenig ausgeschlossen, daß solche vielmehr den vornehmsten Gegenstand davon ausmachen, so fern es nehmlich Obliegenheiten und Gerechtsamen der höchsten Gewalt sind, auf welche sich jene beziehen. Sobald ich aber alle Rechten des Staats und dessen höchster Gewalt nenne, so sind denselben entgegenstehenden Pflichten und Befugnisse der Unterthanen von selbsten darunter begriffen; ohne daß man nöthig hat, solche namhaft zu machen“24. 19
Pufendorf, op. cit. (Fn. 14), lib 2, cap 12, Nr. 69, S. 235. Vgl. Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien Bd. 95, Göttingen 1975. 21 Ernst Rudolf Huber konstatiert, Pütter habe „dem Verfassungsrecht des sterbenden Reiches die wissenschaftliche Durchdringung und systematische Formung angedeihen lassen, in der es uns überkommen ist“ (vgl. Huber, Reich, Volk und Staat in der Reichsrechtswissenschaft, ZgesStW 102, 1942, S. 593, 622). 22 Sailer, Richterliches Selbstverständnis und juristische Ordnungsvorstellungen in der policeyrechtlichen Judikatur des Reichskammergerichts, in: Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert, hrsg. von Bernhard Diestelkamp, Köln 2002, S. 1, 32. 23 Zu den juristischen Enzyklopädien: Mohnhaupt, Methode und Ordnung der Rechtsdisziplinen und ihrer „Hilfswissenschaften“ in den Rechtsenzyklopädien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: Juristische Methodenlehre zwischen Humanismus und Naturrecht, hrsg. von C. Schott., in: ZNR 1999, S. 85–144. 20
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9. Kapitel: § 9 Richterliches Methodenbewußtsein
Nach den Ausführungen des Göttinger Staatsrechtlers kommt es in sog. Kollisionsfällen entscheidend darauf an, nur auf die Regeln des allgemeinen Staatsrechts abzustellen. Ausgehend von dieser juristischen Ordnungsvorstellung verfeinerte Pütter die Dogmatik des Staatsrechts zur Kontrolle von Eingriffen der Staatsgewalt in die Rechte und Freiheiten der Untertanen 1777 dergestalt, daß „wenn die Landeshoheit, wie jede höchste Gewalt, nicht weiter gehet, als so weit sich die gemeine Wohlfahrt erstrecket; so ist auf der andern Seite unleugbar, daß, so bald die gemeine Wohlfahrt etwas zur Nothwendigkeit macht, von der höchsten Machtvollkommenheit nichts, was nur irgend seiner Natur nach einer höhern Gewalt unterworfen seyn kann, würcklich ausgenommen ist“25.
Eine solche Sichtweise hat jedoch nicht zur Konsequenz, daß die Rechte der Untertanen einer willkürlichen, despotischen und uferlosen Hoheitsgewalt ausgeliefert sind26, da „auch diese Machtvollkommenheit ihre gewissen Gränzen hat, deren nähere Bestimmung von desto größerer Erheblichkeit ist, je unerträglicher die Folgen sind, die aus Ueberschreitung dieser Gränzen entstehen“27. Die Einschränkung der natürlichen Freiheit darf nicht aus willkürlichen, eigennützigen oder gar eigensinnigen Absichten des Regenten erfolgen; zudem müssen Einschränkungen der natürlichen Freiheit sich auf das geringstmögliche Maß28 beschränken und alle Untertanen „in verhältnismäßiger Gleichheit“29 treffen30. 24 Pütter, Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, Nachdruck der Ausgabe Göttingen 1767 mit einer Einleitung hrsg. von B. Scherl. Zürich–New York 1998, S. 16 f. 25 Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrecht, Erster Theil, Göttingen 1777, S. 352. 26 Vgl. auch Anonym, Abhandlung von der Gerichtsbarkeit der höchsten ReichsGerichte in Policey-Sachen, aus den klaren Reichs-Grundgesetzem entworfen, in: Hannoversches Magazin, 1. Jg., 1763, Sp. 567: „In Ansehung dererjenigen PoliceyAnstalten, welche ein Reichsstand blos in seinem Staate zum Besten desselbigen machet, ist dieser Gerichtsbarkeit der Reichsgerichte nicht unterworfen, so lange nicht ein offenbarer Mißbrauch der Landeshoheit statt findet“. Im Gegensatz dazu: Anonym, op. cit. (Fn. 26), Sp. 557: „Wo bleibet hier die Oberherrschaft, die das wesentliche eines Regenten ausmacht? der ist nur ein Verwalter, aber kein Regent eines Staates, der verbunden ist, einem andern die besondere Beschaffenheit seines Landes zu entdecken und zu zeigen, daß er derselben gemäß gehandelt habe“. Ähnlich auch Strube, op. cit. (vgl. 5. Kapitel Fn. 37), III, S. 51: Sofern die Obrigkeit zur Wohlfahrt des Landes etwas verfüge, so „darf kein Glied . . . richterliche Hülfe wider dergleichen obrigkeitliche Verfügungen begehren, wann sie schon seine bisher gehabte Freiheit einschränken, oder im dasjenige nehmen, was er, bevor die neue Verordnung ergangen, wider seine Mitbürger behaupten können“. 27 Pütter, op. cit. (Fn. 25), S. 356.
III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts 137
Ebenfalls kann nach Pütter in rechtmäßig erworbenes Eigentum seitens der Hoheit eingegriffen werden, es ist jedoch nur „auf eine sehr genau zu bestimmende Art derselben unterworfen, wenn anders nicht die höchste Gewalt in wahren Despotismus ausarten soll“31. Der jeweilige Untertan muß nur dann ein Sonderopfer bringen, wenn „die Erhaltung des gemeinen Wesens oder eines beträchtlichen Teils desselben mit dem Eigenthume eines einzelnen Mitglieds in solche Collision kommt, daß jenes zu Grunde gehen, oder doch in die äußerste Gefahr des Verderbens zu retten lieber einen Theil aufopfern wollte“32. Zentrales Fundamentum der Pütterschen Lehre bildete das vom Gemeinwohl bestimmte Staatsrecht. In diesem staatsrechtlichen Ordnungsrahmen fanden aber auch die privaten Rechte der Untertanen ihren Platz und darüber hinaus die natürliche Freiheit. Die „abgestuften Eingriffsvoraussetzungen“33 akzentuierten die rechtliche Bindung der Landeshoheit und letztlich auch die Justitiabilität hoheitlicher Maßnahmen. Mit seinen Überlegungen hatte Pütter die argumentative Unterfütterung für das aufgeklärte richterliche Selbstverständnis der Assessoren geliefert und mithin einen Mosaikstein auf dem Weg zu der Theorie der „soziologischen Jurisprudenz“, die letztlich von Heck in der Schrift „Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz“34 aus dem Jahre 1932 tiefgreifend erörtert wurde und der ihr zum „Stapellauf“ verholfen hatte. Das neue richterliche Selbstverständnis der Assessoren am Reichskammergericht und am Summum Tribunal in Wismar bestätigt weitergehend 28 Dahinter verbirgt sich aus heutiger verfassungsrechtlicher Perspektive das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete sog. Übermaßverbot, d.h. der Grundsatz des möglichst schonenden Eingriffs. 29 Einschränkungen der natürlichen Freiheit sind möglich, jedoch nur, „daß sie doch von Rechts wegen nie anders geschehen kann, als sofern es das gemeine Beste erfordert, hingegen keineswegs nach Willkühr, Eigensinn oder eigennützigen Absichten des Regenten. Und dann verstehet es sich, daß dergleichen Einschränkungen nicht etwa nur ein oder ander Individuum, sondern alle Unterthanen in verhältnismäßiger Gleichheit treffen müssen, und daß in zweifelhaften Fällen immer eher weniger als mehr geschehen müsse, weil man sicher als eine Grundregel in Errichtung aller bürgerlichen Gesellschaften annehmen kann, daß ein jedes Mitglied derselben zwar die Aufopferung seiner natürlichen Freyheit fürs gemeine Beste, aber doch nur in der mindesten Portion derselben sich gefallen lassen. So lange es irgend möglich ist, den Zweck der gemeinen Wohlfahrt ohne, oder doch mit einer geringen Einschränkung der natürlichen Freyheit zu erhalten, so ist es unrecht, diese ohne Noth oder über die Gebühr einzuschränken“. Vgl. Pütter, op. cit. (Fn. 25), S. 353 f. 30 So Sailer, op. cit. (Fn. 22), S. 1, 34. 31 Pütter, op. cit. (Fn. 25), S. 356. 32 Pütter, op. cit. (Fn. 25), S. 358. 33 Sailer, op. cit. (Fn. 22), S. 1, 36. 34 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932.
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9. Kapitel: § 9 Richterliches Methodenbewußtsein
die von Lorenz von Stein entwickelte These der von der gesellschaftlichen Begrifflichkeit abhängigen juristischen Begrifflichkeit. Er schreibt, daß „das geltende Recht nicht eine feste ruhende Masse ist, sondern vielmehr ein stets wechselndes und werdendes Leben“35. Das Recht ist vor diesem Hintergrund im Sinne von Rüthers als „normativ verfestigte Ideologie“ zu werten, das über die wissenschaftliche Grundierung zu einem „Zeitgeistverfestiger“36 avanciert. Die juristische Methodenlehre erscheint somit auch nicht als philosophiefrei. Die Juristen sind gewissermaßen die Manager und Realisatoren der jeweiligen Herrschafts- und Gerechtigkeitsideale. Somit steht jede juristische Methodenlehre – ob sie das weiß und wahrhaben will oder nicht – im Dienste bestimmter philosophisch begründeter Wertvorstellungen und ihrer staatsrechtlichen Durchsetzung. Die Rechtsmethode ist „eine Dienerin der Wertverwirklichung“37. Das Recht entwickelt sich quasi aus der Gesellschaft geschichtlich-zivilisatorisch. In diesem Zusammenhang sei exempli causa auf eine Äußerung von Cramer verwiesen, die er zum Begriff des wohlerworbenen Rechtes getätigt hat: „Es komme darauf an, von welcher Beschaffenheit diejenige Unterthanen sind, wider welche der Dominus Territorii etwas verhängen will“38.
Diese Aussage belegt die ständische Ausrichtung der Reichspublizistik, die weniger auf den Untertanen an sich abstellte, als vielmehr dessen Stand in der Gesellschaft berücksichtigt wissen wollte. Es ging schon zu damaliger Zeit nicht nur um eine reine Rechtserkenntnis (Kognition), sondern immer mehr um eine sog. rechtspolitische Dezision39. Die Richter versuchten immer mehr, ihre eigenen juristischen Ordnungsvorstellungen in die Urteile zu implementieren. Diese richterlichen Umdeutungsstrategien erfolgten hinter der „Charaktermaske der Objektivität“ (Stolleis). Damit läßt sich festhalten, daß „Systemwechsel“ einen Wandel in der Rechtsauffassung bedingten und die Ansicht, hinter dem Recht verberge sich eine „objektive Gerechtigkeit“, sich doch weitestgehend als methodische Naivität erweist. Denn gerade die soziale Befindlichkeit macht den 35 von Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, Neudruck Aalen 1970, S. 136. 36 Vgl. Rüthers, Die Wende-Experten – Zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe, 2. Auflage, München 1995, S. 143. 37 Rüthers, op. cit. (vgl. 2. Kapitel Fn. 2), Rn. 535. 38 v. Cramer, op. cit. (vgl. 1. Kapitel Fn. 10), 7. Theil, S. 92. 39 Hierzu sei noch auf die Studien von Sailer verwiesen, die anhand von Nachzeichnungen der Biographien der jeweiligen Schüler von Pütter, die am Reichskammergericht als Assessoren tätig waren, nachzuweisen versuchen, wie das neue staatsrechtliche Grundverständnis in die Jurisdiktion des Reichskammergerichts eingeflossen ist. Vgl. Sailer, op. cit. (Fn. 22), S. 1, 39 Fn. 95.
III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts 139
Richter empfindlich; er hat es mit bekannten Verhältnissen und mit vergangenen Sachverhalten zu tun: Er findet sich daher dem Druck der Unterscheidung von Freunden und Feinden ausgesetzt; er kommt dadurch leicht auf ein schiefes Gleis („obliquatur“)40. Dieses Dilemma des Richters wird schon bei Colonna deutlich: „Nam iudicum iudicia non sunt de futuris, sed de praeteritis: non universaliter, sed in particulari. Incusantur enim determinatae personae, ad quas est amare vel odire, & saepe talia annexum habent proprium commodum. Ideo iudex de facili obliquatur: nam amantes, & odientes, & aliquod temporale commodum considerantes, non aequaliter iudicant“41.
Deshalb ist es nachdrücklich zu begrüßen, wenn sich unter dem Eindruck der o. g. Fakten zunehmend breite Bestrebungen regen, das von jeher anerkannte Bemühen um eine anwendungsbezogene Rechtsvergleichung42 durch eine ebenso „nutzungsorientierte“ Rechtshistorik als Parallelprogramm zu ergänzen43. Solche Versuche, das entstehende neue Recht in Kenntnis und Beachtung auch seiner Entstehungsgeschichte also „organisch fortschreitend“44 zu gestalten, wehren einer geschichtsblinden Willkür von Richtlinien-Autokraten45. Die Dogmatik und Historik müssen erkennen, daß gerade die Synthese von geschichtlichem und dogmatischem Denken auch und zuallererst die kognitive Aufgabe hat, eine zentrale Bedingung schon für das Verstehen der eigenen Fragen beider Fächer zu schaffen; die Funktion von Rechtsgeschichte als gedanklicher Partner der Dogmatik ist eine doppelte: sie hat nämlich neben und vor der von ihr zu leistenden Wissens40 So Luhmann, Interesse und Interessenjurisprudenz im Spannungsfeld, in: ZNR 1990, S. 1, 3. 41 Aegidus Columnae Romanus (Egidio Colonna): zitiert nach der Ausgabe Romae 1607, Nachdruck Aalen 1967, S. 508. 42 Siehe zu dieser – in ihrer weitgehenden funktionalen Gleichsetzung von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung als Hilfsdisziplinen für die Dogmatik etwa: Coing, in: Universität Bari (Hrsg.), Le nuove frontiere del diritto e il problema dell’ unificatione, Bd. I, S. 198 f. und ders., in: Hopt (Hrsg.), Europäische Integration als Herausforderung des Rechts, München 1991, S. 31, der die „Aufgaben jetzt“ in „gemeinsamen Lösungen“ sieht, die vor allem „unter Berücksichtigung der verschiedenen nationalen Rechte“ zu entwickeln seien; Junker, JZ 1994, S. 923 f.; Kötz, JZ 1992, S. 20 ff. („Holz vom gleichen Stamm“); Repgen, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1997, S. 9 ff. 43 Siehe dazu nur etwa: Bucher, ZEuP 2000, S. 463, 482 ff.; Knütel, ZEuP 1994, S. 262 ff.; Krampe, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, München 1999, S. 345 ff.; Mohnhaupt, in: Lück/Schildt (Hrsg.), Recht – Idee – Geschichte, Köln 2000, S. 657 ff.; Ulmer, JZ 1992, S. 7 f.; früher und umfassender in diesem Sinne etwa Rabel, RheinZ 13, 1924, S. 283. 44 So die bekannte Formulierung Savignys. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Auflage, 1840, S. 192. 45 So plastisch Picker, op. cit. (Fn. 2), S. 763, 851.
140
9. Kapitel: § 9 Richterliches Methodenbewußtsein
vermittlung eben auch eine Verstehensbedingung zu gewährleisten46. Die Zeitdimension der Rechtsgeschichte kann nicht ohne die Zeitdimension der Dogmatik erfaßt werden. Das Wechselspiel ist derart austariert, daß in der Deutung der Geschichtsereignisse immer die Wirkungsgeschichte als konstitutives Sinnelement enthalten ist47. Die Methodenfragen sind in ihrer Quintessenz nichts anderes als Machtfragen48.
46 47 48
Picker, op. cit. (Fn. 2), S. 763, 854. Vgl. Picker, op. cit. (Fn. 2), S. 763, 854 f. Rüthers, JZ 2003, S. 995, 996.
III. Staatsrechtliches Grundverständnis ab der Mitte des 18. Jahrhunderts 141
Johann Stephan Pütter (1725–1807), o. J. Kupferstich von Johann Friedrich Bause (1738–1814), Halle. Nach einem Gemälde von H. Wilhelm Dietz (um 1766).
„Die Gegenwart braucht eine zu ihr passende Vergangenheit“ Niklas Luhmann
10. Kapitel
§ 10 Vergleichende Analyse und Conclusio I. Vergleichende Analyse Unterzieht man die in den einzelnen Arbeitsabschnitten gewonnenen Erkenntnisse und Hypothesen einer „in medias res-Analyse“, so lassen sich abschließend folgende Arbeitsergebnisse als gemeinsame Begegnungsebenen fixieren: Sowohl das Reichskammergericht als auch das Wismarer Tribunal haben mit ihrer Rechtsprechungspraxis einen ganz entscheidenden Beitrag für die heutige Erscheinungsform des Rechtsstaates geliefert. Der deutsche Rechtsstaat entwickelte sich eben auf einer materialen Basis des sog. Rechtswegestaates. Im Vergleich zu Frankreich und Amerika erfolgte keine Revolution, sondern vielmehr eine „revolutionäre Evolution“. Aber auch Evolutionen haben dasselbe Endprodukt wie Revolutionen und können somit als Revolutionen sui generis qualifiziert werden. Der deutsche Rechts(-wege)staat hat sich im Rahmen eines sog. Teleskopverfahrens weiterentwickelt. Zu einer bereits vorhandenen Stange gesellte sich im Laufe der Zeit eine weitere Teleskopstange hinzu, die sich letztlich zu einem formvollendeten Ganzen entwickelte. Zu der ersten Teleskopstange „Eröffnung von Rechtswegen“ bei Verletzung der „iura quaesita“ kam im Laufe der Zeit durch eine entsprechende dogmatische Verfeinerung die Stange „Effektiviät des Rechtsschutzes“ durch die Anwendung reichsgerichtlicher Jurisdiktionskompetenzen auf die territoriale Gerichtsbarkeit hinzu. Beide Gerichtskörper erwiesen sich als Hüter bürgerlicher Rechte und Freiheiten. Ob man die Formulierung von Buchholz eines „Bollwerks der landständischen Verfassungen“1 übernehmen sollte, erscheint mir angesichts dieser sprachlichen Expressivität eher zweifelhaft. Eher ist der Erkenntnis von Jörn2 Sympathie zu bekunden, wonach gerade in dem Tribunal eine „Vermittlungs- und Schlichtungsinstanz“ zwischen Landständen und schwedischer Krone zu sehen ist. 1 2
Buchholz, op. cit. (vgl. 8. Kapitel Fn. 56), S. 14, 31. Jörn, op. cit. (vgl. 8. Kapitel Fn. 60), S. 219, 222.
I. Vergleichende Analyse
143
Und in der Tat haben die diversen Fallbeispiele gezeigt, daß das Tribunal – quasi als Vorläufer des heutigen Mediationsverfahrens – stets bestrebt war, den Weg eines abwägenden Bemühens um ausgleichende Gerechtigkeit zu beschreiten. Die lebendige Durchsichtigkeit der richterlichen Entscheidungspraxis ist wiederum beiden Gerichten gemein. Beide Gerichtskörper zeichnen sich des weiteren durch ein feines und filigranes Rechtsempfinden und eine plastische Form der Rechtstechnik aus. Das Reichskammergericht hat mit der Betonung seiner rechtsvereinheitlichenden Rolle über die Grenzen reichsständischer Herrschaftssysteme hinaus zu einem breiten Wirkungs- und Aktionsradius beigetragen. Ob nun das Wismarer Tribunal auch das Reichskammergericht gerade in den sog. politisch relevanten Prozessen und dem pragmatischen Gebrauch von Vergleichsabschlüssen zur schleunigen Prozeßbeendigung das jurisdiktionelle Wirken des Reichskammergerichts beeinflußt hat, möchte ich bejahen. In diesem Zusammenhang ist an das Wirken des Assessors Christian von Nettelbla zu denken, der gerade mit seiner bibliophilen Sammlerlust3 so manchem Kollegen am Reichskammergericht in strittigen Fragen mit vorzüglichen Büchern und neuester Literatur aushelfen konnte. Auf diese Art und Weise ist es auch zu einem geistigen Austausch4 gekommen so daß über diese Austauschebene das Wirken des Tribunals in seiner „kulturellen Frische und Modernität“ auf das Reichskammergericht übertragen wurde. Weiterer Beleg für den skizzierten Rechtstransfer Wismarer Tribunal ! Reichskammergericht sind die erörterten Gemeinen Bescheide, mit deren Hilfe das Reichskammergericht in praxi schnell auf neue Entwicklungen rechtlich reagieren konnte. Gerade im Bereich des Rechtsschutzes der Untertanen gegenüber der Obrigkeit ist dem Tribunal in Wismar eine größere „Schrittmacherfunktion“ zuzuerkennen als dem Reichskammergericht. Das zeigt sich zum Beispiel daran, daß sich am Tribunal frühzeitig – also gegen Ende des 17. Jahrhunderts – die Strukturen eines dogmatisch-effektiven Rechtsschutzes gegen die Landeshoheit herausgebildet haben. Auch in der Tribunalsordnung selbst ist 3
Vgl. hierzu: Jörn, Stockholm – Greifswald – Wetzlar. Wichtige Stationen im Leben des Reichskammergerichtsassessors Christian von Nettelbla, in: Schwedenzeit, hrsg. v. Stadtgeschichtliches Museum Wismar, Wismar 1998, S. 87–103; ders., Ob rathsam sey, daß die Universität sich einen so kostbahren meuble anschaffe? Der Ankauf der Nettelbladtschen Bibliothek durch die Universität Greifswald im Jahre 1743, in: Virtus est satis hoc uno testificata libr. Festgabe für Manfred Herling, hrsg. von D. Alvermann, N. Jörn und K. Å. Modéer, Hamburg–London 2003, S. 179–200. 4 Für die Vermittlung des schwedischen Staatsrechts, auch in Greifswald, vgl. die Dissertation von Per Nilsén. Nilsén, Att „stoppa munnen till pa bespottare“. Den akademiska undervisningen i svensk statsrätt under frihetstiden (Rättshistoriskt Bibliotek, 59), Stockholm 2001.
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10. Kapitel: § 10 Vergleichende Analyse und Conclusio
die progressive Rechtsprechungs- und Rechtsschutzlinie des Summum tribunal angelegt: Als Einfallstor hierfür ist der Einfluß der Stände auf die Wahl der „assessores“ zu nennen. Darüberhinaus haben die Stände ihre Interessen äußerst selbstbewußt postuliert und auch durchsetzen können. Zudem hat die Auswertung der bereits bisher verzeichneten Akten zur Rechtsprechung des Tribunals gezeigt, daß im Vergleich zu der Jurisdiktionspraxis des Reichskammergerichts am Tribunal überproportional Vergleiche abgeschlossen wurden, die ihrerseits den Rechtsstreit schnell und abschließend beendeten. Die Effektivität des Rechtsschutzes wurde dadurch realisiert, daß die auf reichsstaatlicher Ebene entwickelten Ansätze zum Schutz bürgerlicher Rechte transformiert wurden auf die territorialstaatliche Gerichtsbarkeit. Damit war zugleich auch der Aspekt verknüpft, durch die lokale Nähe der territorialen Obergerichte die ideelle Ferne der Territorien zu den höchsten Reichsgerichten aufgrund der enormen geographischen Weite zum Reichskammergericht zu kompensieren. Läßt man das Wirken der beiden Gerichte also Revue passieren, so kommt man zu der Erkenntnis von Luhmann, wonach „auch ohne weitere Einzelheiten und ohne genauere historische Lokalisierung des Geschehens sich erkennen läßt, wie der Evolutionsprozeß selbst strukturiert ist. Aus welchen konkreten Anlässen und mit Hilfe welcher historischer Zufälligkeiten auch immer kommt es zu einer schärferen Differenzierung der einzelnen evolutionären Mechanismen und damit zu einer höheren Leistungsfähigkeit“5. Zum Problembereich „Justiz“ und „Policey“6 bleibt abschließend zu konstatieren, daß trotz reger Publikationen gerade auf dem Gebiet der Reichspublizistik sich eine schlüssige Abgrenzungsformel nicht im heutigen plastischen Definitionssinne finden läßt. Dies hängt damit zusammen, daß „Policey“7 und „Justiz“ in dem hier zu untersuchenden Zeitraum – also im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus – im „Spannungsfeld von staat5
Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt 1981, S. 12. Die Untersuchungen in der vorliegenden Arbeit zu diesem Komplex lassen sich sehr anschaulich mit einem Auszug aus Friedrich Schillers berühmtesten Gedicht „Das Lied von der Glocke“ illustrieren: „. . . Schwarz bedecket Sich die Erde, Doch den sichern Bürger schrecket Nicht die Nacht, Die den Bösen grässlich wecket, Denn das Auge des Gesetzes wacht“ (vgl. Friedrich Schiller, Dramen IV und Gedichte, hrsg. von Rolf Toman, Köln 1999, S. 316). Der Polizeibegriff hat sich zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Prinzip der Gefahrenabwehr hin gewandelt (vgl. die Formel von Pütter: „Cura avertendi mala futura“), der „wohlgeordnete Staat“ (Raeff, The Well-Ordered Police-State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia 1600–1800, New Haven 1983), sein Gesetz und die auf Sicherheitsgarantie festgelegte Polizei beschützt den Schlaf des Bürgers. 6
I. Vergleichende Analyse
145
licher Gewalt einerseits und ständischer Interessen andererseits standen“8. Mit einer immer mehr anwachsenden Fixierung auf die Rechte der jeweiligen Untertanen ging eine Veränderung des Justizverständnisses einher, die schließlich in die richterliche Absicherung solcher Rechte mündete. Somit kann das Justizstaatsmodell als „Vehikel zur Umsetzung der liberalen Staatszwecklehre angesehen werden“9. In der jurisdiktionellen Tätigkeit des Wismarer Tribunals erwies sich die Abgrenzung zwischen „Justiz“ und „Policey“ als wesentlich übersichtlicher als auf Reichsebene. Dies mag vornehmlich damit zusammenhängen, daß zu diesem Problemkanon Mevius und von Balthasar mit bemerkenswerter Klarheit in ihren Schriften „geistige Einparkhilfen“ geliefert haben, so daß sich das Tribunal in seinen Judikaten durch logische Stringenz und Klarheit auszeichnen konnte. Durch die klare inhaltliche Positionierung zu strittigen Rechtsfragen konnte sich das Wismarer Tribunal quasi ex auctoritate von Anfang an eine solide Position in der Rechtslandschaft erwerben. Dies mag unter anderem damit zusammenhängen, daß das Wismarer Tribunal aufgrund seiner völkerrechtlichen Implementierung in den schwedischen Konglomeratstaat eine größere Unabhängigkeit gegenüber reichspublizistischen Sachzwängen besaß. In dem Abgrenzungsproblem zwischen „Justiz“ und „Policey“ manifestiert sich zudem ein interessantes Paradoxon: Um die eigene Machtbasis zu sichern, mußten seitens des Souveräns Zugeständnisse an die ständischbürgerlichen Forderungen erfolgen; nur so konnte es zur „Geburtstunde“ bzw. zum „Stapellauf“ des Rechtswegestaates kommen. In diesem Faktum erfährt der bereits von Elias10 schön herausgearbeitete sog. „Königsmechanismus“ seine nachhaltige Verifikation. Der gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Prozeß der Scheidung von Verwaltung und Justiz lief einer jahrhundertealten Tendenz der Staatsbehörden diametral entgegen, sich in eigener Sache „von den Schranken der Kontrolle durch die ordentlichen Gerichte“ nach Kräften zu befreien, um eine selbstherrliche Entscheidungsfreiheit ohne Revisionszwang genießen zu können11. Sie widersprach auch dem „gesteigerten Selbstwertgefühl 7 Zur Verwaltung des Polizeistaates prägte Otto Mayer folgenden Ausspruch: „Das Recht hat damit nichts zu tun“ (Mayer, Verwaltungsrecht, 3. Auflage, Berlin 1923, Bd. 1, S. 39). 8 Pahlow, op. cit. (vgl. 6. Kapitel Fn. 56), S. 378 f. 9 Pahlow, op. cit. (vgl. 6. Kapitel Fn. 56), S. 381. 10 Vgl. Elias, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 162), passim. 11 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte I. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1996, S. 461 ff.
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10. Kapitel: § 10 Vergleichende Analyse und Conclusio
der Bürokratie, die es unerträglich fand, daß die Gerichte über die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungen“ fortab zu erkennen hatten. Doch der Erfolg der Verfechter des justizstaatlichen Modells verfestigte sich. So sei als weiterführender Aspekt auf die Reform der Rechtsstellung der „Staatsdienerschaft“, wie sie sich in Maximilian Montgelas’ Bayern als deutschem Musterland moderner Bürokratie verwirklichte, verwiesen.
II. Conclusio Zieht man zu der vergleichenden Rechtsprechungsbiographik in nuce ein Fazit, so bleibt als conclusio festzuhalten, daß die Vorstellung, der einzelne sei gegenüber Hoheitsakten seinerzeit ganz auf die Maxime des „dulde und liquidiere“ festgelegt gewesen, nicht der wirklichen Rechtsschutzsituation entspricht. Ein solcher Rechtsschutzersatz oder sog. „Sekundärrechtsschutz“ bestimmte im wesentlichen nur die Fälle, in denen der Landesherr eine Maßnahme auf das sog. „ius eminens“ stützte. Rudolf von Gneist, dem die spätere Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit viel verdankt, faßt den Rechtszustand auf dieser Vorstufe des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes folgendermaßen zusammen: „Trotz erheblicher Varianten in der Begrenzung der Gerichte und der Verwaltungsbehörden ist das Grundsystem der europäischen Staaten doch ein in den Grundzügen übereinstimmendes, und die Deutschland eigentümlichen Maximen sind keineswegs dem Rechtsschutz des Individualrechts ungünstig. Die verbreitete Meinung, als ob das deutsche Landesstaatsrecht in der Zeit des Absolutismus die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte unbillig „verkürzt“ und den Rechtsschutz des Untertan verkümmert habe, ist eine irrige“12.
Auch der bereits erwähnte Hoscher führt in seinem Werk folgende interessante Passage aus: „Was für ein Mittel muß das deutsche Volk ergreifen, wenn es Beschwerden gegen die Regierung zu haben, wenn es in seinem unveräußerlichen Rechten gekränkt zu seyn glaubt? – Gewiß nicht Rebellion, gewiß nicht Selbsthilfe, da wo ein Oberrichter ist, der Hülfe verschafft und verschaffen muß, der den Unterthan gegen den Herrn höret und schützet, und wo ein Volk seine verletzten Rechte wiedererlangen kann, ohne sich dem Verderben eines Bürgerkrieges und der selnten zu vermeidenden, wenigstens augenblicklichen Anarchie mit allen ihren schrecklichen Folgen auszusetzen“13.
Das Alte Reich als hochkomplexes pluralistisches Konglomerat und „genossenschaftlicher Rechtsverband auf historischer und religiöser Grund12 Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Auflage, München 1879, S. 152. 13 Hoscher, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 130), S. 46.
II. Conclusio
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lage“14 war keineswegs ein „toter Körper“, sondern funktionierte in den ihm zugewiesenen Bereichen. Gerade auf dem Gebiet der Jurisdiktion war es immer präsent. So erscheint auch der Ausspruch eines Betrunkenen, den Goethe im „Faust“15 in Auerbachs Keller mit den Worten: „Das liebe Heil’ge Röm’sche Reich, Wie hält’s nur noch zusammen“ auftreten läßt, in einem deutlich anderen Licht. Der Empfehlung des Zechers Brandner – „Dankt Gott mit jedem Morgen, Daß ihr nicht braucht fürs Röm’sche Reich zu sorgen!“ – bedarf es nicht. Sie gehört vielmehr auf den Kehrichthaufen der Polemik. Die Untersuchungen haben weiterhin den Durchgriff auf die ältere Formel von der Herkunft öffentlich-rechtlicher Dogmatik und Methodik aus der Privatrechtswissenschaft16 an markanten Beispielen akzentuieren können. Insgesamt münden die Ergebnisse der Arbeit in die These der dogmatischen Synchronizität der heutigen subjektiv-öffentlichen Rechte wie sie sich auf verwaltungsprozessualer und verfassungsrechtlicher Ebene präsentieren mit den „iura quaesita“. Die Ergebnisse haben auch gezeigt, daß sich eine tiefgründig betriebene Auseinandersetzung mit Rechtsgeschichte nicht ohne eine eingehende Analyse der Ideengeschichte betreiben läßt. Damit ist die Überleitung zu den weisen Worten von Sten Gagnér aus seinem Opus „Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung“ geschaffen: „Unsere Möglichkeit der rechtsgeschichtlichen Kenntnis überhaupt, das heißt Kenntnis jener zu verschiedenen Zeiten üblichen Vorstellungen und Begriffe, die mit dem Rechtsleben in irgendeinem Zusammenhang standen, ist ja von deren literarischen Niederschlägen abhängig. Der Weg zur Ideologie geht über das Wortstudium“17.
Und es heißt weiter erläuternd: „Die zur Kenntnis notwendige Begriffsanalyse ist die Analyse der Wortverwendung. . . . Als primäre Frage erhebt sich das Verständnis des im jeweiligen Fall benutzten Wortes aus seiner damaligen Stellung im Sprachsystem“18.
Als abschließende Stellungnahme bleiben zwei Aspekte festzuhalten: Wie es ist, kann nur derjenige verstehen, der weiß, wie es wurde. Zum anderen fördert eine Verfassungsvergleichung parallel eine Kulturvergleichung 14
Wehler, op. cit. (Fn. 11), S. 47. Goethe, op. cit. (vgl. 4. Kapitel Fn. 1), Faust, Bd. 3, S. 68. 16 Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt a. Main 1958, passim. 17 Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, S. 55. 18 Gagnér, op. cit. (Fn. 17), S. 55, Anm. 1. 15
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10. Kapitel: § 10 Vergleichende Analyse und Conclusio
ans Licht und liefert ein unverzichtbares methodisches Instrumentarium19 für Wissenschaft und Praxis.
19 Ernst Rabel hat in seinem Aufsatz über „Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung“ etwas formuliert, das das Geschäft des Rechtshistorikers genauso treffend beschreibt: „Der Stoff des Nachdenkens über die Probleme des Rechts muß das Recht der gesamten Erde sein, vergangenes und heutiges, der Zusammenhang des Rechts mit Boden, Klima und Rasse, mit geschichtlichen Schicksalen der Völker – Krieg, Revolution, Staatengründung, Unterjochung –, mit religiösen und ethischen Vorstellungen; Ehrgeiz und schöpferischer Kraft von Einzelpersonen; Bedürfnis von Gütererzeugung und -verbrauch; Interesse von Schichten, Parteien, Klassen. Es wirken Geistesströmungen aller Art – denn nicht bloß Feudalismus, Liberalismus, Sozialismus erzeugen jeder ein anderes Recht –, und die Folgerichtigkeit eingeschlagener Rechtsbahnen, und nicht zuletzt die Suche nach einem staatlichen und rechtlichen Ideal. Alles das bedingt sich gegenseitig in sozialer, wirtschaftlicher, rechtlicher Gestaltung. Tausendfältig schillert und zittert unter Sonne und Wind das Recht jedes entwickelten Volkes. All diese vibrierenden Körper zusammen bilden ein noch von niemandem mit Anschauung erfaßtes Ganzes“ (RheinZ 13 (1924), S. 279, 283).
II. Conclusio
Audienz am Reichskammergericht Wetzlar Mitte des 18. Jahrhunderts20
20
Städtische Sammlungen Wetzlar.
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10. Kapitel: § 10 Vergleichende Analyse und Conclusio
Der Fürstenhof inWismar – Sitz des Wismarer Tribunals21
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Aus: Wismarer Beiträge, op. cit. (vgl. 3. Kapitel Fn. 163), S. 6.
„Die Geschichte ist keine Realität, sondern ein Zweig der Literatur“ Sebastian Haffner
11. Kapitel
§ 11 Schwedische Zusammenfassung1 Sammanfattning Låter man de rön och hypoteser som har utvunnits i de enskilda arbetsavsnitten ovan undergå en in medias res-analys, kan avslutningsvis följande arbetsresultats definieras: Såväl Rikskammarrätten som Tribunalet i Wismar har med sin praxis givit avgörande bidrag till karaktären hos dagens rättsstat. Den tyska rättsstaten utvecklades på den s.k. rättsvägsstatens materiella bas: till skillnad från Frankrike och Amerika ägde i Tyskland ingen revolution rum; Tysklands var snarare skådeplatsen för en ”revolutionär evolution”. Men evolutioner har samma slutprodukt som revolutioner och kan därigenom kvalificeras som revolutioner sui generis. Den tyska rätts(vägs)staten utvecklades inom ramarna för ett s.k. teleskopför-farande: till en redan existerande del av teleskopet sällade sig under tidens lopp ytterligare delar som slutligen utvecklade sig till ett formfulländat helt. Båda domstolar uppträdde som väktare av medborgerliga rättigheter och friheter – Hüter bürgerlicher Rechte und Freiheiten. Huruvida man fullt ut bör acceptera Buchholz’ formulering av verksamheten som ett värn för den av lantständerna försvarade författningen – Bollwerk der landständischen Verfassung – förefaller mig, med hänsyn till den språkliga expressiviteten, något tvivelaktigt. Jörns uppfattning om Tribunalet som en medlingsinstans mellan lantständerna och den svenska kronan torde man kunna omfatta med större sympati. Rent faktiskt har olika fallexempel visat, att Tribunalet – så att säga som en föregångare på vägen till dagens medlingsförfaranden – alltid eftersträvade en avvägning mellan intressena i det enskilda fallet; transparensen i domstolspraxis är något som är gemensamt för de båda domstolarna. Bägge institutioner utmärkte sig vidare genom en väl utvecklad rättskänsla och en plastisk rättsteknisk form. Rikskammarrätten hade genom betoningen på sin 1 Der Autor dankt an dieser Stelle nochmals ganz herzlich Dr. Per Nilsén für die kompetente Erstellung der schwedischen Zusammenfassung.
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§ 11 Schwedische Zusammenfassung
rättsenande roll erövrat en omfattande aktionsradie över gränserna för de olika riksständernas maktsfärer. Frågan om Tribunalet påverkat Rikskammarrätten vad avser de s.k. politiskt relevanta processerna och det pragmatiska bruket av förlikningsavtal, skulle jag vilja besvara jakande. I detta sammanhang bör assessorn Christian von Nettelblas gärning framhållas – assessorns bibliofila samlarlust medförde att han kunde bispringa åtskilliga kolleger vid Rikskammarrätten med den bästa och den nyaste litteraturen på aktuella områden. På så vis måste också ett intellektuellt utbyte ha kommit till stånd, ett utbyte där Tribunalets praxis uppmärksammades. Särskilt inom området för undersåtarnas rättsskydd i förhållande till överheten bör Tribunalet i Wismar tillerkännas en viktigare roll som föregångare än Rikskammarrätten. Detta framgår av det faktum, att Tribunalet tidigt – redan under slutet av 1600-talet – hade utvecklat ett effektivt rättsskydd gentemot landsöverheten. Även i tribunalsordningen framgår den progressiva rättskipnings- och rättsskyddslinjen: en väsentlig betydelse i sammanhanget bör tillskrivas ständernas inflytande på valet av assessorer. Därutöver har genomgången av de hittills förtecknade akterna avseende Tribunalets rättskipande verksamhet visat att denna domstol, i förhållande till Rikskammarrättens praxis, uppvisar en proportionellt sett hög grad av förlikningar. Effektiviteten hos rättsskyddet förverkligades genom att de på riksstatlig nivå utvecklade ansatserna till skydd för medborgerliga rättigheter transformerades till att bli tillämpliga i den territorialstatliga rättsordningen. Förknippad med denna utveckling var också aspekten att kompensera territoriernas avstånd till de högsta riksdomstolarna genom de territoriella överrätternas närhet. Vad gäller problemområdet justis och politi, kvarstår det att konstatera att man trots intensiv publikationsverksamhet rörande den s.k. rikspublicistiken – Reichspublizistik – inte funnit en övertygande avgränsningsformel. Detta hänger samman med att komplexet politi (Policey) och justis (Justiz) under den i detta sammanhang undersökta perioden, d.v.s. under den upplysta absolutismens tidsålder, befann sig i ett spänningsfält mellan å ena sidan statsmakt, å andra sidan ståndsintressen. Med en tilltagande fixering vid respektive undersåtars rättigheter undergick rättsuppfattningen en förändring som slutligen utmynnade i ett rättsskydd av dessa rättigheter. På så vis kan justisstatsmodellen ses som en vehikel för omsättningen av den liberala läran om statens ändamål (Pahlow). I det Wismarska Tribunalets verksamhet visade avgränsningen mellan justis och politi sig vara väsentligt översiktligare än på riksnivå. Detta bör framförallt hänga samman med att Mevius och von Balthasar in sina skrifter ägnat sig åt problemställningen och därigenom möjliggjort en mera logisk och stringent praxis vid den nordtyska domstolen.
Sammanfattning
I avgränsningen mellan justis och politi manifesterar sig därutöver en tressant paradox: för att säkra den egna maktbasen, tvingades suveränen eftergifter i överensstämmelse med ständernas krav – bara på detta kunde rättsvägsstaten realiseras. Genom detta faktum verifieras den Elias framförda uppfattningen om kungadömets mekanism.
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intill vis av
Ser man på rättstillämpningen i sin helhet, kan man sammanfattningsvis hävda att föreställningen att den enskilde i förhållande till sin överhet helt och hållet vore utlämnad till maximen dulde und liquidiere inte motsvarar den verkliga rättsskyddssituationen; en sådan rättsskyddsersättning var väsentligen bestämmande bara i de fall, då landsherren stödde en åtgärd på ius eminens. Rudolf von Gneist – som den senare utvecklingen av förvaltningsrätten har mycket att tacka – sammanfattade tillståndet under detta förstadium till dagens rättsskydd inom förvaltningsrätten på följande sätt: ”Trots avsevärda varianter i domstolarnas och förvaltningsmyndigheternas begränsning, är de europeiska staternas grundsystem ändå ett i grunddragen överensstämmande och de för Tyskland egendomliga maximerna är på intet sätt ofördelaktiga för individualrättens rättsskydd. Den utbredda åsikten, att den tyska landsstatsrätten under absolutismens tidevarv på ett obilligt sätt skulle ha ’kortat av’ de ordinarie domstolarnas behörighet och att undersåtarnas rättsskydd skulle ha förtvinat, är en felaktig åsikt”. Den äldre uppfattningen om den offentligrättsliga dogmatikens och metodikens rötter i privaträttsvetenskapen har genom undersökningen accentuerats på nytt.
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Schwedisches Archiv
Sachwortverzeichnis Appellation 31 ff. Appellationsprivilegien 75 ff., 106 ff. Dezisionenliteratur 16 Gerichtsverfassungsorganismus – im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 28 ff. – im schwedischen Konglomeratstaat 110 ff. Gute Ordnung 36 Herrschaftsgewalt 29 iura et laesiones partium 39 ff. ius eminens 44 ius privatum 42 ius publicum 42 ius quaesitum 43, 44, 59 Jurisdiktionsgewalt 29 Juristische Interpretationstheorie 133 Justizsachen – vor dem Reichskammergericht 38 ff., 47 – vor dem Wismarer Tribunal 127 ff. Kammerjustiz 55 ff., 85 ff. Kant, Immanuel 69 ff. Kompetenzkonflikt „Justiz und Polizei“ 27 Landeshoheit 80 ff. Leibniz, Gottfried Wilhelm 99 ff. libertas naturalis siehe: Natürliche Freiheit Locke, John 67
Natürliche Freiheit 61, 63 ff., 136 Polizeibegriff – im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 34 ff. – in Schweden 109 ff. Polizeisachen – vor dem Reichskammergericht 38 ff., 47 – vor dem Wismarer Tribunal 127 ff. Policeywissenschaft 86, 88 ff. privilegia de non appellando 32 – privilegia illimitata 75 – privilegia limitata 75 Prozeßbeschleunigung 120 ff. Pütter, Johann Stephan 43 ff., 135 ff. Rechtsgeschichte – Aufgaben und Funktion 13 ff. Rechtsschutz – Effektivität 144 – verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz 17 Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG 23 ff. Rechtsstaatsbegriff – formaler 101 – materialer 101 revolutionäre Evolution 142 richterliches Methodenbewußtsein 132 ff. salus publica 64 Sozialdisziplinierung 37 Sozialregulierung 37
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Sachwortverzeichnis
Staatsrechtliches Grundverständnis 135 ff. Subjektives Recht 20, 25 superioritas territorialis 74
Verwaltungsinterne Kammerjustiz 91 ff. Vorläufiges Rechtsschutzbegehren – Anforderungen 52
Territoriale Gerichtsverfassung 73 ff. Tribunalsordnung 119 ff.
Wetzlarische Nebenstunden 15 Wismarer Tribunal 106 ff.