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German Pages 401 Year 1999
STEFAN SCHElL
Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 107
Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912 Eine wahlgeschichtliche Untersuchung
Von Stefan Scheil
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme ScheU, Stefan: Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912: eine wahlgeschichtliche Untersuchung / von Stefan Scheil. - Berlin: Duncker und Humblot, 1999 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft ; Bd. 107) Zugl.: Karlsruhe, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09483-2
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09483-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Meinen Eltern
Vorwort Die Veröffentlichung einer neuen Abhandlung über den politischen Antisemitismus in Deutschland bedarf kaum einer Rechtfertigung, auch wenn zu diesem Thema bereits Tausende von Titeln vorliegen. Zu schillernd ist das Phänomen, zu verheerend waren seine geschichtlichen Folgen, als daß es sich je abschließend behandeln ließe. Im Gegenteil: Gerade weil sich die nationalsozialistische Ära wie eine dunkle Wolke über die ganze deutsche Geschichte und deren Historiographie gelegt hat, bleibt die Auseinandersetzung mit ihr eine permanente Aufgabe der Geschichtswissenschaft - wie zuletzt im Streit um Daniel Goldhagens provozierende Thesen in vielfacher Weise verdeutlicht worden ist. I Nun kann wohl keine wissenschaftliche Arbeit jene einfachen Antworten geben, die Goldhagen vorgetragen hat und die oft ein Bedürfnis der Öffentlichkeit zu sein scheinen, wie der Verlauf der Goldhagen-Debatte sichtbar werden ließ. Immerhin ist es erfreulich, wenn nach getaner Arbeit doch etwas mehr Licht ins Dunkel fällt. Um dies für ein Teilgebiet der Antisemitismusforschung zu erreichen, habe ich versucht, neue Wege zu gehen und dem politischen Antisemitismus der Kaiserzeit auf andere Weise nachzuspüren, als dies die Forschung bisher getan hat. Er wurde dort als Randerscheinung aufge faßt: Im Schnitt bekam er nur drei Prozent Wählerstimmen, seine judenfeindlichen Äußerungen ließen sich als Polemik gesellschaftlicher Außenseiter auffassen und nach der lahrhundertwende folgte scheinbar der politische Absturz - dies und anderes mehr ließ dieses Urteil auch angemessen erscheinen. Nachdem mir meine Magisterarbeit Gelegenheit gegeben hatte, den Antisemitismus auf der regionalen Ebene des Großherzogturns Baden kennenzulernen, kamen allerdings Zweifel an diesem Erkenntnismuster auf. Auch hier, im liberalen Südwesten Deutschlands, konnte er nur den Gewinn weniger Mandate feiern - aber er erzielte dabei jeweils absolute Mehrheiten. Und es gab immer wieder ausgiebig verbalen Zuspruch seitens seriöser bürgerlicher Par-
I Vgl. dazu jetzt: Norman G. FinkelsteinlRuth Bettina Birn: Eine Nation auf dem Prüfstand. Die Goldhagen-These und die historische Wahrheit, Hildesheim 1998.
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Vorwort
teien, wie den Nationalliberalen, Konservativen und manchmal sogar von Linksliberalen. Aus diesen Eindrücken entstand die Idee zu der vorliegenden Arbeit, deren Basis von der schlichten Frage gebildet wird, wie es eigentlich dazu kommen konnte, daß eine Drei-Prozent-Bewegung über fünfundzwanzig Jahre hinweg, zwischen 1887 und 1912, in verschiedensten protestantischen Regionen Deutschlands absolute Mehrheiten gefunden hat. Ich hoffe, darauf eine Antwort gefunden zu haben. Die diesem Buch zugrunde liegende Abhandlung wurde im Wintersemester 1996/97 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe als Dissertation angenommen. Ich mächte allen danken, die dazu beigetragen haben, vor allem aber Prof. Dr. Rudolf Lill und Prof. Dr. Wolfgang Altgeld für Unterstützung, Anregungen und Kritik sowohl während der Konzeption als auch der Abfassung des Textes, sowie Frau Gerti Goretzko, ohne deren immerwährende Hilfsbereitschaft manches organisatorische Problem unlösbar geblieben wäre. Ein besonderer Dank gilt auch meiner Frau, deren Einsatz viel dazu beigetragen hat, den Text aus einem Manuskript in die jetzt vorliegende Druckausgabe zu verwandeln und nicht zuletzt gilt mein Dank auch der Stadt Karlsruhe, die sich an der Drucklegung finanziell beteiligt hat. Stefan Scheil
Inhaltsverzeichnis I.
11.
Die Entwicklung deutscher Antisemitenparteien zwischen 1881 und 1912: Ein wahlgeschichtlicher Untersuchungsansatz. ................ ................ ......... ...... I. Zum Erscheinungsbild der Antisemitenparteien im Urteil von Zeitgenossen und Forschung.................. ............................................................. 2. Hypothesen zur Situation des politischen Antisemitismus im Kaiserreich........................................................................................................... 3. Methoden und Grenzen historischer Wahlforschung................................. a) Quellen................................................................................................ b) Besondere Probleme des Mehrheitswahlrechts.................................... c) Diffuses Denken als Prinzip: Der Antisemitismus zwischen Milieu und "cultural code"............................................................................. d) Wirkungen des Mehrheitswahlrechts auf die Verbreitung einzelner Parteien.................................. .... ......................................................... 4. Grundsätzliches zum deutschen Parteien system der wilhelminischen Zeit............................................................................................................ 5. Der moderne Antisemitismus als Rassismus: Die Einheit von Volk, Rasse und Nation....................................................................................... a) Die Entwicklung des Rassismus zur politischen Kategorie: Die Rasse als Gegenstand der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert....... b) Die Entwicklung des Rassismus zur politischen Kategorie: Die Rasse als ideologischer Begriff............................................................ c) Das völkische Paradigma und seine Vorstellungswelt........................ Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen: Das politische Spektrum der wilhelminischen Ära und sein Verhältnis zum Antisemitismus...................... I. Der BdL als völkisch-nationale Gruppierung.......................................... 2. Vor der Schwierigkeit, Antisemitismus von Rassismus zu trennen: Die Christlichsozialen Adolf Stöckers...................................................... 3. Die Deutschkonservativen zwischen Thron und Nation, Interessenvertretung und Ideologie.................................... .............................................. a) Die Ablösung des Konservativ - Liberalen Gegensatzes..................... b) Die konservative Partei zwischen informeller Einflußnahme und demokratischer Legitimation............................................................... 4. Eine nationale Partei mit vielen regionalen Gesichtern: Die Nationalliberalen..................................................................................................
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Inhaltsverzeichnis 5. Die linksliberalen Parteien: Politische Heimat des deutschen Judentums ?............................................................................................ 6. Die Sozialdemokraten: Antipoden des bürgerlichen Lagers und damit auch der Antisemiten.................................. ............ ........... .... ...... ............ 7. Das Zentrum............................................................................................
"I.
IV.
Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen zwischen 1881 und 1912: Die Wahlkämpfe und ihr politischer Hintergrund........................... I. Die antisemitische "Berliner Bewegung" bei den Reichstagswahlen 1881 und 1884..... ................................................................................ .... a) Die Wahl von 1884............................................................................ 2. Nach dem Ende der Berliner Bewegung: Die Kartellwahlen von 1887... 3. Reichstagswahlen 1890............................................................................ 4. Die Reichstagswahlen von 1893: Der politische Antisemitismus gewinnt reichsweite Bedeutung.................................................................... a) Folgen der Wahl: Eine Ursachenforschung....................................... b) Der parlamentarische Schulterschluß zwischen Konservativen und Antisemiten oder: Jeder gute Deutsche muß Antisemit sein .............. 5. Reichstagswahlen 1898: Kein weiterer Zugewinn der Antisemiten.......... a) Der Hamburger Parteitag (1899) der DsRP: Streit über das Verhältnis zu nahestehenden Parteien und radikale Beschlüsse zur "Judenfrage"....................................................................................... 6. Reichstagswahlen 1903............................................................................ 7. Reichstagswahlen 1907: Der Bülow-Block und der Antisemitismus...... 8. Die "Judenwahlen" von 1912.................................................................. a) Die politischen Folgen der Wahl....................................................... Übersicht über Wahlergebnisse der Parteien mit antisemitischer Ausrichtung von 1890 bis 1912.................................................................................. 1. Einleitung............................................ .............................................. ...... 2. Reichstagswahlergebnisse aller Parteien zwischen 1881 und 1912 in Stimmprozenten und Mandaten............................................................... 3. Reichstagswahlergebnisse der verschiedenen antisemitischen Parteien und Gruppierungen.................................................. ......... .......... ......... .... a) Ergebnisse einzelner Parteien..................................................... ....... b) Ergebnisse seit 1890 nach Wahlen aufgegliedert................................ c) Mandatsverteilung der erfaßten Gruppen........................................... d) Stimmen bei den Reichstagswahlen................................................... 4. Stichwahlentscheidungen unter Beteiligung antisemitischer Parteien oder: Der permanente Bülow-Block......................................................... a) Antisemitische Kandidaten in den Stichwahlen von 1881-1912: Stichwahlerfolge und Niederlagen......................................................
62 64 67 72 72 76 78 81 85 92 95 99
105 109 113 120 126 128 128 130 13 I 131 132 134 134 134 136
1nhaltsverzeichnis b) Antisemitische Kandidaten in den Stichwahlen von 188 I bis 1912: Stichwahlhilfe zugunsten antisemitischer Parteien oder ihrer Gegner c) Stichwahlhilfe zugunsten antisemitischer Parteien............................. d) Wählerwanderungen antisemitisch stimmender Wähler nach dem Ausscheiden der antisemitischen Parteien in der Hauptwahl.............. V.
VI.
Antisemitische Hochburgen............................................................................. I. Vergleichende Aufstellung der antisemitischen Wahlkreise mit dem Reichsdurchschnitt nach Wählerzahl und Wahlbeteiligung...................... 2. Siedlungsstruktur und Konfession antisemitischer "Hochburgen"........... a) Siedlungsstruktur................................................................................ b) Konfessionelle Struktur.............. ...................... ... ........ ................ ....... 3. Die antisemitischen Parteien und das bürgerliche Lager: Ein Vergleich der Wahlergebnisse im Reich und in den Hochburgen.............................. 4. Diachroner Vergleich der Wahlergebnisse in Antisemitischen Hochburgen.......................................................................................................
II
136 137 138 140 140 141 141 142 144 146
Mandatsträger und Funktionäre antisemitischer Parteien und Verbände........ I. Parteiwechsel antisemitischer Reichstagskandidaten................................ 2. Bildung und Beruf antisemitischer Politiker............................................. 3. Namen und Kandidaturen..........................................................................
221 222 225 234
VII. Zusammenfassung und Schlußbetrachtung.....................................................
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VIII. Anhang............................................................................................................ 1. Antisemitische Kandidaturen bei den Reichstagswahlen zwischen 1881 und 1912................................................................................................... a) Reichstagswahlen 1881...................................................................... b) Reichstagswahlen 1884............ .. ................................ .. ........... .. ......... c) Reichstagswahlen 1887...................................................................... d) Reichstagswahlen 1890...................................................................... e) Reichstagswahlen 1893...................................................................... f) Reichstagswahlen 1898............... .. ..................................................... g) Reichstagswahlen 1903........... .... ............. ..... ...... ............................... h) Reichstagswahlen 1907............... .. ..................................................... i) Reichstagswahlen 1912...................................................................... 2. Quelleneditionen, zeitgenössische politische Schriften, Nachschlagewerke und Memoirenliteratur. .................................................................. 3. Sekundärliteratur................................................................... ................... 4. Zeitgenössische Zeitungen und Periodika................................................ 5. Statistiken und Dokumentationen............................................................ 6. Nach Abschluß des Manuskripts erschienen............................................ 7. Sach- und Personenindex.........................................................................
272 272 272 274 275 276 281 303 327 349 363 379 386 395 396 396 396
Abkürzungsverzeichnis AdV ASW AVP B.Bd. BdL
c.c.c.
CsP DkP DkrVg. DnHV DRP DsP DsRP DsRV FV FVP LV MdA MdR MV NL Ns SPD WV Z
Alldeutscher Verband Antisemitischer Wahlverein Antisemitische Volkspartei Bayerischer Bauernbund Bund der Landwirte Conservatives Centralcomitee Christlichsoziale Partei Deutschkonservative Partei Demokratische Vereinigung Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband Deutsche Reformpartei Deutschsoziale Partei Deutschsoziale Reformpartei Deutschsozialer Reformverein Freisinnige Vereinigung Freisinnige Volkspartei Liberale Vereinigung Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses Mitglied des Reichstags Mittelstandsvereinigung Nationalliberale Partei Nationalsozialer Verein Sozialdemokratische Partei Wirtschaftliche Vereinigung Zentrumspartei
I. Die Entwicklung deutscher Antisemitenparteien zwischen 1881 und 1912: Ein wahlgeschichtlicher Untersuchungsansatz 1. Zum Erscheinungsbild der Antisemitenparteien
im Urteil von Zeitgenossen und Forschung
Die Jahre nach 1893 und besonders nach der Jahrhundertwende gelten allgemein als Zeiten des Niedergangs für die antisemitische Bewegung im wilhelminischen Deutschland. Bereits zeitgenössische Beobachter, auch aus der antisemitischen Szene selbst, sahen dies so, und die Forschung hat dieses Urteil weitgehend übernommen oder bestätigt. Ein insgesamt ziemlich geringschätziges Urteil über die menschlichen Qualitäten der Antisemiten des Kaiserreichs rundet nicht selten das Bild ab. 1 Dieser Meinung lag nicht zuletzt ein Vergleich der antisemitischen Gruppierungen des Kaiserreichs mit der NSDAP zugrunde. 2 Unter dem Eindruck des Dritten Reiches mußten die politischen Erfolge der Christlichsozialen Partei Adolf Stöckers/ der Deutschsozialen Partei, der Deutschen Reformpartei und der "wilden" Antisemiten des Kaiserreichs trotz der vermuteten Vorläuferrolle zwangsläufig marginal wirken. Das zweite Kaiserreich bot ihnen für einen wirklich verändernden Einfluß offenbar keine Gelegenheit, denn es war trotz aller inneren Konflikte durch soziale Spannungen und eine anachronistische Verfassung ein zu starker Staat, um durch innenpolitische Entwicklungen radi-
1 Dazu etwa Hel/mut von Ger/ach (1987), S. 104: "Unter den antisemitischen Führern habe ich nur wenig wirklich anständige Leute kennengelernt."
, Dieser Vergleich wurde zuerst von Antisemiten wie rh. Fritsch und Wilhelm Buch gezogen, die bereits vor dem Weltkrieg politisch aktiv waren und den Aufstieg der NSDAP noch erlebten. In der Forschung wurde der entsprechende Tenor durch den Ansatz Paul Massings vorgegeben, der in den Antisemiten des Kaiserreichs das "Rehearsal for Destruction" suchte. Deutsch: Paul Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt 1959. , Die Eckdaten zu Stöckers politischer Karriere, wie auch zu allen anderen in dieser Arbeit genannten antisemitischen Politikern finden sich in Abschnitt V. Zu Stöcker vgl. auch Abschnitt 11. 2.
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
kaIe Veränderungen zu erfahren. 4 Dies galt nicht nur für die Radikalen von rechts, sondern auch für andere politische Kräfte wie die jederzeit wesentlich bedeutendere Sozialdemokratie, die erst nach der Schwächung des Reichs durch die Niederlage des Weltkriegs zur Regierungspartei wurde. 5 Es ist nun eines der Ziele dieser Arbeit, den Einfluß des wilhelminischen Verfassungs- und Regierungssystems auf die politische Entwicklung des Antisemitismus im Kaiserreich zu untersuchen. Im Rahmen dieser Untersuchung soll unter anderem ergründet werden, ob die Rolle der Antisemiten als politische und moralische Außenseiter überhaupt in dieser Form bestand. Andere Erklärungsmöglichkeiten für den Umfang und die letztendlich regionale Begrenztheit ihrer Erfolge könnten beispielsweise auch im Einfluß des herrschenden Wahlsystems zu suchen sein, denn die kulturellen und sozialen Faktoren, die neben der politischen Überzeugung der Wähler eine Wahlentscheidung beeinflussen können, mußten dies seit 1871 in den einzelnen Wahlkreisen unter sehr verschiedenen Bedingungen tun. So konnte sich in den Kreisen trotz des DlUcks der Reichspolitik in gewissem Maß eine eigenständige politische Tradition ausbilden, zusätzlich dadurch begünstigt, daß im deutschen Reich nach absolutem Mehrheitswahlrecht zu wählen war, wobei gegebenenfalls in einer Stichwahl der Inhaber der absoluten Mehrheit ermittelt wurde. Das war ein recht originelles Verfahren und obwohl es im europäischen Ausland nur wenige Vergleichsmöglichkeiten gibt, deutet vieles darauf hin, daß unter den Verhältnissen dieses Wahlrechts eine Zersplitterung des Parteiensystems begün-
4 Die Widersprüchlichkeit der Verfassung, die zugleich Elemente moderner Massendemokratie wie etwa das allgemeine Wahlrecht für den Reichstag enthielt und doch Raum für das "persönliche Regiment" eines überforderten Kaisers bot, führte auch im rechten Lager zu einer ständigen Unzufriedenheit, die sich in radikalen Umbauplänen in Richtung Ständestaat äußerte. Trotz des großen Einflusses solcher Gedanken in Regierung und Wirtschaft fand sich jedoch kein Weg, diese Pläne zu konkretisieren. Über die Versuche in diese Richtung hat Dirk Stegmann: "Die Erben Bisrnarcks" (1970) eine materialreiche Untersuchung vorgelegt, die auch der hier vorliegenden Arbeit einige Fingerzeige gab. Leider ist Stegmanns Ansatz, Verfassungs-, Wirtschafts-, Sozialgeschichte und politische Geschichte zugleich zu schreiben, allzu weit gespannt. Die Geschichte der bürgerlichen Parteien und Verbände mutiert bei ihm geradezu zu einer permanenten Verschwörung gegen den Staat, die kontinuierlich weiter gelaufen sei und erst mit der Machtübernahme Hitlers an ihr Ziel kam.
; Diesem Vergleich liegt die Ansicht zugrunde, daß die Sozialdemokratie in ihrer Funktion als revolutionäre Alternative zum wilhelminischen Staat in mancher Hinsicht mit den Antisemiten verglichen werden kann, auch wenn diese sich (wie zu zeigen sein wird) schnell einen Platz innerhalb des bürgerlichen Partei systems sicherten. Eine moralische Gleichsetzung ist nicht beabsichtigt.
I. Zum Erscheinungsbild der Antisemitenparteien
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stigt wird. 6 Da das deutsche Parteiensystem nun ohnehin seit seiner Entstehung sehr heterogen gegliedert war, kam dieser Effekt voll zum Tragen. 7 Wie bereits gesagt, beeinflußt unter anderem der Nationalsozialismus das Urteil über die wilhelminischen Antisemiten. Die nationalsozialistische Ära gilt inzwischen als das dramatischste Beispiel flir die Absage an alle Grundsätze der Menschlichkeit, zumindest in der neueren Geschichte Deutschlands. Dies wirkt sich auf das Urteil über alle aus, die in irgendeiner Weise, sei es als Vorläufer oder Nachfolger, mit ihr in Verbindung gebracht werden können. In diesem Licht betrachtet, wirken die Antisemiten des Kaiserreichs nicht nur als politische, sondern auch als krasse moralische Außenseiter. Es ist eine der Thesen dieser Untersuchung, daß diese Ansicht im wesentlichen das Ergebnis einer rückwärtsgewandten Projektion ist. Im Urteil der Zeitgenossen findet sie sich in erster Linie in politischer Polemik wieder, was auf die zeitgenössischen Wähler, auch auf einen Teil der Anhänger linksliberaler Parteien und sogar des Zentrums, dem eine gewisse Affinität zum rechtsbürgerlichen Lager nicht fremd war, keinen weiteren Eindruck machte. 8 Die Stimmabgabe der
6 Vgl. beispielsweise M. Duvergers Aufsatz: Der Einfluß der Wahlsysteme auf das politische Leben, in: BüschiSteinbach (Hrsg.), Vergleichende Europäische Wahlgeschichte (1983), S. 30 f. Duverger spricht von einem Trend zur Dualisierung in den einzelnen Wahlkreisen, bei gleichzeitiger Zersplitterung auf nationaler Ebene. Diese Zersplitterung sei jedoch von soziologischen Spannungen abhängig und finde in homogenen Gesellschaften nicht statt. Dazu mehr im Abschnitt "Methoden und Probleme der historischen Wahl forschung". Leider gab es nur in Italien und Österreich bis 1918 ein absolutes Mehrheitswahlrecht, so daß sich die Vergleichsmöglichkeiten in Grenzen halten. Grundsätzlich führt die Notwendigkeit, mehr als 50 Prozent der Stimmen in einem Wahlkreis zu gewinnen, zu einer tendenziellen Stärkung lokaler Wahlorganisationen und im Wahlkreis persönlich bekannter Kandidaten gegenüber den Parteizentralen. 7 Zur allgemeinen Charakteristik des deutschen Parteisystems vgl. die Einschätzung von Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918 (1993), S. 312. Nipperdey sieht die Parteien als "Weltanschauungsparteien", deren soziale und weltanschauliche Verortung ein "Erbe der deutschen Heterogenität" vor der Reichsgründung gewesen sei. Er liegt damit auf einer Linie etwa mit Gerhard A. Ritter, der diese Einschätzung bereits in "Die Deutschen Parteien 1830-1914" (1985) vertreten hat. Tats.ächlich sind zumindest die regionale und konfessionelle Begrenztheit der Parteien offensichtlich. Horst Näckerkam in einem Vergleich den Reichstagswahlen 1912 und 1924 (1987), S. 155 gar zu dem Schluß, diese Begrenzungen seien auch nach der Revolution zumindest bis 1924 noch wirksam gewesen. Schwieriger ist die Abgrenzung des sozialen Umfelds der jeweiligen Anhängerschaft. Hier können aufgrund mangelnden Datenmaterials oft nur Mutmaßungen angestellt werden. 8 Zur Bereitschaft bürgerlicher Wähler, ihre Stimme antisemitischen Kandidaten zur Verfügung zu stellen, siehe Kap. IV. 3. (Stichwahlen).
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
Wähler beider Richtungen in den Stichwahlen deutet darauf hin, wobei allerdings die seltenere Zustimmung der Zentrumswähler auf taktische Anweisungen der Parteileitung in den Wahlkreisen zurückzuführen war und von antisemitischer Seite auch gänzlich unerwidert blieb. Den Antisemitenparteien des Kaiserreichs blieb die Erfüllung ihrer Forderungen aus der eigenen "Gründerzeit" in den 1880er Jahren weitgehend verwehrt. 9 Es gelang ihnen nicht, irgendwelche gesetzlichen Restriktionen gegen das Judentum durchzusetzen. Sie blieben politisch eine Randerscheinung, und wenn Friedrich III. sie als "Schmach des Jahrhunderts" bezeichnet haben sollte, konnten sie sich, ob der zugestandenen Wichtigkeit, eigentlich noch geschmeichelt fuhlen. lo Dennoch irritiert der negative Befund über die Wichtigkeit des politischen Antisemitismus im Kaiserreich. Das liegt zum einen erneut an dem Vergleich mit den Nationalsozialisten. Zwischen der Niederlage der rechten Parteien in den von ihnen so genannten "Judenwahlen" von 1912 und dem Durchbruch der NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1930 lagen nicht einmal zwanzig Jahre. Da historische Entwicklungen selten aus dem Nichts hervorgehen, könnten in den Antisemiten des Kaiserreichs durchaus die Vorläufer der Nationalsozialisten zu suchen sein. Tatsächlich läßt sich an der Existenz eines latenten Antisemitismus in den rechten Sektoren der deutschen Gesellschaft der wilhelminischen Zeit allein schon wegen der nachfolgenden Entwicklung der völkischen Ideologie kaum zweifeln. Martin Broszat machte in seiner 1952 erschienenen Dissertation denn auch die Unfähigkeit der politisch organisierten Antisemiten, der verbreiteten Entwicklung zum völkischen Antisemitismus zu folgen, gar als eine Hauptursache für ihren schwindenden Einfluß aus. II Nicht weniger programmatisch betitelte Paul Massing seine 1949 erschienene Arbeit über den Antisemitismus
9 Am Beginn der Antisemitischen Bewegung stand die Forderung nach Aufhebung der Emanzipation. Thomas Nipperdey hat diesen Punkt aufgenommen, um den ganzen modernen Antisemitismus über die zeitliche Abfolge hinaus als "post - emanzipatorisch" zu kennzeichnen. Nipperdey, Deutsche Geschichte (1992), S. 291.
10 Friedrich IIf. soll dies an läßlich der Einweihung einer neuen Berliner Synagoge gesagt haben (vgl. Levy, wie Anm. 13, S. 136). 11 Martin Broszat: Die antisemitische Bewegung im wilhelminischen Deutschland, Köln 1952, S. 110 f. Zweite wesentliche Ursache sei das enge Zusammengehen der Antisemiten mit den Konservativen und dem BdL gewesen. Broszat sieht den Antisemitismus vor der lahrhundertwende als "Nur - Antisemitismus" an (S. 137), der nach 1900 abgewirtschaftet habe. Es wird noch zu zeigen sein, daß diese Rolle der Antisemitischen Bewegung so nicht bestand.
I. Zum Erscheinungsbild der Antisemitenparteien
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des Kaiserreichs als "Rehearsal for Destruction", und stellte damit die direkte Verbindung zu den Nationalsozialisten her. 12 Beide Arbeiten gaben einen Grundtenor an, der die Forschung zu diesem Bereich lange Zeit geprägt hat. Sie konstatierten zunächst die Entstehung des politischen Antisemitismus in den 1870er Jahren als eines neuen Phänomens, das von der traditionellen Judenfeindschaft abzusetzen sei. Dieses Phänomen habe sich schnell weiterentwickelt und dabei spätestens in den 1890er Jahren neben der politischen auch eine ideologische Unabhängigkeit entwickelt, den völkischen Antisemitismus. Beide Komponenten seien für seine Protagonisten jedoch nicht in Einklang zu bringen gewesen, so daß nach der Jahrhundertwende die eher konservativen Antisemitenparteien zerfielen und der völkische Antisemitismus, vorläufig politisch heimatlos, erst nach dem ersten Weltkrieg seine Wirkung entfalten konnte. 13 Wer daher von einem Niedergang der Antisemitenbewegung nach 1900 spricht, meint vorwiegend die abnehmende Bedeutung seiner parteipolitischen Vertretung. So gab es nach der Spaltung der Deutschsozialen Reforrnpartei (DsRP) in diesem Jahr keine dem Namen nach antisemitische Reichstagsfraktion mehr, nahm die Stimmenzahl für die nun getrennten Deutschsozialen und Deutschreforrner absolut gesehen ab. 14 Andererseits wiesen neuere Arbeiten darauf hin, daß sich die Zahl der Antisemiten im Reichstag nach dem Tiefpunkt von 1903 im Laufe einiger Nachwahlen und 1907 den Stand von 1893
12
Massing (wie Anm. 2).
13 H.-J. Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus (1967) unterscheidet drei Antisemitismen (S. 112 f.): Den idealistisch - philosophisch motivierten (Fichte), den sozialpolitischen (Stöcker) und den Rassen - und Radauantisemitismus. Diese Einteilung erwähnt die religiös begründete ludenfeindschaft nicht, deren nachlassende Bedeutung mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus zusammenfällt (vgl. dazu Rudolf Lill, Zu den Anfängen .des Antisemitismus im Bismarckreich, in: Saeculum 26 (1975) S. 214-231). Ein ähnliches Urteil über den Verfall des konservativen Antisemitismus fällen auch Richard S. Levy: The Downfall of the Antisemitic Parties (1975), S. 261 und GL Mosse: Ein Volk, ein Reich, ein Führer, S. 251 f. 14 An der abnehmenden Stimmenzahl gibt es allerdings begründete Zweifel, sobald man die antisemitisch orientierten Interessengruppen wie den Bund der Landwirte, Teile der Mittelstandsvereinigung und den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband in die Rechnung mit einbezieht und in Beziehung zu der allgemeinen Entwicklung der bürgerlichen Parteien setzt.
2 Sehei!
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
sogar übertraf. 15 Lediglich die fortgesetzten internen Streitigkeiten verhinderten die Bildung einer eigenständigen antisemitischen Fraktion. Obendrein boten sich in der parlamentarischen Arbeit genug Bündnispartner, mit denen ein Zusammengehen bei Abstimmungen oder gar eine Zusammenarbeit als Fraktion möglich war. Sowohl die Christlichsozialen Adolf Stöckers, als auch der Bund der Landwirte, der Deutsche Volksbund oder die Mittelstandsvereinigung waren selbst antisemitisch orientiert oder standen den Zielen der Antisemiten nahe genug, um als Mitglieder der Fraktionsgemeinschaft der "Wirtschaftlichen Vereinigung" deren (niemals großen) Einfluß im Parlament zu erhalten. Nach 1912 war auch die Freikonservative Partei so weit geschrumpft, daß sie eine Fraktionsgemeinschaft mit der Deutschen Reformpartei einging. Ausdrücklich antisemitisch orientiert waren schließlich die Deutschkonservativen, spätestens seit ihrem Tivoli - Programm (1892), das den jüdischen Einfluß auf die Gesellschaft in einem eigenen Programmpunkt beklagte. Der Brückenschlag zwischen den "Antisemitenparteien" und den Deutschkonservativen gelang denn auch bereits 1893, als beide Fraktionen einen nahezu identischen Antrag bezüglich der jüdischen Einwanderung einbrachten. Dieser Antrag nun fand selbst Befürworter im Nationalliberalen Lager. Ernst Hasse 16 , damals Reichstagsabgeordneter und Leiter des Alldeutschen Verbandes (AdV) stimmte ebenso zu wie Diederich Hahn,17 Hospitant der Nationalliberalen Fraktion und leitendes Mitglied des Bundes der Landwirte (BdL). Anband dieser Abstimmung im Reichstag wird ein weiteres Problem deutlich, das es schwierig macht, von einem Niedergang der antisemitischen Bewegung nach 1900 zu sprechen. Es läßt sich nicht leicht eingrenzen, wer ihr zuvor angehörte. Nur die Parteizugehörigkeit etwa zu den Deutschsozialen oder Deutschreformern als Kriterium zu nehmen, greift sicherlich zu kurz. Es gab schließlich immer mehrere konkurrierende Parteien, deren antisemitische
" Unter anderem bei Levy (wie Anm. 13), S. 229 f. Er betont die Abhängigkeit der Antisemiten von der Unterstützung durch die Regierung Bülow, um den Wahlerfolg von 1907 als Sonderfall darzustellen, wie dies auch Massing (wie Anm. 2), S. 118 getan hat. Wie zu zeigen sein wird, bildeten die Wahlen von 1907 jedoch nur ein besonders gelungenes Manöver der bürgerlichen Parteien. Der "Bülow - Block" bestand auch ohne reichsweite Absprache bei den vorherigen Wahlen in fast allen Kreisen (vgl. Kapitel IV. 3. zu den Stichwahlentscheidungen). So gesehen bildeten eher die Wahlen von 1912, in denen es eine Wahlabsprache zwischen den Sozialdemokraten und den Linksliberalen gab, eine Ausnahme. 16
Näheres zu Hasses politischem Werdegang im Kapitel V. (Mandatsträger).
17
Zu Hahn vgl. ebenfalls Kapitel V.
1. Zum Erscheinungsbild der Antisemitenparteien
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Forderungen immer nur einen Programmpunkt unter vielen darstellten, und die dennoch zu dieser Bewegung gezählt wurden. An dieser unübersichtlichen Struktur der antisemitischen Szene änderte sich zwischen 1880 und 1914 nicht viel. 18
Es erschien deshalb nützlich und notwendig, die Erfolge und Mißerfolge der Antisemiten einer genaueren Analyse zu unterziehen. Dazu boten sich die Reichstagswahlen an, deren Verlauf und Ergebnisse als Index antisemitischer Stimmungen in der Bevölkerung betrachtet wurden. Der Begriff "antisemitische Stimmungen" soll hier sehr weit urnfaßt werden. Wie später l9 ausgeführt, wird der Antisemitismus im Rahmen dieser Untersuchung sowohl als politische wie auch als ideologische Bewegung in enger Beziehung zu dem neuen Nationalismus gesehen, der sich im wesentlichen erst nach 1871 in Deutschland entwickelte. 20 Die Entwicklung der Antisemitenparteien kann daher nicht unabhängig von der allgemeinen politischen Entwicklung des bürgerlichen Lagers betrachtet werden. Auf diese Weise soll festgestellt werden, ob Erfolge wie Mißerfolge der Antisemitenparteien nicht auf einer bürgerlich nationalen Einstellung in der Bevölkerung beruhten, die sich jeweils mit bestimmten politischen, konfessionellen und sozialen Situationen in den Wahlkreisen traf. Unter Bedingungen, die noch näher zu beschreiben sein werden, wurde dann die Wahl eines Antisemiten möglich. Sollte dies der Fall sein, müßte die Entwicklung der Antisemitenparteien im wilhelminischen Deutschland möglicherweise etwas anders bewertet werden als bisher. Statt von einem Auf- und Abstieg könnte eher von Kontinuität gesprochen werden, da sowohl die Zahl der antisemitischen Reichstagsabgeordneten als auch die Zahl ihrer Wähler und die politischen Bedingungen für ihre Wahl konstant blieben.
18 Eine kurze Einführung in das antisemitische Parteiengewirr gibt Dieter Fricke in: Lexikon der Bürgerlichen Parteien, Bd. 1, S. 80 f. Zur genaueren Beschreibung der inneren Entwicklung der antisemitischen Parteien und der einzelnen Organisationen vgl. Levy (wie Anm. 13), dessen Arbeit hier ihren Schwerpunkt hat. Levys Beschreibung geht allerdings von dem Idealbild einer straff gegliederten Parteiorganisation aus, wie sie in Deutschland von den Parteien erst nach dem Weltkrieg erreicht wurde. Seine Kritik an den amorphen Parteistrukturen der Antisemiten geht daher etwas an der Sache vorbei.
19
Im Abschnitt I. 5. (Begriffsbestimmungen).
20 Die Entwicklung dieses Nationalismus, für den sich in der Forschung der Begriff der Neuen Rechten durchgesetzt hat, wäre nach dieser These etwas früher anzusetzen. In der Regel wird sie in die Zeit nach der Jahrhundertwende verlegt (z. B. Nipperdey, wie Anm. 7, S. 606 f.).
2'
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1. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
2. Hypothesen zur Situation des politischen Antisemitismus im Kaiserreich Aus den bisherigen Überlegungen ergaben sich folgende Arbeitshypothesen, die im einzelnen untersucht werden sollen. (1) Der Erfolg der Antisemitenparteien beruhte generell auf der Zunahme nationalistisch - völkischer Ideen und in diesem Zusammenhang auf ihrem Auftreten als "national gesinnte" Parteien. Sie hatten dort besonders viele Wähler, wo sie gegen Kandidaten der Sozialdemokraten, Polen, Dänen und des Zentrums aussichtsreich antraten, und daher mit Unterstützung auch durch die konservativen und alle liberalen Parteien rechnen konnten. Diese Unterstützung bestand seit dem ersten Auftreten antisemitischer Organisationen bei den Reichstagswahlen von 1881 und blieb bis zu den Wahlen von 1912 einigermaßen konstant. (2) Die Krise der Antisemitenparteien bestand vor allem aus einem Verfall ihres Ansehens und war somit vorwiegend ein Imageproblem. Nach dem großen Durchbruch von 1893 war keine Zunahme ihres politischen Einflusses mehr festzustellen. Sie stellten daher keine Bedrohung mehr da und gerieten an den Rand der politischen Diskussion. Unterstützt wurde dieser Vorgang durch eine Reihe spektakulärer Skandale um die prominenten Antisemiten Ahlwardt, Böckel, Stöcker, Schack und auch Freiherr v. Hammerstein, der bis 1895 die Deutschkonservative Partei in große Nähe zu den Antisemiten führte. 21 (3) Der Verlust an öffentlicher Aufmerksamkeit wurde von dem Verlust führender Persönlichkeiten verstärkt. Eine große Anzahl der prominenten Antisemiten aus der Berliner Bewegung starb zwischen 1905 und 1912 und konnte nicht adäquat ersetzt werden. (Stöcker, Liebermann v. Sonnenberg, Zimmermann, z. Reventlow) Andere zogen sich aus dem politischen Leben zurück (Ahlwardt, Böckel, Marr).22 (4) Das bei Reichstagswahlen geltende Mehrheitswahlrecht hatte bereits bei . geringfügigen Änderungen in den Konstellationen innerhalb der Wahlkreise
21 Der Sturz Hammersteins bald nach dem Ausscheiden Adolf Stöckers aus der DkP beendete die Entwicklung der Partei zu einer modemen Massenorganisation. Die DkP übte zukünftig wieder verstärkt Einfluß über ihre informellen Beziehungen zur Regierung und Verwaltung aus, und überließ das Agitieren und den Aufbau einer Massenorganisation dem Bund der Landwirte. (vgl. dazu Michels, Soziologie des Parteiwesens (1910/1989).
" Zu allen hier und in der Folge genannten Namen vgl. auch die biographischen Kurzartikel in Kapitel V.
2. Hypothesen
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den Verlust des Mandats für die Partei zur Folge. 23 Damit konnte für den Beobachter schnell der Eindruck eines allgemeinen Trends entstehen, den es in Wahrheit nicht gab. Wo die Antisemiten zur Wahl antraten, lag ihr Stimmenanteil nach der Jahrhundertwende nicht unter den Ergebnissen der 1890er Jahre. (5) Dem abfalligen Urteil über die amorphe Struktur der Antisemitenparteien liegt ein unzureichendes Bild der Parteiarbeit des letzten Jahrhunderts zugrunde. Ganz allgemein waren Parteien damals in Form von Vereinen strukturiert, die nur bei besonderen Ereignissen wie Wahlen tätig wurden. (6) Es gab eine signifikante personelle Fluktuation zwischen dem BdL, den Deutschkonservativen, den Antisemiten und auch liberalen Parteien. 24 (7) In vielen Fällen waren Mitglieder antisemitischer Parteien zugleich Mitglied konservativ - nationaler Sammelorganisationen wie dem BdL, dem Alldeutschen Verband, dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband und anderen Verbänden. (8) Allen Organisationen der deutschen politischen Rechten waren rassistische, nationalistische und völkische Positionen seit den 1870er Jahren nicht fremd. Die Programme der Deutschkonservativen, Christlichsozialen, Deutschsozialen und -reformer, sowie der Interessenverbände bezogen sich auf gemeinsame Wertvorstellungen. Es gab in allen o.g. Gruppen programmatische Änderungen, durch die sie den aufkommenden Nationalismus völkischer Prägung integrieren wollten. (9) Die Gegensätze zwischen den "konservativen" Antisemiten der DsP und den Deutschreformern waren zu jedem Zeitpunkt überwiegend auf Differenzen über die einzuschlagende Parteitaktik und auf persönliche Rivalität zurückzuführen. Die erneute Spaltung der Antisemiten nach 1900 war daher keine ideologische Angelegenheit.
n Dies ist eine offensichtliche Folge jedes Mehrheitswahlrechts und traf von den anderen Parteien der wilhelminischen Zeit sonst vor allem die Sozialdemokraten. So verlor die Partei bei der Wahl von 1907 trotz eines Stimmengewinns von 200000 Wählern fast die Hälfte ihrer 122 Reichstagsmandate. 24 Beispiel Wahlkreis Schleswig-Holstein 11 (Flensburg - Aspenrade), wo der deutschsoziale Kandidat von einem Nationalliberalen (Wommelsdorf) geschlagen wurde, der 1903 noch gemeinsamer Kandidat von BdL und DsP in Tondern-Husum gewesen war. (vgl. dazu K.G. Riquarts, Der Antisemitismus als politische Partei in Hamburg und Schleswig-Holstein. S. 297) Hel/mut von Gerlach dagegen ist ein Beispiel für den Wechsel von "Rechts nach Links", wie auch der Titel seiner Autobiographie lautet (vgl. Kapitel V. 3.).
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
An sich kann die Entwicklung der Antisemitenparteien als recht gut erforscht gelten, ohne das es schon eine vollständige Geschichte einer einzelnen Partei gibt. Neben der thematisch umfassenden Dissertation von Martin Broszat haben Hans - Christian Gerlach und Kurt Gerhard Riquarts zeitlich und regional enger begrenzte Arbeiten vorgelegt. 25 Die bereits erwähnten Arbeiten von Paul Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus (New York 1949, Frankfurt 1959), Peter Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich (1966) und die 1975 erschienene Abhandlung: The Downfall of the Antisemitic Parties in Imperial Germany, von Richard Levy runden die Darstellung der inneren Entwicklung der antisemitischen Parteien ab. Insbesondere Levy widmet den internen Auseinandersetzungen in der antisemitischen Bewegung sehr viel Raum, und diskutiert auch ausgiebig deren Versäumnisse auf dem möglichen Weg zu einer größeren Partei. Es überrascht daher nicht, wenn eine prominente Vertreterin der Antisemitismusforschung wie Shulamit Volkov in Reaktion auf Levys Arbeit bereits 1978 im Year Book des Leo - Baeck Institute vorsichtig das Ende der Erforschung jener Parteien bekanntgab: "The decline of the parliamentary antisemitic political parties in Imperial Germany appears now to be a closed issue. It is time for historians to divert their attention to other aspects of the problem. ,,26 In diesem Zusammenhang ist ihre Begründung interessant, weil dort die Problematik bei der Erforschung des wilhelminischen Antisemitismus schlagartig beleuchtet wird. Zunächst lobt Volkov Levys Unterscheidung zwischen "sincere antisemitic parties" und solchen, die Antisemitismus nur benutzten "to marshai support for other aims".27 Levys Konzentration auf erstere werde dem Gegenstand seiner Forschung besonders gerecht, auch wenn andere Ansätze wie etwa der Pulzers "historically sounder" (?) seien. Eine Seite weiter konstatiert sie in Bezug auf die Motive Adolf Stöckers ausdrücklich: "The distinction between true and pretended antisemitism is untenable and misleading. ,,28 Eben dies macht die Festlegung des Umfangs des politischen Antisemitismus schwierig. Antisemitismus war im öffentlichen Leben des Kaiserreichs
25 Broszat (wie Anm. 11), H.e. Ger/ach: Agitation und parlamentarische Wirksamkeit der deutschen Antisemitenparteien 1873-1895, Kiel 1956. Peter Pu/zer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich, Gütersloh 1966. 26
Year Book ofthe Leo - Baeck Institute 1978, S. 27.
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Ebd., S. 27.
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Ebd., S. 28.
3. Methoden und Grenzen
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so gegenwärtig, daß entsprechende Äußerungen in der Regel in weiten Kreisen beifällig aufgenommen wurden. Diese Wortwahl wirkte in den politischen Bereich hinein, so daß die Festlegung der Motive einzelner antisemitischer Reden im nachhinein kaum möglich ist. Im Sinn der oben ausgeführten Hypothesen 1 und 8 soll daher im folgenden auf die Unterscheidung zwischen vorgetäuschtem und überzeugtem Antisemitismus kein besonderer Wert gelegt werden. Beide Motive waren selbst in bürgerlichen Parteien gelegentlich zu finden.
3. Methoden und Grenzen historischer Wahlforschung a) Quellen
Wie jede historische Forschung steht auch die Untersuchung historischer Wahlvorgänge zunächst vor dem Problem, sich das nötige Quellenmaterial zu verschaffen. Diese Feststellung gewinnt dadurch an Inhalt, daß die historische Wahlforschung unwillkürlich in einer gewissen Konkurrenz zur modemen Demoskopie steht, und deren Erfolge einen Erwartungshorizont schaffen, vor dem historiographische Aussagen über Wahlen notwendig etwas blaß und wenig fundiert wirken. Dies wird eben in erster Linie durch die Quellenlage bedingt. Wo sich die Demoskopie auf eine ganze Palette von Daten stützen kann, die zum großen Teil ausschließlich für die eigenen Zwecke erhoben werden, muß sich die historische Forschung mit dem Material aus allgemeinen Statistiken zufriedengeben. Das bedeutet den Verzicht auf so nützliche Dinge wie Meinungsbefragungen, Interviews oder Stimmungsberichte, mithin den Verlust jeder direkten Meinungsäußerung des Wählers. Da außerdem noch die sonst zu verwendenden Statistiken zu wirtschaftlichen, demographischen oder allgemein soziologischen Aspekten nicht die heutige Dichte erreichen, müssen die Aussagen historischer Wahlforschung sich bereits im Umfang ihrer Zielsetzung von heutigen Demoskopien unterscheiden. Diese Sachlage ist um so stärker ausgeprägt, je früher der Zeitpunkt der zu untersuchenden Wahl liegt. So nimmt beispielsweise der Umfang der offiziellen Statistik der Reichstagswahlen, die das kaiserliche statistische Amt veröffentlicht hat, mit jeder Wahl zu. Wurden noch 1890 lediglich Stimmenzahlen für einzelne Parteien in den Wahlkreisen veröffentlicht, ohne unterlegene Kandidaten zu nennen, so fand mit jeder weiteren Wahl eine Erweiterung und stärkere Aufschlüsselung des Materials statt. Aus einigen Seiten in der allgemeinen Statistik wurden so bis 1903 mehrere Bände nur für die Darstellung der Reichstagswahl.
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Dennoch erreicht die Dichte des Materials nicht heutigen Standard. Dies muß bei historischer Wahlforschung um so mehr berücksichtigt werden, als deren Ziel nicht nur in der Beschreibung vergangener Wahlvorgänge liegen kann, sondern darüber hinaus einen Blick auf die Gesamtgeschichte ermöglichen soll. Zugespitzt könnte davon die Rede sein, daß modeme Demoskopie von dem Zustand der Gesellschaft auf den möglichen Wahlausgang schließt, während die historische Forschung umgekehrt im Ausgang einer Wahl nach Anzeichen für gesellschaftliche Vorgänge sucht, die sonst verborgen blieben. Für Untersuchungen der Wahlen zur Zeit des Kaiserreichs hat die Quellenlage regelmäßig zur Folge, daß der Analyse eine Anzahl systemtheoretischer Überlegungen vorangehen muß. Spekulative Elemente in den Ergebnissen der Untersuchung müssen auf diese Weise begründet und vor allem offengelegt werden. Wie viele Faktoren dabei berücksichtigt werden müssen, hat beispielsweise Rainer-Olaf Schultze in einem bereits 1980 erschienen Aufsatz zu "Konstitutionsbedingungen von Wahlen und Wahlverhalten im deutschen Kaiserreich"29 vorgeführt. Er nennt dort sechs "strukturelle Determinanten": (1) Nationalstaatlichkeit / Territorialität (2) Wahlrechtsqualifikation (3) Struktur der Ökonomie (4) Kontext / Milieustrukturen (5) Struktur der Öffentlichkeit / Informationsstruktur (6) Struktur des politischen Systems Keine dieser Determinanten läßt sich ohne weitreichende Abstraktion, deren Grundlagen Schultze an dieser Stelle erläutert, auf den konkreten Wahlverlauf anwenden. Schultze schlägt denn auch vor, von der Bewertung einzelner Reichstagswahlen nach Prozenten und Mandaten wegzukommen und sich auf diachrone und synchrone Untersuchungen einzelner Wahlkreise und Regionen, bzw. Wahlkreistypen und Regionstypen zu konzentrieren. 3D Die vorliegende Untersuchung schließt sich dem insofern an, als die Wahlkreise des größten Erfolgs antisemitischer Parteien einem diachronen Vergleich unterzogen wurden. Dies erwies sich als nützlich, da Rückschlüsse auf das Wählerpotential und die Einschätzung der Antisemitenparteien durch Kon-
2" In Büsch (Hrsg.): Wählerbewegung in der Europäischen Geschichte (1980), S. 125 f. JU Ebd., S. 126. Leider ist Schultzes Text durchsetzt von fragwürdigen Verallgemeinerungen eines Politik verständnisses, das praktisch ausschließlich ökonomischen Faktoren die bestimmende Rolle zuweist.
3. Methoden und Grenzen
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kurrenten und Wähler möglich wurden. Ansonsten liegt der Schwerpunkt der Untersuchung bei Verlauf und Ergebnissen der einzelnen Reichstagswahlen, da bisherige Arbeiten zum Thema eher zu sehr vom konkreten Wahlverlauf abstrahierten. Insgesamt wird versucht, die Wahlerfolge des Parteiantisemitismus in einer Synthese aus Wahlkampfmonographie, wahlstatistischen Betrachtungen, Wahlkreisökologie 31 und ideologie geschichtlichen Erwägungen zu beurteilen. Diese Mischung versprach den größten Erfolg bei dem Versuch, den Antisemitismus der wilhelminischen Zeit als eigenständiges Phänomen eben dieser Zeit zu begreifen und gleichzeitig dem vorliegenden Datenmaterial gerecht zu werden. b) Besondere Probleme des Mehrheitswahlrechts
Die Schwierigkeit, bei der Erstellung historischer Wahlanalysen die Stimmungslage der Wähler zu berücksichtigen, rührt oft zu einer Reduktion der Analyse auf die Beschreibung der relativen Stärke der Parteien. In der Regel gehen historische Untersuchungen der Entwicklung der deutschen Parteienlandschaft davon aus, daß diese Stärke durch die Anzahl der jeweiligen Abgeordneten in den Parlamenten hinreichend belegt wird. Die besonderen Gesetze des Mehrheitswahlrechts, lassen diesen Schluß jedoch nur bedingt zu. Probleme ergeben sich vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen fuhrt das Mehrheitswahlrecht in jeder Ausprägung regelmäßig zu Unterschieden zwischen dem prozentualen Anteil an Stimmen, die eine Partei gewinnt, und dem prozentualen Anteil an Mandaten, die sie dafur erhält. Auch hat die Aussicht, seine Stimme einem chancenlosen Kandidaten geben zu müssen, Auswirkungen auf das Verhalten von Wählern und Kandidaten. Es war noch nie eine verbreitete Tugend, sich fortgesetzt zu einer politischen Richtung zu bekennen, die in seinem Wahlkreis nur rudimentär vorhanden war. Da es außerdem nicht jedermanns Sache war, sich in solchen Wahlkreisen für eine aussichtslose Sache als Kandidat zur Verfugung zu stellen, blieb es einzig den gut organisierten und politisch hoch motivierten Sozialdemokraten vorbehalten, im ganzen Reichsgebiet zu kandidieren. Die anderen Parteien behalfen sich in ihrer Diaspora häufig mit einem Kandidaten, dem zur Not ein ganzes Bündel an
31 Als "Konzepte der Wahlforschung" wurden diese Typisierungen von Nils Diederich bereits 1965 in einem Aufsatz gleichen Titels herausgearbeitet und können im Bereich historischer Wahlforschung auch weiterhin als Gliederung dienen. Ein weiteres Konzept, die Erforschung von individuellem politischen Verhalten aufgrund von eigens zu diesem Zweck erhobenen Daten (Interviews), läßt sich für die Zeit des Kaiserreichs wegen der Quellenlage nicht anwenden.
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Kreisen übertragen wurde. Es darf vermutet werden, daß dies häufig zu Wahlenthaltungen oder zur Stimmabgabe fiir eine andere Partei fiihrte, aber natürlich läßt sich beides kaum quantifizieren. 32 Etwas anders sieht dies bezüglich der angesprochenen Differenz zwischen Stimmenprozenten und Mandatsprozenten aus. Hier verursachten die überaus großen Wanderungs bewegungen und die Bevölkerungszunahme der Industrialisierungszeit eine wachsende Ungleichheit in der Gewichtung der Wählerstimmen. Bei der Einteilung der Reichstagswahlkreise im Jahr 1871 hatten die Kreise eine einigermaßen gleiche Zahl an Stimmberechtigten: jeder Kreis in etwa einhunderttausend Einwohner, oder ungefähr zwanzigtausend Stimmberechtigte. Geringfiigig eingeschränkt wurde dieser Grundsatz nur durch die Verfassungsbestimmung, nach der jeder Bundesstaat mindestens einen Wahlkreis stellen mußte. Im Fürstentum Schaumburg - Lippe gab es schon 1871 nur 6403 Wähler. Diese Zahl nahm bis 1912 auf 10709 Wähler zu, blieb damit also in der Nähe des Reichsdurchschnittts von neunundachtzig Prozent Zuwachs. Andere Wahlkreise jedoch, und zwar vor allem die von der Industrialisierung betroffenen, verzeichneten eine Bevölkerungszunahme von teilweise mehr als tausend Prozent. Da nun gerade in diesen Bezirken die Sozialdemokraten und Linksliberalen viele Hochburgen hatten, führte dies zu einem ständig steigenden Ungleichgewicht zwischen den Stimmen - und Mandatsanteilen dieser Parteien und im Nebenergebnis auch zu einer schwächeren politischen Repräsentation der Industrieregionen gegenüber den ländlichen Gebieten Deutschlands. Soweit in der Forschung bisher auf die Wahlerfolge der Antisemiten Bezug genommen wurde, blieben die oben skizzierten Probleme zum Teil unberücksichtigt. Unbewußt spielte bei der Betrachtung der Wahlerfolge in der Regel das Bild einer Verhältniswahl die wichtigste Rolle, und dies hatte zur Folge, daß die betrachteten Einheiten zu groß waren, um etwa Wählerwanderungen quantifizieren zu können. So kam Peter Pulzer in seinem Buch durch Gegenüberstellung der Stimmenzahlen im Königreich Sachsen bei den Wahlen von
32 Solche Überlegungen zur Vorstellungswelt des Wählers und ihre mutmaßlichen Auswirkungen auf die Wahlen auch begrifflich zu präzisieren, versuchen u.a. Th. Kühne und M. Neugebauer-Wölk. Vgl. Th. Kühne: Dreiklassenwahlrecht (1994), S. 30 f. Kühne entwickelt den Begriff "Wahlkultur" , zur Bezeichnung der Modalitäten des Konfliktaustrags jenseits von systemtheoretischen Überlegungen zum Wahlsystem. Noch treffender dürfte Neugebauer-Wölks Ausdruck "Wahlbewußtsein" sein, den Kühne ebenfalls anführt. Neugebauer-Wölk versteht darunter die Vorstellungen, die der Wähler vom Funktionieren des Wahlprozesses und der Wahl überhaupt hat. M. Wölk: Wahlbewußtsein, in HZ 238 (1984), S. 311-352. Vgl. dazu auch O.-R. Schultze (wie Anm. 29), S. 140.
3. Methoden und Grenzen
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1890 und 1893 zu dem Schluß, die antisemitischen Stimmen seien von den linksliberalen Parteien gewonnen worden. 33 Ein Vergleich, der eine Ebene tiefer, d.h. bei den einzelnen Wahlkreisen einsetzt, zeigt aber, daß die Stimmen der Antisemiten vorwiegend auf Wählerwanderungen von den Deutschkonservativen hin zu den Deutschreformern beruhten. 34 Um diesen Vergleich zu ermöglichen, mußte auf die Statistik des Kaiserlichen Statistischen Amtes zurückgegriffen werden. Obwohl dies recht naheliegend erscheint, wurde diese Quelle in den bisherigen Untersuchungen zum politischen Antisemitismus der Kaiserzeit selten benutzt. Wenn dort Zahlen zu den Wahlergebnissen auftauchten, wurden sie in der Regel zeitgenössischen Zeitungen ent- oder von anderen Autoren übernommen. c) Diffuses Denken als Prinzip: Der Antisemitismus zwischen Milieu und "cultural code"
In seinen Memoiren "Von Rechts nach Links" schildert Hellrnut von Gerlach folgende Szene, die sich nach einem Wahlsieg der Antisemiten abgespielt haben soll. Gerlach war auf einer Wahlversammlung offenbar in Argumentationsnöte geraten, als er über die wissenschaftlichen Grundlagen des antisemitischen Programms Auskunft geben sollte. So rettete er sich mit einigen "faulen Redensarten", hatte aber deswegen Gewissensbisse. Liebermann von Sonnenberg, dem er darüber berichtete, habe nur gelacht und gesagt: "Lieber Freund, darüber lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen. Erst wollen wir eine politische Macht werden. Dann wollen wir uns die wissenschaftliche Grundlage für den Antisemitismus suchen." 35 Diese Episode ist schon wegen der plastischen Schilderung bemerkenswert. Sie wird wohl deshalb auch in der Forschung gern zitiert, wie überhaupt Gerlach in vielen Arbeiten als eine Art Kronzeuge gegen die antisemitische Bewegung fungiert. 36 Zunächst wirft sie ein Schlaglicht auf den Charakter der beiden unmittelbar Beteiligten. Hier ist zunächst Gerlachs Naivität zu sehen, die ihn erst mitten in einer Wahlversammlung (und auf Anstoß von außen !) drüber nachdenken läßt, woher er seine Überzeugungen hat und ob er sie begrün-
33 Pu/zer (wie Anm. 25), S. 104. Levy (wie Anm. 13) übernimmt Pulzers Analyse weitgehend (S. 98).
,. Vgl. dazu Abschnitt III. 4. 35 Hellmut von Gerlach (wie Anm. I), S. 102. Zeitlich ist die Episode leider nicht genau einzuordnen, da Gerlach den Ort des Wahlsiegs nicht nennt.
,. Dazu auch P. Massing: (wie Anm. 2), S. 120.
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den kann. Mit der Wissenschaftlichkeit vermißte er dann am Antisemitismus eine recht unpolitische Eigenschaft, deren Fehlen auch kaum den antisemitischen Parteien allein zum Vorwurf gemacht werden konnte. 37 Liebermanns Antwort wirkt demgegenüber geradezu souverän. Weit davon entfernt, irgendeiner pseudowissenschaftlichen Rassenlehre anzuhängen, sah er den Antisemitismus offenbar lediglich als Vehikel für den eigenen politischen Aufstieg an. Möglicherweise kultivierte Liebermann dabei ganz bewußt ein Verständnis von Antisemitismus, das in jüngerer Zeit mit dem Begriff des "cultural code" umschrieben wurde. 38 In dieser Sicht stellt der Antisemitismus kein auf den Judenhaß begrenztes Phänomen dar, sondern beinhaltet eine ganze Fülle von Assoziationen, Unzufriedenheiten und Forderungen. Diese Ansichten müssen sich nicht unbedingt zu einem Weltbild oder gar einer Wissenschaft verdichten, sie reichen auch so zu einer informellen Identitätsstiftung innerhalb eines Milieus aus. 39 Der Zutritt wird nicht mit einem Parteibuch erworben, sondern folgt aus einem gemeinsamen Hintergrund an Vorurteilen, Erfahrungen und Überzeugungen, der zu ähnlichen Erwartungen und Verhaltensweisen führt. Die Existenz dieses Milieus im Kaiserreich ließ sich von Männern wie Liebermann für private Zwecke benutzen, bot wohl auch eine
37 In diesem Zusammenhang ist die Tatsache bemerkenswert. daß die Programme der antisemitischen Parteien den Rassebegriff entweder nicht enthielten oder nicht als zentral betrachteten. So ging das Programm der "Antisemitischen Deutschsozialen Partei" von 1889 über diesen Punkt schnell hinweg. Man sah "in der Judenfrage nicht nur eine Rassen- oder Religionsfrage, sondern eine Frage internationalen, nationalen, sozialpolitischen und sittlich - religiösen Charakters" (Zitat n. W. Mommsen: Deutsche Parteiprogramme (1960), S. 73 f.) Shulamit Volkov fällt zu diesem Punkt daher das Urteil, daß der wissenschaftlich begründete Rassismus erst um die lahrhundertwende in das Vokabular der Antisemiten einfloß und dort keineswegs immer auch eine entsprechende Veränderung des Inhalts mit einschloß. S. Volkov: Das geschriebene und das gesprochene Wort, in: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. u. 20. Jahrhundert (1990), S.60/61.
38 Dazu vor allem: S. Volkov, Antisemitim as a Cultual Code, in: Year Book of the Leo-Baeck Institute, Bd. 23 (1978) S. 25 f.; Deutsch: Antisemitismus als kultureller Code, in: S. Volkov (1990), S. 13 f. 39 An dieser Stelle ließe sich über die Verwendung des Milieubegriffs anstelle des "cultural code" diskutieren. Volkov verwendet diesen Begriff nicht, doch gerade das beschriebene Zusammentreffen von informellen Komponenten wie Vorstellungen und Assoziationen ist ein wesentliches Kennzeichen eines Milieus, das allerdings noch eine gewisse soziale Homogenität beinhalten muß. Möglicherweise liegt in der informellen Identitätsstiftung des Antisemitismus auch eine weitere Erklärung für die relativ geringe Mitgliederzahl der antisemitischen Parteien. Ihren Anhängern fehlte offenbar das Bedürfnis nach formeller Parteibindung.
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Möglichkeit, eigene Ansichten zum Ausdruck zu bringen. Für Liebermann persönlich bestanden zudem in den Konservativen Parteien kaum Chancen, eine wirklich führende Position einzunehmen. 4o Der Versuch, den oben skizzierten Ansatz bei der Feststellung des Umfangs antisemitischer Aktivität in der wilhelminischen Zeit zu nutzen, wirft für die Wahlforschung einige Probleme auf. Offensichtlich ist es nicht hinreichend, die Mitgliedschaft in einer eindeutig antisemitischen Gruppierung als einziges Kennzeichen für das Vorhandensein antisemitischer Ansichten bei dem Kandidaten für ein Reichstagsmandat oder seinen Wählern anzunehmen. Weitere Merkmale wie die Häufigkeit und Intensität antisemitischer Äußerungen oder das Abstirnrnungsverhalten im Parlament müssen mit berücksichtigt werden. Auch eine zeitliche Komponente, die frühere oder spätere Unterstützung antisemitischer Organisationen seitens des Politikers und seitens seiner Wähler mit einbringt, kann Hinweise geben. Es gilt nun der Gefahr zu begegnen, durch Addition einer Vielzahl nachgeordneter Merkmale die Zahl der Antisemiten im deutschen Kaiserreich zu weit nach oben zu rechnen. Jede Erweiterung des Kreises jener Personen, die als Antisemiten angesehen werden können, muß daher vorsichtig geschehen und eine direkte Beziehung zu dem ursprünglich ins Auge gefaßten Kreis behalten. In diesen Kreis, der als eine Art Kristallisationskern dienen soll, wurden folgende Parteien aufgenornrnen: CsP, DsP, DsRP, DRP, Antisemitische Volkspartei und Deutscher Volksbund. Dazu kamen alle Kandidaten, die sich selbst ausdrücklich als Antisemiten bezeichneten, denn die heterogene Organisation der antisemitischen (wie auch der anderen) Parteien begünstigte nicht selten den Typ des Einzelgängers, der auf eigene Rechnung einen entlegenen Wahlkreis bearbeitete. Um diesen Kern herum wurde nun die Affinität anderer Parteien und unabhängiger Kandidaten zu den Antisemiten betrachtet. In erster Linie kamen hier die Deutschkonservativen und ab 1898 die Kandidaten des BdL in Betracht. Beide Organisationen hatten in ihren Satzungen und Programmen ausdrücklich antisemitische Sätze formuliert. Die Konservativen seit ihrem Tivoli - Programm von 1892, der BdL in seiner Gründungssatzung von 1893. Schwieriger war die Einschätzung der Nationalliberalen Position zu den Antisemiten. Die Nationalliberale Partei huldigte keinem ausdrücklichen Antisemitismus, in ihrem Programm findet sich auch kein diesbezüglicher Passus. Dennoch ließen
40 "Führende Position" läßt sich hier ganz wörtlich verstehen. Ger/ach nennt Liebermann an der oben zitierten Stelle (Anm. 35) auch "unseren Führer".
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auch Nationalliberale Wahlkreisorgansiationen antisemitischen Kandidaten Unterstützung zukommen. d) Wirkungen des Mehrheitswahlrechts auf die Verbreitung einzelner Parteien Die deutschen Parteien waren vor 1918 und in gewissem Ausmaß auch danach noch stark von ihrer regionalen Herkunft und entsprechenden sozialen und konfessionellen Unterschieden bestimmt. Dies führte bei Reichstagswahlen konkret dazu, daß die Sozialdemokratie als einzige Partei in allen 397 Wahlkreisen antrat, während etwa das Zentrum, die Nationalliberalen und die Deutschkonservativen nur in etwas mehr als der Hälfte der Wahlkreise kandidielten. Dies hing zusammen mit der Entstehung der Parteien im Rahmen der jeweiligen Einzelstaaten des Reiches - zum Teil noch vor der Reichsgründung - und mit ihrer engen Verbindung zu regional konzentrierten sozialen Gruppen und wirtschaftlichen Interessen. Die ostelbischen Junker in der Deutschkonservativen Partei waren nur das bekannteste und wegen der Bedeutung Preußens politisch wichtigste Beispiel dafür. 41 Das Mehrheitswahlrecht begünstigte den Fortbestand jener regionalen Schwerpunkte der einzelnen Parteien, denn es machte Kandidaturen zu einer aussichtslosen Angelegenheit, wenn keine absolute Mehrheit des Kandidaten wenigstens in der Stichwahl zu erreichen war. Die meisten Parteien verzichteten daher darauf, in solchen aussichtslosen Wahlkreisen eine lokale Organisation aufzubauen. So wuchsen die Organisationen der Parteien vor dem ersten Weltkrieg nur sehr langsam. Vor diesem Hintergrund erhalten die Kandidaten-, Stimmen - und Mandatszahlen der antisemitischen Parteien ein bemerkenswertes Gewicht. Bereits bei den Reichstagswahlen von 1893 stellten die Antisemiten insgesamt 132 Kandidaten auf, d.h. sie traten in einem Drittel aller
41 Hinsichtlich dieser Einschätzung der Deutschen Parteienlandschaft besteht in der Forschung weitgehend Konsens. Vgl. dazu Nipperdey, Th.: Grundprobleme der Deutschen Parteigeschichte, in: Ritter (Hrsg.): Die Deutschen Parteien vor 1918, S. 33 f., Erst nach 1890 sei diese Ideenabhängigkeit einer verstärkten Interessenvertretung gewichen. So etwa ebenfalls Nipperdey, der in seiner "Deutschen Geschichte (wie Anm. 7), S. 517 von der "Ökonomisierung der Politik" nach 1890 spricht. Getreu ihrem Forschungsansatz weist allerdings die WehlerscheSchule bereits vor 1890 der Interessenvertretung ein größeres Gewicht zu. Vgl. beispielsweise Stegmann (wie Anm. 4), der allerdings die Handlungsweise der Ordnungsparteien vor 1890 ebenfalls in idealen und psychologischen Motiven begründet sieht, sie auf ihr Selbstverständnis zurückführt (S. 13).
4. Grundsätzliches zum deutschen Parteiensystem
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Wahlkreise an. Damit waren sie verglichen mit anderen Parteien sehr aktiv, versuchten also aus ihrer lokalen Beschränkung auszubrechen. Ebenso bemerkenswert ist die hohe Zahl der erreichten Mandate. Sechzehn Sitze im neuen Reichstag entsprachen 4,0 % der 397 Mandate und repräsentierten prozentual in etwa den bei den Wahlen erreichten Stimmenanteil von 3,4 %. Dies stellt auf den ersten Blick keine besonders große Zahl dar, ist aber doch interessant, wenn man sie mit Ergebnissen aus anderen Ländern mit Mehrheitswahlsystem vergleicht. So erreichte beispielsweise der französische rechtsradikale "Front National" bei den Parlamentswahlen 1993 trotz eines Stimmenanteils von über 12 % nicht einen einzigen Parlamentssitz. Ähnliche Phänomene sind aus Großbritannien bekannt, wo die politisch völlig anders orientierte Sozialliberale Partei trotz landesweiter Stimmanteile von mehr als zwanzig Prozent nahezu keine politische Rolle spielt, da sie nur in wenigen Wahlkreisen Mehrheiten erreichen kann. 42 Der Schluß liegt also nahe, daß die antisemitischen Parteien bereits in den neunziger Jahren nicht nur äußerst geschickt ihre Wahlkreise auswählten, sondern dort auch nicht als Außenseiter aufgefaßt wurden - und dies trotz ihres überregionalen Charakters, der es ihnen schwer machte, an regionale WirGeruhle zu appellieren. Eine Analyse des Verhaltens der bürgerlichen Parteien während der Stichwahlen bestätigt diesen Eindruck weitgehend.
4. Grundsätzliches zum deutschen Parteien system der wilhelminischen Zeit Es gehörte zur Realität der politischen Aufspaltung des Kaiserreichs, daß die Unterscheidung zwischen den Parteien oft zwischen den "reichstreuen" und
42 Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen Beispielen und den Verhältnissen im Deutschland der wilhelminischen Zeit besteht in der unterschiedlichen Ausprägung des Mehrheitswahlrechts. In Großbritannien wird das reine Mehrheitswahlrecht ohne zweiten Wahlgang angewandt, was logischerweise zu einer Konzentration der Stimmen auf wenige Parteien mit guten Aussichten führt. Das Taktieren der Parteien mit ihrem Stimmenpotential entfallt, da es keinen zweiten Wahlgang gibt. Im Gegensatz dazu galt in Frankreich das romanische Mehrheitswahlrecht, das Wahlabsprachen für den zweiten Wahlgang extrem begünstigt, da sogar neue Kandidaten aufgestellt werden können. Vgl. dazu, und zu allgemeinen Wirkungen des Wahlsystems auf die politische Kultur eines Landes auch M. Duvergers Aufsatz: Einfluß der Wahlsysteme auf das politische Leben, in: Büsch ISteinbach (Hrsg.): Vergleichende Europäische Wahlgeschichte (1983) und Helmut Unkelbach: Grundlagen der Wahlsystematik (1956), S. 85 ff. Insbesondere Unkelbachs entscheidungstheoretischer Ansatz bietet trotz des relativ hohen Alters seiner Arbeit hilfreiche Fingerzeige.
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
den "reichsfeindlichen" getroffen wurde. Diese Begriffe waren noch von Bismarck eingeführt worden und blieben bis zum Weltkrieg fortwährend in Gebrauch, besonders auf der Rechten. Demnach stellten alle "reichsfeindlichen" Parteien, zu denen zunächst vor allem die Sozialdemokraten und, eine Folge des Kulturkampfs, das Zentrum gerechnet wurden, so etwas wie subversive Organisationen dar, die auf jeden Fall von der politischen Verantwortung femgehalten werden sollten. In geringerem Ausmaß galt dies auch für die Linksliberalen. 43 Wer zu den reichstreuen Parteien gehören wollte, von dem wurde in erster Linie die Unterstützung der Regierung in allen "nationalen" Fragen erwartet. Diese Phrase bildete einen Eckpunkt im Selbstverständnis der rechtsbürgerlichen Politiker, wobei natürlich kaum exakt defmiert werden konnte, was nun eine nationale Frage war und was nicht. Neben der Heeres-, Flottenund Kolonialpolitik konnten durchaus auch eindeutig schichtengebundene Interessengebiete wie die Industrie- und die Landwirtschaftspolitik dazu gehören. Dieser Umstand trug dazu bei, jene Unterscheidung obsolet werden zu lassen, und sowohl das Zentrum als auch die linksliberalen Parteien wurden denn auch nach der lahrhundertwende trotz aller angeblichen Reichsfeindlichkeit zunehmend in das politische System des Reichs integriert. So waren die Linksliberalen Teil des Bülow - Blocks und auch das Zentrum legte mit seiner Zustimmung zum 1. Flottengesetz 1898 den Grundstein für ein besseres Verhältnis zur Reichsregierung. Den Sozialdemokraten gelang ähnliches nur in einem einzelnen Fall auf regionaler Ebene, dem auch innerhalb der Partei umstrittenen Großblock mit den Nationalliberalen im Großherzogtum Baden. Ihr Examen in nationaler Zuverlässigkeit bestanden sie erst 1914 mit der Zustimmung zu den Kriegsanleihen und so ganz wurden sie den Ruch der "Vaterlandslosigkeit" im bürgerlichen Lager auch dann nicht los. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das oben skizzierte "reiChstreue" Selbstverständnis auch den antisemitischen, bzw. völkischen Parteien immer in hohem Maß eigen war. Obwohl es gelegentlich Differenzen gab, war durch die Ausschaltung der "Radauantisemiten" Böckel und Ahlwardt Anfang
43 Vgl. Ola! Schultze: Funktionen von Wahlen und Konstitutionsbedingungen von Wahlverhalten im Deutschen Kaiserreich, in: Büsch (Hrsg.), Wählerbewegung in der Europäischen Geschichte (1980), S. 125 f. Schultze kennzeichnet die rhetorische Trennung von Freund und Feind im Wahlkampf als "negative Integration", eine Denkfigur, die das nationalistische Denken zur Selbstvergewisserung produziere und die zur Entwicklung und Verstärkung der Subkulturen des Katholizismus und der Arbeiterbewegung wesentlich beigetragen habe.
4. Grundsätzliches zum deutschen Parteien system
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der neunziger Jahre der antibürgerliche Affekt der Deutschsozialen und Deutschreformer nun auch rhetorisch gering geworden. Neben den regionalen Unterschieden der deutschen Parteien spielte ihr weltanschaulicher Hintergrund eine große Rolle. Gerhard A. Ritter kennzeichnet sie sogar als Gesinnungsparteien, die von der Bewältigung sachlicher Fragen erst in der wirtschaftlichen Dauerkrise der Jahre 1873-1895 berührt worden seien. 44 Dies war in erster Linie auf den geringen Einfluß des Parlaments zurückzuführen, ein Zustand, der es den Abgeordneten erlaubte, weitgehend verantwortungsfrei Maximalpositionen zu vertreten. Die Wirtschaftskrise, der Übergang von einer Politik des Freihandels zu einer Schutzzollpolitik, der verstärkte Eingriff des Staates in soziale und wirtschaftliche Belange und der Verfall der Getreidepreise führte bis zu Beginn der neunziger Jahre zu einer engeren Bindung der Parteien an Interessengruppen. Diese Entwicklung war von der Regierung unter Bismarck durchaus gewollt, führte sie doch letzten Endes zu einer Schwächung der Parteien, die verstärkt unter den Druck dieser Interessengruppen gerieten und somit in ihren Entscheidungen immer berechenbarer und beeinflußbarer wurden. 45 Doch auch nach Abschluß der Bismarck-Ära setzte sich dieser Trend fort und es entstanden Anfang der 1890er Jahre große Verbände wie der Bund der Landwirte, der Centralverband der deutschen Industrie und der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband. Weniger umfangreich, aber nicht unbedingt weniger einflußreich war der 1891 gegründete Alldeutsche Verband. Diese Gruppen bauten ihren Einfluß als rechts orientierte Antwort auf die Gewerkschaften bis 1918 ständig weiter aus, was zu einer regelrechten Unterwanderung vor allem der rechtskonservativen Parteien führte. Frei- und Deutschkonservative, Christlichsoziale, Deutschsoziale und Deutschreformer, aber auch die Nationalliberalen waren durch gemeinsame Mitgliedschaft in verschiedenen Interessenverbänden personell verflochten. So waren 1911 insgesamt 29 Reichstagsabgeordnete Mitglied des Alldeutschen Verbandes, die sich wie folgt auf die einzelnen Parteien verteilten: 5 3 12
Deutschkonservative (Giese, v. Michaelis, Wagner, v. Brockhausen, Hahn), Freikonservative (Arendt, v. Liebert, Linz), Nationalliberale (Arning, Beck, Contze, Everling, Fuhrmann, Görcke, Heinze, v. Heyl, Müller, Stresemann, Weber, Wetzei) und
•• G.A. Ritter (Hrsg.): Die deutschen Parteien 1830-1914 (1985). 45
Vgl. D. Stegmallll: Die Erben Bismarcks (1970), S. I 13 f.
3 Sehei!
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
9
Mitglieder der mittelständisch - antisemitischen Parteien (Hanisch, Lattmann, Liebermann v. Sonnenberg, Raab, Roth, Schack, Gäbel, Wemer, Stauffer II).4b
Der große Einfluß der Verbände führte in der Spätphase des Kaiserreichs gar zu Überlegungen, daß sie die Basis für eine Umwandlung des politischen Systems in eine Art Ständestaat bilden könnten. Dies war eine Forderung, die auch schon früh in den Programmen mehrerer völkisch/antisemitischer Gruppen auftauchte. Zwar blieben diese Pläne ebenso ohne Erfolg wie die Versuche der Verbände, eigene, rein wirtschaftlich-sozial orientierte Parteien zu bilden. Die Verbände konnten aber durch ihren Einfluß auf die Nominierung der Kandidaten bei Wahlen, die Bindung der Kandidaten an Mindestforderungen als Voraussetzung ihrer Unterstützung, sowie die Wirkung ihrer Funktionäre in den Fraktionen und Parteigremien die Parteien erheblich beeinflussen. Dies ging im Fall der Deutschkonservativen am weitesten, die in fast völlige Abhängigkeit vom Bund der Landwirte gerieten, während die Deutschsozialen nicht nur vom BdL, sondern auch vom Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband dominiert wurden. 47 Die völkisch - antisemitischen Gruppen befanden sich also in prominenter Gesellschaft, wenn sie ihre Unabhängigkeit nach der Jahrhundertwende etwas einbüßten. Es schien in den Jahren nach 1900 immer weniger möglich zu sein, sich dem Einfluß der Interessenverbände zu entziehen. Lärmende antisemitische Polemik mußte daher hinter die Stellungnahme zu Sachfragen, d.h. konkret hinter die Erfüllung der Vorgaben des BdL oder des DnHV zurücktreten. Dennoch oder gerade deswegen gehörten die Antisemiten weiterhin zum Establishment der Rechten, nicht anders als die Deutschkonservativen auch.
5. Der moderne Antisemitismus als Rassismus: Die Einheit von Volk, Rasse und Nation Die Diskussion über die Unterscheidungsmerkmale des modernen Antisemitismus gegenüber den vielfältigen Begründungen traditioneller Judenfeindschaft gehört zu den beständigen Forschungskontroversen in unserem Fach. Eine Untersuchung über den Parteiantisemitismus kann sich einer Stellungnahme dazu nicht vollständig enthalten, zumal sie für die Eingrenzung un-
4. Ebd., S. 53. 47 Zum problematischen Verhältnis zwischen BdL und DkP siehe weiter unten im Kapitel 11.
5. Moderner Antisemitismus als Rassismus
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seres Themas durchaus von Bedeutung ist. Es seien hier daher einige Positionen vorgestellt, allerdings nicht ohne den Hinweis, daß sich die subtilen Differenzierungen der Geschichtswissenschaft, soweit sie die unterschiedlichen Begründungen von Judenfeindschaft betreffen, in der politischen Auseinandersetzung, gar in den Wahlkämpfen, nicht unbedingt nachweisen lassen. Wolfgang Altgeld faßt in seiner Habilitationsschrift die beiden hauptsächlich vertretenen Positionen folgendermaßen zusammen: •
der moderne Antisemitismus als bisher letzte Variation eines durchgängigen judenfeindlichen Grundmotivs der christlichen Welt
•
der Antisemitismus des ausgehenden neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts als geschichtlich neuartiges, jedenfalls säkularistisches, im Kern antichristliches oder überhaupt antireligiöses ideologisches und politisches Phänomen. 48
Die etwas gewundene Formulierung der zweiten Position beleuchtet die Schwierigkeiten, dem vielfaltigen Phänomen der modernen Judenfeindschaft gerecht zu werden. Altgeld selbst arbeitet denn auch Elemente religiösen Denkens innerhalb der antisemitischen Bewegung heraus, die den Antisemitismus als eine Art Ersatzreligion des säkularen Zeitalters erscheinen lassen. 49 Er schließt damit an eine Position an, die sehr entschieden von Rudolf Lill vertreten wird. 50
48
Wolfgang Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum (1992), S. 36 f.
49
Ebd., S. 42 f.
50 Vgl. Lill: Zu den Anfangen des Antisemitismus im Bismarckreich, in: Saeculum 26 (1975), S. 214 f. und im "Staatslexikon" (7. Ausgabe, Bd. I, 1985, Artikel "Antisemitismus"). Volkov konstatiert in der Debatte um die Abgrenzung der traditionalen Judenfeindschaft eine Sonderposition der israelischen Geschichtswissenschaft, in der die Kontinuität des Antisemitismus durch das 19. Jahrhundert hindurch betont wird. Volkov, Die Juden in Deutschland 1780-1918 (1994), S. 118 f. Andere Arbeiten etwa von Uriel Tal: Christians and Jews in Germany 1870-1914 (1974) und Reillhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus (1975) betonen den Unterschied von christlichem und anti christlichem Antisemitismus, weisen mithin dem Säkularisationsprozeß eine maßgebende Rolle für die Periodisierung des Antisemitismus zu. Allgemeiner bleibt Th. Nipperdey (wie Anm. 7), S. 293/294, der den veränderten Charakter des Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Probleme einer sich rasch modernisierenden Gesellschaft bezieht. "Modernitätsnähe einer Minderheit - das charakterisierte die Lage" (ebd. S. 293).
3'
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1. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
Es kann hier nicht darum gehen, jene Ansätze im einzelnen zu diskutieren. Ohne Zweifel bildete die Säkularisierung der Gesellschaft eine der zentralen Voraussetzungen für die Herausbildung des neuen politischen Antisemitismus. Sie war jedoch Teil eines umfassenden Modernisierungsprozesses, der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik material vollständig veränderte. Dies griff auch in die Entwicklung des Parteiantisemitismus ein. Die folgenden Abschnitte enthalten daher nur einige Bemerkungen zum Rassebegriff, da seine Verwendung und sein Inhalt für ein Urteil über die Einheit der antisemitischen Bewegung wichtig sind. a) Die Entwicklung des Rassismus zur politischen Kategorie: Die Rasse als Gegenstand der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert Zur Bestimmung des modernen Antisemitismus im Gegensatz zur traditionellen Judenfeindschaft, in Anlehnung an den Antisemitismus als Antijudaismus bezeichnet, wird unter anderem das Aufkommen des Rassebegriffs verwendet. Dieser Begriff, an dem heutzutage vor allem seine Unschärfe auffallt, kam im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend in Gebrauch. Das Nachdenken über Ursprünge der Rassen und Folgen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse nahm wachsenden Raum in der Literatur des Jahrhunderts ein, nicht nur in der politisch motivierten, aber vor allem dort. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand dabei keineswegs die Existenz des Judentums, sondern eher das Verhältnis der Weißen zu den farbigen Rassen der Welt. In diesem Zusammenhang konnte die Rassenideologie zur Rechtfertigung des imperialen Vorgehens der Europäer und Nordamerikaner auf dem ganzen Globus dienen. Das bekannteste Beispiel dürfte Rudyard Kiplings Gedicht "White Mans Burdon" sein, wo aus der kulturellen Überlegenheit geradezu die Verpflichtung zum Imperialismus abgeleitet wurde. An diesem Prozeß der Machtausdehnung hatten die Erfolge der Naturwissenschaften, aus denen Europa seine Überlegenheit bezog, großen Anteil. Es überrascht daher nicht, wenn Darwins naturwissenschaftliche Theorien über die Entstehung der Arten gut zum Zeitgeist paßten und dank ihres Ansehens bald politische Munition liefern mußten, auch wenn sich Darwin, Spencer oder Haeckel keineswegs als Begründer einer politisch ausgerichteten Rassenwissenschaft eigneten. Denn im Grunde war der naturwissenschaftliche Rassebegriff unzureichend für die Begründung politischer und moralischer Rechte. Obwohl die prinzipielle biologische Ungleichheit der Menschen nicht bestritten werden konnte, lieferte die Einteilung der Menschen in verschiedene Rassen keine Handhabe, daraus Schlußfolgerungen in jenen Bereichen zu ziehen. Dies berührte die alte
5. Moderner Antisemitismus als Rassismus
37
Frage, ob aus empirischer Erkenntnis überhaupt ethische Nonnen begründbar sind,51 oder wie das Verhältnis von Ethik zu empirischer Erkenntnis sein soll. Der Satz von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen jedenfalls war schon immer eine ethische Nonn christlicher, humanistischer und liberaler Herkunft, niemals eine empirische Aussage. 52 Er konnte (und kann !) daher auch nicht durch empirische Erkenntnisse bestätigt oder widerlegt werden. Versuche in diese Richtung vennischten stets Kategorien, die unbedingt getrennt zu betrachten waren. Konkret gesagt: Selbst wenn die Mitglieder einer bestimmten Rasse kleiner, schwächer und weniger intelligent als Europäer sein sollten, berührte dies ihr Existenzrecht ebensowenig, wie der Nachweis einer "höheren" Rasse anderswo das Existenzrecht der Europäer in Frage stellen kann. Trotz dieser Mängel verschwand der naturwissenschaftlich angehauchte Rassebegriff nicht mehr aus der politischen Diskussion, sondern hielt sich dort gut hundert Jahre, bis sich seine Ambivalenz am Ende gegen seine Anhänger richtete: Theoretisch war der Versuch zulässig, Ethik aus der Natur zu begründen - bei einer völligen Absage an den konventionellen Ethikbegriff. Er ftihrte dann notwendig zur Rechtfertigung einer Wolfsgesellschaft, deren einziges und höchstes Ideal das Überleben selbst sein mußte, und zwar in letzter Konsequenz unabhängig davon, wer überlebte. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, zeugen die Äußerungen Adolf Hitlers zu dem verdienten Untergang des deutschen Volkes, die er Anfang 1945 machte, nicht unbedingt nur von Zynismus, sondern sind die letzte Konsequenz der hier vorgestellten rein biologisch / ethischen Vorstellungswelt. b) Die Entwicklung des Rassismus zur politischen Kategorie: Die Rasse als ideologischer Begriff Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Eugen Dühring oder Paul de Lagarde sind einige der Namen, die genannt werden, wenn es um die Anwendung des Rassebegriffs auf Menschen, bzw. um die Entwicklung eines
" Zugespitzt formuliert von David Hume in: Enquiry concerning the Principles of Morals, London 1751. 52 Zu den politischen Implikationen dieses Gleichheitsbegriffs vgl. Heiner Bielefeldt: Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit (1990) Bielefeldt diskutiert die Herkunft dieses Begriffs der natürlichen Gleichheit und seine Folgen für die (letztlich auf ihm beruhenden) Gesellschaftsvertragstheorien von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Rawls.
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I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
systematischen Rassismus geht. Diese Entwicklung beginnt bekanntlich mit den Schriften des Grafen Gobineau, konkret mit dessen "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen". Gobineau suchte in der Rassentheorie einen Halt zu finden, der sich argumentativ gegen die bürgerliche Revolution von 1789 verwenden ließ. Seine Arbeit ließ sich als grundsätzlicher Gegenentwurf zu dieser Revolution, vor allem zu deren wichtigsten Begriffen, Nation und Menschheit, verstehen. 53 Er stellte heraus, daß die Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Rassenmischungen sei. Für ihn bedeutete das eine zunehmende biologische Egalisierung und damit einen Verfall. Dieser Verfall nun sei unaufhaltsam, so daß Gobineau in letzter Konsequenz zu dem resignierten Vorschlag kam, sich mit wenigen Getreuen in den Kaukasus zurückzuziehen und von dort aus dem Unglück der Menschheit zuzusehen. Gobineaus oben genannte Nachfolger waren keineswegs bereit, ihm auf dem Weg in den Kaukasus zu folgen. Sie verzichteten auf die rückwärtsgewandten aristokratischen Elemente in seiner Theorie, die ihn dem Ancien Regime nachtrauern ließen und angesichts von dessen Anachronismus naturgemäß direkt in die Resignation fUhren mußten. Allgemein bejahten die Rassentheoretiker des neunzehnten Jahrhunderts die Nation. Zu diesem Zweck machten sie jedoch einen wesentlichen Schritt in deren Konzeption: Es wird die prinzipielle Rassereinheit der Nation behauptet und im Anschluß daran die Identität von Nation und Volk, sowie von Rasse und Volk. Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte dieser Autoren weckt jedoch Zweifel an ihrer Wirkung auf den politischen Antisemitismus, soweit er in Deutschland auftrat. Diese Zweifel begründen sich zunächst rein zeitlich. Gobineaus Schriften wurden nicht vor den neunziger Jahren in Deutschland publiziert, Bezüge auf ihn, etwa in Reden oder Artikeln, fehlen vor dieser Zeit weitgehend. Chamberlains "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" erschienen 1899, mithin erst mit Ablauf dieses Jahrhunderts. Dühring und de Lagarde veröffentlichten ihre rassetheoretischen, bzw. völkischen Schriften zwar bereits in den achtziger Jahren, doch trafen auch ihre Schriften schon auf das aufnahmebereite Publikum der Berliner Bewegung. Es läßt sich daher als erster Befund festhalten, daß die dortige antisemitische Bewegung ihren Theoretikern vorausging. Chamberlains und Gobineaus Rassenlehren wären zur Begründung einer deutschnationalen Judenfeindschaft auch denkbar ungeeignet gewesen. Es
5, Dazu Ernst No/te: Der Faschismus in seiner Epoche (1963), S. 347; Landsberg in Zeitschrift für Sozialforschung (1933), S. 388 und rh. Nipperdey (wie Anm. 7), S. 304 f.
5. Moderner Antisemitismus als Rassismus
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sollte nicht übersehen werden, daß beider Ansichten keineswegs nationalistisch waren. Gobineaus Rassentheorie verstand sich, wie bereits erwähnt, sogar ausdrücklich als Gegenentwurf zum revolutionären Begriff der Nation. 54 Soweit er aus seiner Rassenlehre auch noch konkrete politische Schlußfolgerungen zog, konnten diese in Deutschland nicht gefallen. Gobineau erklärte den größten Teil des deutschen Volkes fur rassisch minderwertig. Houston Stewart Chamberlain bot auch nicht sehr viel mehr Trost für einen völkischen Nationalismus. Seine "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" versuchten zwar in langen Passagen eine rassische Deutung der Weltgeschichte zu geben. Als Schlachtfeld für die Auseinandersetzung der verschiedenen Rassen machte er dabei aber nicht nur Staaten und Völker aus, sondern durchaus auch einzelne Individuen. Jeder einzelne könne, je nach seinem Blutanteil, mal germanisch, mal ungermanisch handeln. 55 Da die Rassentheorien um 1880 also noch nicht in großem Umfang bekannt waren, stellt sich die Frage, ob sie bei der Entwicklung vom Antijudaismus zum Rasseantisemitismus schon eine bedeutende Rolle spielten. 56 Die Alternative zu dieser Auffassung bestünde in einer Neubewertung der zweifellos oft verwendeten Begriffe "Rasse" und "Volk". Für den in Frage stehenden Zeitraum müßten sie als Synonyme gelten. Diese Ansicht wurde bereits früher geäußert und begründet sich neben den obigen Erwägungen auch durch den Sprachgebrauch der damaligen Zeit. 57 Selbst in den eindeutig rassistischen und besonders radikalen Schriften von Eugen Dühring [mdet die Gleichsetzung von Rasse, Volk und Nation an vielen Stellen statt. Dühring gebraucht den Ausdruck Volksstamm in Bezug auf das Judentum zur Präzisierung seiner Position, und äußert sich daher gleich zu Anfang seines Buchs über "Die Judenfrage" folgendermaßen: "Vom christlichen Mittelalter her ist die Gewohnheit bei uns eingewurzelt, in erster Linie an eine Religionsverschiedenheit denken zu lassen. Auf diese Weise war der Ausdruck Jude fälschlich und fast ausschließlich eine Religionsbezeichnung gewor-
54
Nolte (wie Anm. 53), S. 348.
55 Ebd., S. 353 Chamberlain führt als Beispiel Ludwig XIV an, der sowohl Germane (als Gegner des Papstes) als auch Antigermane (Befürworter des Absolutismus) gewesen sei. Vgl. auch Rudolf Lill: Zu den Anfängen des Antisemitismus im Bismarckreich (1975), S. 229 f. 56 Volkov (wie Anm. 37), hegt deutliche Zweifel an der Virulenz rassistischen Gedankenguts im Antisemitismus vor der Jahrhundertwende, S. 61.
57 Vgl. dazu auch Abschnitt 11. 2. über Adolf Stöckers Schwierigkeiten, zwischen Volk, Nation und Rasse zu unterscheiden.
1. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien
40
den, und die Bezeichnung einer Rasse oder vielmehr eines Volksstammes, .... , zur Nebensache geworden"" Wenige Zeilen später spricht er von "Verdunkelung des Rassen- und Nationalbewußtseins"59, um fast fließend zu "aus der Rassennatur entwickelten Kultureigenschaften" überzugehen. 60 Es sollte müßig sein, auf die im weiteren Fortgang eklatant zutage tretenden Widersprüche in Dührings Konzeption einzugehen. Sie lassen sich bereits auf diesen ersten Seiten nachweisen und können nur durch den beliebigen Gebrauch der Begriffe Volk, Rasse und Nation etwas verdeckt werden. Diese Begriffe, die im Zusammenhang mit dieser Untersuchung für die Bestimmung des Antisemitismusbegriffs wichtig sind, standen hier auf sehr engem Raum zusammen. Ihr beliebiger Gebrauch an dieser Stelle war kein Zufall, sondern durch die Vielzahl und die Unschärfe der Ziele, die gleichzeitig verfolgt wurden, notwendig bedingt. 61
c) Das völkische Paradigma und seine Vorstellungswelt Es liegt dieser Untersuchung die These zugrunde, daß die Entwicklung des modemen Antisemitismus sich als ein Bestandteil des deutschnationalen Bewußtseins begreifen läßt, das nach der Reichsgründung entstand und spätestens Ende der 1870er Jahre weit genug entwickelt und verbreitet war, um politisch wirksam zu werden. 62 Einige Elemente dieser Vorstellungswelt seien hier noch einmal kurz angegeben:
58
Eugen Dühring: Die Judenfrage (1901), S. I.
59
Ebd., S. 2.
60
Ebd., S. 2.
61 Volkov (wie Anm. 37) führt noch weitere Äußerungen prominenter Antisemiten wie Lagarde, Treitschke und Theodor Fritsch an, die sich gegen die Verwissenschaftlichung des Rassismus richten und einen synonymen Gebrauch der Begriffe Rasse, Nation und Volk wahrscheinlich erscheinen lassen.
62 In der Regel wird die Entstehung der "neuen Rechten" in die I 890er Jahre gelegt. Vgl. dazu Nipperdey: Deutsche Geschichte (1992), S. 606 f. und Geoff Eley: Reshaping the German Right (1980), S. 19 f. Dies bezieht sich jedoch in erster Linie auf die Entstehung der neuen Organisationen wie dem Bund der Landwirte, den Industrieverbänden und dem Alldeutschen Verband. Die Entstehungsgeschichte der antisemitischen Bewegung weist jedoch eine hohe Kontinuität bereits seit 1880 auf.
5. Moderner Antisemitismus als Rassismus
41
•
Im Mittelpunkt des Denkens und Handeins steht das Volk. Es ist sowohl Quelle als auch Ziel des Handeins, d.h. niemand kann aus seiner völkischen Haut. Er muß so handeln, wie es ihm seine Herkunft vorschreibt.
•
Rechte und Pflichten ergeben sich aus der Zugehörigkeit zu diesem Volk. Ethisch handelt in diesem Sinn, wer in Übereinstimmung mit seiner völkischen Herkunft, d.h. mit den gedachten Traditionen dieses Volks handelt.
•
Die Volkszugehörigkeit hängt von der Geburt ab.
•
Innerhalb des Volkes kann es keine verschiedenen Interessen geben. Da das Individuum sein Wertgefühl aus seiner Volkszugehörigkeit und seiner Nützlichkeit für dieses Volk bezieht, ist sein Wert immer gleich dem Wert seines Volkes und durch Verfolgung von Einzelinteressen nicht zu steigern. Deshalb ist die Trennung des Volkes in Gruppen oder gar Klassen ein Betrachtungsfehler, sowohl unmoralisch als auch künstlich. 63
An den oben genannten Punkten läßt sich leicht die Ablehnung des aufklärerischen Naturrechtsdenkens erkennen, wie es in der amerikanischen Verfassung oder der französischen Revolution seinen Ausdruck gefunden hatte. Wo das Naturrechtsdenken von den Rechten des Einzelnen unabhängig von seiner Herkunft und seinen Existenzbedingungen ausgeht, bindet das völkische Denken Rechte und Pflichten an die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Warum sich diese Vorstellungswelt gerade in Deutschland zu einem Paradigma verdichtete, d.h. als Schlüssel zum Verständnis politischer, geistesgeschichtlicher, soziologischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklungen angesehen wurde, kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu deren Gegenstand werden. Ähnlich völkische Denkweisen finden sich im konservativen Lager vieler Länder, ohne eine biologisch - rassistische Komponente zu enthalten, wie dies für Deutschland charakteristisch werden sollte. Der Franzose Joseph de Maistre brachte diese "weichere" Variante völkischen Denkens bereits 1814 auf den Punkt:
6, Vgl. dazu Puhle (wie Anm. 13), S. 78 f. zur "harmonistischen Theorie" der Konservativen im Bund der Landwirte. Wie sehr diese Auffassung dem Zeitgeist entsprach, macht ein Blick ins Meyers Konversationslexikon von 1896 deutlich. Unter dem Stichwort "Partei" findet sich dort der Satz: "Für eine Partei, welche nicht das allgemeine, sondern lediglich das persönliche Interesse ihrer Angehörigen verfolgt, wird die Bezeichnung Clique oder Coterie gebraucht" (Meyers, 5. Aufl. Bd. 13, S. 558, zitiert nach /J. Fel1ske: Deutsche Parteigeschichte (1994), S. 9) Zu den Elementen völkischen Denkens vgl. auch Altgeld: Volk, Rasse, Raum (1986), S. 101 f.
42
I. Entwicklung deutscher Antisemitenparteien "Es gibt gar keinen Menschen in der Welt. Ich habe in meinem Leben gesehen: Franzosen, Italiener, Russen usw .... Aber was den Menschen anbelangt, so erkläre ich, daß ich ihm in meinem Leben nicht begegnet bin."b'
Zweifellos fiihrte die Durchsetzung des Kapitalismus zur raschen Auflösung von jahrhundertelang unverändert tradierten sozialen Institutionen, wie auch die Aufklärung zur Unterhöhlung des christlichen Wertesystems beitrug. Beides warf Fragen hinsichtlich der Dauer und der Herkunft gewordener Entitäten auf, deren geschichtliche Relativität nun offensichtlich war. Es fiihrte auf geistesgeschichtlicher Ebene letzten Endes zur Zerstörung der Kategorie vom Ewig - Seienden, die im Mittelpunkt traditioneller Metaphysik gestanden hatte, und in der Folge auch zur Ablösung der metaphysischen Vorstellungen hinsichtlich sozialer Ordnung. Das wurde von Hegel 1801 als "Phänomenologie des Geistes" auf den Begriff gebracht. Wo Hegel aber noch einen Prozeß gesehen haben wollte, der sich zu seinem Zweck weltgeschichtlicher Völker bediente (z.B. Perser, Griechen und Römer), erlebte nach ihm das "Volk" als ewig - seiende metaphysische Kategorie eine ungeahnte und reichlich willkürliche Auf- und Umwertung. Das "Volk" wurde vielen zur Konstante in einem fortdauernden Prozeß, zum Subjekt der sozialen und geistesgeschichtlichen Veränderungen. bs So ließen sich leicht die Brücken in vergangene Zeiten schlagen und gerade in Deutschland war nun auf einer ganz unphilosophischen Ebene der Weg zur Germanentümelei bereitet. Arminius war zum nahen Verwandten geworden. Im folgenden soll nun versucht werden, nach Spuren des eben skizzierten Lebensgefiihls in der politischen Landschaft Deutschlands zwischen 1871 und 1914 zu suchen. Es wird die These vertreten, daß der Auftritt des Antisemitismus als politische Kraft der Ausdruck des bereits entstandenen völkischen Bewußtseins war und der politische Antisemitismus notwendig immer dessen Teil blieb. Es scheint daher sinnvoll, die Entwicklung der Antisemiten-
b4 Zitat nach Elmar Hohenstein, Menschliche Gleichartigkeit und kulturelle Mannigfaltigkeit, in: Information Philosophie, 2/1994, S. 9. Wie in der Philosophie üblich, zieht sich auch diese Debatte ziellos durch die Jahrhunderte und beweist ihre politische Sprengkraft zur Zeit in der Diskussion um die Theorien des Kommunitarismus. Vgl. dazu Axel Honneth: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften (1992).
6S Diese Auffassung griff bereits Fichte auf, der seine "Anweisung zum seligen Leben" (1806) zum Teil mit im Volksbewußtsein wirksamen Denkweisen begründete. Obwohl Fichte das Christentum positiv beurteilt, ist es hier bereits keine universelle Bewegung mehr. Es ist dem Volksleben untergeordnet. Weniger auffällig, aber politisch durchaus wirksam, war der antimonarchische Zug völkischen Denkens. Auch dies wird ja bereits bei Fichte deutlich.
5. Moderner Antisemitismus als Rassismus
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parteien von ihrem ersten Auftreten Ende der 1870er Jahre bis zur Gründung der Deutschnationalen Volkspartei nach dem ersten Weltkrieg immer in enger Abhängigkeit von den sie unterstützenden Konservativen und den wirtschaftlichen Interessenparteien zu betrachten. Diese Betrachtungsweise trägt dem Umstand Rechnung, daß den Deutschnationalen im zweiten Kaiserreich eine politische Heimat fehlte. Die in Frage kommenden Parteien, vor allem die Deutschkonservativen, die Nationalliberalen und die Reichspartei, waren in hohem Maß anderen Grundlagen und Zielen verpflichtet. 66 So fliHten die antisemitischen Parteien eine Lücke im Parteiensystem, ohne eine grundsätzliche Alternative zu sein.
66
Vgl. dazu Abschnitt 11.
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen: Das politische Spektrum der wilhelminischen Ära und sein Verhältnis zum Antisemitismus 1. Der BdL als völkisch - nationale Gruppierung
Zu Beginn der 1890er Jahre gab es, wie gesagt, in Deutschland eine kleine Grundungswelle von Interessenverbänden in Landwirtschaft und Industrie und allgemein politischer Natur, die in der politischen Landschaft des Reichs nachhaltige Veränderungen herbeiführte. In kurzen Abständen konstituierten sich der Alldeutsche Verband (1891), der Bund der Landwirte (1893) und der Bund der Industriellen (1895).67 Auch die Bemühungen um die Grundung einer Mittelstandsvereinigung fallen in diese Zeit. 68 Für eine Analyse der völkisch inspirierten politischen Gruppen ist der BdL von besonderer Bedeutung, da an ihm, wie Stegmann und Puhle gezeigt haben, das spezifische Gemisch von zielorientierter Interessenvertretung und ideologischer Verhärtung deutlich wird, das auch für die Deutschkonservativen und die Antisemitenparteien kennzeichnend war. Dieses Gemisch untergrub fortwährend die Bemühungen um eine vernünftige Politik und trug dazu bei, der deutschen Politik jenen irrationalen Zug zu geben, an dem sie bis zum Weltkrieg zu tragen hatte. Im Fall des BdL äußerte sich dies bereits in der häufigen Diskussion, ob er nur ein Interessenverband oder auch eine Partei sein wollte. Die offiziellen Verlautbarungen des Bundes legten Wert auf ersteres, was von den nahes tehenden Parteien, d.h. vor allem von den Konservativen, natürlich begrußt wurde. Im Gegensatz zu anderen rechtsgerichteten Verbänden wie etwa dem Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband neigte der BdL jedoch dazu, direkt in Wahlen einzugreifen und eigene Abgeordnete in die Parlamente zu schicken. Er ließ sich also auch als eine politische Partei begreifen,69 und da er an Mit-
67 Vgl. dazu Dirk Stegmann: Die Erben Bismarcks (1970), S. 32 f., und Puhle (wie Anm. 13). 68 Stegmann, (wie Anm. 4), S. 43. 69 Etwa im Sinne Max Webers, der eine Partei als "auf freier Werbung beruhende Vergesellschaftung mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines Verbandes Macht
I. Der BdL als völkisch-nationale Gruppierung
45
gliederzahl und Organisationsgrad alle anderen politischen Organisationen der Rechten deutlich übertraf, auch als eine sehr einflußreiche. Genaugenommen erflillte der BdL von den Organisationen der Rechten sogar noch am ehesten den Anspruch, eine Partei im modemen Sinn des Wortes zu sein. 70 Daß er seinen Einfluß nicht vorwiegend durch die Aufstellung eigener Kandidaten geltend machte, sondern in der Regel durch die Unterstützung anderer Kandidaturen, vor allem der Nationalliberalen, Konservativen und Antisemiten, sprach nicht unbedingt gegen diesen Eindruck. Es war eine Praxis, die von den lokalen Wahlvereinen aller Parteien geübt wurde 7 ! und die deren regionaler Verwurzelung ebenso entsprach, wie sie dem bürgerlichen Lagerdenken folgte, auf das wir im einzelnen noch zu sprechen kommen werden. Der BdL erhob vielfach die gleichen Forderungen, wie sie auch in jenen der DsRP oder der DkP auftauchten. Offensichtlich zielte der Bund nicht nur auf die Durchsetzung großagrarischer Interessen, sondern auf einen wirklichen Umbau der Gesellschaft, und so umfaßte sein erstes Programm aus dem Jahr 1893 nicht nur die Ansichten der Agrarier zu den anstehenden Problemen der Wirtschaftspolitik. Konkret beschäftigte es sich allerdings vor allem mit dem Abschluß des deutsch - russischen Handelsvertrages, der vom BdL entschlossen bekämpft wurde. In schroffem Gegensatz zu den Absichten der Reichsregierung forderte man den Verzicht auf diese Handelsverträge und dazu noch das Importverbot fUf ausländisches Vieh.
und ihren aktiven Teilnehmern dadurch (ideelle oder materielle) Chancen zuzuwenden" definiert hat. (zitiert nach F enske: Deutsche Parteiengeschichte (1994), S. 9. 70 Puhle (wie Anm. 13) verwendet den Begriff der "pressure group", um den BdL zu charakterisieren (S. 293/294). Er begründet dies mit dem begrenzten Forderungskatalog des BdL, läßt sich aber die Hintertür offen, daß "die konkrete Analyse der Zusammenarbeit einzelner Verbände mit Parteien ..... nicht nur die Ursachen der Unmöglichkeit eines einheitlichen Parteibegriffs für die wilhelminische Zeit erhellen, sondern auch Aspekte der stufenweise Veränderungen von Verbänden und Parteien deutlich machen, die uns neue Definitionen erlauben." (S. 294) Seine eigene Analyse der Zusammenarbeit zwischen BdL und den anderen Organisationen der Rechten läßt jedoch kaum Zweifel am Parteicharakter des BdL, da dieser nicht nur über eine ständige Organisation, ein umfassendes (nicht nur interessengebundenes) Programm und die Bereitschaft zur Übernahme politischer Ämter verfUgte, sondern auch aktiv am politischen Geschehen teilnahm. 71 Die nachfolgend aufgefUhrten Kandidaturen von BdL - Politikern repräsentieren also keineswegs alle Versuche des BdL, auf das Wahlgeschehen Einfluß zu nehmen. Sie resultierten aus lokalen Besonderheiten, die ein Vorgehen unter eigenem Namen angemessen erschienen ließen.
46
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
Aber auch völkisch - antisemitische Standardthemen wie die notwendige Börsemeform, die Entschuldung der Landwirtschaft und die Ausbildung einer Gesetzgebung auf der "Grundlage des deutschen Rechtsbewußtseins" tauchten hier auf. Vor allem letztere Forderung wurde später ständig wiederholt, da man das eben entworfene Bürgerliche Gesetzbuch mit seiner auf römischem Recht beruhenden Tradition als fremd empfand und seine Einführung jüdischem Einfluß zuschrieb. 72 In den folgenden Jahren entwickelte der BdL nun eine noch umfangreichere Programmatik, die sich zu konkreten Fragen oft dunkel und verschwommen äußerte und sich auch in dieser Hinsicht an den eher weltanschaulich orientierten Programmtexten der Parteien orientierte. Den Hintergrund dieser Gedankenwelt bildete stets ein gesellschaftliches Idealbild, in dem für Konflikte zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen kein Platz war. Es läßt sich als "harmonistisches"73 Bild der Gesellschaft bezeichnen. Die führenden Politiker und Agitatoren des BdL leugneten das Offensichtliche und legten Wert darauf, als Agrarier keine Einzelinteressen zu vertreten, bzw. mit der Vertretung der Interessen der Landwirtschaft nur "das erste und bedeutendste Gewerbe, die festeste Stütze des Deutschen Reiches und der Einzelstaaten,,74 zu fördern. Von dem "Blühen und Gedeihen" der Landwirtschaft hänge die "Wohlfahrt aller anderen Berufszweige" ab, sie sollte "materieller Ausdruck für die fortschreitende Kultur eines Volkes sein". 75
72 Puhle (wie Anm. 13) kennzeichnet diesen Umbau allerdings als Restauration (S. 76). Anfang 1888 wurde der erste Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs bekannt, der wesentlich durch die von Savigny begründete historische Rechtsschule beeinflußt wurde. Kritik fand vor allem seine einseitig positivistische Ausrichtung und die Geringschätzung der sozialen Funktion des Eigentums- und Schuldrechts. Vor dem Hintergrund der Agrarkrise der neunziger Jahre, von der die Antisemitische Klientel der kleinen Hofbesitzer besonders betroffen wurde, paßte die resultierende Bevorzugung des Kapitalgebers ebensosehr in die Vorstellung vom raffenden jüdischen Kapital wie die Schwächung des Gewohnheitsrechts. Vgl. dazu Karl Larenz: Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts (1988), S. 15 f. und Th. Nipperdey (wie Anm. 7), S. 195/196. Die Parteien der Rechten nahmen diese Kritik auf und forderten die Schaffung eines auf "deutschen Rechtsanschauungen fußenden bürgerlichen Gesetzbuchs" (Programm der DsRP, Erfurt 1895, zit. n. Specht/Rabe: Die deutschen Reichstagswahlen 1867-1903 (1904), S. 416 f.) Die Deutschkonservativen plädierten für die Entwicklung des Rechts nach den "realen und geschichtlich gegebenen Grundlagen", getragen von "deutschnationalem Rechtsbewußtsein" (Tivoli - Programm 1893, zit. n. Otto Stillich: Die politischen Parteien in Deutschland (1908), S. 251 f.).
73
Puhle (wie Anm. 13), S. 74. Anm. 8.
74
Ebd., S. 78.
75
Ebd., S. 78.
I. Der BdL als völkisch-nationale Gruppierung
47
Es wäre nicht ganz treffend, diese Werteskala, auf der die Industrie eindeutig einen zweitrangigen Wert einnahm, nun auch als "antiindustriell" im Sinn einer Ablehnung der industriellen Produktionsformen zu kennzeichnen. 76 Wichtiger scheinen der Affekt und das Unverständnis gegenüber jeder Art moderner Kapitalbeschaffung gewirkt zu haben, der in vielen Äußerungen von BdL - Funktionären zu finden ist. Die gegensätzlichen Begriffe lauteten nicht Industrie/Landwirtschaft oder Stadt/Land, sondern "schaffen" und "raffen". Feindbild der Agrarier waren denn auch weniger die großindustriellen Mitglieder des Centralverbandes der deutschen Industriellen (Cdi), deren Nützlichkeit für die Machtentfaltung Deutschlands nicht von der Hand zu weisen war, als deren undurchschaubare Geldgeber, die am Wachstum der deutschen Industrie gut verdienenden Banken. Diese Banken nun vermutete man vOlWiegend in jüdischer Hand oder von jüdischen Hintermännern gesteuert. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn zugleich mit den deutschnationalen/völkischen Vorstellungen des BdL auch dessen antisemitische Orientierung deutlich wurde. Die Satzung von 1893 schloß Juden von der Mitgliedschaft im BdL aus. Nun gehörten antisemitische Vorurteile zum geistigen Rüstzeug eines großen Teils des preußischen Adels, vor allem seines ländlichen Teils. Hellmut v. Gerlach, nach eigenem Bekenntnis in seiner Jugend ein typischer Vertreter junkerlicher Ansichten, schildert die Atmosphäre, in der solche Meinungen entstanden: "Als Kind bekam ich Juden nur in Gestalt von Fell- und Bündel - Juden zu Gesicht, die auf unseren Hof zum Kaufen und Verkaufen kamen. Das waren arme Teufel von peinlicher Unterwürfigkeit, jener Typ, der, vorne hinausgeworfen, hinten wieder hineinkommt. Niemand haßte sie, aber man verachtete sie. Minderwertige Rasse! Das war überhaupt die Vorstellung, in der ich erzogen wurde: Die Juden sind anders als wir, und stehen tiefer als wir. Arbeiten wollen sie nicht, nur schachern. Sie kennen keine andere Moral als die des Geldverdienens um jeden Preis. Darum soll man sich vor ihnen in acht nehmen. Am besten tut man, wenn man ihnen aus dem Wege geht. "77 Die in diesem Milieu aufgewachsenen Funktionäre des Bundes wie v. Ploetz und v. Wangenheim pflegten denn auch ihre antisemitischen Grundsätze mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen eifernden Fanatismus aufkommen ließ. Die in ihren Reden auftretende Judenfeindschaft gab der Verachtung gegenüber ihren liberalen Gegenspielern einen griffigen Ausdruck und die richtige Würze. Sie gestatteten sich jedoch gelegentlich einen bewundernden Blick auf
7. Puhle verwendet diesen Begriff (S. 8Q). 77
Hellmut von Gerlach (wie Anm. 1), S. 100.
48
II. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
den völkisch - nationalen Antisemitismus. Wangenheim beispielsweise kommentierte den Verlauf der Reichstagswahlen von 1912 folgendermaßen: "In diesem Kampfe hat sich ein Hervordrängen des jüdischen Einflusses in der Presse, des jüdischen Geldes bei der Wahl, des jüdischen Geistes in der zersetzenden und verhetzenden Arbeit in einer Weise geltend gemacht, daß ich glaube, wir werden ein Wiederaufleben eines idealeren, aber um so stärkeren Antisemitismus sehen, wie ihn Theodor Fritsch in seinen Schriften und in seinen Worten uns predigt."78
Dazu paßte die Aufnahme zahlreicher Exponenten antisemitischer Gruppierungen in den BdL. Unter anderem waren mit Georg Oertel, einem Vertrauten Adolf Stöckers und konservativen Theoretiker, dem radikalen Deutschreformer Otto Böckel und dem Deutschsozialen Liebermann v. Sonnenberg alle drei großen antisemitischen Richtungen im BdL durch wichtige Repräsentanten vertreten. Besonders die Mitgliedschaft Liebermann von Sonnenbergs überrascht nicht, finden sich in seiner Person doch alle Varianten eines deutschnationalIvölkischen Bewußtseins wieder. Er war nicht nur als langjähriger Vorsitzender der Deutschsozialen Partei Vorkämpfer eines "deutschsozialistisch organisierten" Staates, sondern plädierte auch gleichzeitig fiir dessen christlich, d.h. evangelisch-monarchische Fundierung. Seiner Herkunft entsprechend, entsprang sein Antisemitismus den "normalen" antisemitischen Vorurteilen, verzichtete also auf so etwas wie "wissenschaftliche Grundlagen". 79 Dennoch sprach auch er ganz zwanglos von der "jüdischen Rasse" und ihren angeblichen Eigenschaften. Neben seiner Mitgliedschaft im BdL, die ihn gelegentlich als dessen Reichstagskandidat auftreten ließ, und dem Parteivorsitz der Deutschsozialen war er auch noch im Alldeutschen Verband engagiert. Gleichzeitig waren seine Beziehungen zu den Deutschkonservativen gut genug, um auch fiir diese Partei fiir den Reichstag zu kandidieren. Sein Einfluß verband sich im BdL mit dem von Diederich Hahn, in den neunziger Jahren einer der Agitatoren des Bundes und später dessen Vorsitzender. Er fiihlte sich bereits als Student antisemitischen Ideen verpflichtet und hatte sich 1881 an der Gründung des stramm nationalen "Vereins deutscher Studenten" beteiligt. Aus Anlaß des ersten Kyffhäuserfestes im gleichen Jahr äußerte Hahn sich dann in einem Aufruf folgendermaßen:
78 Korrespondenz des BdL 19.1.1912, zitiert nach Puhle (wie Anm. 13), S. 133. Zu Fritsch vgl. Abschnitt V. 3. 79
Dazu siehe Gerlach (wie Anm. 1), S. 102.
2. Die Christlichsozialen Adolf Stöckers
49
"Wir haben ein Reich, wir lassen Gut und Blut dafür, vieles in ihm ist noch mangelhaft. Judentum, Franzosentum wohin wir blicken. Es ist Aufgabe der christlich germanischen Jugend, das auszurotten, denn uns gehört die Zukunft"80
Ein späterer Ausspruch im Reichstag zeigt, daß Hahn seinen Ansichten treu blieb: "Haust du meinen Bauern, hau ich deinen Juden"
Begünstigt durch solche persönlichen Affinitäten zwischen den Parteiantisemiten und den Bundesfunktionären machte auch die Integration des Antisemitismus in die Ideologie des Bundes zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten. Zwar wurde er dort aufgrund der üblichen Verbindung zwischen völkischnationalen und konservativ-preußischen Redeweisen etwas weniger auffallig als in den ausdrücklich "antisemitisch" benannten Parteien gepflegt, verschwand aber keineswegs. Ganz im Gegenteil wurde der BdL immer stärker seine Heimat.
2. Vor der Schwierigkeit, Antisemitismus von Rassismus zu trennen: Die Christlichsozialen Adolf Stöckers Die Gründung der Christlichsozialen Partei (CsP) durch Adolf Stöcker als Christlichsoziale Arbeiterpartei (CsAP) 1878 war in erster Linie eine Reaktion auf die verschärften sozialen Gegensätze der Zeit und den damit verbundenen Aufstieg der Sozialdemokratie. Die CsP suchte eine Alternative zum sozialdemokratischen Programm der sozialen Revolution und die Partei glaubte, sie in einem sozialen Königtum, sowohl christlich als auch national gefunden zu haben. sl Die ersten Punkte der "Allgemeinen Grundsätze" im Programm der CsAP vom 1. Januar 1878 verdeutlichten diese Intentionen Adolf Stöckers: ( 1) Die christlichsoziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. (2) Sie verwirft die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch. (3) Sie erstrebt eine friedliche Organisation der Arbeiter...
so
Kyffhäuserzeitung Nr. 2, Zit. nach Puhle (wie Anm. 13), S. 134.
SI Zur Entwicklung Stöckers bis zur Gründung der CsAP vgl. Helmut Busch: Die Entwicklung der Stöckerbewegung im Siegerland (1968).
4 Scheil
50
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
(4) Sie verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen reich und affil ...... 82
Die Sozialdemokraten waren damit klar als Gegner benannt und reagierten auch dementsprechend. Sie majorisierten Stöckers Versammlungen in Berlin und verabschiedeten dort dann Resolutionen, die dessen Absichten völlig zuwiderliefen. Stöcker, der das Gebot der sozialen Gleichheit auf das christliche Gebot der Nächstenliebe zurückführen wollte und zunächst auch in diesem Sinn argumentierte, konnte mit diesem Vokabular jedoch nicht nur die Anhänger des wissenschaftlichen Marxismus, der die sozialdemokratische Argumentationsgrundlage bildete, nicht überzeugen. Er begab sich auch gegenüber den konservativen Regierungskreisen in eine Außenseiterposition. Reichskanzler Bismarck etwa hieß die Gründung der CsP nur mit Einschränkungen gut, eine protestantische Variante des Zentrums befürchtete, die ähnlich schwer zu kontrollieren sei wie das katholische Original. s3 Stöcker stellte jedoch bald klar, daß er nicht im Sinn eines orthodoxen Protestantismus dachte, sondern seinem Christentum durchaus eine völkische Grundlage gab. Er machte in seinen Reden den Gleichklang der Begriffe "christlich" und "deutsch" populär, der später in der völkischen Bewegung eine wichtige Rolle spielte. Christliche und deutsche Bestrebungen waren für Stökker weniger aus theoretischen Erwägungen als aus historischen Gründen das gleiche. Er konnte die deutsche Vergangenheit, und entsprechend auch die deutsche Gegenwart und Zukunft, nur als eine christliche denken. Diese Beziehung war keine Einbahnstraße, da auch das deutsche Christentum nur als Teil einer deutschnationalen Vorstellungswelt seine Existenzberechtigung haben konnte. Gehorsam und Treue gegenüber dem Staat nahmen in dieser Wertung
'2 Stöcker: Christlich - Sozial. Reden und Aufsätze, Bielefeld - Leipzig 1885, S. 21 ff. '3 Herbert Hofmann: Fürst Bismarck 1890-1898, Bd. 2, Stuttgart (1913), S. 322, zit. n. Fricke: Lexikon der bürgerlichen Parteien. Stöcker hatte solche Besorgnisse mit seinen Aktivitäten für eine größere Unabhängigkeit der protestantischen Kirche von staatlichem Einfluß hervorgerufen (vgl. dazu Kaiser: Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus (1993), S. 254 f.). Die antisemitische Haltung der CsP war BislIlarck selbst nicht fremd. Er gab seinem Unmut über das "Fortschrittsjudentum" gelegentlich Ausdruck, so etwa Moritz Busch gegenüber. Buschs rasseantisemitische Schlußfolgerungen (vgl. Abschnitt V. 3) dürfte er jedoch abgelehnt haben, wie aus Buschs Tagebuch hervorgeht: Bismarck habe geäußert, man müsse den "christlichen Hengst deutscher Züchtung mit einer jüdischen Stute" zusammenbringen, um das Judentum unschädlich zu machen. Das war nun zwar auch nicht ohne Rassismus gedacht, aber doch mehr nach Gutsherrenart. Wawrzinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1927/1 965), S. 30 f.
2. Die Christlichsozialen Adolf Stöckers
51
einen ähnlichen Rang ein, wie die Ehrfurcht vor Gott. "Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Vaterland" sei das "Edelste, was in der Brust des Menschen lebt" ,84 äußerte er auf der Gründungsversammlung der CsAP. Stöcker dachte dabei selbstverständlich an einen monarchisch verfaßten Staat preußischer Prägung dessen Königtum sich letzten Endes auf Gottes Gnade zu stützen habe. Von diesem Punkt aus kam Stöcker zu einer judenfeindlichen Haltung, unter Berufung auf jene umfangreiche Publizistik dieses Inhalts, die nach dem Gründerkrach von 1873 eingesetzt hatte. 85 In dieser Welle hatte Wilhelm Marr 1877 über den "Sieg des Judentums über das Germanenturn" geschrieben. 86 Diese Schrift, die in kurzer Zeit etliche Auflagen erlebte, kann als eine Art Geburtsurkunde des modernen Antisemitismus gelten, wie ja auch die Prägung des Begriffs "Antisemitismus" Wilhelm Marr zugeschrieben wird. Die "Judenfrage" war also längst Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit geworden, als Stöcker seine erste Rede gegen das "moderne Judentum" hielt. Dazu veranlaßt hatte ihn wahrscheinlich die Niederlage der CsAP bei den Reichstagswahlen von 1878. Dieses "moderne Judentum", an das er seine Forderungen richtete, war nun weitgehend identisch mit dem von Wilhelm Marr erdachten. Marr hatte sich viel darauf zugute gehalten, die Judenfrage vom "nicht - confessionellen Standpunkt" aus zu betrachten und die religiöse Seite der Judenfeindschaft schlicht "blödsinnig" genannt. 87 Stöcker schloß sich dieser Meinung an. Gleich zu Beginn seiner Rede nahm er das religiöse Judentum, sowohl das orthodoxe als auch das Reformjudentum, von seiner Kritik aus. Er tat dies nicht, ohne es beiläufig "eine im innersten Kern abgestorbene Religionsform" zu nennen. 88 Es habe aber "rur die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts weder Anziehungskraft noch Gefahren".89 Die Gefahr, die vom Judentum ausgehe, lag nach Stöcker in seiner großen Beharrungskraft, die jede Integration in das christliche deutsche Volk unmöglich mache. Das moderne Judentum stünde unverbunden neben diesem,
84
Vgl. Broszat (wie Anm. 11), S. 32.
8; Dazu Kurt Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 8 ff. Wawrzinek führt auch ein umfangreiches Register der in den 70er Jahren erschienen Broschüren zum Thema auf. Eine kurze Schilderung findet sich auch bei Th. Nipperdey (wie Anm. 7), S. 294 f. 8.
214 f.
Vgl. in Abschnitt V. 3. den Artikel zu Marr und Lill in Saeculum 26 (1975), S.
87
Wilhelm Marr: Der Sieg des Judentums Über das Germanentum (1877), S. 7.
8S
Stöcker: Das moderne Judentum (1880), S. 6.
89
Ebd., S. 6.
Ir. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
52
getrennt durch eine andere Geschichte, eine andere Religion und einer daraus resultierenden fremden Auffassung von Wirtschaft und Staat. Stöckers "Forderungen an das modeme Judentum", die er in dieser berühmten Rede am 19. September 1879 aufstellte, zeigen denn auch seine völkische Auffassung von Religion. Ausgehend von der relativ zahlreichen jüdischen Bevölkerungsgruppe in Berlin, "allein in Berlin wohnen 45000 Juden, ... , das ist zuviel", gelangte er zu folgendem Befund: 90 "Die Juden sind und bleiben ein Volk im Volke, ein Staat im Staate, ein Stamm für sich unter einer fremden Rasse. Alle Einwanderer gehen zuletzt in dem Volke auf, in welchem sie wohnen; die Juden nicht. Dem germanischen Wesen setzen sie ihr ungebrochenes Semitentum, dem Christentum ihren starren Gesetzeskult oder ihre Christenfeindschaft entgegen." Auffällig ist hier nicht nur der synonyme Gebrauch der Begriffe "Stamm" und "Rasse", sondern auch die Verwendung völkischer Schlüsselworte wie "germanisches Wesen" und "Semitentum". Folgerichtig sind Stöckers Forderungen denn auch praktisch identisch mit allem, was völkische Parteiprogramme in den nächsten Jahrzehnten beinhalteten: 91 "Die jüdische Presse muß toleranter werden, das ist die erste Bedingung besserer Verhältnisse. Die sozialen Übelstände, welche das Judentum mit sich bringt, müssen auf dem Wege einer weisen Gesetzgebung geheilt werden ... Beseitigung des Hypothekenwesens im Grundbesitz ... , eine Änderung des Kreditsystems, welche den Geschäftsmann von der Willkür des großen Kapitals befreit; Änderung des Börsen- und Aktienwesens, Wiedereinführung der konfessionellen Statistik, Einschränkung der Anstellung jüdischer Richter auf die Verhältniszahl der Bevölkerung." Letzteres war eine kleine Inkonsequenz gegenüber radikaleren Forderungen anderer Antisemiten, die auf völlige Entfernung von Juden aus Justiz und Schule zielten, aber Stöcker legte auf die Bildung wohl größeren Wert und beschränkte sich daher die Forderung nach der "Entfernung der jüdischen Lehrer aus unseren Volksschulen". All diese Maßnahmen seien Mittel, "um dem Überwuchern des Judentums im germanischen (!) Leben, diesem schlimmsten Wucher, entgegenzutreten", und somit eine "Kräftigung des christlich - germanischen (!) Geistes" zu erreichen. Diese Gleichsetzung von evangelischem Christentum und germanisch deutschem Leben machte Schule. Im allgemeinen galt in der völkischen Bewe-
90
Stöcker (wie Anm. 82), S. 367 f.
'JI
Ebd., S. 369.
2. Die Christlichsozialen Adolf Stöckers
53
gung bei des als untrennbar verbunden, nicht aus theoretischen Erwägungen, sondern wegen der langen Vorherrschaft des Christentums in Deutschland. Eine Einschätzung, die sich allerdings nicht auf den Katholizismus erstreckte, den die Völkischen in der Regel als "undeutsch" verwarfen. Die so geschaffene christliche Tradition wurde oft bedauert,92 aber in aller Regel anerkannt. 93 Stöckers Argumentation an dieser Stelle war eindeutig völkisch orientiert. Seine Identifikation von germanischem mit christlichem Geist, sowie jüdischer Religion mit Semitentum ließ keine Brücke für einen möglichen Wechsel zwischen beiden Seiten. Stöcker ging von zwei entgegengesetzten völkischen Prinzipien aus und formulierte dies später auch noch deutlicher in rassistischer Terminologie: "Denn man täusche sich nicht; auf diesem Boden steht Rasse gegen Rasse und führt, nicht im Sinn des Hasses, aber im Sinn des Wettbewerbs einen Rassenstreit." Dagegen verwahre sich zwar das Judentum und weise "von allen Gedanken meiner ersten Rede am meisten den zurück, daß es ein Volk im Volke, ein Staat im Staate, ein Stamm in einer fremden Rasse sei. Dennoch ist dies der Ausdruck tatsächlicher Verhältnisse"·'
Mit dieser Rede wurde Stöcker einer der Begründer der antisemitischen "Berliner Bewegung", die für ihn einer "deutschen Erweckung" glich und die dem Antisemitismus als Ausdruck Deutschnationalen Bewußtseins zum er-
92 Noch Adolf Hit/er bedauerte in seinen Tischgesprächen den Sieg Kar/ Martells bei Poitiers, weil der Kampfgeist des Islam den Franken angemessener gewesen sei als das Christentum "mit seiner schlappen Duldsamkeit". Für die "Los von Rom" - Bewegung des österreichischen Alldeutschen Georg Schönerer fand er in "Mein Kampf' trotzdem kein lobendes Wort. Ganz im Gegenteil verkündete er in Sperrdruck: "Dem politischen Führer haben religiöse Lehren und Einrichtungen seines Volkes unantastbar zu sein, sonst darf er nicht Politiker sein, sondern soll Reformator werden, wenn er das Zeug hierzu hat" (Mein Kampf, 33. Aufl 1933, S. 127). Er lobte statt dessen die Christlichsoziale Partei des Wiener Oberbürgermeisters Lueger, denn "sie vermied jeden Kampf gegen eine religiöse Einrichtung" (ebd., S. 130) Zum Komplex: Völkische Bewegung / Religion vgL auch Altgeld: Katholizismus, Protestantismus, Judentum (1992), S. 47 f. und vor allem S. 165 ff Altgeld handelt die Ursprünge nationalreligiösen Denkens im protestantischen Milieu während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab. Nach seinem Befund enthielt die deutschnationale Religiosität auch zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Anklänge an völkisch - heidnische Vorstellungen. (ebd., S. 175). 9) Es war ein beliebter Vorwurf an die völkische Deutschgläubigen - Bewegung, sie käme nicht über die christliche Formensprache hinaus. Diese sei in Deutschland so verwurzelt, daß dies auch unmöglich sei (vgl. Buch: 50 Jahre antisemitische Bewegung (1937), S. 82.
9' Stöcker (wie Anm. 82), S. 381.
54
H. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
sten Mal politische Gestalt gab. 95 Es konnte jedoch nicht ausbleiben, daß die CsP in Berlin nicht Fuß fassen konnte. Die Soziologie einer explosiv wachsenden Großstadt des neunzehnten Jahrhunderts bot nationalem Gedankengut keinen wirklichen Nährboden, auch nicht, wenn es sich christlich und sozial verbrämte. Allerdings wirkte sich die Wendung zum Antisemitismus positiv für die Partei aus. Die ersten Reichstagswahlen, an denen die Christlichsozialen 1878 teilgenommen hatten, hatten auch die erste deutliche Niederlage gebracht. In ganz Berlin erhielt die CsP nur etwas mehr als 1400 Stimmen. Darauf erfolgte eine Kursänderung, als der Zusatz "Arbeiter-" aus dem Parteinamen gestrichen wurde, die Partei sich stärker an die Deutschkonservativen anlehnte und Stökker kurze Zeit später seine antisemitische Agitation begann. Bei den Reichstagswahlen 1881 erhielt denn auch allein Stöcker im Berliner Wahlkreis 2 über 11000 Stimmen. In diesem Jahr schloß sich die CsP als selbständige Gruppe der Deutschkonservativen Partei an. Mit deren Unterstützung und formal als Konservativer wurde Stöcker dann bei den Reichstagswahlen 1881 im Kreis Amsberg 1 (Siegen - Wittgenstein) gewählt und behielt dieses Mandat bis zu seinem Tod 1909 mit einer Unterbrechung 1893-1898. Naturgemäß hatte die CsP jedoch Schwierigkeiten, von der engen Beziehung zur wesentlich größeren DkP nicht aufgesogen zu werden. Diese Gefahr wuchs in dem Maß, wie Stöcker durch die Annahme konservativer Unterstützung zu weiteren Mandaten kam (seit 1879 saß er rür die Konservativen auch im preußischen Landtag). Durch sein Amt als Hofprediger war er ohnehin schon abhängig vom Hohenzollernhof. Jede Veränderung in der Gunst des Hofes oder der konservativen Partei mußte ihn hart treffen, und so wurde er zwischen 1885 und 1890 auch mehrmals genötigt, sich zwischen seinem Predigeramt und seiner politischen Arbeit zu entscheiden. 1890 war er schließlich gezwungen, vom Amt des Hofpredigers zuTÜckzutreten. 96 Das war noch nicht das Ende der Bindung der CsP an die DkP, stärkte aber die Kräfte, die auf eine Lockerung der Bindung an die Konservativen drängten. Ein weiterer Schritt in Richtung Selbständigkeit der CsP wurde mit der Verabschiedung eines neuen Programms auf dem Parteitag in Eisenach im Juni 1895 getan. Der Text ersetzte den von 1878 und zeigte die inzwischen erfolgte Erweiterung der Parteiziele und der zugrunde liegenden Ideologie. Punkt zwei des Programms nannte die Gegner:
9;
Stöcker: Die Berliner Bewegung, ein Stück deutscher Erweckung, Berlin 1894.
96 Zu diesem Vorgang vgl. Massing (wie Anm. 2), S. 62 und W. Frank: Hofprediger Stöcker und die christlichsoziale Bewegung (1935), S. 220 f.
2. Die Christlichsozialen Adolf Stöckers
55
"Die Christlichsoziale Partei bekämpft deshalb alle unchristlichen und undeutschen Einrichtungen, welche den inneren Zusammenbruch und den äußeren Umsturz herbeiführen müssen; insbesondere richtet sie ihre Waffen gegen den falschen Liberalismus und die drückende Kapitalherrschaft, gegen das übergreifende Judentum und die revolutionäre Sozialdemokratie"·?
Insgesamt war es ein Programm, das über reine Sozialreform hinausging und in einigen Sätzen, so wurde z.B. "Einschränkung eines übergroßen Grundbesitzes" gefordert, auch eine Spitze gegen die preußischen Großagrarier enthielt. Der Druck dieser Gruppe auf die Christlichsozialen wuchs denn auch. Durch den Skandal um Stöckers treuen konservativen Verbündeten Wilhelrn v. Hammerstein, der einige Unterschlagungen begangen hatte, wurde dieser Prozeß begünstigt. Als auch noch ein alter Brief Stöckers an v. Hammerstein veröffentlicht wurde, in dem dieser gegen den damaligen Kanzler Bismarck zu intrigieren versucht hatte, war der Bruch der Konservativen mit der CsP perfekt. Im Februar 1896 erklärte der Parteitag der CsP die Partei für unabhängig. Stöcker hatte seine politische Heimat bis zuletzt innerhalb der Deutschkonservativen Partei gesehen und sich noch am 31. Januar 1896 in einer Vertrauensmännerversammlung der CsP in diesem Sinn ausgesprochen. 98 Es war sein Traum gewesen, den Hohenzollern "Berlin zu Füßen zu legen". Daraus würde nun nichts werden, nicht nur weil die Berliner nicht wollten, sondern auch, weil die Hohenzollern das Interesse an seiner Politik verloren hatten. Damit nicht genug, verlor Stöcker zur Jahreswende 1895/96 auch noch wichtige Bundesgenossen im Evangelischsozialen Kongreß. Die jüngeren Christlichsozialen um Hellmut von Gerlach und Friedrich Naumann waren Stöckers lavieren zwischen Sozialpolitik und konservativer Interessenpolitik leid. Sie trennten sich von der CsP und gründeten bald darauf mit dem Nationalsozialen Verein eine eigene politische Organisation. Obwohl Stöcker mit dem Austritt aus der DkP und dem Verlust der zukünftigen Nationalsozialen zwei wichtige Bundesgenossen verloren hatte, konnte er die Position der CsP in den nächsten Jahren konsolidieren. Seine Beziehung zu den Konservativen "Rheinland - Westfalens", wie der entsprechende Verband hieß,99 blieb gut genug, um von dort Unterstützung zu erhal-
.? Programm der CsP 1895, zit. n. Salomon: Die deutschen Parteiprogramme, Heft 2: 1871-1912. Leipzig - Berlin 1912, S. 100 f. 98
Frank (wie Anm. 96), S. 269 .
•9
Ebd., S. 265.
II. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
56
ten. So gelang ihm 1898 der Wiedereinzug in den Reichstag, ohne gegen einen konservativen Gegenkandidaten antreten zu müssen. Da Stöcker auch weiterhin in seinem Wahlkreis von den Konservativen unbehelligt blieb, und es ihm in den folgenden Jahren gelang, seiner Partei die Unterstützung des Zentrums in weiteren Kreisen loo zu sichern, konnte die CsP ihre Position in Westdeutschland ausbauen. Sie tendierte nun tatsächlich in die einst von Bismarck vorhergesehene Richtung und machte Anstalten, zu einer protestantischen Variante des Zentrums zu werden. Neben Stöcker kam auch weiterhin das Gros ihrer Kandidaten aus der evangelischen Kirche, aber es gelang der Partei auch, sich in Arbeitnehmerorganisationen eine Basis zu schaffen. Mit dieser Strategie erreichte die CsP in Wahlen bis 1912 einen stetigen Stimmenzuwachs. 101
3. Die Deutschkonservativen zwischen Thron und Nation, Interessenvertretung und Ideologie a) Die Ablösung des Konservativ - Liberalen Gegensatzes
Der politische Konservatismus preußischer Prägung läßt sich kaum von der umfassenderen konservativen Weltauffassung trennen, die üblicherweise durch das Beharren auf der Treue zu Thron und Altar, im Fall Preußens aber auch durch das Festhalten an Großgrundbesitz und dessen traditioneller Bewirtschaftung gekennzeichnet wird. 102 Auch wenn das neunzehnte Jahrhundert in Bezug auf neuere Reizthemen wie Ehe und Familie noch auf einen breiten Konsens christlicher Prägung zurückgreifen konnte, liegt es auf der Hand, daß
100 In den Kreisen Wiesbaden 5 und KobIenz I unterstützte das Zentrum die CsP in den Wahlen von 1907 und 1912. 101 Vgl. zu Ähnlichkeiten zwischen CsP und Zentrum das Diktum von Bismarck: "Er (Stöcker) hat nur den einen Fehler als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß
er Politik treibt.. .. Der evangelische Priester ist, sobald er sich stark genug dazu fühlt, ebenso zur Theokratie geneigt wie der katholische" (zit. n .. Kaiser, Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1993, S. 256). Kaiser weist in seinem Text darauf hin, in welchem Umfang Stöckers Ansatz einer Modernisierung der evangelischen Kirche auf alle Entwicklungen der Moderne reagierte und dafür den gesamten Verbandsprotestantismus in Anspruch nahm. Stöcker habe mit dieser Strategie einem autoritären Präsidialregime und letztlich einer totalitären Führerdiktatur vorgearbeitet. (ebd. S. 271). 102
Vgl. Nipperdey (wie Anm. 7), S. 331 f.
3. Die Deutschkonservativen
57
diese Überzeugungen in einem Zeitraum schneller Veränderungen auf technischem, gesellschaftlichem und politischem Gebiet stark unter Druck gerieten. Der daraus resultierende Konflikt zwischen den Liberalen, die solche Veränderungen begrüßten, und den Konservativen wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zunehmend von anderen Entwicklungen überlagert, ein Umstand, an den wegen seiner Auswirkungen auf die Parteienlandschaft hier noch einmal erinnert werden soll. Die Industrialisierung führte nicht nur zu einer Verschärfung der sozialen Frage, sondern auch zu den bekannten Phänomenen des Verwaltungs- und Industriestaats, die sich mit Bürokratisierung, Verstädterung, Landschaftszerstörung, Auflösung familiärer Bindungen, aber auch Erweiterung der Volksbildung umreißen lassen. Eine modeme Großmacht wie Preußen konnte sich dem nicht entziehen. Sie war dazu gezwungen, ihre ganze Bevölkerung in den Wirtschaftsprozeß zu integrieren und diesen Prozeß auch ideologisch zu begleiten. ,03 Die steigende wirtschaftliche Bedeutung der unteren Bevölkerungsschichten stärkte allerdings auch deren politische Stellung. So wurden breitere Bevölkerungsschichten in die Politik mit einbezogen, als dies sowohl von konservativen als auch liberalen Kreisen beabsichtigt wurde. Beide Richtungen verloren daher nach der Reichsgründung langsam an parlamentarischem Einfluß. 104 b) Die konservative Partei zwischen informeller Einflußnahme und demokratischer Legitimation Der größte Vorteil und zugleich das Problem der deutschen Konservativen war ihre enge Anlehnung an die Regierung und Verwaltung Preußen/Deutschlands. Dies hatte zwar den Vorteil, daß der preußische Adel trotz der oben skizzierten Entwicklungen auch ohne parlamentarische Legitimation bis in den Weltkrieg hinein mehr oder weniger im Besitz der politischen Macht war. Es genügten dafür traditionelle Bindungen, Grundbesitz, und die politi-
IOJ Die Versuche der preußischen Regierung, wenigstens über den Bildungsprozeß eine patriotische Identität und Respekt gegenüber der herrschenden Ordnung zu schaffen, hat Monilea Wölle in: Der preußische Volksschulabsolvent als Reichstagswähler (1980) dargestellt. Zur Motivation der Regierung vgl. auch Nipperdey, Th.: Wie modern war das Kaiserreich? (1986), S. 9 f. Nipperdey nennt die notwendige Integration der ganzen Bevölkerung in den industriellen Produktionsprozeß als Grundvoraussetzung für die Einführung der Schulpflicht.
104 Die Folgen dieses Prozesses zeigten sich nach der starken Zunahme der Wahlbeteiligung in Deutschland. Das allgemeine Wahlrecht, von den Liberalen nachdrücklich gefordert, nahm ihnen nun den politischen Einfluß.
58
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
sche (wenn nicht gleich höfische) Intrige. Es bedeutete aber auch, daß die Konservativen den Demokratisierungsprozeß, der durch die Einführung des allgemeinen Reichstagswahlrechts sehr gestärkt worden war, als etwas fremdartiges und feindliches empfanden. Sie waren fortwährend versucht, durch informelle Einflußnahme die Ergebnisse der Wahlen zu konterkarieren und diese Position wurde naturgemäß auch bald mit der nötigen ideologischen Ummantelung versehen. Die Deutschkonservativen entwickelten Ideen eines ständischen Wahlrechts, das die politischen Rechte an Bildung, verantwortliche Stellung und den Besitz des Einzelnen koppeln sollte. 105 Es war während der 1880er Jahre jedoch keineswegs eine ausgemachte Sache, ob die Konservativen nicht doch in der Lage waren, sich mit dem parlamentarischen System anzufreunden. Ausgangspunkt für solche Überlegungen war das des öfteren getrübte Verhältnis der Konservativen zu Reichskanzler Bismarck. Der schon erwähnte Hellrnut von Gerlach gibt in seinen Memoiren einen Einblick in seine damaligen Vorstellungen über den Aufbau einer konservativen Partei. Den jungen Gerlach hatte die Abhängigkeit der Partei vom Wohlwollen Bismarcks abgestoßen. Er wollte auf die Unterstützung durch das Volk bauen, um aus dieser Abhängigkeit herauszukommen und die Partei zu diesem Zweck "christlich, monarchisch, agrarisch, militärisch und sozial" ausrichten. lob Mit diesen Ideen stand Gerlach keineswegs allein. Seit 1881 hatte sich eine eigene Gruppe innerhalb der DkP gebildet, nach ihrem bevorzugten Presseorgan die "Kreuzzeitungspartei" genannt. Deren Chefredaktion lag ebenso wie die ideologische Leitung seit 1881 in den Händen Wilhelm Frhr. von Hammersteins. Hammerstein hatte Bismarck bereits zuvor wegen dessen Beziehung zu dem jüdischen Bankier Bleichröder angegriffen lO7 , und seine Position sorgte dafür, daß der Zündstoff zwischen beiden während der gesamten Amtszeit
10; Die zunehmende Radikalisierung auf diesem Gebiet zeigt das Kaiserbuch von Heinrich Class: Wenn ich der Kaiser wär (1912). Claß' Buch zeigt aber auch die Entfernung der Konservativen von ihrer traditionellen Treue zur Monarchie, da auch das von ihm entworfene ständische Wahlrecht durchaus eine antimonarchische Spitze enthält. 106
Ger/ach (wie Anm. I), S. 121.
107 [n den sogenannten "Ära - Artikeln", die im Juni und Juli 1875 in der Kreuzzeitung erschienen und die "Ära Bleichräder - Delbrück - Camphausen" angriffen. Hammerstein verfaßte diese Artikel zwar nicht selbst, stellte sich jedoch öffentlich hinter den Autor und führte eine publizistische Auseinandersetzung mit dem Reichskanzler, die bis ins Jahr 1876 dauerte (vg1. H. Leuß: Wilhelm Freiherr von Hammerstein (1905), S. 20 ff. Zu Hammerstein vgl. auch Abschnitt V. 3).
3. Die Deutschkonservativen
59
Bismarcks nicht ausging. Anlaß heftiger Auseinandersetzungen war etwa Hammersteins Idee, die evangelische Kirche von staatlichen Eingriffen unabhängiger zu machen und sie dann in einer ähnlichen Verbindung wie sie die katholische Kirche mit dem Zentrum hatte, politisch einzusetzen. Er versprach sich, hier ganz auf einer Linie mit Adolf Stöcker, von einer solchen Reform die stärkere Bindung der evangelischen Bevölkerung Norddeutschlands an eine konservative Partei. Anders als Stöcker gedachte Hammerstein diesem Prozeß aber auch durch eme massive Unterdrückung der Sozialdemokratie etwas nachzuhelfen. 108 Während der Amtszeit Bismarcks konnte sich innerhalb der Deutschkonservativen Partei weder die Christlichsoziale Gruppe noch die Kreuzzeitungspartei durchsetzen. Bismarcks Entlassung 1890 führte jedoch zusammen mit dem schlechten Ergebnis der Reichstagswahlen im gleichen Jahr zu einem Bruch im politischen System, der von beiden Gruppen lebhaft begrüßt wurde. Nach dem Ergebnis der Reichstagswahlen war die Bildung einer Parlamentsmehrheit durch die bisherigen Kartellparteien der Nationalliberalen und der Konservativen beider Richtungen nicht mehr möglich. Die unmittelbare Folge des Ergebnisses war, daß auf konservativer Seite sowohl die Christlichsozialen um Stöcker als auch die Kreuzzeitungspartei an Einfluß zunahmen. Hammerstein benutzte diese Gelegenheit, um seine Stellung in der Partei auszubauen, und im Herbst 1892 auf dem Deutschkonservativen Parteitag in den Berliner Tivoli - Sälen eine Reform des Parteiprogramms durchzusetzen. Berühmt wurde das sogenannte "Tivoli - Programm" durch die Aufnahme eines judenfeindlichen Satzes. Er tauchte bereits im ersten von insgesamt ftinfzehn Programmpunkten auf, der sich mit dem Verhältnis von Staat und Kirche, sowie allgemein mit der Rolle des Christentums in Deutschland befaßte. Hier wurde noch einmal Hammersteins und Stöckers Forderung nach größerer Unabhängigkeit der evangelischen Kirche von staatlichen Eingriffen wiederholt. Gegen Ende des Abschnitts hieß es dann: 109 "Die konfessionelle christliche Volksschule erachten wir für die Grundlage der Volkserziehung und für die wichtigste Bürgschaft gegen die zunehmende Verwilderung der Massen und die fortschreitende Auflösung aller gesellschaftlichen Bande.
108
Vgl. Ger/ach (wie Anm. I), S. 124.
109
Zitiert nach Treue: Deutsche Partei programme (1986), S. 88.
60
H. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen Wir bekämpfen den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben. Wir verlangen für das christliche Volk eine christliche Obrigkeit und christliche Lehrer für christliche Schüler."
Bemerkenswert an diesem Programm ist im Zusammenhang mit der vorliegenden Untersuchung seine Nähe zu den Forderungen der verschiedenen antisemitischen Gruppierungen. Auch die Programme der Deutschsozialen und Reformer begnügten sich mit wenigen Sätzen zur "Judenfrage" , die allerdings konkret die Aufhebung der Judenemanzipation forderten. So tauchte in dem Programm der DsRP von 1894 nur in den Punkten 5 (Schuldienst) und 19 (Aufhebung der Emanzipation) das Wort "jüdisch" auf. Der Versuch einer Integration der antisemitischen Bewegung in die Deutschkonservative Partei, wie er durch das Tivoli - Programm unternommen wurde, hatte bei den nächsten Reichstagswahlen 1893 einigen Erfolg. Eine ganze Reihe ausgewiesener Antisemiten trat zu den Konservativen über, teilweise erst kurz vor oder nach den Wahlen. Die Bildung einer eigenständigen antisemitischen Fraktion konnte so nicht verhindert werden, aber sie erreichte doch nur gerade die fUr den Fraktionsstatus erforderliche Mindeststärke. Der weitere Fortgang der Dinge zeigte jedoch die geringe Substanz der Stöckerschen und Hammersteinschen Fraktion innerhalb der Deutschkonservativen Partei, denn die "Gouvernementalen" um Hammersteins innerparteilichen Gegner Helldorf-Bedra, die auf dem Tivoli - Parteitag deutlich überstimmt worden waren, gewannen Einfluß zurück. Hammersteins Sturz 1895 beendete dann die Entwicklung der DkP zu einer modemen Organisation. Die Partei zog sich mehr und mehr auf den Status einer Honoratiorenpartei zurück und überließ den Aufbau einer Massenorganisation dem Bund der Landwirte. Durch die vielfältigen personellen Verflechtungen beider Organisationen konnten die Konservativen formell ihren Einfluß bewahren, jedoch war er zunehmend auf die ländlichen Gebiete östlich der EIbe begrenzt. In anderen ehemals konservativen Hochburgen (vor allem im Königreich Sachsen) mußten die lokalen konservativen Wahlvereine lebhaft taktieren, um zwischen dem dort selbständig tätigen BdL, den Nationalliberalen und den Antisemitenparteien einen Platz im bürgerlichen Lager zu bewahren. Der Gewinn eines Reichstagsmandats gelang dort nur noch selten.
4. Eine nationale Partei mit vielen regionalen Gesichtern: Die Nationalliberalen Am Anfang des hier behandelten Zeitraums stand fUr die Nationalliberalen eine Neuorientierung nach rechts. 1878 hatte Bismarck durch den Streit über das Sozialistengesetz die Spaltung der Partei herbeigefUhrt, worauf bei den
4. Die Nationalliberalen
61
Reichstagswahlen von 1881 die Fraktion auf 47 Mitglieder schrumpfte und als Folge überdachte die Partei ihre Rolle grundsätzlich neu. Ein Vorgang, für den das reichlich ambitionierte Wort von der "zweiten Reichsgründung" geprägt wurde 110 und der mit einer Aufwertung der bereits im Parteinamen enthaltenen Kategorie des "nationalen" endete, anders gesagt: mit einem Rechtsruck. Fortan stand, ähnlich wie bei Konservativen und Reichspartei, das Bekenntnis zum Reich und seinen Institutionen im Kern des Nationalliberalen Selbstverständnisses. "Erst national und dann liberal" zu handeln und dabei "nicht zu fragen, ob wir etwas nach links oder nach rechts stehen,,11I wurde zum Motto der Partei. Dieser Kurs der politischen Inhaltslosigkeit und reinen Regierungstreue schwächte die Nationalliberalen zusehends. Zwar konnte das nationale Axiom lange Zeit zur Integration der Partei dienen und ermöglichte eine Abgrenzung gegenüber Zentrum, Linksliberalen und Sozialdemokraten. Es gelang den Nationalliberalen jedoch nicht, mit dieser Einstellung reichsweit präsent zu bleiben, und die Partei zerfiel in regionale Untergruppen von zum Teil sehr unterschiedlichem politischem Hintergrund. So standen die Nationalliberalen in Ostelbien, wo sie 1884 ihre letzten Mandate an die Konservativen verloren, eher den Linksliberalen nahe. Im Rheinland repräsentierten sie nicht ohne Erfolg die Interessen der Schwerindustrie und konnten gegen das Zentrum und die Sozialdemokraten auch mit dem Etikett "national" operieren. Ähnlich gestaltete sich die Lage in der Provinz Hannover, wo die Nationalliberalen von der Frontstellung gegen die Welfenpartei profitierten, sich ebenfalls als Nationalpartei darstellten und dafür noch in den neunziger Jahren auch die Unterstützung des BdL genossen. Als ausgesprochen rechtsstehend bis antisemitisch orientiert galten schließlich die hessischen Nationalliberalen. 112 Die Funktion der Nationalliberalen als konservative Partei wurde in jüngster Zeit vor allem von Horst Nöcker in seiner vergleichenden Studie zu den
110 Vgl. Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1975, S. 100 f .. Th. Nipperdey hat in seiner Deutschen Geschichte (1992) allerdings Zweifel an der Tragfähigkeit des Begriffs angemeldet und von lediglich von einer "epochalen Wendung" gesprochen. (ebd. S. 382). 111 Elfi Bendikat: Wahlkämpfe in Europa, Wiesbaden 1988, S. 49 f.. Zitat aus der "Rheinisch - Westfälischen Zeitung" vom 15.7.1884. Im Kern bedeutete dies einen Rechtsruck der Partei. Zur Rolle der einzelnen regionalen Verbände der Partei vgl. auch Stegmann: Die Erben Bismarcks (1970), S. 26-29. 112
Ebd., S. 307 f.
62
IJ. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
Reichstagswahlen von 1912 und 1924 herausgestellt. 113 N äcker vergleicht zwar nur die Ergebnisse dieser Wahlen innerhalb Preußens, jedoch gab es dort durch die starken Differenzierungen wirtschaftlicher und konfessioneller Art eine ähnliche Zersplitterung des Parteiwesens wie im Reich selbst. So beschränkte sich die Rolle der Nationalliberalen auf die Gebiete, in denen sich weder die Reichspartei noch die Deutschkonservativen zur Wahl stellten. 114
5. Die linksliberalen Parteien: Politische Heimat des deutschen Judentums? Zu einer problematischen Identifikation: Innerhalb des Parteispektrums der wilhelminischen Zeit galten die linksliberalen Parteien als diejenigen, die am ehesten für die politische Vertretung des Judentums gehalten werden konnten. Diese Ansicht war unter den Zeitgenossen, auch unter den Antisemitenparteien, weit verbreitet, und resultierte vorwiegend aus einer sowohl simplen wie zutreffenden Beurteilung der Interessenlage des Judentums: Das deutsche Judentum mußte ein Interesse am Ausbau bürgerlicher Freiheiten haben und ein Eintreten für diese Ziele konnte nur von den liberalen Parteien erwartet werden. 115 Diese Überlegungen wurden auch von der Historiographie übernommen, die in den Linksliberalen den natürlichen politischen Heimatort des deutschen Judentums sieht. Sie haben jedoch den Fehler, daß sie sich nicht quantifizieren lassen. Ernest Hamburger spricht etwa davon, daß "die Masse der Juden .. sich 1867 in den beiden Wahlen zum konstituierenden und ordentlichen Norddeutschen Reichstag und in den vier ersten Wahlen zum Deutschen Reichstag von 1871 bis 1878 entweder
"' Vgl. Horst Nöcker: Der preußische Reichstagswähler in Kaiserreich und Republik ( 1987). 114
Ebd., S. 46 f.
"' Vgl. Ernest Hamburger: Jüdische Wähler und bürgerliche Parteien, in: Büsch (Hrsg.): Wählerbewegung in der deutschen Geschichte, (1978), S. 345 f. Hamburger nennt Gründe für die Orientierung jüdischer Wähler auf linksliberale Parteien, die aber naturgemäß spekulativen Charakter haben. Dennoch werden solche Zahlen und Tendenzen des öfteren genannt, so etwa auch von.Fritz Stern in seinem Buch "Gold und Eisen" über Bismarck und seinen jüdischen Bankier Bleichröder (S. 654). Stern quantifiziert allerdings als Beleg an anderer Stelle das Wahlverhalten jüdischer Wahlmänner einige Jahrzehnte vorher: Zwischen 1858 und 1866, vor der Spaltung der Liberalen, wählten 92 % von ihnen liberal (ebd., S. 57).
5. Die linksliberalen Parteien
63
fur die alte Fortschrittspartei oder für die Nationalliberale Partei" entschieden. 116 Leider untermauert er die Behauptung nicht weiter, steht aber mit dieser Identifikation von Linksliberalismus und Judentum in einer problematischen Tradition, vor allem hinsichtlich der politische Folgen. Da es den Parteien der politischen Rechten gelang, den Liberalismus, ursprünglich ja der eigentliche Träger des Nationalgedankens, als reichsfeindlich und undeutsch verdächtig zu machen, mußten den Juden fast zwangsläufig identische Attribute zukommen. In welchem Umfang dieser Wechsel politischer Ideen stattfand, illustriert eine Äußerung des liberalen Vordenkers earl von Rotteck aus dem Jahr 1836. Rotteck wendet sich hier gegen die Möglichkeit der "Anhäufung übergroßer Industrie- und Geld - Kapitalien in einzelnen Händen", da dadurch die "häßliche Geldaristokratie gestärkt und die Masse der Nation zur Abhängigkeit ihres Lebensunterhalts, mithin auch ihrer Person von der Gunst oder der Willkür oder der egoistischen Berechnung der großen Besitzer verdammt" sei. In diesen Sätzen wird die große Distanz deutlich, mit der die Liberalen der aufkommenden Industriegesellschaft gegenüberstanden, da sie auch eine Bedrohung ihres Staatsideals bedeutete: Die ursprünglich angestrebte Gemeinschaft "gebildeter und ökonomisch unabhängiger Männer" hatte mit den Verhältnissen der Industriegesellschaft nicht viel zu tun. So betonten die Liberalen spätestens nach dem Scheitern der Revolution von 1848 zunehmend die Notwendigkeit einer Verbindung von persönlicher, auch politischer Freiheit und wirtschaftlichem Erfolg. Da sie bald die Abhängigkeit dieses Erfolgs von der Existenz einer "häßlichen Geldaristokratie" und der "Anhäufung übergroßer Industrie- und Geld - Kapitalien in einzelnen Händen" zu erkennen glaubten, wurde die Existenzberechtigung von beidem kaum noch in Frage gestellt. Statt dessen tauchten beide Formulierungen plötzlich in konservativen und antisemitischen Parteiprogrammen auf. I 17 Dennoch hielt sich in der Praxis eine gewisse Affinität linksliberaler Wähler zu den rechtsbürgerlichen Parteien. Das kann aus dem Stichwahlverhalten der Linksliberalen geschlossen werden. I I B Erst die Reichstagswahlen von 1912 sa-
116
Ebd., S. 345.
117 OUo Stillich: Die politischen Parteien in Deutschland, Bd. 2 (1908), S.12. Zitat nach Dieter Langewiesche, FAZ 16.12.1994 (Artikel: Der kommunale Kraftquell ist versiegt). Zur generellen Entwicklung des Liberalismus in Deutschland vgl. auch Langewiesches Arbeit: Liberalismus in Deutschland (1988). 118
Vgl. Abschnitt IV. 3. zum Stichwahlverhalten einzelner Wählergruppen.
64
H. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
hen eine halbwegs geschlossene Koalition zwischen Linksliberalen und Sozialdemokraten.
6. Die Sozialdemokraten: Antipoden des bürgerlichen Lagers und damit auch der Antisemitenparteien "Die Aufgabe, das jüdische Wesen aufzuheben, (ist) in Wahrheit die Aufgabe ... , das Judentum der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmenschlichkeit der heutigen Lebenspraxis, die im Geldsystem ihre Spitze erhält, aufzuheben", so Karl Marx in seiner Schrift "Zur Judenfrage" .119 Die Gleichsetzung des "Judentums" mit der "Unmenschlichkeit" findet sich also keineswegs nur als Eigenart völkischen Denkens. 120 Marx polemisiert zwar auf philosophischbegrifflicher Ebene, aber natürlich enthält seine Argumentation auch einen sehr materialen Kern. Wo das Judentum mit der Unmenschlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft gleichgesetzt wird, ist eben nicht nur diese Gesellschaft herabgesetzt. Das zeigen Textstellen, an denen Marx von seinem philosophisch hohen Roß heruntersteigt und das Wort Jude in aller Offenheit zur Beschimpfung verwendet. So etwa bei seiner Bezeichnung Ferdinand Lassalles als "jüdischem Nigger"121 Dies wird hier so ausführlich zitiert, weil die reale Existenz antisemitischer Vorurteile der deutschen Sozialdemokratie insgesamt nicht fremd war. Obwohl jüdische Mitglieder in der Partei eine führende Rolle spielten (z.B. eben Lassalle) und die marxistische Ideologie für eine judenfeindliche Position eigentlich nichts hergab, lassen sich dennoch fur den ganzen Zeitraum des Zweiten Kaiserreichs immer wieder antisemitische Äußerungen in den Reden sozialdemokratischer Politiker und den Veröffentlichungen der sozialdemokratischen Presse feststellen. Besonders der "jüdische Kapitalist" hatte es den Karikaturisten angetan. Wie Rosemarie Leusehen - Seppel gezeigt hat, trugen seIne Zeichnungen oft die Züge des "Juden", wie er dem typisch antisemitischen Bild entsprach: Dickbäuchig, mit Hakennase, Wulstlippen und möglichst gemeinem, allenfalls höhnischem Grinsen. Unabhängig von solchen Spuren antisemitischer Auffassungen bestand jedoch eine wirkliche politische Gegnerschaft zwischen den Sozialdemokraten
119 Marx: Zur Judenfrage, zitiert nach Arnold Ruge und Karl Marx: Deutsch - Französische Jahrbücher 1844/1 881, S. 298.
120 Vgl. Rosemarie Leuschen-Seppel: Sozialdemokratie und Antisemitismus (1978), S.19ff.
121 MEW 30, S. 257-259, zitiert nach Leuschen-Seppel (wie Anm. 120), S. 19.
6. Die Sozialdemokraten
65
und den Antisemiten aller Richtungen. Schon die Bemühungen zur Gründung der Christlichsozialen Partei 1878 waren ja ausdrücklich gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Auch wenn die Christlichsozialen bald den Schwerpunkt ihrer Agitation von der Sozialreform zum Antisemitismus verlagerten, blieb zwischen beiden Parteien ein Konkurrenzverhältnis bestehen, das sich aus sozialdemokratischer Sicht auch auf die neugegründeten antisemitischen Bewegungen in Hessen und Sachsen übertrug. Die Sozialdemokraten begriffen den Parteiantisemitismus als Ausdruck niedergehender bürgerlicher Klassenstrukturen und betrachteten die antisemitischen Wähler nicht zuletzt deswegen als sozialdemokratisches Potential, das sich nur noch recht entwickeln müsse. August Bebel formulierte diese Haltung in einer grundsätzlichen Rede zum Verhältnis zwischen Antisemitismus und Sozialdemokratie auf dem Sozialdemokratischen Parteitag in Köln 1893: "Wir kommen bei diesen Schichten erst an die Reihe, wenn der Antisemitismus sich bei ihnen abgewirtschaftet hat, wenn sie durch die Erfahrung, durch das Verhalten ihrer antisemitischen Vertreter im Reichstage und anderwärts erkennen, daß sie getäuscht wurden." 122
Diese Sichtweise konnte in den l880er Jahren noch dadurch verstärkt werden, daß einige der prominentesten Antisemiten wie Böckel und Ahlwardt eine ausgesprochen revolutionäre Demagogie an den Tag legten. Beide sprachen ausdrücklich "gegen Junker und Juden" und agitierten somit auch gegen das preußische Establishment, von dem etwa der Antisemitismus der Christlichsozialen des Hofpredigers Stöcker abhängig war. Dort wurde allerdings schon Stöckers Redestil als so revolutionär empfunden, daß Bismarck ernsthaft darüber nachdachte, die CsP ebenso wie die Sozialdemokratie durch das Sozialistengesetz zu erfassen. 123 Mit der Betonung des sozialen Hintergrundes der antisemitischen Bewegung gingen die Sozialdemokraten in gewissem Maß auf das bekannte antisemitische Schlagwort: "Die soziale Frage ist die Judenfrage" ein. Eine Analyse der sozialen Herkunft antisemitischer Wählergruppen deckt jedoch nur bedingt die sozialdemokratische Ansicht, diese Gruppen seien auf der Verliererseite der Industrialisierung zu finden gewesen. Besonders augenf,Hlig wird dies bei den Wahlen im Königreich Sachsen, die 1909 unter dem neuen Pluralwahlrecht stattfanden. Dieses Wahlrecht gab jedem Wähler zwischen einer und vier Stimmen, die abhängig von Einkommen, Besitz, Alter und Bildung verteilt wurden. Die Einkommensgrenzen waren gegenüber dem alten Dreiklassen-
122
August Bebel: Antisemitismus und Sozialdemokratie (1906), S. 235.
123
Frank (wie Anm. 96), S. 88 und 91 f.
5 Scheil
66
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
wahlrecht wesentlich abgesenkt worden, so daß nun bereits ein Einkommen von zweitausendfiinfuundert Mark ausreichte, die Höchstzahl von vier Stimmen zu erhalten (alte Regelung Achttausenddreihundert Mark). Diese Summe war durchaus auch von Angestellten zu erreichen. Es zeigte sich, daß der antisemitische Stimmenanteil nirgendwo größer war als unter den Wählern mit der Stimmenhöchstzahl. Es stimmten insgesamt absolut 3,19 % der Wähler für die Reformpartei und Mittelstandsvereinigung. Dabei stiegen die Anteile der Antisemiten mit dem Stimmengewicht. Bei den Wählern mit 1 Stimme betrug ihr Anteil 1,44 %, bei den Wählern mit zwei Stimmen waren es 3,01 %, unter den Wählern mit drei Stimmen 4,89 % und in der höchsten Klasse 6,90 %. Da außerdem der Großteil dieser Stimmen in städtischen und großstädtischen Wahlkreisen gewonnen wurde, stellte diese Wahl die gängigen Urteile über die antisemitischen Wähler einigermaßen in Frage. 124 Aus dem Konkurrenzverhältnis der Sozialdemokraten zu den Antisemiten folgte dann auch eine rege Bekämpfung der Antisemiten, die niemals so stark war wie während der Jahre des Sozialistengesetzes. 125 Die ersten Wahlen nach dem Sozialistengesetz brachten eine wesentliche Verschiebung in der politischen Landschaft des Reichs. Im zukünftigen "roten Königreich" Sachsen etwa entstand eine dauerhafte Zusammenarbeit der "reichstreuen", zu denen neben den Deutschkonservativen und den Antisemiten auch die Nationalliberalen gehörten. Die Antisemiten waren Teil dieses Kartells und mußten von den Sozialdemokraten künftig auch so bekämpft werden. In der Regel stellten im ersten Wahlgang der jeweiligen Reichstagswahl mehrere bürgerliche Parteien einen Kandidaten auf, worauf in der Stichwahl der erfolgreichste Kandidat die Stimmen des bürgerlichen Lagers auf sich vereinigte. 1893 erreichten die Antisemiten mit sechs Reichstagsmandaten dabei einen großen Erfolg, da sie in der Hauptwahl die Deutschkonservativen in vielen Kreisen überflügeln konnten. Ähnliches gelang jedoch nur noch einmal 1907, unter den Verhältnissen des Bülow - Blocks. Ansonsten erreichten die Sozialdemokraten immer öfter bereits in der Hauptwahl die absolute Mehrheit, so daß die bürgerliche Koalition der Stichwahl erst gar nicht zustande kommen konnte Es dauerte eine ganze Weile, bis die Sozialdemokraten aus ihren Erfahrungen mit der antisemitischen Bewegung auch ideologische Schlußfolgerungen zogen. Erst nach der Jahrhundertwende veränderte sich die Stellung der Partei zum parteipolitisch organisierten Antisemitismus. Er ließ sich nun nicht mehr
124
Vgl. Abschnitt IV.
12j
Massing (wie Anm. 2), S. 184 f. und Leuschen-Seppel (wie Anm. 120), S. 114.
7. Das Zentrum
67
als Durchgangsideologie absteigender Kleinbürgerschichten auf dem Weg zum Proletariat begreifen, sondern galt inzwischen wegen seiner reichsweiten Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien und den Interessenverbänden als Spielart konservativer Politik und wurde als solche bekämpft. 126
7. Das Zentrum Zum Verhältnis des Zentrums gegenüber den antisemitischen Parteien muß im Rahmen einer wahlgeschichtlichen Untersuchung zunächst bemerkt werden, daß es bei den Reichstagswahlen wenig Berührungspunkte zwischen beiden gab. Die Antisemiten beschränkten ihre Kandidaturen fast ausschließlich auf stark protestantische Gebiete, aus denen sich wiederum das Zentrum seinerseits fast gänzlich heraushielt. Soweit die Partei jedoch Einfluß nehmen konnte, lag die Unterstützung eines Antisemiten durchaus im Bereich des Möglichen, was ein Indiz mehr für die seit Ende des Kulturkampfs einsetzende Wandlung der Zentrumspartei von einer mehr an Kirchenfragen interessierten zu einer konservativen, staatstragenden Kraft ist. Wenn die Zentrumspartei zuvor von den rechten Parteien lange Zeit in einer Reihe mit den Sozialdemokraten, Linksliberalen, sowie den Regional- und Minderheitenparteien zu den "reichsfeindlichen" Parteien gezählt wurde, so bedarf dies dennoch für den größten Teil dieses Zeitraums kaum einer Erläuterung. Schon bei der Gründung der Partei im Spätjahr 1870 hatte ein verbreitetes Unbehagen gegenüber der preußischen Politik, die auch während der 1860er Jahre bereits durchaus antikatholisch ausgerichtet war und die Entwicklung in Süddeutschland generell mißtrauisch beobachtete, eine erhebliche Rolle gespielt. 127 Bismarck gab mit seinem Kommentar zu dem aus seiner Sicht negativen Ausgang der Zollparlamentswahlen am 12. April 1868 den Ton vor: "Wir können, wie die Dinge sich eben in Süddeutschland gestaltet haben, denjenigen nicht Unrecht geben, welche in der katholischen Kirche, wie sie dort ist, eine Gefahr für Preußen und Norddeutschland erblicken und gegen jede Begünstigung und Förderung der Kirche, gegen alles was ihren Einfluß vermehren könnte, dringend warnen. "128
126 Leuschen-Seppel (wie Anm. 120), S. 203 f. und S. 226. Sie bestätigt dabei weitgehend Puhles Analyse von der integrierenden Wirkung des Antisemitismus innerhalb des rechtsbürgerlichen Lagers (ebd., S. 191).
5'
127
Vgl. Uwe Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage 1870/71-1933 (1994), S. 31.
128
Zitiert nach Lothar Gal/: Bismarck (1980), S. 471.
68
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
Da Bismarck offensichtlich den politischen Katholizismus als verlängerten Arm der katholischen Kirche begriff, übertlUg er nach 1870 solche Ansichten auf die soeben gegründete Zentrumspartei. Das wurde durch Entwicklungen gefördert, die nach 1870 eintraten: Zum einen wurde das Zentrum zunächst aus politischen Gründen der Anlaufpunkt für alle, die zu den Verlierern der Bismarckschen Reichseinigungspolitik seit 1866 gehörten. Das galt für die hannoveranischen Welfen, für die Polen in Preußen oder die Elsaß - Lothringer, aber auch für die zahlreichen partikularistischen Elemente in Süddeutschland. Letztere konnten sich nicht nur durch die neue Dominanz des protestantischen Preußen konfessionell an die Wand gedrückt fühlen, sondem wurden auch durch die liberale Wirtschaftspolitik dieses Staates, der sie sich nun kaum noch entziehen konnten, in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz gefährdet. Nach der Reichsgründung wurde das Zentrum daher, gestützt durch das verbindende konfessionelle Element, der ideale Vertreter solcher, sowohl religiös als auch wirtschaftlich motivierter Interessen. '29 Die heterogene sozialen Zusammensetzung der ZentlUmspartei blieb für die Dauer des Kaiserreichs eine Konstante, die eine endgültige Einordnung der Partei außerordentlich erschwert. 130 Zweifellos fand zwischen 1870 und 1914 eine zunehmende Integration des Zentrums in die politische Landschaft des Kaiserreichs statt. Nach der Aufgabe des Kulturkampfs, dem ZusammenblUch von Bismarcks Kartellpolitik und dem Ende seiner Kanzlerschaft 1890, wurde das Zentrum zur Bildung von Reichstagsmehrheiten benötigt. Die RegielUng Caprivi dachte hier wesentlich pragmatischer als zuvor Bismarck und kam der Partei durchaus entgegen. Zudem war auch das Zentrum, bei aller sozialen Heterogenität, durchaus eine konservative Partei. Hier übten neben den christlichen Gewerkschaften doch vor allem die Magnaten aus Schlesien und Westfalen den bedeutenden Einfluß aus, was zusammen mit den katholischen Großindustriellen wie Thyssen und Klöckner nicht gerade eine revolutionäre oder auch nur preußenkritische Mischung ergab. '3' Da außerdem noch der katholische Klerus über die mitgliederstarken katholischen Arbeitervereine seinen Einfluß auf den katholischen Teil der Arbeiter-
'2'>
Vgl. Johannes WiIll1ls: Nationalismus ohne Nation (1985), S. 431.
"" Mazura (wie Anill. 127) zählt (S. 37 f.) insgesamt nicht weniger als sechs Interpretationsversuche auf, die Politik und Stellung der Partei abschließend zu beurteilen.
'" Dazu Stegmann (wie Anill. 4), S. 30.
7. Das Zentrum
69
schaft geltend machen konnte,132 stand einer regierungstreuen Rolle des deutschen politischen Katholizismus nicht mehr allzuviel im Wege. So leitete denn auch die Zustimmung des Zentrums zum 1. Flottengesetz 1898 so etwas wie einen "Kurs der Staats loyalität" 133 flir die Partei ein. Ungeachtet des eben Gesagten gab es jedoch auch zahlreiche Widerstände gegen eine vollständige Integration des politischen Katholizismus in das politische Leben des Kaiserreichs. Die Ursachen hierflir lagen sowohl im politisch/institutionellen Bereich, als auch in ideologischen Differenzen gegenüber dem politischen Denken der preußisch/deutschen Führungsschicht. Die institutionelle Seite des Problems bildeten der Reichstag und seine Rolle innerhalb der politischen Institutionen Preußen/Deutschlands. Die große Zentrumsfraktion kam durch Anwendung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zustande. Dieser bedeutenden Legitimation standen jedoch nur die bekannt geringen Einflußmöglichkeiten des Reichstags gegenüber. Die große Zustimmung bei den Reichstagswahlen war nicht direkt in politischen Einfluß urnzumünzen, eine Erfahrung, die auch die Sozialdemokraten machen mußten. 134 So wenig dem politischen Katholizismus also institutionelle Wege offenstanden, in Deutschland Politik zu machen, so gering war nun auch sein Anteil der Entwicklung jenes deutschen Nationalgeflihls, zu dessen Bestandteilen unter anderem auch der Antisemitismus gehörte. In jüngster Zeit hat vor allem Uwe Mazura das Verhältnis des Zentrums zur Judenfrage untersucht und dabei eine geringe Affinität der Partei zu dem "modernen Antisemitismus" festgestellt, wie er sich in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts herausbildete. Soweit überhaupt programmatische Äußerungen der Zentrumsflihrung zur Judenfrage erfolgten, wurde von katholischer Seite immer die Freiheit des religiösen Bekenntnisses betont. Jene Denkrichtung, die den Volkscharakter des
m
Sie waren bis 1913 auf 625735 Mitglieder angewachsen (Stegmann, wie Anm. 4,
S. 31). IJ]
Ebd., S. 29.
134 Die Einteilung der Reichstagswahlkreise begünstigte allerdings das Zentrum. Im Gegensatz zur Sozialdemokratie verfügte die Partei immer über mehr Reichstagsmandate, als es ihrem Stimmenanteil entsprochen hätte (vgl. Alfred Milatz: Die linksliberalen Parteien in den Reichstagswahlen 1871-1912, in: Büsch (Hrsg.): Wählerbewegung, 1978, S. 329). Letztlich wurde keine Partei durch die Einteilung der Wahlkreise so benachteiligt wie die SPD, was durch die Außenseiterposition der Partei dann in besonderem Maß zum Tragen kam.
70
11. Zwischen Reichsfeinden und Kaisertreuen
jüdischen Bekenntnisses betonte, gewann im politischen Katholizismus keine Bedeutung. Unabhängig hiervon gab es durchaus Äußerungen katholischerseits, die antisemitische Vorurteile erkennen lassen. Insbesondere der vermutete Anteil der Juden an den Auswüchsen der Industrialisierung bot durchaus Gelegenheit, vor allem über das moderne, liberale Judentum herzuziehen. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob hinter den Reden von Zentrumspolitikern zu diesem Thema mehr steckte, als ein allgemeines Unbehagen gegenüber dem Liberalismus insgesamt. Das Zentrum zählte die Liberalen in allen Schattierungen zu seinen politischen Gegnern und hier dürften ebenfalls Motive zu suchen sein, die zur Unterstützung des Zentrums für so manchen ausgewiesen antisemitischen Kandidaten führten. Das prominenteste Beispiel stellte Adolf Stöcker dar, der in seinem Wahlkreis Siegen/Wittgenstein mit Unterstützung des Zentrums gewählt worden war. 135 Um die Haltung des Zentrums zur antisemitischen Bewegung zu beurteilen, soll abschließend auf folgende Punkte hingewiesen werden: (1) Die Zentrumspartei hatte im hier fraglichen Zeitraum noch immer ausgesprochen konfessionellen Charakter, was bei den Reichstagswahlen durch ihre Beschränkung auf den Stimmenanteil der katholischen Bevölkerung recht deutlich zum Ausdruck kam. Gleichzeitig war ihre soziale Zusammensetzung äußerst heterogen, so daß bereits von Tendenzen zum Entstehen einer Volkspartei gesprochen werden kann. 136 (2) Soweit die Partei Stellung zur Judenfrage nahm, griff das Zentrum auf traditionelle katholische Positionen zurück und betonte den religiösen Gegensatz. Es läßt sich für die Zeit bis 1933 kein Bruch in dieser Position erkennen, die sich stark von allen Versuchen absetzte, im Judentum ein Volk, eine Rasse oder eine Verkörperung des Manchesterkapitalismus zu erkennen. (3) Als Basis für die Entwicklung politischer Aussagen zur Judenfrage, d.h. von Aussagen, die den religiösen Kontext verließen, verwendete das Zentrum eine streng verfassungs - und gesetzestreue Position. Das "Gesetz betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und
m Stöcker verlor diese Unterstützung bei den Wahlen von 1893, die er dann auch verlor. Bei späteren Wahlen konnte er wieder auf das Zentrum rechnen, 1912 sogar flächendeckend für die ganze CsP. 1'6 Vgl. LiIl: Der deutsche Katholizismus in der neueren Forschung, S. 42, zitiert nach Mazura (wie Anm. 127), S. 41.
7. Das Zentrum
71
staatsbürgerlicher Beziehung" von 1869, hatte "alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte" aufgehoben. Auf diese Tatsache bezogen sich die Redner der Zentrumspartei in allen Debatten, etwa im Reichstag, soweit sie Fragen jüdischer Existenz berührten. Jeder Versuch, durch Verbot etwa des Schächtens die Ausübung des jüdischen Glaubens zu behindern, wurde durch sie konsequent zurückgewiesen.
III. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen zwischen 1881 und 1912: Die Wahlkämpfe und ihr politischer Hintergrund 1. Die antisemitische "Berliner Bewegung" bei
den Reichstagswahlen 1881 und 1884
Im Zuge der Reichstagswahlen des Jahres 1881 kam es zum ersten Auftreten des politischen Antisemitismus bei einem solchen Ereignis. Die Wahl von 1878 hatte noch nichts Vergleichbares mit sich gebracht, auch wenn bereits der Begriff des nicht - religiösen "Antisemitismus" im Umlauf war, den wahrscheinlich der bereits erwähnte Journalist Wilhelm Marr aufgebracht hatte. J37 Im Lauf des Jahres 1879 hatte der Begriff politische Bedeutung erlangt. Unter dem Eindruck der Niederlage seiner Christlichsozialen Arbeiterpartei bei den Reichstagswahlen von 1878 hielt Adolf Stöcker im September 1879 seine ersten judenfeindlichen Reden, mit denen er die "Berliner Bewegung" begründete. Wie bereits gesagt, reagierte Stöcker damit auf die geänderte soziale Basis seiner Partei, die ihr erklärtes Ziel nicht erreicht hatte, die Berliner Arbeiterschaft mit dem preußischen Staat zu versöhnen. Soweit die Partei überhaupt Wähler an sich binden konnte, wünschten ihre Befürworter auf die Probleme des Wirtschaftsliberalismus ohnehin keine sozialistische Antwort. 138 Dagegen schien es leicht zu sein, die Existenz sozialer Spannungen irgendwie mit dem Judentum in Verbindung zu bringen. Stöcker entsprach nur einem weitverbreiteten Vorurteil, wenn er das moderne Judentum, das hieß für ihn ganz konkret die linksliberalen Parteien und die Presse der Hauptstadt, in sei-
IH Marr hatte 1879 eine Abhandlung unter dem Titel: Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, veröffentlicht. Die Schrift erlebte zahlreiche Auflagen und gab mit ihrer Betonung des "nicht confessioneIlen" Unterschieds zwischen Deutschen und Juden eine neue Tonart judenfeindlicher Äußerungen vor, die im Berliner Antisemitismusstreit gipfelte. Vgl. dazu die von Walter Boehlich herausgegebene Quellensalllmlung: Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965. Zur Wahl von 1881 siehe Belldikat (wie Anm. 147), S. 35.
m Dies sei mit aller Vorsicht gesagt, denn Aussagen zu den Motiven der 1500 Christlichsozialen Wähler des Jahres 1878 sind notwendig spekulativ.
I. Die Berliner Bewegung
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nen Reden anklagte. Entsprechend groß war der Erfolg seiner Versammlungen, die zwischen tausend und dreitausend Zuhörer anzogen. IW Die Geschichte der Berliner Bewegung wurde des öfteren beschrieben und muß an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Die drei Jahre zwischen 1878 und 1881 brachten vor allem in der Hauptstadt selbst eine ungeheure öffentliche Aufregung über die Judenfrage, die 1880/81 in der Organisation der Antisemitenpetition gipfelte. An der Entstehung dieser von etwa 225000 Menschen unterschriebenen Forderung nach Aufhebung der Judenemanzipation waren nun neben Stöcker auch Männer beteiligt, die dessen christlichsozialer Partei fern standen. 140 Es zeigte sich bereits jetzt, daß der Antisemitismusbegriff zwischen religiösen, sozialen und rassistischen Motiven fließend wechselte und aus diesem Grund einen sehr heterogenen Personenkreis anzog. Stöcker war nicht in der Lage, Leute wie Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg und Ernst Henrici in seiner Partei zu integrieren, und er vernlied es in der Regel, von "jüdischer Rasse" zu sprechen, wie es damals immer stärker in Gebrauch kam. Im Vorfeld der Wahlen 1881 entstand daher eine Reihe antisemitischer Organisationen außerhalb der christlichsozialen Partei. Nachdem Wilhelm Marr bereits 1879 eine "Antisemitenliga" gegründet hatte, zog Henrici Anfang 1881 mit der "Sozialen Reichspartei" nach. Deren Ziele deckten sich in weiten Teilen mit denen der Christlichsozialen. Zur Judenfrage forderte die Partei jedoch mehr: das Verbot der weiteren Einwanderung von Juden, ihren Ausschluß aus öffentlichen Ämtern, den gesetzgebenden Körperschaften und dem Heer, sowie die Wiedereinführung der konfessionellen Statistik. Henrici selbst verstand sich durchaus als liberal, das heißt antikonservativ, was sich im Parteipro-
119
Frank (wie Anm. 96), S. 126.
140 Wawrzinek: Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1927) führt (S. 38) auf, aus welchen Regionen die Unterzeichner im einzelnen stammten: Schlesien 45000, Brandenburg 18000, Berlin 12000, Westfalen 27000, Rheinprovinz 20000, Württemberg / Hohenzollern und Baden zusammen 7000, Bayern 9000. Das ergibt zwar keine 225000, jedoch fehlen in dieser Aufstellung Hessen, Thüringen und Sachsen, die späteren antisemitischen Hochburgen. Die Liste deutet darauf hin, daß die Zustimmung zur Antisemitenpetition räumlich breiter gestreut war, als dies später die Wahlerfolge der Antisemiten werden sollten. Sie ist daher ein Indiz dafür, daß die vorhandenen antisemitischen Stimmungen sich nicht unbedingt in Wahlerfolge ummünzen ließen. So blieb Schlesien, das hier die meisten Unterschriften beisteuerte und in den Reden antisemitischer Politiker oft als Hochburg genannt wurde, den antisemitischen Parteien verschlossen.
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I/J. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen
granull etwa in der Forderung nach einer einheitlichen Arbeitszeit von zehn Stunden täglich und weiterer Zentralisierung des Reichs äußerte. '4' Diese Punkte brachten Henrici in einen gewissen Gegensatz zu den konservativen Antisemiten um Max Liebermann v. Sonnenberg, der im März 1881 den "Deutschen Volksverein" ins Leben rief. '42 Liebermann von Sonnenberg, der auch später für einen konservativ-christlichen Antisemitismus eintreten sollte, erfreute sich mit dieser Gründung sowohl der Unterstützung des Conservativen Centralcomitees (CC.C), d.h. der Leitung der Berliner Bewegung, als auch des Wohlwollens der konservativen Partei. Gleichzeitig gab es seit 1879 Versuche, auch in Sachsen eine judenfeindliche Partei zu gründen, die "Deutsche Reformpartei". Sie machte bis 1881 ausreichend Fortschritte, um Adolf Stöcker, allerdings unter konservativer Fahne, als Kandidaten in Dresden aufzustellen. 143 Die Wahlen von 1881 zeigten mindestens ein typisches Element der antisemitischen Bewegung des Kaiserreichs. Es kam nie zu einer wirklichen Unabhängigkeit der Antisemiten von den rechts bürgerlichen Parteien, vor allem den Konservativen. Die Gründungswelle vor den Wahlen endete mit dem engen Anschluß der Antisemiten fast aller Richtungen an die Konservativen. Selbst Ernst Henrici, der sich am heftigsten von ihnen distanziert hatte, ließ sich als konservativer Kandidat registrieren. Die 843 Stimmen, die er bei der Wahl im Berliner Wahlkreis 3 erhielt, stellten dann allerdings den geringsten Erfolg der Berliner Bewegung dar. Das C.CC hatte in den sechs Berliner Wahlkreisen folgende Kandidaten aufgestellt, alle als Konservativ bezeichnet: Kreis: 1: Liebermann v. Sonnenberg, 2: AdolfStöcker, 3: Julius Schultze, 4: Adolph Wagner, 5: Joseph Cremer,.6: Obell11eister Mayer Keiner der Kandidaten erreichte die Stichwahl, aber sie gewannen, verglichen mit späteren Ergebnissen in Berlin, durchaus hohe Stimmenanteile. Offensichtlich war der Berliner Bewegung bei dieser Wahl auch ein Einbruch in sozialdemokratische Wählerschichten gelungen, den ursprünglichen Intentionen Stöckers entsprechend. Diese Wähler orientierten sich dann bei den beiden Stichwahlen in den Kreisen 4 und 6 wieder zur Sozialdemokratie hin: Beide Mandate wurden von der Fortschrittspartei nur unter Stimmenverlusten gewonnen, während sich die Wähler der CCC - Kandidaten offenbar zum großen
141
Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 36 f.
142 Allerdings waren die Gegensätze kein Hindernis, auch Henrici in Berlin offiziell als konservativen Kandidaten aufzustellen.
143
Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 49.
I. Die Berliner Bewegung
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Teil für die SPD entschieden oder zu Hause blieben. So sank bei beiden Abstimmungen die Wahlbeteiligung deutlich gegenüber der Hauptwahl. Weitere und eindeutigere Erfolge erzielte Adolf Stöcker, der gleich zwei Wahlkreise gewinnen konnte. Sowohl im Wahlkreis Amsberg 1, in Siegen Wittgenstein, als auch in Minden - Lübeck (Minden 1) wurde er gewählt und nahm dann das Mandat in Siegen an. Diese Entscheidung wies weiter in die Zukunft, als es ihm zu diesem Zeitpunkt bewußt sein konnte. Da es in Berlin auch zukünftig keine Wahlerfolge der Christlichsozialen und Konservativen geben sollte, wurde nach dem Ende der Berliner Bewegung und seinem später erzwungenen Austritt aus der Deutschkonservativen Partei Siegen Stöckers letzte Bastion. Es gelang ihm, das Mandat mit einer Unterbrechung (1893) von 1881-1907 zu behalten. Verglichen mit den erdrutschartigen Umwälzungen des Parteiensystems stellten die Ergebnisse der Berliner Bewegung eine Randerscheinung dar. Die zentralen Themen des Wahlgangs waren wirtschaftspolitischer Natur gewesen, was nach den "Attentatswahlen" von 1878 eine gewisse Normalisierung bedeutet hatte. Zumindest taugte das Sozialistengesetz bei dieser Wahl nicht mehr zu einer Polarisierung der Wähler. In der Folge konzentrierte sich der Wahlkampf auf die Einführung der Schutzzölle, das zweite wesentliche Ergebnis der Legislaturperiode von 1878 bis 1881. '44 Der Streit über die Schutzzollpolitik der Regierung hatte bereits vor der Wahl zur Abspaltung der Liberalen Vereinigung von den Nationalliberalen geführt und die Verwundbarkeit der Partei in dieser Frage offengelegt. Das Wahlergebnis traf denn auch die Nationalliberalen besonders hart. Sie verloren von ihren 100 Mandaten aus dem Jahr 1878 mit 54 Sitzen mehr als die Hälfte. Beide konservative Parteien büßten ebenfalls Mandate ein: Die Freikonservativen behielten nur 33 von 54 Mandaten und die Deutschkonservativen 57 von 63. Damit verfügten die Linksliberalen zusammen mit den Minderheitenparteien und der Sozialdemokratie über mehr Sitze als Bismarcks Kartell aus Nationalliberalen und Konservativen (156 zu 136). Folglich kam der Zentrumspartei, die mit einem Mandatsgewinn von 93 auf 100 Abgeordnete ebenfalls zu den Siegern dieser Wahl gehörte, eine Schlüsselrolle im neuen Reichstag zu. Dieses Wahlergebnis hat mit dazu beigetragen, daß Bismarck bereits am 17. November 1881, also nicht einmal einen Monat nach der Wahl, in einer "Kai-
144
Vgl. Peter Steinbach: Die Zähmung des politischen Massenmarktes (1990),
S. 73 I f.
11 J. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen
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serlichen Botschaft" eine soziale Refonnpolitik konservativen Zuschnitts verkünden ließ. Dort wurden Maßnahmen zur "Heilung sozialer Schäden" angekündigt, um "dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften eines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes" zu schaffen. 145 Damit hatte Bismarck einige Forderungen der Berliner Bewegung, vor allem Adolf Stöckers aufgegriffen. Die "Kaiserliche Botschaft", auf deren Grundlage die Sozialpolitik des Reiches stehen müsse, wurde denn auch zum Topos in den Reden antisemitischer Politiker während der achtziger Jahre. 140 Für die Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes 1883 und des Unfallversicherungsgesetzes 1884 konnte Bismarck neben den Konservativen und den Nationalliberalen auch das Zentrum gewinnen, während sich sowohl die Sozialdemokraten als auch die Linksliberalen den Reformplänen verweige11en. Konnten die Sozialdemokraten zur Beglündung noch eine generelle Ablehnung des dahinterstehenden konservativ - patriarchalischen Fürsorgedenkens geltend machen, gerieten die Linksliberalen im Lauf der Legislaturperiode in Argumentationsnöte. Das Festhalten an manchesterliberalen LösungsmodelIen bot keine wirkliche Antwort auf die sozialen Probleme. Dennoch beharrte das im März 1884 beschlossene Programm der neugeglündeten Deutsch - Freisinnigen Partei, d.h. der Fusion der Liberalen Vereinigung mit der Fortschrittspartei, auf der Ablehnung der Bismarckschen Sozialpolitik. Als Hauptaufgabe der Wirtschaftspolitik nannte der Text die Bekämpfung des Staatssozialismus. '47 Unter diesen Voraussetzungen konnten sich die Kandidaten der Berliner Bewegung 1884 als berufene Vertreter der Bismarckschen Sozialpolitik in der Hauptstadt zur Wahl stellen.
a) Die Wahl von 1884 Der Wahlkampf des Jahres 1884 thematisierte denn auch sehr stark die soziale Frage. Den Anlaß dazu gab eine Rede Bismarcks im Mai 1884, in der er die Parole vom "Recht auf Arbeit" ausgegeben hatte und sich dabei auf die im preußischen Landrecht fonnulierte Annenfürsorgepflicht stützte. '48 Dies be-
145
Reichstagsprotokolie vom 17.11.1881.
146 Später fand die Kaiserliche Botschaft auch Eingang in das konservativ / antisemitische Tivoli - Programm der Deutschkonservativen, wo sie zur Begründung der gesamten sozialpolitischen Forderungen diente. 147
Vgl. Bendikat: Wahlkämpfe in Europa (1980), S. 29/30.
148
Ebd., S. 43.
I. Die Berliner Bewegung
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deutete zwar in der Regel lediglich eine Arbeitspflicht für Empfänger von Armenunterstützung, wurde jedoch von den liberalen Parteien als weiterer Auswuchs des "Staatssozialismus" interpretiert. Ludwig Bamberger formulierte in einer Wahlkampfbroschüre die manchesterliberale Kritik daran. Seine Schlüsselbegriffe lauteten "Selbstverantwortlichkeit", "Privateigentum" und "Schädigung des wirtschaftlich Tüchtigen". 149 Auch die Deutschkonservativen folgten der Themenvorgabe und stellten in ihren Aufrufen die soziale Frage in den Vordergrund. Soweit sie sich davon eine Polarisierung der Wählerschaft gegen die Liberalen und Sozialdemokraten versprochen hatten, ging ihre Rechnung zumindest in Berlin auf. Das Ergebnis der Hauptwahl, die bereits in 298 Wahlkreisen die Entscheidung brachte, bildete vor allem zwei wesentliche Trends ab: Die Linksliberalen hatten starke Verluste, während die Sozialdemokraten und die Konservativen erhebliche Stinunengewinne verzeichnen konnten. Die Berliner Ergebnisse brachten diese Entwicklung auf den Punkt. Noch 1881 waren alle sechs Berliner Wahlkreise an die Fortschrittlichen gefallen. Nun konnten die Linksliberalen nur noch im ersten Wahlkreis die Hauptwahl mit einer absoluten Mehrheit für sich entscheiden. Dort kandidierte statt Max Liebermann von Sonnenberg nun Adolph Wagner, der eine nahezu identische Stinunenzahl erreichte. In zwei Wahlkreisen (4 und 6) setzte sich die Sozialdemokratie im ersten Wahlgang durch, während in den übrigen Wahlkreisen die Kandidaten der Berliner Bewegung zur Stichwahl gegen die Linksliberalen antreten konnten. Damit waren die Freisinnigen auf die Unterstützung der Sozialdemokratie angewiesen, die für die Stichwahlen auch gewährt wurde. Alle Wahlkreise wurden von den Linksliberalen gewonnen, obwohl Adolf Stöcker und Joseph Cremer wenigstens Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Diese Entwicklung wurde in linksliberalen Blättern als "Triumph des Antisemitismus" bezeichnet. 150
14') Bamberger / Barth / Broellle/ (Hrsg.): Gegen den Staatssozialismus, Berlin 1884, S. 24, zit. nach Bendikat (wie Anl1l. 111), S. 45.
1;0 Frankfurter Zeitung vom 30. Oktober 1884, zitiert nach Bendikat (wie Anm. 111), S. 66. Bendikat deutet den antisemitischen Hintergrund des Berliner Wahlergebnisses nur an, analysiert jedoch sehr präzise die von Feindbildern bestimmten Argumentationsstränge der Parteien. Für die Bismarck - orientierten Parteien macht sie drei Hauptargumente aus: Die Kritik des Politikstils der anderen Parteien (Stichwort: Vermassung). Destruktionsstereotypen in Bezug auf den politischen Gegner (Zersetzung) und Neigung zum Aufbau politischer Lagertheorien je nach Erfordernis des einzelnen Wahlkreises.
1I1. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen
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Einen großen Erfolg konnten die sächsischen Reformer erzielen, die im linkselbischen Dresdner Wahlkreis ein Kartell mit den Nationalliberalen, Konservativen und den örtlichen Christlichsozialen zustande bringen wollten. Tatsächlich gelang es ihnen, fUr den von der Reformpartei präsentierten Kandidaten Hartwig wenigstens die Unterstützung der Konservativen und Christlichsozialen zu gewinnen. Hartwig erreichte mit 500 Stimmen Vorsprung vor dem Kandidaten der Nationalliberalen und der Reichspartei die Stichwahl. Sein Gegner war August Bebe!, gegen den er nun die Stimmen des ganzen bürgerlichen Lagers ins Feld fUhren konnte. 151 Hartwig schloß sich nach seiner Wahl allerdings der Deutschkonservativen Fraktion an, so daß die offizielle Wahl des ersten Antisemiten in den Reichstag noch drei Jahre auf sich warten ließ.
2. Nach dem Ende der Berliner Bewegung: Die Kartellwahlen von 1887 Noch mehr als bei den Wahlen von 1881 und 1884 wurde der Wahl von 1887 ihr Hauptthema von Regierungsseite vorgegeben. Anlaß der Reichstagsauflösung vom 13. Januar 1887 war die Weigerung des Reichstags, den vorgelegten Heeresumfang auf sieben Jahre, d.h. bis zum 31. März 1894 zu genehmigen. Obwohl dieses Abstimmungsergebnis absehbar gewesen war, da das Zentrum und die Freisinnigen sich gegen eine Festlegung des Heeresetats über die Legislaturperiode hinaus ausgesprochen hatten, brachte die Regierung unter Kanzler Bismarck die Vorlage ein. 152 Bismarck nutzte die Debatte darüber zu einer generellen Abrechnung mit allen liberalen Hoffnungen, die sich auf eine parlamentarische Kontrolle des Heeres bezogen: "Dieses Streben, wenn sie es haben, liegt ganz außerhalb aller Möglichkeiten .... " I S3 Einige Sätze zuvor hatte Bismarck daran erinnert, daß "ohne unser deutsches Heer" der ganze Bund, auf dem das Deutsche Reich beruhe, gar nicht Zustande gekommen wäre. Damit war die Frontlinie zwischen den Parteien einmal mehr mit der Ablehnung und Zustimmung zur Existenz des Reichs identifiziert. Den "Reichsfeinden" des Zentrums, der Freisinnigen und (natürlich) der Sozialdemokraten stand das nationale Kartell aus beiden Konservativen Parteien und Nationalliberalen gegenüber.
1;1
Vgl. Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 55.
1;2 Die Freisinnigen hatten dies sogar in ihr Gründungsprogramm von 1884 aufgenommen (vgl. Wilms, wie Anm. 129, S. 502). I;J
Ebd., S. 505.
2. Die Kartellwahlen von 1887
79
In diesem Spektrum schlugen sich die Antisemiten bezeichnenderweise auf die Seite des Kartells. Das galt sowohl für die, der konservativen Partei nahestehenden, Antisemiten aus der Berliner Bewegung, als auch für die Refonnvereine in Hessen und Sachsen. Otto Böckel, der nach seiner Wahl der erste Abgeordnete wurde, der sich als Antisemit ins Reichstagshandbuch eintragen ließ, gab sich sonst gern lautstark antikonservativ. Dennoch wies er sich ausdrücklich als Septennatsanhänger aus, nicht anders als Liebennann von Sonnenberg, der ebenfalls einen Abstecher in die hessische Provinz machte. BöckeIs Wahl im Kreis Kassel 5 (Marburg - Frankenberg) mußte aus antisemitischer Sicht das wichtigste Ergebnis der Wahl sein. Böckel hatte seinen Wahlsieg gegen einen langjährigen konservativen Vertreter des Wahlkreises errungen. Dr. Karl Grimm hatte den Kreis bereits 1871 im ersten Deutschen Reichstag vertreten, war mit einundsechzig Jahren noch nicht alt und wirkte gegen den achtundzwanzigjährigen Böckel offensichtlich doch wie ein Vertreter der Vergangenheit. Adolf Stöcker hatte Böckel denn auch als "jugendlichen Menschen ohne politisches Verständnis" bezeichnet. 154 Böckel gelangen sowohl die Mobilisierung neuer Wählerschichten wie auch der Gewinn bisher konservativer Wähler. In einzelnen Orten vervielfachte sich die Stimmabgabe. So wurden in dem kleinen Ort Niederweimar (Kreis Marburg) 1884 nur insgesamt 13 Stimmen abgegeben, davon 10 für den Konservativen. 1887 beteiligten sich 72 Stimmberechtigte, von denen 66 Böckel wählten. 155 Im ganzen Wahlkreis stieg die Wahlbeteiligung von 49.0 % auf74.9 %, was die reichsweite Steigerung der Wahlbeteiligung von 60.4 % auf 77.2 % noch übertraf. Dennoch zeigt dieser Vergleich, daß der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung in Böckels Kreis mit einer aufgewühlten Stimmung im ganzen Reich zusammentraf, und nicht allein auf BöckeIs Agitation zurückgeführt werden kann. Dies wird auch durch einen Vergleich mit dem Ergebnis Max Liebennann von Sonnenbergs deutlich, der im nahegelegenen Kreis Kassel 3 (Fritzlar / Homberg / Ziegenhain) kandidierte. Liebennann stammte nicht aus Hessen und führte praktisch keinen Wahlkampf, da seine Kandidatur erst unmittelbar vor der Wahl proklamiert wurde. 156 Auch dürfte Liebennanns betont konservative und staatstragende Grundhaltung als Mitglied der Berliner Bewegung durchaus bekannt gewesen sein. Trotz dieser Unterschiede zu Böckel wurde
154
Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 66.
1" Thomas Klein: Die Hessen als Reichstagswähler, S. 283 f. 15.
Wawrzinek (wie Anm. 83), S. 71.
III. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen
80
auch seine Kandidatur als Alternative zu seinem konservativen Gegenkandidaten v. Gehren aufgenonunen und hatte einigen Erfolg. Auch in diesem Wahlkreis stieg die Beteiligung an der Wahl von 49.5 % auf 66.2 %. Das kam fast ausschließlich Liebemlann zugute, der aus dem Stand 39.3 % Zustinunung erreichte. 157 Otto v. Gehren profitierte jedoch von der großen nationalliberalen Wählerschaft des Kreises, die dank des Kartells für ihn stinunte. 158 Schon 1890 fehlte den Konservativen diese geschlossene Unterstützung, die jetzt zum Teil auch Liebermann von Sonnenberg zugute kam. Auch Otto v. Gehren war nicht weniger als einunddreißig Jahre älter als sein antisemitischer Widerpart. Neben der positiven Haltung zum Septennat war dies die zweite Gemeinsamkeit beider antisemitischer Kandidaten. Weniger erfreulich aus antisemitischer Sicht war das definitive Ende der Berliner Bewegung in der gleichen Wahl. Dies hing eng mit der Kartellpolitik Bismarcks zusanunen, die den Antisemiten der Hauptstadt ihre Unterstützung von Regierungsseite entzog. Stöcker wünschte bereits Anfang Januar "daß wir von gewisser Seite etwas mehr Sonnenschein erfahren. Gegen den dreifach starken Gegner: Fortschritt, Sozialdemokratie und Judentum, kämpfen ...... , das können wir nicht, das übersteigt unsere Kräfte, auch unseren ehrlichen Willen."159 Am Tag nach der Reichstagsauflösung wurde Stöcker etwas deutlicher und warf dem Reichskanzler vor, "daß er in der inneren Politik nicht die gleiche Meisterschaft besitzt" .160 Kurze Zeit später nahmen sowohl Stöcker als auch Adolph Wagner von ihren Kandidaturen in Berlin Abstand, was Stöcker nun offen mit dem Willen des Reichskanzlers und seiner selbstverständlichen Treue zur Regierung begründete. Nach einigem Widerstand folgte Dr. Cremer, der 1881 und 1884 ebenfalls in Berlin kandidiert hatte, nun aber als zu radikal galt. 161
1.5 Zunächst fand am 8. Dezember 1892 der sogenannte Tivoli - Parteitag statt, auf dem ein neues Programm beschlossen wurde. Es war der erste Parteitag nach Jahrzehnten und er stand deutlich unter dem Eindruck des innerparteilichen Konflikts zwischen den gouvernementalen Regierungsanhängem und der Kreuzzeitungspartei um Stöcker und Hanm1erstein. Letztere setzte sich durch und drückte unter anderem jenen Passus ins Programm, der eine Bekämpfung des jüdischen Einflusses im Land forderte. Dies war nicht zuletzt möglich, weil der Parteitag noch unter dem Eindruck der Wahl Hermann Ahlwardts stand, der sich in einer Nachwahl im November in der konservativen Hochburg des Regierungsbezirks Frankfurt I Oder gegen einen Konservativen durchgesetzt hatte. Man tröstete sich auf dem Parteitag mit der Parole "lieber zehn Ahlwardts als einen Freisinnigen"lC>b und gab damit die Richtung vor, mit der die Deutschkonservativen im nächsten Jahr im Wahlkampf agierten. Im Februar 1893 tat der Konservatismus mit der Gründung des Bundes der Landwirte einen weiteren Schritt, seinen Einfluß auf neue Art und Weise geltend zu machen. Diese Glündung hatte unmittelbaren Einfluß auf den bevorstehenden Wahlkampf, da der Bund von Beginn an mit erheblichen finanziellen und organisatorischen Mitteln ausgestattet war, die er den Parteien der Rechten zur Verfügung stellte. Als Gegenleistung verpflichteten sich die jeweiligen Kandidaten zur Unterstützung der Interessen des Bundes, was für die Wahl von 1893 vor allem die Ablehnung der Handelsverträge bedeutete. 16?
".., Zu den Gründungsumständen des BdL vgl. Puhle (wie Anm. 13), S. 213 f. ".(. Ger/ach (wie Anm. I). S. 108.
"., Bei der Wahl von 1893 trat der Bund noch nicht mit eigenen Kandidaten an. Auch liegen keine gen auen Angaben vor. wieviele der Konservativen Abgeordneten
4. Reichstagswahlen 1893
89
Beide Maßnahmen hatten eine deutlich antisemitische Stoßrichtung. Das Tivoli-Programm beklagte den schädlichen Einfluß des Judentums ausdIiicklich und auch der BdL setzte sich zumindest insofern vom Judentum ab, als er Juden von seiner Mitgliedschaft ausschloß. Diese Regelung der Satzung wurde bald durch die Entwicklung einer ausdrücklich antisemitischen Terminologie ergänzt. Unter diesen Voraussetzungen kam es bei den Reichstagswahlen von 1893 zu einer konservativ-antisemitischen Zusanmlenarbeit. Der Umfang dieser Affinität war jedoch stark von lokalen Gegebenheiten abhängig und schloß Gegenkandidaturen beider Richtungen in der Hauptwahl nicht aus. Besonders die auf dem Tivoli - Parteitag unterlegenen Gouvernementalen ignorierten die Weisungen konservativer Wahlvereine und stellten eigene Kandidaten auf. Unterlagen die Konservativen in der Hauptwahl, flossen ihre Stimmen dann vorwiegend zu den Antisemiten, was die Kombination von konservativen und antisemitischen Motiven unter den Wählern deutlich macht. Besonders wirksam wurde diese Kombination im Königreich Sachsen. 168 Die Deutsche RefOlmpartei, die eigentlich in Dresden entstanden war, hatte 1890 in Sachsen kein Mandat und auch kein bemerkenswertes Ergebnis erzielen können. Das änderte sich nun. Statt in drei Wahlkreisen wie 1890 kandidierte die Partei in zehn Bezirken vorwiegend im Osten des Landes und konnte davon gleich sechs Kreise für sich gewinnen. Das Schema des Erfolgs war in fast allen Kreisen identisch. Gelang den Kandidaten der Reformpartei das Erreichen der Stichwahl, konnten sie sich mit Unterstützung der Konservativen gegen den sozialdemokratischen Gegenkandidaten durchsetzen. Im Wahlkreis zwei gab es eine Abweichung von diesem Muster, da hier ein Linksliberaler die Stichwahl gegen Oswald Zinmlermann erreicht hatte. Prompt unterlag Zinmlermann trotz eines in der Hauptwahl relativ großen Vorsprungs, da sich für das bürgerliche Lager hier offenbar eine Alternative bot und die sozialdemokratischen Wähler sich geschlossen für den Linksliberalen aussprachen. Ein Vergleich der Wahlergebnisse des Königreichs Sachsen von 1890 und 1893 zeigt die deutliche Polarisierung zwischen den Deutschkonservativen und Antisemiten einerseits, und der Sozialdemokratie und den Linksliberalen andererseits. Die Stimmen der Antisemiten wurden in der Hauptwahl zum großen Teil (62805 von 93364) in Wahlkreisen gewonnen, die 1890 noch konservative
von 1893 dem Bund bereits verpflichtet waren. Seit 1898 bis 1912 war dies jeweils die ganze konservative Fraktion. Vg1. Puhle (wie Anm. 13), S. 215. ",' Die sächsischen Konservativen hatten auf ihrem Parteitag im Juni 1892 als erste die Aufnahme des Antisemitismus in das Konservative Programm gefordert, da man die Bekämpfung der Juden nicht Leuten wie Ahlwardt überlassen könne. Frank (wie Anm. 96), S. 232.
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111. Der politische Antisemitismus in den Reichstagswahlen
Mehrheiten aufwiesen. Alle sechs gewonnenen Mandate hatten die Antisemiten ihren konservativen Gegenkandidaten nach dem oben beschriebenen Muster abgenommen. Soweit mit den Tivoli - Beschlüssen der Deutschkonservativen Partei antisemitische Stimmungen in der Bevölkerung nutzbar gemacht werden sollten, mußte dieser Versuch hier als gescheitert gelten. Die Konservativen machten ihre Verluste jedoch in anderen Kreisen wieder wett, so daß ihre Stimmenzahl in ganz Sachsen nur unwesentlich unter der von 1890 lag. Verlierer dieses Prozesses waren die anderen bürgerlichen Parteien, vor allem die Nationalliberalen, deren Stimmenzahl sich von 112514 auf 49554 mehr als halbierte. Auch die Reichspartei und die Linksliberalen verloren 30 bis 40 Prozent ihrer Wähler. 169 Obwohl sich der Stimmenanteil der Konservativen in Sachsen insgesamt also kaum veränderte, büßten sie von ihren zehn 1890 gewonnenen Mandaten fünf ein. Den Nationalliberalen gelang erstaunlicherweise trotz der großen Stimmenverluste der Erhalt von zweien ihrer drei Mandate, während sich die Freis:innigen sogar noch um ein weiteres auf zwei Mandate steigerten. Andernorts hatte der konservative Versuch einer Integration des Antisemitismus mehr Erfolg. So konnten einige Kandidaten aus dem antisemitischen Umfeld der Versuchung nicht widerstehen, sich mit der Reputation der DkP als Deutschkonservative zur Wahl zu stellen. Ihre Anzahl war sehr umstritten, da die Übergänge zwischen Konservativen und Antisemiten einigermaßen fließend waren. Inklusive der Kandidaten der Christlich-sozialen, die noch immer als Gruppe innerhalb der DkP auftraten, waren dies mindestens 10 weitere "Konservative". 170 Liebermann von Sonnenberg rechnete den Konservativen sogar 24 Abgeordnete vor, die entweder Antisemiten seien oder mit antisemitischer Unter-
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