Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland 9783111371481, 9783111014258


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German Pages 309 [320] Year 1963

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INHALT
EINLEITUNG
DIE ENTWICKLUNG DER IRREGULÄREN ELEMENTE INNERHALB DER FRANZÖSISCHEN KLASSIZISTISCHEN DRAMENTHEORIE
DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND
DIE FRAGE DER DRAMENKRITERIEN UND DAS DEUTSCHE RÜHRENDE LUSTSPIEL IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS
DIE IRREGULÄREN ELEMENTE IN DER DEUTSCHEN TRAGÖDIE BIS ZUM ENDE DER VORHERRSCHAFT GOTTSCHEDS
DIE ENTWICKLUNG DER DEUTSCHEN TRAGÖDIE IN RICHTUNG AUF DAS BÜRGERLICHE TRAUERSPIEL ZWISCHEN 1741 und 1751
DIE ERSTEN BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELE IN DEUTSCHLAND
LESSINGS MISS SARA SAMPSON
NACHWORT
NAMENREGISTER
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Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland
 9783111371481, 9783111014258

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DAUNICHT, DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR SPRACH- UND KULTURGESCHICHTE DER GERMANISCHEN VÖLKER

BEGRÜNDET

VON

B E R N H A R D TEN BRINK U N D WILHELM

SCHERER

NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON H E R M A N N

KUNISCH

8 (132)

RICHARD DAUNICHT DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND

WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN VORMALS G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRÜBNEH — VEIT SC COMP.

DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND

VON

RICHARD DAUNICHT

WALTER DE GRUYTER & CO., BERLIN V O R M A L S G . J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — K A R L J . TRÜBNER —

VEIT &



GEORG R E I M E R COMP.



Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Archiv-Nr. 43 30 62/2 © Copyright 1963 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany. — Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Drude: Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin SW 61

INHALT

Einleitung

1

Die Entwicklung der irregulären Elemente innerhalb der französischen klassizistischen Dramentheorie

6

1. Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

6

2. Die

klassizistischen

Tragödienregeln

und

die

Entwicklung

der

irregulären Elemente

18

D I E E N T S T E H U N G DES B Ü R G E R L I C H E N T R A U E R S P I E L S IN DEUTSCHLAND Vorbemerkung

52

Die Frage der Dramenkriterien und das deutsche rührende Lustspiel in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

53

Die irregulären Elemente in der deutschen Tragödie bis zum Ende der Vorherrschaft Gottscheds

99

Die Entwicklung der deutschen Tragödie in Richtung auf das bürgerliche Trauerspiel zwischen 1741 und 1751

142

Die ersten bürgerlichen Trauerspiele in Deutschland

209

Lessings Miß Sara Sampson

276

Nachwort

301

Namenregister

302

EINLEITUNG Genau wie in der eigentlichen Historie vollziehen sich audi die Wandlungen der Geistesgeschichte nur unmerklich; langsam umkreisen gleichsam die sich verändernden Formen der Erscheinungen einen imaginären Punkt und rücken ihm bald ferner, bald näher. Ein Überblick über diese Umbildungen wird jedoch durch die ständigen Bedeutungsschwankungen der Worte und die wechselnden Gedankenassoziationen, mit denen wir beim begrifflichen Denken rechnen müssen, sehr erschwert. Diese Verhältnisse treffen auch für die Entwicklung der dramatischen Theorie zu. Welches ist nun in ihrem Falle jenes gedachte geistige Zentrum? Eis scheint, als ob die Poetik des Aristoteles mit ihrem knappen, wenn auch oft dunklen Text, der von allen späteren Auslegungen und Schwankungen der Wortbedeutung in seiner Substanz unberührt bleibt, wenigstens ein gutes Orientierungsmittel abgibt. Wenn Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie sagt: „ . . . z w a r mit dem Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur auch mit seinen Gründen zu werden wüßte" 1 ), ist die Lage, in der wir uns befinden, angedeutet. Die Spielregeln der dramatischen Theorie haben in den vergangenen Jahrhunderten gewechselt. Niemals wird anscheinend eine einheitliche Auffassung über die Prinzipien der Gestaltung im D r a m a möglich sein. M a n arbeitet ja noch immer an der Interpretierung des Aristotelischen Textes, und inzwischen ist der ganze Vorrat von aufgeführten Stücken und niedergeschriebenen Ansichten hinzugekommen. Die deutsche Theorie des Schauspiels richtete sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts nach der sozialen Abstufung, dem Stand der H e l den, in zweiter Linie nach dem ernsten oder heiteren Inhalt und dem Stil des Stückes, weniger aber nach dem „tragischen E n d e " . Fünfzig J a h r e später war man auf dem Wege, die hohe Abkunft der Helden, 1 ) 74. Stück (Anfang); Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, auf's neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker, Stuttgart 1886 ff. (im folgenden abgekürzt: Lessings sämtliche Schriften (Lachmann-Muncker) oder einfach: LM), Bd. X S. 97.

1 Daunlcht, Trauerspiel

2

Einleitung

den ernsten Stoff und zum Teil auch die gehobene (Vers-)Sprache als nicht mehr entscheidend für eine Tragödie anzusehen. Wir Heutigen beharren in vielem auf den früheren Standpunkten; allerdings erscheint uns nicht einmal mehr die gehobene Sprache vordringlich, dafür ist der Ausgang fast zum einzigen inhaltlichen Trauerspielkriterium geworden. Herbert Jhering meint: „Primitiv und ibanal ausgedrückt: Tragödie ist, wenn der ,Held' zugrunde geht und stirbt 2 )." In ähnlicher Weise haben sich die Ansichten über das, was auf der Bühne unwahrscheinlich ist und was gegen die guten Sitten verstößt, verändert. Hier soll die Wandlung der Gedankengänge in der Periode der frühen deutschen Aufklärung im Hinblick auf die Entstehung des modernen bürgerlichen Trauerspiels untersucht werden. In dieser Zeit drängt alles zu einem neuen Beginn. Es ist zu zeigen, daß dieser Beginn auch die Vollendung eines Prozesses bildet. Im Zuge der Evolution fällt Stein um Stein von dem Lehrgebäude der französischen Klassik ab, bis ein neues Verständnis den Weg zu einer neuen Klassik bahnen kann. Allerdings hat sich bei uns die allgemeine Diskussion der dramatischen Theorie erst verhältnismäßig spät der Erörterung und Entwicklung einer bürgerlichen Tragödie zugewandt. Während in England schon seit dem 16. Jahrhundert immer wieder sogenannte „domestic tragedies" auf dem Theater gezeigt wurden, stellte man in Deutschland tragische Verwicklungen innerhalb der bürgerlichen Welt nicht in entsprechendem Maße auf der Bühne dar. Die Renaissanceliteratur hatte zwar überall in Europa ernste dramatische Stoffe aus dem bürgerlichen Leben gestaltet, aber dies alles war längst vorbei, und selbst ein später Nachfahre der alten Stücke, Gryphius* „Cardenio und Celinde", wirkte nicht nach. Die Verzögerung hat ihre Gründe. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung, die von manchen dafür verantwortlich gemacht

wird,

spielt jedoch ibeim Emporkommen der bürgerlichen Tragödie nicht die größte Rolle. Wäre nämlich die soziale Basis ausschlaggebend, müßte immer dann, wenn eine Volksschicht besonders stark in Erscheinung tritt, diese Schicht auch bei den Helden der Tragödien in gleicher Weise zu bemerken sein. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Die französische Revolution von 1789 ging beispielsweise über die geschichtliche Bühne, ohne daß sich die Anzahl der bürgerlichen Trauerspiele im besonderen außergewöhnlich vermehrt hätte. 2

) Vom Geist und Ungeist der Zeit, Berlin 1947, S. 26.

Einleitung

3

Will man auf jeden Fall eine Beziehung herstellen, kann man höchstens von einem Anwachsen der bürgerlichen Geisteshaltung im Zusammenhang mit dem Erstarken des Bürgertums sprechen. Diese bürgerliche Weltanschauung braucht sich aber keineswegs stets in einer bürgerlichen Tragödie ziu manifestieren. Immerhin kann umgekehrt gesagt werden, daß dort, wo die bürgerliche Tragödie eine Rolle spielt, auch bürgerliche Gesinnung hinter ihr steht. Viel wichtiger für die bemerkte Verspätung waren gewisse Vorurteile und das ausländische Vorbild. In Deutschland gab es um 1700 kaum jemand, der sich in wissenschaftlicher Weise um so zweifelhafte und fernliegende Dinge wie die dramatische Literatur und ihre Theorie bemühte. Alles, was mit dem Theater zusammenhing, war in den Augen vieler, ja der meisten Theologen verdächtig. Bei der engen Verbindung, die zwischen Theologie und allgemeiner Bildung bestand, wirkte dieser Standpunkt stark in die Literatur hinein. Jede gegensätzliche Meinung konnte nur in Opposition zu den herrschenden Anschauungen der Zeit gewonnen werden. Den Praktikern der Bühne aber, den Schauspielern und allen Personen, die eine freiere Ansicht vertraten und sich aus Liebhaberei mit dem Theater befaßten, ging es meistens um den Erfolg ihrer Aufführungen. Sie dachten selten selbständig über das Für und Wider von gelehrten Theorien nach. Schon damals hatte sich die Poetik der Franzosen in Westeuropa weitgehend durchgesetzt. Zumal auf dem Gebiete des Dramas waren die Stücke Corneilles und Racines und die klassizistische Theorie etwa eines d'Aubignac tonangebend geworden. Auch Deutschland begann sich nach dem Abflauen des spanischen und italienischen literarischen Einflusses immer stärker nach seinem unmittelbaren westlichen Nachbarn zu orientieren. Dies hängt wiederum mit dem Absinken der politischen Bedeutung Spaniens und dem Ansteigen der Macht des „Sonnenkönigs" zusammen. Die kulturelle Entwicklung in England, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nur noth wenig auf das Festland wirkte — die „Englischen Komödianten" kamen längst nicht mehr herüber —, hatte für das übrige Europa kaum Gewicht. Der französische Einfluß, der sich auf alle Gebiete der Mode, der Kunst und der Literatur erstreckte, blieb das ganze 18. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus sehr stark. Darum ist es zu verstehen, daß auch die theoretische Auseinandersetzung über die dramatische Dichtungsgattung, die schließlich zu der Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels führte, erst spät aus Frankreich nach Deutschland über-

4

Einleitung

griff, nachdem sie ganz ähnlich wie dort durch die dominierende Stellung der klassizistischen Regeln lange Zeit behindert worden war. Zum Beweis, wie noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Einsichtigen den Einfluß der Franzosen als der unmittelbaren Vorbilder auf dem Gebiete der Dichtkunst und des Theaters einschätzten, genügt es, ein paar Sätze Lessings anzuführen: „ . . . es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den Ausländern über die Fehler eines Franzosen die Augen eröffnet. Diesem ganz gewiß betet er nach . . . daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst die Kühnheit hätte, an der Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das einbilden?" 3 ). Auch die Spielpläne, die vielen Übersetzungen machen es deutlich: Im Bereich des Dramas und des Theaters gab so gut wie immer der französische Geschmack die Richtung an. Sogar das deutsche Streben nach einem Nationaltheater läßt sich auf ein französisches Vorbild zurückführen. Diderot hatte schon 1758 gefordert: „Ein jedes Volk muß also Schauspiele, aber seine eigenen Schauspiele haben" 4 ). Dem Hinweis Lessings auf diese Stelle in dem Vorwort zu seiner Diderotübersetzung von 1759 folgend waren dann Jacob Mauvillon 5 ) und Joseph von Sonnenfels 6 ) im Jahre 1766 die ersten, die unter dem dem Französischen nachgebildeten Schlagwort nach einem deutschen „Nationaltheater" riefen. Ebenso abhängig war man im Aufführungsstil, in der Deklamation und überhaupt in Dingen der Ästhetik des Theaters. So führt jede Untersuchung der deutschen Verhältnisse von selbst auf die französischen zurück. Hier hat man anzusetzen, wenn man die Probleme der Bühne und des Dramas in Deutschland behandeln will. Sogar für die Übernahme englischer Anschauungen und für die Einführung Shakespeares ist zu einem guten Teil das literarische Frankreich verantwortlich. Auf Umwegen gelangte die Erkenntnis nach Deutschland, daß es 3 ) Hamburgische Dramaturgie, 32. Stück (gegen Ende); LM I X S. 319. Vgl. Lessings Vorrede zu „Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen. Erster Theil. Berlin 1760." LM VIII S. 286 f. Auch der junge Goethe mokiert sich 1771 in seinem Aufsatz „Zum Schäkespears Tag" über die „Franzosen und angesteckte Deutsche". 4 ) Im „Discours sur le poème dramatique", der an den „Père de famille" (Paris 1758) angehängt ist. Lessing's Werke (Hempel), Berlin o. J., Bd. X I , 2 S. 303; vgl. ebd. S. 4. 5 ) Freundschaftliche Erinnerungen an die Kochsche Sdiauspieler-Gesellschaft, bey Gelegenheit des Hausvaters des Herrn Diderots, Frankfurt und Leipzig 1766, S. 80 f., 86 f. 6 ) J. G. Robertson, Lessing's Dramatic Theory, Being an Introduction to and Commentary on his Hamburgische Dramaturgie, Cambridge 1939, S. 19 Anm. 1.

Einleitung

5

noch andere große Dichter als die gepriesenen Klassiker des 17. Jahrhunderts gebe. Erst dann ging man an eine unmittelbare Benutzung der englischen Quellen. Neben dem französischen war (besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) allerdings noch ein gewisser Einfluß italienischer Theoretiker vorhanden. Dies hindert uns nicht, die französischen Verhältnisse in den Vordergrund zu stellen. Damit soll zugleich die Charakterisierung derjenigen englischen Elemente, die für die Entwicklung der französischen bürgerlichen Tragödie besonders wichtig waren, und die Schilderung ihrer Übernahme in Frankreich verbunden werden.

DIE ENTWICKLUNG DER IRREGULÄREN ELEMENTE INNERHALB DER FRANZÖSISCHEN KLASSIZISTISCHEN DRAMENTHEORIE 1. Die Definitionen

des Dramas und. die Comédie

larmoyante

Hatten die Überlegungen des Aristoteles und auch das Lehrgedicht des Horaz die Anschauungen der Antike zusammengefaßt und konnten die Castelvetro, Robortelli oder Heinsius noch als Kommentatoren und Bestätiger gelten, so geriet die französische Dichtung während der großen Zeit Corneilles unter die Kontrolle einer ziemlich einseitigen Ordnung, die die alten Gesetze nach eigenem Ermessen auslegte. Man ging in Frankreich um die Mitte des 17. Jahrhunderts weit über die griechischen und römischen Klassiker hinaus, wobei man sich der Gefahr eines solchen Weges nicht bewußt war. Die Dramen Corneilles selbst konnten als Beispielsammlungen der akademischen Theorien d'Auibignacs und L a Mesnardières gelten und halfen so dazu mit, die einmal angenommenen Normen allgemein verbindlich zu machen. D a jedoch die Grenzen, in denen man sich bewegen durfte, sehr eng gezogen waren, fehlte es seitdem nicht an Versuchen, das scheinbar „natürliche" Reglement auszudeuten oder gar zu umgehen. D a ß man dabei immer auf Aristoteles zurückkommen mußte, versteht sich von selbst. So ist schon die Auseinandersetzung über die Definitionen der dramatischen Dichtungsgattungen ein Beispiel für die ständig wechselnden Aspekte, unter denen man die Probleme beurteilte. Wir haben dabei zu gewärtigen, daß die modernen Begriffe versagen und daß unsere Einteilung in Tragödie und Komödie sich nicht ohne weiteres auf frühere Schemata übertragen läßt. Nur die historische Betrachtungsweise ermöglicht eine Überschau. Seit der Renaissance ist die Grenze zwischen Tragödie und Komödie fließend gewesen. Das liegt an den Kriterien, die man für die Beantwortung der Frage, ob Tragödie oder Komödie, heranzog, oder vielmehr daran, welche der Aristotelischen Sätze man besonders betonte. Während Aristoteles von den oîxeîa rjih] und der olxeia cptiaiç, den jeweiligen Charakteren und dem jeweiligen Naturell der Dichter gesprochen

Die Definitionen des D r a m a s und die C o m é d i e

7

larmoyante

hatte, denen gemäß sich diese Dichter edle, größere und ernstere oder niedrigere und lächerliche Stoffe aussuchten 7 ), während also Aristoteles zweifellos Tragödie und Komödie nach den Handlungen bestimmen will, erklären sich die Theoretiker und Ausleger seit dem 16. J a h r hundert für eine Sonderung nach der sozialen Stellung der Helden. A r i s t o t e l e s s c h r e i b t : f| 8 è xco[xcpÖia è o t ì v waicep sijto|iev |xi|xr}cric; cpauXo-

téqcov |xév, oti (xévtoi y.axà jtàaav xaxiav, àXXà toC aìaxQoC ècm tò yekóiov [xóqiov8). In entsprechender Weise heißt es zu Beginn der berühmten Tragödiendefinition: eötiv oiv TQaycpöia |xi|a.r)ai5 jtpälecog cntouöaiag xai TsXsiag néyedog ¿xoiiar|5 . . , 9 ). Kein Wort also von den äußerlichen Eigenschaften der Helden! An einer anderen Stelle hatte der griechische Philosoph jedoch 'auch Ratschläge über die Personen der Helden gegeben und dabei von Menschen gesprochen, „die in hohem Ansehen und Glück stehen, wie z. B. ödipus, Thyestes und andere berühmte Männer aus solchen Geschlechtern" 1 0 ). Dies führte später dazu, daß man die Tragödie einfach als TiQtowfjg xir/rig jtEQiaxaaig, als einen Wechsel im Glücke eines Helden bezeichnete (Diomedes) 1 1 ). Auf solcher Koppelung,

die man

ähnlich auch ibei H o r a z finden kann 1 2 ), beruhte Julius Cäsar Scaligers Erklärung der Tragödie und Komödie von 1 5 6 1 : „Tragoedia,

quanquam huic Epicae similis est, eo tarnen

differt,

quod raro admittit personas viliores: cuiusmodi sunt nuncii, mercatores, nautae, &

eiusmodi. Contra, in Comoedia nunquam Reges, nisi in

paucis: quemadmodum lusit Plautus in Amphytruone" 1 3 ). Von

hier geht

die offenbar sehr unbefriedigend begründete

An-

schauung in die späteren Poetiken über. Der Glaube, daß Tragödien unter Königen und vornehmen Personen spielen und infolgedessen von Staatsangelegenheiten handeln müßten, überschattet völlig jene andere Ordnung der Dramen nach ihren Handlungen, zumal nach deren U m 7) Aristotelis D e a r t e poetica liber, R e e . Guilelmus Christ. Lipsiae 1 8 8 2 , c. 4. V g l . auch: oi ^èv yùg oeuvóxeqoi x à g x a X à g £u.i|xo{)Vto j t g à i E i g x a i x à ? xwv xoiouxwv, oi 8È èxE/.éaTEDOi x à ? xwv cpaù/.cuv . . . (c. 4 ) . x a x à xr)V oixEÌav cpuaiv ot [lèv à v x i t r n ia|xßwv xw[up8ojraioi Èyévovxo, ol 6è à v x ì xwv èjtwv xoaYqiöoòiòàay.aXoi 6 i à xò (xei^ova x a i èvxiuóxEga x à axt|H.axa EÌvai x a i x a exeìvcov. (c. 5). 8

) Aristoteles a. a. O . c. 5.

9

) Aristoteles a. a. O . c. 6.

'") . . . xwv èv ixE^à^f) 6ó§t) ovxcov x a i eùtu/Jq;, oìov OiSireoug x a i © v é a x r i ; x a i oi Èx xwv TOioijTcov YEvwv èiticpavEl; o v S q e ; . . . Aristoteles a. a. O . c. 13. u ) V g l . T h . W . D a n z e l und G . E . G u h r a u e r , G o t t h o l d Sein Leben und seine W e r k e 2 , Bd. I, Berlin 1 8 8 0 , S. 2 8 7 . 12

Ephraim

Lessing,

) H o r a t i u s , D e a r t e p o e t i c a liber v. 91 f.

) D a s sdilesische K u n s t d r a m a , hrsg. v o n W . F l e m m i n g (Deutsche L i t e r a t u r , Sammlung literarischer K u n s t - und K u l t u r d e n k m ä l e r in Entwicklungsreihen, R e i h e Barode, B a r o c k d r a m a B d . I), Leipzig 1 9 3 0 , S. 5 5 . 13

8

Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

Schwung und Ausgang, und ihren Stimmungen. Auch die Trennung der dramatischen Gattungen nach dem Stil und den Versmaßen sowie nach dem Zweck der Dichtung wurde nur manchmal mehr, meistens aber weniger betont. Alle diese Kriterien zog man zwar zur Unterstützung heran, als Hauptmerkmal wertete man jedoch bis hin zu Schopenhauer 14 ) die soziale Einstufung. Da die Erhöhung des Helden als erstes Kennzeichen der Tragödie galt, .demgegenüber sich aber seither eine andere Auffassung über Aristoteles' Ansichten durchgesetzt hat, erscheint es nötig, zugleich mit der Erörterung der Kriterienfrage die Annäherungen zu beobachten, die die Komödie seit dem 17. Jahrhundert zum Gebiet der Tragödie machte. Diese Annäherungen sind so erheblich, daß man neuerdings verschiedentlich mit einer gewissen Berechtigung einen Teil der damaligen Tragödien und Komödien unter dem Leitbegriff des darin enthaltenen Gefühlsmoments als „sentimentale" oder „gefühlvolle" Dramen zusammengefaßt hat 1 5 ). Tatsächlich mußte sich in dem Augenblick, da man nach neuen Möglichkeiten suchte, um die Stoffe und die Grundstimmung der Dramen zu variieren, das Feld der Komödie bedeutend erweitern, mußte ein großer Prozentsatz ernster Stücke in die Kategorie „Lustspiel" fallen; denn die Tragödie wollte man weiterhin streng auf den engen Raum des fürstlichen Milieus beschränkt wissen. Während also die anerkannte Theorie der Entwicklung der eigentlichen Tragödie nur wenig Spielraum ließ, richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit um so mehr auf das Schaffen der Komödiendichter. Das höhere Lustspiel wurde zu einer Domäne der französischen Dramatiker. Gleichzeitig damit gab es in Frankreich die Mode der von italienischen Schauspielertruppen verbreiteten und geförderten Harlekinaden; vielleicht waren diese sogar der Grund für die wachsende Beliebtheit der heiteren Muse. Audi Danzels Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, daß der gerade damals als Gegengewicht gegen die stilisierende Epoche der Corneille und Racine einsetzende Wille zu größerer Natürlichkeit zwar eine Durchbildung und Entwicklung des komischen Theaters gestattete, nicht aber eine natürliche Darstellung der in den Tragödien auftretenden königlichen Personen 16 ). Vielleicht hätte dies zum Vergleich mit dem echten Hofleben und zum Nachdenken über die wirklichen Höflingscharaktere angeregt; wie leicht " ) Sämtliche Werke, hrsg. von Eduard Grisebach, Bd. II, Leipzig o. J., S. 513 f. (Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 37). 15 ) z . B . Ernest Bernbaum, The drama of sensibility (Harvard Studies), 1915, und Jens Kruuse, Det folsomme drama, Phil. Diss. Köbenhavn 1934. 16 ) Danzel-Guhrauer a. a. O. I S. 290.

Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

9

häute das zu Ungunsten der Gegenwart ausfallen können. Außerdem war wohl der absolutistische Staatsgedanke so stark, daß man sich vor einer allzu natürlichen Schilderung scheuen mußte. Pierre Corneille tritt als erster (vgl. unten) für eine freiere Auslegung der Gesetze des Aristoteles ein und will die strenge Aufteilung der Dramen nach sozialen Gesichtspunkten aufgelockert wissen: Früher habe man zwar „in den Lustspielen nur Leute von sehr geringem Stande" aufgeführt, jetzt a;ber dürften sehr wohl auch Könige in der Komödie erscheinen17). Mit deutlicher Kritik an Racines Liebesverwicklungen in der Tragödie behauptet Corneille: „Lorsqu'on met sur la scène un simple intrique d'amour entre des rois, et qu'ils ne courent aucun péril, ni de leur vie, ni de leur état, je ne crois pas que, bien que les personnes soient illustres, l'action le soit assez pour s'élever jusqu'à la tragédie" 18 ). Dann schlägt er als neue zwischen Tragödie und Komödie einzugliedernde Art von Schauspielen die sogenannte „Comédie héroïque" vor, deren Helden ebenso wie bei der Tragödie Personen aus königlichem Geblüte sind, mit deren Handlungen jedoch keine eigentlichen Staatsaffären verbunden sind, mag auch an ihnen die „Wohlfahrt des Staates noch so großen Anteil haben" 19 ). Corneille gibt also das Zeichen zu weiteren Experimenten; seine Neuerungsabsichten beruhen auf der Erkenntnis, daß man die antiken Vorschriften nicht um jeden Preis beizubehalten habe. Von diesem Bemühen, eine dramatische Gattung zwischen Tragödie und Komödie zu etablieren, und den bei einem Corneille verständlichen Appellen an das Genie der Dichter datieren alle späteren Versuche, selbständige Lösungen zu ermitteln. Überdies hatte ja sogar einer der Väter der orthodoxen Sätze, d'Aubignac selbst, bereits 1657, indem er sich auf eine Andeutung Scaligers berief, deklariert: » . . . comme il y a trois sortes de vies, celle des grands dans la cour des rois, celle des bourgeois dans des villes, et celle des gens de campagne: le théâtre aussi a reçu trois genres de poemes dramatiques, qua portent en particulier le caractère de chacune de ces trois sortes de vies, savoir la tragédie, la comédie, et la satyre ou pastorale" 20 ). 17

) P. Corneille, Œuvres complètes, suivies des œuvres choisies de Th. Corneille, avec les notes de tous les commentateurs, Paris 1838, T. IV S. 242. 18 ) Corneille a . a . O . S. 242. 19 ) Vgl. Corneille a. a. O. S. 243. 20 ) François Hédélin d'Aubignac, La pratique du théâtre, Paris 1657, Liv. II diap. 3.

10

Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

Auch er kennt demnach neben Trauer- und Lustspiel noch etwas Drittes. Die Spuren des Tragischen lassen sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einigen Lustspielen klar erkennen. Molières „Misanthrope" erscheint zum Beispiel als Fanatiker der Wahrheit und Geradheit lächerlich und unglücklich. Im „Tartuffe" gibt es das Problem, daß edle Handlungen zeitweilig der Lächerlichkeit anheimfallen und nicht nach ihrem wahren Wert eingeschätzt werden. Und schließlich erregt auch der „George Dandin" unser Mitleid, wenn er entsprechend inszeniert wird. Vom Element der Rührung war schon fast ein Jahrhundert vor Molière in Guarinis Verteidigung der tragikomischen Gattung, dem „Compendio della Poesia Tragicomica" (1599) die Rede gewesen. Hierher gehören auch die mannigfachen Hinweise auf die rührende Wirkung ider Tragödien in Corneilles „Discours". Es hat also fast den Anschein, daß die Tragikomödie, eine Errungenschaft der Renaissance, hei der man sich auf Plautus stützte, der seinen „Amphitruo" eine „tragicocomoedia" genannt hatte, daß also gerade diese Mischform nun gegen Ende des 17. Jahrhunderts wieder zu Ehren hätte kommen können. In der Tragikomödie aber treten die Helden der Tragödie und die „niedrigen Personen" der Komödie im Wechsel auf, und man muß sich sehr hüten, die von Corneille empfohlene Gattung der „Comédie héroïque" oder Molières tragisch anmutende Komödie miit der „Tragicomédie" zu verwechseln. Wichtig war eben bei der Gruppierung der Dramen nicht nur, db tragische mit nichttragischen oder rührende mit nichtrührenden Ingredienzien, sondern auch vor allem, ob Personen höheren mit solchen niederen Standes vermischt waren. Als Gewährsmann für diese Unterscheidungen konnte man etwa Cicero zitieren: „ . . . et in tragoedia comicum vitiosum est, et in comoedia turpe tragicum" 21 ). Die Normen des französischen Klassizismus erlaubten es nicht, daß die Komödie auf dem Kothurn einherschritt oder daß die Tragödie sich mit den Effekten der Situationskomik, und sei es auch nur in Zwischenspielen, aufstutzte. Darum meint auch die sozial abstufende Theorie d'Aubignacs durchaus nicht eine solche Mischform, wenn sie das Schäferspiel in die Ordnung einbezieht. Trotz der zeitlichen Nähe der klassizistischen Reformen und der in der damaligen Philosophie bedingten Freude an regulierender Syste21

) De optimo genere oratorum 1,1 ; vgl. auch Horatius, De arte poetica v. 89.

Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

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matik war schon vor 1700 nicht zu verkennen, daß man neue Wege gehen wollte, um das allgemeine Gefühls- und Gedankengut in anderer Weise für die Schauspiele zu verwenden, als dies nach den antiken und pseudoantiken Gesetzen geschehen durfte. Und wenn die literarischen Theorien .in Frankreich seit einer geraumen Zeit die Bastardformen eingedämmt und ganz verpönt hatten, so war es nur eine Frage der Jahre, wann man wieder — natürlich in abgewandelter Gestalt — auf derartige Mischbildungen zurückkommen würde. Die erste Ahnung von dem, was kommen sollte, hatte vielleicht schon Boursault, als er 1690 seinen „Ésope à la ville" schrieb. Die darin enthaltene stark moralisierende Tendenz muß so großen Anklang gefunden haben, daß er 1701 einen zweiten Teil „Ésope à la cour" hinzufügte. Andere Dichter folgten dem Beispiel. Wir nennen hier nur Mlle. Barbiers und Pellegr.ins Lustspiel „Le Faucon" (1719), von dem die Gebrüder Parfaict melden, es sei im „genre du larmoyant comique" abgefaßt 22 ). Nachdem auch in England seit Steele die rührenden Lustspiele zu einem wichtigen Bestandteil des Theaterrepertoires geworden waren, wagte Destouches den entscheidenden Vorstoß. Sein Stück „Le Philosophe marié", dessen Sujet der Autor selbstkritisch als „tout nouveau et par conséquent hazardé" 23 ) bezeichnete, brachte 1727 die Zuschauer zum Weinen. Stärker als bisher wurden zur Vermittlung moralischer und pädagogischer Gedanken rührende Szenen eingesetzt. Dem großen Ziel, in den Lustspielen die Tugend zu befördern, sind die Mittel adäquat: Neben komischer und pathetischer Rhetorik nehmen die Sentiments einen hervorragenden Platz ein, und die Situationen liefern dazu die brauchbare Folie. Die feine Satire ist von verstehender, jedoch nichts beschönigender Kultiviertheit. Destouches träumte von einem „comique noble et sublime"; dennoch herrschte bei ihm noch die Konvention. Seine Stücke blieben Durchgangsstation, auch und gerade da, wo sie von der hergebrachten Thematik abwichen. Wir nennen als nächste „Les Philosophes amoureux (1729) und „Le Glorieux" (1732). Beide sind wichtige Schrittmacher des Neuen. Es paßt gut hierzu, daß Destouches auch gelegentlich den Begriff „Tragicomédie" verwandte; so versah er das Lustspiel „L'Ambitieux et l'Indiscrète" im Jahre 1737 mit dieser Bezeichnung. Die Begründung: Es spiele unter sehr hochgestellten Personen. Destouches' Lustspiele waren in Frankreich und bald darauf auch in Deutschland außerordentlich beliebt. Die Lehren der bürgerlichen Le22

) Histoire générale du théâtre françois, T. X V , Paris 1749, S. 333. ) In dem Einakter „L'Envieux ou la Critique du Philosophe marié" sagt dies Licandre. 23

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Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

benshaltung ermöglichten und begünstigten die ungewöhnliche Wirkung der ernsten Komödie. Louis Riccoboni schrieb in seinen „Réflexions historiques et critiques sur les différents théâtres de l'Europe" im J a h r e 1737 über die Veränderung, an der Destouches so großen Anteil hatte: „ N o u s voyons naître une espèce de représentation théâtrale dont on peut trouver des modèles dans le théâtre Espagnol, et quelques-uns dans l'Italien; mais les uns et les autres très imparfaits. Il est dans le monde des personnes d'un rang trop peu élevé pour en faire le Héros d'une tragédie, mais aussi dans une situation trop haute pour que l'on puisse les faire descendre à cette espèce de plaisant qu'exige la comédie. On fait représenter à ces personnages une action qui leur est convenable, on fait naître des situations touchantes, et cela peut produire un spectacle charmant, et par suite cette espèce de comédie pourra nuire beaucoup au tragique; mais elle portera insensiblement le spectacle au point où la religion et les bonnes mœurs voudraient le voir. O n ne fait que commencer et ce genre est encore i m p a r f a i t " 2 4 ) . K l a r sind hier bereits die Aufgaben und die Eigenschaften des rührenden Lustspiels umrissen. Vergleichen wir die Beschreibung, die Christian Fürchtegott Geliert 14 J a h r e später von der neuen Gattung machte. Der Deutsche ging darin besonders auf die Studie ein, in denen das rührende Element einseitig dominiert, und behandelte die überall ventilierte Frage nach der Berechtigung des Genres: „ E s ist aber noch eine andre Gattung, an welcher mehr auszusetzen zu seyn scheinet, weil Scherz und Spott weniger darinne herrschen, als die Gemüthsbewegungen, und weil ihre vornehmsten Personen entweder nicht gemein und tadelhaft, sondern von vornehmen Stande, von zierlichen Sitten und von einer artigen Lebensart sind, oder, wenn sie ja einige Laster haben, ihnen doch nicht solche ankleben, dergleichen bey dem Pöbel gemeiniglich zu finden sind. Von dieser Gattung sind ungefehr die verliebten Philosophen des Destouches, die Melanide des la Chaussee, das Mündel des Fagan, und der Sidney des Gressets. Weil nun aber diejenige Person, auf die es in dem Stücke größten Theils ankömmt, entweder von guter Art ist, oder doch keinen allzulächerlichen Fehler an sich hat, so kann daher ganz wohl gefragt werden, worinne denn ein solches Schauspiel mit dem Wesen der K o m ö d i e übereinkomme? Denn obschon meisten Theils auch lustige und auf gewisse A r t lächerliche Charaktere darinne vorkommen, so erhält doch genugsam aus der Ueberlegenheit der andern, daß sie nur der Veränderung wegen mit ein2 4 ) Réflexions historiques et critiques sur les différents théâtres de l'Europe, avec pensées sur la déclamation, Paris 1738, S. 148 ff.

Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

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gemischt sind und das Hauptwerk ganz und gar nicht vorstellen sollen. Nun gebe ich sehr gerne zu, daß dergleichen Schauspiele in den Grenzen, welche man der Komödie zu setzen pflegt, nicht mit begriffen sind; allein es fragt sich, ob man nicht diese Grenzen um so viel erweitern müsse, daß sie auch jene Gattung dramatischer Gedichte mit in sich schliessen können. Wenn dieses nun der Endzweck der Komödie verstattet, so sehe idi nicht, warum es nicht erlaubt seyn sollte?" 25 ) Die von Geliert angeführten Lustspielautoren erscheinen tatsächlich als die für die Entwicklung .der Comédie larmoyante, der besonders empfindsamen Gattung, wichtigsten. Allerdings fehlt der Name Marivaux'. Er ist zwar durch «eine Romane noch berühmter als durch seine Bühnenwerke geworden, aber auch in diesen verwendete er die gleichen, oft rührenden Effekte, die ihn als Romancier auszeichnen. Er achtete auf psychologische Begründungen und detaillierte die seelischen Veränderungen seiner Figuren. Die moralische Seite der Stücke sticht in starkem Maße hervor 28 ). Er, der vielleicht begabteste aller französischen Lustspieldichter nach Molière, errang auf dem Theater große Erfolge; charakteristisch für die Breite seines Talents ist, daß er eine Reihe von hochkomischen Stücken für das Théâtre italien schrieb. Allerdings wurde die unbestreitbare Wirkung auf das Publikum durch die oft dialektisch zugespitzte, ja spitzfindige Eigenheit des Dialogs und der Handlung in Frankreich, mehr nodi in Deutschland eingeschränkt. Da es sich um die praktische Bedeutung des Rührstücks für die Wandlung der Dramen- und besonders der Tragödientheorie handelt, können wir auf die nähere Betrachtung der zweitrangigen Dichter wie Saintfoix, Fagan, Boissy oder Poisson verzichten. Sie alle waren Anhänger einer und derselben gefühlvollen Richtung, indem sie bis zu einem gewissen Grade in ihren Lustspielen tragische Situationen und überhaupt ernste Stoffe bevorzugten. Größere Bedeutung für das rührselige Drama hatten de la Chaussée und Voltaire. De la Chaussée, fast zur gleichen Zeit wie Destoudies schreibend — er starb auch 1754 —, verkörpert die Tendenz zur tragisch gefärbten Form des gemischten Dramas am stärksten und reinsten. Die Kombination der tragischen und komischen Elemente zeigte sidi nun in einer neuen Weise: Bei de la Chaussée agierten nicht mehr wie in der Tragikomödie 25 ) Des Hrn. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel (deutsche Ubersetzung von G. E. Lessing) in: Gotth. Ephr. Leßings Theatralische Bibliothek, Erstes Stück, Berlin 1754, S. 62—64; LM VI S . 4 0 f f . 26 ) Vgl. Kruuse a. a. O. S. 182 ff., 207 ff.

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Die Definitionen des Dramas und die Comédie larmoyante

die hochgestellten u n d die niedrigen Personen nebeneinander oder im Wechsel miteinander, jetzt ließ der Dichter auch nicht wie Corneille in seiner „Comédie héroïque" oder wie M a r i v a u x auf andere A r t in seinem „Le Prince travesti" die lustige Verwicklung sich zwischen H e l d e n v o n R a n g abspielen. Bei de la Chaussées Lustspielfiguren zeigt sich meistens ein wirkliches Schicksal. Manchmal w a r v o n allen Kennzeichen der K o mödie k a u m noch etwas anderes als die soziale Stellung der Personen und das Fehlen eines tragischen Glückswechsels geblieben. D e r I n h a l t der „Mélanide" (1741) v o n de la Chaussée beweist a m besten, wie weit m a n sich im Lustspiel den M o t i v e n u n d den sonst üblichen Gestaltungsformen des Trauerspiels nähern k o n n t e : D i e in dem Stück z u s a m m e n t r e f f e n d e n H a u p t p e r s o n e n sind Mélanide, d a n n ein Marquis, m i t dem Mélanide verheiratet ist, von dem sie aber durch unglückliche U m s t ä n d e getrennt w u r d e — die Ehegatten erkennen sich nicht, da er sie f ü r tot hält u n d einen anderen N a m e n f ü h r t — , als d r i t t e r .der Sohn der beiden, d'Arviane, u n d endlich Rosalie, ein v o m Vater und v o m Sohn umworbenes Mädchen. Rosalie glaubt zuerst aus Liebe zu ihrer M u t t e r den im I n n e r n geliebten d ' A r v i a n e zurückweisen zu müssen, aber es k o m m t , da d ' A r v i a n e nicht weichen will, zu einem Z w e i k a m p f . In der entscheidenden Phase stellt sich zunächst heraus, d a ß der Marquis Mélanides G e m a h l ist, dann gesteht die H e l d i n des Stücks ihrem Sohn, d a ß sie seine M u t t e r sei (was er bisher nicht ahnte), u n d v e r a n l a ß t ihn, den Marquis um Verzeihung zu bitten. Als dieser v o n Mélanides Geschick e r f ä h r t , gewinnt auch er es über sich, seine E h e f r a u u n d seinen Sohn wieder anzuerkennen. Solche rührenden Szenen stehen auch in de la Chaussées „Le Préjugé à la M o d e " (1735) u n d „La fausse A n t i p a t h i e " (1733) nicht mehr nur, wie es bei d e n meisten Stücken des Destouches der Fall ist, im V o r d e r g r u n d ; hier geben sie den Stücken das Gepräge. Edle Schwächen, seelische Schwierigkeiten, Szenen großmütiger Verzeihung, die Irrwege des menschlichen Herzens, die tragischen Folgen der Leidenschaften, alles das gehört z u m I n v e n t a r dieser ernsten Stücke. Sehr oft vermeidet n u r ein Z u f a l l das grausame Ende. Diese letzte tragische Auflösung ides Knotens w i r d allerdings niemals herbeigeführt, u n d so w u r d e deryi die Rührseligkeit zur Lieblingsspeise aller E m p f i n d s a m e n u n d z u m a l der Damen. A u d i Voltaires „ L ' E n f a n t p r o d i g u e " weist einige Kennzeichen des rührenden Lustspiels auf. D a s Stück, das auf das biblische Gleichnis v o m verlorenen Sohn zurückgeht, bringt ernste u n d fröhliche Szenen. Die Personen sind demgemäß gewählt: der als Verschwender d a v o n gegangene u n d arm heimkehrende junge E u p h e m o n , sein e h r e n h a f t e r

Die Definitionen des Dramas und die Comedie larmoyante

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Vater, der „dummstolze" Bruder Fierenfat, Lise, die ihm treu geblieben ist, eine kokette Baronin und Lises poltriger Vater. Voltaire richtet hier nicht, wie das gewöhnlich de la Chaussée tut, seinen Ehrgeiz nur auf die Ausgestaltung der „beweglichen" Auftritte. Im Gegenteil: Voltaire sieht sein Ziel in der gleichmäßigen Verteilung rührender und komischer Elemente. Hören wir einige Sätze aus der Vorrede zur Ausgabe von 1738: „Nous n'inférons pas de là que toute comédie doive avoir des scènes de bouffonnerie et des scènes attendrissantes. Il y a beaucoup de très bonnes pièces où il ne règne que de la gaîté; d'autres toutes sérieuses, d'autres mélangées, d'autres où l'attendrissement va jusq'aux larmes. Il ne faut donner l'exclusion à aucun genre; et si l'on me demandoit quel genre est le meilleur je répondrais: »Celui qui est le mieux traité.«" 27 ) Seit dieser Anspielung auf die Tränen .der Zuschauer nannte man die „Comédie attendrissante" nun mit einem Spottnamen „Comédie larmoyante", was Lessing später mit „weinerliches Lustspiel" übersetzte 28 ). Damit trat auch Voltaire in den Meinungsstreit ein, der sich über die Berechtigung des rührenden Lustspiels in Frankreich erhoben hatte. Zwar leistete er in seinen eigenen Werken durchaus nicht auf das Gefühl Verzicht, aber in Vorreden, Briefen und dergleichen kritisierte er die neuen Stücke, in denen seiner Ansicht nach zuviel Sentimentalität enthalten war. Auf ähnliche Weise übernahm er übrigens für die Tragödie englische Elemente in einer „kalten Reform". Voltaire war, wenigstens theoretisch, in der reinlichen Scheidung der Dramengattungen konservativer als viele seiner Zeitgenossen. Als er im Jahre 1749 die „Nanine" veröffentlichte, die ebenfalls in die Gruppe der rührenden Lustspiele gehört, schrieb er im Vorwort, was er über die Annäherung von Tragödie und Komödie dachte. Beide hätten sich schon seit Mairets und Corneilles Zeiten gegenseitig die wirksamen Züge abgeborgt; das lasse sich in der Diktion vieler Dramen ablesen. Auch jetzt benutze die Tragödie oft .die leichtere Spractie ihrer heiteren Schwester: „Si l'on y prend garde, l'amour, dans beaucoup d'ouvrages dont la terreur et la pitié devraient être l'ame, est traité comme il doit l'être en effet dans le genre comique. La galanterie, les déclarations d'amour, 2T ) Œuvres de Voltaire avec Préfaces, Avertissements, Notes, etc. par M. Beuchot, Paris 1829 ff., T. IV S. 237. Voltaire unterstreicht seine Ansicht mit dem bekannten Ausspruch: „ . . . tout les genres sont bons, hors le genre ennuyeux." (a. a. O. S. 239). M ) Vgl. Lessings Rezension der „Cénie" von Mad. Graffigny in „Berlinische privilegirte Zeitung" 1753, 62. Stück (24. V.); LM V S. 168.

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la coquetterie, la naïveté, la familiarité, tout cela ne se trouve que trop chez nos héros et nos héroïnes de Rome et de la Grèce, dont nos théâtres retentissent; de sorte qu'en effet l'amour naïf et attendrissant dans une comédie n'est point un larcin fait à Melpomène, mais c'est au contraire Melpomène qui depuis longtemps a pris chez nous les brodequins de Thalie" 2 9 ). Voltaires Absicht ist deshalb, die Komödie nie ohne das komische Element zu lassen, sie aber gleichzeitig mit rührenden und zarten Szenen auszustatten. Am Beispiel des Molièreschen „Misanthrope" beweist er: „ L a comédie, encore une fois, peut donc se passionner, s'emporter, attendrir, pourvu qu'ensuite elle fasse rire les honnêtes gens. Si elle manquait de comique, si elle n'était que larmoyante, c'est alors qu'elle serait un genre très vicieux et très désagréable" 3 0 ). Die Gegensätze traten immer deutlicher hervor. Für die Rührstücke und gegen die Argumente Voltaires nahmen mehrere Literaten Partei, als deren Wortführer Fréron gelten kann. In seinen „Lettres sur quelques écrits de ce temps" schreibt er: „Les infortunes des rois «t des héros auront-elles seules le privilège exclusif de nous émouvoir? Lorsque dans le monde on nous fait le récit d'un malheur arrivé à un de nos semblables, nous en sommes quelquefois attendris jusqu'aux larmes. Pourquoi ce malheur ne nous seroit-il pas représenté sur la scène?" 3 1 ) Auf der anderen Seite stand Chassiron neben Voltaire und beikämpfte die Comédie larmoyante heftig 3 2 ). Die Auseinandersetzung über die literarische Würde der Gattung blieb unentschieden. Eines hatte sich jedoch ergeben: Alle Versuche, die traditionellen Gesetze zu verewigen, waren vergeblidi gewesen. Inzwisdien begannen nämlich die Ereignisse die mäßigen Zugeständnisse Voltaires zu überholen. Zwar tat man in Frankreich zunächst noch so, als sei die klassische Theorie unantastbar und als dürfe sich ein echter tragischer Glückswedisel nur in einer Tragödie finden lassen, als könne es nur in einer Ausweitung der Möglichkeiten des Lustspiels für die bürgerliche Gesellschaftsschidit eine Annäherung an die Tragik geben. Aber bald stellte man auch mit dem Trauerspiel Versuche an, und dieser Funke war nicht mehr auszutreten. ) V o l t a i r e a. a. O . I V S. 4. ) ebd. S. 8. 3 1 ) E l i e C a t h e r i n e F r é r o n , L e t t r e s sur quelques écrits d e ce temps, I V , 3. 3 2 ) Lessing druckte C h a s s i r o n s „ R é f l e x i o n s sur le C o m i q u e - l a r m o y a n t " aus d e m J a h r e 1749 im A u s z u g e u n d in deutsdier S p r a c h e in seiner „ T h e a t r a lischen B i b l i o t h e k " (1. Stück, Berlin 1754, S. 7—46) a b : „ B e t r a d i t u n g e n über d a s weinerlich Komische, aus d e m Französischen des H e r r n M . D . C . " 29

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Noch

Die Definitionen des Dramas und die Comidie larmoyante

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einmal triumphierte

de

1751 in der „Cenie"

der Madame

Graffigny die rührselige Lustspielstimmung: Eine Tochter, von der die Mutter nicht weiß, daß sie ihr eigenes K i n d ist, ein Heimkehrer, der vor J a h r e n Weib und K i n d verlassen hatte und nach Ostindien ausgewandert war, schnö-de Erpressungen mit Briefen, die ein alternder G a l a n an einer schwergeprüften Frau begeht, Geständnisse, Wiedervereinigungen, liebevolle Großmut, alles zeigt, daß es sich wieder einmal um ein verhindertes Trauerspiel handelt. Nach unsern heutigen Begriffen m a n gelt der Tragödie nur ein tragischer Abschluß! In dieser A r t entstanden später in Deutschland viele dramatische Familiengemälde.

Immerhin:

Bürgerliche Trauerspiele sind sie allesamt nicht, wenn man nach den damals gültigen Grundsätzen urteilt; in Frankreich jedoch, wo

Tra-

gödien einen glücklichen Ausgang haben durften und wo dem bürgerlichen Stand die Tragödie ein für allemal verschlossen war, konnte man säe wohl als Pendants der großen heroisdien Tragödien bezeichnen. D i e Dramentheorie w a r für eine gründliche Überprüfung reif geworden. Die besorgte der greise Fontenelle, indem er 1751 die Basis der Regeln neuerdings untersuchte. Dabei stellte er eine S k a l a

von

Tönen (terrible, grand, pitoyable, tendre, plaisant, ridicule) auf, die ein D r a m a charakterisieren 3 3 ). Nach ihnen wurden jetzt (ganz im Sinne des Zeitalters der Gefühle) Tragödien und Komödien neu klassifiziert. Eine völlig neue Ausgangsstellung zur Bewertung eines Dramas

war

gefunden, die Begrenzung nach dem sozialen Stand aufgehoben und die unterdessen aufgekommenen Modifikationen gerechtfertigt. H i e r ist, nachdem man bisher eher instinktiv als bewußt die Regeln höchstens angezweifelt und nach Ausweichlösungen gesucht hatte, das Problem der Kriterien an seiner Wurzel angepackt. Seine Klärung sollte die Theoretiker und Praktiker noch geraume Zeit beschäftigen. B a l d darauf schon wagte sich Diderot an eine noch ernstere Gestaltung der bürgerlichen Welt, als man sie bis dahin kannte. Sein Programm brachte —

allerdings zu einer Zeit, die bereits jenseits unserer

Betrachtung

liegt — eine ganze Stufenleiter von Dramen zwischen Komödie und Tragödie. Voltaire hatte nur eine Möglichkeit gesehen, wie sidi die beiden Gattungen berühren könnten, nämlich .in ihren „natürlichen und ungekünstelten Zügen" (traits na'ifs et simples) 3 4 ), Diderot sah dagegen eine Reihe von Nuancen, die das ganze menschliche Leben gestaltend erfassen. Aber in Diderots, Merciers und Beaumarchais' Dramen, um S 3 ) Bernard de Bovyer de Fontenelle, Œuvres complètes, Paris 1818, T. I I I S. 436 S. 3 4 ) Voltaire a. a. O. VI S. 7.

2 Daunicht, Trauerspiel

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Regeln und irreguläre Elemente in der französischen Tragödie

nur die wichtigsten Dichter des bürgerlichen Schauspiels zu nennen, waren Anregungen der „domestic tragedy" verarbeitet. Wie es dahin kam, daß sich auch die französische Trauerspieltheorie wandelte, und wie diese Wandlung geschah, soll im folgenden gezeigt werden. 2. Die klassizistischen Tragödienregeln und die Entwicklung der irregulären Elemente Theorie und Praxis des Trauerspiels wurden von den Veränderungen, die die Anschauungen über das Lustspiel durchmachten, zunächst kaum berührt. Das Hauptaugenmerk der nach Gestaltung neuer Ideen Suchenden richtete sich auf die Komödie; dennoch erkannte man, daß sich auch scheinbar starre oder erstarrte Formen schmelzen oder umbilden ließen. Die nach heutigen Verhältnissen geringen Wandlungen im Bereich der Tragödie wollen indessen sehr sorgfältig untersucht werden. Die Intransigenz der dogmatischen Forderungen, die über die Reinheit der künstlerischen Arbeit wachten, war so stark, daß selbst die geringste Abweichung erkämpft werden mußte, also fast buchstäblich eine „Errungenschaft" war. Zur Diskussion standen dabei zwischen 1650 und 1750 nicht nur nebensächliche Fragen, sondern auch die Probleme, die sich an die Personen, die Handlung in der Tragödie, aber ebenso an die Formgebung des dramatischen Gedichts und an das Ziel der Darstellung knüpfen. Es handelt sich also um einen großen Teil der sogenannten Bestandteile des Dramas, von denen Aristoteles im sechsten Kapitel seiner Poetik spricht. Ausgangspunkt ist für uns das klassizistische Reglement, so wie es sich in Frankreich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausbildete. Zum Repräsentanten wählen wir Pierre Corneilles 1660 erschienene „Discours sur la tragédie", an denen schon Goethe — und nicht er allein — die dramatischen Vorschriften studierte 35 ). Wirklich darf Corneille neben d'Aubiignac und vor vielen anderen als Gesetzgeber des 18. Jahrhunderts in dramaturgischen Fragen angesehen werden, sprach doch in seinen Schriften nicht nur der Theoretiker, sondern auch der Theaterfathmann, der große Dichter, der selbst das Zweifelhafte mancher überspitzter Formulierungen der Nur-Ideologen wohl bemerkte. So ist es nicht verwunderlich, daß um 1750, also zu der Zeit, da in Deutschland die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels SB

) Vgl. Goethes „Dichtung und Wahrheit" gegen Ende des 3. Buches.

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in das entscheidende Stadium trat, auch zum erstenmal Ausgaben der „Discours" in deutscher Sprache erschienen38). Durchwandern wir einmal das Feld der Corneilleschen Tragödientheorie und achten wir 'besonders auf Einzelheiten, die unser Thema betreffen! Was die äußeren Eigenschaften der Personen angeht, so ist dieses Problem im Zusammenhang mit der Komödie angeschnitten worden. Es kann daher auf den ersten Teil dieses Kapitels zurückverwiesen werden. Corneille war grundsätzlich ein Anhänger der Tradition, aber er hielt die übliche Auslegung der Aristotelischen Sätze, wonach n u r Könige und Fürsten die Helden einer Tragödie sein dürften, für fragwürdig. Er erklärte einmal: „Outre que ce n'est pas une nécessité de ne mettre que les infortunes des rois sur le théâtre. Celles des autres hommes y trouveroient place, s'il leur en arrivoit d'assez illustres et d'assez extraordinaires pour la mériter, et que l'histoire prit assez de soin d'eux pour nous les apprendre" 37 ). Ja, er gestand sogar dem großen Gegner des Regelsystems, Alexander Hardy — ohne ihn jedoch namentlich zu nennen! —, zu, daß man, wie dieser es 1604 getan hatte 38 ), das Sujet der Skedasostöchter, von denen Plutarch im 20. Kapitel seines „Pelopidas" erzählt, auf die Bühne bringen könnte. Skedasos aber war ein einfacher Bauer! Natürlich mußten solche Ketzereien Corneilles, der einen Skedasos als Tragödienhelden anerkannte, für die Begründung eines bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert redit wichtig werden. Corneille wagt es auch, bei den inneren Eigenschaften der Tragödienhelden, den Charakteren, eine eigene Meinung vorzutragen. Über die fj9-rj 3B ), den Charakter oder, wie man seinerzeit übersetzte, die „Sit3 6 ) Christlob Mylius' Verdeutschung erschien in den „Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters", Stuttgart 1750. Erstes Stück S. 5 3 — 9 5 . Zweytes Stück S. 2 1 1 — 2 6 5 . Viertes Stück S. 5 4 5 — 5 7 2 . Georg Behrmann (gest. 1756), der Hamburger Dramatiker, ist nach Hans Schröder, Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, Hamburg 1851 ff., Bd. I S. 206 § 3 der Urheber folgender Übersetzung: „Des H . P. C o r neille Gedanken von den Schauspielen übersetzt." (Hamburg o. J.). Ein Exemplar dieser Schrift war nicht zu ermitteln. Vielleicht handelt es sidi bei der 3. Übertragung :„ Des Herrn Peter Corneille Gedanken von den Schauspielen" in den von Johann Matthias Dreyer herausgegebenen Fortsetzungsbänden der „Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes" (Bremen 1748 ff.) um das gleiche Werk. Die Übertragung umfaßt hier nur den ersten Discours und steht im Bd. V (1748) S. 2 2 0 — 2 6 6 .

) Corneille a. a. O. I V S. 264. ) „Scédase ou l'Hospitalité violée". 3 9 ) Vgl. Aristoteles a. a. O. c. 15. 37 38

2*

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Regeln und irreguläre Elemente in der französischen Tragödie

ten" der Helden sagt Corneille: „Aristote leur prescrit quatre conditions: qu'elles soient bonnes, convenables, semblables et é g a l e s . . . Je ne puis comprendre comment on a voulu entendre par ce mot de bonnes qu'il faut qu'elles soient vertueuses. La plupart des poëmes, tant anciens que modernes, demeureroient en un pitoyable état, si l'on en retranchoit tout ce qui s'y rencontre de personnages méchants, ou vicieux, ou tachés de quelque foiblesse qui s'accorde mal avec la vertu" 40 ). Diese Kritik an einer damals überall anerkannten Auslegung des Aristotelestextes 41 ) wurde von Le Bossu42) (1674) und André Dacier 43 ) (1692) in allerdings etwas abgewandelter Form aufgenommen. Sie entspricht in der Wahrung der dichterischen Belange durchaus der von Corneille gleich zu Beginn seines ersten Discours ausgesprochenen Ansicht über den Eigenwert des dramatischen Kunstwerks, der in dem Vergnügen liegt, das dieses hervorruft. Corneille verlangt im Anschluß hieran eine Er- oder Überhöhung, eine gewisse Typisierung der Charaktere, indem er die wenig später bei Aristoteles folgende Stelle, die man meistens als eine Forderung, Tugenden und Mängel auf die jeweiligen Charaktere zu verteilen, betrachtet, anders interpretiert. Le Bossu und Dacier übernehmen übrigens diese Gedanken nicht. Corneille schreibt: „La poésie, dit-il (: Aristoteles :), est une imitation de gens meilleurs qu'ils n'ont été; . . . ainsi les poëtes, représentant des hommes colères ou fainéants, doivent tirer une haute idée de ces qualités qu'ils leur attribuent, en sorte qu'il s'y trouve un bel exemplaire d'équité ou de dureté" 44 ). Vorher hatte er bereits die Laster seines „Menteur" und seine wütende Cléopatre in der „Rodogune" verteidigt. Da glaubte er im Sinne des Aristoteles zu sprechen, wenn er für das Drama „le caractère brillant et élevé d'une habitude vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable à la personne qu'on introduit", forderte 45 ). Alle, auch die lasterhaftesten Charaktere müßten mit einer gewissen „grandeur d'âme" ausgestattet sein. 40

) ) dami 42 ) 43 ) 44 ) 45 ) 41

Corneille a. a. O. IV S. 248. Vgl. Gerard-Jan Vossius: Poeticarum institutionum libri III, Amstelo1647, S. 59 f. Traité du poème épique. La poétique d'Aristote, traduite en françois avec des remarques. Corneille a. a. O. IV S. 249. Corneille a. a. O. IV S. 248.

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Diese Gedanken hätten vielleicht in Verbindung mit anderen D a r legungen, die Corneille von Aristoteles übernimmt, für die Ansichten über die tragischen Helden und damit für die Dramatiker selbst fruchtbar werden können, wenn Corneille nicht mit der „Erhöhung der Charaktere" in einen gewissen Widerspruch zu dem antiken Philosophen und zu sich selbst geraten wäre. Aristoteles fordert nämlich für die Tragödie im 13. Kapitel seiner Poetik die gemischten Charaktere; die Zuschauer könnten f ü r N u r Schurken oder Nur-Tugendhafte weder Mitleid noch Furcht (Definition der Tragödie!) empfinden. Schlechte Menschen dürften in einem Trauerspiel weder den Glückswechsel vom Unglück zum Glück — denn der sei ganz untragisch, noch den vom Glück zum Unglück — der führe in ihrem Falle auch kein Mitleid und keine Furcht herbei, erleben. Ebenso sei auch die Darstellung ganz untadeliger Menschen ausgeschlossen, die unverdient vom Glück ins Unglück geraten. (Den Umschlag, .der guten Menschen unverhofftes Glück bringt, erwähnt Aristoteles aus verständlichen Gründen nicht.) Es gebe drum für die Helden des Trauerspiels nur die Verbindung guter und schlechter Charaktereigenschaften: Der zwischen Tugend und Bosheit in der Mitte stehende Mensch verfalle dem Unglück durch eine Fehlleistung (5i° ¿(xagtiav xi/vd). Das einzige Kriterium f ü r die dramatische Darstellung sei die natürliche oder zumindest potentielle Wahrheit, anders ausgedrückt die Lebensechtheit beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit der Charaktere. Corneille hatte sich ebenso wie die meisten seiner Vorgänger in der Theorie diese im 13. Kapitel der Poetik ausgesprochene Ansicht zu eigen gemacht 46 ). Gleichwohl gelangte er mit einem dialektischen Salto mortale zu einer Möglichkeit, seine Märtyrertragödien wie „Heraclius" oder „Nicom^de", weil sie Erfolg gehabt hätten, für das Theater zu retten 47 ). Lessing hat später im 82. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie als erster auf diese Inkonsequenz aufmerksam gemacht. N u n zu der Lehre von den drei Einheiten! Unter allen Dramengesetzen hat im Laufe des 18. Jahrhundert keines eine solche fast unselige Berühmtheit erlangt wie dieses. Es bezieht sich auf die wichtigen äußeren Eigenschaften des Handlungsablaufs auf der Bühne. Die ö r t lichkeit sollte sich nicht ändern, das zeitliche Nacheinander und die zusammengehörige Fügung der Geschehnisse sollten nicht unterbrochen werden. 46 ) Vgl. Aristoteles c. 9: (pavegov de ex xajv elgtinevcov *ai öxi oii xö xa 7£vo|j.eva \eyeiv, toüto noir)To(i epyov ¿ariv, aXX' oia fiv yevoizo xai xa övvara jtatct tö eixo; fj tö avayxaiov. Ähnlich c. 15: aXoyov öe juiöev etvai Iv xotg rtßdyjiaffiv . . . " ) Corneille a. a. O. IV S. 268. 271.

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Corneille bekennt sich zwar zu diesen sogenannten Einheiten der Zeit, des Ortes und der Handlung und hält sie bei der Tragödie für unbedingt verbindlich, aber er ist in ihrer Auslegung nicht pedantisch und stimmt für gelegentliche Abstriche. Aristoteles hatte, vor allem im 7. und 8. Kapitel der Poetik, die Einheitlichkeit als notwendiges und selbstverständliches Attribut der dramatischen Handlung mehrfach betont und auf die Verknüpfung, die innere Verbindung hingewiesen: xEÏtai Ô' f|jxtv tt|v TQaycpöiav retata; xaì oXt]ç Jtçàlecoç eïvai |ìÌ|xt]chv êxovariç ti niyeftoç48) und weiter: xqt| oiv, xaôàjieg xaì èv xaîg aXXaiç |ii[iT]uxaïç f] (lia (xijxr|aiç évôç èati, ovtco xaì tòv |iüdov ènei jtçalecog (xi^Tjaig ècru, |xiâç te eivai xaì xaiixr|ç oXt|ç4'). Über die Einheit der Zeit schreibt Aristoteles nichts vor; er sagt nur, als er Tragödie und epische Dichtung vergleicht: f| (lèv 0 TQaycpôia :) oti HÓXtcrea jteiQätat lutò |xiav jteçioôov r)Xiov elvai i) (uxqòv è|aXXâTTEiv, f| 6è (: èjiojtoiia :) àôçioxoç xù /qóvoj, xaì toìjtcp ôiacpÉçovaiv5®). Auch von der Einheit des Ortes spricht Aristoteles höchstens implicite; sie scheint sich jedoch aus der Anwesenheit des Chores auf der griechischen Bühne zu ergeben. Die attischen Tragödiendichter haben sich tatsächlich im allgemeinen an die drei Einheiten gehalten, zumal „die Beschaffenheit der griechischen Bühne . . . eine Zerfaserung der Handlung in kleine Szenen auf verschiedenen Schauplätzen oder mit weiten zeitlichen Zwischenräumen" ausschloß51). Dennoch wechselt der Ort der Handlung zum Beispiel in den „Eumeniden" des Aischylos und in Sophokles' „Aias", und der „Prometheus" des Aischylos kann sich unmöglich in ein paar Stunden abspielen. Nach den griechischen Vorbildern und Vorschriften verkündete Castelvetro wohl als erster in seinem Aristoteleskommentar von 1576, den er seiner italienischen Übersetzung beigab, die Lehre von den drei Einheiten. Ein Jahrhundert später etwa widmete ihnen Corneille, nachdem Mairet (1604—1686) sie in Nachfolge des Italieners Trissino in die französische Dramatik eingeführt hatte, seinen dritten Discours „sur les trois unités d'action, de jour et de lieu". Die Einheit der Handlung sieht Corneille beim Lustspiel in der „unité d'intrigue, ou d'obstacle aux desseins 'des principaux acteurs" 52 ), beim Trauerspiel in der „unité de péril . . . soit que son héros y suc) Aristoteles a. a. O. c. 7. ) Aristoteles a. a. O. c. 8. ^ Aristoteles a. a. O. c. 5. 5 1 ) Robert Petsch, Wesen und Formen des Dramas, Halle a. S. 1945, S. 236. 5 2 ) Corneille a. a. O. IV S. 295 f. 48

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combe, sait qu'il en sorte" 53 ). Er gibt Richtlinien für die Verwicklung und Lösung des Knotens. Man erkennt deutlich, daß er die genaueste Bindung an das dramatische „Grundgesetz", das die Einheit der Handlung darstellt, fordert, auch wenn er „plusieurs périls" erlaubt 54 ). Er erklärt dazu: „ . . . ce mot d'unité d'action ne veut pas dire que la tragédie n'en doive faire voir qu'un sur le théâtre. Celle que le poëte dioisit pour son sujet doit avoir un commencement, un milieu, et une fin; et ces trois parties non seulement sont autant d'actions qui aboutissent à la principale, mais en outre chacune d'elles en peut contenir plusieurs avec la même subordination" 55 ). Zu ähnlichen Folgerungen gelangt Corneille auch bei der Betrachtung der beiden anderen Einheiten. Ja die Verpflichtung des Diditers gegenüber den Regeln gehe so weit, daß Unwahrsdieinlichkeiten in Kauf genommen werden sollten. „L'obéissance que nous devons aux règles de l'unité de jour et de lieu nous dispense alors du vraisemblable, bien qu'elle ne nous permette pas l'impossible" 58 ). Dennoch meint Corneille, daß man unter Umständen einer Erweiterung des Orts und der Zeit das Wort reden müsse57). Seiner „Rodogune" zum Beispiel genehmigt er drei verschiedene Schauplätze und plädiert überhaupt für Toleranz: „Je tiens donc qu'il faut cherdier cette unité exacte autant qu'il est possible; mais comme elle ne s'accommode pas avec toute sorte de sujets, j'accorderois très volontiers que ce qu'on feroit passer en une seule ville auroit l'unité de lieu. Ce n'est pas que je voulusse que le théâtre représentât cette ville tout entière, cela seroit un peu trop vaste, mais seulement deux ou trois lieux particuliers enfermées dans l'enclos de ses murailles" 58 ). Auf gleicher Stufe stehen seine Erkenntnisse über die Zeitvorschrift, nadi der sich die Vorgänge eines Dramas innerhalb von 12 beziehungsweise 24 Stunden abspielen müßten: „La représentation dure deux heures, et ressembleroit parfaitement, si l'action qu'elle représente n'en demandoit pas davantage pour sa réalité. Ainsi ne nous arrêtons point ni aux douze, ni aux vingt-quatre heures, mais resserrons l'action du poëme dans la moindre durée qu'il nous sera possible, afin que sa représentation ressemble mieux et soit plus parfaite" 5 9 ). Man solle da53

) ) 55 ) M ) 57 ) 58 ) 59 ) 54

Corneille Corneille Corneille Corneille Corneille Corneille Corneille

a. a. O. IV a. a. O. IV a. a. O. IV a. a. O. IV a. a. O. IV a. a. O. IV a. a. O. IV

S. 296. S. 296. S. 296. S. 286. S. 309 f. S. 311. S. 306.

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her am besteil die Dauer der Handlung niemals ausdrücklich festlegen, sondern es der Meinung des Zuschauers überlassen, was er darüber denke 60 ). Die Darlegungen Corneilles sind ein Beispiel dafür, wie großzügig selbst die engherzigsten Regeln von dem interpretiert werden konnten, der sich anscheinend den Ausspruch des Horaz zu eigen machte: Veniaim damus petimusque vicissim. Corneille war davon überzeuge, daß die meisten seiner Stücke nicht der „äußersten Regelstrenge Genüge leisten" konnten. Aber er stand zu seinen Übertretungen. Er bemühte sich nach Kräften, die Gesetze zu beobachten, aber er gewährte sich und anderen auch die vielzitierte „poetische Freiheit", die in seinem Falle die Freiheit des Genies war. Zur Ordnung des Inhalts gehören die Gliederung in fünf Aufzüge und die Verknüpfung aller Auftritte. Während Aristoteles über die Akteinteilung nichts vorschrieb, gab Horaz mit Rücksicht auf den allgemeinen Gebrauch an: „Neve minor neu sit quinto produetior actu Fabula, quae posci vult et spectata reponi" 61 ). Diese Lehre wurde von d'Aubignac und anderen französischen Theoretikern weiterverbreitet, während zum Beispiel die Italiener sich nicht an sie banden und für nur drei Akte eintraten. Das zweite Gesetz (über die Verknüpfung) inaugurierte Corneille selbst. Wenn alle Personen im Drama sich kennen, wenn jeder mit jedem etwas zu tun hat, so ist das nach seiner Erkenntnis ebenso ein Merkmal eines guten Stückes wie die ununterbrochen fortlaufende Verbindung aller Szenen miteinander. Diese Technik soll den inneren Anschluß möglichst auch äußerlich aufzeigen. Unterschieden werden Verbindungen des Geräusches, des Gesichtes, der Gegenwart beziehungsweise der Unterredung. Corneille sagt darüber: „La liaison des scènes qui unit toutes les actions particulières de chaque acte l'une avec l'autre, et dont j'ai parlé en l'examen de la Suivante, est un grand ornement dans un poëme, et qui sert beaucoup à former une continuité d'action par la continuité de la représentation; mais enfin ce n'est qu'un ornement, et non pas une règle" 62 ). Die antiken Dramatiker hatten eine derartige Szenenbindung nicht gefordert; nadi Corneille allerdings wurde sie vielen zum künstlerischen Göbot. ®°) Corneille a. a. O. IV S. 307. ) D e arte poetica v. 189 f. 62 ) Corneille a. a. O. IV S. 298. 61

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Endlich bleibt noch die Vorschrift zu erwähnen, die auf den Gewohnheiten des griechischen Theaters fußte und mit Horaz („nec quarta loqui persona laboret") 83 ) nicht mehr als drei oder vielleicht vier Personen in einem Auftritt miteinander zu reden erlaubte. Corneille hält sich zwar an sie, so wie er sich an die Akteinteilung hält, geht aber in den „Discours" nicht ausdrücklich auf sie ein. Neben dem rein Artefiziellen der Tragödienkomposition beschäftigt sich Corneille mit dem eigentlichen Inhalt der Handlung oder der Fabel. Was sollte, was durfte dargestellt werden? Die einzige Bedingung, die Aristoteles an tragische Stoffe stellt, ist in seiner Definition der Tragödie angegeben; im neunten Kapitel der Poetik spricht er von „Vorgängen, die Furcht und Mitleid erregen" (cpoßEQa y.ai ê^ÉEiva). Aus allem übrigen, was er hin und wieder mitteilt (vgl. auch das über die Charaktere der Helden Gesagte), geht hervor, daß Heldensagen die Unterlage für die Tragödien bilden sollten. Corneille schließt sich hier den allgemein anerkannten Grundsätzen der Antike an: Als Stoffe gelten ihm und den anderen französischen Theoretikern solche, die, unter Berücksichtigung der sonstigen Vorschriften, aus geschichtlichen oder halbgeschichtlichen, ja mythischen Vorgängen gewonnen werden. Diese Anschauung umfaßt das ganze vielschichtige Gebiet der dramatischen Sujets und erlaubt ohne Diskriminierung das Nebeneinanderbestehen politischer und persönlicher Verwicklungen, wie ja schon von alters her die privaten Themen immer gleichberechtigt gewesen sind. Als Kriterium der Handlung gilt, wie bereits zur Frage der Tragödienhelden bemerkt wurde, die Wahrscheinlichkeit. Wir müssen dabei etwas verweilen. Corneille will, wo es nötig ist, die Wahrscheinlidikeit zugunsten der Regeln aufgeben, andererseits erlaubt er keine ganz unmöglichen Vorgänge und Verknüpfungen. Er kann sich auf Aristoteles stützen, der für jede Dichtung und besonders für die Tragödie die innere Übereinstimmung mit der Wahrheit postuliert 64 ). Nach Corneille soll sich der Vorgang auf der Bühne bis zu einem gewissen Grade dem Zuschauer gewissermaßen als echter Vorgang darstellen; es soll eine Identifikation des Aufgeführten mit dem in der Dichtung Geschilderten so 63

) D e arte poetica v. 192. ) Second discours la tragédie, et sur les moyens de la traiter selon le vraisemblable ou le nécessaire, a. a. O. IV S. 262 ff. Zu Aristoteles vgl. oben Anm. 46. 64

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weit erreicht werden, daß das Publikum das Theatergeschehen nicht nur für wahrscheinlich, sondern auch f ü r wahr hält. Wenn Darstellung und Wirklichkeit auch niemals kongruent werden können, wenn die Decke immer an irgendeiner Stelle zu kurz sein wird, so wird dadurdi trotzdem nichts von der Forderung nach möglichst natürlicher Wiedergabe fortgenommen. Allein die Urteile, was unter der „ N a t u r " zu verstehen ist, ändern sich mit den Zeiten. Abgesehen davon, daß das Wesen einer Dichtung eigenen Gesetzen gehorcht und sich nur in übertragenem Sinne in eine Beziehung zur N a t u r bringen läßt, so dürfte es sehr sdiwierig sein, einen einzigen Nenner f ü r den Begriff „realistische Darstellung" zu gewinnen. Alles kommt darauf an, wie weit man mit dem Willen des Dichters mitgehen kann. Aristoteles sagt schlicht: âïlà TOÜTO ôiatpéçEi, TÔ TÔV |xèv t à YEvôjiEva Xéyeiv, TÔV ôè oïa fiv yévoiTO. ôiô xaî cpdoaocpcüTEQOv xai ajtouôaiôxEQOv jioiriaiç ÎCTTOQÎaç èotiv®5). Corneille erklärt das Wahrscheinliche als „une diose manifestement possible dans la bienséance, et qui n'est ni manifestement vraie ni manifestement fausse" 69 ). „ N i manifestement vraie" — das b e t r i f f t die objektive Darstellung auf der Bühne; „ni manifestement fausse" — das geht auf die innere Wahrheit des Dargestellten. Wer Corneilles Grundsatz getreu die Dramen auf ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt hin prüfte, konnte kaum umhin, in den Apartes, den beiseitegesprochenen Sätzen, und in den Monologen der Schauspielfiguren sehr wirklichkeitsferne Erscheinungen zu entdecken. So standen denn auch diese dramatischen Partien, obwohl nur wenige Dichter ohne sie auszukommen versuchten, in keinem hohen Ansehen; d'Aubignac verbannte sie vollends. Die Wahrscheinlichkeitsforderung richtete sich aber natürlich außer auf die Darbietung des Inhalts vor allem auf den Inhalt selbst. Das f ü r die Aufklärung typische Mißtrauen gegenüber allen übernatürlichen Vorgängen (soweit sie nicht durch religiöse Tradition sanktioniert waren) hatte zur Folge, daß auf einer Bühne schlechthin unmöglich war, was an Zauberei oder Gespensterglauiben erinnerte. O b zwar Corneille diese Sachlage nicht ausdrücklich bespricht, ist sie unbestreitbar: Das Gefühl der Überlegenheit gegenüber der Welt des Mittelalters und das Vertrauen auf das Wissen und die Erkenntnis schlössen eine Toleranz in diesen Dingen aus. Aber auch die Schauspielkunst 65 86

) Aristoteles a. a. O. c. 9. ) Corneille a. a. O. IV S. 289.

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wurde dadurch in Mitleidenschaft gezogen; Darstellungen, die bei einem Teil der Zuschauer ungenügende Illusion erzeugten oder sogar zum Lachen reizten, waren, wenn man sie schon nicht ganz verwarf, zumindest fragwürdig. Die vielleicht wichtigste Besonderheit der Definition des Wahrscheinlichen lag in dem Wort „bienséance". Der Sinn war, daß sich der Anstand als Voraussetzung oder Attribut der Wahrscheinlichkeit etabliert hatte, und daß alles, was sich nicht schickte, als unwahrscheinlich von dem Theater verbannt wurde. So hat die Bindung der Wahrscheinlichkeit an die Gesetze der Moral für das Drama schwerwiegende Folgen gehabt. Der Bereich des auf der Bühne Möglichen (weil Erlaubten) mußte sich noch mehr einengen. Diese Folgerungen, die sich aus Corneilles Definition ergeben, sind nie genug beachtet worden, wenn man sich später an eine Beurteilung der damaligen Gepflogenheiten machte. Wenn die Stoffe nur unter gewissen Vorbehalten für die Bühne brauchbar waren, so bedeutete das die Einschaltung eines Filters, dessen Stärke jetzt nicht mehr genau kontrolliert werden kann. Man hat als Ursache für die Kombination des Moralbegriffs mit der Wahrscheinlichkeitsforderung wohl die Vorstellung anzusehen, daß in der Wirklichkeit fast alle menschlichen Handlungen sittlichen Gesetzen unterworfen sind und daß eine Nachahmung dieser Handlungen auch ihre sittlichen Eigentümlichkeiten abzubilden habe. Zum Teil ist dafür die Antike verantwortlich. Da Aristoteles' êjtieixr)ç67) nicht ohne weiteres mit „schicklich" oder „anständig" übersetzt werden kann und darum als erste Definition der dramatischen Dezenz zweifelhaft ist, da auch seine Forderung nach Wahrheit nicht hierhergehört, darf Horaz als Vorgänger Corneilles gelten: „ . . . non tarnen intus Dignat geri promes in scaenam multaque tolles Ex oculis, quae mox narret facundia praesens. Ne pueros coram populo Medea trucidet, Aut humana palam coquat exta nefarius Atreus" 68 ). Die Liste der gemäß der Anstandsregel auf der Bühne unerträglichen Dinge reicht von Lästerungen und ruchlosen Handlungen sowie Gewaltverbrechen bis hinab zu Zweideutigkeiten und einzelnen anstößigen 9T 68

) Aristoteles fordert (a. a. O. c. 15) für den Charakter „Angemessenheit". ) De arte poetica v. 182 ff.

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Worten, die „bey gewissen Leuten stärker ins Gehör fallen, als bey andern" 69 ). Beispiele mögen das erläutern. Hierbei müssen wir, da Corneille nur selten auf die Frage des Anstandes näher eingeht, auch andere, zumal deutsche Belege heranziehen, um das Regelsystem zu ergänzen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich auf dem europäischen Festland die Ansichten von der Schicklichkeit wenn nicht völlig glichen, so doch sehr ähnelten. Der Tod auf der Bühne war schon aus Gründen der Wahrscheinlichkeit im allgemeinen indiskutabel; denn wie konnte er überhaupt realistisch genug dargestellt werden? Aber auch die Vorschriften des Anstands verboten allzudeutliche Sterbeszenen. N u r dort, wo unbeschadet der Sittlichkeit der Tod gezeigt werden konnte, durfte es eine Ausnahme geben. Ein Mord jedenfalls war von vornherein als Gewalttat zu entsetzlich, als daß man seinen Anblick den Zuschauern hätte zumuten können. Audi der Selbstmord verstieß natürlich gegen die Religion, und erst als stoische Gedanken in der Popularphilosophie Verbreitung fanden, konnte ein Cato auf der Bühne erscheinen. Daß Corneille seinen Polyeuct nicht vor allen Leuten auf dem Theater sterben ließ, hatte folgenden Grund: „. . . der Dichter konte dieses ohne die grösten Schwürigkeiten nicht thun. Die Zuschauer geben auf den Stich, Schlag und jede Bewegung so genau Achtung, daß ein geringer Umstand ihnen die ganze Handlung unwahrscheinlich zu machen, und das lebhafte in der Vorstellung zu zernichten fällig ist" 70 ). In Corneilles „Horace" ermordet der junge Titelheld seine Schwester, als ihm diese, anstatt ihn zu seinem Siege zu beglückwünschen, vorhält, daß er ihren Liebhaber getötet hat. Da Corneille den Mord nicht auf offener Bühne vorstellen kann, muß Horace der Schwester über den ganzen Schauplatz folgen, bis er sie hinter der Szene umbringt. Der Kritiker bemerkt, es sei besser, wenn der Dichter die Untat aus Übereilung geschehen lassen hätte: „Hier ist aber gerade das Gegent h e i l . . . Ich gestehe es, eine solche That öffentlich zu begehen, würde

6ft ) Mit diesen Worten kritisiert Johann Jacob Dusch in seinen „Vermischten Kritischen und Satyrischen Schriften" (Altona 1758) „einige Ausdrücke" in Lessings „Miß Sara Sampson"; vgl. Julius W. Braun, Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen, Bd. I, Berlin 1884, S. 83. 70 ) Vermischte Critisdie Briefe (von D. H . Thomas und J. E. J. Dahlmann anonym veröffentlicht), Rostock 1758 S. 157.

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ein grosser Uebelstand gewesen seyn, und in den Herzen der Zuschauer allzuviel Schrekken erreget haben; allein wäre es nicht besser gewesen, diese That zu übergehen, oder wenn sie dem Dichter nothwendig wäre; dieselbe bey einer bequemen Gelegenheit durch eine dritte Persohn erzählen zu lassen?" 71 ) Zu der Ortseinheit also ein weiterer Grund für die häufigen Teichoskopien in den klassizistischen Dramen! Corneille meint, es sei deshalb nicht angängig, die dramatisierte Geschichte der Skedasostöditer öffentlich vorzustellen, weil die „Reinheit" der Bühne nicht gestatte, von der Gewalttat an den beiden Mädchen zu reden; nicht einmal bei einer Heiligen sei der Gedanke an eine Schändung den Zuschauern erträglich gewesen 72 ). Auch der bekannte Fall der Ohrfeige im »Cid" gibt über den Sittenkodex der Bühne Aufschluß. Der würdige alte Diego erhält von dem Großsprecher Gormas eine Backpfeife (I, 3). Wie unglaublich! Das Absurde solcher Realinjurien unter Fürsten schien bei dieser Szene für das Publikum auf der Hand zu liegen. Voltaire bemerkt dazu: „On ne donnerait pas aujourd'hui un soufflet sur la joue d'un héros. Les acteurs mêmes sont très embarrassés à donner ce soufflet; ils font le semblant. Cela n'est plus même souffert dans la comédie, et c'est le seul exemple qu'on ait sur le théâtre tragique. Il est à croire que c'est une des raisons qui firent intituler le Cid, tragi-comédie" 73 ). In einem solchen Falle drohte die Unschicklichkeit leicht in Lächerlichkeit umzuschlagen. Die Zuschauer amüsierten sich. „Sie wissen, wie sehr wir oft über die tragische Ohrfeige im Cid gelacht haben", lesen wir in Löwens „Schreiben an einen Freund, die neuste englische Schaubühne betreffend" aus dem Jahre 1752 74 ). Auf diese Weise war jedes Vergehen gegen die guten Sitten in Gefahr, peinlich zu wirken. So erklärt Corneille, daß der Cid, nachdem er den Vater der Chimene umgebracht hat, nicht gleich von der Heirat mit der Geliebten reden dürfe; das sei unmoralisch 75 ). Andere Ärgernisse sah man schon bei Gelegenheiten, da heutzutage niemand etwas Zweifelhaftes vermuten würde, etwa wenn Frauen einen Schritt vom „Erlaubten" weg taten: „Unsre Sitten würden es nicht leiden, daß 71

) ebd. S. 158. ) Corneille a. a. O. IV S. 265. 7S ) Corneille a. a. O. I S. 488. 74 ) Hamburgische Beyträge zu den Werken des Witzes und der Sittenlehre, Erstes Stück, Hamburg 1753, S.480; vgl. auch LM X S. 17. 75 ) Corneille a. a. O. IV S. 244. 72

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30 ein

unverfieyrathet

Frauenzimmer

auf

dem

Sdiauplatze

in

einer

Tragödie einige Sehnsucht bezeige, verheyrathet zu s e y n " 7 6 ) . Wieviele Sittenlosigkeiten waren dadurch denkbar! Unmöglich, sie alle anzuführen! D e n strengen Maßstab, der damit a n den „guten

Ton"

auf dem Theater gelegt wurde, erkennt man aus einer kurzen

Auf-

zählung eines ungenannten Kritikers aus dem J a h r e 1 7 5 5 : „ I n einem Trauerspiele müssen vornehmlich alle zu niedere Redensarten so wohl als im Heldengedichte vermieden

werden. D i e W o r t e

und

Redens-

arten z. E . Gaul; vertuschen; äffen; fein höhnisch! Es ist meine Sache nicht; in die Pfanne hauen; u. d. g. sind unerträglich in der tragisdien Dichtkunst" 7 7 ). Es ist nun noch von dem zu sprechen, was Aristoteles die Xéïjiç und die ôiâvoia, also das „Spradiliche" und das „Gedankliche" der Tragödie nennt 7 8 ). D i e Diktion des Trauerspiels wird nach seiner Lehre von der künstlerisch gewürzten Sprache gekennzeichnet: \èya> ôè f)ôvo(i.évov (ièv Xôyov TÔ

ôià



Exovta çi)d(iôv x a l dQjxoviav xaî (iétçov,

(XÉTQCÛV



ôè

XWQÎÇ TOÎÇ

gïôeai

evia (lôvov jtepaiveaôai x a i Jtodiv ë t e ç a ôià (jiXouç 78 ).

Wirklich konnte anscheinend für einen Tragödiendichter nichts selbstverständlicher sein als eine dem ernsten Inhalt angemessene gehobene Sprache. Dies Gesetz hat wohl kaum Widerspruch gefunden, allerdings war man sich über den Begriff der „dichterischen Sprache" nicht immer ganz einig. Das hängt zum größten Teil mit dem Versproblem

zu-

sammen. Aristoteles gab als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal

der

Tragödie gegenüber dem Epos das dem letzteren zukommende einheitliche Versmaß an. Für die Tragödie empfiehlt er J a m b e n 8 0 ) . Corneille unterstreicht die Meinung der mit Aristoteles übereinstimmenden T h e o retiker: „La diction dépend de la grammaire . . . là-dessus, sinon que la langage

J e n'ai rien à dire

doit être net, les figures placées

à

propos et diversifées, et la versification aisée et élevée au-dessus de la prose, mais non pas jusqu'à l'enflure du poëme épique" 8 1 ). Seltsamerweise

verband man

aber

in Frankreich

den Begriff

der

künstlerischen Sprache in der Tragödie mit dem Begriff des gereimten Alexandriners, und alle Trauerspiele erschienen damals und noch lange Zeit danach in dem gleichen Gewände. Corneille verhielt sich

ganz

7 6 ) Joh. Elias Schlegels Werke, Erster Theil, hrsg. von Johann Heinrich Schlegeln, Kopenhagen und Leipzig 1762, S. 410. 7 7 ) Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens V. Bd. (25. Stüde) 1755 S. 157. 7 S ) Aristoteles a. a. O. c. 6 und 19. 7 9 ) Aristoteles a. a. O. c. 6. 8 0 ) Vgl. Aristoteles a. a. O. c. 24. 8 1 ) Corneille a. a. O. IV S. 253.

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konservativ, das zeigen seine Stücke. Aber es bedurfte später doch nur geringer Überlegungen, daß manche Dramatiker unter Berufung auf die Natur von dieser Einseitigkeit abrückten. Das an sich sehr •wichtige Problem der Wirkung der Tragödie auf die Zuschauer — hier geht es um die unmittelbare und die mittelbare, um die beabsichtigte und die tatsächliche Wirkung — dieses Problem wird zwar in dem zu betrachtenden Zeitraum auch schon von vielen Seiten beleuchtet, aber für die Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels hat jede Auseinandersetzung hierüber nur sekundäre Bedeutung. Corneille geht über die Katharsis 82 ), aus der im Lauf der Zeit eine ethische Streitfrage wurde, mit verhältnismäßig kurzen Ausführungen hinweg. Er sagt zum Beispiel: „Ainsi ce que j'ai avancé dés l'entrée de ce discours, que la poésie dramatique a pour but le seul plaisir des spectateurs, n'est pas pour l'emporter opiniátrément sur ceux qui pensent ennoblir l'art en lui donnant pour objet de profiter aussi bien que de plaire" 83 ). Dieser Konzilianz, die sich auch mit dem nicht heroischen Trauerspiel verträgt, scheint das „Et prodesse volunt et delectare poetae" des Horaz zugrundezuliegen; denn Corneille leugnet die Nützlichkeit des Dramas nicht. Von den seelischen Reaktionen, die sich bei den Zuschauern ergeben, sollte allein das Phänomen der Rührung für das bürgerliche Trauerspiel wichtig werden. Mit den Worten „Soyons amis, Cinna", hatte der edle Augustus in Corneilles berühmter Tragödie seinem Gegner verziehen 84 ). An diesem Beispiel der Großmut orientierte man sich später wie an einem Leitgedanken. Man erblickte in der Rührung eine Gemütsäußerung, die zwar in jeder Tragödie erreicht werde, die aber besonders dem bürgerlichen Trauerspiel angemessen sei und eine Entsprechung zu der Bewunderung im heroischen Trauerspiel bilde. Corneille selbst gebraucht „touchant" und „toucher" öfters in seinen „Discours", und wahrscheinlich erhielt von hier aus das deutsdie Wort „Rührung" seine besondere Nuance und ein immer stärkeres Gewicht, so daß 1754 das lateinische „commovere" (Geliert) mit „rühren" wiedergegeben werden konnte 85 ). Im 17. Jahrhundert hatte man noch nidit, wenn man die Wirkung bestimmter Szenen kennzeichnen wollte, von „rühren", sondern von „bewegen" gesprochen, und auch Gottsched 82

) Vgl. die aristotelische Tragödiendefinition a. a. O. c. 6. ) Corneille a. a. O. IV S. 237. 84 ) V, 3. 85 ) Gellerts Schrift „Pro comoedia commovente", Lipsiae 1751, wurde von Lessing als „Abhandlung für das rührende Lustspiel" übersetzt; s. oben Anm. 25. 8S

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verwendete in seinem Kapitel von dein Trauerspiel in der „Critischen Dichtkunst" nur die Ausdrücke „Mitleid erwecken", „zum Mitleid bewegen", auch da, wo ihn ein Horazzitat zu einer Übersetzung des Wortes „tetigisse" hätte veranlassen können 86 ). Bald aber lernte man, den französischen Dramatikern und der Zeitmode folgend, immer besser die Differenzierungen im seelischen Bereich erkennen und schildern, man betonte die Sentiments, die verschiedenen Abstufungen der zärtlichen und starken Gefühle, und man hielt in Tragödien diejenigen Stellen, an denen das Mitleid hervorgerufen werden sollte, für die entscheidenden eines Dramas. Alle Schauspielregeln zusammen stellten den Dichtern ein Idealziel, eine Fiktion vor. Ihr Kennzeichen war, daß sie nur Annäherungslösungen erlaubten. Darum scheint vielen dieser Dramen, in denen die Geschehnisse in wenigen Stunden konzentriert sind, etwas Gezwungenes anzuhaften — diesen Eindruck kann auch die Hochachtung vor der technischen Leistung nicht verwischen. Die Versudie, die Handlung eines Trauerspiels der Wirklichkeit am Ort der Aufführung gemäß einzurichten und oft weit auseinanderliegende Begebenheiten zu verknüpfen und zusammenzudrängen, hatten das erstaunliche Resultat, daß gerade derartig aufgebaute Dramen manche Wünsche nach größerer Wahrscheinlichkeit offen ließen. Es gab ja entsprechend der Doppelnatur des Dramas als theatralischer Vorstellung und als abgebildeter Wirklichkeit zwei Wege, die in einer Aufführung erreichte Wahrscheinlichkeit zu beurteilen. Einmal konnte man darauf Wert legen, daß die zugrundeliegende Handlung (zum Beispiel ein geschichtlicher, obwohl dichterisch gestalteter Vorgang) an die Wahrscheinlichkeit der nur wenige Stunden umspannenden Vorstellung angepaßt wurde, zum andern konnte man die Vorstellung an die zugrundeliegende Wirklichkeit angleichen. Eine Verschiebung der geistigen Standorte mußte audi verschiedene Ansichten über die poetische Qualität eines Dramas nach sich ziehen. Abgesehen davon aber brachte oft schon die exakte und schematische Durchführung aller Gesetze eine gewisse Sterilität der dramatischen Handlung (Botenberichte!) mit sich. Wie hätte es sonst geschehen können, daß nur wenige Schriftsteller, die sich haargenau an die spröden Regeln hielten, einen Erfolg hatten? Das bekam d'Aubignac mit seinem ruhmlosen Tragödien „Zénobie" und „La Pucelle d'Orléans" zu 86

) Gottscheds Lebens- und Kunstreform in den zwanziger und dreißiger Jahren, hrsg. von F. Brüggemann (Deutsche Literatur, Smlg. lit. Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen, Reihe Aufklärung Bd. I), Leipzig 1935, S. 48.

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spüren; sie galten noch hundert Jahre später als Musterbeispiele, „qu'il ne suffit pas d'entendre parfaitement les règles d'un Art pour réussir, et que le goût est au-dessus de toute méthode" 87 ). Während nun einzelne pedantische Überspitzungen der klassizistischen Theorie in der Praxis sehr bald zurückgenommen wurden, verloren Corneilles Anschauungen als Ganzes lange Zeit hindurch nicht an Einfluß, da sie auch auf die inneren Schwierigkeiten des Regelsystems eingingen, bis sie endlich freieren Gedanken weichen mußten. Ein weiter und umständlicher Weg von der Blütezeit des Schematismus um die Mitte des 17. Jahrhunderts bis zu den vom englischen Stil beeinflußten Tragödien Voltaires oder gar zu den Schauspielen Diderots! Bei den Abtrünnigen, den Häretikern der Theorie findet man die in die Zukunft weisenden Gedanken. Da stellte als einer der ersten Charles de Saint-Evremond einige Lehren auf, die den Anhängern des gültigen poetischen Systems nun und nimmer gefallen konnten: Schon spürte man Anklänge an englische Auffassungen. Wenn auch dieser Einfluß aiuf .die französische Dichtkunst später noch viel stärker angewachsen ist — davon wird noch die Rede sein —, so ist doch Saint-Evremond ein wichtiger Vorläufer in der Verwendung angelsächsischer Vorbilder. Ein paar seiner Lustspiele, „Sir Politick Would-be" und „La Femme poussée à bout", wollten den fremden Geschmack auf dem Festland beliebt machen. Saint-Evremond, der seit 1661 mit Unterbrechungen in England lebte, setzte sich aber auch in theoretischen Arbeiten nach Kräften für eine vernünftigere Anschauung ein, als sie seine Zeitgenossen ihm zu haben schienen. Er hörte nicht auf, vor den Folgen übertriebener Starrheit zu warnen; jegliche Reglementierung und angeblich philosophische Rubrizierung der Dichtkunst machten ihm Pein. Als er in den 1677 veröffentlichten „Réflexions sur les tragédies", in denen er sidi als Schüler Corneilles offenbarte und dessen Stücke über die der Italiener und Engländer setzte, an den üblichen Dramen seiner Epoche Kritik übte, kam er auf das Kernproblem aller regelmäßigen Dramatik zu sprechen: „En effet ce qui doit être tendre n'est souvent que doux; ce qui doit former la pitié fait à peine la tendresse; l'émotion tient lieu du saisissement, l'étonnement de l'horreur; . . . Il manque à nos sentiments quelque chose d'assez profond; les passions à demi touchées n'excitent dans nos âmes que de 87 ) de Mouhy, Tablettes Dramatiques, contenant l'Abrégé de l'Histoire du Théâtre François..., Paris 1752. („Les Auteurs": S. 2).

3 Daunlcht, Trauerspiel

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mouvements imparfaits, qui ne savent ni les laisser dans leur assiette, ni les enlever hors d'elles mêmes" 88 ). Darum lehnte es Saint-Evreinond ab, Regeln von vornherein anzuerkennen: „Ii faut convenir que la Poétique d'Aristote est un excellent ouvrage: cependant il n'y a rien d'assez parfait pour régler toutes les nations et tous les siècles"89). Ähnlich hieß es 1677, als er über das englische Lustspiel schrieb: „Ii faut aimer la règle, pour éviter la confusion; il faut aimer le bon sens qui modère l'ardeur d'une imagination trop allumée; mais il faut ôter la règle toute contrainte qui gêne, et bannir une raison scrupuleuse, qui par un trop grand attachement à sa justesse, ne laisse rien de libre et de naturel" 90 ). Inzwischen hatte der Geist der freiwilligen Unterwerfung unter das Regelsystem die französische Tragödie zu einem neuen Höhepunkt geführt. In Racine erfuhr die klassizistische Kunst zum zweitenmal seit Corneille eine großartige Bestätigung. Wiederum war bewiesen, welche Kräfte in den Vorschriften gebändigt werden konnten. Und dennoch fanden die gnadenlosen Methodiker an diesen Dramen mancherlei auszusetzen. Daß Racine die Liebe, eine private Leidenschaft, zum bewegenden Element seiner Stücke gemacht hatte, nahmen sie ihm übel. Pater Porée sdirieb in einer „Rede über die Schauspiele", daß durch ihn „die Einheit der Handlung", die „Wahrheit der Sache", die „Wahrscheinlichkeit", die „Mannigfaltigkeit sowohl in der Einrichtung als Auszierung unterschiedener dramatischer Gemähide", kurz, die „Strenge der Grundgesetze der Schaubühne" verloren gegangen sei91). Vom Jahre 1691 datieren Fontenelles „Réflexions sur la Poétique". Sie wurden zwar erst viel später veröffentlicht 92 ), beweisen aber bereits für diese Zeit, daß man sich in bestimmten Kreisen immer kritischer mit einigen Stellen der Theorie zu befassen begann. Fontenelle glaubt, daß dort, wo ein Kunstwerk trotz seiner Unregelmäßigkeit gefällt, eine unbekannte Regelmäßigkeit die Ursache ist 93 ). Außerdem 88 ) Œuvres, Amsterdam 1739, T. III S. 260; vgl. auch Voltaire, Des divers changements arrivés à l'art tragique, und Lessing, Hamburgisdie Dramaturgie, 80. Stück. 89 ) Œuvres a. a. O . I I I S. 287; „De la tragédie ancienne et moderne" (1672). 90 ) Œuvres a. a. O. III S. 319. M ) Des berühmten Französischen Paters Poree Rede von den Schauspielen, Ob sie eine Schule guter Sitten sind, oder seyn könnten? übersetzt. Nebst einer Abhandlung von der Schaubühne, herausgegeben von Joh. Friedrich Mayen, A. M., Leipzig 1734, S. 37 f. Sie erschienen zuerst 1742. 93 ) Fontenelle a. a. O. III S. 119 f.

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hält er manche Regeln überhaupt für willkürlich oder gar für überflüssig. Die Einheit der Zeit sei zwar die bekannteste und werde in fast allen Dramen beobachtet, aber einem streng logisch sichtenden Verstand genüge diese dennoch nicht: Weshalb also solche Regeln? Die Menschen nähmen derlei allerdings gerne an, obgleich sie es oft nicht verständen. Die Einheit des Ortes werde besser befolgt; doch sei auch sie willkürlich, w.ie das Beispiel der Opern zeige. U n d endlich, was die Vorschriften betreffe, eine Tragödie in Versen und in fünf Akten zu schreiben, so müsse es im Ermessen des Autors liegen, ob er sich nach ihnen richten wolle oder nicht 94 ). K a u m eine Generation später, im Jahre 1719, trat der Abbé Dubos mit „Réflexions critiques et historiques sur la poésie et sur la peinture" hervor. Dieses in der französischen Kunstbetrachtung epochemachende Werk gehört in die große Auseinandersetzung über die Wertung der Antike, die sich damals auf allen kulturellen Gebieten bemerkbar machte. Dubos, gleichzeitig Altertumsw.iss,enschaftler und Ästhet, Schöngeist und Philosoph, nahm beiläufig den Meinungsstreit über das D r a m a unter die Lupe. Seine Ansidit über gereimte Tragödien: „ L a nécessité de rimer est la règle d e l a poésie dont l'observation coûte le plus et jette moins de beautés dans les vers. L a rime estropie souvent le sens du discours et elle l'énerve presque toujours" 9 5 ). 1728 mischte sich ein Praktiker des Pariser „Théâtre italien", Louis (Luigi) Riccoboni, ein halber Ausländer, in die Unterhaltung über den Wert der dramatischen Regeln. In zwei Schriften, der „Histoire du Théâtre italien . . . avec une dissertation sur la tragédie moderne" und dem Lehrgedicht „Dell' arte rappresentativa", erwies er sich z w a r nicht als grundsätzlicher Gegner der französischen Klassik, wohl aber übte dieser Schauspieler, der einer andersartigen Tradition entstammte, eine wohlbegründete Kritik. Er tat es, indem er die Einheit des Ortes im D r a m a nur so lange anerkannte, als sie die Wahrscheinlichkeit nicht beeinträditigte, umgekehrt also wie bei Corneille. Auch der Reim war ihm nicht ganz geheuer 9 6 ). Riccoboni fand natürlich Widersacher, aber man muß es als ein Zeichen für den Wandel der Zeit ansehen, daß ein J e a n Baptiste Rousseau in seinem „Lettre à M. Riccoboni" (1729) wenigstens bis zu einem gewissen G r a d e an die Seite des Angegriffenen trat 9 7 ). ) Fontenelle a. a. O. III S. 26 f. ) a. a. O. (Paris 1719) I S. 325. 9 6 ) Vgl. Louis Riccoboni dit Lélio, Histoire du théâtre italien . . ., et une dissertation sur la tragédie moderne, Paris 1728, S. 284 und 319. 9 7 ) Correspondance, Société des textes français modernes 1910 I S. 298. 94

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Buffier in seiner „Suite de la grammaire française" wiederum schlägt im Jahre 1728 für eine Tragödie aus Gründen der Komposition eine kürzere Dauer als die obligaten fünf Akte vor. Drei seien genug für Exposition, Verwicklung und Lösung des Knotens. Von den Vorschriften über die Orts- und Zeiteinheit denkt er ähnlich wie Riccoboni: „. . . on a vu beaucoup de belles tragédies où iil est difficile de trouver l'observation exacte de l'unité de lieu; et à dire le vrai, pourvu que la diversité fût comme imperceptible, et que l'esprit de l'auditeur ne fût point obligé à faire réflexion qu'on le transporte violement contre toute apparence d'un lieu à un autre, il pourrait se prêter lui-même à divers lieux, en .différents actes, comme il se prête en général au lieu où le poète le suppose dans la suite de la pièce" 98 ). Der wichtigste Frondeur gegen die Regeln erstand in Houdart de la Motte. Schon 1707 hatte er in seinem „Discours sur la poésie" eine natürliche Schreibweise gefordert"). Aber hier war nur angedeutet worden, was er später näher ausführte. Seine vier Tragödien, die seit Anfang der zwanziger Jahre entstanden und von denen die zweite, „Inès de Castro", mit außergewöhnlichem Beifall aufgenommen wurde, sind nicht gar zu revolutionär, wenn man von Neuerungen wie die in der „Inès de Castro", Kinder auf die Bühne zu bringen, absieht. Die als „Paradoxe" bezeichneten Abhandlungen La Mottes aber, die er seinen Tragödien vorausschickte, kann man getrost als umwälzend ansehen. Besonders der erste und der vierte (letzte) Discours enthalten eine glänzende Kritik an der dominierenden Norm. Nachdem er zunächst den Komplex Handlung-Charaktere nach den inneren Eigenschaften erörtert und auf sein Verhältnis zur Geschichte und auf seinen Wahrscheinlichkeitsgehak geprüft hat, gelangt er zu seinem eigentlichen Anliegen. Die Behandlung der dramatischen Einheiten wird ihm Anlaß zu neuen Vorschlägen. Zuvörderst sei es nötig, endlich die wichtigste aller Einheiten, die „Einheit des Interesses" an die erste Stelle zu setzen. Die herkömmlichen drei seien dagegen weniger bedeutend: „Loin que l'unité de lieu soit essentielle, elle prend ordinairement beaucoup sur la vraisemblance" 100 ). 9S ) Claude Buffier, Suite de la grammaire françoise sur un plan nouveau, ou Traité philosophique et pratique de poésie, Paris 1728, T. II S. 98. 99 ) Œuvres de Monsieur Houdar de La Motte, T. I, 1 Paris 1754, S. 26. Zu La Motte vgl. außerdem: Eliel Aspelin, Lamottes Abhandlungen über die Tragödie verglichen mit Lessings Hamburgischer Dramaturgie, in: Zschr. f. vergl. Litteraturgeschichte ( N . F.) Bd. X I I I S. 272 ff. und: Gerhard Dost, Houdar de la Motte als Tragiker und dramatischer Theoretiker, Diss. Leipzig 1909, S. 101. 10 °) Discours à l'occasion des Machabées; Œuvres a. a. O. IV S. 38.

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Es sei also nicht natürlich, daß alle Teile einer Handlung in demselben Räume oder an demselben Platze vor sich gehen. N u r mit Hilfe von vielfachen wahrscheinlich gemachten Zufälligkeiten, auf Grund von wohlüberlegten Vorbereitungen bringe man verschiedene Personen an demselben Ort zusammen, damit sie dort in einem bestimmten Augenblick, je nach dem Bedürfnisse der Verwicklung, Dinge tun und sagen, die anderswo hätten gesagt und getan werden müssen 101 ). Die heute kurios anmutende, damals aber allgemeine Ansicht, die Zuschauer rührten sich ja nicht von ihren Plätzen, also könnten sie auch an keine Veränderung auf dem Theater glauben, wird von ihm mit dem Hinweis auf die Bühnenpraxis und die Oper abgetan; es habe noch niemals an Illusion gemangelt 102 ). Bei .der Einheit der Zeit habe man aus praktischen Überlegungen heraus für die Entwicklung so mannigfacher und wichtiger Charaktere einen kleinen Spielraum zugestanden. Die strenge Verwirklichung dieser Regel 'ist aber nach seinen Worten kurzsichtig und tinvernünftig. Man möge nur zugestehen, daß zum Beispiel zwei oder drei Tage zwischen zwei Akten verstrichen sein sollten; das seien noch lange keine Fehler. Wieder bringt er die Oper als Beweismittel für seine These von der „Tyrannei der Regeln" an. Zur Abschreckung mittelmäßiger Talente seien die Gesetze jedoch erforderlich, nur auf ihrer unbedingten Herrschaft solle man nicht bestehen 103 ). Und die letzte Einheit, die der Handlung? Sie könne nur dann richtig sein, wenn sie, wie gesagt, zuerst einmal Einheit des Interesses sei. Zuviele Nebenpersonen müsse man vermeiden: Dann gefalle diese größere, übergeordnete Einheit schon an sich, während die drei Einheiten allein betrachtet die Zuschauer nicht erwärmen könnten 104 ). An anderer Stelle verlangt La Motte von der Diktion «des Trauerspiels naturwahre Wandlungsfähigkeit; Antithesen und ein manierierter, spitzfindiger Ausdruck werden von ihm abgelehnt. Sei der Stil sublim, heroisch, pathetisch oder einfach — immer komme es darauf an, daß der Dichter natürlich bleibe. Das heißt, daß die Personen im Drama nicht auf andere Weise reden dürften, als die Natur den Menschen eingebe, welche in einer bestimmten Lage von ihrer Leidenschaft bewegt würden 105 ). 101

) ) 103 ) 104 ) 105 ) 102

ebd. La Motte a. a. O. IV S. 38 f. La Motte a. a. O. IV S. 39 f. Vgl. La Motte a. a. O. IV S. 44. Vgl. Aspelin a. a. O. S. 24.

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Besonders eifrig kämpfte La Motte zeit seines Lebens gegen das Vorurteil, daß die Verifikation im allgemeinen z.ur Poesie und im besonderen zum Trauerspiel notwendig sei. Unermüdlich behauptete er, daß der Alexandriner dem Schriftsteller nur einen Zwang auferlege 108 ). Seine Meinung zu begründen, löste La Motte die erste Szene von Racines „Mithridate" in Prosa auf und kam in einem Vergleich dieser Umformung mit dem Urtext zu dem Schluß, daß die prosaische Fassung viel schöner sei 107 ). Leider hat er den Beweis nicht ganz zu Emde geführt. Er wagte nicht, völlig mit der Vergangenheit zu brechen; denn alle seine Stücke sind, wie es die Regel wollte, in Versen. N u r eines, den „Œdipe" (1726), schrieb er in Prosa nieder, ehe er es versifizierte. Die nachher auch gedruckte Prosafassung wurde nie auf die Bühne gebracht. Die Anerkennung dieses Experiments durch d'Alembert, de la Chaussée und Tournemines vermochte aber noch immer nichts gegen die öffentliche Ansicht 108 ). Die Prosatragödie blieb zunächst eine Episode. Andere Vorschläge La Mottes erregten nicht so großes Aufsehen. Wenn er die Tragödie gemäß der klassizistischen Oberlieferung den Königen und Helden vorbehält, so ist dies nur wenig konservativer als die Bemühung, die alteingeführten Anweisungen über Charaktere und Handlung im Drama ebenfalls mit Natürlichkeit zu impfen. Er lobt die Rührung als wichtiges Element bei allen Vorgängen. Von den Charakteren gilt nach ihm der Satz, daß sie natürlich, interessant und konsequent sein müßten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, daß er ganz schlechte Charaktere zwar ebenso wie ganz gute gestattet, aber doch meint, das Sicherste sei, Tugenden und Schwächen zu mischen109). Mit Corneille hält La Motte den belehrenden moralischen Zweck der Tragödie für zweifelhaft. Für seine Gesamthaltung ist ein Urteil über die englische Bühne kennzeichnend. Wie schon bei anderen hören wir auch hier die Ansicht, daß das französische System zu revidieren sei: „La plupart -de nos Pieces ne isont que des dialogues et des récits; et ce qu'il y a de surprenant, c'est que l'action même qui a frappé l'Auteur et qui l'a déterminé à choisir son sujet, se passe presque toûjours derriere le Théâtre. Les Anglois ont un goût tout opposé. On dit qu'ils le portent à l'excès, cela pourrait bien être: car il y a sans doute des actions qui loe ) La Motte a. a. O. IV S. 392 ff., 439 ff. („Discours sur la tragédie à l'occasion d'Œdipe" und „Suite des réflexions sur la tragédie"). 107 ) Œuvres a. a. O. IV S. 397 ff. 108 ) Dost a. a. O. S. 98 f. Vgl. La Motte a. a. O. IV S. 390 ff. 109 ) La Motte a. a. O. IV S. 278 ff. (Discours sur la tragédie à l'occasion d'Inès).

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ne seraient pas bonnes à mettre sous les yeux, soit par la difficulté de l'exécution pour les rendre vrayes, soit par l'horreur des objets représentés. Par le premier défaut les actions les plus sérieuses deviennent puériles et comiques, par le second elles sont odieuses et ne feroient qu'accoutumer les cœurs à la cruauté. Mais, en supposant une fois ces défauts évités, combien d'actions importantes que le Spectateur voudrait voir, et qu'on lui dérobe sous prétexte de règle, pour ne les remplacer que par des récits insipides, en comparaison des actions mêmes: car il faut le dire en passant, ces récits sont sujets à bien des inconvéniens. Tantôt pour suppléer à la présence des objets, ils sont trop enflés et trop Poëtiques; et il semble alors que le Poëte se soit réservé ce morceau de parade, et qu'il prenne la place de celui qui raconte: tantôt ils sont trop circonstanciés et trop exacts par rapport à la passion de celui qui écoute, et qui ne s'intéresse qu'à ce qui le regarde. Quelquefois, pour se réduire à l'important, on ne leur donne pas l'étendue que demanderait la ouniosité du Spectateur. Mettez les actions, à la place des récits, la seule présence des Personnages va faire plus d'impression que le récit le plus soigné n'en pourrait faire" 110 ). Während zur selben Zeit die „Comédie attendrissante" immer mehr Anhänger gewann, während sich in der Einschätzung des Gefühls ein folgenschwerer Umschwung vollzog, suchte das Gros der französischen Tragödienschrai'ber vor diesen Tatsachen die Augen zu verschließen. Man trat in der — vielleicht paßt der Ausdruck — offiziösen Dramatik auf der Stelle. Die Trauerspiele der meisten Dichter, ob sie Pradon, Campistron, Pellegrin oder La Grange-Chancel hießen, waren konventionell und sahen sich alle ähnlich. Goethe tat sie später kurz und bündig als „Parodien von sich selbst" ab 111 ). Man beschränkte sich auf geringe, vorsichtige Änderungen in der Anlage, im Kreis der Personen oder wagte, wenn es hoch kam, neue Themen für die Fabel. Obwohl man erkannte, daß jeder Schritt nach vorn in Neuland vordringen mußte, konnte man nicht über den eigenen Schatten springen. Voltaires Warnung vor dem „genre ennuyeux" 112 ) war vergeblich: Wie sollte man der Scylla entgehen, ohne in die Charybdis der Regellosigkeiten zu fallen? Voltaire wußte sicher, welche Gefahr sich in einem Epigonentum barg. Er wollte deshalb kein bloßer Nachahmer serin. In vielen theoretischen Schriften und in seinen Stücken selbst suchte er nach einem Aus110

) La Motte a. a. O. IV S. 183—185 (Discours sur la tragédie à l'occasion de Romulus). ul ) Zum Schäkespears Tag (1771). 112 ) Vgl. oben Anm. 27.

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•weg und strebte danach, die verkrustete Formenstarre zu lösen unid die Sterilität der Dramatik zu beseitigen, ohne ganz aus der von den verehrten Mustern sanktionierten Vorstellungswelt auszubrechen. Racine erschien ihm als klassisches Ideal -und das (dramatische Kunstwerk als edler, mathematisch berechenbarer Bau. Immer schwebte ihm ein durdi moderne Anschauungen modifiziertes Wunschbild des ewigen Formengesetzes vor Augen: ein Kompromiß zwischen den Alten unid den Neuen, bei dein die Vorteile nicht nur der Konvention wegen auf der Seite der eraeren lagen. So bewegte er sich auch da, wo er Neuerungen anbrachte, im vorgeschriebenen Kreise. Seine Lebensarbeit zeugt davon. In die Zeit Voltaires fällt die Auseinandersetzung des französisdien mit dem englischen Geschmack, deren erste Anzeichen schon hei SaintEvremond und La Motte festzustellen waren. Sie gibt nicht nur dem Schaffen Voltaires, sondern auch der ganzen Epodie das Gepräge und ist aus der kulturellen Entwicklung nicht mehr wegzudenken. Da sie zur Regelaufweichung viel beitrug, haben wir uns jetzt mit ihr zu beschäftigen. Als de la Fosse 1698 eine Umarbeitung von Otways „Venice preservad" als „Manlius Capitolinus" auf die französische Bühne brachte, war das nur ein Vorspiel. Der ständige Kontakt der beiden benachbarten Völker, gefördert durch die Emigrantenbewegungen der Hugenottenzeit, rief gleichsam nach einer Assimilierung des Gedankengutes, das dank der großartigen geistigen Entwicklung auf der englischen Insel im Laufe des 17. Jahrhunderts die Bewunderung Europas erregte. Die britische Form der Freiheit, britische Philosophie und britische Dichtung und Wissenschaft hatten eine Umwälzung im Geistesleben herbeigeführt. Ob es sich um Newton oder Milton, ob es sich um Shaftesbury oder Pope handelte, niemand konnte mehr an den großen Dingen vorübergehen, die jenseits des Kanals Aufsehen machten. Die Unterschiede in den religiösen Bekenntnissen waren kaum ein Hindernis. Wen überrascht es, daß auch das französische Theater schließlich von dem fremden Geschmack profitieren wollte und daß manche sich von dem lebendigeren Stil eine Befruchtung der eigenen Dürre erhofften? In England hatte der Klassizismus Corneilles und Raaines zwar in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Eingang und Anklang gefunden; dodi selbst Dryden oder Addison blieben trotz ihrer Zugeständnisse an das Dogma und die heroische Tragödie Frankreichs der eigenen Überlieferung treu. Ganz in der Weise ihrer früheren großen Dramatiker beharrten die englischen Trauerspieldichter bei den alten Stoffen und Charakteren und verzichteten nie auf Episoden, Sensa-

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tionen und auf das gewisse Etwas, das man als „extravagance of thought" bezeichnete und das den Ausländern so wunderlich erschien113). Ohne Zweifel kamen die Ausdrucksweise und der englische „humour" im Drama den in diesen Dingen empfindlichen Franzosen als krasse Ungebührlichkeit vor. Um wieviel mehr mußte ihnen nicht die Tatsache unverständlich sein, daß Mord und Selbstmord immer, auch während der Vorherrschaft der Alexandrinertragödien, auf der Bühne erlaubt waren! Und nun erst gar die unregelmäßigen Stücke, in denen die drei Einheiten mißachtet wurden! Auf dieser Bühne erlebte das bürgerliche Trauerspiel eine neue Blüte. In England hatte sich die beliebte Blankverstragödie auch anderer Gebiete bemächtigt als nur des engumgrenzten Kreises traditioneller Fürsten. Hier war das Milieu der „kleinen Leute" nicht allein komischen Verwicklungen vorbehalten. Dafür sorgten bereits die Trauerspiele Shakespeares; sie verschwanden nie vom Spielplan, und als Alexander Pope 1725 und nach ihm der Schauspieler Theobald neue Ausgaben des größten englischen Dichters veranstalteten, war das nur ein Ausdruck für 'die dauernde Anteilnahme, die das Volk für den „Schwan von Avon" empfand. Seat 1734 mehrte sich die Zahl 'der Shakespeareaufführungen sogar ständig. „Romeo und Julia" oder „Othello" können mit Recht als eine Art von bürgerlicher Tragödie gelten 114 ), es ist also leicht zu erklären, warum man immer wieder auf das große Vorbild blickte und aus dem gewaltigen Fundius seiner Charaktere und Szenen, aus 'der genialen Kraft seiner Gestaltung schöpfte. Di« Mittelstanidstragödien „Anden of F-eversham" und „Yorkshire Tragedy" aus Shakespeares Tagen waren ebenfalls nicht vergessen, als man sich mm die Lehr« von 'den drei Einheiten bemühte. So kam es, daß auch im 18. Jahrhundert noch das eine oder andere dieser Stücke, die man als „domestic tragedies" 'bezeichnete, in den Repertoires erschien. Seit 1680 gehörte Otways „The Orphan" zu ihnen, seit 1704 „The Rival Brothers" von einem unbekannten Autor, und 1714 wurde Rowes „Fair Penitent" veröffentlicht — um nur die wichtigsten jener Jahre herauszugreifen. 1721 schrieben dann Hill und Mitchell nach der alten „Yorkshire Tragedy" ein Trauerspiel in Blank113 ) An Examen of the New Comedy call'd The Suspicious Husband, London 1747 (zitiert nach Kruuse a . a . O . S. 166). 114 ) Sie wurden audi von der literarischen Kritik um die Mitte des 18. Jahrhunderts so verstanden: „. . . so muß man Romeo und Julie, und Othello von Shakespear, und verschiedene Stücke von Beaumont und Fletdier zu den bürgerlichen Tragödien rechnen." (Unterhaltungen V, 4 (1768), S. 311; „Ueber das bürgerliche Trauerspiel"). Vgl. unten S. 262 und Anm. 247.

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versen: „The Fatal Extravagance" 115 ). Es handelt von einem Verschwender, der, nachdem er seinen Gläubiger im Duell getötet hat, auch seine eigene Schwester und sich selbst 'Umbringt. Über dem Stück liegt das Drückende eines unentrinnbaren Schicksals. Zehn Jahre später ein bedeutsames Ereignis. 1731 spielte man in London zum erstenmal George Lillos „George Barnwell or The Merchant of London": Ihm war die größte europäische Wirkung unter allen bürgerlichen Trauerspielen beschieden. Das Drama schildert in dichterischer Prosa die Untat des Kaufmannslehrlings George Barnwell, der von der Tochter seines Prinzipals Thorowgood heimlich geliebt wird, aber in die Fänge der Milwood, einer Buhlerin, gerät. Um Geld für diese zu bekommen, bestiehlt er erst seinen Dienstherrn, idann ermordet er sogar seinen alten Onkel. Das geschieht in der Mitte des Stücks. Die zweite Hälfte enthält die Aufdeckung der Verbrechen und die harte Bestrafung, nachdem Maria, die unschuldige Liebhaberin Barnwells, ihm in rührseliger Szene ihre Neigung offenbar hat. Die stark aufgetragene Moral und die in manchen Einzelheiten schwarz und weiß gezeichneten Charaktere neben andern Fehlern in der Handlungsführung haben nicht verhindert, daß der „Kaufmann von London" ungeheuer wirkte. Die Zuschauer ließen sich gern von dem kriminalistisch-gefühlvollen Spiel, das nach einer älteren Ballade gestaltet war, fesseln. Sie stimmten dem Verfasser bei, der im Vorwort z,u seinem Stück gesagt hatte: „What I wou'd infer is this, I think, evident truth; that tragedy is so far from losiing its -dignity, by being accommodated to the circumstances of the generality of mankind, that it is more truly august in proportion to the extent of its influence, and the numbers that are properly affected by it. As it is more truly great to be the instrument of good to many, who stand in need of our assistance, than to a very small part of that number" 116 ). Eine zum „Merchant of London" parallelgerichtete Ausprägung der Zeitgedanken bildet Charles Johnsons ebenfalls in Prosa geschriebene pathetische „Caelia" vom Jahre 1732. Genau wie Lillo vernachlässigt auch Johnson die Einheiten und den kleinlichen Moral- und Wahrscheinlichkeitsikanon. Das Drama hat die tragischen Folgen einer Verführung zum Gegenstand. Hier spielt sich zwischen Caelia und Wrong1 1 5 ) Allardyce Nicoll, A history of English drama, Cambridge 1952, II 3 , S. 119. 1 1 6 ) The London Merchant or the history of George Barnwell and Fatal Curiosity by George Lillo, ed. by Adolphus William Ward, Boston, U.S.A., and London 1906, S. 3 f.

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love das gleiche Geschehen ab, wie es Richardson später in seiner „Clarissa" gestaltete" 7 ). Von Lillo stammt weiter „The Fatal Curiosity" (1736), v o n H e w i t t „The Fatal Falsehood" ; weitere ähnliche Stücke folgten. Den vorläufigen Abschluß der Entwicklung bildete 1753 Edward Moores „The Gamester", in dem der Verfasser das Sujet des verschwenderischen Spielers tragisch bearbeitete. Die meisten dieser bürgerlichen Dramen kamen zu echten Theatererfolgen. Und doch dauerte die Vormacht der Gattung in England nicht lange. Seiine künstlerische Höhe erreichte das bürgerliche Trauerspiel nun in Frankreich und Deutschland. Die französischen Dichter und Literaten, die, wie Destouches, Montesquieu, Voltaire oder Prévost, selbst in England waren, erkannten die Tendenz der Entwicklung. Insbesondere war der Zug zum englischen Tragödienstil nicht aufzuhalten. Konnte man ihn verlangsamen oder steuern? Nun, man fing an, sich ihm anzupassen, indem man zuerst einmal englische Dramen auf französische Leisten schlug und indem man für die englischen Sonderformen Verständnis weckte. Destouches bearbeitete ein Stück aus Shakespeares „Sturm", Prévost beschrieb die angelsächsischen Verhältnisse in mehreren Romanen und rührte in einer vielgelesenen Zeitschrift, dem „Le Pour et le Contre" (1733—1740) auf dem Kontinent die Trommel für die Briten. Die Bewegung breitete sich aus: Aus dem Anglicisme wurde eine Anglomanie. Voltaire selbst war einerseits bereit, vieles von den Bühnengewohnheiten, mehr noch von den dichterischen Schönheiten der Engländer zu übernehmen, anderseits aber konnte er nie weitherzig die Regelwidrigkeiten entschuldigen; so lag es in hohem Maße an seinem Ansehen, daß der englische Einfluß nicht zu stark wurde und sidi später sogar wieder eindämmen ließ. Zunächst aber genügten Voltaires wiederholte Äußerungen über das poetische Genie Shakespeares und einiger anderer britischer Dramatiker sowie über die Stücke Voltaires selbst, in denen er mit einigen gewagten Effekten paradierte, daß der Lauf der Dinge beschleunigt wurde. „Ces pièces", schrieb er 1734 in der französischen Übersetzung seines schon 1727 englisch erschienenen „Essai sur la poésie épique" über die Dramen Shakespeares, „sont des monstres en tragédie. Il y en a qui durent plusieurs années; on y baptise au premier acte le 117 ) Bezeichnend, daß audi Lessing für sein erstes bürgerliches Trauerspiel, „Miß Sara Sampson", Johnsons „Caelia" weitgehend benutzte; vgl. Paul Albrecht, Lessing's Plagiate, Hamburg und Leipzig 1890 ff. §§ 887. 894—896, und Paul P. Kies, The Sources and Basic Model of Lessing's Miß Sara Sampson, in: Modern Philology X X I V (1926) S. 65 if.

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héros, qui meurt ide vieillesse au cinquième; on y voit des sorciers, des paysans, des ivrognes, des ¡bouffons, ides fossoyeurs qui creusent une fosse, et qui chantent des airs à boire en jouant avec ides têtes de mort. Enfin imaginez ce que vous pourrez de plus monstrueux et de plus absurde, vous le trouverez dans Shakespeare" 118 ). Er, Voltaire, habe es zuerst nicht verstehen können, wie die Engländer, eine aufgeklärte Nation, einen solchen „ausschweifenden" (extravagant) Dichter bewundern könnten 119 ). (Damit spielte er auf die vielen lobenden Äußerungen der bekanntesten zeitgenössischen englischen Dichter über Shakespeare an, von denen die im 592. Stück des „Spectator" nur eine ist.) Dann habe er jedoch erkannt, (daß man auch in England die „fautes grossières" ihres berühmten Landsmannes sehe: „ . . . mais ils sentaient mieux que moi ses beautés, d'autant plus singulières que ce sont des éclairs qui ont brillé dans la nuit la plus profonde. Il y a cent oinquante années qu'il jouit de sa réputation. Les auteurs qui sont venus après lui ont servi à l'augmenter plutôt qu'ils ne l'ont diminuée. Le grand sens de l'auteur de Caton (: Addison :), et ses talents, qui en ont fait un secrétaire d'état, n'ont pu le placer à côté de Shakespeare. Tel est le privilège du génie d'invention: il se fait une route où personne n'a marché avant lui; il court sans guide, sans art, sans règle; il s'égare dans sa carrière, mais il laisse loin derrière lui tout ce qui n'est que raison et qu'exactitude" 120 ). Diese Sätze Voltaires, die eine klare Huldigung an Shakespeares Geist enthalten, geben den Tenor an, mit dem man in Frankreich damals und später bemüht ist, sich die Vorzüge der englischen Dichtung anzueignen. Man weiß trotz aller Anerkennung immer um die Distanz zwischen den Standorten. Man will sie nicht vertuschen. Aber man will auch von dem Partner lernen. Denn die französische Tragödie verdiene durchaus noch manche Verbesserung. In Frankreich sei die Tragödie „pour l'ordinaire une suite de conversations en oinq actes, avec une intrigue amoureuse. En Angleterre, la tragédie est véritablement une action; et si les auteurs de ce pays joignaient à l'activité qui anime leurs pièces un style naturel, avec 'de la décence et de la régularité, ils l'emporteraient bientôt sur les Grecs et sur les Français" 121 ). Warum also nicht das dargebotene Gute benutzen, warum nicht von dem dichterischen Genie profitieren und es verschönern, indem man es in Verse kleidet und den Regeln anpaßt? 118

) ) 120 ) 121 ) 119

Œuvres a. a. O. X S. 241. ebd. ebd. S. 421 f. ebd. S. 405.

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Voltaire erlebte in den Londoner Theatern mit einigem Erstaunen die Beliebtheit Shakespeares. 1736 verwandte er des Engländers „Julius Caesar" für seine Tragödie „La Mort de César". Dann benutzte er den „Othello" für die „Zaïre", den „Macbeth" für den „Mahomet" und den „Hamlet" für die „Sémiramis". In unzähligen kleinen Veränderungen, die das französische Drama an eine größere Natürlichkeit heranführen sollten, läßt sich der stetige Prozeß der Assimilation belegen. Wenn es auch manchmal nur darum ging, ob man den Tod eines Menschen auf der Bühne zeigen dürfe oder ob ein sich ebendort produzierender Geist dem aufgeklärten philosophischen Jahrhundert nicht Hohn spreche, so sind doch alle diese Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten zusammen Male am Wege, auf dem man eine Fessel der klassizistischen Dramentheorie nach der andern abschüttelte. Seit 1730 etwa dreht sich das Rad fast jedes Jahr ein bißchen schneller. Anfangs steht Voltaire noch mit an der Spitze der Bewegung, bald aber überholt man ihn, und es ist seiner eigenen und der Autorität der älteren Klassiker zuzuschreiben, wenn nach Jahrzahnten Shakespeare nicht ganz und gar über Corneille und Racine gesiegt hat. Nachdem Voltaire schon 1724 einen Giftmord in der „Mariamne" aufs Theater brachte, wagte er sich mit den nächsten Stücken immer näher am die Darstellung einer Erdolchung auf offener Szene heran. Eine Linie verbindet die „Zaïre", in der die Heldin in die Kulisse fällt, als sie den Todesstoß erhält, mit der „Sémiramis", in der die Ermordung hinter einem Altar vor sich geht. Auf offener Bühne selbst erlaubte Voltaire niemals eine solche Kühnheit, und er blieb standhaft, als die Clairon einen Galgen auf dem Theater verlangte 122 ). Langsam, sehr langsam gab auch die Meinung des Publikums nach: Man lachte noch immer bei ungewohnten Auftritten, aber die Aufnahmewilligkeit im ganzen nahm zu. Es kann darum nicht verwunderlich sein, wenn Voltaire gleich den anderen Schriftstellern zwar um größere Realistik kämpfte, und wenn aber doch den ersten Versuchen in dieser Richtung nur selten ein Erfolg beschieden war. Die „Sémiramis", in der Ninus' Schatten auftrat, wurde zum Beispiel erst 1743 gespielt. Im Jahre 1737 brachte Destouches seine „École des amis" heraus, und der Streit der Meinungen über die ernste, empfindsame Komödie begann. Da tauchte zum erstenmal die Bezeichnung „bürgerliches Trauer122

) Vgl. E. B. O. Borgerhoff, The évolution of liberal theory and practice in the French theater 1680—1757, Phil. Diss. Princeton 1936, S. 80.

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spiel" auf. Desfontaines schrieb über Destouches' Stück: „À l'égard du genre de cette comédie, genre qui ne sera jamais de mon goût, il a enfin reçu son passeport. Oui, ce genre de comédies sérieuses, sublimes même, et pathétiques, qu'on pourrait nommer des tragédies bourgeoises ne passe à présent que pour le haut comique" 123 ). Eigenartigerweise galt also die neue Bezeichnung zuerst einem bürgerlichen Stück mit glücklicher Entwicklung. Das läßt sich leicht dadurch erklären, daß man bei all den vielen Versuchen und Hypothesen, in denen Schriftsteller und Kritiker neue dichterische Genres kreierten, natürlich immer sehr unsicher war. Man mußte auf dem Alten aufbauen, und erst allmählich kristallisierte sich die in der Zukunft allein „richtige" Definition heraus. Man bildete sich nicht wenig auf die minimalen Erweiterungen ein, die man — wie man glaubte, ohne der Institution der Regeln an sich zu schaden — dem Felde der literarischen Gattungen zufügte. Aber mit Schnörkeln war es nicht getan. Kaum merklich glitt man immer weiter, bis es endlich nötig wurde, die unausweichlichen Konsequenzen zu ziehen. Wer will sich schon mit der Hälfte begnügen, wenn er das Ganze haben kann! So ist auch der „Coligny" von Baculard d'Arnaud aus dem Jahre 1739 nur ein Übergang. Coligny wird in diesem Trauerspiel auf der Bühne getötet. Ein großes Wagnis! Baculard d'Arnauds Vorwort bezeichnet den Standort, den das moderne Paris jetzt nach den vielen tastenden Experimenten gegenüber den dramaturgischen Vorschriften einnahm: „Les partisans des Aristote, des Aubignac, ces esclaves des règles qu'ils appelent la raison, et que quelques auteurs hardis nomment faiblesse, se sont déjà récriés contre la témérité d'avoir fait tuer Coligny sur le théâtre; ils opposent à ces innovations Corneille, Racine; car voilà les mots de rallîment pour le parti. Mais ne peut-on s'ouvrir des routes nouvelles en respectant les anciennes? . . . Ne sera-t-il défendu qu'aux poètes d'innover, tandis que les philosophes tous les jours retranchent, ajoutent, ou inventent à leur gré? Sophocle, Euripide, Shakespeare sont des modèles qu'on ne doit point rougir de suivre. Les Grecs et les Anglais seraient-ils moins éclairés sur la tragédie que les Français?" 124 ). Aber die freimütige Kritik drang noch nicht durch; das Stück Baculards wurde nie aufgeführt. Doch schon im nächsten Jahre 1740 zeigte 123 ) P. F. Desfontaines, Observations sur les écrits modernes (1735—1743), VIII S. 233; vgl. G. Lanson, Nivelle de la Chaussée et la comédie larmoyante, Paris 1903 (éd. nouv.), S. 154. 124 ) Clarence D. Brenner, L'histoire nationale dans la tragédie française du X V I I I e siècle, Berkeley 1929, S. 229.

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man in Gressets „Edouard III." die erste „echte" Ermordung auf der französischen Bühne. Es sollte nicht die einzige bleiben. Nun kamen entscheidende Neuerungen. Die englischen naturalistischen Vorbilder, Shakespeare und das bürgerliche Trauerspiel, sowie die Erkenntnisse der französischen Theoretiker selbst bestimmten fortan in Frankreich die Fortschritte des Theaterlebens. Das Jahr 1741, als de la Chaussées „Mélanide" im Spielplan erschien, brachte noch zwei weitere bedeutende Bühnenereignisse. In Genf gab man Shakespeares „Macbeth" in einer Privataufführung auf englisch125), und in Paris kam des Malers Landois „Sylvie" heraus. Die Tatsache, daß zum erstenmal nach langen Jahren wieder Shakespeares Worte auf dem Kontinent zu hören waren, hatte kein großes unmittelbares Echo, auch die Aufführung der „Sylvie" schien nur vorübergehenden Erfolg zu haben. Beides sollte aber noch lange nachwirken 126 ). „Sylvie" wurde nur zweimal dargeboten. Das Publikum war gewiß an diese Kost noch nicht gewöhnt. Am 15. September 1741 berichtete Le Blanc über die „Tragédie Bourgeoise en Prose et en un acte, dont il ne faut parler que comme de ces Monstres qui paraissent de tems en temps, et dont le succès a répondu au ridicule de l'entreprise" 127 ). Das Schicksal des Ausgelachtwerdens traf das Stück wohl hauptsächlich deswegen, weil alles an ihm anders war, als man es sonst kannte. Schon das Bühnenbild schien höchst eigenartig: „Le théâtre représente l'interieur d'une chambre ou l'on ne voit que les murs; une table sur laquelle est une lumière, un pot à l'eau et un pain; un habit d'homme et une mauvaise robe de femme" 128 ). Alles sollte ländlichen Charakter zeigen. Zum bürgerlichen Milieu paßte der Inhalt: Des Francs entdeckt im Rock des Galouin Briefe, die die eigene Frau Sylvie belasten. Er läßt sie herbeiholen, klagt sie des Ehebruchs an und will sie lebenslänglich einsperren, obwohl sie beteuert, unschuldig zu sein. Sie soll zwischen Gift und Dolch wählen. Jetzt aber bricht der Zorn Des Francs' zusammen. Er will sich in seiner Verzweiflung selbst entleiben. Sylvie entschließt sich, mit dem Gatten zu sterben. Da kommt die Aufklärung: Galouin ist inzwischen in einem Duell, das er mit Des Ronais, 125

) F. Baldensperger, Études d'histoire littéraire. T. II, Paris 1910, S. 169 („Esquisse d'une histoire de Shakespeare en France"). 126 ) In Deutschland bearbeitete Gottlieb Konrad Pfeffel 1765 das Stück Landois' unter dem Titel „Serena" für seine „Theatralischen Belustigungen, nach französischen Mustern" (dort Nr. 1). 12T ) Vgl. Henry Carrington Lancaster, Frendi tragedy in the time of Louis X V and Voltaire 1715—1774, Baltimore, London, Paris 1950, I S. 265. 128 ) Landois, Sylvie, Tragédie, 1742.

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dem Freund des Des Francs hatte, gestorben. Er hat noch kurz vor dem Tode gestanden, daß er Sylvie durch die Dienstmagd vergiften lassen wollte. Das Eingreifen des Des Francs hatte den Mord verhindert. Ein richtiges bürgerliches Trauerspiel also, auch nach heutigen Begriffen. Der Unterschied allerdings zwischen dieser Dramenart und der „Comédie larmoyante" besteht kaum in mehr als dem Glückswechsel — was verständlich ist, wenn man bedenkt, daß alle anderen Kriterien des bürgerlichen Trauerspiels erst in statu nascendi waren. Sah man, wie es wohl angebracht war, eine Tragödie in der „Sylvie", dann waren die einaktige Form und die Prosa Anzeichen der Tendenz zur größeren Natürlichkeit. Zum erstenmal kam in Frankreich eine Tragödie ohne Alexandriner v-erse auf die Bühne, und was die Zahl der Aufzüge betraf, so unterschritt man hier noch das Maß von drei Akten, das Algarotti und andere Italiener vorgeschlagen hatten. Voltaires „La Mor.t de César", wegen seiner Regelwidrigkeit seit 1735 noch immer nicht aufgeführt, war weit überholt. Landois schuf einen Präzedenzfall. Konnten aber darum die Dichter der neumodischen Stücke, für die Desfontaines nun (1741) den Namen „.drames" in Bereitschaft hatte 120 ), nach der wenig freundlichen Aufnahme der „Sylvie" in Zukunft mit einem besseren Erfolg rechnen? Die große Menge jedenfalls belohnte zunächst de la Chaussées rührende Lustspiele mit dem größeren Beifall. Inzwischen ließen sich neue Anzeichen von Regelmüdigkeit bemerken. Weil das Interesse für englische Texte so stark gestiegen war, gab La Place seit dem Jahre 1745 eine Reihe von Übersetzungen der berühmtesten englischen Dramatiker heraus. ¡Es war das „Théâtre Anglois". In den ersten vier Bänden las man jetzt Shakespeares „Othello", ' „Richard III.", „Heinrich VI.", „Hamlet", „Macbeth", „Julius Caesar", „Antonius und Cleopatra", „Cymbeline", „Timon" und die „Lustigen Weiber von Windsor" auf französisch. Bis 1749 folgten in weiteren vier Bänden unter anderem Stücke von Ben Jonson („Catilina"), Dryden und Congreve, sowie Otways „Venice preserved". Die Stücke konnten und sollten, wie aus einigen Vorreden erhellt, nur als Lesedramen dienen. Niemand rechnete ernsthaft damit, daß sie jemals anders als in umgearbeiteter Form für das französische Theater nutzbar gemacht werden könnten. Wirklich waren sämtliche aufgeführten englischen Trauerspiele so verändert und dem Gesdtmack und 129 ) Observations a. a. O. X X V S. 28. Aber schon im 17. Jahrhundert war Corneilles „Cid" in dem Urteil der französischen Akademie so genannt worden.

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den Regeln angepaßt, daß sie ihre Hörner und Zähne verloren hatten. Das läßt sich an den Stücken, die in den folgenden Jahren in Frankreich erschienen, klar erkennen. 1746 schrieb La Place sein „Venise sauvée". Das Stück ist, zum Unterschied von der im „Théâtre Anglois" erschienenen Übersetzung, eine Bearbeitung von Otways erfolgreicher Tragödie und zeigt zum zweitenmal nach Gresset einen Mord auf der Bühne. Schon Otway hatte sich ziemlich an die Einheit der Zeit gehalten; La Place nun stellte auch die Einheit des Ortes her, fügte das Ganze in Verse, beseitigte, so gut es ging, die gröbsten Verstöße gegen Anstand .und Wahrscheinlichkeit und schnitt die Geister- und komischen Szenen heraus. Von dem wirklichen Gehalt blieb nach solcher Regulierung noch so viel übrig, daß Mouhy schreiben konnte, La Place habe den englischen Charakter des Stücks, den de la Fosse in seinem „Manlius Capitolinus" nicht darzustellen wagte, bewahrt 130 ). Collé urteilte 1764, daß „Venise sauvée" das einzige englische Trauerspiel sei, welches in Frankreich ziu einem Erfolge kam 131 ). 1747 führte man es fünfzehnmal auf, 1783 allerdings fiel es der Lächerlichkeit anheim 132 ). La Place war einer der eifrigsten Verfechter der Freiheit von Beschränkungen. Man kann dafür das Vorwort seines „Théâtre Anglois" zum Beweis heranziehen. „. . . l'on a souvent vu des pièces Françaises regardées comme irregulières les émouvoir et attendrir le spectateur, et d'autres faites dans toutes les règles de l'art manquer leur but et ne produire que de l'ennui" 133 ). Neue Regeln müßten an die Stelle der alten, verstaubten treten. Sein ästhetischer Liberalismus läßt ihn vermuten, daß eines Tages noch stärkere Realistik auf der Bühne möglich sei. Geister, Zauberer und Dämonen jedenfalls brauche man nicht zu verdammen, wenn sie der „vérité de sentiment" entsprächen 134 ). Unter dem Schlagwort des Gefühls, das damals mitverantwortlich auch für die Einführung der Comédie larmoyante war, bemühte sich La Place, die Tragödie mit mehr und größerem Leben zu füllen. Einem ähnlichen Zweck diente die Bearbeitung von Rowes „Lady Jane Grey", die als „Jeanne d'Angleterre" 1748 herauskam. Aber nicht jeder Versuch, englische Stücke zu übernehmen, war erfolgreich. 1747 schrieb Hénault ein Drama aus der französischen Geschichte, den „François III.". Anscheinend war für die Konzeption der Einfluß 130

) ) 132 ) 13S ) 134 ) m

Tablettes Dramatiques a. a. O. S. 235. Lancaster a. a. O. I S. 279. Lancaster a. a. O. I S. 278 f. Théâtre Anglois, T. I, Paris 1745, S. LIII (Vorrede). a. a. O. I S. L X X I I I ff.

4 Daunlcht, Trauerspiel

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der Shakespeareschen Historiendramen maßgebend gewesen. Absichtlich verzichtete Hénault im Vorwort -auf die Aufführung; denn die geschichtliche Treiue war ihm wichtiger als die Regeln, die ein Drama erst aufführbar machten. So dehnte sich im „François III." die Zeit zu siebzehn Monaten, die Einheiten des Ortes und der Handlung waren ebenfalls aiußer acht gelassen, und überdies war das Ganze in Prosa. 1748 wurde auch Lillos „Merchant of London" in einer brauchbaren französischen Bearbeitung veröffentlicht, nachdem schon 1737 und 1738 eine erste Übersetzung erschienen war, die weniger Aufsehen gemacht hatte. Clément de Genève ist der neue Übersetzer 135 ). Audi der „Marchand de Londres" ist wahrscheinlich als Lesedrama gedacht, obwohl die Streichung der letzten Szene, in der das Strafgericht für die Verbrecher auf der Bühne zu sehen ist, vermuten läßt, daß Clement unter Umständen eine Aufführung in Betracht zog. In den „Cinq années littéraires" berichtet er: „Voyez monsieur comme je suis modeste, de ne vous avoir encore rien dit de mon Pendu, qui a fait pleurer tout Paris . . . Je voudrais qu'on pût se représenter bien vivement l'état diu théâtre dans ce moment-là: cet affreux cachot lugubrement éclairé par cette lampe sepulchrale, ces pierres, ces chaînes, ces deux amis désespérés qui se jettent par terre l'un après l'autre, qui s'embrassent, qui se serrent, qui savourent leur douleur, qui s'abysment délicieusement dans la plus profonde et la plus amère tristesse" 138 ). Dieser Bericht gibt bei aller Eigenliebe des Autors eine Andeutung davon, wie mächtig die Wirkung des englischen bürgerlichen Trauerspiels war. Um so erstaunlicher ist, daß sich angeblich kein Anhaltspunkt dafür fand, daß es in Paris aufgeführt wurde 137 ). Sechzehn Jahre waren jetzt vergangen, seit der Abbé Prévost über eine Londoner Aufführung in seinem „Le Pour et le Contre" den Franzosen Lillos Stück warm empfohlen hatte 138 ). Im gleichen Jahr 1748 wurde Voltaires „Sémiramis" uraufgeführt. Immer noch waren der königlichen Bühne in Paris die gereimten Nachbildungen vorbehalten, während den kraftvolleren Originalen das Odium der Ungenießbarkeit anhaftete. Das blieb auch vorläufig weiter so; erst Diderot unternahm es mit einem besseren Ergebnis in den 135 ) Le Marchand de Londres, ou l'Histoire de George Barnwell. Tragédie Bourgeoise, traduite de l'Anglois de M. Lillo, Par M.*** (:Paris:) 1748. 136 ) Pierre Clément, Les cinq années littéraires (1748—1752), Paris 1755 I, S. 116 f. 137 ) Borgerhoff a. a. O. S. 63. 138 ) Le Pour et le Contre III S. 337; vgl. George R. Hävens, The Abbé Prévost and English literature, Princeton und Paris 1921, S. 106 f f .

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fünfziger Jahren, dem prosaischen bürgerlichen Drama, für das er nun eine neue, nach Ständen ordnende Theorie beibrachte, das Theater zu erobern. Wie Diderot aber schon, als der „Marchand de Londres" gedruckt wurde, über die Theaterverhältnisse in Paris dachte, beweisen einige Sätze aus seinem pikanten Roman „Les ibijoux indiscrets" : „Ich verstehe nichts von den strengen Regeln, noch weniger von den gelehrten Worten, in denen sie ausgedrückt sind; aber ich weiß, idaß nur das Wahre gefällt und ergreift. Ich weiß ferner, daß die Vollkommenheit eines Schauspiels in der genauen Nachahmung einer Handlung besteht, so daß der getäuschte Zuschauer sich uniunterbrochen einbildet, der wirklichen Handlung selbst beizuwohnen. Gibt es unter den Tragödien, die Sie so sehr rühmen, wirklich Werke, die diesem Grundgesetze entsprechen? . . . Das Pathetische, das Blendwerk, das 'darin herrscht, ist meilenweit von der Natürlichkeit e n t f e r n t . . . Gern möchte ich den Modernen zurufen: Meine Herren, anstatt jeden Augenblick euren Gestalten euren Geist einzuhauchen, lernt lieber i n ihnen und mit ihnen fühlen" 1 3 9 ). Um 1750 drängte die Lage einer Entscheidung zu. Bürgerliches Drama oder Heldentragödie alten Stils — wie würden die Würfel fallen? Maupriés „Caliste ou la Belle pénitente" nach Rowes „Fair penitent" verharrte auf der Stelle, die L a Place bereits gewonnen hatte. Voltaires Dramen bedeuteten kaum ein weiteres Zugeständnis an die neuen Gedankengänge. So sahen die Dinge eher nach einer Stagnation als nach einem Fortschritt aus. Aber schon hatten sich mit der ständig zunehmenden Forderung nach größerem Gefühlsinhalt in 'der Dichtung die Gewichte verschoben.

139

4*

) Diderot, Indiskrete Juwele, Leipzig 1920, S. 185 ff.

DIE ENTSTEHUNG DES BÜRGERLICHEN TRAUERSPIELS IN DEUTSCHLAND Vorbemerkung Eine genaue Beurteilung der deutschen Theaterverhältnisse des frühen 18. Jahrhunderts ist sehr schwierig. J e weiter man zurückgeht, um so trauriger sieht es mit Verzeichnissen der gespielten Stücke aus. Fast niemals ist mit Bestimmtheit zu sagen, ob eine Schauspielertruppe dies oder jenes Stück früher oder später als eine andere aufgeführt hat. Vergleichsmöglichkeitein fehlen so gut wie ganz. Darum sind wir nicht oder nur in seltenen Fällen, wenn etwa präzise Nachrichten über einen Dichter vorliegen, in der Lage, den Zeitpunkt, wann ein D r a m a zum erstenmal auftauchte, zu ermitteln. Die wenigen zufällig erhaltenen Repertoirelisten sind oft zweifelhaft, und nur die Theaterzettel und manchmal Akten bieten authentische Belege. Aber auch bei ihnen kann man die seltsamsten Erfahrungen machen. Falschdatierungen der Zettel um viele Jahre kommen ziemlich häufig vor, denn diese Blätter enthalten gewöhnlich

keine

näheren Angaben über das J a h r ; andere Unterlagen über die spielende Truppe sind oft überaus mangelhaft. Die gedruckten Stücke, bei denen es sich meistens um Literaturdramen handelt, bieten kaum eine Hilfe. Denn der größte Teil des Repertoires der Wanderbühnen bestand aus Bearbeitungen, von denen wir nicht die Namen der Verfasser wissen. Die ältere Theatergesdiichte liegt also nodi immer in großem Dunkel. Daran können auch einzelne verdienstliche Monographien über Schauspieler und Sdiauspielgesellschaften des 18. Jahrhunderts und die wenigen guten Ortstheatergeschichten nichts ändern. Die französischen und englischen Quellen fließen dagegen viel reichlicher, und man sieht mit Neid, daß in manchen Ländern die kirchlichen und gesellschaftlichen Anschauungen eine Beschäftigung mit dem Theater nidit zu verhindern brauchten.

DIE FRAGE DER D R A M E N K R I T E R I E N U N D DAS DEUTSCHE R Ü H R E N D E LUSTSPIEL I N DER ERSTEN HÄLFTE DES 18. J A H R H U N D E R T S So wie man in Frankreich Tragödie und Komödie nach dem sozialen Stand der Personen schied, bekannte sich auch die deutsche Theorie seit dem 17. Jahrhundert zu diesem Kennzeichen. Die Zwittergattung, Tragikomödie genannt, in der sich die komischen und die tragischen Figuren mischten, stand bei den meisten Gebildeten tief im Kurs. Um so mehr hatte sich das Theater der Mischspiele bemächtigt, zu denen die Menge der damals beliebten „Haupt- und Staats-Aktionen" gehörte. Auf der Bühne kümmerte man sich wenig um die Vorschriften der Gelehrten, wenn die Zuschauer auf den Bänken und in den Logen Beifall klatschten. In der eigentlichen Handlung eines solchen Schauspiels traten gewöhnlich die von der Tragödie her bekannten geschichtlichen oder erdichteten Fürsten als Helden auf. Daneben agierte der Spaßmacher allein oder mit seinen Kumpanen nach dem Vorbild der italienischen Commedia dell' arte und erheiterte sein Publikum. Der Einfluß des süd- und südwesteuropäischen Theaters ist unverkennbar. Es gab in dieser Epoche auch ziemlich häufig Bearbeitungen der aus Italien kommenden Musikdramen. Darin waren glückliche Schicksalswendungen möglidi, zeitweise sogar üblich. Als Ergebnis der vielfältigen Überschneidungen und Verflechtungen sah man vor Gottscheds Reform ein buntes Durcheinander, in der Hauptsadie Komödien und Stücke mit possenhaften Szenen. In allen Himmelsriditungen suchten Übersetzer ihre Vorlagen und erhöhten die Vielgestaltigkeit. Es kam nur auf die Wirkung der Stücke an. Die Quellen der Belustigung waren international. Aber die Unerheblichkeit der Lustspiel- und die Opernhaftigkeit des Trauerspielrepertoires, die Übernahme so vieler Elemente aus den versdiiedenem Mustern und Zeitabschnitten waren desto fragwürdiger, je drastischer der Ton war, der auf diesen Bühnen herrschte. Unter solchen Umständen machten die ersten Vorboten einer Betonung ernsterer Gefühle, die sich seit Molière im französischen regelmäßigen Lustspiel anmeldeten, wenig Aufsehen; die englisdien Produkte dieser Art waren fast gänzlidi unbekannt. Von moralisierenden Komödien,

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in .denen sich um 1700 zuerst die Wandlung der Schauspielkriterien ankündigte, wurde Boursaults „Ésope" 1711 von Reinbaben übersetzt 1 ). 1723 kam eine zweite Ausgabe heraus 2 ). Dies waren jedodi kaum mehr als Einzelfälle. Und die deutschen Originale der sächsischen Komödie in den zwanziger Jahren enthalten zwar hin und wieder eine exemplifizierte Moral, sind aber im übrigen doch so sehr von bewährten Vorlagen abhängig, daß sie nicht aius der Reihe tanzen. Noch kann der Bürger, wo er auftritt, nur satirisiert werden. Man schildert seine Handlungen vergröbert und übertrieben und verspottet damit seine Schwächen. Eine Besserung der Sitten erscheint durch die immanente oder vorgetragene Moral möglich und ist der Vorwand dafür, daß das gesamte Theaterwesen verteidigt wird, ist vielleicht sogar das Ziel idealistischer Dramatiker, wenn audi noch nicht der dramatischen Vorstellungen. Auch hier springen Verwandte des Harlekin durch die Szene und foppen ihre Mitspieler. Der Dichter benutzt die Gelegenheit und läßt etlichen Zynismen freien Lauf. Als Beispiel solcher doch ziemlich anspruchslosen Komödientechnik soll hier die bisher unbekannte Inhaltsangabe eines Stückes von Heinrich Gottfried Koch stehen, der seit 1727 bei der Neuberin agierte und später selbst eine Truppe führte. Das Lustspiel wurde schon 1733 in Leipzig unter dem Titel „Der Schmarotzer oder das Leipziger Rosental" gegeben 3 ). „Ein Schmarotzer bediente sich in dem Hause eines wohlhabenden Kaufmanns der Gastfreiheit desselben bis zur Beschwerlichkeit. E r hing nadi dem Essen seine Perücke im Nebenzimmer auf, nahm eine Schlafmütze aus der Tasche, entkleidete sich, hielt seinen Mittagsschlaf usw. Hierdurch setzt er diese Familie in besondere Verlegenheit an einem Tage, an welchem die Tochter des Hauses in der Stille Verlobung halten soll. Die Dienstboten, Harlekin und Kolombine, machen die Zimmer rein, treiben ihren Spott mit ihm, fegen seine Perücke, ja ihn selbst bald aus, um ihn wegzutreiben: umsonst! Dann gibt man vor, man fahre nadi dem Lustorte . . . und es sei kein Platz, ihn mitzunehmen, er Esopus am Hofe, in: George Wilhelms von Reinbaben Poetische Uebersetzungen und Gedichte, Weimar 1711. 2 ) Aesopus bey H o f e und Aesopus in der Stadt, Dreßden und Leipzig 1723. 3 ) Friedrich Johann Freiherr von Reden-Esbeck, Caroline Neuber und ihre Zeitgenossen. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Theatergeschichte, Leipzig 1881, bringt S. 115 f. den Theaterzettel vom 1 6 . 1 . 1 7 3 3 ; der N a m e des Verfassers ist dabei nidit angegeben. Theodor Hampe, Die Entwicklung des Theaterwesens in Nürnberg, Nürnberg 1900, S. 199, nennt — ebenfalls wohl nadi einem Theaterzettel — Koch als den Autor, ohne aber auf das Stüde einzugehen.

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aber spaziert zu Fuß dahin. Hierbei wird er denn von allerhand Charakteren, in die man sich verkleidet, vexiert und aufgehalten" 4 ). Der erste, bei dem man vereinzelt rührselige Stimmungen spüren kann, ist Christian Friedrich Henrici (Picander). In seinem Lustspiel „Der Säuffer" 5 ) redet der über seinen Sohn tief bekümmerte alte Valentin den der Trunksucht verfallenen Studenten zweimal mit ernsthaftpathetischem Ton in die Seele; allerdings wird die Wirkung dieser Appelle von Theatergags seiner Partner paralysiert. Audi Antonine (im gleichen Stück) trägt die Züge weiblicher Seelengröße. Als einige französische Komödiendichter wie Marivaux und Destomches ihren Stücken immer mehr von dem veränderten Zeitgeschmack mitteilten, merkte man davon in Deutschland zunächst wenig oder nichts. Marivaux war wahrscheinlich .nicht leicht zu übersetzen, vielleicht differierte auch die Eigenart seiner Personen zu stark von der damals in Deutschland üblichen. Er ist erst vom Jahre 1734 ab im Spielplan der Neuberin nachzuweisen 6 ). 1735 kommt er dann mit vier Lustspielen vor 7 ). Das erste Stück, ein Nachspiel mit dem Titel „L'île des esclaves", ist bezeichnenderweise eines von denen, die er für das italienische Theater in Paris verfaßte. Audi später gehörten die für seine Entwicklung zur Comédie larmoyante wichtigen Stücke wie „Les serments indiscrets" oder „La mère confidente" anscheinend nicht zum Hauptbestand der Wanderbühnenbibliotheken. Das änderte sich erst in den vierziger Jahren. Damals wurde Marivaux gewissermaßen neu entdeckt. Den „Philosophe marié" des Destouches von 1727 spielte die Neuberin dagegen schon seit ungefähr 1730, wie Gottsched in der Vorrede zu seinem „Sterbenden Cato" andeutet 8 ). Im Jahre 1734 war Des4 ) Baronesse Elisabet Rosen, Rückblicke auf die Pflege der Schauspielkunst in Reval (Festschrift zur Eröffnung des neuen Theaters), Reval (1910), S. 80, der vielleicht ein Petersburger Theaterzettel vorlag, nach dem sie diese Inhaltsangabe zitierte, kennt ebenfalls den Verfasser nicht. 5 ) Der S ä u f f e r in einem Schau-Spiele vorgestellet von Picandern, Berlin, Franckfurt und Hamburg 1725. 8 ) Vgl. Beyträge Zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, Hrsg. von Einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig, III (10. Stück 1734), S. 276. 7 ) Reden-Esbeck, Caroline Neuber a. a. O. S. 107 ff. (nach Hamburger Theaterzetteln). Der dort als von Marivaux verfaßt angegebene „Le dedain affecte" ist von Monicault. Vgl. Richard Daunicht, Die Neuberin, Materialien zur Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts (Studienmaterial f. d. Künstlerischen Lehranstalten, H e f t 2 1956), o. O. 1956, S. 1 1 5 f. 8 ) a. a. O. (vgl. 3. Kap. Anm. 3) S. X X f.

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touches mit mindestens zwei, 1735 mit mindestens drei Komödien auf der Neuberschen Bühne vertreten: mit dem eben genannten „Verheirateten Philosophen", dem „Unschlüssigen" (L'irresolu) und der „Unvermuteten Verhinderung" (L'obstacle imprévu) 9 ). Man geht sicher nicht fehl, wenn man in allen Fällen von Schauspielerin angefertigte Alexandrinerübersetzungen annimmt; das erste der drei Stücke war von H . G. Koch übertragen worden 10 ). Um diese Zeit waren auch Boissy und Fagan im Repertoire vertreten 11 ). Es sind die Jahre, in denen die klassizistische Definition der Dramengattungen in demselben Maße auf die deutsche Bühne Einfluß bekam, wie die Neuberin mit ihrem regelmäßigen Theater Erfolg hatte. Gottsched erklärte das Lustspiel als eine „Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann" 1 2 ). An anderer Stelle erläuterte er diesen Satz: „Die Personen, die zur Comödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande, dergleichen auch wohl zur Noth Barons, Marquis und Grafen sind: nicht, als wenn die Großen dieser Welt keine Thorheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, sondern weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen" 13 ). Hier wurde die konservativste These bekräftigt, dort drängte schon das Neue nach vorn. Als Voltaire 1736 „L'enfant prodigue" schrieb, erhielt die Sache der teilweise ernsten Lustspiele auch in Deutschland stärkeren Auftrieb. Der rührige H . G. Koch übersetzte das Stück bald darauf 14 ). Es wurde wohl 1739 zum erstenmal von der Neuberin gegeben15). Die Versübertragungen Kochs wurden von einigen 9 ) Critische Beyträge III (10. Stüde 1734) S. 276; Reden-Esbeck, Caroline Neuber a. a. O. S. 107 ff. (nadi Hamburger Theaterzetteln). 10 ) Gottsched, Sterbender Cato a. a. O. S. X X f. und Critische Beyträge VII (26. Stück 1741) S. 295; vgl. Wilhelm Creizenach, Zur Entstehungsgeschichte des Neueren Deutschen Lustspiels, Halle 1879 S. 34. Reden-Esbeck, Caroline Neuber a. a. O. S. 109 (nach Hamburger Theaterzetteln). 12 ) Versuch einer Critischen Dichtkunst, 3. Aufl. 1742 (vgl. 3. Kap., Anm. 20) S. 739 f. 1S ) ebd. S. 743. 14 ) vgl. Gottscheds „Nachricht von der unter der Presse befindlichen deutschen Schaubühne", Critische Beyträge VI (23. Stück 1740) S. 524. 1B ) Nach einer handschriftlichen Aufzeichnung in Ekhofs Nachlaß (ehem. Staatsbibl. Berlin, Ms. Germ. Fol. 771 Bl. 108 A), die sich, wie aus einem Vergleich mit anderen Zeugnissen hervorgeht, auf die Neuberin bezieht, wurde das Stück am 16. IV. 1739 aufgeführt. Damals war die Neuberin in H a m burg.

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Kritikern getadelt, sie haben aber eine wichtige Aufgabe erfüllt: Sie hielten den Anschluß an die französische Entwicklung zu einer Zeit, als die Neubersdie Truppe allein das regelmäßige Schauspiel pflegte. Als dann seit 1740 eine zweite Truppe, die Schönemannsche, der Neuiberin dieses Privileg streitig iniachte, ging man auch 'dort daran, die dramatischen Neuerscheinungen aus Paris den Deutschen möglichst rasch zu vermitteln. Jedoch brachte nicht Schönemann, sondern die neugegründete Gesellschaft der Madame Schröder, späteren Madame Ackermann, die „Mélanide", das Hauptwerk de la Chaussées, heraus. D a ß das Stüde schon zwei Jahre nach der Premiere achtmal in anderthalb Jahren in Deutschland gegeben wurde, bezeugt das große Aufsehen, das dieses rührende Lustspiel machte 1 8 ). Bei der Neuberin ließ sich allerdings keine Aufführung nachweisen. Gottsched urteilte als erster über die Veränderung, die das alte dramatische Einteilungsprinzip bedrohte und die lustige Komödie mit fremden Eigenschaften versah. In seiner „Nachricht von der unter der Presse befindlichen deutschen Schaubühne" zählte er 1740 den „Verschwenderischen Sohn" (Voltaires „L'enfant prodigue" in Kodis Übersetzung), der eben herausgekommen war, zu den Trauerspielen als ein Stück, „so fast audi einem Trauerspiele ähnlicher ist, als einer Comödie" 1 7 ). Seltsame Inkonsequenz des kritischen Professors! Wußte er nicht, daß er seine eigenen Gesetze verriet und den Feinden eine Angriffsfläche bot, wenn er das Gefühl und den Inhalt eine Stückes als Kriterium höher bewertete als die äußeren Eigenschaften der Helden? 1 6 ) Die Übersetzung stammte von Barthold Hinridi Brockes; vgl. Berthold Litzmann, Friedrich Ludwig Schröder. Ein Beitrag zur deutschen Litteraturund Theatergeschichte, I, Hamburg und Leipzig 1890, S. 32 f. Die Aufführungen waren am 4., 10., 26. Oktober, 5., 19. November, 3. Dezember 1742, 12. Februar 1743, 8. Mai 1 7 4 4 ; vgl. F. L. W . Meyer, Friedrich Ludwig Schröder. Beitrag zur Kunde des Menschen und des Künstlers, II, 2, Hamburg 1823, S. 4 0 — 5 2 . Die Bedeutung dieses Stückes wird, wenigstens im Hinblick auf die Rührseligkeit, von der bei Schönemann und der Schröderin vielgespielten Hamburger Lokalposse „Der Bookesbeutel" (Frankfurt und Leipzig 1742; Neudruck in: Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 56/57, hrsg. von F. F. Heitmüller) nicht erreicht. Hinridi Borkenstein, der Verfasser dieses deutschen Originallustspiels, ließ immerhin eine Reihe von tugendhaften Charakteren, von denen teilweise schon die Namen (Gutherz, Ehrenwert, Sittenreich) nach der Mode der Zeit über ihre Träger aussagen, mit altmodischen, ungebildeten und auch sonst allerlei Schwächen verratenden Figuren kontrastieren. Die Lösung des Knotens bringt die Belohnung der armen und wohlerzogenen Charlotte, indem sie wie im Märchen den rechten Freier erhält: ein deutscher Beitrag zur Moralkomödie mit leicht rührendem Einschlag.

" ) Cri tische Bey träge V I (23. Stück 1740) S. 524.

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Bald darauf untersuchte Gottlob Benjamin Straube diese Frage näher. Seine Darlegungen sind f ü r die damaligen Verhältnisse sehr aufschlußreich: „Zum Ueberflusse will ich noch erinnern, d a ß der Unterscheid der Comödie und Tragödie hauptsächlich auf die Personen, und die erregten Affecten ankomme; und daß man Misgeburten zur Welt bringe, wenn man hierauf nicht acht giebt. Ich weis z. E. Leute, die den E n f a n t prodigue, oder den verlohrnen Sohn f ü r eine Comödie, andere, die ihn f ü r eine Tragödie gehalten haben; ich selbst aber gebe ihn f ü r eine Tragicomödie, das ist, f ü r einen theatralischen Zwitter aus. Die einen sagten: was lustige Diener, närrische Präsidenten, zankende Gräfinnen, und am Schlüsse eine H e y r a t h hat, das ist eine Comödie. Die andern sagten: ein Stück, das in Versen geschrieben ist, was in vielen Stellen erhaben und pathetisch ist; was eine Historie aus der Bibel vorstellt, (dazu verleitete sie der sdilecht übersetzte Titel,) was Verwunderung, Zärtlichkeit und Mitleid, ja gar Thränen erweckt, das muß eine Tragödie seyn. U n d beyde Theile hatten recht. U n d ich sage: wo alles beydes ist, da ist die Comödie und Tragödie zugleich. Man sollte kaum glauben, daß man auf solche Vermischungen fallen könnte, wenn man nicht so viel Exempel von Tragicomödien, Comitragödien, ja gar von Tragicomoedia pastorali (d. i. von allen Schreibarten, Ständen und Orten in einem Stücke zugleich) aufweisen könnte" 1 8 ). Hier w a r deutlich gesagt: Jede Verletzung der Vorschriften, geschehe sie auch durch einen Voltaire, ist verboten. Das Ergebnis kann nur ein Mischprodukt sein. Es ist dabei anzumerken, daß die von Straube f ü r diese Misdiung gewählte Bezeichnung „Tragikomödie" historisch nicht vertretbar war. Immerhin war Straube hier klassischer als Gottsched, der vielleicht aus Achtung f ü r Voltaire, vielleicht aus Höflichkeit gegen den Übersetzer Koch sich einen kleinen dramaturgischen Lapsus geleistet hatte. Ausdrücklich w u r d e der Gefühlswert als iSdiauspiiqlkriterium hervorgehoben. Der Grund, daß nämlich eine Partei Voltaires Stück wegen dieses Gefühlswertes als Tragödie bezeichnete, verdient besonders beachtet zu werden. Mit den folgenden Beispielen, durch die er seine Ansicht erläutern wollte, hebt Straube aber die Gleichberechtigung der Kriterien wieder auf: „Eben so, wenn ich den großmüthigen Bettler in einem theatralischen Stüdce vorstellen wollte, und die Personen dazu einen Bettler, den Bettelvoigt, den Stadtrichter, ein p a a r Gassenjungen, und des Bettlers 18 ) Aus dem (anonym erschienenen) Aufsatz „Ursachen, warum ein Trauerspiel nothwendig in Versen geschrieben seyn müsse", in: Critisdie Beyträge VII (28. Stück 1741) S. 654 f.

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Tochter seyn ließe: so kann ich weder die Schreibart, noch die Gedanken edel und erhaben anbringen. Wenn gleich der Bettler unschuldig, großmüthig, beherzt, billig, und als ein heroischer Meister der Tugend vorgestellet werden könnte. Es wird also eine Comödie werden. So bald ich aber setze: daß der oder jener Held des Alterthums ein Kriegsgefangner gewesen, zehn Jahre in einem Loche gesessen, darinnen er den Körper kaum ausstrecken können, und den endlich das Mitleid eines Bedienten aus dem Kerker gelassen; daß dieser sich in Bettlerskleidern auf den Weg gemacht, und auch wegen seiner Bedürfniß betteln müssen: so kann ich ihn sehr leicht unter die Umstände eines Trauerspiels bringen, und der Held, und die Neigungen werden in diesem Falle Verwunderung und Mittleiden, in jenem aber gewiß nur Lachen erwecken" 1 9 ). Indem Straube dasselbe Sujet einmal als Komödie und einmal als Tragödie 'behandelte, wird deutlich, daß er dem Kriterium des sozialen Standes noch immer den Vorrang einräumte. Ebenfalls 1741 erörterte Adam Daniel Richter, Rektor zu Annaberg in Sachsen, in einem Schulprogramm die Komödientheorie 2 0 ). D a ihm die Gottschedische „Critische Dichtkunst", die 1737 in zweiter Auflage erschienen war, anscheinend nicht genügte („Ich suchte zwar eine vernünftige Anweisung zu den Lustspielen, aber es war keine aufzutreiben") 2 1 ), schrieb er seine „Regeln und Anmerkungen über die lustige Schaubühne" nieder; sie gerieten in die Hände Gottscheds, und dieser druckte sie in demselben Heft der „Critischen Beyträge" ab, in dem auch Straubes Aufsatz steht 2 2 ). Hier findet man eine Theorie des Lustspiels, die in wesentlichen Dingen von der Gottschedischen abweicht. Richter kritisiert die übliche Definition der Komödie, wie sie etwa in der „Critischen Dichtkunst" zu finden ist, mit den Worten: „Ich habe . . . dieses zu erinnern, daß ich bey mir die Ursache nicht begreifen kann, warum man in denen Comödien nur allein die Laster zum Gegenwurfe erwählet" 2 3 ). Dann setzt er seine eigene Erklärung ) ebd. S. 655 f. Regeln und Anmerkungen der lustigen Schaubühne. Wobey zugleich die gesammten . . . Herren Inspectores, alle andere vornehme Gönner und Freunde, wie auch die . . . Bürgerschaft bey instehenden Schulfeste zu Drey Lustspielen, welche die . . . in St. Annaberg studirende Jugend . . . vorstellen wird . . . gehorsamst einladet Adam Daniel Richter, Rect. Annaemont., St. Annaberg, 1741. 2 1 ) Critische Beyträge V I I I (31. Stüde 1743) S. 465. 2 2 ) ebd. V I I (28. Stüde 1741) S. 5 7 7 — 6 0 4 . 2 3 ) ebd. V I I S. 578. 19

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dagegen: „Die Comödie ist eine Nachahmung einer moralischen H a n d lung, die durch ihr natürliches Wesen die Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen soll" 24 ). Richter begründet seine Ansicht so: „Eine Comödie soll die Zuschauer belustigen: entstehet denn aber die Lust nur aus dem Lächerlichen? und lachet man denn nur allein über das ¡häßliche? H a t man denn nicht auch eine Tugendlust, und lachen wir denn nicht auch über fröhliche und schöne Sachen? K a n n eine tugendhafte Handlung denn nicht auch die Zuschauer in einer Comödie sowohl belustigen als erbauen?" 26 ) Er teilt deshalb das. Lustspiel in zwei Kategorien, die tugendhafte und die lasterhafte Komödie. In der ersteren soll eine tugendhafte Handlung auf der Bühne vorgestellt werden. Man könnte annehmen, daß Richter hier die moralischen und rührenden Lustspiele der Franzosen, besonders die des Destouches und des Voltaire verteidigen wollte. Aber Richter fordert von dem Helden und der Handlung seiner tugendhaften Komödien einige spezielle Eigenschaften: Es müsse sich bei der dargestellten um eine echte und besondere Tugend handeln, der Tugendhafte solle ein „witziger Kopf", ein „vornehmer und reicher Mann" sein, er müsse es „in der Tugend noch weiter und höher gebracht haben, als die noch itzt lebenden", und man könne bei Verstorbenen auch die Namen nennen. Das Ziel dieser Komödie schließlich, die Erbauung und Belustigung, solle dadurch erreicht werden, daß der Tugendhafte darin belohnt werde, daß ihn kein Übel treffe, während die Lasterhaften aber beschämt werden müßten 2 6 ). Gottsched erwiderte dem Annaberger Rektor mit Anmerkungen, die er dem Abdruck des Aufsatzes in den „Critischen Beyträigen" beigab. Nach Gottsdied sind Belustigen und Erbauen „nicht der besondre Zweck der Comödie, sondern der allgemeine der ganzen Dichtkunst"" 7 ). Gottsched kommt dabei stets auf seine Grundmeinung zurück, die er einmal so ausdrückt: „Wir schließen tugendhafte Charaktere von der Comödie keinesweges ¡ganz aus, nur das Hauptwerk können sie nicht ausmachen: denn sie sind nicht lächerlich. Die Nebenpersonen können zwar tugendhaft seyn, um den entgegenstehenden Thoren desto besser zu beschämen: allein die Hauptperson kann nicht tugendhaft seyn" 28 ). Er belegt **) ) *«) 2T ) »»)

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ebd. VII ebd. VII ebd. VII ebd. VII ebd. VII

S. 581. S. 578 f. S. 593 ff. S. 580 Anm. b). S. 585 f. Anm. h).

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diesen Standpunkt mit Beispielen aus Molière, Holberg, Destouches und anderen. Man bemerkt, daß Gottsched die Kritik an Richter benutzt, >um auch die ernsteren Lustspiele zu tadeln, sobald in ihnen die Affekte „Furcht, Schredcen, Mitleiden .und Betrübniß" „in einigem Grade" entstehen sollten. Gottsched bestätigt selbst, daß er Regnards „Le joueur" und Destouches' „Le dissipateur" durchaus nicht als die besten Vorbilder ansah 2 9 ), obwohl er gerade des letzteren „Verschwender" und „Poetischen Dorfjunker" in den dritten Band der „Deutschen Schaubühne" aufnahm. Gottsched merkt bei Richters Aufsatz auch sogleich an, daß der Verfasser wohl mit seiner tugendhaften Komödie das Schäferspiel gemeint halben müsse 30 ). Wirklich ist die Vermutung, daß Richters Anschauungen von einer ernsteren Lustspielgattung ihrer Zeit vorausgeeilt waren, nicht ganz am Platze. Richter hat später selbst seine Ansichten präzisiert 3 1 ). Danach war die eigene Unachtsamkeit Ursache einer schiefen Darstellung. Die Revision seiner Worte müssen wir unbedingt berücksichtigen, wenn wir das erste Elaborat beurteilen. Sie schützt uns davor, die Verteidigung der tugendhaften Komödie allzusehr aus dem Gesichtswinkel des rührenden Lustspiels zu sehen. Richter schreibt nämlich später: „ . . . durch die tugendhafte Comödie habe ich nichts anders, als ein solches Schäfergedichte verstanden wissen wollen; oder zum wenigsten doch ein Gedichte von dieser Art, darinnen entweder Personen aus den Zeiten des güldenen Alters, oder aus den Zeiten der Erzväter, und der Könige in Juda und Israel, . . . oder alte berühmte Philosophen, als große Exempel großer Tugenden, aufgeführet würden. Dahero erforderte ich auch in einer tugendhaften Comödie, daß den Zuschauern nur eine sanfte, innerliche Vergnügung der Seelen, sollte erreget w e r d e n . . . Ich bin also mit dem Herrn Professor Gottsched völlig einerley Meynung" 3 2 ). Von einem Reformprogramm Richters bleibt also nicht viel übrig. Eigenartig ist nur, daß ihm, wie er behauptet, nicht der Name des Schäferspiels eingefallen ist, als er seine erste Untersuchung schrieb! ) ebd. V I I S. 5 9 2 und Anm. r). ®°) ebd. V I I S. 5 8 0 Anm. c) und S. 593 Anm. s). 3 1 ) Gottsched ließ das Schulprogramm Richters mit dem Titel „Zufällige Gedanken vom Verse und Reime des Trauerspiels", in dessen Einleitung der Verfasser auf seine frühere Veröffentlichung zurückkommt, im Band V I I I der Cri tischen Beyträge (31. Stück 1743) S. 4 6 5 — 4 7 4 abdrucken. 3 2 ) ebd. V i l i S. 467. 29

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Immerhin sind die Arbeiten Richters, sosehr sie audi von oben herab von Gottsched mit verbessernden Anmerkungen bedacht wurden, ein wichtiges Anzeichen dafür, daß idas regelmäßige Lustspiel französischer Observanz im tiefsten Innern vieler Deutschen keinen echten Widerhall fand, sondern daß dem „gemütlicheren" Wesen auch ein tugendhafteres, das heißt hier ernsteres, humorvolleres Lustspiel angemessener war. Die Anhänger einer klassizistischen Komödiendefinition änderten indessen ihren Standpunkt nicht. Aber inzwischen kehrte eine gefühlsbetontere Lebensanschauung auch in Deutschland ein. Die englische Philosophie, die theoretische Hauptursache und Begleiterin dieser Wandlung, hatte auf verschiedenen Wegen Eingang in die Literatur und in die Köpfe der Menschen gefunden. Aufklärerische Zeitschriften, die manchmal jahrelang Woche für Woche erzieherisch auf die Menge einzuwirken suchten, nach englischen Vorbildern gearbeitete und seit 1740 auch mehr und mehr englische Romane — dies alles war zur Mode geworden: Das Bürgertum fand neuen Gefallen an Schilderungen seiner Lebensart, an Darstellungen von Schicksalen aus seiner Sphäre. Hier konnte die Bühne nicht zurückstehen. Zwar muß man sich hüten, aus der Tatsache, daß die Gottschedin einige französische Komödien, unter ihnen den oben genannten „Verschwender" und den „Poetischen Dorfjunker" von Destouches, übersetzte 3 3 ), voreilige Schlüsse zu ziehen, aber sie lieferte auch mit ihrer eigenen Produktion einen wertvollen Beitrag zur Einbürgerung und Ausbildung des rührenden Lustspiels in Deutschland. Nachdem sie 1736 mit einer Bearbeitung von Bougeants „Le femme docteur" unter dem Titel „Die Pietisterey im Fischbeinrocke" ihre Begabung für das komische Genre bewiesen hatte, versuchte sie 1743 zum zweitenmal, ein halbwegs eigenes Stück zu schreiben. Es war „Die ungleiche Heirat", für die Molieres „George Dandin" das Vorbild darstellte. „Die Hausfranzösin" nach Holbergs „Jean de France" folgte 1744 und ist ähnlich selbständig 34 ). In beiden Fällen wurde die zupackende Komik der Muster verwässert. Mit langstieligen moralischen Sätzen stutzte die Gottschedin die Fabeln auf. Das Ergebnis ist weder Fisch noch Fleisch. Moral ist überall zu spüren, aber die stellenweise sehr derbe Sprache verrät allzuviel von einem absterbenden Geschmack. 3 3 ) Die Deutsche Schaubühne, nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet, und mit einer Vorrede herausgegeben, III, Leipzig 1741. 3 4 ) Die ungleiche Heirat in: Die Deutsche Schaubühne IV ( 1 7 4 3 ) ; Die Hausfranzösin ebd. V (1744).

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Erst „Das Testament" (1745) 35 ), das vielleicht auf eine der Farcen zurückgeht, die als Nachspiele von den Schauspielergesellschaften nach den eigentlichen Stücken des Abends gegeben wurden, enthält wenigstens eine modernere Figur. Karoline, eine der beiden Nichten der Oberstin von Tiefenborn, einer „alten reichen Witwe", schlägt einen für die Gottschedin neuen Ton an und kontrastiert darin scharf mit ihrer Schwester. Mit Karoline sollten die Zuschauer Mitgefühl haben. Das offene, viel zu ehrliche Mädchen sagt alles, was sie denkt, ihrer Umwelt ins Gesicht und weist schließlich sogar den Freier ab, der seine Liebe, die nur Liebe zum Geld der Tante ist, von der Schwester auf sie übertragen will: „. . . ich will Ihnen nur meine Eigenliebe verraten . . . vorhin war ich Ihnen zu arm, und jetzt komme ich mir zu reich gegen Sie vor. Anitzt erfordert ohnedem die Dankbegierde von mir, daß ich meine bisherigen Dienste 'gegen die Frau Muhme verdoppele, und ich werde gewiß, solange sie lebt, an keine Heirat denken" 36 ). Natürlich wird die Rechtschaffenheit des Mädchens belohnt. Die reiche Tante, die mehr als vier Akte lang mit Hilfe eines richtigen und eines falschen Arztes — ihres Bräutigams nämlich — ihren Angehörigen Sand in die Augen gestreut hat, täuscht alle Erwartungen. Karoline jedoch, obwohl sie nach den Worten ihrer Tante „ein vortrefflich Naturell" hat, „in der Welt arm zu bleiben" 37 ), erhält zwanzigtausend blanke Taler und ein Rittergut. Nicht allein die recht zahlreich im ganzen Stück verteilten Moralen, wie etwa: „. . . kein Mensch ist so böse, der nicht auch etwas Gutes an sich hätte" (III, 2), geben von der Wandlung Kunde, die sich praktisch erst jetzt im deutschen Lustspiel zeigte: Die Charakterzeichnung der Hauptfigur, ihre Uneigennützigkeit, ihre Redlichkeit erschlossen ein neues Gebiet. Einmal spricht die Oberstin von der anständigen Gesinnung Karolines: „Ich habe sie hier recht auf die Probe gestellt; sie hat mir aber nicht das mindeste zum Nachteile ihres Geschwisters sagen wollen. Ja zuletzt bat sie gar für den Bruder, und sich selbst vergaß sie. (Bewegt.) Das Mädchen hat mich recht gerührt" 38 ). S5 ) D i e Deutsche Schaubühne Bd. VI. Neudruck in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre, Zweiter Teil: Drama, hrsg. von F. Brüggemann (Deutsche Literatur, Reihe Aufklärung Bd. 6), Leipzig 1933, S. 83—164. se ) F. Brüggemann, Die bürgerliche Gemeinschaftskultur a . a . O . S. 164 (V,9). 3T ) ebd. S. 128 (III, 5). M ) ebd. S. 129 (III, 7).

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„Gerührt": das war es. Hier wird in Anlehnung an Destouches und Marivaux bewußt das Gefühl angeredet. Das Mitleid soll die Herzen der Zuschauer höher schlagen lassen. Mehr noch als in den Stücken der „geschickten Freundin" Gottscheds bildet die Rührung in Christian Fürchtegott Gellerts ernsten Lustspielen das tragende Element. Der Verfasser hat sie genau wie die Gottschedin die ihren, um den natürlichen Gesprächston zu treffen, in Prosa geschrieben, zum Unterschied von de la Chaussée, mit dem er oft verglidien wird. Ihre Beliebtheit machten Geliert einst zum Repräsentanten der deutschen empfindsamen Komödie. Schon 1745 erschien als erstes Lustspiel dieser Art „Die Betschwester" in den „Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes" (Bd. 2, Stück 2). Das Stück enthält, wie Voltaire es in seiner Vorrede zu „L'enfant prodigue" gefordert hatte, sowohl eine rührende als auch eine komische Komponente, oder, um mit Gottsched zu sprechen, tugendhafte und lasterhafte Charaktere, und Molière und Destouches haben dabei gemeinsam Pate gestanden. Die Geschichte der Titelfigur wird darin aber nicht, wie man glauben könnte, in den Vordergrund gerückt. Die Betschwester, wieder eine reiche alte Witwe, ist ein sanfter gemaltes Gegenstück zum Heuchler Tartuffe. Den Kern der H a n d lung bildet ein edelmütiger Abtausch von Verzichtleistungen — Intrige wäre ein viel zu starker Ausdruck für diese Vorgänge. Nach dem Vorbilde in „La fausse Agnès" von Destouches gibt es bei Geliert zwei Freundinnen: Christiane, die Tochter der Frau Richardin (der Betschwester), in ihrer übergroßen Schüchternheit ein ziemlicher Gegensatz zu ihrer redseligen Mutter, und Eleonore, ein armes Mädchen und Haustochter der Witwe. Den Knoten der Verwicklung bildet eine — Kaffeetasse, die Freier Simon im Gespräch mit der zukünftigen Schwiegermutter, der Frau Richardiin, fallen ließ, wobei ihm ein kleiner Fluch unterlief; über beides kann sich die fromme Dame nicht beruhigen. Von den beiden Mädchen ist eine immer großmütiger als die andere, als Simon, der eigentlich Christiane freien wollte, diese in Unmut und Enttäuschung zugunsten des Lorchen aufgibt. Zunächst tritt Christiane freiwillig ihren Anbeter ab: „Christianchen. Adi ja. Thun Sie es dodi! Sie ist Ihrer viel würdiger, als ich bin. Ich bin zu jung. Ich habe wenig Lebensart. Aber Lorchen — Ach wenn doch mein Bitten —

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Simon. Hören Freundinn sagt?

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Sie wohl, mein liebstes Lorchen, was Ihre gute

Lordien. Ich bin über diese unschuldige Aufrichtigkeit so gerührt, daß ich gehen muß, wenn Sie nicht die Zeichen meiner Schwachheit in meinen Augen sehen sollen" 39 ). Aber dann ringt sich Eleonore zu einem Entschluß durch: „Simon (zu Lordien). Wollen Sie Christianchens Wünschen und mein Bitten Statt finden lassen? . . . Ich bin zu zärtlich gerührt, als daß ich viel reden könnte. Mein Glück steht bey Ihnen, und ich will es nicht meinen Bitten, sondern Ihrem freywilligen Entschlüsse zu danken haben. Lorchen (zu Christianchen). Dir, redliches Kind, soll idi Deinen Liebsten rauben? Dieses kannst Du mir zumuthen" 40 ). Als Freier Simon die zersprungene Kaffeetasse mit einem ganzen „Aufsatz" guten Porzellans vergütet hat, steht auch von Seiten der Frau Richardin der Heirat nichts mehr im Wege. Die rechtschaffene Eleonore, die von sidi sagte: „Ein Mädchen kann arm seyn, und doch Verstand, Tugend, Lebensart, und Geschicklichkeit im Hauswesen haben""), neidet ihrer Freundin den Werber nicht. Sie löst ihre Verlobung mit Simon: „ . . . idi gestehe Ihnen, daß ich mir kein größer Glück in der Welt wünsche, als die Frau eines so edelgesinnten Mannes zu seyn . . . Ihr Herz war nicht für midi, sondern für Christianchen, bestimmt, und je mehr Vergnügen idi in der Ehe mit Ihnen würde genossen haben, desto unruhiger würde ich geworden seyn, daß idi meiner Freundinn so viel entzogen hätte. Werfen Sie mir nicht vor, daß idi zu zärtlich in der Freundsdiaft bin. Ich will lieber durch den Ueberfluß der Freundschaft fehlen, als durch den Mangel" 42 ). Der Lohn für soviel Charakterstärke bleibt nicht aus. Eleonore wird von einem reichen Verwandten der Familie an Kindesstatt angenommen; er will sie glücklich mächen. Die „Betschwester" ist ein Paradebeispiel, wie man in den vierziger Jahren dem Gefühlsleben in den Lustspielen immer größeren Platz einräumte. Die Worte Tugend, Empfindung, Zärtlichkeit kehren wieder und wieder. Wir befinden uns in einer Welt, in der Emp39 ) C. F. Gellerts sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe, II, Leipzig 1853 S. 171 (II, 5). ebd. S. 171 f. (II, 5). 41 ) ebd. S. 179 (III, 2).