Werke: Band 3 Die Entstehung des Historismus 9783486819526, 9783486450835


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German Pages 666 [672] Year 1965

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INHALT
EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS
VORBEMERKUNG
ERSTES BUCH. Vorstufen und Aufklärungshistorie
Erstes Kapitel. Die Vorbereiter
Zweites Kapitel. Voltaire
Drittes Kapitel. Montesquieu
Viertes Kapitel. Französisches Geschichtsdenken neben und nach Voltaire und Montesquieu
Fünftes Kapitel. Die englische Aufklärungshistorie
Sechstes Kapitel. Die englische Präromantik, Ferguson und Burke
ZWEITES BUCH. Die deutsche Bewegung
Siebentes Kapitel. Erste Blicke auf die deutsche Bewegung; Lessing und Winckelmann
Achtes Kapitel. Moser
Neuntes Kapitel. Herder
Zehntes Kapitel. Goethe
Beigabe. Leopold v. Ranke. Gedächtnisrede
Personen- und Sachregister
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Werke: Band 3 Die Entstehung des Historismus
 9783486819526, 9783486450835

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FRIEDRICH MEINECKE W E R K E • B A N D III

FRIEDRICH MEINECKE WERKE

Herausgegeben im Auftrage des Friedrich-Meinecke-Institutes der Freien Universität Berlin von HANS H E R Z F E L D , CARL H I N R I C H S , WALTHER

HOFER

In Zusammenarbeit von K. F. K O E H L E R V E R L A G , R. O L D E N B O U R G V E R L A G , SIEGFRIED

TOECHE-MITTLER

STUTTGART MÜNCHEN

VERLAG,

DARMSTADT

FRIEDRICH M E I N E C K E

Die Entstehung des Historismus Herausgegeben und eingeleitet von CARL H I N R I C H S

R . O L D E N B O U R G VERLAG M Ü N C H E N 1965

4. Auflage (2. Auflage im Rahmen der »Fricdrich-Meinecke-Werke«)

C 1959 R· Oldenbourg, München Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung dee Verlages ist et auch nicht gestattet, da· Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen Gcsamthcmcllung: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GtnbH, München

INHALT Einleitung des Herausgebers

VII

Vorbemerkung

1

Erstes Buch VORSTUFEN UND AUFKLÄRUNGSHISTORIE

Erstes Kapitel

Die Vorbereiter

13

I. Shaftesbury S. 16 — II. Leibniz S. 27 — III. Gottfried Arnold S. 45 — IV. Vico S. 53, Lafitau S. 70

Zweitee Kapitel Drittes Kapitel

Voltaire

73

Montesquieu

116

Boulainvilliers S. 167; Dubos S. 170

Viertes Kapitel

Französisches Geschichtsdenken neben und nach Voltaire und Montesquieu 180 Turgot S. 181; Condorcet S. 181; Diderot S. 182; Rousseau S. 183; Goguet S. 184; Boulanger S. 185; Sainte Palaye S. 187; Mallet S. 189; Mably S. 192

Fünftes Kapitel

Die englische Aufklärungshistorie

193

I. H u m e S. 194 — I I . Gibbon S. 229 — I I I . Robertson S. 236

Sechstes Kapitel

Die englische Präromantik, Ferguson und Burke 243 I. Die englische Präromantik S. 243 — Walpole S. 246; Blackwell S. 248; Lowth S. 249; W o o d S. 252; H u r d S. 255; W a r t o n S. 258; Young S. 259; Percy S. 260 — II. Ferguson S. 261 — I I I . Burke S. 267

Zweites Buch D I E DEUTSCHE BEWEGUNG

Siebentes Kapitel Erste Blicke auf die deutsche Bewegung; Lessing und Windcelmann 285 Lessing S. 288; Windcelmann S. 291

Adites Kapitel

Moser

303

Neuntes Kapitel

Herder

355

Einleitung S. 355 — I. Die Frühzeit S. 359 — II. Die Gesdiiditsphilosophie von 1774 S. 386 — III. Diu Ideenwerk der achtziger Jahre S. 410 — IV. Die Spätzeit S. 432

Zehntes Kapitel

Goethe

445

Einleitung S. 445 Genetischer Teil: I. Die Frühzeit bis 1775 S. 449 — II. Erste Weimarer Zeit und Italienische Reise S. 466 — III. Von der Französischen Revolution bis zum Ende S. 485 — Systematischer Teil: I. Grundvoraussetzungen S. 496 — II. Das negative Verhältnis zur Geschichte S. 504 — III. Das positive Verhältnis zur Gesdiichte S. 525 — IV. Zusammenfassung und Schluß S. 580

Beigabe

Leopold v. Ranke. Gedächtnisrede

Personen- und Sachregister

585 603

E I N L E I T U N G DES HERAUSGEBERS

Friedrich Meinecke hat einmal mit Bezug auf sein letztes Werk über »Die Entstehung des Historismus« bekannt, daß die in ihm behandelten Fragen ihn nidit bloß als eine Angelegenheit der Fachwissenschaft, sondern »als ein Lebensproblem im höchsten Sinne« seit Jahrzehnten beschäftigt hätten 1 . Handle es sich dodi beim Historismus, der modernen geschichtlichen Denkweise, nicht nur um ein Wissensdiaftsprinzip und dessen Anwendung, sondern um ein Lebensprinzip, um »eine neue Schau menschlichen Lebens überhaupt, aus der jenes Wissenschaftsprinzip erst entsprang« 2 . Denn »die Fachwissenschaft der Geschichte wendet nur an, was schon vorher im Seelenleben des modernen Menschen als Prinzip und Richtung, Erkenntnismittel und Gesinnung gewirkt hat und weiter wirkt, über den Kreis der Wissenschaft weit hinaus«3. Bei der Frage der Entstehung des Historismus handelt es sich demnach um eine geistig-seelische Umwälzung allgemeinster Art, um das Aufkommen bis dahin unbekannter Denk- und Empfindungsweisen, die der Entstehung des geschichtlichen Sinnes und der modernen Geschichtswissenschaft vorausgegangen sind und ihre, aber nicht nur ihre, geschichtliche Voraussetzung bilden. Dieses historische Faktum eines Durdibrudis neuer bestimmter Lebensprinzipien durch eine ältere und entgegengesetzte, bis dahin als absolute Wahrheit geltende Schicht menschlichen Fühlens und Denkens stellte für Meinecke aber nach seiner Aussage selbst wieder ein »Lebensproblem im höchsten Sinne« dar, das heißt,die frühe, ja, wie wir sehen werden, lebenslängliche Beschäftigung mit ihm war mit seiner persönlichen und seiner Zeitproblematik aufs engste verflochten. Die damit 1

Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermachersdien Individualitätsgedankens, in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 2. Aufl. (1939), S. 95. 2 Ebenda, S. 96. 3 Ebenda, S. 95.

Vili

Einleitung des Herausgebers

aufgeworfene Frage der biographischen Verwurzelung des Buches über »Die Entstehung des Historismus« erweitert sich aber sogleich, wenn wir die wiederholten Hinweise Meineckes heranziehen, daß seine drei großen geistesgesdiichtlichen Werke, »Weltbürgertum und Nationalstaat«, »Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte« und »Die Entstehung des Historismus« aus einem gemeinsamen Wurzelgrund erwachsen sind. Als Meinecke während der Arbeit am »Historismus« im Jahre 1932 seinen siebzigsten Geburtstag feierte, und Freunde ihm zu diesem Tage ein Originalgemälde Hans Thomas schenkten, das den »ruhig fließenden Oberrhein bei Säckingen in seinem umbuschten Wiesentale« darstellte, sagte Meinecke in seinem Dank 1 : »Am Oberrheine stiegen mir einst eigentlich alle die historischen Fragen auf, denen meine weitere Lebensarbeit gewidmet war. Ich weiß nicht, ob idi nicht den Lösungsversuch für die letzte, mir am stärksten ans Herz gewachsene, aber auch schwierigste dieser Fragen einmal nur als Fragment werde hinterlassen müssen.« Und so heißt es audi in dem zweiten seiner Erinnerungsbücher über seine Straßburger Zeit (1901-1906): »Die Wurzeln der drei geistesgeschichtlidien Werke, die ich in den drei Jahrzehnten von 1907 bis 1936 veröffentlidien konnte, liegen in dem, was mir hier durch den Kopf ging, teils schon als fest ergriffener Leitgedanke, teils als Wendung des Interesses auf neue, lockende, mir bisher fern liegende Erscheinungen des geschichtlichen Lebens2.« In Straßburg wurde das erste Buch von »Weltbürgertum und Nationalstaat« konzipiert, in dem ein Satz steht - wir werden auf ihn zurückkommen - , in dem Meinecke später die Keimzelle seiner »Entstehung des Historismus« erblickte3. Es ist das glückliche Jahr 1905, in das die Osterreise nach Florenz fällt, auf der ihn Machiavelli und »die schwere Problematik derMadit1 Gedrucktes Rundsdireiben, Berlin-Dahlem, Ende November 1932. ζ Straßburg, Freiburg, Berlin 1901—1919. Erinnerungen (1949), S. 40. Ähnlidi in der »Entstehung des Historismus«, siehe unten, S. 9: »Alles, was den drei Büchern gemeinsam ist, geht auf erste Konzeptionen meiner glücklichen, vor einem Mensdienalter verbrachten Straßburger Jahre zurüdc. Dieser Erinnerung widme ich mein Buch, und die wenigen Oberlebenden jener Zeit, die idi damit grüße, wissen, was die damalige geistige Konstellation des oberrheinischen Kulturlebens bedeutete ...« 3 Straßburg, Freiburg, Berlin, S. 191.

Einleitung des Herausgebers

IX

politik inmitten einer Welt voll Schönheit ergriff« und ein erster Ansatzpunkt zur späteren »Idee der Staatsräson« sidi bildete1, es ist dasselbe Jahr 1905, in dem sidi das »Zeitalter der deutschen Erhebung« mit der schon keimenden Problematik von »Weltbürgertum und Nationalstaat« verband2, und in dem nun auch die scheinbar erste direkte Berührung mit dem großen Problem der »Entstehung des Historismus« stattfand: Meinecke veranstaltete in seinem Seminar anläßlich des hundertsten Todestages Schillers eine kleine Feier, indem er Schillers Jenaer Antrittsrede über das Wesen der Universalgeschichte vornahm. »Nah und fem zugleich berührte uns da Schillers Geist. Sein Fortschrittsund Aufklärungsoptimismus, mit dem er auf die Weltgeschichte schaute, war mit unserm historischen Realismus nicht mehr auf einen Nenner zu bringen... Seitdem lag mir nun auch die Frage im Sinne, was unsere heutige geschichtliche Denkweise zugleich mit ihm verbindet und von ihm trennt3.« Wenn also hinter der »Entstehung des Historismus« für Meinecke ein »Lebensproblem im höchsten Sinne« stand, wenn weiter die »Entstehung des Historismus« aus demselben geistigen Wurzelgrunde erwachsen ist wie die beiden vorangegangenen ideengeschichtlichen Werke, und wenn in allen dreien davon die Rede ist, wie ein Neues, Konkretes und Individuelles sich auseinandersetzt mit einem Älteren, Abstrakten und Absoluten - so erhebt sich nun die Frage nach einem beherrschenden Lebensproblem Meineckes überhaupt, von dem die drei großen Bücher verschiedene und doch im Innersten verwandte Ausformungen darstellen. Diese Frage läßt sich aber wiederum nur mit historischen Denkmitteln beantworten, indem wir nadi dem inneren Werden Meineckes fragen. Dabei werden wir sehen, daß der Quellpunkt des Grundproblems auch des Historismusbuches entgegen seinen autobiographischen Angaben sogar noch weiter zurückliegt als in seinen oberrheinischen Jahren. Meinecke hat einmal von einem durch sein ganzes Leben sidi hinziehenden Prozeß der Auflockerung seines inneren Verhältnisses zu seiner norddeutsch-preußischen Heimatwelt gespro1 Ebenda, S. 43. Siehe die Bezugnahme auf »Das Zeitalter der deutschen Erhebung« in »Weltbürgertum und Nationalstaat«, 3. Aufl. (1915), S. 20, Note 1. 3 Straßburg, Freiburg, Berlin, S. 46 f. 2

χ

Einleitung des Herausgebers

dien 1 . Von den verschiedenen, aber innerlich zusammenhängenden Bestandteilen dieser Welt des Elternhauses und der Heimat - dem orthodoxen Pietismus, dem königstreuen Konservatismus, der christlich-sozialen Gesinnung - ist in ihm zuerst der religiöse Pfeiler zerbrochen. Meinecke berichtet von schweren weltanschaulichen Kämpfen, die er um die Zeit seiner Einsegnung 1878 und danach mit dem um das Seelenheil des Sohnes besorgten Vater habe führen müssen, der mit allen Mitteln versuchte, auch ihm den orthodoxen Pietismus, der ihn beseelte und glücklich machte, einzuimpfen 2 . Es war ein Übermaß an kirchlicher Dressur, das wie oft, so auch hier zum Gegenteil des erstrebten Resultates führte: das religiöse Band mit dem Elternhause zerriß für immer3, während das preußisch-konservativ-monarchische Fundament und das von den Christlich-Sozialen erweckte soziale Verantwortungsgefühl sich noch für lange oder dauernd als tragfähig erwiesen. Aber welcher geistigen Welt sah sich Ende der siebziger Jahre ein junger Mensch gegenüber, der sich der kirchlich-orthodoxen Weltanschauung entwunden hatte? Den Vordergrund der geistigen Bühne beherrschte seit der Jahrhundertmitte eine materialistische, positivistische oder pantheisierende Naturwissenschaft, die »das Universum in die ehernen Bande der mechanischen Kausalität geschlagen sah«4. Dem jungen Meinecke ist dieser Geist der damals modernen Naturwissenschaft zuerst in der Dichtung entgegengetreten, in der Dichtung Wilhelm Jensens und Wilhelm Jordans, zweier durchaus epigonaler Geister, von denen besonders Jordan die Forderung vertrat, der Poesie mythologischer Zeitalter eine moderne »Poesie der wissenschaftlichen Erkenntnis« entgegenzustellen: was dabei herauskam, war eine Art Lehrdichtung, die materialistische und darwinistisdie Gedanken mit einer nationalen Nibelungenromantik zu einem gegen das Christentum gerichteten »deutschen Glauben« verband. Diese Geister haben auf den jungen Meinecke nur als geistige Katalysatoren gewirkt, »wie ein Funke ins Pulver«5, 1 Erlebtes 1862—1901 (1941), S. 95. 2 Ebenda, S. 74. 3 Ebenda, S. 80. 4 Ebenda, S. 75. 5 Ebenda.

Einleitung des Herausgebers

XI

indem sie an Stelle des nicht zur Entfaltung gelangten christlichreligiösen Geistes den philosophischen Sinn in ihm erweckten1. Er schöpfte aus ihnen einen »ganz verschwommenen und unreifen Pantheismus«2, vollzog aber nicht die von ihnen, aber auch von wahren Dichtern wie G. Keller und Th. Storm geforderte Beugung der menschlichen Seele unter das auf den Thron Gottes erhobene Naturgesetz. Der junge Meinecke hatte zwar den Glauben an einen persönlichen, Wunder wirkenden und dadurch den Lauf der Natur und Geschichte unterbrechenden Gott der Bibel verloren, aber übrig blieb der Glaube an einen göttlichen Welthintergrund, der sida in einer »Welt der Ideale« offenbart 3 . Von diesen spekulativen Anfängen geriet er durch Pregers »Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter« auf geschichtliche Erscheinungen, »die einen verwandten Gehalt zu haben sdiienen«4, auf die pantheistischen Sekten des Mittelalters und von da zu den Gnostikern und der Frage ihres Zusammenhanges mit der neuplatonischen Philosophie5. Zweierlei ist also offenbar tief erlebt: der von der Naturwissenschaft gelehrte eherne Kausalzusammenhang der Natur oder der Materie und ein als göttlich empfundener Funke in der eigenen Brust, der aus demselben göttlichen Urgründe der Welt herrührt, aus dem die Welt der Ideale stammt, aber Natur und Ideal, Natur und Geist, sind nodi verbunden durdi einen unklaren Pantheismus. Meinecke verläßt die Schule als Freidenker, aber »mit dem Bedürfnis, die Welt ideal zu deuten«, dabei trotzig und stolz auf sein Gewissensrecht strenger Selbstverantwortung, dies letztere ein protestantisches Erbstück, das der Vater ihm bei allem in bester Absicht ausgeübten Zwange dennoch vermachte6. Die nächste Stufe erschließt dem jungen Studenten Droysens Kolleg über »Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte«, in dem der berühmte Lehrer in dem Schüler zweimal »blitzartig« etwas erweckte, was bisher schon in ihm schlummerte, aber noch ι 2 3 * 5 6

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda, Ebenda,

S. 76. S. 75. S. 76. S. 76 f. S. 81.

XII

Einleitung des Herausgebers

keine Klarheit erhalten hatte 1 . Das erste Mal geschah das bei folgenden Ausführungen Droysens: »Wenn man alles, was ein einzelner Mensdb ist und hat und leistet, A nennt, so besteht dies A aus a + χ, indem a alles umfaßt, was er durdi äußere Umstände von seinem Land, Volk, Zeitalter usw. hat, und das verschwindend kleine χ sein eigenes Zutun, das Werk seines freien Willens ist. Wie verschwindend klein immer dies χ sein mag, es ist von unendlichem Wert, sittlidi und menschlich betrachtet allein von Wert. Die Farben, der Pinsel, die Leinwand, welche Raffael brauchte, waren aus Stoffen, die er nicht geschaffen; diese Materialien zeichnend und malend zu verwenden, hatte er von den und den Meistern gelernt, die Vorstellung von der heiligen Jungfrau, von den Heiligen, den Engeln fand er vor in der kirchlichen Überlieferung; das und das Kloster bestellte ein Bild bei ihm gegen angemessene Bezahlung: aber daß auf diesen Anlaß, aus diesen materiellen und technischen Bedingungen, auf Grund solcher Überlieferungen und Anschauungen die Sixtina wurde, das ist in der Formel A = a + χ das Verdienst des verschwindend kleinen x 2 .« »Das ist es«, schreibt Meinecke in seinen Erinnerungen, so habe es damals in ihm gejubelt, »dies Geheimnis der Persönlichkeit liegt allem geschichtlichen Tun und Treiben zugrunde« 3 . Es war das erste Aufblitzen des Gedankens der Individualität als des Schlüsselbegriffs des historischen Denkens im Geiste Meineckes, der diesen Gedanken über den mehr ethisch gefaßten Individualitätsbegriff Droysens weit hinausführen sollte. Die andere Stelle der Droysenschen Vorlesung, die zündend in dem jungen Meinecke wirkte, war ihr Schluß: »... daß wir nicht, wie die Naturwissenschaften, das Mittel des Experimentes haben, daß wir nur forschen und nichts als forschen können. Dann: daß auch die gründlichste Forschung nur einen fragmentarischen Schein von der Vergangenheit erhalten kann, daß Geschichte und unser Wissen davon himmelweit verschieden sind... Es würde uns entmutigen, wenn nicht eines wäre: die Entwicklung der Gedanken in der Geschichte können wir allerdings verfolgen, auch bei lückenhaftem M a t e r i a l . . . So gewinnen wir nicht ein t Ebenda, S. 86 ff. J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von R.Hübner. 2. Aufl. (1943), S.397 f. 3 Erlebtes 1862—1901, S. 87.

2

Einleitung des Herausgebers

XIII

Bild des Gesdiehenen an sich, sondern unserer Auffassung und geistigen Verarbeitung davon1.« Droysen sieht in der Geschichte einen Zusammenhang von Willensakten ethischer Individualitäten, einen Zusammenhang, der aber durch die sittliche Entscheidung des bewußt einen Standpunkt einnehmenden Historikers erst geschaffen wird: der junge Meinecke aber hört in fruchtbarem Mißverstehen offenbar aus jenen Worten Droysens ein Bekenntnis zur Ideen- und Geistesgeschichte heraus, hat er dodi selber im Alter diesen seinen Hang zur Geistesgeschidite als angeborene »Ursünde« bezeichnet2. Und schließlich wurde diese Geistesgeschidite als Problemgeschichte erfaßt - das war ein weiterer bleibender Ansporn für seine wissenschaftliche Arbeit, den Droysen dem jungen Meinedce vermachte: »die Sehnsucht nach dem drängenden, quälenden und Antwort heischenden Problem«3. Die echte historische Frage, so hatte Droysen ausgeführt, »enthält schon mehr als ich gelernt habe, eine Ahnung, die mir aus der Gesamtheit dessen, was ich auch sonst bisher innerlich durchlebt und erfahren habe, hervorspringt. Eben darum kann ich so fragen, und frage ich so.« Hier wird der für Meinedce so bezeichnende innige Zusammenhang zwischen der persönlichen und Zeitproblematik des Historikers und den sich ihm aufdrängenden und von ihm behandelten historischen Problemen hergestellt. So ist es begreiflich, daß der kleine Grundriß der Historik, den Droysen an seine Hörer verteilte, für den jungen Meinedce ein »Sdiatzkästlein« blieb, das ihn neben »den geliebten Gedichten Mörikes« begleitete4. Im Kolleg Droysens warf nach Meinedces Aussage der deutsche Idealismus der großen Zeit noch einmal einen hellen Schein in einen Wissenschaftsbetrieb, der im übrigen durch den herrschenden Positivismus »grau« zu werden drohte 5 . Dieser positivistische Zug der Zeit, »der den Geisteswissenschaften einen möglichst exakten und empirisch gesicherten Charakter geben wollte«, hat auch Meinedces Studiengang mitbestimmt6, »Die 1

J. G. Droysen, a.a.O., S.316. Der Abdruck dieser Stelle in Hübners Ausgabe der »Historik« ist nach Meineckes Kollegheft erfolgt. 2 Erlebtes, 1862—1901, S. 77. 3 Ebenda, S. 88. « Ebenda, S.91. 5 Ebenda, S. 87. 6 Ebenda, S. 119.

XIV

Einleitung des Herausgebers

Idee des schöpferischen Geistes, wie er sich als tausendfältiges Wunder in Geschichte und Leben individualisiert, lag wohl nodi an der Peripherie mancher der Einflüsse, die jetzt auf mich wirkten, aber durdidrang nicht lebensvoll das Ganze der Lehren, die idi empfing. Der Funke davon in mir, den der alte Droysen zur kleinen Flamme erweckt hatte, brannte zwar in meinen stillen Stunden weiter, aber war überdeckt von den Anforderungen des Studiums1.« Dilthey, der diese Flamme am ehesten weiter hätte nähren und den Weg über das Studium Kants hinaus zur nachkantisdien Metaphysik hätte bahnen können, wurde beiseite gelassen, weil er »damals allgemein als etwas abstrus und unverständlich« galt2. Es bedurfte einer erneuten kurzen Krise, um zu einer weiteren Klärung der idealistischen Grundposition zu gelangen. Sie fällt in die Hauslehrerzeit in dem pommersdien Gutsbesitzerhause von Oertzen, in dem ihm die »bisher strikt abgewiesene Christlichkeit« des Elternhauses noch einmal als »eine wundervolle, zum Göttlichen führende Lebensmadit« vor die Augen trat und den Gedanken des nachträglichen Umsatteins zur Theologie vorübergehend erweckte3. Nach ein bis zwei Tagen war diese Anwandlung überwunden: Meineckes »freier Idealismus« ging siegreich aus dieser letzten Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Christentum hervor, in der er sich zugleich läuterte und eine neue Position bezog: er streifte seine »ursprünglichen pantheistischen Eierschalen« ab, indem er »die Frage nach dem Wie? eines göttlichen Prinzips in der Welt durch die einfache Antwort beiseite schob, daß es ein solches, aber unerkennbar in seiner eigentlichen Verbindung mit der Welt, gäbe, daß diese selbst aber nicht göttlich, sondern nur gottverwandt sei4«. Hier taucht ein Grundproblem des Meineckeschen Denkens auf: das des Ineinanders, des Zusammengewachsenseins von spontanem, sittlich und schöpferisch freiem Geist und biologischer und mechanischer Kausalität des Weltzusammenhangs. Es ist das Problem der dualistischen Erscheinung einer transzendentalen Einheit, die Frage nach dem näheren Verhältnis von a + χ in der kultursdiaffenden ι Ebenda. Ebenda. 3 Ebenda, S. 129. * Ebenda.

2

Einleitung des Herausgebers

XV

historischen Individualität. Es ist das Problem, das noch der reife Meinecke 1925 mit den Worten umschrieb: »Kultur und Natur, wir können audi sagen Gott und Natur, sind wohl eine Einheit, aber eine in sich gespaltene Einheit. Gott ringt sich aus der Natur empor mit Ächzen und Stöhnen und mit Sünde beladen und darum in jedem Augenblicke in Gefahr, in die Natur zurückzusinken. Das ist für den rücksichtslos und ehrlidi Betrachtenden das letzte Wort - aber es kann noch nicht überhaupt das letzte Wort sein. Nur ein Glaube, der aber immer allgemeiner in seinem Inhalte geworden ist und mit stetem Zweifel ringen muß, kann den Trost bieten, daß es eine transzendentale Lösung des für uns unlösbaren Lebens- und Kulturproblems gibt. Aber den Glauben, daß irgendein Philosoph diese transzendentale Lösung gegeben hat oder noch geben könnte, haben wir verloren1.« Es war noch nicht eigentlich die Geschichte selbst, auf deren Felde der junge Meinecke dieses Problem, das ja letztlich die Frage nach dem Ewigen in seiner Persönlichkeit und in der vergänglichen Welt war, zum Austrag brachte. Hier auf seinem eigentlichen Berufsgebiet war er Spezialist in brandenburgischpreußischer Geschichte von noch selbstverständlichem Borussismus, allerdings schon bald mit der Neigung zur Verlagerung seines wissenschaftlichen Schwerpunktes von dem durch Droysen und Koser vermittelten Zeitalter des Absolutismus, in dessen sehr versachlichten Akten er keine Möglichkeit der psychologischen Vertiefung in die Seelen der einzelnen Staatsmänner sah2, zum Zeitalter der Befreiung, des christlich-germanischen Kreises und Friedrich Wilhelms IV., deren Ausläufer noch in die Welt des Elternhauses hineingeragt hatten. Es war ein damaliges geistiges Zeitproblem, an dem der junge Meinecke seine eigene Position zu klären versuchte. Es handelte sich um die damals geführte Auseinandersetzung zwischen der historischen und der naturwissenschaftlichen Weltanschauung und Lebensauffassung, die nach den Worten Wilhelm Windelbands »am heftigsten an der Stelle entbrannt war, wo es sich schließlich entscheiden soll, in 1 Kausalitäten und Werte in der Geschichte, 1925, in: Schaffender Spiegel, Studien zur deutschen Geschichtsschreibung und Gesdiiditsauffassung (1948), S. 82. 2 Erlebtes 1862—1901, S. 69.

XVI

Einleitung des Herausgebers

welchem Maße das Einzelwesen den Wertinhalt seines Lebens sidi selbst oder den übergreifenden Zusammenhängen des Ganzen verdankt. Universalismus und Individualismus sind, wie in der Renaissance, wiederum heftig aufeinandergestoßen1.« Dieser Gegensatz gipfelte in der Frage, »in welchem Sinne und in welchen Grenzen das Seelenleben der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise unterworfen werden kann: denn an diesem Punkte zuerst muß über das Anredit dieser Denkformen auf philosophische Alleinherrschaft entschieden werden.« Es war das Bestreben materialistischer und positivistischer Denkrichtungen, »auch das gesellschaftliche Leben des Menschen, die geschichtliche Entwicklung und die allgemeinen Verhältnisse des geistigen Daseins unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten«. Das Thema von Meineckes Staatsexamensarbeit von 1887 2 , das wahrscheinlich von Dilthey gestellt, aber von Meinedce selbst gewünscht worden ist, lautet: »Vergleichung der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften hinsichtlich ihrer Methoden.« Seit Droysens Vorlesung stand dieses Problem dem jungen Meinedce vor Augen3. Diese Frage, ob die Methoden der Naturwissenschaften auch für die Erforschung des geistigen Lebens Gültigkeit hätten, so führte er einleitend aus, sei aus den »Bewegungen des Tages« geschöpft, aber daß für ihn ein Lebensproblem dahinterstand, zeigt die Bemerkung, daß »die tiefsten Fragen menschlichen' Lebens... durch die scheinbar harmlose und unverfängliche Kontroverse« berührt würden. Den Kern der Frage sieht Meinecke in dem Problem der Willensfreiheit, denn wenn das strenge Kausalgesetz im Sinne der Naturwissenschaften lückenlos audi in der Geschichte herrschen soll, so muß spontanes Geschehen ausgeschlossen sein. Auch wenn man zugibt, daß die sittliche und geschichtliche Welt wenigstens zum Teil demKausal1 Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hier zitiert nach der 9. und 10. Aufl. (1921), S. 528. 2 Nachlaß Friedrich Meinecke im Berliner Hauptarchiv. Überarbeiteter und gekürzter Druck in der Vossisdien Zeitung, Jahrgang 1887, Sonntagsbeilage Nr. 48 und 49 zu Nr. 555 und 567 vom 27. November und 4. Dezember. Eberhard Kessel wird im fünften Bande dieser Ausgabe, der die geschichtsphilosophisdien Aufsätze Meineckes enthält, diese Arbeit unter Berücksichtigung des Zeitungsabdrudces erstmalig veröffentlichen. 3 Erlebtes, 1862—1901, S. 132.

Einleitung des Herausgebers

XVII

gesetz unterworfen ist, so beginnt die Schwierigkeit erst bei der Frage, »ob neben dieser Summe von Bedingungen, die unser Tun beeinflussen, audi ein kleines, nodi so kleines χ persönlichster und wahrhaft spontaner Tätigkeit unser Handeln leitet«. Dieses χ wäre, so sagt Meinecke unter Berufung auf Droysen, dessen Beispiel der Sixtinisdien Madonna er hier zitiert, dieses χ wäre »von unermeßlidier Wucht«, es umschlösse den ganzen sittlichen Wert des Menschen, seinen ganzen und einzigen Wert. Den Grund für die Behauptung des Vorhandenseins eines solchen spontanen χ sieht Meinecke nun in der Tatsache des sittlichen Bewußtseins. »Ein rätselhaftes Gefühl. Ringsum von der Warte unseres beobaditenden Geistes Kausalzusammenhang, und nur hier oben in dem Selbstbewußtsein, in dem Sitze alles Wahrnehmens und alles Denkens, die Negation des Gesetzes, unter dessen Bann alles andere steht... Jener Anspruch des unmittelbaren Gefühls gehört nicht unter die Gerichtsbarkeit des Verstandes. Hier steht nicht die Partei vor dem Richter, sondern zwei Parteien stehen einander gegenüber, deren eine so gut ihr Lebensrecht zu behaupten versucht wie die andere... Es sind ungleiche Söhne einer Mutter, beide wurzeln im inneren geistigen Leben des Menschen - Gefühl und sittliches Bewußtsein gegenüber dem Kausalgesetz, auf dessen folgerichtiger Durchführung der Verstand unerbittlich besteht...« Sätze von großer Bedeutung, nicht nur, weil sie einen Bestandteil der ersten geschiditstheoretischen Äußerung Meineckes bilden, von der eine gerade Linie zu den abschließenden Aufsätzen über »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« .von 1925 und »Geschichte und Gegenwart« von 1933 geht, sondern auch, weil sie geradewegs in das Lebens- und Geistesproblem Meineckes überhaupt führen. Das innere geistige Leben des Menschen enthält als gemeinsame Mutter zwei ungleiche, feindliche, aber gleichberechtigte Söhne: Verstand auf der einen, unmittelbares Gefühl und sittlidies Bewußtsein auf der anderen Seite. Der eine besteht auf allgemeiner Gesetzlichkeit, die anderen auf Freiheit, Spontaneität und Individualität. Dieser so stark empfundene und betonte Dualismus von nomothetischen Verstandeskräften und individualisierend-intuitiven Seelenkräften in der menschlichen Natur beruht wohl auch auf einer persönlichen Anlage Meineckes, der sowohl von der rationalistischen Erbschaft wie von der roll

Meinecke, Historismus

XVIII

Einleitung des Herausgebers

mantisdi-spätromantisdien Disponiertheit seines Wesens gesprochen hat 1 . Der frühe Individualitätsbegriff Meinedces ist dabei unter dem Einfluß Droysens und Kants noch stark ethisdi gefaßt, seine allmähliche Umwandlung, Vertiefung und Erweiterung werden wir zu verfolgen haben. Vor allem aber sollte sich der Gegensatz von allgemeinem Gesetz und individueller Spontaneität, der hier bei Meinecke zuerst als Problem der Willensfreiheit, von Freiheit und Notwendigkeit, im Gewände eines wissenschaftsgeschiditlich-zeitbedingten Methodenstreites auftritt, als ein Zentralproblem Meinedces erweisen, das die verschiedenartigsten Ausprägungen finden konnte und in Meinedces Denken seine höchste Allgemeinheit in dem Gegensatz von Natur und Kultur gefunden hat. Während der Arbeit an seiner ersten geschichtstheoretisdien Abhandlung hat Meinecke audi den 1883 erschienenen ersten Band von Wilhelm Diltheys »Einleitung in die Geisteswissenschaften« gelesen und damit für immer den Zugang zu dem großen Kultur- und Geistesphilosophen gewonnen. Man versteht es, daß Meinecke seine theoretische Erstlingsarbeit von Droysen und Dilthey zugleich inspiriert nennt 2 , wenn man in der »Einleitung in die Geisteswissenschaften« für Meinecke grundlegende Sätze wie die folgenden 3 liest: »Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit ausgegangen ist, diese Wissenschaften (sc. des Geistes) als eine Einheit von denen der Natur abzugrenzen, weist in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durdi welche er sich von der ganzen Natur absondert. Er findet sich in dieser Natur in der Tat, einen Ausdrude Spinozas zu gebraudien, als imperium in imperio. Und da für ihn nur das besteht, was Tatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Wert, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Tat1 Ebenda, S. 12,44,77. 2 Ebenda, S. 132. 3 S.6.

Einleitung des Herausgebers

XIX

bestände jedes Ziel seiner Handlungen. So sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten des Ganzen aufblitzt; hier bringen die Taten des Willens im Gegensatz zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, weldier im Ansatz alles, was in ihm erfolgt, sdion enthält, durch ihren Kraftaufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung das Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwicklung schwelgen.« Aber über diese Grundposition hinaus mußte Meinecke bei Dilthey zweierlei finden, das für die Entwicklung seines Denkens von größter Bedeutung war: einmal die Erweiterung des bei Droysen vorwiegend moralisch verstandenen Individualitätsbegriffes zu dem eines psydio-physischen Ganzen, das eine Unermeßlichkeit, eine Welt darstellt, »in der schließlich die Unermeßlidikeit der Natur nur enthalten ist«1, und das eine Symbiose von biologischen, mechanischen und geistigen Kausalitäten ist2. In diesem Zusammenhange ist Meinecke hier bei Dilthey überhaupt wohl zum ersten Male das Wort »individuum est ineffabile« entgegengetreten 3 . Dilthey spridit dabei von der »Singularität eines jeden solchen einzelnen Individuums, das an irgendeinem Punkte des unermeßlidien geistigen Kosmos wirkt« 4 . Ist die Verstärkung und Vertiefung des Individualitätsbegriffes das Eine, das Dilthey dem jungen Meinecke vermitteln konnte, so handelt es sich bei dem andern um ein nicht weniger bedeutsames Element. Es ist der Begriff des »natürlichen Systems« der Geisteswissenschaften, der in diesem Buche Diltheys zum ersten Male auftritt. Dilthey zeigt, wie in der Neuzeit an die Stelle der mittelalterlichen metaphysischen Konstruktion des Geschichtsverlaufs, der Staats- und Gesellschaftslehre ihre naturrechtliche Konstruktion, eben das »natürliche System« getreten ι 2 î • II·

S. 29. Besonders S. 14, 17,19. S. 29. Ebenda.

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ist, nadidem man sidi des Widersprudies der alten Metaphysik zu den neuen Naturwissenschaften und ihren Methoden bewußt geworden war 1 . Das »natürliche System« war nach Diltheys damaliger Auffassung, in der die Bedeutung des Neustoizismus für die Entstehung des natürlichen Systems noch fehlt, die Übertragung des mechanischen Kausalitätsdenkens der Naturwissenschaften auf das menschliche Individuum, seine Psychologie, seine Gesellschaft und seinen Staat. »Die Methode«, sagt Dilthey, »nach welcher das natürliche System Religion, Recht, Sittlichkeit, Staat behandelte, war unvollkommen. Sie war vorherrschend von dem mathematischen Verfahren bestimmt, welches für die mechanische Naturerklärung so außerordentliche Ergebnisse gehabt h a t t e . . . Die Grundlage des Verfahrens bildete ein abstfaktes Schema der Menschennatur, welches in wenigen und allgemeinen psychischen Teilinhalten den Erklärungsgrund für die T a t sachen des geschichtlichen Lebens der Menschheit aufstellte.. .«2. In dem von Dilthey eingeführten geistesgeschichtlichen Begriff des »natürlichen Systems« mußte Meinecke neben dem naturwissenschaftlich-mechanischen Kausalitätsdenken eine andere mit diesem zusammenhängende Denkform in der Geschichte auch der Geisteswissenschaften entgegentreten, die zu dem von ihm bereits erfaßten individualisierenden Denken im Gegensatz stand: die naturrechtliche Denkweise, von der es bei Dilthey hieß: »Eine solche Isolierung und dann eine mechanische Zusammensetzung von Individuen, als Methode der Konstruktion der Gesellschaft, war der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule3.« Das Gegensatzpaar von Natur- und Geisteswissenschaften, Kausalität und Spontaneität, Natur und Kultur erhielt eine weitere Ausprägung in dem Gegensatz von naturrechtlichem und individualisierendem Denken innerhalb der Geisteswissenschaften selber. Und noch auf eine weitere Spielart jenes Gegensatzes müssen wir hier unseren Blick richten. Wir erinnern noch einmal an das Wort Windelbands, daß der Kampf zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Weltanschauung am heftigsten an der Stelle entbrannt sei, »wo es sich schließlich entscheiden soll, in ι S. 373 ff. S. 379. Hervorhebungen von Dilthey. J S. 31. 2

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weldiem Maße das Einzelwesen den Wertinhalt seines Lebens sich selbst oder den übergreifenden Zusammenhängen des Ganzen verdankt. Universalismus und Individualismus sind wie in der Renaissance wiederum heftig aufeinandergetroffen.« Audi die Frage der Uber- oder Unterordnung des Individuums über oder unter das Gesetz der Allgemeinheit war eine Form des Meinecke so tief bewegenden Gegensatzes von individuellen Kräften und außerindividuellen Gesetzlichkeiten. War bisher der Metaphysiker, der Geschichtstheoretiker, der Historiker in Meinecke betroffen gewesen, so waren es bei dieserFrage der Historiker und der Politiker. Denn Meinecke wollte ja nicht ein bloßer Fachgelehrter sein, sondern seine Individualität im Sinne eines vollen, allseitigen Menschentums vollenden. Zu einer solchen allseitigen Bildung der Persönlichkeit gehörte auch das Verhältnis zum Staat und die Arbeit am Staat im Zusammenhang mit der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Es war »das Ethos eines Zusammenhanges aller Lebenswerte... letztlich aber religiöse Kulturgesinnung«, wie Meinecke es in seinen Erinnerungen selbst formuliert hat 1 . Ihren ersten Niederschlag fand die unter dem Einfluß Droysens und Diltheys und in Auseinandersetzung mit den Jugendfreunden Otto Hintze und Otto Krauske erreichte geistige Stufe in dem ersten Bande des »Lebens des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen«, der 1895 erschien. Gleich im Vorwort legt Meinecke dar, welch hohe und umfassende Stellung er der historischen Wissenschaft im Kulturganzen zuweist. Wie ihn die Möglichkeit gefesselt hat, »den steten inneren Zusammenhang aller militärischen Gedanken Boyens mit dem allgemeinen geistigen und politischen Leben der Nation darzutun«, so ist es ja überhaupt der beste Dienst, »den die historisdie Wissenschaft den einzelnen Gebieten unserer Kultur erweisen kann, wenn sie ihnen das Bewußtsein eines solchen Zusammenhanges stärkt, wenn sie ihnen zeigt, daß alle Arbeitsteilung, alle fachmännische Vollkommenheit wertlos wird, wenn sie nicht immer von neuem wieder genährt wird von allgemeinen geistigen und sittlichen Impulsen«2. Meineckes »Boyen« ist als eine Gestalt auf der Grenzsdieide des Alten und Neuen sdion in der eigentlichen 1 Erlebtes 1862—1901, S. 154. 2 Boyen I, S. V.

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Meineckeschen Geistessphäre der Wandlung von Aufklärung zu Idealismus und Romantik angesiedelt, eine Gestalt des Übergangs, die schon ganz moderne Forderungen stellen und sie dodi mit Gründen verteidigen kann, die den alten absterbenden Zuständen entnommen sind1. Eine solche im Doppellicht zweier Zeitalter zwischen Rationalismus, Idealismus und Romantik, zwischen Universalismus, Individualismus und Nationalidee stehende Gestalt mußte tief anziehend auf Meinecke wirken und ihm Gelegenheit bieten, eigene Grundpositionen aufleuchten zu lassen. So treffen wir denn in der Tat im »Boyen« auf eine bedeutende Vertiefung und Verfeinerung des Individualitätsgedankens, die audi dadurch gewonnen wird, daß hier zum ersten Male als sein Gegenspieler nicht mehr naturwissenschaftliches Kausalitätsdenken, sondern Rationalismus und naturrechtliches Denken auftreten. Der Individualitätsgedanke hat damit eine »historische« Fassung bekommen, er tritt als das Produkt einer geschichtlichen Entwicklung und Auseinandersetzung auf. Kant wird als Ausdruck und Höhepunkt des Aufklärungszeitalters gesehen2, sein Idealismus der sittlichen Freiheit, der in dem ethisch gefaßten Droysenschen Individualitätsbegriff weiter wirkte, als »naturrechtliche« Schranke für den modernen Individualitätsbegriff empfunden. So heißt es über Kants kategorischen Imperativ: »Aber so mächtig wirkende Grundsätze sind selten ohne eine grandiose Einseitigkeit, ohne eine Vergewaltigung feinerer Seiten des inneren Lebens. So tat audi Kant so manchem >zarten Seeldien< unter den menschlichen Trieben Gewalt an mit seiner rücksichtslosen Ausrodung alles Empirischen aus dem Sittengesetz. Denn in das Gebiet der Erfahrung gehört ja auch die ganze Fülle der das Handeln bestimmenden individuellen Empfindungen für Wert und Unwert einer Handlung, für Edles und Verwerfliches - unendlich mannigfaltig, weil dodi in der Tiefe eines jeden eine besondere Stimme lebt, die ihm einen eigenen Weg zum Handeln weist, einen oft viel steileren und entsagungsvolleren als der, den ein allgemeines Sittengesetz gebieten würde. In seinem Verlangen, ein einheitliches und notwendiges Prinzip des sittlichen Handelns zu finden, sah er auf ι Boyen I, S. 122. 2 Boyen I, S. 83.

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dieses ganze Gebiet des Empirischen als auf das Zufällige und Haltlose herab und opferte die innere Einheit des Menschen, weil er das einigende Band nicht fand zwischen den Neigungen und Gefühlen auf der einen und dem formalen Sittengesetz auf der anderen Seite... 1 . W i e Kant nicht den Weg zum Verständnis der inneren organischen Einheit der menschlichen Triebe findet, so liegt auch der rationalistischen Staatsauffassung der Gedanke der organischen Einheit der Nation noch fern. Wie der aufgeklärte Despotismus scheinbar irrationale Bräuche und Anschauungen des Volkes so oft kurzweg unterdrückte und sein Leben nach möglichst rationalen Normen zu regeln suchte, so strebte auch Kant nach solchen rationalen Grundsätzen von strenger Notwendigkeit. Jene rücksichtslose Verbannung alles in der Erfahrung Gegebenen aus dem Sittengesetz, auf denersten Blick eine T a t von ganz singulärer Kühnheit, war doch zum nicht geringen Teil mit die Konsequenz jener Richtung, welche die flatternden Regungen des Gemüts und der Einbildungskraft möglichst unter die Zucht der aufgeklärten Vernunft zwingen wollte...« 2 . Meinecke spricht im »Boyen« schon von der »naturrechtlichen Anschauungsweise der Zeitgenossen, welche der vernünftigen, aufgeklärten Verwaltung des preußischen Staates einen leichten Sieg über die nationalen Gegensätze (zwischen Deutschen und Polen) zutrauten. Aber Boyen hatte doch zugleich auch schon ein gewisses Gefühl von ihrer Bedeutung und ihren in das Gemütsleben hinabreichenden W u r z e l n . . .«3. Als »Gegengift« gegen den Rationalismus bezeichnet Meinecke »das jubilierende Erwachen des neuen auch in den Tiefen der Seele wurzelnden Geistes in den Dichtungen Goethes und den Gedanken H e r d e r s . . . mit liebender Inbrunst belauschte man das frei und natürlich aus ihm (sc. dem Menschen) Hervorquellende... Goethe, Herder und ihre Mitstrebenden fanden die Wurzeln wieder, welche den Menschen mit der Natur verbanden, indem sie in ihm nur die höchste Blüte einer im ganzen Weltall tätigen Schöpferkraft sahen. Der Gedanke einer freien organischen Entwicklung trat auf, fruchtbar auf Generationen hinaus, in erster Linie aber verlangte er jetzt eben das freie Wachstum der In1 Boyen I, S. 82. 2 Boyen I, S. 83. 3 Boyen I, S. 57.

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dividualität.« Meinecke spricht in diesem Zusammenhang geradezu von gegenüber dem Rationalismus und dem naturreditlidien Denken »neu entfesselten Kräften der Individualität« 1 . Er ist audi hier wieder Dilthey verpflichtet, und zwar dem Kapitel über Shaftesbury und Spinoza in seinem »Leben Schleiermadiers«, das er hier zitiert. Die Anschauung vom Menschen als der höchsten Blüte einer im ganzen Weltall tätigen Schöpferkraft verdankt Meinecke der durch Dilthey vermittelten Kenntnis Shaftesburys, der sich bei Dilthey von dem in den Sätzen der stoischen und römischen Moral enthaltenen Gedanken der sittlichen Autonomie des Menschen zu einem Satze erhebt, der zu Rousseau, Kant, Herder, Schiller und dem Goetheschen Aufsätze »Natur« hinüberführt: »Es gibt eine bildende Kraft in der Menschennatur; in ihr sind sittliches und künstlerisches Vermögen ungetrennt; sie hat ihren letzten Sinn in dem teleologischen Charakter des menschlichen Trieblebens; so gravitiert der Einzelmensch als Teil des Universums nach dem Ganzen... In dem Naturgesetze, nach dem das Individuum zu dem Ganzen gravitiert, ist schon durch eine lebendige Selbsterfahrung das Verhältnis gegeben, wonach eine innere Kraft und ein immanenter Zweck des Teiles mit dem Ganzen des Universums verknüpft ist. Die bildende Kraft in mir, die mein Leben zum Ideal gestaltet, ist eben durch den universellen Affekt mit dem Geiste, der das Universum belebt, verbunden... Unsere Erkenntnis hat die einheitliche Technik der Natur zu ihrem Gegenstande. Diese wird in dem Zeitalter Newtons vor allem in den Beziehungen der Himmelskörper nach Gesetzen der Gravitation aufgefaßt. Wir müssen aber audi einen jeden Organismus als ein System betrachten, in dem die Teile zum Ganzen durch die Einheit des Zweckes geordnet sind. Diese organische Welt erweist eine Bildungskraft als wirkend in der Pflanze und dem Tier, in der Entstehung der Organismen aus den Keimen und in dem Instinkt, durch den uns die Natur vor aller Erziehung hat belehren wollen. So ist uns die erkennbare einheitliche Technik der Natur der Hinweis einer ihr innewohnenden, künstlerisch wirkenden Bildungskraft 2 .« Die Anschauung Shaftesburys vom Individuum 1 Boyen I, S. 89. 2 W.Dilthey, Das Leben Sdileiermadiers, I, 2.Aufl. (1922), S. 178ff.

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als einer durch bildende Kraft organisierten entelediialen Einheit, in der dieselben plastischen Kräfte wie im Weltganzen wirken, mußte für Meinedce zu einem Schlüssel für den Individualitätsbegriff der deutschen Bewegung werden, ohne daß er auf die Dauer dem von Shaftesbury vertretenen Monismus und Pantheismus verfiel. Vor allem war aber auch mit dem Gedanken der entelediialen Individualität der der organischen Entwicklung gegeben, der als »fruchtbar auf Generationen hinaus« im ersten Bande des »Boyen« zum ersten Male genannt wird. Daß die Individualität und ihre geistige Welt von einer im Kern unauflöslichen bildenden und organisierenden geistigen Kraft, die alle anderen Kausalitäten und Einflüsse zu einer eigenen und besonderen Synthese verschmilzt, geformt und gebildet wird, das hat Meinecke dann in der zwischen dem ersten und zweiten Bande des »Boyen« liegenden Auseinandersetzung mit Lamprecht über kollektivistische und individualistische Geschichtsauffassung (1896) ausgesprochen: »Wohl spricht auch Lamprecht von dem erfahrungsgemäß gegebenen Kern des Individuums, aber er versteht etwas anderes darunter als wir. Er ist offenbar der Ansicht, daß es zwar nicht faktisch, aber prinzipiell möglich sei, ihn aufzulösen. Für uns ist er schlechthin seiner Natur nach unauflösbar und einheitlich, ist er das innere Heiligtum, in dem auch die Weltanschauung wurzelt. Die einzelnen Elemente derselben mögen zusammengeflossen sein aus allerlei Quellen; daß und wie sie miteinander verbunden werden, ist zum guten Teile die spontane Tat des apriorischen χ im Menschen1.« Im zweiten Bande des »Boyen« (1899) ist sodann bemerkenswert, wie hier zum ersten Male sich das geschichtliche Problem der allmählichen Wandlung des naturrechtlichen zum historischen Denken ankündigt. Boyens Jugenderziehung wurzelt im Rationalismus, aber teils durch den Einfluß Kants, teils »durch eigene innere Anlage« arbeitet er sich empor zu »einer kräftigen autonomen Innerlichkeit. Mehr tatsächlich freilich durch die stetige, stille Glut seines inneren Lebens, als durch bewußte Überwindung der verflachenden rationalistischen Theorie2.« Nicht theoretische Uberwindung, sondern Wandlung des Lebensgefühls ι Historische Zeitschrift, 77 (1896), S. 165. 2 Boyen II, S. 406.

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bringt das Neue hervor. Denn, so heißt es bei Meinecke: »Audi das Lebensgefühl, diese unmittelbarste, scheinbar unauflösbare und ursprüngliche Äußerung des Innern, ist der geschichtlichen W a n d l u n g unterworfen. Mag es im Kerne schließlich auf allen Stufen dasselbe sein, wir sehen es doch immer nur in wechselnden Gestalten. Drei, wenn man will, selbst vier große Stufen hat seine Entwicklung vom 18. zum 19. Jahrhundert durchgemacht, vom Rationalismus über die idealistische Philosophie der klassischen Zeit zur historisch-induktiven Weltanschauung der neueren Jahrzehnte, die sich schon mit einem reinen Naturalismus auseinandersetzen muß 1 .« Weltanschauliche Wandlungen werden also auf allgemeinere Wandlungen eines »Lebensgefühls« zurückgeführt und eine solche Wandlung liegt auch der Entstehung der »historisch-induktiven Weltanschauung« zugrunde. An anderer Stelle macht Meinecke den Versuch, die Wandlung des naturrechtlichen Fortschrittsgedankens zum historischen Entwicklungsgedanken aus dem Zeiterlebnis zu erklären. Er sagt von Boyen 2 : »Wenn er ein sittlich-vaterländisches Leben in Staat und Gesellschaft wecken wollte durch eine Erziehung von oben her, durch Formen, die der aufgeklärte Gesetzgeber schaffen sollte, so wirkte darin unbewußt die alte rationalistische Ansicht nach, daß es eine lex naturae, ein vernünftiges Lebensideal schlechthin gäbe. Aber sie verband sich schon inkonsequent, jedoch sehr wirksam, mit einem neuen wichtigen Prinzip. Die naturrechtliche Weltanschauung hatte ja schon frühe den Begriff des Fortschritts und der stetigen Vervollkommnung der Welt in sich aufgenommen. Boyen hatte ihn begierig aus Kraus' Munde in Königsberg aufgenommen. Von hier bis zur Erkenntnis der historischen Entwickelung, deren Stufen eng aufeinanderfolgen, aber jede für sich und in sich auch wieder besonders bedingt ist und zusammenhängt, war der W e g nicht so gar weit, und die großen Erfahrungen der Zeitgeschichte trieben die Geister geradezu auf ihn hin. Wandelbarkeit und Entwickelung aller Orten, Entwickelung und Steigerung des einzelnen Menschen, der Gesellschaft, des Staates, Kampf des Alten und Neuen, geistige Bewegungen unaufhaltsam und siegesbewußt in sich trotz des 1 Ebenda. 2 Boyen II, S.410Í.

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Gegendruckes, - es war die stärkste Befruchtung des historischen Entwickelungsgedankens, die man sich vorstellen kann.« In Boyens geistiger Welt verbinden sich nach Meinecke Zweckgedanke und Entwickelungsgedanke 1 , naturrechtliche und historische Denkweise 2 . »Die Vernunft sagt er (Boyen) einmal, gibt dem Gesetzgeber das Ziel; die Bildung, das Eigentümliche des Volkes, die Weite des Weges, bestehende Rechte, selbst Vorurteile bestimmen die Stationen und die zu wählenden Formen 3 .« Staaten, Völker, Herrscher haben ihren bestimmten historischen Zweck, ihre besonderen Lebensaufgaben, die sie erfüllen oder verfehlen können. W e n n Boyen aber die Verwirklichung oder Verfehlung solcher Zwecke und Ideen in der geschichtlichen Wirklichkeit nachzuweisen versucht, vereinigt sich bei ihm rationalistische Teleologie mit historischer Ideenlehre 4 . »Verbanden sich aber«, so führt Meinecke aus 5 , »wie wir es bei Boyen weiter sahen, naturrechtliche und historische Denkweise miteinander, dann konnten, trotz starker Widersprüche und Divergenzen dieser beiden Prinzipien, audi wertvolle wissenschaftliche Früchte aus dieser Verbindung hervorgehen, richtige und wichtige Erkenntnisse, die den folgenden Generationen in Fleisch und Blut übergingen, und deren halb naturrechtlidier Ursprung darüber beinahe vergessen worden ist. Jener rationalistische Zweckgedanke hat in nicht geringem Maße dazu beigetragen, den Begriff der Nation und des nationalen Staates rein und deutlich herauszuarbeiten... 6 . Kam dann lebendige politische Erfahrung und ein kräftiges inneres Eigenleben hinzu, dann konnte die geschichtliche Vergangenheit in ein überraschend helles und scharfes Lidit treten.« Zu der Entstehung des Nationalgedankens aus naturrechtlichen Wurzeln treten hier politische Empirie und der 1 Boyen II, S. 411. 2 Boyen II, S. 412. 3 Boyen II, S.411. 4 Boyen II, S.411, 413. 5 Boyen II, S. 412 ff. 6 Meinecke zitiert hier zur Erläuterung des Gedankenganges aus einem Fragment Boyens »Über den Entwicklungsgang der Völker«: »Es ist eine Eigentümlichkeit unserer Denkkraft, daß dieselbe bei allen als selbständig erkannten Gegenständen einen Zweck derselben voraussetzt und diesen sowohl als die Gesetze, nadi denen er erfüllt wird, zu erforschen strebt.«

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Individualitätsgedanke, um die Entstehung des historischen Sinnes Boyens zu erklären. Von fern klingen in einem einzigen Akkord die drei Themen der drei großen geistesgeschichtlichen Bücher Meineckes an. Aber der zweite Band des »Boyen« kennt nodi einen weiteren Weg vom naturrechtlichen Denken zum Historismus, bei dem aus der Verbindung und Spannung von naturrechtlichem und historischem Denken das historische Denken als alleiniger Sieger hervorgeht. Meinecke zeigt, daß bei Boyen »die teleologische Betrachtungsweise, indem sie die geschichtliche Verwirklichung der Ideen nachzuweisen versuchte und dabei doch den vielfachen Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit sich nicht verhehlen konnte, zu einer mehr historischen Auffassung hingedrängt wurde. Indem sie auf die Macht der Zeitverhältnisse aufmerksam wurde, welche die Ideen in ihrer Erscheinung trübten, mußte sie sich eingestehen, daß ein absoluter Maßstab des Urteils hier versagte, daß jede Zeit in ihrer Besonderheit verstanden werden müsse. Je energischer und induktiver sie also die Geschichte als das Reich vernünftiger Zwecke zu bemeistern suchte, um so rascher untergrub sie sich gewissermaßen selbst und bereitete einer mehr empirischen und objektiven Auffassung den Weg1.« So scheint uns Boyen als das erste Paradigma für die Auseinandersetzung naturrechtlichen und historischen Denkens in derselben geistigen Persönlichkeit entgegenzutreten und vorauszudeuten auf den Reigen thematisch gleichartig bestimmter Gestalten in der »Entstehung des Historismus«. Aber dies alles ist doch nur eingesprengt in die breite Erzählung und darf durch Isolierung nicht überbetont werden. Meinecke hat selber gesagt, daß sich in seinem »Boyen« geistesgeschichtliche Neigung verrate und mit allgemeinen, jetzt aufkeimenden Tendenzen zusammentreffe. Aber er sieht im »Boyen« noch zu viel Ehrfurcht vor dem Stofflichen, er stand nach seinem Urteil noch nicht frei genug über dem geschichtlichen Schauspiel2. Diese Freiheit und damit den vollen Durchbruch zur reinen Geistesgeschichte hat er doch erst in der Straßburger Zeit errungen. Es ist hier nicht der Ort, auf die Entstehungsgeschichte von »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1907) einzugehen. Es ι Boyen II, S.415. 2 Erlebtee 1862—1901, S. 221

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kommt hier nur darauf an, die Bedeutung dieses Budies für die Entwicklung des Historismusproblems bei Meinecke anzudeuten. Wir sind damit eingetreten in die für Meineckes Schaffen entscheidenden Jahre. Ihr Schauplatz ist die »oberrheinische Kulturprovinz« mit Straßburg und Freiburg, jene aus rechtem und linkem Rheinufer, Elsaß und Baden bestehende südwestdeutsche Kultureinheit: »damals, wie für unser schauendes Äuge, so auch für Verstand, Herz, geschichtliches, politisches, kulturelles Denken und Empfinden eine einzige, im Sonnenschein leuchtende Landschaft von unerschöpflichem geschichtlichen Reichtum und jetzt von frischesten Geistesregungen neu umblüht«1. Bei diesen neuen Geistesregungen, die audi ihn mächtig gefördert haben, denkt Meinedke vorzugsweise einmal an die »südwestdeutsche Philosophie« Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts, zum anderen an die »zwei mächtigen Menschen in Heidelberg«, die an der »Vertiefung geschichtlicher Probleme, überhaupt an der rücksichtslosen Aufdeckung von Hintergründen arbeiteten«: an Max Weber und Ernst Troeltsch2. Zu Windelband und Rickert führte unmittelbar jene dualistische Problematik, die sich für Meinecke wissenschaftlich in der Frage des Verhältnisses von Natur- und Geschichtswissenschaft dargestellt hatte. Windelband hatte in seiner Straßburger Rektoratsrede von 1894 über »Geschichte und Naturwissenschaft«3 den Unterschied beider Disziplinen von ihrer Methode her zu bestimmen versucht, von der individualisierend-idiographischen Methode einerseits, der nomothetischen Methode andererseits; der Unterschied wurde in das erkennende Subjekt des Forschers verlegt, der als Naturwissenschaftler »wertfrei« denkt, als Historiker nach »Werten«, nach Kulturwerten urteilt. Diese Theorie der nicht-wertenden generalisierenden naturwissenschaftlichen Methode und der wertenden und individualisierenden kulturwissenschaftlidien Methode ist dann von Ridkert zuerst zu einem geschlossenen wissenschaftstheoretischen System entwickelt worden in seinen beiden Büdiern »Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft« (1899) und »Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung« (1902). 1 Straßburg, Freiburg, Berlin 1901—1919, S. 55. 2 Ebenda, S. 51. 3 Wilhelm Windelband, Präludien, Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, 9. Aufl., 2. Bd. (1924), S. 136 ff.

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Meinecke hat vor allem Rickerts Wertphilosophie in seine Geschicbtstheorie aufgenommen, aber nicht ohne sie später zu modifizieren. Werte bedeuten für Meinecke »Kultur im höchsten Sinne . . . das heißt Durdibrüdie, Offenbarungen des Geistigen innerhalb des kausalen Naturzusammenhangs« 1 . Er stimmt mit Ridcert darin überein, daß »die kleine Auswahl dessen, was wir aus der ungeheuren Masse des Geschehenen als erforschenswert ansehen«, sich »gemäß der Beziehung, die dies Geschehen für die großen Kulturwerte hatte«, vollzieht2. Dagegen hat er Rikkerts Forderung, daß der Historiker zwar nur wertbezogene Tatsachen zu erforschen und darzustellen, aber nicht selber zu werten habe, abgelehnt: schon das Auswählen wertbezogener Tatsachen sei nicht ohne ein Werten möglich; audi bestünden die Werte, auf die sich die historischen Tatsachen beziehen, nicht, wie Rickert meine, in so allgemeinen Kategorien wie Religion, Staat, Redit usw., sondern schon der individuelle, konkrete Inhalt solcher Kategorien werde vom Historiker als mehr oder weniger wertvoll aufgefaßt, das heißt gewertet. »Die Darstellung und Veranschaulichung kulturwichtiger Tatsachen ist gar nicht möglich ohne lebendigste Empfindung für die in ihnen sich offenbarenden Werte 3 .« In den Werten sieht Meinecke die Offenbarung des Göttlichen in der Geschichte, in der Hinwendung des Historikers zu ihnen die Möglichkeit für ihn, Gott in der Geschichte zu finden. Vor allem aber hat Meinecke ein eigenes System der Kulturwerte entwickelt, in dem er »absichtsvoll« hervorgebrachte religiöse, philosophische, künstlerische, wissenschaftliche, politische und soziale Gedanken und Gebilde und mittelbar erblühende und nicht von vornherein beabsichtigte, aus den Notwendigkeiten des konkreten praktischen Lebens heraus entstehende Kulturwerte unterscheidet4. Im ersteren Falle versucht der Mensch den geradesten und steilsten Aufstieg aus der Natur zur Kultur, im zweiten Falle bleibt er auf der Ebene der Natur, aber mit dem Aufblick zu den leitenden Hochgipfeln der Werte. Der Staat ist vor allem das Gebiet, auf dem auf diese Weise aus 1

Kausalitäten und Werte in der Geschidïte, in: Schaffender Spiegel, S. 66. 2 Ebenda. 3 Ebenda, S. 66 f. •» Ebenda, S. 83.

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dunklen und oft gemeinen Ursprüngen, gewissermaßen durch eine Achsendrehung von der Natur zur Kultur, Werte entstehen. Und schließlich gehört hierher noch das Meinecke zutiefst beschäftigende Problem der Wertrelativität, auf das im späteren Zusammenhang zurückzukommen sein wird. Audi Max Weber hat, ausgehend von Ridcert, in seinen seit 1903 veröffentlichten Aufsätzen zur Logik der Kulturwissenschaften1 für den Bereich der Sozialwissenschaften, die es mit einem ebenfalls an der Grenze des Naturhaften und Geistigen liegenden Handeln zu tun haben, mit ähnlichen Problemen gerungen wie Meinecke. Er hat im Gegensatz zu Meinecke die theoretische »Wertbeziehung«, durch die eine Erscheinung als wissenschaftlich erforsdienswert erkannt wird, streng geschieden von dem praktischen »Werturteil«, in dem der am Eigeninteresse oder am Ideal orientierte Wille des Forschers hervortritt und der die Erkenntnis der objektiven Wahrheit zu trüben vermag. In dem Sinne der Anerkennung der kontemplativen Wertbeziehung und der Ablehnung des aktiven Werturteils hat Max Weber auch die »Wertfreiheit« der Kulturwissenschaften proklamiert, ein Weg, auf dem ihm Meinecke nicht gefolgt ist, der im übrigen gemeint hat, daß Max Webers Temperament seine großartigen geschichtlichen Forschungen und Darstellungen durch unwillkürliche Wertungen dodi wieder gefärbt und lebendig gemacht habe2. Meinecke glaubt nicht an eine solche Wertfreiheit der Geschichtswissenschaft, letztlich, weil er das Religiöse aus ihr nicht ausschalten will und kann, weil die Geschichte für ihn ein Organ der Gotteserkenntnis ist: »Man will das, was man für sich als geistiges Lebensziel empfindet, durch seine Offenbarung in der Welt bestätigt sehen3.« Trotz dieser Differenz konnte Max Weber bei einem Besuch in Freiburg Meineckes Hoffnung bestätigen, »daß wir trotz sehr verschiedener Artung und Kraft am selben Strange zögen4«, hatte dodi Meinecke während seiner Arbeit an »Weltbürgertum und Nationalstaat« auch Webers

1

Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922). 2 Schaffender Spiegel, S. 230, Note 4. 3 Kausalitäten und Werte in der Geschichte, a. a. O., S. 67. * Straßburg, Freiburg, Berlin 1901—1919, S. 102.

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geistesgeschichtliche Untersuchungen über die Zusammenhänge zwisdien Kapitalismus und Kalvinismus vor Augen gehabt1. Ernst Troeltsdi publizierte während Meineckes oberrheinischer Jahre im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« diejenigen Abhandlungen, die den größten Teil seiner 1911 erschienenen »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« ausmachen, während er einzelne Elemente seines zweiten, für Meinecke noch wichtigeren Budies »Der Historismus und seine Probleme« (1922) erst seit 1918 zu veröffentlichen begann. In der Persönlichkeit von Ernst Troeltsch ist Meinecke die tiefe Problematik des Historismus selbst in einer mächtigen individuellen Verkörperung entgegengetreten, in der Beobachtung, »daß seine positiven Leitgedanken und Ziele in einem gewissen Mißverhältnis standen zu dem phänomenalen Reichtum sublimierter historischer Anschauungen, daß seine gewaltige Rede oft merkwürdig versagte, wenn es galt, am Schlüsse großartiger Reproduktionen fremden Lebens und Denkens fest, klar und unzweideutig das eigene Wollen und Denken zu entwickeln«2. Aber das gehört erst in die gemeinsamen Berliner Jahre seit 1915. Ebenso gehört in diese späteren Weltkriegs jähre die wesentlich von Troeltsch aufgerührte, auch Meinecke tief beschäftigende Problematik des Gegensatzes von westeuropäischem und deutschem Geist. Aber damit zusammen hing dodi schon ein wissenschaftliches Problem, das Troeltsch Meinecke bereits in den oberrheinischen Jahren vermittelt hat und das an die bei ihm schon vorhandene Gegensätzlichkeit von naturrechtlichem und individualisierend-historischem Denken anknüpfen konnte: es war die Anschauung eines die europäischen Völker bis ins 18. Jahrhundert hinein verbindenden Naturrechts und seiner Wandlung vom christlichen, durch die Rezeption der stoischen Ethik entstandenen Naturrecht zum modernen profanen Naturrecht 3 . Diese, Diltheysche Ansätze weiterführenden Gedanken Troeltschs über das naturrechtliche ι Ebenda. Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus (1923), in: Schaffender Spiegel, S. 212. 3 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911), passim, und derselbe, Das christlich-stoische Naturrecht und das moderne profane Naturredit, Hist. Zeitschrift 106 (1911). 2

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Denken sind unmittelbar nodi in der »Idee der Staatsräson« und der »Entstehung des Historismus« greifbar. Das Abweichen der deutschen geistigen Entwicklung von dieser gemeineuropäischen naturrechtlichen Basis ist ein Thema, das aber audi schon in »Weltbürgertum und Nationalstaat« angeschlagen wird. Dieses erste große ideengeschichtliche Buch Meineckes, das zum ersten Male seine typische geistesgeschichtliche Methode der »Gratwanderung«, der Aufklärung der Geschichte bestimmter Ideen durch die monographische Behandlung einzelner besonders repräsentativer Denker, anwendet, ist der deutschen Spielart des Prozesses der Nationbildung als Produkt des modernen Individualismus gewidmet. Und diesen modernen Individualismus sieht Meinecke unter dem Einfluß oder in Übereinstimmung mit Troeltsch von vornherein in sich gespalten: in einen dem Naturrecht entstammenden und demokratisch gerichteten Zweig und in einen zweiten, den er hier nodi als »aristokratisch in geistigem Sinne«, die »Befreiung und Steigerung der Besten« erstrebend, bezeichnet1: gemeint ist der auf Persönlichkeitsvollendung gerichtete Individualitätsgedanke der Deutschen Bewegung. Dabei wird in einer Anmerkung Troeltsdis Unterscheidung von rationalistischem und irrationalistisdiem Individualismus aus seinem Aufsatz über »Das Wesen des modernen Geistes« zitiert. Obgleich der liberal-demokratische Zweig des deutschen Nationalstaatsgedankens durchaus - besonders im zweiten Buch - berücksichtigt wird, liegt der Schwerpunkt doch bei dem romantisch-konservativen Zweig, und das bedeutet Entwicklung aus und Auseinandersetzung mit naturrechtlichem Denken, bedeutet die weitgehende Verschmelzung des Prozesses des Nationwerdens mit der Herausbildung modernen geschichtlichen Denkens auf Grund eines neuen »niditnaturreditlidien« Individualitätsbegriffes in Deutschland. Meinecke spricht in diesem Buch einmal von dem »Entdeckungszug in das Reich des Individuellen, den der deutsche Geist mit glühender Begierde unternahm« und der auch »die Individualität alles dessen, was die Individuen zu Menschen vereinigt, zu entdecken begonnen«2. 1

Weltbürgertum und Nationalstaat, hier zitiert nach der 3. Aufl. (1915), S.9. 2 S. 295.

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Hiermit stehen in Zusammenhang die Ausführungen, die Meinecke wohl gemeint hat, als er in seinen Erinnerungen davon sprach, daß »Weltbürgertum und Nationalstaat« einen Satz enthalte, in dem er heute die Keimzelle seiner erst viel späteren »Entstehung des Historismus« sehe: »Und wo stammt überhaupt unsere historisch-politische Denkweise, unser Sinn für die Individualität audi der überindividuellen Verbände her? Dodi wohl ganz wesentlich mit aus einem Individualismus, der seine ursprünglich flache Ansicht vom Wesen des Individuums im Laufe einer säkularen Arbeit immer mehr vertieft hat, bis er zu seinen Wurzelsdiiditen gelangte und damit zu den Zusammenhängen, die das Eigenleben des einzelnen mit dem Eigenleben der höheren menschlichen Verbände und Ordnungen verknüpfen. Individualität, Spontaneität, Drang nach Selbstbestimmung und Maditausdehnung überall, und so audi im Staate und in der Nation 1 .« Der Ausklang dieses Satzes leitet audi zur »Idee der Staatsräson« hinüber: der Staat ein organisches, individuelles Gebilde mit eigentümlicher Lebensidee, dessen »volle Kraft sich nur erhält, wenn sie irgendwie nodi zu wachsen vermag« 2 . Am deutlichsten aber zeigt sich die wurzelhafte Verbindung der drei geistesgeschichtlichen Büdier Meineckes in »Weltbürgertum und Nationalstaat« in dem Kapitel über »Adam Müller in den Jahren 1808-1813«, wo von Burke die Rede ist: er hat »den naturreditlichen Staatsauffassungen des 18. Jahrhunderts den ersten entscheidenden Stoß versetzt und allem Denken über den Staat Elemente zugefügt, die niemals wieder ausgeschieden werden können. Er hat die irrationellen Bestandteile des Staatslebens, die Macht der Tradition, der Sitte, des Instinktes, der triebartigen Empfindungen tiefer würdigen und verstehen gelehrt. Man kann nicht sagen, daß er sie geradezu entdeckt habe, denn jeder Realpolitiker der neueren Jahrhunderte von Machiavell an kannte und benutzte sie schon. Aber sie waren dem Praktiker nur als die einmal vorhandene, je nachdem auszubeutende oder zu schonende Schwäche der Menschen, dem rationalisierenden Theoretiker mehr als ein Pudendum bisher erschienen. Wenn der Denker sie anerkannte, erkannte er sie mit Resignation auf ι S. 190 f. 2 Werke, Bd. I, S. 1.

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das eigentlidie Ideal der Vernunft an. So Montesquieu, so auch noch, wie wir sahen, Wilhelm von Humboldt. Aber dieser bloß negativ historischen Denkweise, zu der die einsichtigsten, man möchte sagen, die aufgeklärtesten Aufklärer des 18. Jahrhunderts schon gelangten, fehlte die eigentlidie Freude an der Gesdiichte und das innere Herzensverhältnis zu ihr. Erst wer ein solches gewann, entdeckte die wahren Werte der Geschichte. Auf dem Gebiete der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen war es vielleicht zuerst Moser, der den neuen Freudenquell auffand. Aber an Tiefe des politischen Verständnisses und an breiter Wirkung übertraf ihn Burke, dem jetzt die Gunst der Zeit, das Schauspiel des Zusammenbruchs der reinen Vernunft in Frankreich, so sehr zustatten kam.. .«1. Aber nidit nur der Gegensatz von naturrechtlichem und Individualitätsdenken, von »geschichtlicher und absolutierender Denkweise«, wie es hier schon heißt 2 , durchzieht das Buch von »Weltbürgertum und Nationalstaat«, es enthält audi schon den vom Fortsdirittsgedanken oder bloßem Entfaltungsbegriff unterschiedenen Entwicklungsgedanken des Historismus mit seinem größeren Maße an Spontaneität und plastischer Wandlungsfähigkeit 3 . Gleidi auf den Anfangsseiten zeigt sich Meinecke im bewußten Besitz dieses differenzierten historischen Entwicklungsbegriffs. Er spricht davon, daß Nationen und Nationalstaaten wie alle geschichtlichen Gebilde einen im hohen Grade singulären Charakter tragen. »Singular freilich nicht in dem Sinne, wie es eine von der Romantik beeinflußte Geschichtsauffassung lange gemeint hat, daß alles Besondere einer Nation ausschließlich aus ihrem eigenen immanenten Volksgeiste abzuleiten sei, sondern ihr Wesen bildet sidi, ebenso wie das der Einzelpersönlidikeit, auch durch die Reibung und den Austausch mit den Nadibarn. So können die Berührungen der Nationen und Nationalstaaten untereinander ihre Einzelentwicklungen aufs tiefste bestimmen. So kann schon der einzelne geschichtliche Moment, das einzelne große Ereignis im Leben der Völker untereinander das Eigenleben der einzelnen Nation und des einzelnen Nationalstaats in Bahnen lenken, die man aus ihren bis dahin wirksamen Ent1 Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 132 f. 2 Ebenda, S. 148. 3 Die Entstehung des Historismus, S. 5.

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wicklungstendenzen keineswegs schon sicher voraussehen konnte. Wohl mögen nun auch diesen von außen her kommenden Einwirkungen bestimmte Grenzen gesetzt sein in der Eigenart der Nation, auf die sie treffen, und vielleicht vermag nur dasjenige sie wahrhaft zu befruchten und umzugestalten, was auf einen in ihr schon schlummernden Keim trifft. Aber auch dann würde man bezweifeln können, ob diese schlummernden Keime und Möglichkeiten allen Nationen eigen sind oder nur der einen, in denen (so!) sie zur Entfaltung kommen, das heißt ob es Gattungseigenschaften sind oder singuläre Eigenschaften der einzelnen Nation. Nidit zu bezweifeln aber bleibt die Tatsache, daß von außen kommende singuläre Momente den Entwicklungsgang der einzelnen Nation und des einzelnen Nationalstaates wesentlich bestimmen können1.« Aber »Weltbürgertum und Nationalstaat« deutet nicht nur voraus auf »Die Entstehung des Historismus«, es reicht auch darüber hinaus, indem es die Linie von der Romantik, von Novalis, Friedrich Schlegel, Fichte und Adam Müller bis zu Ranke auszieht und zu wichtigen, erst später von anderen 2 voll ausgeführten Einsichten in die Herkunft Rankes von Fichte und der Romantik gelangt. So erscheint »Weltbürgertum und Nationalstaat« in vielem als eine vorweggenommene Fortsetzung der »Entstehung des Historismus«. Von der »Idee der Staatsräson« wissen wir, daß sie von vornherein geradezu auf eine Vorgeschichte des modernen Historismus hin angelegt war, die den Titel »Staatskunst und Geschichts1 2

Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 15 f. Vgl. Carl Hinrichs, Ranke und die Geschiditstheologie der Goethezeit (1954). Allerdings ist dies Buch nicht eine bloße Ausführung Meinedcesdier Ideen mit neuem Material, wie vereinzelt geurteilt worden ist, sondern es behandelt den von Meinecke außer Betrachtung gelassenen theologischen Aspekt der Entstehung historischen Denkens, das heißt seine Auseinandersetzung mit dem Absoluten der christlichen Offenbarung, während bei Meinecke als »Gegenspieler« des Historismus das absolute Naturrecht ganz im Vordergrunde steht. Darüber hinaus setzt es Ranke in Beziehung zu bestimmten Grundgedanken idealistischer und romantischer Geschichtstheologie und weist dabei den Einfluß neuplatonischen Denkens, der bei Meinedce mehr atmosphärisch angedeutet ist, ganz konkret nach.

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auffassung« tragen sollte1. Meinecke hat sidi darüber sowohl in seinen Erinnerungen wie in dem Buch über die »Staatsräson« 2 selbst geäußert: Die von den Theoretikern der modernen Staatskunst seit Madiiavelli entwickelte Lehre von den Interessen der Staaten entwickelt und schärft den Blick für das Individuelle der einzelnen Staaten, und das Individuelle ist, wie Meinecke sdion früh erkannt hat, die »Herzwurzel« des modernen geschichtlichen Bewußtseins3. Aber durch das »Kataklysma« des ersten Weltkrieges 4 ist eine Problemverschiebung eingetreten, wie wir sie audi beim »Historismus« werden beobachten können. Meinecke wendet seinen Entwicklungsbegriff audi auf sein Buch über die »Staatsräson« an, wenn er meint: »Man verzeiht es einem Baum, wenn er, den Wettern ausgesetzt, aus seiner ursprünglichen Wadistumslinie etwas herausgedrängt wird. Möchte man es audi diesem Buche verzeihen, wofern es überhaupt nur zeigt, daß es gewadbsen, nicht gemacht ist5.« Die Problemverschiebung bestand darin, daß »durch die Erschütterungen des Zusammenbruchs... mehr und mehr das eigentliche Kernproblem der Staatsräson in seiner Furchtbarkeit vor das Auge« trat 6 . So trat neben und vor die Feststellung eines Zusammenhanges zwischen Politik und Historie, zwischen der Idee der Staatsräson und der Idee des Historismus als das eigentliche Problem der Staatsräson das des Verhältnisses der Politik zur Moral, von »Kratos« und »Ethos«. Gleichwohl sind die neuen Einsichten, die »Die Idee der Staatsräson« in das Wesen und die Entwicklung des Historismus bringt, von großer Bedeutung und zeigen, daß sich die »Entstehung des Historismus« gewissermaßen durch die vorhergehenden Bücher hindurch als Krönung eines einheitlichen Lebenswerkes ans Licht ringt. Versuchen wir kurz anzudeuten, welches die wichtigsten Elemente für die Fortentwicklung des Historismusproblems bei Meinecke in dem Buch über »Die Idee der Staatsräson« sind, so finden wir hier zunächst in wörtlichem Anklang an die Eingangs1 Straßburg, Freiburg, Berlin 1901—1919, S. 191. 2 Werke, Bd. I S. 25 ff. 3 Straßburg, Freiburg., Berlin 1901—1919, S. 191. 4 Werke, Bd. I, S. 482. 5 Ebenda, S. 26. 6 Ebenda.

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sätze der »Entstehung des Historismus« bereits die Auffassung, daß die Entstehung des Historismus auf dem Hintergrund und im Zusammenhang mit einer säkularen Umwälzung des menschlichen Denkens überhaupt erfolgt: »Es war vielleicht die größte Revolution des Denkens, die das Abendland jetzt erlebte. Denn der bisher herrschende Glaube an eine faßbare Einheit und Gleichheit und demnach an eine Allgemeingültigkeit der Vernunft und ihrer Aussprüdie wurde erschüttert und abgelöst durdi die Erkenntnis, daß die Vernunft sich in unendlich mannigfaltigen Formen offenbare, individuelle, nicht generelle Lebensgebote gebe, und ihre letztliche Einheit nur in einem unsichtbaren metaphysischen Weltgrunde habe. Alles in der Geschichte sah nun anders aus als bisher, nicht mehr flädienhaft einfach und überschaubar, sondern perspektivisch mit unausmeßbaren Hintergründen, nidit mehr, wie man bisher vermeint hatte, mit ewiger Wiederkehr des Gleichen, sondern mit ewiger Neugeburt des Eigenartig-Unvergleichlichen. Dies reifere und tiefere Weltbild, das der entstehende deutsche Historismus schuf, erforderte ein biegsameres Denken und eine kompliziertere, phantasievollere, zu mystischem Dunkel neigende Begriffssprache... 1 . Dieser neue Sinn für das Individuelle glich einem Feuer, das nicht sofort, aber nach und nach alle Lebensgebiete ergreifen konnte und zuerst vielfach nur die leichtesten und brennbarsten Stoffe gleichsam, das eigene persönliche Leben, die Welt der Kunst und Dichtung voran, dann aber auch die schweren Stoffe, den Staat vor allem, ergriff...« 2 . Und vorher: »Aus dem sich vertiefenden Individualismus des Einzelwesens entsprang von jetzt an allenthalben in Deutschland, hier auf diesem, dort auf jenem Wege, ein neues lebendigeres Staatsbild und noch mehr, ein neues Weltbild, das die ganze Welt erfüllt sah von Individualität, in jeder Individualität, persönlichen oder überpersönlichen, ein besonderes, eigentümliches Lebensgesetz wirksam sah, und Natur und Geschichte insgesamt als einen >Abyssus von Individualität^, wie Friedrich Schlegel sagte, auffassen lernte. Denn alles Indivi1 Ebenda, S. 425 f. 2 Ebenda, S. 426. 3 Dieses Wort audi sdion in »Weltbürgertum und Nationalstaats, S. 250, vgl. dazu ebenda, S. 143.

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duelle ging aus dem einheitlichen Muttersdioße der Gottnatur hervor. Individualität allenthalben und Identität von Natur und Geist und durch diese Identität ein unsichtbares, aber starkes Band geschlungen um die sonst auseinanderfließende Fülle des Individuellen - das waren die neuen mächtigen Gedanken, die in dieser oder jener Form jetzt in Deutschland hervorbrachen 1 .« Meinecke nennt die Identitätsidee die zweite der beiden großen Hauptideen der Zeit neben der Individualitätsidee 2 , verkörpert vor allem in Hegel, bei dem kraft der Identitätsidee alles Individuelle der Realisierung der einen und einzigen Vernunft dient, »deren List es eben ist, Böses wie Gutes, Elementares wie Geistiges für sich arbeiten zu lassen« 3 . »Die Lehre von der List der Vernunft war nichts anderes als die logische Konsequenz der Identitätsphilosophie, die des Mittels bedurfte, um die Einheit und Vernünftigkeit des gesamten Weltzusammenhanges dartun zu können 4 .« Meinecke sieht den frühen Historismus nodi im Zeichen der Identitätsphilosophie und des zwar innerlich überwundenen, aber trotzdem nachwirkenden Naturrechts stehen, »die beide noch, wenn auch auf verschiedene Weise, das tiefmenschliche Bedürfnis nach absoluten Werten, nach zusammenhaltenden Klammern des sonst auseinanderfließenden Lebens befriedigt hatten« 5 . Erst als die monistische Identitätsphilosophie, nicht ohne verhängnisvolle Nachwirkungen zu hinterlassen, sich als letzte Klammer des Individuellen aufgelöst hatte, bleibt nach Meinecke die historische Individualitätsidee, die sich auch weiter als unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis der geistig-natürlichen Erscheinungen bewährte, übrig 6 . Erst damit sind wir im Sinne Meinedces zu dem reinen und reifen Historismus gelangt, der auf den beiden korrespondierenden Begriffen von Individualität und Entwicklung beruht, mit deren geistesgeschichtlicher Entstehung sich das Buch über »Die Entstehung des Historismus« allein noch befaßt. W i r sind damit aber auch zu der schweren inneren Problematik des Historismus gelangt, die von Meinecke 1 Werke, Bd. I, S. 425. 2 Ebenda, S. 427. 3 Ebenda. •t Ebenda, S. 432. 5 Ebenda, S. 443. 4 Ebenda, S.501.

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in der »Idee der Staatsräson« zum ersten Male voll ins Auge gefaßt wird. Audi hier treffen wir auf eine durch den ersten Weltkrieg bewirkte Problemverschiebung gegenüber »Weltbürgertum und Nationalstaat«. Hier, in seinem ersten ideengeschichtlichen Werk, hatte Meinecke davon gesprochen, daß weltbürgerliche und universale Ideen zugleidi, nadi ihrem Inhalte betrachtet, ethische und religiöse Ideen waren 1 . Das Sittliche habe aber überhaupt neben seiner universalen auch eine individuell bestimmte Seite und von dieser Seite her könne audi die scheinbare Unmoral des staatlichen Maditegoismus sittlich gerechtfertigt werden... »Denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt«2. Diese erstaunlichen Sätze zeigen einmal, daß Meineckes Idee der Staatsräson zutiefst in der Individualitätsidee wurzelt, zweitens, daß er in der kulturoptimistischen nationalen Stimmimg seiner oberrheinischen Jahre Staatsräson als individuelles Lebensgesetz jeden Staates noch gänzlich bejaht und daß drittens dahinter eine geradezu radikale Bejahung des Individualitätsgedankens steht, der bis zur Anerkennung einer Individualethik zu gehen scheint. In dem Buche über die »Staatsräson« aber hat diese ein »Sphinxantlitz« angenommen3, sie gehört zu den »nur zu vielen Dingen«, die es gibt, »in denen Gott und Teufel zusammengewachsen sind«. Und ebenso hat sich Meinecke von der absolut positiven Wertung der Individualitätsidee entfernt. In der »Idee der Staatsräson« spricht Meinecke nicht nur von den Gefahren der Identitätsidee, sondern auch von den Gefahren der Individualitätsidee. Die Gefahr der Identitätsidee in der Hegeischen Fassung lag darin, daß das Wirkliche, »das unrecht scheint, zu dem Vernünftigen« verklärt wurde, daß die Lehre von der List der Vernunft, die Gutes aus Bösem hervorgehen ließ, die Natur- und Nachtseite der Staatsräson vergessen und »die Exzesse der Maditpolitik auf die leichte Achsel« nehmen ließ4. Dieselbe Gefahr sieht Meinecke nun auch in der neuen Individualitätslehre verborgen. An Stelle der Auffassimg, daß unsittlich nicht sein kann, weis aus der tiefsten 1

Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 89. Ebenda. 3 Werke, Bd. I, S. 510. * Ebenda, S. 432 f. 2

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individuellen Natur eines Wesens stammt, heißt es nun: »Sie (die neue Individualitätslehre) konnte sdion die Sittlichkeit des Einzelwesens in Versuchung führen, wenn das Redit der Individualität, sich auszuleben, schrankenlos galt und als höhere Sittlichkeit gegenüber der allgemeinen Moral ausgespielt wurde. Sie konnte, angewandt auf die überindividuelle Individualität des Staates, audi alle Exzesse seiner Maditpolitik als unvermeidliche und organische Ausflüsse seines Wesens legitimieren... Identitäts- und Individualitätsgedanke, die beiden höchsten und fruchtbarsten Ideen des damaligen deutschen Geistes, zeigten so die innere tragische Zweischneidigkeit aller großen historischen Ideen und Kräfte1.« Damit hat sich aber auch das mit dem Historismus verbundene Problem des Relativismus aufgetan. In »Weltbürgertum und Nationalstaat« ist nodi von der Freude an der Geschichte die Rede, der Historismus ist ein »Freudenquell«, der in Deutschland auf einem bestimmten Gebiete zuerst von Moser eröffnet wird. Die neue Stimmung und ihr Ausgangspunkt offenbart sich zuerst ein Jahr vor dem Erscheinen der »Staatsräson« in dem Aufsatz über »Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus« von 19232. Meinecke spricht hier davon, daß »selbst unser Stolz auf den eigenartigen deutschen Staatsgedanken, mit dem wir im Kriege der Welt gegenübertraten«, mit der Individualitätslehre eng zusammenhing. »Daß wir anders sein wollten als die übrige modern fortgeschrittene Welt, das hat uns gerade jene Denkweise verübeln müssen, die an die generelle, nicht an die individuelle Vernunft in den Dingen glaubte. Aber unser Andersseinwollen wurde uns zur Tragödie. Und während bisher unser alles individualisierender Historismus ein freudiges Weltbild, erfüllt von zwar immer kämpfenden, aber audi immer schöpferischen Kräften uns vorzauberte, fühlen wir jetzt audi in ihm tief tragische Probleme heraus und sehen unser Weltbild umwölkt. Nicht etwa wegen der geistigen Isolierung, in die er uns gebracht hat. Die könnten wir ertragen, wofern nur der Historismus fortführe, uns das Gefühl einer inneren Überlegenheit zu geben und einen ganz festen Halt für alle Grundfragen des Lebens uns 1 Ebenda, S 433.

2 In: Schaffender Spiegel, S.21 Iff.

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böte. Verschwenderisch hat er uns mit geistigen Schätzen beschenkt und die Vergangenheit und alles Große in ihr in einer Weise verstehen, lieben und nadierleben gelehrt, die märchenhaft wirkt. Aber dieser unendliche Pluralismus der individuellen Werte, den wir überall entdecken, ist es ja eben, um an die Eingangsbetraditungen nun wieder anzuknüpfen, der uns audi wieder, und zumal jetzt in unserer umdüsterten Lage, in Verwirrung bringen und ratlos machen kann. Alles ist Individualität nach eigenem Gesetze, alles hat sein Lebensrecht, alles ist relativ, alles fließt - gib mir den Punkt, wo idi stehe. Wie kommen wir aus dieser Anarchie der Werte heraus? Wie gelangt man von dem Historismus wieder zu einer Wertlehre 1 ?« So hat es auch »Die Idee der Staatsräson« ausgeführt: »dies neue Individualitätsprinzip, weiter und weiter greifend, von einer Entdeckung zur anderen schreitend, überall Eigenrecht und Eigenbewegung aufspürend, drohte letzten Endes in einen Relativismus auszulaufen, der nichts Festes und Absolutes in der Geschichte mehr kennt, sondern tolerant jeder geistigen Wesenheit, jeder individuellen Lebenstendenz ihren Spielraum zubilligt, alles versteht, alles verzeiht, aber so auch alles in einer A n archie der Überzeugungen^ wie der alte Dilthey sich ausdrückte, beläßt« 2 . Und dodi hat Meinecke seine Entstehungsgeschichte des Historismus »in bejahender Gesinnung« geschrieben3, wie er audi schon in der »Idee der Staatsräson« von der historischen Individualitätsidee gesagt hatte: »Sie dürfen und können wir nicht aufgeben...« 4 . Diese angesichts der Erkenntnis Meineckes, »daß in dem alles relativierenden Historismus allerdings ein korrosives Gift steckt«5, auf den ersten Blick überraschende Tatsache ist möglich geworden dadurch, daß Meinecke sich zuvor in mehreren bis zur Grenze der möglichen Erkenntnis vordringenden Aufsätzen mit der dunklen Problematik des Historismus auseinandergesetzt und für sidi einen haltbaren Standpunkt gewon1 Ebenda, S. 223 f. 2 Werke, Bd. I, S. 442 f. 3 Siehe unten S. 1. 4 S. 501. 5 Geschichte und Gegenwart (1933), in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 13.

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nen hat. Es ist kein einfadier, eingängiger, allgemein einleuchtender, revolutionierender Standpunkt, keine Patentlösung, sondern ein schwebender, aus Resignation und Glauben gemischter, an den Grenzen eines »ehrlichen Agnostizismus« 1 haltmachender und doch nicht in ihm steckenbleibender Standpunkt, bei dem die besten Traditionen des deutschen Historismus selbst - Ranke und Droysen - Pate gestanden haben. Aber auch eine wachsende Annäherung Meineckes an Goethe, die in der »Entstehung des Historismus« ihren Höhepunkt erreicht, können wir dabei feststellen. Für die Art der Meineckeschen Antwort gibt es in dem ersten der drei klärenden Aufsätze, dem Troeltsch-Aufsatz von 1923, eine Selbstcharakteristik: »Zum innersten Wesen des individualisierenden Historismus aber gehört es, daß er zwar keine metaphysischen Voraussetzungen macht, aber zu metaphysischen Konsequenzen gedrängt wird. Die unbefangene Beobachtung der individuellen Lebenseinheiten und die Einsicht, daß sie durch kausale Denkmittel allein nicht zu begreifen sind, zwingt ihn zu der Annahme metaphysischer Hintergründe. Und er glaubt, mit diesem Verfahren wissenschaftlicher vorzugehen als seine positivistischen Gegner. Aber eben deswegen, weil der Historismus in den Grenzen der Wissenschaft bleiben und den Boden der Erfahrung nie verlieren will, scheut er davor zurück, den metaphysischen Boden fester zu betreten, sondern begnügt sich mit allgemeiner Ahnung und Andeutung. Was aber wissenschaftlich seine Stärke, ist ethisch und praktisch seine Schwäche. Er ist nicht imstande, etwas Festes und Handgreifliches, vor allem nicht etwas Allgemeingültiges und die Massen Hinreißendes über die höchsten Lebenswerte zu sagen... er spendet seinen metaphysischen Welttrost nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung 2 .« In dem zweiten der grundsätzlich klärenden Aufsätze über »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« von 1925 heißt es, »daß nur schwache und kleingläubige Seelen unter der Last dieses relativierenden Historismus verzagen und versagen können. Der Glaube an ein unbekanntes Absolutes kann durch ihn nicht erschüttert werden. Zu verlangen aber, daß dieses unbekannte 1

Deutung eines Rankewortes, in: Aphorismen und Skizzen zur Geschichte (1942), S. 157. 2 Schaffender Spiegel, S. 120.

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Absolute sidi enthülle, um mit Händen betastet werden zu können, ist ein Rest von anthropomorpher Gottesvorstellung1.« Meinecke ist in dieser seiner »Historik« neben Rickert, wie wir sahen, vor allem Troeltsch verpflichtet. Er übernimmt von ihm den Begriff der Wertrelativität, den er dem Relativismus entgegengestellt hatte: »Wertrelativität ist nicht Relativismus, Anarchie, Zufall, Willkür, sondern bedeutet das stets bewegliche und neusdiöpferisdie, darum nie zeitlos und universal zu bestimmende Ineinander des Faktischen und des Seinsollenden«2, oder mit Meineckes Worten: »Wertrelativität ist nichts anderes als Individualität im historischen Sinne, jeweils eigenartige, an sich wertvolle Ausprägung eines unbekannten Absoluten - denn ein solches wird dem Glauben als schöpferischer Grund aller Werte gelten - im Relativen und zeitlich-naturhaft Gebundenen3.« Der Relativismus beruht darauf, daß die werteschaffende geistig-sittliche Spontaneität der Persönlichkeit auf der die Umwandlung von Natur in Kultur beruht und die aus dem schöpferischen Grund des Absoluten stammt, auf eine rätselhafte, für den Historiker nicht durchschaubare Weise eng an Kausalitäten biologischer und mechanischer Art gebunden ist, daß der Geist, das Ewige, mit der Natur, dem Vergänglichen, in immer neuer individuell bestimmter Weise zu ringen hat und daß aus diesem Ringen die Gesamtheit der Werte, die geistige Kultur des Menschen hervorgeht. Darum sind historische Individualitäten nur solche Erscheinungen, die irgendeine Tendenz zum Guten, Wahren und Schönen, das heißt Unvergänglichen, in sich haben und dadurch für uns bedeutungs- und wertvoll werden. In den individuellen Ausprägungen der Werte erblickt der Historiker das Absolute, Göttliche, Ewige in der vergänglichen Geschichte. »Wir sehen in der Geschichte nicht Gott, sondern ahnen ihn nur in der Wolke, die ihn umgibt«, hieß es schon auf der Sdilußseite der »Idee der Staatsräson«4, wo allerdings gleichzeitig davon die Rede ist, daß sich das Absolute dem modernen Menschen an zwei Punkten unverhüllt offenbare: »im reinen Sittengesetz einerseits, in den höchsten Leistungen der Kunst anderseits«. 1 Ebenda, S. 233. 2 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 1922, S. 211. 3 Schaffender Spiegel, S. 84 f. 4 Werke, Bd. I, S.510.

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Hieran knüpft offenbar der dritte der hier in Betracht kommenden Aufsätze »Geschichte und Gegenwart« von 1933 an1. Nodi einmal beschwört hier Meinecke Glück und Gefahr des Historismus, der »uns Wunderwelten eines neuen geschichtlichen Verständnisses für alles, was Menschenantlitz trägt, erschlossen«, der aber audi »nach und nach den festen Boden bestimmter absoluter Ideale erschüttert« hat, »auf dem die Menschheit bis dahin zu stehen geglaubt hatte« 2 , um dann zu fragen: »Hat... der Historismus und der besondere von ihm erzeugte Relativismus die Kraft, die Wunden, die er geschlagen hat, selbst zu heilen3?« Meinecke unterscheidet drei Versuche, ein »Gegengift gegen das Gift des Relativismus« zu finden4. Einmal den romantischen Versuch, eine bestimmte Vergangenheit als Kanon zu verabsolutieren: aber dieser Versuch, »irgendeine Stufe der Vergangenheit zur Norm und zum Maßstab für den Wert des gesamten Geschiditsprozesses und der Gegenwart« zu erheben, muß »unter der ätzenden Kritik des Relativismus« sofort zusammenbrechen. Sodann die Flucht nach vorn: nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft das Ziel zu suchen, das dem sinnlosen Flusse des Werdens seinen Sinn zu geben vermag. Dieser Fortschritts- und Perfektionsgedanke ist von den »Schatten der modernen Kulturproblematik« umdüstert 5 . Der alles relativierende Strom des Werdens relativiert eben audi die beiden Lösungsversuche der Vergangenheitsromantik und des Fortschrittsoptimismus. »Sie haben es an sich, und das ist ihre Schwäche, sich in den Strom selbst zu begeben, sei es gegen ihn, sei es mit ihm zu schwimmen.« Es sind gewissermaßen horizontale Lösungen. Aber man muß die Sache vertikal ansehen, und das ist die dritte, Meineckes Lösung. Vertikal sieht Meinecke im Ansdiluß an Goethe und Ranke jede Epoche, jedes individuelle Gebilde mit der höheren Welt verbunden: »unmittelbar zu Gott«. Historische, das heißt wertschaffende Individualität, muß nadi Meinecke den Antrieb haben, »das Ewige im Augenblick, in der individuellen Konstel1 Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 7 ff. 2 Ebenda, S. 10 f. 3 Ebenda, S. 13. * Ebenda, S. 14 ff. 5 Ebenda, S. 17.

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lation des Lebens, zu sirchen und zu finden«1. Der Leitstern dazu ist das Gewissen, von dem audi in der Geschichtstheorie die Rede sein muß, »weil eine Geschichtsauffassung ohne ein festes ethisches Fundament zum Spiel der Wellen wird«2. Meinecke verschmilzt hier Rankes Gedanken des Immediatverhältnisses der geschichtlichen Erscheinungen zu Gott mit Droysens ethischem Individualismus des Gewissens. Er zitiert aus dessen Historik das Wort: »Nur sein Gewissen ist jedem das absolut Gewisse, es ist für ihn seine Wahrheit und der Mittelpunkt seiner Welt«, und er prägt den an Droysen gemahnenden Satz: »Alle Ewigkeitswerte der Gesdiidite stammen letzten Endes aus den Gewissenentscheidungen der handelnden Menschen3.« So ist es Meineckes letztes Wort zum Problem des Relativismus, daß »in der Stimme des Gewissens... mit einem Male alles Fließende und Relative der Form nach fest und absolut« wird 4 . »Im Gewissen verschmilzt sich die Individualität mit dem Absoluten und das Gesdiiditlidie mit dem Gegenwärtigen.« Das Gewissen ist »das Gottverwandteste in uns«, und »die Offenbarung des Gottverwandten in der Mensdiheit verstehend in uns aufzunehmen und nachzuerleben«, ist der Sinn, den die Gesdiidite für uns haben kann, während ihr absoluter Sinn im Ganzen des Universums uns unbekannt ist5. Ergänzt und vertieft wird die Stellung des Gewissens in der Meineckeschen Gesdiiditslehre schließlich nodi durch das, was er darüber in der nach der »Entstehung des Historismus« geschriebenen »Deutung eines Rankewortes« - wohl dem tiefsinnigsten seiner Beiträge zur Geschichtstheorie gesagt hat, wo er zugleich im Gewissen die Möglichkeit sieht, über den ihn sein ganzes Leben hindurch beschäftigenden Gegensatz von Immanenz und Transzendenz des Göttlidien hinauszukommen: »Das menschliche Gewissen sagt uns, was gut und böse ist. Es ist auch, wenn audi nicht so unmittelbar wie hier, beteiligt an der Hervorbringung und Pflege aller übrigen höheren Werte. Und in dem Gewissen sehen wir mit einem Male ein Vermögen, dem wir Immanenz und Transzendenz zugleich zuschreiben kön1 Ebenda, 2 Ebenda, 3 Ebenda, t Ebenda, 5 Ebenda,

S. 19. S. 20. S. 21. S. 20. S. 21 f.

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nen. Es ist nur in uns, aber es sagt uns zugleich, daß etwas da ist, was außer uns und zugleich über uns ist, jenseits des universalen Kräftespiels, durch das es allein niemals erklärt werden kann... 1 . Durch das Gewissen gelangen wir zur Postulierung und Erahnung eines ΰεΐον in der Welt. Und vor die Aussprüche dieses Gewissens als des menschlichen Organs für das &εϊον stellt nun auch der Historiker die Erscheinungen der geschichtlichen Welt... «2. Wir brechen hier ab, ohne den ganzen religiös-philosophischen Gehalt dieses geschichtstheologischen Testamentes des alten Meinecke zu erschöpfen. Worauf es ankam, war, zu zeigen, wie er sich gegen die dunkle Problematik von Historismus und Relativismus absicherte, bevor und während er sein letztes Werk über die »Entstehung des Historismus« schrieb, so daß dieses Buch als das am wenigsten mit allgemeiner und Zeitproblematik belastete seiner Werke dasteht und sich ganz dem wissenschaftlichen Problem, das seinen Gegenstand bildet, widmen kann. Er hatte sich in schwerem geistigen Ringen die Uberzeugung von dem letztlich positiven Charakter einer der größten Revolutionen des abendländischen Denkens, der zweiten großen Tat des deutsdien Geistes nach der Reformation, bewahren können und konnte nunmehr ein großes Stüde der Geschichte dieser geistigen Revolution »in bejahender Gesinnung« schreiben, ganz auf das Problem des Werdens des neuen historischen Weltbildes konzentriert, fasziniert von dem geistigen Schauspiel, das sich hier vor ihm entrollte, ohne neue qualvolle Blicke in seine möglichen Abgründe, in die er zuvor offenen Auges hineingesehen und über die er Brücken zu schlagen versucht hatte. Es kann nun nicht mehr unsere Aufgabe sein, eine Analyse des letzten großen ideengeschichtlichen Werkes Meineckes zu geben. Der Zweck dieser Einleitung war, zu ihm hinzuführen, seine Entstehung aus dem Gesamtwerk Meineckes und seine Stellung in ihm zu schildern. Es führt uns bis an die Schwelle des reifen Historismus heran, der nur nodi in der Beigabe, der Gedächtnisrede vom 23. Januar 1936 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften über Leopold v. Ranke, zu Worte kommt. 1 Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, S. 154. 2 Ebenda, S. 157.

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Aber wir wissen audi, daß schon in »Weltbürgertum und Nationalstaat« und in der »Idee der Staatsräson« Grundlegendes über die weitere Gesdiidite des Historismus, über die Romantik, Adam Müller, Fidite, Stein, Wilhelm v. Humboldt, Hegel und Ranke gesagt ist1. Als Vorgeschichte des Historismus hatte Meinecke in der »Idee der Staatsräson« an Hand der Interessenlehre nur einen Seitentrieb behandelt, den er anfangs irrtümlich für einen Hauptstamm gehalten hatte. Hier erschien die Entstehung des Historismus nodi als ein Reflex, den die eigentümliche Entwicklung Europas selber mit ihrem Nebeneinander freier selbständiger Staaten in bedeutenden Geistern hervorrief und der in ihnen die Interessenlehre mit ihrem Sinn für die Individualität der einzelnen Staaten erzeugte2. In der »Entstehung des Historismus« erscheint dieser als das Ergebnis eines reinen, unabhängigen, revolutionären Erlebnis- und Denkprozesses zumeist unpolitischer Geister, der von den »Vorbereitern« Shaftesbury, Leibniz, Gottfried Arnold, Vico und Lafitau über die französische und englische Aufklärungshistorie und die englische Präromantik zur Deutschen Bewegung und ihren für die Entstehung des Historismus entscheidenden Gipfeln Moser, Herder und Goethe führt. * 1

Als Parerga und Paralipomena zur »Entstehung des Historismus« sind vor allem noch zu nennen die Aufsätze über »Klassizismus, Romantizismus und historisches Denken im 18. Jahrhundert«, »Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens», in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 46 ff. bzw. S. 95 ff., »Schiller und der Individualitätsgedanke. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Historismus.« In: Wissenschaft und Zeitgeist, 8, 1937, Teilabdruck in der Frankfurter Zeitung, Nr. 581/582 vom 14. November 1937, sowie die Aphorismen und Skizzen zur Entstehungsgeschichte des Historismus in: Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, S. 120 ff., und in Aphorismen und Skizzen zur Geschichte. Die zahlreichen Einzelabschnitte und Einzelprobleme, die Meinecke während der Arbeit am »Historismus« in den Sitzungsberichten der preußischen Akademie und in der Historischen Zeitschrift veröffentlicht hat und die in dem Werk aufgegangen sind, siehe in der Friedrich-Meinecke-Bibliographie von Anne-Marie Reinold (1952), S. 157.

2 Werke, Bd. I, S. 287.

Einleitung des Herausgebers

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Editorische und kritische Probleme gab es bei dieser Neuausgabe ebensowenig zu lösen wie bei der »Idee der Staatsräson«. Dem Druck des Textes wurde die zweite Auflage von 1946 zugrunde gelegt. Die Überwachung des Druckes lag in den Händen des Herausgebers und der Assistenten am FriedrichMeinecke-Institut, Herrn Dr. Peter Baumgart und Herrn Werner Pols. Die Neubearbeitung des Registers hat Herr Dr. Baumgart durchgeführt. Es ist den Herausgebern eine angenehme Pflidit, dem Bundeskanzleramt — Herrn Ministerialdirektor Dr. Dr. Janz - , dem Bundesinnenministerium - Herrn Ministerialdirektor Professor Dr. Hübinger - und der Berliner Klassenlotterie für die zur Vorbereitung und Durchführung des Druckes gewährte Hilfe zu danken.

DER

ERINNERUNG

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VORBEMERKUNG

Eine in bejahender Gesinnung gehaltene Entstehungsgeschichte des Historismus zu schreiben, könnte als Wagnis erscheinen, da nun schon seit Jahren der Ruf erschallt, daß der Historismus überwunden werden müsse. Aber geistige Revolutionen, die einmal geschehen sind, können nicht ungeschehen und fiirder unwirksam gemacht werden. Jede von ihnen wirkt in den Tiefen fort, audi wenn sie von einer neuen Revolution, wie sie heute wieder im Gange ist, abgelöst wird. Und das Aufkommen des Historismus war, was in diesem Buche gezeigt werden soll, eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat. Man erkennt vielleicht, wenn man mein Buch gelesen hat, die Tatsache dieser Revolution an. Aber man befreundet sich nicht gern mit dem Worte Historismus für den Inhalt dieser Revolution. Denn das Wort ist jung, eigentlich ein Jahrhundert jünger als der Ursprung dessen, was wir darunter verstehen. Und es hat sehr bald einen tadelnden, auf Übertreibungen oder Entartungen gehenden Sinn erhalten. Idi sehe es zuerst, ohne tadelnden Sinn, gebraucht in K.Werners Budi über Vico 1879, das von dem »philosophischen Historismus Vicos« spridit (S. XI und 283). Dann, aber nun schon mit tadelndem Sinne, in Carl Mengers Streitschrift gegen Sdimoller: »Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie« 1884. Er verstand darunter die übertriebene Bewertung der Geschichte in der Nationalökonomie, deren sich Sdimoller nach seiner Meinung schuldig machte. Wer Weiteres über die Geschichte des Wortes wissen will, mag Karl Heussi: »Die Krisis des Historismus« (1932) nachlesen. Dabei ist es geschehen, daß gerade durch den Tadel, den das Wort zuerst meist ausdrücken sollte, das Bewußtsein erwachte, daß hinter den angreifbaren Exzessen oder Schwächen ein großes und gewaltiges Phänomen der Geistesgesdiidite steckte, das eines Namens bedurfte und nodi keinen hatte. Man erkannte, 1

Meinedte, Historismus

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Vorbemerkung

daß das, was man bekämpfte und als schädlich ansah, auf dem Grunde gewachsen war, der die seit Beginn des 19. Jahrhunderts neu aufblühenden Geisteswissenschaften überhaupt trug. Scheltworte werden zuweilen zu Ehrenworten, wenn der Gescholtene sie sich zueignet, weil er spürt, daß das an ihm Getadelte mit dem Besten, was er zu geben vermag, zusammenhängt. Berechtigten Tadel muß er beherzigen, das Beste in sich aber behaupten. So etwa verfuhr Ernst Troeltsch. Im Jahre 1897 stimmte er nodi ein in das Bedauern, daß in der Wissenschaft jetzt ein »Historismus« aufgekommen sei, »der seine Aufgabe nur mehr im Begreifen und nicht in der Neuschaffung der Wirklichkeit sah« (Schriften 4, 374). Im Jahre 1922, kurz vor seinem Tode, veröffentlichte er sein großes Werk über den Historismus und seine Probleme, in dem die ehrliche Kritik seiner Schwächen mit einer tiefen Begründung seiner inneren Notwendigkeit und Fruchtbarkeit sich verband. Historismus ist eben zunächst nichts anderes als die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben. Diese Bewegung setzte eine allgemeine abendländische Bewegung fort, und die Krone fiel dem deutschen Geiste zu. Er hat hier die zweite seiner Großtaten nächst der Reformation vollbracht. Aber da es neue Lebensprinzipien überhaupt waren, die er fand, so bedeutet auch der Historismus mehr als nur eine geisteswissenschaftliche Methode. Welt und Leben sehen anders aus und offenbaren tiefere Hintergründe, wenn man sich gewöhnt hat, sie mit seinen Augen anzuschauen. Sagen wir kurz hier nur das Nötigste, was im Buche sich dann breiter entfalten soll. Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung. Das bedeutet nicht etwa, daß der Historismus nunmehr das Suchen nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Typen des menschlichen Lebens überhaupt ausschlösse. Er muß es selber üben und mit seinem Sinne für das Individuelle verschmelzen. Es war ein neuer Sinn, den er dafür erweckte. Auch damit ist nicht gesagt, daß das Individuelle am Menschen und den von ihm geschaffenen sozialen und kulturellen Gebilden bis dahin ganz anbeachtet geblieben sei. Aber gerade die innersten bewegen-

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den Kräfte der Geschichte, Seele und Geist der Menschen, waren im Banne eines generalisierenden Urteils verblieben. Der Mensdi mit seiner Vernunft und seinen Leidenschaften, seinen Tugenden und Lastern sei, so meinte man, in allen Zeiten, die wir kennen, im Grunde derselbe geblieben. Diese Meinung enthielt wohl einen richtigen Kern, aber verstand nicht die tiefen Wandlungen und die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, die das seelische und geistige Leben des Einzelnen und der Gemeinschaften trotz eines dauernden Bestandes menschlicher Grundeigenschaften erfährt. Es war insbesondere die von der Antike her herrschende naturrechtliche Denkweise, die den Glauben an die Stabilität der menschlichen Natur, voran der menschlichen Vernunft, einprägte. Die Aussagen der Vernunft können, so hieß es danach, wohl getrübt werden durch Leidenschaften und Unwissenheit, aber wo sie von diesen Trübungen sich freimacht, sagt sie zu allen Zeiten dasselbe aus, ist sie fähig, zeitlose, absolut gültige Wahrheiten, die der im Weltall im ganzen herrschenden Vernunft entsprechen, zu finden. Dieser naturrechtliche Glaube hat sich durch die Anpassungen, die Ernst Troeltsch gezeigt hat, auch mit dem Christentum verbinden können. Es ist nicht auszudenken, was dieses Naturrecht, sei es in seiner christlichen, sei es in seiner seit der Renaissance wieder durchbrechenden profanen Form, für die abendländische Menschheit von fast zwei Jahrtausenden bedeutet hat. Es war ein fester Polarstern inmitten aller Stürme der Weltgeschichte. Es gab dem denkenden Menschen einen absoluten Halt im Leben, einen um so stärkeren, wenn er dabei von dem christlichen Offenbarungsglauben überhöht wurde. Es konnte gebraucht werden für die mannigfachsten, sehr unter sich streitenden Ideologien. Die als ewig und zeitlos angenommene menschliche Vernunft konnte sie alle rechtfertigen, ohne daß man es bemerkte, daß diese Vernunft dabei selbst ihren zeitlosen Charakter verlor und sich als das erwies, was sie war, eine geschichtlich wandelbare, sich immer wieder neu individualisierende Kraft. Man könnte, wenn man sich romantischen Stimmungen hingeben wollte, diese Täuschung beneiden und als glückliche und schöpferische Naivität der Jugend bezeichnen. Denn die oft beneidete Stilsicherheit in den Lebensformen und die unbedingte Glaubenskraft früherer Jahrhunderte hingen damit zusammen. Die ReliI*

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gion, wird man vielleicht einwenden, vermochte dafür noch mehr als das Naturrecht. Aber Naturrecht und Religion waren nun eben auch lange ineinander verschmolzen und wirkten praktisch in dieser Verschmelzung auf die Menschen. W i r haben hier nicht damit, sondern nur mit derjenigen Stufe des Naturrechts zu tun, die dem Historismus unmittelbar vorausging. Ebensowenig haben wir das Problem zu lösen, ob und inwieweit trotz allem das Naturrecht einen immer wieder auflebenden Kern zeitloser menschlicher Bedürfnisse enthält. Daß es als historische Idee und Kraft auch neben und nach dem Durchbruch der neuen individualisierenden Denkweise gewirkt hat und bis heute wirkt, ist bekannt. So wurde das 19. Jahrhundert recht eigentlich zum Mischkessel dieser beiden Denkweisen. Erst recht führt die Genesis des Historismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die wir darstellen wollen, in Mischungen und Brechungen, in Residuen des Alten neben dem Durchbruche des Neuen hinein. Wohl ist der Historismus seitdem derart zum Bestandteil des modernen Denkens geworden, daß dem aufmerksamen Blicke seine Spuren fast in jedem wesentlichen Urteil über menschliche Gebilde entgegentreten. Denn fast immer schwingt, klarer oder unklarer, die Vorstellung mit, daß die Besonderheit dieser Gebilde nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren individuellen Bedingungen abhänge. Aber nur in ganz wenigen großen Erscheinungen hat der Historismus seine volle Tiefe und Kraft entwickelt. Verflachung in sich selbst und Einbruch fremder und gröberer Elemente in seine Gedankenwelt waren die Gefahren, die ihn bis heute begleiteten. Durdi seine Verflachung konnte die Meinung aufkommen, daß er zu einem haltlosen Relativismus führe und die schöpferischen Kräfte des Menschen lähme. W i r wissen, daß wir nur bei Wenigen und nicht bei den Vielen heute Gehör für ihn finden. Aber wir sehen in ihm die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge und trauen ihm eine echte Entwicklungsfähigkeit auch für die um uns und vor uns liegenden Probleme der Menschheitsgeschichte zu. W i r trauen ihm damit die Kraft zu, die Wunden, die er durch die Relativierung der Werte geschlagen hat, zu heilen - vorausgesetzt, daß er Menschen findet, die diesen -ismus in echtes Leben umsetzen. Als Entwicklungsstufe des abendländischen Geistes also wollen

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wir den Hergang seiner Entstehung darstellen. Denn entwikkelnde und individualisierende Denkweise gehören unmittelbar zusammen. Im Wesen der Individualität, der des Einzelmenschen wie der ideellen und realen Kollektivgebilde, liegt es, daß sie sich nur durch Entwicklung offenbart. Es gibt freilidi verschiedene Entwiddungsbegriffe. Rickert hat einmal deren sieben unterschieden. W i r werden zeigen, daß auch in der Genesis des Historismus deren mehrere miteinander rangen. W i r greifen nicht vor, sondern bemerken zur ersten Orientierung nur, daß wir für unsere rein historisch betrachtenden Zwecke den Entwicklungsbegriff des Historismus mit seinem größeren Maße von Spontaneität, plastischer Wandlungsfähigkeit und Unberechenbarkeit unterscheiden einmal von dem ihn verengernden Gedanken einer bloßen Entfaltung gegebener Keime und sodann von dem, weis wir den Perfektionsgedanken der Aufklärung nennen und was dann zum, sei es vulgären, sei es sublimierten Fortschrittsgedanken wurde. Durdi den Entwicklungsgedanken wurde die bis dahin vorwaltende Behandlungsweise geschichtlicher Wandlungen überwunden, die man Pragmatismus nennt. Dieser hing mit der naturrechtlichen Denkweise unmittelbar zusammen, benutzte wegen der angenommenen Gleichartigkeit der menschlichen Natur die Geschichte als pädagogisch nützliche Beispielsammlung und erklärte ihre Wandlungen aus Vordergrundsursachen, sei es persönlicher, sei es sachlicher Art. So unterscheiden wir einen personalistisdien und einen sachlichen Pragmatismus. Auch hier überlassen wir es der Darstellung selbst, die Sache anschaulich zu machen. Denn überall handelt es sich nicht nur um begrifflich zu fassende und in -ismen summarisch unterzubringende Züge des Denkens, sondern um lebendiges Gesamtleben, seelische Totalitäten der Einzelnen, wie der Gemeinschaften und der Generationen - wie sie eben der Historismus zu sehen gelernt hat. Diese Erkenntnis entschied für uns auch über die Form der Darstellung und die Auswahl und Gliederung des Stoffes. Es gab zwei Wege dafür. Entweder konnte man die allgemeinen begrifflich zu filssenden Probleme selbst in den Vordergrund stellen und den Anteil der einzelnen Denker in eine reine Problem- und Ideengeschichte verweben. Diesen Weg wählen die philosophischen oder von systematischen Einzelwissenschaften herkommen-

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den Denker gern. Er erhellt wohl unmittelbar die ideellen Zusammenhänge, aber er bringt den idividuellen Lebens- und Untergrund der Ideen nicht zur zusammenhängenden Anschauung und grenzt an die Gefahr, geschichtliches Leben in begriffliche Hypostasen zu verwandeln. So hat audi der Weg des reinen Historikers seine Berechtigung, der zu den lebendigen Menschen führt und an ihnen den Wandel der Ideen studiert. Er hat dann zu wählen, ob er möglichst viel oder möglichst wenig Akteure auf die Bühne bringen will. Man kann die geistigen Wandlungen und nun zumal die des 18. Jahrhunderts auch an einer Unmenge mittlerer und kleinerer Geister verfolgen. Auch ihr wirksamer Anteil an diesen Wandlungen soll dabei nicht unterschätzt werden, und Stoff für nützliche Monographien gibt es damit genug. Will man aber das Allgemeine des Hergangs und das Individuelle seiner Ursprünge eindrücklich miteinander verbinden, so bleibt nur übrig, eine Art Gratwanderung durch das Gebirge anzutreten und von einem der hohen Gipfel zum anderen hinüberzustreben, wobei dann überall audi Seitenblicke auf nicht besuchte Berge und Täler möglich sind. Diesen Weg, den idi in meinen früheren geistesgeschichtlichen Werken einschlug, habe idi auch diesmal gewählt. So wurde die Auswahl des Stoffes ausgerichtet auf die drei großen deutschen Denker, in denen der frühe Historismus des 18. Jahrhunderts zum stärksten Durchbruch kam und deren Leistung dann der Boden wurde für sein weiteres Wachstum. Sie vor allem mußten in ihrer individuellen Struktur erfaßt werden. Um diese zu verstehen, mußten die wichtigsten Vorstufen zu ihnen vom frühen 18. Jahrhundert an, wiederum möglichst in individuellen Bildern, gezeigt, dabei aber auch die wichtigsten Zusammenhänge der allgemeinen Geistesgeschichte, die bis zur Antike gehen, wenigstens angedeutet werden. Naturredit, Neuplatonismus, Christentum, Protestantismus, Pietismus, Naturwissenschaft und Reiseneugierde des 17. und IS. Jahrhunderts, die ersten Regungen eines neuen Freiheits- und Nationalgefühls in den Völkern, schließlich und nicht zu geringst die neu aufblühende Dichtung des 18. Jahrhunderts und alles auf soziale und politische Hintergründe bezogen - alle diese allgemeinen Mächte, aus deren Zusammenwirken in den Seelen genialer Menschen der Historismus entsprang, werden hier also nur in den

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Wirkungen und Umgestaltungen, die bei seinen Schöpfern und deren Vorläufern ersdieinen, zur Anschauung gebracht. Die Zahl der Vorläufer zu den drei Denkern könnte ohne Schwierigkeit vermehrt werden, etwas Wesentliches und Unentbehrliches aber dabei kaum zutage treten. Neben den großen Aufklärungshistorikern Frankreichs und Englands haben wir audi die bisher wenig gewürdigten präromantischen Regungen in beiden Ländern als Vorstufen und wegen ihrer Bedeutung vor allem für Herder dargestellt und Burke dabei nicht ausgeschlossen, obwohl er erst für die nach den drei Denkern kommende Weiterentwicklung des Historismus wichtig wurde. Meine ursprüngliche Absicht war dahin gegangen, auch diese mit darzustellen und mit der Bildungsgeschichte des jungen Ranke zu enden. Ich kann nun als Beigabe zum Buche nur die Gedächtnisrede auf Ranke bieten, die idi am Friedrichstage der Preußischen Akademie der Wissenschaften, dem 23. Januar 1936, zu halten hatte. Die Jahre machen sich fühlbar, und idi kann nur hoffen, diesen und jenen Faden aus dem mächtigen Gewebe des frühen deutschen 19. Jahrhunderts nodi zu fassen, aber nicht das Ganze mehr zu bewältigen. Jüngere Hände werden, wie ich bestimmt glaube, diese Aufgabe nodi einmal lösen. In dieses frühe 19. Jahrhundert ragt in meinem Buche jetzt nur Goethe in der Epoche seiner Vollendung hinein. Ich verkenne nicht, daß die Vollendung seines geschichtlichen Denkens, wie ich sie darzustellen versuche, in der Luft des frühen 19. Jahrhunderts erfolgt ist, daß die aufblühende Romantik, die durch Hegel am tiefsten vertretenen gesdiiditsphilosophisdien Impulse des deutschen Idealismus, vor allem aber die gewaltigen geschichtlichen Erlebnisse dieser Jahre zur Vollendung Goethes, der wie nur Einer die ihm gemäßen Säfte seiner Zeit in sich zu saugen vermochte, das Ihre beigetragen haben. Aber der Stamm, der diese Früchte jetzt trug, stammt aus der Welt des 18. Jahrhunderts, und so darf das geschichtliche Denken seiner Spätzeit, nicht wesentlich anders, sondern nur tiefer und umfassender entwickelt als in seiner frühen und mittleren Zeit, als die letzte und höchste Leistung des 18. Jahrhunderts für das historische Denken gelten. Jahrhundertgeister und spezifische Jahrhundertleistungen greifen ineinander über, wie hoch gebaute Erker in engen Straßen von hüben und drüben sich fast berühren

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und leicht verbunden werden können. Darum mag dieser Erkerbau Goethes in das 19. Jahrhundert hinein auch in einem Plane Platz finden, der sonst nur das 18. Jahrhundert umschließt. Mein Thema ist bisher nodi niemals einheitlich behandelt worden. Die großartige Skizze Diltheys über das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt (Schriften Bd. 3) war zwar die wichtigste Vorarbeit, auf die ich mich stützen konnte. Aber sie macht vor Herder halt, das heißt, sie will nicht die Entstehung des Historismus unmittelbar darstellen, sondern die den Historismus vorbereitende Leistung der Aufklärungsbewegung. Ich gebe auch nicht Geschichte der Geschichtsschreibung, wie sie Fueter und Moriz Ritter zuletzt gegeben haben, sondern Geschichte der der Geschichtsschreibung und dem geschichtlichen Denken überhaupt zugrunde liegenden Wertmaßstäbe und Gestaltungsprinzipien. Derartiges versuchen nun wohl audi zwei wertvolle Arbeiten aus jüngster Zeit, die in der Auswahl der von ihnen behandelten Denker des 18. Jahrhunderts weithin sich mit der von mir getroffenen Auswahl berühren: Trude Benz' Bonner Dissertation von 1932 über die Anthropologie in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts und Kurt Breysigs kurz nach Absdiluß meiner eigenen Arbeit erschienenes Buch »Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung« (1936). Aber ihre besondere Fragestellung ist von Hause aus eine andere als die meine. Insbesondere ist Breysigs Wissenschaftsideal eines verfeinerten Positivismus, an dem er die großen historischen Köpfe des 18. Jahrhunderts mißt, von den Maßstäben des Historismus, die idi anwende, sehr verschieden. Wohl aber kam eine Reihe einzelner Vorarbeiten für meinen Versuch in Betracht, sowohl Monographien über einzelne Geschichtsschreiber und Geschichtsdenker, wie audi solche, die den Wandel der Auffassung über bestimmte einzelne historische Objekte und Probleme untersuchen, geistesgeschichtlich erläutern und so auf dieselben Probleme stoßen, die uns am Herzen liegen. Meisterhaft hat Spranger die Geschichte der Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls behandelt (Sitzungsberichte d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1926). Demselben Problem des Kulturverfalls und des Wandels der Meinung über ihn gilt auch die Untersuchung Walther Rehms »Der Untergang Roms im abendländischen Denken« (1930). Stadelmann, dem wir schon eine vor-

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züglidie Monographie über Herders historischen Sinn (1928) verdanken, hat die »Grundformen der Mittelalterauffassung von Herder bis Ranke« (Deutsche Viertel jahrssdir. f. Literaturwiss. usw. 1931) behandelt. Demselben Thema dienten die Arbeiten von Bertha Moeller »Die Wiederentdeckung des Mittelalters« (Kölner Diss. 1932) und das Buch von Giorgio Falco, La polemica sul medio evo (1,1933), audi W. Sdiieblidi »Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Gesdiichtschreibung von Leibniz bis Giesebredit« (1932). Idi selbst habe sdion vor zwei Jahrzehnten die Fruchtbarkeit derartiger Einzel- und Längsschnittuntersuchungen empfunden und über germanischen und romanischen Geist im Wandel der deutschen Geschichtsauffassung (Histor. Zeitsdlr. 115; Preußen und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert 1918) gehandelt, und von mir angeregt, hat, daran anschließend, Erwin Hölzle die »Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu« (1925) untersucht. Idi hatte nun zu erwägen, wie weit ich audi bei meinem jetzigen Unternehmen diese Art von Fragestellungen anzuwenden und durchzuführen hätte. Idi entschied midi dafür, sie weder ganz zu vernachlässigen nodi so zur Herrschaft kommen zu lassen, daß sie Auswahl und Disposition des Stoffes entscheidend bestimmten. Denn mein Anliegen ist darauf gerichtet, in die tiefere Schicht des geistig-seelischen Lebens zu gelangen, aus der die Wandlungen des Denkens über die geschichtlichen Einzelprobleme stammen. Und in sie gelangt man nur durch Versenkung in die einzelnen großen Individualitäten. Ich mußte nach Menschen und nicht nach historischen Einzelfragen, und mochten sie noch so umfassend sein, disponieren. Und darum mußte das, was über diese gefunden wurde, in das Strukturbild der einzelnen Denker eingefügt werden. Schließlich darf ich auch zur Ergänzung für manches in diesem Buche nur Gestreifte auf meine früheren Bücher »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1908; 7. Aufl. 1928) und »Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte« (1924; 3. Aufl. 1929) verweisen, die beide schon implicite mein Thema mit behandeln. Alles, was den drei Büchern gemeinsam ist, geht auf erste Konzeptionen meiner glücklichen, vor einem Menschenalter verbrachten Straßburger Jahre zurück. Dieser Erinnerung widme ich mein Buch, und die wenigen Uberlebenden jener Zeit, die idi damit

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grüße, wissen, was die damalige geistige Konstellation des oberrheinischen Kulturlebens bedeutete. Idi trat diese dritte und letzte Fußwanderung durdi ein Hochgebirge mit der Resignation des Alters an, das alle Schwierigkeiten der übernommenen Aufgabe viel genauer als früher kennt, seine Ansprüche an sich deswegen auch steigert und dodi zuletzt nur ein Fragment dessen zu geben sidi bewußt bleibt, was als ideale Lösung lockend vor Augen stand.

ERSTES

Vorstufen und

BUCH

Aufklärungshistorie

ERSTES KAPITEL

Die Vorbereiter I. Shaftesbury, II. Leibniz, III. Gottfried Arnold, IV. Vico/Lafitau

Wir versuchen, den springenden Punkt in der Entstehung des Historismus zu bezeichnen. Alles kam darauf an, das starre naturreditliche Denken mit seinem Glauben an die Unveränderlichkeit der höchsten menschlichen Ideale und an die zu allen Zeiten vorhandene Gleichartigkeit der menschlichen Natur zu erweichen und in Fluß zu bringen. Der erste Schritt dazu wurde getan durch eine allgemeine Wendung des philosophischen Denkens, die schon im 17. Jahrhundert in der Philosophie Descartes' vor allem zu bemerken ist. Hatte man bisher, naiv überzeugt von der Kraft der menschlichen Vernunft, das Objektive der Welt mit ihr zu erfassen gestrebt, so trat jetzt die Frage nach dem erkennenden Subjekt und nach seiner Legitimation auf Grund der in ihm selbst zu findenden Gesetze in den Vordergrund. In dieser Wendung zu den subjektiven Problemen spürt man die allerersten Vorzeichen einer kommenden Revolution des Denkens, eben der, die wir darstellen wollen. Aber nun geschieht es nicht selten in der Vorgeschichte von Revolutionen, daß eben die Wendungen, die sie in der Tiefe schon insgeheim vorbereiteten, den alten bisherigen Zustand zunächst und auf lange Zeit hinaus gerade befestigen. Das erkennende Subjekt, das Descartes und unter seinen Nachwirkungen die französische Aufklärung vor Augen hatten, war ja noch nicht das individuelle Subjekt in der Mannigfaltigkeit seiner geschichtlichen Erscheinungen, sondern das allgemeine Subjekt, der abstrakte Mensch des Naturrechts. Und die allgemeinen Gesetze, die man in ihm fand, bestätigten deshalb zunächst nur das naturrechtliche Denken in seiner Selbstsicherheit und Gewißheit, den Schlüssel zur Erkenntnis menschlicher Dinge zu haben. Diesen Schlüssel glaubte man nun zu besitzen in einem zu mathematischer Klarheit und Evidenz erhobenen Denken, voran in der strikten Anwendung des Kausal-

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Erstes Kapitel

gesetzes. Die epodiemadienden Entdeckungen der Naturwissensdiaften bestätigten dieses in ungeahntem Grade und wirkten hinüber audi auf deis geschichtliche Gebiet. So blieben die Veränderungen, die das geschichtliche Leben erfuhr, nun auch im Banne der mechanischen Kausalität, derart, daß audi die Veränderungen innerhalb der menschlichen Natur nur als kausal bestimmte Umgruppierungen derselben immer gleichartig wiederkehrenden Grundelemente ersdiienen. Die Vernunft aber, das Verkündigungsorgan der Ideale, blieb für das nach mathematischer Sicherheit strebende Denken ebenso stabil, wie sie dem naturrechtlichen Denken von jeher erschienen war. So ging, soweit die französische Aufklärung herrschte, dem Historismus voran nicht etwa eine Abschwädiung, sondern gerade eine Steigerung des naturrechtlichen Denkens, die freilich wie gesagt den verborgenen Keim des Verfalls in sich trug. Das wird uns die französische Aufklärungshistorie zeigen. Mehr zu erwarten für die Aufgabe, die geschichtliche Welt aufzulockern, war von dem englischen Empirismus und Sensualismus, nachdem Locke den Glauben an die angeborenen Ideen erschüttert hatte. Der Glaube an den absoluten Charakter von Vernunftwahrheiten schmolz nun wohl zusammen. Der Wille zum nüchternen und unbefangenen Studium menschlicher Phänomene und damit auch ihrer geschichtlichen Wandlungen erwachte. Damit lernte man die Welt der irrationalen Seelenmächte, der Gefühle, Triebe und Leidenschaften, die das vernunftstolze Naturrecht bisher mißachtet hatte, genauer kennen und ihre kausale Bedeutung, unter Umständen auch ihren Nutzen für menschliche Zwecke, besser würdigen. Aber der Geist wurde dabei zur leeren Tafel, die erst durch die von den Sinnen hinzugetragene Erfahrung gefüllt wurde, und verlor seine Aktivität und Selbsttätig keit. Audi lernte man mit der neuen Methode mehr die Teile der Seele kennen als ihr inneres Band. Denn man blieb bei der Untersuchung auch hier im Banne der mechanischen Kausalität, die von den Naturwissenschaften her ihren Eroberungszug jetzt in die Geisteswissenschaften antrat. Dem alten Naturrecht, das ja eigentlich Vernunftrecht und Glaube an die Vernunft war, trat damit nur ein neuer Naturalismus in inkonsequenten Kompromissen zur Seite. Wir werden auch dies an der englischen Aufklärungshistorie zu zeigen haben.

Die Vorbereiter

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Nur von einem tieferen Verständnis der mensdilidien Seele aus konnten einmal das alte Naturredit und der neue Naturalismus überwunden und damit ein neuer historischer Sinn erobert werden. W e r dies tiefere Verständnis zuerst erschloß, war wohl nicht selbst sogleidi imstande und berufen, es auf die geschichtliche Welt durchgreifend anzuwenden. So rasch gehen die Wandlungen im Geistesleben nicht vor sidi, zumal, wo es sich um die Sprengung einer Jahrtausende alten, von der Antike her erwachsenen Kruste handelte. Aber es ist denkwürdig, daß gerade um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, wo die große Aufklärungsbewegung von England her zu ihrem Siegeszuge sich anschickte, gleichzeitig in England und in Deutschland und bald darauf auch in Italien Gedankenwelten geschaffen wurden, die sdion den Keim zur Uberwindung eben dieser Aufklärungsbewegung, sowohl der englisch-empiristisdien wie der französischrationalistischen enthielten. Leibniz, Shaftesbury und Vico haben, unabhängig voneinander, jeder von besonderen individuellen Voraussetzungen und Umgebungen aus, sie geschaffen. Aber die innere Einheit der abendländischen Kultur erwies sich in ihrem nahezu gleichzeitigen Auftreten. Shaftesbury (1671 bis 1713) ist in derselben Stadt Neapel gestorben, in der sein Generationsgenosse Vico (1668-1744) lebte, und wird sich vermutlich mit ihm dort auch berührt haben (vgl. Nicolini, La giovinezza di G. Β. Vico, 1932, S. 92). Und der ältere Leibniz (1646-1716) und der jüngere Shaftesbury haben sich nodi vor ihrem Tode geistig die Hand gereicht. Leibniz hat mit Entzücken Shaftesburys »Moralisten« (1709 erschienen) gelesen und fast seine ganze Theodizee (1710 erschienen) in ihr wiedergefunden. Vicos Werk blieb fast unbeachtet innerhalb der von uns zu schildernden Bestrebungen. Wir fügen vor ihm noch einen zeitgenössischen deutschen Denker minderen Ranges, Gottfried Arnold, ein, der als Vertreter seelisch bewegter Kreise audi zu den Vorbereitern eines neuen historischen Denkens gehört. Voran aber stehen Leibniz und Shaftesbury unter den geistigen Mächten, die ein halbes Jahrhundert später in den Jahren nach dem Siebenjährigen Kriege die neu einsetzende deutsche Bewegung befruchtet haben. Sie waren für sie wie ein Dioskurenpaar an ihrem Himmel, das die inzwischen aufgegangenen großen Gestirne der französischen Aufklärung zu überstrahlen vermochte. Vielleicht hat Shaf-

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Erstes Kapitel

tesbury nodi unmittelbarer und verwandter auf sie zu wirken vermodit als Leibniz, weil er minder intellektualistisch wie dieser, vielmehr enthusiastisdi, ästhetisch, phantasie- und gemütvoll sofort die ganze Seele in Schwingung brachte1. Wir behandeln ihn deswegen zuerst. I. SHAFTESBURY In England ist neben vorherrschender praktischer Erfahrung und Nüchternheit oft eine feine und zarte Melodie beseelter Schönheit erklungen, ein ästhetisches und romantisches Bedürfnis, in bildender Kunst und Lyrik sofort erkennbar, von Zeit zu Zeit zu spüren. Der Rassentheoretiker führt es mit unsicherer Berechtigung auf den keltischen Einschlag im englischen Volkstum zurück. Shaftesbury, der diesen Typus vertrat, entfaltete sich als frei sein Leben gestaltender Aristokrat der Geburt und der Bildung zu derselben Zeit, wo auch sein Volk und Staat mit gesicherter innerer Freiheit und stolzerem Flügelschlag in Europa und der Welt emporstieg. Es besteht, von Weiser (Shaft, u. d. deutsche Geistesleben, 1916) mit Recht betont, ein innerer Zusammenhang zwischen den politischen Freiheitsidealen des Lords und der freien Weltfreudigkeit und Weltfrömmigkeit des Denkers. Er konnte sich eine hohe Geisteskultur nur in einem freien Staate dauernd gesichert denken und sah Blüte und Verfall von Kunst und Wissenschaft abhängen von Blüte und Verfall einer inneren politischen Freiheit. Liberty and letters war so die zwar noch nicht tiefste, aber vorderste seiner Losungen. Ein schon in der Antike zur frühen Kaiserzeit sich regender Gedanke (vor allem Pseudo-Longinus περί νψονς c. 44) erwachte so durch ihn in der englischen Luft der glorious revolution zu neuem Leben und sollte durch das ganze 18. Jahrhundert noch oft erklingen. Geistesgeschichtlich und insbesondere für die Entstehung des Historismus noch bedeutsamer ist ein anderer Zusammenhang, der ebenfalls über Volk und Zeit zurückführt in die Antike, ins 1

In einem Bekenntnis sowohl zu Leibniz wie zu Shaftesbury schrieb Herder 1770 an Merk (Lebenbild 3, 1 S. 110) von Shaftesbury, der »den Optimismus zuerst vortrug, daß er ans Herz drang, da Leibniz ihn nur dem Verstände sagte«.

Shaftesbury

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Auge zu fassen. Aus dieser stammte nicht nur das den Blick in die Tiefen der Seele hemmende naturreditliche Denken mit seinem Intellektualismus und Rationalismus, sondern audi das tiefer aus der Seele schöpfende platonische und neuplatonische Denken, das in England schon vor Shaftesbury durch die Philosophensdiule von Cambridge gepflegt wurde. Von ihr und von dem Renaissancephilosophen Giordano Bruno empfing Shaftesbury wahrscheinlich den goldenen Eimer, der die platonisdb-neuplatonisdien Ideen enthielt und den eine Kette mystisdi oder pantheistisdi gestimmter Geister von Dionysius Areopagita an durch die Jahrhunderte her einander weiterreidite. Immer so, daß stets neue individuell und zeitgeschichtlich bestimmte Ausgestaltungen oder Anwendungen dieser Ideen dabei zutage traten. Audi wo es nidit zur vollen Aus- und Neugestaltung dieser Ideen kam, hat schon ihre Anwendung auf einzelne Lebensgebiete oft ungeheuer belebend und schöpferisch gewirkt, wie - um ein neuplatonisches Lieblingsbild zu gebraudien - ein Lichtstrahl, der, ohne selbst gesehen zu werden, noch eine ferne Wand zu erleuchten vermag. Uns braucht deshalb hier nicht die ganze Philosophie Shaftesburys, die letzten Endes auf eine Verschmelzung von Ethik und Ästhetik hinauslief, zu beschäftigen. Wir greifen diejenigen Züge heraus, die später nachweisbar und evident bei den ersten Wegbahnern des Historismus wieder an- oder durchklingen. Wir sagten mit Absicht nicht, daß das platonisch-neuplatonisdie Denken tiefer als das naturrechtlidie Denken in die Seele geblickt habe, wohl aber, daß es tiefer aus der Seele geschöpft habe. Die intensivere Beschäftigung mit den dunklen Tiefen und Rätseln der Seele lag nun einmal dem stark intellektualistischen und mehr dem Objektiven der Welt zugekehrten Denken der Antike nidit. Aber der platonische Eros, der zum wahrhaft Wesentlichen der Welt, zum Reich der Urbilder und Ideen emporstrebte, stammte aus den unbewußten Tiefen der Seele. Das Christentum und die Stimmung der Menschen beim Ausgang der Antike verstärkten die Neigung der Seele, sidi voller und inniger der Gottheit zu erschließen. Das geschah auch in der Philosophie Plotins. Die menschliche Seele und Gott, nicht die menschliche Seele und die Geschichte war die Hauptrelation, in der sie innerhalb der platonisch-neuplatonischen Bewegung ihre über Verstand und 2 Meinecke, Historismus

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Erstes Kapitel

Vernunft hinausreichenden Inhalte lebendig werden ließ. Dann bildete man wohl von dem einmal gewonnenen Grundverhältnis zwischen Seele und Gottheit audi auf das Weltganze und seine bunten Inhalte, sah überall wie in sich selbst Ausfluß des göttlichen Urquells, Widerschein und Abglanz des göttlichen Urlichts, Zusammenhang aller Teile zu einem lebendig bewegten großen Ganzen, aber so gut wie immer in einer überzeitlichen, recht eigentlich ungeschichtlichen Gesinnung. Die Dauer im Wechsel, der bleibende Kern und die wiederkehrende Typik alles Weltgeschehens, die ewige Wiederbestätigung des einen GottWelt-Zusammenhanges, der Ausfluß aller mannigfaltigen Dinge aus der einen sie umfassenden und nährenden weit- und denküberlegenen göttlichen Urkraft - diese Gedanken dominierten, wenn man auf die Geschichte blickte. Mit ihnen wurde man der verwirrenden Vielfalt ihrer Verläufe und Erscheinungen Herr, freilich nur so, daß man sie sich selbst überließ und in das Geheimnis ihres geschichtlichen Werdens einzudringen sich nicht bemühte. Dabei konnten auch die Lehren derStoa und des Naturrechts von der überzeitlichen Gleichartigkeit der menschlichen Natur und den zeitlos absoluten Idealen und Vernunftinhalten der Menschheit immer noch mitgeführt werden, denn auch sie bestätigten die Dauer im Wechsel. Das dem Wesen nach ungeschichtliche und statische naturrechtliche und das dem Wesen nach dynamische, aber an der Geschichte noch nicht tiefer interessierte neuplatonische Denken konnten sich immer wieder miteinander vertragen. Irren wir nicht, so ist auch Shaftesbury, obwohl überwiegend neuplatonisch gestimmt, diesem Mischtypus noch zuzurechnen. Sein Tugendbegriff, in dem seine Ethik gipfelte, war genau so absolut, so zeitüberlegen und unabhängig von äußerlicher Satzung, schwankender Meinung oder Gewohnheit, so fest in der Natur des Weltalls begründet wie der des stoischen Naturrechts. Er glaubte an die natural rule of honesty and worth (Misc. Refi. V, 3). Er wagte dasselbe von der Tugend zu sagen, was der Neubegründer des Naturrechts, Grotius, vom Rechte gesagt hatte, daß sie sogar unabhängig von Gott selbst sei (Moralisten II, 3), weil Gott notwendig gut sein müsse1. 1 Durchaus naturreditlidi bestimmt ist sein Urteil, daß der Bekenner einer Religion, die Katzen, Krokodile und ähnliche schädliche oder

Shaftesbury

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Nicht hierauf, sondern auf den neuplatonisdien Elementen seines Denkens beruhte die fortwirkende und dereinst auch in die geschichtliche Welt hineinweisende Kraft seines Geistes. Das Entscheidende war, daß sein gläubiges Vertrauen auf die Gottentflossenheit aller Dinge, auf das Einwohnen der Urseele auch in uns bei ihm nicht aus einem bloß mystischen Vereinigungsdrang der Seele mit Gott, aus einem isolierten Zwiegespräch beider entsprang, sondern aus einer weltoffenen und schönheitsdurstigen Betraditung aller Lebensvorgänge um ihn herum. Dieser heitere und klare Blick in das Leben, ungehemmt durch dogmatisch-christliche Vorstellungen, näherte ihn der Aufklärung und madite ihn auch ihr sympathisch. Das Besondere, was ihn von ihr schied, war der durch intellektualistisdies Denken unverkümmert gebliebene ästhetische Sinn. Alles in der Welt wies hin auf Zusammenhang, Einheit und Ganzheit im Großen wie im Kleinen, lebendige Beziehung und Sympathie aller Teile zu einem gemeinsamen Zwedce. Unmöglich konnte die Materie durch mechanische Selbstbewegung die Pflanze, den Baum, das Tier, den Menschen hervorbringen. Das identische Eins unserer eigenen Persönlichkeit kann ja, meinte er, nicht im Stoffe liegen, der in soundso viel Jahren sich aufbraucht, sondern in einer inneren gestaltenden geistigen Kraft, in dem, was er die inward form nannte. Inward form, and structure, inward constitution, inward order, inward character, inward worth and liberty, inward sentiments and principles waren seine Lieblingsworte. Geist herrscht ursprünglich über Körper, nicht Körper über Geist. Der Geist allein ist es, der Form gibt. Das Schöne liegt niemals im Stoffe, sondern in der Form, der formenden Kraft, der Idee. Diese Energie, mit der Geist, Form und formende Kraft in eins gesetzt wurden und so ein innerlicher, bewegender Mittelpunkt in jedem lebendigen Gebilde gesucht wurde, war selbst der schöpferische Mittelpunkt seiner Lehre, die später in Deutschland auf ein junges Geschlecht so erhellend und begeisternd wirken sollte. Echt plotinisch gedacht war es dabei, daß er das Schaffende unbedingt höher stellte als das Geschaffene, das Reich der von Menschen oder der Natur nur gestalteten, aber nicht selbsttätigen Gebilde niedere Tiere als heilig verehre, sittlich schlecht handle, wenn er auf Grund dieses Glaubens Gegner seiner Religion als Feinde behandle.

An inquiry concerning virtue or merit I, 3.

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als tote Formen unterschied von den »formenden Formen«, die nun ihrerseits wieder auf den Ursprung und Quell aller Schönheit und Güte, die Urseele zurückgingen. Stufenbau, Einheit und Mannigfaltigkeit des Kosmos in vollendeter Harmonie schufen ihm so ein entzückendes Weltbild. Sein Naturhymnus in den Moralisten schwingt, wie Dilthey gezeigt hat (Schriften 2, 400), in dem von Goethe inspirierten Naturaufsatz von 1782 nach und wurde von Herder nachgedichtet (Werke 27, 397). Das Wichtigste aber für unsere Probleme ist, daß in dieser Lehre zugleich eine erste Anerkennung des Individualitätsprinzips lag. Alle besonderen Formen, obwohl sie letztlich durch ein gemeinsames einfaches Prinzip eins sind, haben doch jeweilig ihren eigentümlichen, ihnen innewohnenden Genius. Dieser offenbart sich und seine Schönheit immer nur durch Handlung, Leben und Wirksamkeit. Eine ruhelose, alles durchströmende, unendlich gestaltenreiche, aus Tod immer wieder neues Leben schaffende Bewegung stand ihm so vor Augen, ruhelos und doch dabei aus letzter erhabener Ruhe entsprungen, mit Regelmäßigkeit, Unveränderlichkeit und Dauer als höchstem Gesetze. Dem Individuum aber, das sich dieses großartigen Weltbildes ganz bewußt wurde und alle einzelnen von Shaftesbury entwickelten Gedanken bis in die Tiefe der Seele durchsickern ließ, wurde damit eine Kraftquelle besonderer Art zuteil. Mochte es praktisch im Leben wirken oder theoretisch irgendwelches Leben zu begreifen suchen, überall mußte es sich zu eigenartiger Selbsttätigkeit berufen und doch abhängig von einer höheren Macht, als ein in Freiheit dienendes Organ der Gottheit, stolz und demütig zugleich fühlen. Und alles, was man schuf oder geschaffen sah, trug Gestalt und Form, und soweit nicht ein bloß Körperliches dabei geformt wurde, eine weiter wirkende, ebenfalls wieder gestaltende Form. Es waren Gedanken, die einmal das Verständnis der Geschichte tiefer erschließen konnten. Oberall ein Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit und ein sich immer neu erzeugender Reichtum eigenartiger Gebilde, die aus einem inneren Mittelpunkte, aus einer gestaltenden Idee heraus erwachsen. Die normative Denkweise des Naturrechts war damit, mochten auch wesentliche Züge von ihr sich in Shaftesburys Lehren behaupten, nicht etwa bewußt revolutionär, aber beinahe spielend naiv überwunden.

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Aber waren nidit Leben und Welt selbst dabei in Gefahr, zu einem geistvollen und schönen Spiel von Erscheinungen sich zu verflüchtigen? Shaftesbury wollte und konnte nidit an dem Problem der Theodizee, an der Frage nadi Ursprung, Daseinsanspruch und Wirksamkeit des Bösen und Sdilechten in der Welt, nach ihrer Unvollkommenheit trotz ihrer Herkunft aus Gott vorübergehen. Wir haben hier nicht nach den philosophischen Schwächen oder Vorzügen seiner Antwort zu fragen, sondern danach, ob sie imstande war, einem künftigen historischen Denken etwas zu bieten. Sie war es, und zwar durdi zwei Hauptgedanken, deren einer, allgemein christlich wie neuplatonisch, von ihm aber ursprünglich und tief empfunden, auch vom Historiker nie vergessen werden darf, während der andere, aus Shaftesburys eigenster ästhetischer Begabung entsprungen, zugleich mit dem neuplatonischen Weltbild in Einklang, auch dem historischen Sehen neue Möglichkeiten eröffnete. Idi soll, so läßt er Philokles in den Moralisten sprechen, die Dinge also nun durch eine Art Zauberglas anblicken, das Schlimmste in Gutes verwandelt sehen und alles bewundern? Darauf erwiderte Theokies: Ein Geist, der nicht ins Unendliche sieht, kann nidit vollständig sehen, und darum erscheint ihm so manches unvollkommen, was an sich selbst in Wahrheit vollkommen ist. Laß dich nicht, führte er ein andermal aus1, niederdrücken durch den Anblick alles Unglücks und Leids in der Geschichte und der über sie gekommenen Katastrophen. Abgrund ist vor uns und hinter uns, vergehende Generationen, Wellen der See, Blätter und Gras und ewiger Wechsel und Verwandlung der Dinge ineinander. Notwendig war dies und konnte nicht anders sein, aber nicht nur Notwendiges, sondern Bestes geschah hier, »da der Geist (mind) oder die Vernunft des Universums nidit gegen sich selbst handeln kann und sidierlich am besten weiß, was das Beste für sie ist«. Du fürchtest jetzt etwa, daß das schnelle Wachstum der französischen Macht die Universalmonarchie heraufführen werde. Kann es in Wahrheit nicht vielleicht das beste Mittel sein, sie zu verhüten? Das leitet schon über zu dem zweiten Trostgedanken, der von 1

Aufsatz Necessity bei Rand, "The Life etc. of Shaftesbury S. 90ff.; vgl. Weiser a. a. 0 . S. 362.

(1900)

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dem Ausblick ins Unendliche mit seiner Forderung religiöser Gläubigkeit in das Endliche mit seiner Mischung von Rätselhaftigkeit und Evidenz führte. Lust und Schmerz, Schönheit und Häßlichkeit scheinen mir, heißt es in den Moralisten, überall ineinander verwoben zu sein wie in einem bunten Teppiche mit unregelmäßiger Arbeit und doch schöner Gesamtwirkung. Die Schönheit der Welt aber beruhe überhaupt auf Gegensätzen, indem aus mannigfaltigen und widerstreitenden Prinzipien allgemeine Harmonie hervorgehe. Auch die Wüste und Wildnis, obwohl furcht- und grauenerweckend, hat ihre eigentümliche Schönheit und geheimnisvollen Reiz. Audi die Schlangen und wilden Tiere, obwohl uns zuwider, sind an sich betrachtet schön. Gifte können sich als heilsam erweisen. Betrug und religiöser Eifer können, wie immer wieder sich zeige, in ein und demselben Charakter zugleich lebendig sein, wobei wohl insgesamt mehr unschuldige Täuschung als vorsätzlicher Betrug in der Welt sei. Noch ein nachdenkliches Beispiel an anderer Stelle. Heroismus und Philanthropie, heißt es im Essay on the freedom of wit and humour, sind fast ein und dasselbe. Aber durch eine kleine Mißführung dieser Affekte wird der Held und Befreier zum Unterdrücker und Zerstörer. Man sieht, wie seine Gedanken hier schon die historische Welt berühren und auf Wege zu ihrer Deutung hinweisen, die von denen der rationalistischen Aufklärung abbiegen. Betrug und Frömmigkeit, Heldentum und Tyrannentum erschienen dieser gemeinhin als unvereinbar, weil sie, befangen in Intellektualismus und stabilen Naturrechtsbegriffen, das logisch und moralisch zu Scheidende sich nicht lebendig ineinandergewachsen vorstellen konnte. Auch Shaftesbury hat sich, wenn er sich in ausschließlich ethischen Gedankengängen bewegte, von diesem Intellektualismus nicht frei gehalten (so in seiner Inquiry concerning virtue or merit). Blickte er aber auf Welt und Leben im ganzen, so spürte er, daß das Leben durch den Intellekt und durch rationale Begriffe allein geistig nicht zu bemeistern war. Sein ästhetischer Sinn, beflügelt durch die harmonische Metaphysik des neuplatonischen Weltbildes, schuf so das neue historische Erkenntnismittel, das, indem es überall auf Ganzheit, Form, Gestalt, inneren Mittelpunkt und wirkende Kraft der lebendigen Dinge zu

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achten lehrte, auch der Gegensätze und Widersprüche Herr wurde, die nicht nur zwischen ihnen, sondern auch in ihnen selbst lagen. Nicht nur trotz, sondern gerade audi wegen dieser Gegensätze erschienen sie ihm schön und gut, weil schließlich alles, Großes und Kleines, sich zur harmonischen Ganzheit des Universums wölbte. Noch ein Letztes, was zu tieferem Schauen und Verstehen geschichtlicher Dinge unentbehrlich war und als treibende Kraft im Betrachter zum ästhetischen Sinne und metaphysischen Bedürfnis hinzukommen mußte, lehrten seine Schriften: den Enthusiasmus. Alle echte Liebe und Bewunderung, heißt es in den Moralisten, ist Enthusiasmus, sogar auch die reine Wissenschaft, Forschungsreisen, Galanterie, Krieg, Heroismus, alles, alles Enthusiasmus! Dem naturrechtlichen Rationalismus galt Enthusiasmus nur als ein vorsichtig zu beobachtendes und abzugrenzendes, hier und da nützlich wirkendes Feuer. Für manchen Zeitgenossen bedeutete Enthusiasmus schon soviel wie Fanatismus, dem man entronnen zu sein stolz war. Das klang auch in Shaftesburys freier Seele an. Niemals, bemerkte er (A Letter concerning Enthusiasm), gab es in unserer Nation eine Zeit, in derNarrheit und Extravaganz jeder Art schärfer beobachtet und witziger verspottet wurden als heute. Wo war die Grenze zwischen gesundem und hybridem Enthusiasmus? Und wie war danach ihr Wirken im geschichtlichen Leben zu beurteilen? Shaftesburys Antwort auf dies Problem, so zeitgebunden sie in mancher Hinsicht erscheinen mag, bahnte hier wiederum das tiefere historische Verständnis irrationaler Phänomene an. Es handelt sich, bemerkte er unter Berufung auf Epikur, bei all diesen aufs Wunderbare und Übernatürliche gehenden Neigungen um eine tief menschliche, eingeborene Anlage, und mögen die Dinge, um die es sich dabei handle, wahr oder falsch sein, so sind doch die Symptome, unter denen sie erscheinen, dieselben. Der Fanatiker und der wahre Prophet waren nadi ihm danach äußerlich nicht zu unterscheiden. Nur dadurch, daß wir uns selbst mit good-humour kontrollieren und verstehen, finden wir, meinte er, ein Antidot gegen hybrid werdenden Enthusiasmus. Aber, bemerkte er dazwischen einmal nachdenklich, Gott weiß, ob nicht etwas von diesem Enthusiasmus uns sehr geholfen hat bei der Abschüttelung des päpstlichen Joches.

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Er rüttelte damit und durdi seine Lehre, daß Enthusiasmus die Atmosphäre für alles höhere geistig-sittliche Leben sei, an den Scheidewänden, die den Blick für das Ensemble des seelischen und geschichtlichen Lebens hemmten. Sie ganz niederzulegen und seine neue Sehweise auf die geschichtliche Welt grundsätzlich und in größerem Umfange anzuwenden, war er nodi nicht imstande. Denn die Zeit mit den Aufgaben, die ihr oblagen, war noch nidit reif dazu. Sie arbeitete sich eben aus der dogmatisch-kirchlichen Gebundenheit heraus zu einer freieren und innermenschlichen Ansicht des Lebens. Sie kämpfte dafür, und während eines Kampfes ist es schwer, der feindlichen Seite gerecht zu werden und auch in ihr überall, wie Shaftesburys Theorie eigentlich verlangte, wirkende Formkräfte und Harmonien, die aus Gegensätzen erwachsen, zu entdecken. Hinter dem dogmatisch-kirchlichen Geiste, aus dem man herauswollte, stand für das Bewußtsein der Gegner immer als konkreter Träger ein Priestertum, dessen Herrschsucht und Unduldsamkeit man unmittelbar spürte, dem man nun aber nach pragmatistischer Methode die eigentliche Schuld beimaß. So hat Shaftesbury mehr oder minder offen gegen den zelotischen Klerus der englischen Hodikirdie angekämpft. Freier und unbefangener kam er wohl mit seiner ästhetischen Empfindung an die römische Kirche heran, die er in Italien selbst, überglänzt von einer alten und feinen Kultur, anschaute. Er sah, daß sie nicht nur mit den gewöhnlichen äußeren Mitteln auf die Superstition der Massen wirkte, sondern den Proselyten auch den inward way of contemplation and divine love zeigte, und urteilte, daß die erstaunten Beschauer aus Rom entweder die furchtbarste Abneigung gegen alles Priesterregiment oder Bewunderung und Wunsch nadi Wiedervereinigung mit der alten Mutterkirche mitbringen würden (Mise. Refi. 11, 2). Das war nodi kein historisches Vollverständnis, aber die Vorstufe eines solchen. Aber so tief er auch von der religiösen Uranlage der menschlichen Seele überzeugt war, so tief er selbst das Element von religiöser Veneration in aller Geisteserhebung und sogar den Übergang von Veneration in Furcht und Tremor empfand (Mise. Refi. II, 1), so war und blieb ihm dodi wie allen Aufklärern der spirit of bigotry ein Grundübel der abendländischen Menschheit. Und sein bemerkenswerter Versuch, ihn geschichtlich zu erklären, leitete die auf-

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klärerisdie Behandlung der Religionsgeschichte ein. Das heißt, er trug pragmatistisdien Charakter. Er griff zurück auf das ägyptische Priestertum mit seiner Erblichkeit und seinem reichen Landbesitz, vergaß auch nicht, einige aus der Natur des Klimas usw. geschöpfte Nebenursachen des Aberglaubens anzugeben, stellte aber in der Hauptsache fest, that dominion must naturally follow property (Misc. Refi. II, 1), und dachte dabei im stillen an die Macht, die die englische Hochkirche immer noch durch ihren Grundbesitz ausübte. Und ein Satz der politischen Arithmetik sei es, daß in jeder Nation das Quantum von Superstition der Zahl von Priestern, Wahrsagern usw. beinahe entspräche. Den ägyptischen Religionsapparat aber sah er dann in kühner Konstruktion »metamorphosiert« weiterwirken in dem spirit of bigotry der spätantiken und christlichen Zeiten (Mise. Refi. II, 2). Merkwürdig, wie sidi in seinen Gedanken über den Staat dasselbe Schauspiel wiederholt, daß er zwar für die geschichtlichen Wurzeln eines Gebildes einen genialen, mehr nodi aus vertiefter Seelenkunde als aus historischer Erfahrung schöpfenden Sinn bekundete, die weiteren Ausgestaltungen in der Geschichte aber dann normativ in der typischen Weise der Aufklärer beurteilte. Er verspottete die herrschende mechanische Lehre von der Entstehung des Staates durch einen Vertrag. Denn dadurch werde der Staat - er nannte ihn mit englischer Empfindung civil government and society - zu einer Art von Erfindung und Kunstprodukt, während doch die sozial verbindende Neigung der Menschen mit allen dazugehörenden ethischen Anlagen etwas ganz Ursprüngliches und Naturgegebenes sei. Dann aber kam gegenüber den vorhandenen Staaten der Aufklärer zu Worte, und das Thema wurde angeschlagen, das durch das ganze 18. Jahrhundert variiert werden sollte, daß die eigentlich natürlichen und gesunden Staaten die kleinen Staaten seien. Vast empires are in many respects unnatural (Essay on the freedom of wit and humour). Schließlich hat Shaftesbury auch auf demjenigen Gebiete menschlichen Schaffens, für das sein Herz wohl am stärksten schlug, den normativen Geist der naturrechtlichen Denkweise noch nicht zu überwinden vermocht. Griechenland und was Rom von Griechenland und einige Meister der Renaissance von beiden gelernt hatten, gab für ihn ewig und zeitlos gültige right

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models of perfection für Kunst und Wissenschaft (Soliloquy, passim). In der Querelle des anciens et des modernes, die damals in Frankreich die Geister bewegte, hielt er es also mit der klassischen Ideologie1. Man kann ihn in dem Lobe der refined manner and accurate simplicity of the ancients (Misc. Refi. V, 2) einen Vorbereiter Windkeimanns nennen. Von hier aus gesehen, erschien ihm der Geschmack an allem Gotisch-Mittelalterlichen wie am Exotischen indischer und japanischer Kunst, die er beide schon in dem England seiner Tage sich regen sah, eigentlich unnatürlich. Da war es ihm auch unmöglich, die Größe Shakespeares zu erfassen. Seine Urteile über ihn (Soliloquy), an Einzelheiten haftend und mehr bedauernd als lobend, lassen eben jenen Sinn für den inneren Mittelpunkt einer Lebenserscheinung vermissen, der seine Philosophie so zukunftsreich machte. Aber dieser Sinn hatte seinen tiefsten Ursprung in ihm eben noch nicht in einem leidenschaftlichen Bedürfnis nach Individualität überhaupt, sondern in einem allbeherrschenden ästhetischen und ins Religiöse sich steigernden Bedürfnis nach Harmonie, Proportion und Symmetrie in jedem organischen Gebilde. Wohl sah er, daß die Natur selbst jedes Ding, das sie forme, durch einen besonderen und originalen Charakter von jedem anderen Dinge unterscheide. Aber er verlangte, daß der Künstler, wenn er die Natur nachbilde, die Ecken und Kanten, die »Singularitäten« abschneide, um nicht kapriziös zu erscheinen (Essay on the freedom of wit and humour). Er war also mehr auf das Typische als auf das ganz Individuelle in der Kunst aus. Man kann auch sagen, er korrigierte hier seinen eigentlich richtigeren Naturbegriff, weil er ihm zu empirisch schien, durch einen höheren, alles harmonisierenden Naturbegriff. Natur war ihm Harmonie und Harmonie Natur 1 . Dies neue Naturrecht, das er sich in platonisdi-neuplatonischer Gesinnung schuf, war unvergleichlich seelenvoller als das alte intellektualistisch-moralisch aufgebaute, weil es auch schon ein Ohr hatte für die feineren und die dunkleren Töne der Innerlichkeit. Aber es strebte nun auch ebenso wie das alte nach zeitlos gültigen Prinzipien. Mochte 1

Vgl. über sie Weisbach in der Deutschen Vierteljahrssdbirift für Literaturwissenschaft usw. XI, 4. 2 Idi kann midi deshalb audi nidit entschließen, das klassizistische Element in Sh. mit Weiser a. a. 0 . S. 58 als »unorganisch« anzusehen.

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audi im Anfang, wie er sich sdion klarmachte, die Entwicklung des Kunstgeschmacks überall, wie beim Kinde, vom Erstaunlichen, Wunderbaren und Enormen ausgehen. Aber wenn er einmal, wie in Griechenland, zum Natürlichen und Einfachen und zur rediten Nachahmung der Natur gelangt sei, so war für ihn von da an eine Höher- oder gar Andersentwicklung zu neuen Werten ausgeschlossen (Soliloquy IV, 2). So hielt also audi diese Regung des Entwiddungsgedankens inne vor der Mauer eines absoluten Ideals. Man wird das, weit entfernt, einen Vorwurf daraus zu machen, als eine innere geistesgesdiiditliche Notwendigkeit ansehen müssen. Shaftesbury war bei aller Freigeisterei ein durchaus positiver, dem zersetzenden Skeptizismus abholder Mensch. Er wollte alte absolute Werte durch neue tiefere ersetzen. Da mußten sie, um ihn voll zu befriedigen, ebenso absolut gültig auftreten wie die alten. Das gehörte zur Kontinuität der Entwicklung, die nur langsam und schrittweise von der alten Denkweise sidi loszulösen vermochte. Audi das Neue und Triebkräftige in seiner Gedankenwelt konnte erst nach einem halben Jahrhundert und auf einem neuen Volks- und Zeitboden zu einer neuen Begattung empfangen werden.

II. L E I B N I Z

Es ging Shaftesbury mit dieser Spätwirkung ähnlich, wie es der Leibnizsdien Philosophie ging. Es kommt auf die Zeiten und Generationen an, ob bestimmte Gedanken großer Denker ihre volle Fruchtbarkeit entfalten, wobei sie dann in der Regel weit über die Intentionen des Urhebers hinaus wirken und Neues damit schaffen helfen. Die Grundgedanken der Leibnizsdien Philosophie, soweit sie bis zu seinem Tode 1716 an das Licht traten, haben gewiß auch schon innerhalb der frühen deutschen Aufklärungsbewegung einen Typus von Philosophie hervorgebracht, der sich durch ein etwas größeres Verständnis für die Selbständigkeit des Geistes sowohl von der englischen wie von der französischen Bewegung unterschied. Aber die Starrheit des naturrechtlidi-intellektualistischen Denkens vermochten sie noch nicht zu lösen. Als aber dann 1765 seine Nouveaux essais sur

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l'entendement humain bekannt wurden, da hat nidit nur die neue vollständigere Fassung seines Systems, sondern vor allem und nodi mehr die veränderte geistige Disposition des neu heranwachsenden Geschlechts seiner Gedankenwelt eine neue Leuchtkraft gegeben. Er wurde jetzt, sagt man wohl, besser verstanden als ein halbes Jahrhundert zuvor. Aber ob er selber es zugegeben haben würde, jetzt richtiger verstanden zu werden? Ob nidit die jetzt überschattete mathematisch-rationalistische Seite seines Systems ihm ebenso am Herzen lag wie die jetzt neu erglänzende dynamisch-individualistische Seite? Wie dem auch sei, wir dürfen für die Zwecke unserer Untersuchung wieder wie bei Shaftesbury es uns gestatten, bei eben dieser Teilbeleuchtung zu verweilen. Nur daß wir sie nicht mit den Augen des frühen, sondern denen des späten Historismus anzuschauen vermögen. Leibniz gibt ein großes Beispiel dafür, daß zu den Voraussetzungen des kommenden Historismus sowohl die Lockerung des dogmatisch-kirchlichen Denkens nach dem Ausgang der Religionskriege wie der Aufschwung der Naturwissenschaften im späteren 17. Jahrhundert gehören. Der Ireniker und Vermittler zwisdien den Bekenntnissen sah die eine christliche Wahrheit, die er als solche tief und selbst noch dogmenüberzeugt empfand, dodi tatsächlich in verschiedenen, nicht ohne weiteres zu verdammenden individuellen Ausprägungen vor sich. Das lumen naturale der Vernunft bestätigte ihm, weit entfernt davon, dem Glauben zu widersprechen, die Einheit der christlichen Grundwahrheit. Zu ihr mit Hilfe der Vernunft die Vielheit der Bekenntnisse zurückzuführen, war sein Herzenswunsch »der Geist, der die Einheit in der Vielheit liebt«, ist eines der bezeichnendsten Worte seiner Nouveaux essais. Das Umgekehrte, die Vielheit in der Einheit zu lieben, hätte er mit vollster Empfindung für den Wert des Individuellen noch nicht zu sagen vermocht. Aber daß er die Vielheit überhaupt beherzt anerkannte und eine Harmonie der Einheit aus ihr heraushörte, war groß und durdi die Art, wie er es ausgestaltete, schöpferisch. Dasselbe Sdiauspiel von Einheit und Vielheit bot ihm das von der Naturwissenschaft neu gesehene Weltall. Hier fühlte er sidi ganz modern und mit neuen Erkenntnissen gegenüber der Antike ausgestattet. Einheit und gesetzmäßiger Zusammenhang des Universums verbanden sich jetzt mit einer Inhaltsfülle, von der die

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Alten nodi nidits wußten. Sie hatten, heißt es in der Theodizee, noch nicht das neue Weltbild, daß es unzählige Erden gibt, die denselben Anspruch auf vernünftige Bewohner haben, obgleich es keine Menschen zu sein braudien. Unsere Erde wäre also nur ein Anhängsel einer der Sonnen. Der ganze ungeheure Weltenraum aber könne von Glüdc und Seligkeit erfüllt sein! - Vernünftiges Leben also vermutete er allenthalben im Weltall, nur in unzählig verschiedenen Erscheinungsformen, alles aber zusammen das einheitliche und sinnvolle Werk der »supramundanen Intelligenz« Gottes. Darin schimmert nun aber wieder von der Antike her, genau wie bei Shaftesbury, das neuplatonisdie Weltbild durch, wonadi alles Sonderwesen seine eigene Natur von einer einzigen höchsten und allgemeinsten Ursache empfangen hat und von ihr abhängig ist. Alle Sdiönheit, sagte er ganz plotinisdi in der Vorrede zur Theodizee, ist nidits als ein Abglanz der von Gott ausgehenden Strahlen. Doch war seine Gottesvorstellung nicht nur diristlich-theistischer, sondern auch, man darf wohl sagen, pragmatistischer und gebundener an den Intellektualismus seiner Zeit als die mystisch-überlogische des Neuplatonismus. Es half ihm nichts, daß er sich selber vornahm, Anthropomorphismus von seiner Gottesvorstellung fernzuhalten. Sein Gott, der mit überlegenster Weisheit in voller Klarheit über alle Folgen diese Welt mit ihren Mängeln als die beste der überhaupt möglichen Welten ins Leben rief, war doch nichts anderes als der vollkommenste, ins Unerreichbare vollkommene Mensch, ausgestattet, wie er selbst es einmal sagt, mit der Eigenschaft des besten Monarchen wie des größten Architekten (Theodizee). Gottesvorstellungen enthalten oft ein Stüde bestimmten historischen Denkens, was wir bei Leibniz bestätigt finden werden. Und weil er auch der geniale, mit neuen Mitteln dabei über die bloß geometrische Methode hinausgreifende Mathematiker war, so gleicht sein System der prästabilierten Harmonie mit seiner völligen Entsprechung der bewirkenden und der finalen Ursachen, mit seiner streng durchgeführten Mechanik in der gesamten Körperwelt und der trotzdem harmonisch mit ihr verlaufenden nichtmechanischen Wirksamkeit der Monaden, mit seinem alles Kleine und Große eng miteinander verbindenden Kontinuitätsprinzip - zunächst einer großartigen mathematischen Weltformel, die Geist und

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Natur, Bestimmtes und Bestimmendes, Freiheit und Notwendigkeit aufs innigste zu vereinigen versuchte. Diese Gesamtkonzeption gilt heute zumeist als gescheitert. Aber was uns hier vor allem angeht: In ihr steckte ein epodiemadiender und entwicklungsfähiger, über alles naturreditlidie Denken hinausführender Keim, der später im Historismus aufgehen sollte: die Idee der eigenartigen, spontan nach eigenem Gesetze wirkenden und sich entwickelnden Individualität, die doch dabei die Abwandlung einer universalen Gesetzlichkeit ist. Derart, daß ein lebendiges Weltbild herauskam, das den Charakter der mathematischen Weltformel schließlich sprengen mußte, indem es, zur neuplatonischen Grundidee zurückkehrend, eine unendliche Mannigfaltigkeit wirkender und strömender Kräfte in nirgends unterbrochenem Zusammenhange und aus einer letzten und höchsten Quelle entspringend erblickte. Das Problem von Einheit und Vielheit, das ihm die religiöse und die naturwissenschaftliche Lage seiner Zeit gestellt hatte, erhielt so eine metaphysische Lösung, die doch nicht bloß metaphysisch war, sondern sich auch an der unmittelbaren geschichtlichen Erfahrung dereinst bestätigen sollte. Man darf, um das Aufsteigen der Individualitätsidee in seinem Geiste zu verstehen, nodi hinter die Antriebe, die die religiöse und naturwissenschaftliche Zeitlage ihm gaben, zurückgehen auf ein Persönlichstes in seinem Wesen. Wie denn die Zentralideen eines Philosophen immer in der Tiefe einer ursprünglichen Anlage des Charakters und Geistes wurzeln. Regungen moderner Subjektivität darf man freilich nicht bei Leibniz als Wurzel vermuten. Denn er war, wie sein Zeitalter, noch überwiegend durchdrungen von der Pflicht des Menschen, gehorsam sich einzufügen in die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Lebens und des Universums. Aber es frappiert, daß er schon als junger sechzehnjähriger Mensch 1663 in einer Leipziger Disputation de principio individui dies Problem betastet hat (hg. von Guhrauer 1837 und in den Philos. Schriften, hg. von Gerhardt 4,15 ff.). Er tat es noch gebunden an Methode und Fragestellungen der Scholastiker, aber man trifft auf den zukunftsreichen Satz: Pono igitur, omne Individuum sua tota Entitate individuatur - das Individuum werde durch die Totalität seiner Natur zum Individuum. Ein eigenster Charakterzug von ihm war es ferner, bereitwillig auch fremde Meinungen auf sich wirken zu lassen und das Gute

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in ihnen anzuerkennen. »Es klingt seltsam«, sagte er, »ich billige das meiste, was ich lese« (Dilthey, Schriften 3, 25). Wenn man also schon von einem angeborenen individualistischen Zuge bei Leibniz reden darf, so war es ein milder Individualismus der Anerkennung, des Geltenlassens der anderen, der aber sofort auch nach der Einheit und Harmonie in der Vielheit suchte. Seine Individualitätsidee führte ihn zu seiner Monadenlehre. Hinter den Körpern, aber untrennbar mit ihnen verbunden, gibt es einfädle, unausgedehnte, als lebendige Kräfte wirkende und das Körperliche gestaltende Substanzen individueller Art, die Monaden, zu denen er audi die menschliche Seele rechnete. Es war der Zwang seines Systems, das auf andere Weise zur prästabilisierten Harmonie des Weltalls nicht gelangen zu können glaubte, daß er den Cartesianern, nachdem er ihnen das große, vielleicht übergroße Zugeständnis einer rein mechanisch bewegten Körperweit gemacht hatte, dodi darin widersprach, daß seelische Handlungen bedingt durch äußeres Geschehen seien. Die Seele sei vielmehr, erklärte er, abhängig nur von Gott und von sich selbst. Tieferes Nachdenken lehre, daß alles, sogar Vorstellungen und Leidenschaften, mit voller Spontaneität aus eigenem Grunde erzeugt werde. Der Gedanke eines unbedingten Immediatverhältnisses der Seele zu Gott atmete christlich-protestantische Grundempfindung. Er führte ihn, seiner Geistesanlage gemäß, mathematisch reinlich durch und gewann dadurch die Begründung der Individualitätsidee in Gott. In der unendlichen Verschiedenheit der Individuen offenbarte sich der unendliche Gott. Die Individualität, heißt es in den Nouveaux Essais (III, 3), schließt die Unendlichkeit in sich, und nur derjenige, der das Unendliche zu begreifen imstande ist, kann auch die Erkenntnis des Prinzips der Individuation dieser oder jener Sache besitzen, was eine Folge des wechselseitigen Zusammenhanges aller Dinge des Weltalls sei. Von ungeheurer Tragweite für ein künftiges historisches Denken war nun audi eine relativistische Konsequenz, die er aus seiner Lehre zog. Da nämlich jede Monade, wie er sich mit neuplatonischem Einschlag ausdrückte, ein lebender Spiegel des Universums sei, so gäbe es eine unendliche Menge verschiedener Weltbilder, die doch nur, gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade, Perspektiven eines einzigen seien (Mo-

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nadologie, § 56 und § 57). Diese Art von Relativismus entsprach, wie wir sahen, seiner persönlichsten Anlage. An der Individualität scheiterte nach seinem Urteil jeder Versuch, die Welt aus der mechanischen Bewegung der Atome zu erklären. Er beschränkte also das mechanische Prinzip auf die Körperwelt, sah aber trotzdem auch in ihr die Individuation wirksam, da er Seele, oder wie er in diesem Falle lieber sagen wollte, Entelechie, auch den Pflanzen zusprach, auch in ihnen also eine von innen her gestaltende Kraft erblickte. So ist es eine kleine Genreszene von geistesgeschichtlicher Bedeutung, die sich, wenn wir seine Erzählung in den Nouveaux Essais (II, 27) richtig deuten, damals einmal im Schloßpark von Charlottenburg abgespielt hat. Eine hohe Fürstin von hervorragendem Geiste - es muß dodi wohl Sophie Charlotte gemeint sein - habe beim Spaziergang in ihrem Garten einmal gesagt, sie glaube nicht, daß es zwei vollkommen gleiche Blätter gäbe. Darauf habe ein geistvoller Edelmann gemeint, es würde leicht sein, solche zu finden, habe aber trotz allem Suchen im Garten sie nicht finden können. - Leibniz fand mit Recht, daß Betrachtungen dieser Art bisher vernachlässigt seien und daß die Philosophie sich damit von den natürlichsten Begriffen entfernt habe. Er war damit der seiner Zeit Vorauseilende, die Umrisse eines neuen Weltteils Spürende. Aber er tat, was wir schon leise vorhin andeuteten, noch eine weitere Wegweisung zu ihm, indem er auch auf den Prozeß der Entwicklung, der notwendig im Wesen der Individualität und Monade liegt, aufmerksam wurde. Monade und Weltall, Individualität und Unendlichkeit entsprechen einander nach seiner Lehre. Jede Monade und damit auch jede Seele spiegelt darym, obwohl fensterlos gegen die physischen Einflüsse, das ganze Universum ab, niemals in vollkommener Klarheit, aber in verschiedenen Graden der Klarheit, von der Verworrenheit der unmerklichen kleinen »Perzeptionen«, von denen es in jedem Augenblicke in unserem Innern eine unendliche Menge gibt, bis zu den Vernunfterkenntnissen aufwärts, die durch »Apperzeption« und Reflexion gewonnen werden. Die Seele könne also etwas in sich haben, ohne es deutlich gewahr zu werden, und eine Scheidung zwischen der Welt des Unmerklichen und den Akten des deutlichen Bewußtseins wäre ein Wunder. Dieses Bild war wohl noch

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stark intellektualistisdi gesehen, indem es nur den Unterschied von geringerer und größerer Klarheit in den Erkenntnissen, aber nicht den Anteil und die Entwicklung der gesamtseelischen Kräfte, der Phantasie vor allem, bemerkte (vgl. Croce, Philosophie Vicos, S. 52). Epochemachend blieb es trotzdem, daß er die Sphäre des unbewußten Seelenlebens der wissenschaftlichen Beachtung und Schätzung ersdiloß, eine Brücke von ihr zu Verstand und Vernunft schlug, diese aus der Isolierung, die sie in der naturrechtlichen Denkweise hatten, herauszog und Dynamik und Entwicklung im Innern der Seele von unten nach oben zeigte. Man darf daran erinnern, daß auch sdion Plotin (Enn. IV, 4) der menschlichen Seele die Fähigkeit zugesprochen hatte, etwas zu besitzen, wovon sie kein Bewußtsein habe. Nicht nur durdi das lumen naturale der Vernunft, heißt es also weiter, sondern auch durch den Instinkt finden wir eingeborene Wahrheiten, nämlich die moralischer Art. Auf den kleinen, unmerklichen Perzeptionen beruht auch unser Geschmack, beruhen Wahrnehmungsbilder, die in ihrem Zusammensein klar, in ihren einzelnen Teilen jedoch verworren sind. Wir werden später in Mosers historisch fruchtbarer Lehre von den »Totaleindrücken« diesen Gedanken, den wir in anderer Anwendung bei Shaftesbury schon fanden, wieder aufblitzen sehen. Vermöge der kleinen Perzeptionen, sagt mit mächtigem Um- und Aufblick die Vorrede der Nouveaux Essais, »ist die Gegenwart mit der Zukunft schwanger und mit der Vergangenheit erfüllt, und stimmt alles miteinander — σύμπνοια πάντα, wie Hippokrates sagte«1. Auch dies Wort von dem Atem des Weltalls, der alle Individualitäten belebt und die Zeiten verbindet, sollte später den jungen Herder beflügeln. Aber nun müssen wir wieder, ähnlich wie es bei den verwandten Gedanken Shaftesburys geschehen mußte, an die Grenzen des Leibnizsdien Horizontes erinnern. Denn es geschah, man möchte fast sagen, durch einen Anwendungsfall seiner Lehre, daß er zwar unbewußt die naturrechtliche Denkweise an entscheidender Stelle von unten her sprengte, aber bewußt ihre obersten Dogmen beibehielt und dadurch nicht zur vollen Durchführung seiner neuen Erkenntnisse kam. Den Entwicklungsprozeß, 1

Hippokrates hatte tatsächlich von einer σύμπνοια μία gesprochen, wie Boutroux in seiner Ausgabe der Monadologie S. 177 zeigte. 3 Mcinedce, Historismus

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den er innerhalb der Seele entdeckte, instradierte er dabei derart, daß als höchstes Ergebnis seelischer Entwicklungen nidit individuelle Geistesprodukte, sondern normative Wahrheiten von absoluter Gültigkeit herauskamen. Es gibt, so war seine vom Naturrecht her bestimmte Meinung, notwendige, ewige, eingeborene Wahrheiten, die, wenn sie auch zum Teil mit aus dem Instinkte aufsteigen, schließlich dodi von der Vernunft endgültig geklärt werden. Wohl wußte er und betonte es oft, daß audi die der klärenden menschlichen Vernunft mögliche Erkenntnis dieser ewigen Wahrheiten nichts weniger als vollständig und abschließend sei, daß es Geisterreidie über uns gebe, die einer höheren, aber immer nodi nicht der höchsten, nur der Gottheit zustehenden Erkenntnis fähig seien. Aber auch schon der unvollständige Besitz an höheren Wahrheiten, zu dem der Mensch gelangen kann, hat bei ihm nodi den Charakter der Absolutheit und damit audi der Starrheit und des Statischen, den die Wahrheiten des Naturrechts besaßen. Wohl konnte er für Logik und Mathematik die Existenz zeitlos gültiger Sätze mit Fug und Recht behaupten. Aber wie stand es mit den Moralbegriffen und wie mit der sogenannten natürlichen Theologie? Von dieser behauptete er, daß sie aus Axiomen der ewigen Vernunft gewonnen werde, von jenen, daß ihnen erst die Vernunft die völlige Gewißheit gebe. So ist die Entwicklung, die er in der menschlichen Seele entdeckte, die vom Dunkel der verworrenen Perzeptionen ins Helle der klaren Vernunftapperzeption und zur Normalität ewiger Wahrheiten führt, mehr ein Vervollkommnungsprozeß als ein echter geschichtlicher Entwicklungsprozeß, der auf jeder Stufe Individuelles, mag auch dieses immer verschmolzen sein mit etwas Typischem und Generellem, gestalten muß. »Alles strebt zur Perfektion«, heißt es im Système nouveau de la nature, »nicht nur, Weis das Universum im allgemeinen, sondern auch was die Kreaturen im besonderen betrifft.« Halten wir diesen wesentlichen Unterschied von Entwicklungsgedanken im Sinne des Historismus und Perfektionsgedanken, der das Gepräge der Aufklärung trägt, für alle weiteren Betrachtungen fest. Auch Shaftesburys Entwicklungsgedanke war, wie wir sahen, im Perfektionsgedanken stedcengeblieben. Der Entwiddungsgedanke fand innerhalb des Leibnizschen

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Systems audi noch eine andere Schranke. Die einzelne Monade galt ihm als unzerstörbar und ewig. Sie konnte im zeitlichen Verlaufe des Weltprozesses nacheinander niedere und höhere Formen des Daseins gewinnen und insofern sich selbst wohl aufwärts entwickeln. Aber sie konnte nicht auf andere Monaden umgestaltend wirken, denn jede Monade lebte, mochte sie auch als unvollkommener Spiegel des Universums mit diesem dauernd verknüpft bleiben, dodi ausschließlich nur nach ihrem eigenen Gesetze, das sie von Gott empfangen hatte. Das hieß den Individualitätsgedanken zuungunsten des Entwicklungsgedankens auf die Spitze treiben. Denn zum Wesen geschichtlicher Entwicklung gehört es, daß die wirkenden individuellen Kräfte audi aufeinander innerlich befruchtend und damit audi Neues gestaltend einwirken, daß sie, um mit Shaftesbury zu sprechen, f o r m e n d e Formen sind. Man mag einwenden, daß die Leibnizsdie Monadenlehre wohl für die Sphäre der Transzendenz gelte, aber nicht ohne weiteres auf die empirische Welt der Geschichte zu übertragen sei. Dennodi darf man sagen, daß sie innere Scheidewände zwischen den im innersten wirkenden Kräften der Geschichte aufrichtete. Die Monaden erschienen nun wie ein ungeheures Bündel zahlloser einzelner Fäden, die nur an ihren Enden in Gott zusammengeknotet waren. Es war der Zwang seiner mathematischen Weltformel, die nur so und nicht anders das Problem von Einheit und Vielheit bewältigen zu können glaubte. Aber dem kommenden Entwicklungsgedanken des Historismus konnte dadurch auch eine monadologisdie Abgeschlossenheit übermittelt werden, die ihn zum bloßen Entfaltungsgedanken verengerte. Audi dieser Hergang wird uns nodi beschäftigen. Die Größe von Leibniz aber war es, daß er sowohl der auf ihn folgenden deutschen Aufklärungsbewegung, wie dem aus ihrem Schöße sich erhebenden deutschen Idealismus und Historismus seine Fadkel vorantragen konnte. Diesem tat er es durch den originellsten Gedanken seiner Philosophie, nicht durch seine Gedanken über Geschichte selbst oder seine eigene Geschichtsschreibung. Diese Gedanken, in seinen Schriften und Briefen aus unerschöpflichem Denken hin verstreut, wurden nie zu einer Gesamtlehre zusammengefaßt und auch nur zum kleinen Teile bekannt. Und seine Annales imperii occidentis Brunswicenses, 3*

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unvollendet und vom Jahre 768 bis zum Jahre 1005 reichend, wurden erst im 19. Jahrhundert, als die Stunde zu ihrer Einwirkung auf die Wissenschaft schon vorbei war, durdi Pertz veröffentlicht. (1843 ff.). Der Franzose Davillé hat aus diesem gesamten Material mit hingebendem Bienenfleiß und großer Begeisterung, aber nidit immer zuverlässiger Quellenbenutzung ein Bild des Historikers Leibniz zu gestalten versucht {Leibniz historien 1909, 798 S.), das ihn als einen der größten Historiker aller Zeiten erscheinen lassen soll. Davon kann nun freilich nicht die Rede sein. »Die geschichtliche Welt«, so urteilt Dilthey (Schriften 3, 36), »in sein philosophisches System aufzunehmen, hat Leibniz nicht mehr versucht.« Das trifft in der Hauptsache zu, erregt aber die Neugier, wie dieses Nebeneinander philosophischer und historischer Riesenarbeit ausgesehen hat und ob nicht doch hier und da Brücken hinübergeführt haben. Und in der Tat lassen sich an diesem eminenten Beispiele nicht nur typische Züge der damaligen Entwicklungsstufe des geschichtlichen Denkens, sondern auch die Vorstöße einer angeborenen Genialität gegen die in ihm selbst und in seiner Zeit liegenden Schranken zeigen. Beides, das Typische wie das originell Leibnizische gehört in ein Bild der Vorstufen des Historismus hinein. Typisch ist die utilitarisch-moralische Zweckbestimmung des historischen Wissens. In der Theodizee (II, 148) heißt es geradezu, das vornehmste Ziel der Geschichte sollte, wie das der Poesie, darin bestehen, Klugheit und Tugend an der Hand von Beispielen zu lehren und das Laster in einer Gestalt zu zeigen, die Abscheu hervorruft. Hier riß ihn vielleicht die ethisch-religiöse Tendenz seines Werkes über seine eigenen inneren Motive hinaus. Denn das Programm seiner Geschichtsforschung, das er in der Vorrede zu den Accessiones historicae (1700) vortrug, nannte auch noch andere Motive und Ziele, nämlich die unmittelbare Freude an den res singulares und die kausale Herleitung gegenwärtiger Dinge aus ihren Ursprüngen. Wir werden sehen, wie bedeutend gerade diese Absicht wurde. In der Tiefe war sie vielleicht das stärkste Motiv, aber im Bewußtsein dominierte der utilitarisdie Moralismus. Typisch ist ferner, daß inmitten der allmählich jetzt einsetzenden Säkularisierung des europäischen Geistes und Hinwendung zu neuen, nicht mehr rein kirchlich-theologisch bestimmten Zielen

Leibniz ein ungeheures Bedürfnis auch nach Aufnahme geschichtlicher Stoffmassen aller Zeiten erwacht, immer wohl nodi meist zentriert um den absoluten Wert des Christentums, aber hungrig nach allen erreichbaren Seiten der geschichtlichen Welt hin. Der antiquarische Urtrieb, zu allen Zeiten stärker oder schwächer von bestimmten, damit begabten Menschen ausgeübt, war jetzt zur Zeitmode geworden. Die Zunahme schwer befrachteter historischer Literatur und gewaltiger Enzyklopädien seit der zweiten H ä l f t e des 17. Jahrhunderts, wo dann Pierre Bayles Dictionnaire schon das Hinausdrängen aus den theologischen Grundvoraussetzungen anzeigt, beweist es. U n d typisch ist drittens f ü r die Zeit um 1700 das erwachende Bedürfnis, die neu gesammelten Stoffmassen der Vergangenheit exakter und kritischer zu behandeln als bisher. Die Anfänge der kritischen Methode in der Behandlung vergangenen Schrifttums liegen wohl schon früher in der Leistung der großen holländischen und französischen Philologen und Späthumanisten, sogar schon des Frühhumanismus. Indem jetzt die geschichtliche Vergangenheit überhaupt in weiterem Umfange interessant wurde und indem die Naturwissenschaften das große Beispiel gaben, daß ein genaueres Wirklichkeitsbild nur durch strengere Methoden zu erreichen sei, fühlte man sich gezwungen, diesem Beispiel zu folgen. Der Benediktiner Mabillon ging mit seiner epochemachenden Urkundenkritik voran. Der Jesuit Papebroch suchte ihn durch hemmungslosen, aber auf das Gebiet der Urkunden sich beschränkenden Skeptizismus zu übertrumpfen. Nun erwachte aber neben dem antiquarischen auch der philosophische und religiöse Skeptizismus, vertreten in seinem Dictionnaire von Bayle, von dem man übertrieben gemeint hat, daß er der eigentliche Schöpfer der historischen Akribie gewesen sei (Cassirer, Philosophie der Aufklärung S. 276). Gleichzeitig mit ihm hat auch Leibniz in allen seinen historischen Arbeiten der neuen Forderung zu genügen versucht1, vielleicht noch feinfühliger als Bayle f ü r die Schwierigkeit, aus unvollständigen und getrübten Quellen zu erschließen, wie es eigentlich gewesen. Schon damals wurde die Notwendigkeit empfunden, zur Quellenkritik die Sadi1 Ober seine Anerkennung Mabillons und Papebrochs vgl. E. Seeberg, Gottfr. Arnold S. 339.

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kritik zu fügen. In diese drang dann freilich gleich die pragmatistische Neigung der Zeit, Unverständliches aus leicht Verständlichem rasch zu erklären. Aber Leibniz hatte dabei das bedeutende Vorgefühl, daß eigentlich noch tiefer gegraben werden müsse, um das Thema de fide histórica zu erschöpfen (Nouv. Ess. IV, 16). Wir belassen es bei diesen Andeutungen, da die Entwicklung der kritischen Methode, obwohl immer zusammenhängend mit der Entwicklung des historischen Sinnes, eine eigene besondere Behandlung erfordert. Erst der volle Durchbruch des Sinnes für das Individuelle und die erkenntnistheoretische Klärung, die die Kantsche Philosophie bringen sollte, konnten der kritischen Methode die innere Sicherheit geben, die sie vor den willkürlichen Einfallen des Pragmatismus schützte. Polyhistorisch nennt man das Zeitalter, aber von Leibniz hat man mit Recht gesagt, daß er nidit sowohl Polyhistor, als vielmehr Panhistor gewesen sei. Denn er strebte letzten Endes nach einem geistigen Bande, das sein ganzes antiquarisches Wissen mit seiner Philosophie vereinigen konnte - ohne es freilich schon schaffen zu können. »Die Leute, die sich auf Philosophie und Raisonnement legen«, schrieb er 1700 an Burnet (Davillé, S. 355 Α. 4; Philos. Schriften, hg. von Gerhardt 3, 270), »verachten gewöhnlich die Altertumsforschungen, und die Antiquare wiederum mokieren sich über das, was sie die Träumereien der Philosophen nennen. Aber man tut recht, wenn man dem Verdienste der einen wie der anderen Gerechtigkeit widerfahren läßt.« Die Worte zeigen aber zugleich, daß er die beiden Welten nodi nebeneinander, nicht ineinander wirken sah. Die Welt der »ewigen Wahrheiten« stand ihm im Range immer höher als die Welt der »Tatsachenwahrheiten«. Aber es fehlte nicht ganz an leisen Zusammenhängen zwischen beiden Welten. Man wird an einen Grundgedanken seiner Philosophie, an sein Kontinuitätsprinzip, das auf die kleinen Ursachen großer Dinge zu achten lehrte, ja selbst an seine Individualitätslehre erinnert, wenn er den audi ihm eingeborenen antiquarischen Urtrieb nach allen Seiten wirken ließ. Allen Spuren des Menschen aller Zeiten und aller Orten ging er mit Begierde nadi, von den Hünengräbern, Urnen und Skelettfunden seiner niedersädisischen Umwelt, den etruskischen und römischen Inschriften Italiens bis zu der neuen Wunderwelt Chinas, von der

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die kathólisdien Missionare damals berichteten, und zu den Memoiren der Staatsmänner des 17. Jahrhunderts, in deren Mitte er einst aufgewachsen war. Seine Protogaea (veröffentlicht 1749; erster Abriß in Acta Eruditorum 1693) war als Einleitung seines Annalenwerkes gemeint und behandelte Geographie, Geologie und älteste mensdilidie Reste Niedersachsens - in kleinerem und konkreterem Rahmen eine Art Vorspiel zu Herders späterem Unternehmen, aus kosmischen und terrestrischen Voraussetzungen die Menschheitsgeschichte erwachsen zu lassen. Wo gibt es überhaupt eine moderne geschichtliche Tatsachenwissenschaft, die nicht in irgendeinem Leibnizschen Interesse ihr Vorspiel hätte. Es war ein kausal verbindendes Wissen, nadi dem er strebte und das seinen Interessen oft eine so moderne Farbe gibt. Von der Geographie sagte er, daß man aus ihr die wahren Interessen jedes Volkes und jeder Regierung erschließen könne (Davillé 436) - übrigens ein Gedanke, der schon in der Staatsinteressenlehre des frühen 17. Jahrhunderts einmal auftauchte (Idee der Staatsraison S. 196). Die Genealogie, die er als Historiograph der Weifen schon für dynastische Zwecke intensiv zu fördern hatte, wurde für ihn auch deswegen wichtig, weil sie die connection naturelle des hommes aufhelle und so zum Nerven- und Sehnensystem der Geschichte gehöre (Davillé 441). Hier wird das Kontinuitäts- und Kausalbedürfnis schon zum kausalgenetischen Bedürfnis, wie es dann noch großartiger in seinen berühmten Bemühungen um die Sprachwissenschaft, um die Feststellung von Sprachverwandtschaften mit dem Ziele, einer Ursprache näherzukommen, sich entfaltete. Denn in den Sprachen sah er »die ältesten Denkmäler des menschlichen Geschlechts« (Nouv. Ess. III, 2; Davillé 403), die Zeugnisse für den Ursprung der Verwandtschaften und Wanderungen der Völker, den Spiegel ihrer Intelligenz und ihres Charakters, in derselben Relation, in der der Mond mit dem Meere stünde. Will man diese genetische Frage nach Ursprache und Urwelt geistesgeschichtlich richtig verstehen, so darf man nicht ganz vergessen, daß sie auch grüblerischen Bibeldenkern schon aufsteigen konnte, und Leibniz selbst erinnert an solche mit seiner Vermutung, daß die deutsche Sprache besonders viel Ursprüngliches und, um mit Jakob Böhme zu sprechen, Adamitisdies bewahrt habe (Nouv. Ess. a. a. O). Und kühne, oft an die Bibel anknüpfende Stammbaumhypothesen

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über den Zusammenhang weit getrennter Völker waren auch bei den gelehrten Antiquaren des 17. Jahrhunderts im Schwange. Doch lag auch auf diesen seinen Interessen schon ein heller Strahl aus der neuen Lichtquelle seiner Individualitätslehre. Denn er meinte, daß ein Studium aller Sprachen des Weltalls nidit nur sachliche Dinge und den Ursprung der Völker aufklären werde, sondern auch für die Erkenntnis unseres Geistes und die wunderbare Mannigfaltigkeit seiner Verrichtungen von Nutzen sein werde. Es ging ihm am Beispiel der Griechen, Römer und modernen Franzosen und am traurigen Gegenbeispiel des eigenen deutschen Volkes lebendig auf, daß die Nationen und ihre Sprachen immer gleichzeitig blühen. »Daß nun solches ohngefehr geschehen, glaub ich nicht, sondern halte dafür, gleichwie der Mond und das Meer, also habe auch der Völker und der Sprachen Ab- und Aufnahme ein Verwandtnus1.« Ganz fein individuell empfand er die Unübersetzbarkeit von Worten wie Ostrakismos bei den Griechen und Proskription bei den Römern, und leitete aus dem Dualismus von Literatursprache und Volkssprache bei Griechen, Römern und noch mehr den modernen Nationen geistreich treffende Folgen ab (Nouv. Ess. III, 9). Und entwicklungsgeschichtlich berühren schon seine Studien über den Bedeutungswandel einzelner Worte. Alle diese Interessen entsprangen aus einer allgemeinen Bewegung, aus dem Stoffhunger des Jahrhunderts, und entwickelten sich in Leibniz' Geiste zu wirklichen Problemen künftiger historischer Forschung. Er äugelte mit Adlerblicken auf die geschichtliche Welt. Es fällt an seinen historischen Urteilen auf, welch sicheren Blick er für die großen Wendepunkte von ganzen Zeitaltern, für das, was man mit Ranke den historischen Moment nennen kann, hatte. An Empfindung für das Wesentliche der großen Völkerschicksale überragte er den nach ihm kommenden Voltaire. Das zeigt schon die meisterhafte Brevis Synopsis historiae Guelficae (Pertz,L.s gesammelte Werke, 1. Folge 4, 277 ff.) mit ihrer Skizze der frühmittelalterlichen Entwicklung. Die alte Einteilung der Weltgeschichte in vier Weltmonarchien kannte er 1

Ermahnung an die Teutsdie, ihren Verstand und Sprache besser zu üben, Ausg. von P. Pietsch S. 307 f. Ich verdanke diese und andere wertvolle Bemerkungen dem Herausgeber der Leibnizwerke, Prof. Paul Ritter.

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nicht mehr, sondern teilte sie, wie es jetzt aufkam, in alte, mittlere und neuere Geschichte ein. Vom Urvolk der Menschheit bis zu den Völkern des Fernen Ostens und zu den Kabinettsgeheimnissen seiner Zeit ging sein Horizont, und sein braunsdiweigisches Geschichtswerk wollte er bewußt mit historischen Entdeckungen schmücken, qui tireront sur l'universel quoy qu elles naissent de nostre histoire particulière (Davillé 558, Werke ed. Klopp 6, 371). Aber eben dies Annalenwerk zeigte nun auch, wie zwitterhaft und unfertig die Form der Geschichtsschreibung war, die Leibniz hier wählen mußte. Die Annalenform glich einem weiträumigen Gefängnis, in dem er wohl (auf mehr als 2000 enggedruckten Seiten) ein gewaltiges Wissen unterbringen konnte, aber sehr äußerlich und grob verteilen mußte. Als offizielle Staatshistoriographie bevorzugte das Werk Personengeschidite, Staats- und Kriegsgeschehnisse, audi Kirchengeschichte, aber selten innerlich miteinander verbunden, meist chronologisch aneinander gereiht. Der große Denker offenbarte sich wohl in manchen Blitzen, in einzelnen Urteilen von allgemeinster Bedeutung, in Hervorhebung wichtiger, der Erforschung würdiger Probleme, in zahlreichen Rüde- und Ausblicken, in liebevoller Hervorhebung audi dessen, was auf die geistige Kultur Licht warf, so daß schon ein Hauch von wirklichem mittelalterlichen Kolorit hier und da entsteht. Aber das Werk im ganzen blieb an die Konvention der gelehrten Historie gebunden und gehört wohl mit hohen Ehren in eine Geschichte der Erforschung des Mittelalters oder der historisch-kritischen Methode, aber weniger in eine Entstehungsgeschichte des Historismus. Man hat Leibniz auch zu einem Wegweiser dessen machen wollen, was man mit westeuropäischem Akzente »Geschichte der Zivilisation« nennt und was dann in Voltaires Geschichtsschreibung zuerst aufblühte. Aber auch da muß man bestimmte Einschränkungen machen und das Individuelle und zugleich Zeitgebundene in seiner Geschiditskonzeption beachten. Alle spätere Kultur- und Zivilisationsgeschichtsschreibung mit ihrer bewußten Zurüdcdrängung der staatlich-militärischen Geschehnisse wurzelte in dem Selbstbewußtsein des sich emanzipierenden Bürgertums. Von solchem Untergrunde spürt man in den Leibnizschen Geschichtsbemühungen noch nichts. Er war der Fürsten- und Staatsdiener, der fromme Christ und der große Gelehrte und

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Denker der Zeit um 1700, des Deutschlands um 1700, das, wie er selbst einmal nachdenklich bemerkte, die großen Hauptstädte Englands und Frankreichs nicht hatte. Mochte audi der Fürstendiener innerlich in ihm schon weit zurücktreten vor seinem reidisdeutsdien und mensdiheitlichen Empfinden, so begrenzte doch das, was einem deutschen Fürstendiener und Reidispatrioten, einem weitblickenden Protestanten und Gelehrten um 1700 als nützlich und wertvoll von menschlicher Arbeit gelten konnte, die Auswahl dessen, was man auf Grund seiner verstreuten Bemerkungen als seine kulturgeschichtliche Interessenzone bezeichnen kann. Darum kam in ihr neben Politik, Recht und Kriegswesen audi die Wirtschaft, merkantilistisdi als ein Teil der Politik verstanden, zur Geltung. Darum fesselte nicht nur die Kirchengeschichte im engeren Sinne, sondern alles, was an Riten, Gebräuchen, Sekten und Volksglauben aus dem Schöße des Christentums hervorgegangen war, seine Aufmerksamkeit. Am ersten kann man in dem, was er Historia litter aria nannte und zu pflegen empfahl, das Vorspiel einer künftigen Kulturgeschichte sehen. Denn sie sollte den Ursprung und den Fortschritt der Wissenschaften und Erfindungen - wobei auch die Spiele als Ausdrude menschlichen Geistes nicht vergessen wurden - von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart zeigen, zum Dank für die Erfinder und zur Aufmunterung der Nachfolge, und sie sollte dabei, ebenso wie er das auch für die Geschichte der Philosophie forderte, den Schwerpunkt nicht auf das Persönlich-Biographische, wie es bisher geschehen war, sondern auf das Sachliche, den Ursprung und den Fortschritt unseres Wissens legen (Davillé 348 ff.). Wohl war das wieder ein Spatenstich in tiefere Schichten des geschichtlichen Erdreichs, zugleich ein Aufleuchten des optimistischen Fortschrittsglaubens der Aufklärung. Deswegen war auch der Entwicklungsgedanke hier noch ebenso, wie wir es bei seiner Lehre vom Seelenleben gesehen haben, in den Schranken des Vervollkommnungsgedankens gefangen. Ein wunderbarer Anblick aber bleibt es immer, wie dieser Geist, dessen Forschung so gewissenhaft und fast pedantisch den typischen Interessen des fürstlichen 17. Jahrhunderts bis zum Zeremonialwesen herunter diente, so frei und weit auch die Idee der Menschheit in sich trug. Das Bewußtsein einer einheitlichen Menschheitsaufgabe, die fort- und aufwärtsschreitend durch

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wadisende Erkenntnis zu lösen sei, erwachte in ihm - die Zentralidee der Aufklärung. Und das spezifisch deutsche Schicksal im Gegensatz zu der aus breiten nationalen Strömungen hervorgehenden westeuropäischen Aufklärung war es, daß man dabei ein Doppelleben von engster Bindung an kleinliche Verhältnisse und freier Universalität des Geistes zu führen hatte. Gerade diese Spannung aber konnte den Geist audi zu höherem Fluge reizen, als es die Nationalkulturen des Westens vermochten. Leibniz glaubte an den Fortschritt der ganzen Menschheit zu höherer Vollkommenheit. Aber da war es nun groß und dynamisch und in dem Sinne für die unendliche Bewegung, der seine Philosophie auszeichnet, gedacht, daß er diesen Fortschritt der Menschheit nicht einem paradiesischen Endzustande zustreben ließ, sondern als einen unendlichen Prozeß ansah. Nec proinde unquam ad terminum progressus pervenni (Davillé 709, Philos. Schriften, hg. von Gerhardt, 7, 308). Immer, schrieb er in seinem Todesjahr 1716, wandelt sich das Universum und gewinnt neue Vollkommenheiten, obgleich es alte verliert. (Davillé 709, Philos. Schriften, hg. von Gerhardt 3, 589). In diesem Anblick einer ewigen Metamorphose und von stetem Aufstieg und Abstieg zugleich ging er jetzt sogar einmal über die Schranken seines eigenen Vervollkommnungsgedankens hinaus1. Er ließ sich in seinem Fortschrittsglauben auch nicht beirren durch das geniale Vorgefühl einer dem 18. Jahrhundert drohenden großen Revolution, die er als Wirkung der sich verbreitenden destruktiven, Eigenwohl über Gemeinwohl und Vaterland stellenden Meinungen prophezeite (Nouv. Ess. IV, 16). Weil er den neuen weltlichen Fortschrittsglauben mit diristlich-theistischem Vorsehungsglauben in sich verschmolz, tröstete er sich damit, daß die Vorsehung selbst durch diese Revolution die Menschen schon heilen werde. Und wie schon in diesem Gedanken ein Stüde seiner pragmatischen Gottesvorstellung wieder auftaucht, so verflocht er den Pragmatismus, der das zweckbewußte Handeln der einzelnen überschätzte, aber jetzt so recht den Gewöhnungen des absoluti1 Diese Schranken sind aber nodi siditbar in einem anderen W o r t e : Universum est ad instar plantae aut animalis hactenus ut ad maturitatem tendet. Sed hoc interest, quod nunquam ad summum, pervenit maturitatis gradum, nunquam e ti am re gre di tur aut senescit. Bodemann, Die Leibnizhandsdiriften der Κ. öff. Bibl. zu Hannover S. 121.

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stischen Zeitalters entsprach, auch in seinen Fortschrittsgedanken. Denn er erwartete Wunder für den Aufschwung des menschlichen Geschlechts, vielleicht schon in wenigen Jahren zu bewirken, von einem großen Fürsten, der wie ein zweiter Salomo lange in tiefem Frieden regieren und die Menschen glücklicher, friedfertiger und mächtiger über die Natur machen wolle (Nouv. Ess. IV, 3 und Sdiluß). Alle Betrachtung seines geschichtlichen Denkens erinnert, wie auch seine Philosophie, immer gleichzeitig an das Jahr 1700 und das Jahr 1800 der deutschen Geistesgesdiichte. Er hat das Größte, was er dem kommenden Jahrhundert übermachte, den Individualitätsgedanken, nicht zu Ende zu denken vermocht. Das alte christliche Naturredit und das von der Naturwissenschaft neu genährte Bedürfnis, zeitlose Gesetzlichkeiten auch in menschlichen Dingen zu suchen, standen im Wege. Darum verstand er, wie wir sahen, den Primat der ewigen Wahrheiten über die Tatsachenwahrheiten noch in naturrechtlichem Sinne. Oft kam er in der Theodizee, gegen Bayles nüchternen Skeptizismus polemisierend, auf Lebensführung der Menschen und auf Unglück und Sünde im Leben zu sprechen. Immer aber geschah es auf Grund allgemeingültiger Prinzipien, nicht auf Grund der individuellen Eigengesetzlichkeit in jedem Tun. Er warf dabei einmal einen Blick auf die Naturvölker und pries die Gemütsstärke der Indianer in Leid und Unglück (III, 256). Aber er maß sie dabei nicht an den Voraussetzungen ihres eigenen Daseins, sondern an dem normativen Ideal des vernünftigen Menschen. Dennoch sahen wir den Sinn für das Individuelle schon wirksam in der Fülle seiner geschichtlichen Interessen, und wenn er audi nicht konsequent das ganze menschliche Leben zu durchdringen vermochte, so führte doch die zeugende Kraft seiner Monadenlehre ihn schon zu einer wenigstens prinzipiellen Erkenntnis von höchster Bedeutung. Der deterministische Zug dieser Monadenlehre ersdiloß ihm den Blick in die Tiefe menschlich-individuellen Schicksals. »Der Begriff (la notion) einer individuellen Substanz«, heißt es im Discours de Métaphysique (Philos. Schriften, hg. von Gerhardt 4, 436, Davillé 696), »umschließt ein für allemal das, was ihr je widerfahren wird.« Alexanders des Großen und Casars Schicksale waren in ihrer Natur angelegt, denn »alles, was uns je widerfahren kann, ist nur Folge unseres Seins« (a. a. O. S. 433,

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438, 439). Von hier führte der Weg zur Goethischen »geprägten Form, die lebend sidi entwickelt«. Es war nodi kein aufrührendes und alles Menschliche neu empfindendes Erleben, wie später in der Sturm- und Drangzeit, was die großen, den Historismus vorbereitenden Gedanken von Leibniz hervorbrachte. Aber man darf sie auch nicht nur aus einem scharf und kühn fortschreitenden und mathematisch-genial kombinierenden Denken ableiten. Er wie Shaftesbury sind nur zu verstehen im Zusammenhange der säkularen neuplatonischen Tradition, die im Einzelleben den Abglanz des Göttlichen und den Menschen als Mikrokosmos des Makrokosmos sah. Leibniz nahm sie mit deutschprotestantischer Innerlichkeit auf, bildete sie weiter mit ruhiger Tiefe, aber deckte darüber das helle Gewand des dem Zeitalter noch gemäßen Intellektualismus.

III. G O T T F R I E D A R N O L D

War es im Zeitalter von Leibniz schon möglich und wie weit war es möglich, durch einen bewußten Kampf gegen den Intellektualismus den Bann der naturrechtlichen Denkweise zu sprengen? Die Antwort darauf gibt Gottfried Arnolds »Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie« 1699-1700 (hier ist die 2. Ausgabe von 1729 in zwei Bänden benutzt). Arnold (1666-1714) führte den Kampf gegen die »spitzige und überkluge Vernunft« nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern aller Jahrhunderte zuvor mit wahrer Leidenschaft. Aber er konnte ihn nur führen vom Boden des radikalen mystischen Spiritualismus aus, zu dem er vom Pietismus aus gelangt war. Diesem Spiritualismus blieb er innerlich auch dann verhaftet, als er um die Jahrhundertwende sich von neuem dem Pietismus anschloß und in kirchliche Ämter trat. Sein Werk entstand noch vor dieser letzten Wendung und aus radikaler Gesinnung heraus. Aber auch der Pietismus, der in Deutschland jetzt aufkam, lebte vom Gedankengut der Mystik und war, wie man gesagt hat, eine kirchlich oder sektiererisch zahm gewordene Mystik. Pietisten, Mystiker und Spiritualisten insgesamt aber setzten in ihrer Weise, anders als Shaftesbury, nicht sowohl ästhetisch offen und weltfromm wie dieser, als subjektiv fromm und gottheitsbedürftig, die große

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neuplatonische Geisterkette fort, die von Dionysius Areopagita aus sich mit dem Christentum versdimolzen hatte und seit Renaissance, Humanismus und Reformation nicht nur von ganzen Sekten, sondern nodi bedeutender von einsamen und originellen Köpfen fortgeführt wurde. Das große Geschichtswerk Arnolds wurde zu einem Sammelbecken ihrer Ideen, wie Erich Seeberg in seinem Buche über ihn (1923)1 mit höchster Intensität, gedanklicher Vertiefung und umfassender Gelehrsamkeit gezeigt hat. W i r fragen hier nicht, wie er es tun mußte, nach den rückwärts liegenden, weit verzweigten Wurzeln seiner Geschichtsauffassung, sondern den Blick nach vorwärts geriditet, danach, was sie selbst vielleicht als Wurzel für den kommenden Historismus bedeutet hat, was sie ihm bieten und was sie ihm nicht bieten konnte. Da seine Wirkung auf das Jahrhundert, so groß sie auch war, mit der Shaftesburys und Leibnizens doch nicht zu vergleichen ist, so wird eine summarische Würdigung genügen. Es ist bei ihm dasselbe Phänomen eingetreten, das wir schon bei Shaftesbury und Leibniz beobachtet haben und das uns noch öfter entgegentreten wird, daß das naturrechtliche Denken durch einen geistigen Hergang gelockert werden konnte, der selbst noch wesentliche Merkmale dieses naturrechtlichen Denkens an sich trug. Der Kern des naturrechtlichen Denkens war von der Antike an Intellektualismus, Vertrauen auf die wahrheitfindende Kraft der verstandesmäßig aufgefaßten Vernunft. Dies Vertrauen war so groß, daß man die gefundenen Wahrheiten für allgemeingültig und zeitlos hielt, sie absolutierte und uniformierte. Erschüttert werden konnte diese Denkweise, wie wir schon sagten, nur von der Seele her, von dem aufsteigenden Bewußtsein her, daß die verstandesmäßig aufgefaßte Vernunft nicht ausreiche, um die entscheidenden Lebenswahrheiten, von denen audi das geschichtliche Denken abhing, zu finden. Aber diese Revolution des Irrationalen gegen das Rationale blieb nun zunächst noch selbst im Banne des Rationalen, indem sie den von ihr entdeckten seelischen Werten einen ebenso absoluten, zeitlosen und uniformen Charakter zuschrieb, wie ihn die Vernunftwahrheiten der naturrechtlichen Denkweise besaßen. Konnten wir schon bei Shaftes1 Ein zusammenfassender Aufsatz über »G.Arnolds Anschauung von der Geschidite«, Zeitsdlr. f. Kirdiengesth., Bd. 38, ging vorher. Ferner hat Seeberg »G. Arnold, in Auswahl herausgegeben«, 1934.

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bury von einem neuen, in platonisch-neuplatonischer Gesinnung aufgebauten Naturrecht sprechen, so läßt sich erst redit Gottfried Arnolds Welt- und Gesdiiditsansdiauung, der Denkform nach betraditet, als ein »Naturrecht der Seele« bezeichnen. Denn ein einziger, zeitlos immer wiederkehrender seelischer Grundvorgang vollzieht sich nach ihm in Leben und Geschichte der Menschheit, von Âdam an bis zu dem von ihm nahe geglaubten Zeitpunkt der άποκατάστασις πάντων, wo »alle Kreaturen in ihr ursprüngliches allerseligstes Eins... als in ein unergründliches Meer der ewigen Liebe« hineingezogen werden (1, 1202). Dieser Grundvorgang ist ein Entweder-Oder zwischen Gut und Böse, eine Wahl zwischen Welt, Selbheit, Sünde, »der Leute Bosheit und dem alten Adam« und Weltflucht, Entäußerung der Selbheit, Öffnung der Seele für Gott, Erleuchtung durch ihn, Einswerden mit ihm, Mystik. Aus der Geschichte lernt man nur das eine, daß einer ganz überwiegenden Masse sündig-weltlichen Geschehens ein seelisches Geschehen der wenigen wahrhaft Frommen - die es aber auch schon vor dem Christentum immer gegeben hat und die es auch außerhalb des Christentums geben könnte - gegenübersteht. Wir können die theologischen Fragen, wie er diesen religiösen Universalismus mit einem innigen Christenglauben und die Offenbarung durch das Wort Gottes mit dem spiritualistisdien Gedanken einer immer neu und unmittelbar sich vollziehenden Erleuchtung der Frommen durch den Heiligen Geist vereinigen konnte, hier beiseite lassen. Für unsere Betrachtung aber entscheidend ist, daß von seinen Prinzipien aus unmittelbar kein neuer Zugang zum Verständnis der Weltgeschichte über ihre bisherige naturreditlich-pragmatisdie Auffassung hinaus gewonnen werden konnte. Denn sie wurde ja in der Hauptsache als wertlos, ja wertwidrig betraditet, »weil doch die menschlichen Fehler, Torheiten und Sünden den größten Teil der Historien durdigehends ausmachen« (1, 453). Er konnte die Kirdiengesdiidite nur deswegen mit einer ungeheuren Stofffülle erzählen, weil sie der Abschreckung vom Bösen diente. Denn den Verfall der Kirche und das Aufkommen einer boshaften Klerisei in ihr datierte er gleich vom Ende der apostolischen Urgemeinde an, ließ ihn durch das Mittelalter, bald sich steigernd, bald gleidibleibend fortgehen bis zu den Vorreformatoren und dem jungen Luther hin, in denen das Ewige Licht wohl wieder etwas heller

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aufleuditete, - um dann in der zänkischen und unduldsamen Schultheologie des späteren Luther und des Luthertums überhaupt wieder in neuen Verfall zu geraten. Immer aber gab es audi in den ärgsten Zeiten einzelne Fromme, wie in der Kirche selbst, so auch in den nach seiner Meinung zuweilen mit Unredit verketzerten Sekten, - wiewohl er das Sektenwesen selbst nidit liebte und unter den Ketzern zu scheiden wußte. Die schlimmsten Ketzer sah er in den Ketzermachern der offiziellen Kirche. Sehr eigentümlich verband er also eine ganz alte, dem Verständnis des geschichtlichen Gesamtverlaufs gewidmete Idee das Schema vom goldenen Zeitalter, der ihm folgenden Verschlechterungen und der Hoffnung auf eine künftige Welterneuerung - mit der dualistischen und geschichtslosen Idee eines steten und immer sich wiederholenden Nebeneinanders von viel Finsternis und wenig Licht in der Welt. Mystische Trostgründe für die wenigen Lichtmensdien in ihr gab es auch dabei. Aber der geschichtlichen Welt widerfuhr dabei das analoge Schicksal, das ihr die Aufklärungshistorie bereiten sollte. Wie diese, das Naturrecht steigernd, den absoluten Wert der Vernunft zum Maßstab des geschichtlichen, für sie überwiegend unvernünftigen, hier und da vernünftig werdenden Gesamtverlaufs machte, so machte Arnolds Spiritualismus den absoluten Wert der von Gott erleuchteten Seele zum Prüfstein des Weltgeschehens. In diesem aber wiederholte sich, wie wir hörten, immer dasselbe. Denn für Arnold blieb die menschliche Grundnatur genauso unveränderlich, wie für die naturrechtliche Denkweise von jeher. »Es wird immer einerlei Komödie und Tragödie auf der Welt gespielt, nur daß immer andere Personen dabei sein« (bei Seeberg S. 143). Die geschichtlichen Ereignisse selbst leitete er demnach ganz, wie der personalistisdie Pragmatismus es tat, aus den sich immer gleich bleibenden Eigenschaften der Handelnden, und für ihn waren es zumeist schlechte Eigenschaften, ab. Nach alledem kann von einer irgendwelchen Regung des Entwicklungsgedankens bei ihm noch keine Rede sein. Auch der Verfall, den er vom Ende der Apostelzeit an konstatiert, beruht nicht auf Entwicklung, sondern auf Durchbruch des immer vorhandenen schlechten Prinzips, wie er umgekehrt auch von einem vorübergehenden »Durchbruch« des guten Prinzips in den Frühlingstagen der Reformation sprechen konnte (1, 494).

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Aber es war die Seele des Menschen schlechthin, die er, zum erstenmal unter den Historikern, wie Seeberg richtig sagt (S. 147), in den Mittelpunkt des geschichtlichen Lebens gerückt hat. So eintönig ihre Entscheidungen zum Bösen oder Guten auch in seiner geschichtlichen Erzählung erscheinen, so faßt er sie doch immer als eine Totalität, die nicht vom Verstände und der Vernunft, sondern vom Willen, das heißt von der seelischen Grundrichtung bestimmt wird. Auch zum wirklichen Ketzer und Ungläubigen wird man nach einer seiner Hauptthesen nicht durch falsche Meinungen, sondern durch den verderbten Willen, »der sofort den Verstand auch auf seine Seite zog« (1, 38). Das Treiben des Verstandes und der »spitzigen Vernunft« war für sein mystisches Bedürfnis zumeist von Übel. Los darum vom Buchstaben, vom Begriff, von der Schultheologie und von Aristoteles, hin zu dem innersten Lebensquell der Seele in Gott. Und wir hörten ferner schon, daß es die einzelnen einsamen Gottsucher waren, die er in der Geschichte suchte und begrüßte. Regt sich darin schon Individualismus im Sinne des vom Historismus vertretenen Individualitätsgedankens? Oder wenigstens eine Vorstufe zu ihm? Dieser Individualitätsgedanke sieht, ausgehend von der Individualität der menschlichen Seele, auch die von ihr geschaffenen menschlidien Gebilde und Gemeinschaften, soviel Typisches sie audi immerhaben mögen, als gleichzeitig audi immer individuelle Gebilde an und sieht auch den Einzelmenschen immer umgeben und umwachsen von diesen Gebilden und höheren Gemeinschaften und in Wechselwirkung mit ihnen. Dieser Sinn für die Einbettung des Individuums in ein selbst wieder individuelles Gesamtleben fehlte noch bei Arnold. Seeberg (S. 146) sagt richtig: »Wie in der Historiographie der Aufklärung bleibt der Einzelne isoliert, ohne innere Verbindung mit der Gesellschaft, in der er lebt.« Aber ist dafür wenigstens die menschliche Einzelseele als Individualität erfaßt? Die seelische Vertiefung und Verinnerlichung, die er predigte, um sie zum Spiegel des göttlichen Lidites zu machen, war doch wenig differenziert. Das Erlebnis der Wiedergeburt ist nach ihm, um wieder Seeberg urteilen zu lassen (S. 218), eigentlich überall dasselbe. Und diese Wiedergeburt sollte sich nach Arnold auf das praktische Leben in einer Askese auswirken, die zur Abtötung aller die mystische Vereinigung mit 4

Meinedce, Historismus

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Gott störenden Regungen, man darf sagen zu einer Kulturfeindschaft führen mußte. Arnold nahm schon Anstoß an Luthers Freude an fröhlichem Singen und Springen (1,505), an Melandithons Homerbegeisterung (1,563 f.) und fand, daß der Antichrist die Orgelpfeifen in die Kirchen gebracht habe (1,586). Das erinnert alles sofort an die vom Pietismus vorgenommenen Einschnürungen der Individualität. Das Seelenleben sollte enger und inhaltsärmer, dafür aber tiefer und empfänglicher für das eine, was not tut, werden. Die bloße »Selbheit« aber war verdächtig als Wurzel des Übels. Arnold dichtete (Seeberg S. 174): Geh aus dir selbst und deiner Eigenheit, So bist du in der Welt von Welt befreit. Aber wir stehen damit nun audi vor einem der wunderbarsten und wichtigsten Phänomene der deutschen Geistesgeschichte im 18. Jahrhundert. Denn indem der Pietismus, als dessen Vertreter hier auch Arnold gelten darf, die Individualität gleichzeitig einschnürte und in ihrem tieferen Seelengrunde doch mächtig aufrührte, hat er eine innere Spannung von Kräften hervorgerufen, die letzlidi dem Durchbruch der Individualität zugute kommen konnte. Pietismus und Mystik gehören so, trotz der Absolutierung und Uniformierung der von ihnen geschaffenen seelischen Werte, zu den wirksamsten Vorbereitern neuen individuellen Lebens, das dann wiederum zum Nährboden des Historismus wurde. Nicht die einzige Linie, aber eine Hauptlinie der Entwicklung führt vom Pietismus über Sturm und Drang zum Historismus. Daß der deutsche Pietismus eine psychologisch notwendige Vorstufe zu Sturm und Drang, zur Mobilisierung schließlich aller seelischen Kräfte wurde, ist heute eine der gesichertsten Erkenntnisse der Geistesgeschichte1, die sogar schon in Gefahr ist, schematisch übertrieben zu werden auf Kosten des Reichtums der im 18. Jahrhundert wirkenden Motive. Aber der Pietismus, in dem audi die Mystik zugleich gemäßigt fortlebte, war es, der 1

Vgl. Burdach, Faust und Moses in den Sitzungsberichten der Berliner Akad. 1912; Unger, Hamann und die Aufklärung 2 1925; Korff, Geist der Goethezeit I. 1923; Koppel S. Pinson, Pietism as a factor in the rise of German nationalism 1934 (von mir besprochen Hist. Zschr. 151, 116).

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zuerst in Deutsdiland eine Heine Schicht von Menschen aller Stände aus der stumpfen Hinnahme der gegebenen Zustände herausriß und sie gewöhnte, zwar still und ruhig im äußeren Dasein, dodi exaltiert im inneren Dasein zu leben. Sie lernten es, aus der Nüchternheit und Gedankenlosigkeit des Alltags herauszutreten, Freude und Schmerz, die man im Kleinen erfuhr, ins Große hinaufzusteigern, alle inneren Empfindungen auf ihren Wert oder Unwert zu belausdien, Geheimnisse in sich zu entdecken und so ihrer »Selbheit«, die sie zu unterdrücken meinten, gerade erst redit innezuwerden. Von dem besonderen religiösen Gehalte und Werte des Pietismus ist hier nicht zu sprechen, sondern nur von der Tatsache, daß gerade religiöse Werte oft umschlagen und befruchtend transferiert werden können auf ganz andere Lebensgebiete. Die neue deutsche Dichtung sollte von Klopstock an dies zuerst erleben. Schon in ihrem Wortschatz und ihrer Bildersprache läßt sich, wie Burdadi gezeigt hat, der Einfluß des Pietismus und der ihm vorausgegangenen Mystik spüren. In Herders und Goethes Jugend wird er uns später wieder vor Augen treten. Goethe ist nun auch ein Hauptzeuge für die besondere Wirkung von Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie1 und für den Zusammenhang, in dem sie mit unserem Thema steht. Er las sie in seinen gärenden Jugendjahren nach 1768, als er von Leipzig nach Frankfurt zurückgekehrt war und Elemente für ein neues inneres Leben sammelte (Dicht, u. Wahrh. 2. Teil, 8. Buch). »Dieser Mann ist nicht bloß ein reflektierender Historiker, sondern zugleich fromm und fühlend.« Er bemerkte also, daß Arnold über den bisherigen Pragmatismus hinaus mit dem neuen Erkenntnisorgan der Seele an die Geschichte herangetreten war. Und es wird ihn damit vielleicht die Ahnung überkommen haben, daß die Geschichte nicht nur pragmatisch erklärbare Tatsachen, sondern auch seelische Inhalte in sich berge. Und weiter erfuhr 1

Weitere Zeugnisse dafür bei Seeberg a. a. O. Dort audi Näheres über die geistigen Beziehungen Arnolds zu Thomasius und der Aufklärung, die für unser Thema beiseitegelassen werden können. In meinem Exemplar Arnolds findet sich der handschriftliche Vermerk aus dem 18. Jahrhundert: »Förster in der Gesch. der Univ. Halle S. 87 erzählt, daß Thomasius immer gesagt, wer zween Röcke hat, verkaufe den einen und verschaffe sich dies Arnoldwerk«; vgl. dazu Arnold 2, 1363.

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Goethe durch Arnold eine jener ungewollten Wirkungen von Pietismus und Mystik an sidi. Arnold hatte, ohne es zu wollen, ein Bilderbuch des religiösen Individualismus gegeben, indem er, namentlich in den späteren Teilen von der Reformation an, eine bewegende Fülle merkwürdiger Individualitäten, einsamer Gottsudber, die mit der herrschenden Schultheologie in Widerspruch geraten waren, auch mit ihren eigenen Worten vorführte. Er wollte nicht das Eigenste und Individuellste, sondern das immer Wiederkehrende an ihnen zeigen, das eine mystische Grunderlebnis an ihnen erläutern und sah auch nicht selten sein eigenes absolutes Frömmigkeitsideal in diese stillen Revolutionäre hinein. Aber in dem jungen Goethe weckte diese Bilderschau »den Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen«. Die kühne Auflehnung Arnolds gegen die herrschende Konvention, um mit diesem (1, 638) zu sprechen, gegen das präjudicium autoritatis und sonderlich pluralitatis« gefiel ihm. »Ich studierte fleißig die verschiedenen Meinungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe am Ende doch seine eigene Religion, so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne.« Und nun folgt die Erzählung von der phantastischen, neuplatonisch gefärbten Jugendreligion, die er sich damals erträumte und von der doch gewisse Grundgedanken mit seiner bleibenden innersten Natur sidi verschmolzen. So führte die christliche Mystik Arnolds hier zu ihrer eigenen Urquelle, dem Neuplatonismus zurück, der dann, mit anderen Elementen des Jahrhunderts verbunden, auch dem historischen Denken neue Wege zu bereiten vermochte. Aber auch schon der besondere Grundgedanke von christlicher Mystik und Pietismus, der Immediatverkehr der Einzelseele mit Gott, über dem die äußere Welt versank, war zeugungskräftig genug, um neues individuelles Leben und damit die Voraussetzung neuen Schauens in Menschheit und Geschichte hervorzubringen. Vergessen wir dabei nicht, daß dieser Grundgedanke die innerste, wenn auch oft verdeckte Lebensader des Protestantismus und insbesondere des deutschen lutherischen war. Shaftesbury, Leibniz und Arnold lebten und dachten in einer gemeinsamen Atmosphäre seelischer Unabhängigkeit von den Autoritäten der Welt und gläubiger Abhängigkeit von der Gottheit. Darauf beruht letzten Endes

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ihre vorbereitende Leistung für den Historismus. W a s aber audi in der gebundenen katholischen W e l t für ihn zu leisten schon möglich war, wird uns nun Vico zeigen. IV. V I C O / L A F I T A U Es ist kein Zufall, daß die Denker, die schon im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts Vorbereiter eines neuen, zur Oberwindung der eben siegreich aufsteigenden Aufklärung fähigen geschichtlichen Denkens waren, aus Deutschland, England und Italien stammen. Denn eine besondere Affinität verbindet trotz aller bestehenden und durch die Glaubenstrennung vertieften Divergenzen den Geist dieser Nationen miteinander, eine größere Fähigkeit, als sie der französische hat, die Hemmungen des Intellektualismus zu überwinden, von innen her und aus der T o t a lität der seelischen Kräfte zu denken und seelisch reiche Individualität damit zu bilden. In der Renaissance hatte Italien dafür die Bahn gebrochen. Gegenreformation und Fremdherrschaft hatten diese dann wohl einengen, aber niemals ganz verschütten können. Das wissenschaftliche Leben Süditaliens insbesondere war wohl zu scholastisch-abstrakter Dürre vertrocknet, die audi durch die von Frankreich heranwehenden W i n d e cartesianischer Philosophie und mechanistischen Denkens nicht aufzufrischen war. W i e das Wunder einer plötzlich sichtbaren Oase berührt da die Erscheinung Giambattista Vicos (1668-1744) als Manifestation unerschöpfter und originellster Geisteskraft. Der bescheiden und äußerlich glücklos lebende, von seinen Zeitgenossen vernachlässigte Professor der Rhetorik an der Universität Neapel nahm, ganz auf sich allein gestellt, den Kampf sowohl gegen den Cartesianismus und Mechanismus wie gegen die Vorurteile der großen Naturrechtslehrer des 17. Jahrhunderts auf und schuf in seiner Scienza nuova (in den drei Ausgaben von 1725, 1730 und 1744) ein völlig neues Organon historischen Denkens 1 . 1 Kritische Ausgabe der Scienza nuova nach dem Texte von 1744 mit den Varianten von 1730 usw. von Nicolini, 3 Bde. Bari 1911/16. Vgl. ferner Ben. Croce Bibliografia Vidiiana 1904 und La Filosofia di G. Vico 1911, hier benutzt in der deutschen Übersetzung von Auerbadi-Lücke, Die Philosophie G. Vicos, 1928. Hier und in der fördernden Arbeit von R. Peters, Der Aufbau der Weltgeschichte bei G. Vico, 1929, weitere Literatur verzeichnet. Ältere deutsche, wortgetreue Überset-

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Nicht ruhige, langsame Loslösung vom Naturrecht wie bei Shaftesbury und Leibniz, sondern elementarer Durchbruch war es, der Durchbruch eines bestimmten Denktypus phantasiebegabter, intuitiv angelegter, zwar auch logisch potenter, aber aus der Tiefe der Seele heraus denkender Naturen durch hindernden Intellektualismus hindurch zu ihrem eigentlichen Wesen und dadurch audi zu neuen Erkenntnissen. Solche Durchbrüche hatte es seit Piaton, Plotin und Augustin in genialen Naturen immer wieder gegeben, aber sie hatten nicht das ganze geistige Klima verändern, sogar für sich selbst nie ganz durchbrechen können. Auch Vico hat weder das eine noch das andere vermocht, ist, wie zu zeigen sein wird, in einer wesentlichen Hinsicht hinter Shaftesbury und Leibniz zurückgeblieben, um dafür in anderer Hinsicht wieder über sie weit hinauszukommen. Diesen beiden war es dafür vergönnt, Anfangsglieder einer Kette, Lehrer einer nachkommenden erfolgreicheren Generation zu werden. Die Spuren einer Einwirkung Vicos auf die von uns später zu behandelnden Denker sind dagegen so minimal, daß er als einsamer und verkannter Außenseiter im Geistesleben des 18. Jahrhunderts gelten muß. Montesquieu hat sein Buch besessen, aber anscheinend nicht genutzt1. Hamann hat es sich 1777 kommen lassen, aber enttäuscht, weil er nicht gerade das fand, was er von dem Inhalte für seine augenblicklichen volkswirtschaftlichen Interessen erwartete, wieder aus der Hand gelegt (Schriften 5, 267). Herder, der sonst fast verschwenderisch in der Angabe der ihn interessierenden Autoren ist, widmete ihm erst ganz spät 1797 in den Humanitätsbriefen (Werke 18, 246) eine Seite warmen Inhalts, und nichts deutet darauf, daß er ihn in den Jahren seiner eigenen zung der Scienza nuova von W. E. Weber 1822; neuere gute, aber stark gekürzte von E. Auerbach o. J. (1924). Wertvolle Bemerkungen über V. bei Spranger, Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls in den Sitzungsberichten der Preuß. Akad. d. Wiss., öff. Sitzung vom 28. Januar 1926. Vgl. ferner 0 . Frhr. v. Gemmingen, Vico, Hamann und Herder (München, Diss. 1919). E. Auerbach, Vico und Herder, Deutsche Vierteljahrssdir. f. Literaturwiss. und Geistesgesdi. Bd. 10 (1932); G. Mayer, Die Geschichte bei Vico und bei Montesquieu in der Festschrift f. Fr. Oppenheimer; Nicolini, La giovinezza di G. Β. Vico, 1932. 1 Vgl. Croce S. 243. Eine kleine Spur möglicher Einwirkung der Vicosdien Kreislauflehre wird später bei Montesquieu erwähnt werden.

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großen Produktion gekannt hat. Goethe wurde während der italienischen Reise auf ihn aufmerksam gemacht, spürte wohl gleich den Atem eines Genies, aber sah in ihm anscheinend mehr einen Zukunftskünder als einen Vergangenheitsdeuter und kam nie wieder auf ihn zurüdc. Mag sein, daß man schon im 18. Jahrhundert Vico zuweilen bestohlen hat, ohne ihn zu nennen. Aber völlig überzeugende Nachweise sind dafür bisher nicht erbracht worden1. Wo Berührungen mit vidiianischen Gedanken vorliegen, tragen sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein so vichianisches Gepräge, daß man sie mit Wahrscheinlichkeit auf ihn zurückführen könnte, lassen sie sich auch aus spontaner Neuentstehung erklären. Das gilt insbesondere von seiner neuen Sicht der Urzeiten, der Urpoesie und Homers, an die, wir wir sehen werden, manches in der englischen Präromantik anklingt. Daß aber einige, nicht alle seiner großen und neuen Gedanken bald nach seinem unbeachtet bleibenden Werke auch anderwärts aufblühen konnten, ist ein Zeichen dafür, daß ein allgemeineres geistiges Bedürfnis jetzt auf sie hindrängte. Andere seiner Gedanken sind erst im 19. Jahrhundert, wo er zu größerer, aber keineswegs voller Geltung kam, wirksamer geworden oder wenigstens angestaunt worden. Eigentlich beschäftigt sich erst das frühe 20. Jahrhundert unter Benedetto Croces Vorgang damit, die Schätze des vidiianischen Denkens aus immer größerer Tiefe zu heben. Vielleicht gehört er in dem Dunkel seines ringenden und stoßenden, immer suchenden, niemals fertig werdenden Geistes oder, um mit Croce zu sprechen, in seiner genialen Konfusion und konfusen Genialität zu den Unergründlichen, die jeder Generation einen neuen Aspekt bieten können. Man wandert bei ihm über Schutthalden phantastischer und willkürlicher Einfälle und sieht doch überall Gold darunter blitzen. Notgedrungen müssen wir hier über viele Probleme und Dunkelheiten seines Denkens hinweggehen, um in vereinfachter Form diejenigen Gedanken herauszuarbeiten, die eine Beziehung, sei es der Vorausnahme und Verwandtschaft, sei es des Gegensatzes zum kommenden Historismus haben. Seine erkenntnis1 Audi Robertson, Studies in the genesis of romantic theories in the 18. cent. 1923, der S. 287ff. einen stärkeren Einfluß Vicos auf die deutsche Bewegung, insbesondere Herder, annimmt, bringt keine Beweise.

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theoretische und metaphysische Philosophie, von Croce tiefgründig behandelt, muß dafür wenigstens angedeutet werden. Seinem Denkertypus nadi mußte er Platoniker im weiteren Sinne werden, wie er denn in der Jugend audi die Neuplatoniker der italienischen Renaissance begierig in sich verarbeitet hat (Nicolini, La giovinezza di G. Β. Vico S. 103). Seine geschichtliche Umwelt nahm er, wie eine Pflanze die Bestandteile ihres Bodens, so bereitwillig und innig in sich auf, daß er das Bewußtsein streng katholischer Gläubigkeit audi da nicht verlor, wo die von ihm betont festgehaltene Transzendenz Gottes zur Welt durch die Konsequenz seiner neuen Gedanken unmerklich zur Immanenz Gottes in der Welt zu werden drohte. Das neuplatonisdie Weltbild wirkt wieder nodi in seiner Lehre von den »metaphysischen Punkten«, das heißt innerlichen Kräften immaterieller Art, durdi die Gott Leben und Bewegung hervorrufe, wo dann der medianische Zusammenhang von Ursache und Wirkung nur die äußere Oberfläche darstelle. Trotz bestehender Unterschiede wird man dabei an Shaftesburys inward form und an Leibnizens Monadenlehre erinnern dürfen. Erkennen aber könne man, so war Vicos tiefer, schon von fern an Kant erinnernder Grundsatz, nur das, was man geschaffen habe. Dieser Grundsatz, vereint mit dem antimedianisdien Grundzuge seiner phantasiemäditigen Natur, mit der Abneigung gegen die moderne mechanistische Naturwissenschaft und den Cartesianismus, führte ihn dann weiter zu der großen, über seine Zeit hinausragenden Oberzeugung, daß nicht die physische Natur, die Gott geschaffen habe und also allein erkennen könne, sondern die von den Menschen geschaffene Geschichte, die »Welt der Nationen« dasjenige Gebiet sei, das der Mensch nodi am besten erkennen und wo er, wenn audi nidit die Gott allein vorbehaltene volle Wahrheit, so dodi das Wahrscheinliche erreichen könne. Subjektiv hat er in dem immer tiefer sich in die Dinge einbrennenden Feuer seiner Entdeckungsarbeit sogar wohl noch mehr, nämlich die volle Gewißheit über den Ratsdiluß Gottes mit der Geschichte zu erobern geglaubt. Und nun die Grundgedanken seines Geschichtsbildes. Es beginnt mit einem merkwürdigen und problematischen Kompromiß zwischen christlicher Lehre und neugewonnener geschichtlicher Erkenntnis. Die von Gott gut geschaffene, mit freiem Willen ausgestattete, durch eigene Schuld sündig gewordene

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Menschheit wird durch die Sintflut gestraft und fast vernichtet. Die Uberlebenden differenzieren sich in das auserwählte Volk der Juden, das die göttliche Offenbarung erhält und unter göttlicher Leitung einen eximierten Lebensgang antritt, und in die zum beinahe tierischen Zustande zurücksinkenden und aus ihm langsam wieder emporsteigenden Urväter der heidnischen Völker, die phantastisch ausgemalten »Giganten«. Religion, wenn auch eine trübe Religion, aus primitivster Mentalität, aus Furcht vor einer in den Blitzen der Gewitter sich offenbarenden höheren Macht entsprungen, wird zum Mittel zu einer Wiedervermenschlidiung der Giganten, zur allmählichen Entstehung sozialer Institutionen und schließlich Völkergemeinschaften. Göttliches, heroisches und menschliches Zeitalter folgen nun für jedes Volk einzeln genommen aufeinander. Das göttliche oder goldene Zeitalter wird dabei nicht etwa als ein goldenes Zeitalter im alten idealisierenden Sinne verstanden, sondern als das Zeitalter, in dem das erste Gold der Welt, das Korn, zuerst gesät wurde und nach der Vorstellung der Urmenschen die Götter auf Erden wandelten. Alle Völker, die Juden ausgenommen, durchlaufen wie der Einzelmensch, dessen Analogie ihm immer dabei vor Augen stand, genau denselben Lebensgang von primitivstem Dasein bis zur Reife vernünftiger Humanität, die die eigentliche menschliche Natur sei. Der bedeutendste Gedanke dabei nun war, daß es die jeweilig verschiedene seelische Verfassung der Menschen, zuerst beinahe tierisch, dann stufenweise sich humanisierend, gewesen sei, die die ihr entsprechenden Sitten und sozialen und staatlichen Institutionen jeder Stufe hervorgebracht habe, vom staatlosen Einzeldasein der Giganten bis zur Volksrepublik und vollkommenen Monarchie hin. Die Kraft der schöpferischen Phantasie erlahmt, Reflexion und Abstraktion treten an ihre Stelle. Gerechtigkeit und natürliche Gleichheit, die vernünftige Natur der Menschen, »welche allein die wahrhaft menschliche Natur ist«, setzen sich durch. Aber die menschliche Schwäche erlaubt es nicht, die Vollkommenheit ganz zu erreichen oder festzuhalten. Der Vollendung sich nähernd, wird das Volk von innerem sittlichen Verfall ereilt, sinkt in die frühere Barbarei zurück und beginnt denselben Lebenslauf von neuem: Corso e ricorso. So stellt sich diese Lehre zunächst als eine grandiose Erneuerung und Vertiefung der alten Kreislauflehren der Antike und

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Renaissance dar. Nicht bloß die Verfassungsformen, wie Polybios gelehrt hatte, folgen zyklisch aufeinander, sondern audi die sie hervorbringenden seelischen Konstitutionen der Völker. Nicht bloß die virtù der Völker, wie Machiavelli schon vertiefend hinzugefügt hatte, steigt auf und ab und wandert dabei, wie er meinte, von Volk zu Volk, sondern an Stelle der Wanderung einer einzelnen seelischen Kraft tritt der gesetzmäßige Wandel seelischer Kraftsysteme innerhalb desselben Volkes, wo dann jedes dieser Systeme seine besondere Leistungsfähigkeit, seine besonderen Tugenden wie Gebrechen hat. Aus der besonderen stufenweise sich entwickelnden Seele der Menschen entspringen die Schicksalswandlungen der Völker. So universal umfassend und zugleich so tief in die Wurzeln des Geschehene greifend war noch niemals die Geschichte der in Völker gegliederten Menschheit erfaßt worden. Aber so fruchtbar revolutionär dieses Bild schon anmutet, so sind seine bedeutenden Inhalte und seine letzten Tiefen damit noch nicht erschöpft. Auch in diesen werden wir wieder überliefertes Gedankengut wohl erhalten, aber umgeschmolzen sehen zu etwas Neuem und Originellem, was dann wiederum, ob durch Vico beeinflußt oder nicht, zu Grundmotiven modernen geschichtlichen Denkens werden sollte. Es ist der Vorsehungsgedanke Vicos, der uns in eine problemreiche Tiefe führt. Daß Gott die Welt nach seinen Absichten regiert und die Geschicke der Völker durch seinen Willen bestimmt, war der feste Glaube, den er mit allen christlichen Geschichtsphilosophen von Augustin an bis zu Bossuet teilte. Aber wie regiert er und wie, wo, wann läßt er die Völker seinen Willen fühlen? Da hatte nun bis dahin gegolten und sollte auch lange über Vico hinaus in christlichen Kreisen die anthropopathisdie Vorstellung gelten, daß strafender Zorn oder Gnade Gottes unmittelbar in den Glücks- oder Unglücksfällen der Völker geahnt werden könne. Womöglich ließ man ihn sogar durch Wunder oder wunderartige Akte eingreifen. Von alledem ist bei Vico keine Rede mehr. Er nahm die entscheidende Wendung vor, durch die das Christentum mit einer Immanenzphilosophie bis zu einem gewissen Grade versöhnt werden konnte, nämlich Gott nur durch die Natur, durch die von ihm selbst geschaffene Natur des Menschen, in der Geschichte wirken zu lassen - ausgenom-

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men immer dabei das auserwählte Volk der Juden. Die Natur des Menschen ist es, nur an seinen persönlichen Nutzen zu denken. Der göttliche Geist läßt ihren Leidenschaften, da er ihnen einmal die Freiheit des Willens gegeben hat, freies Spiel, aber läßt zugleich überlegen und weise dieses Spiel so vor sich gehen, daß daraus die bürgerlichen Ordnungen, die allmähliche Überwindung der Barbarei und zuletzt die Humanität hervorgehen. Er hat, wie er sidi ausdrückt, »ihre beschränkten Ziele seinen höheren Zielen dienstbar gemacht und sie stets verwandt, um das menschlich Geschlecht auf dieser Erde zu erhalten«. Die Erinnerung an Hegel, an seine List der Vernunft, und an die Wundtsche Lehre von der Heterogonie der Zwecke steigt auf. Wir werden später, auf einer höheren Stufe des von uns zu zeigenden Entwicklungsprozesses, bei Herder, auf das Problem zurückkommen. Christliche Vorstellung war es zwar von jeher, daß Gott auch die Bösen zu Werkzeugen seines Willens mache, aber man dachte dabei in der Regel personalistisch an die Einzelfälle. Vico stieß in die Tiefe durch, sah das ganze geschichtliche Leben als einen natürlichen Ablauf menschlich beschränkter Leidenschaften, der trotzdem zu sinnreichen und wertvollen Ergebnissen führte, weil eine höhere Vernunft über der Unvernunft der Menschen waltete. Er zog die Hand Gottes, ohne sie zu schwächen, gleichsam nur etwas weiter von der Geschichte zurück und gab dieser ihre natürliche Bewegungsfreiheit. Es war der entscheidende Akt zur beginnenden Säkularisierung der Geschichte, auf der das moderne geschichtliche Denken beruht, den Vico als Gläubiger, nicht als Skeptiker wie die Aufklärer, vornahm. Er begann sie erst, denn sub specie aeterni betrachtet blieb auch ihm die Geschichte gefesselt an Gottes unmittelbaren Willen. Aber in seiner neuen Betrachtungsweise lag, ihm selbst verborgen, eine treibende Kraft, die darauf hindrängte, das geschichtliche Leben lediglich als eine Auswirkung immanenter Kräfte und Gesetze aufzufassen. Man hat sogar, vielleicht zu weitgehend, ihm selbst schon eine wachsende Tendenz zugeschrieben, im Verlaufe der Arbeit von der ersten zur zweiten Scienza das Immanenzprinzip immer stärker gegenüber der Transzendenz der göttlichen Leitung zu betonen (Peters S. 18 u. ö.). Sein bewußter Wille ging jedenfalls nicht dahin. Das zeigt die große Bedeutung, die er der Religion als dem Hauptmittel zur allmählichen Humanisie-

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rung der heidnischen Urmensdiheit zuschrieb. War es audi nur eine trübe und falsche Religion, so war sie doch ursprünglich entzündet in den rohen Gehirnen der Giganten durch die Blitze, die Gott im Gewitter ihnen zeigte, durch die Furcht, die er dadurch in ihnen erregte. »Allein die Religionen sind es«, heißt es am Schluß, »durch die die Völker gute Taten aus sinnlichem Trieb vollbringen.« Audi die heidnischen Religionen wurden damit als Werkzeuge Gottes anerkannt — wieder ein Schritt zur Säkularisierung der Geschidite hin - denn bis dahin hatte das christliche Denken ihnen allenfalls nur den Charakter einer entarteten und verderbten Offenbarungsreligion zugebilligt. Nach ihm aber erschien nun Religion schlechthin sdion als wertvollste Kraft der Geschichte. Vicos Gedanke, daß die Menschen selbst nicht wußten, was sie leisteten, als sie bürgerliche Ordnungen und Kultur schufen, sondern nur ihren engen egoistisch-sinnlichen Augenblicksinteressen folgten, hatte eine weitere befreiende Wirkung für historisches Denken. Die naturrechtliche Lehre von der Entstehung des Staates durch einen vernünftigen Vertrag der Menschen untereinander verlor damit ihren Boden. Und damit zusammenhängend überhaupt auch der Pragmatismus, die weithin und noch lange nach ihm herrschende Gewohnheit, bewußte Zwecke überall zu vermuten und so audi in den großen Institutionen der Geschichte das planvolle Werk von Individuen zu sehen. Dem Satze der rationalen Metaphysik homo intelligendo fit omnia setzte er stolz den Satz einer phantasieentsprungenen Metaphysik gegenüber homo non intelligendo fit omnia. Es ist ein Irrtum, erklärte er, daß Minos, Theseus, Lykurg, Romulus und andere römische Könige allgemeine Gesetze gegeben hätten. Die Einsicht, die ihn ermutigte, die klassische Überlieferung hier über den Haufen zu werfen, ging aber dabei noch auf Tieferes in ihm zurück, auf etwas, was von ihm nicht nur empirisch erforscht und erkannt, sondern in zwanzigjähriger bohrender Arbeit mit heißem Herzen und schlagenden Pulsen erlebt worden war - das Erlebnis des Urmenschen, der Urzeit, der Urpoesie, des poetischen, phantasieentsprungenen und emotionalen Denkens dieser ungeheuren schrecklichen, wildgrausamen, aber auch großherzigen, erfinderischen und schöpferischen Urmenschen, von deren ungemeiner Einbildungskraft sidi der moderne Mensch gar keine Vorstellung

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mehr machen könne. Er hatte in der Jugend das Lehrgedicht des Lucrez de rerum natura gelesen, und das hier gegebene gewaltige Bild der Urzeiten wirkte in vielen einzelnen Zügen in ihm nach (Nicolini, La giovinezza di G. Β. Vico S. 12 I f f . ) . Aber er fügte neue und originelle Erkenntnismittel hinzu. Die Versenkung in die homerische Menschenwelt mit ihrer den modernen Begriffen ins Gesicht schlagenden Ethik, in das ältere römische Recht mit seiner Starrheit und Grausamkeit, in die taciteisdie Germania, ferner, soweit es sich um das phantasieentsprungene und triebhafte Denken handelte, in die Kinderseele, sodann audi, durch alles das schon aufmerksam gemacht, der Blick auf Gehaben und Sitten seiner eigenen Landsleute aus den unteren Ständen und schließlich ein noch spärliches, aber glücklich benutztes Wissen von der seelischen Beschaffenheit der amerikanischen Naturvölker - das waren die Quellen, die er miteinander genial kombinierte, aus denen er die Einsicht schöpfte, daß der Mensch einmal ganz, ganz anders gewesen sein müsse, als die Schulweisheit der späteren Dichter und Philosophen und noch der modernen großen Naturrechtslehrer ihn sich denke. Denn diese waren über schematische, am Normalmenschen orientierte Vorstellungen von dem der Staatenbildung vorausgehenden Naturzustand der Menschheit nicht hinausgekommen1. Damit war die aus der Antike stammende naturrechtliche Auffassung von der Gleichartigkeit der menschlichen Natur an entscheidendster Stelle durchbrochen. Man möchte vermuten, daß erst von hier aus ihm der Antrieb kam, den überlieferten christlichen Vorsehungsgedanken neu zu durchdenken und ihm die oben gezeigte Wendung zu geben. Denn auf göttlichen Willen mußte es irgendwie zurückgeführt werden, daß der Mensch einmal so ganz anders war wie heute und daß aus ihm der moderne Mensch werden konnte, ohne es werden zu wollen infolge seiner blinden und doch tatsächlich schöpferischen Unvernunft. Die Bahn war nun frei für den Gedanken einer geschichtlichen Entwicklung, wie er so streng und folgerichtig noch niemals gedacht worden war. Aber bevor wir ihn in seinem Wesen und seinen Schranken würdigen können, muß der Blick noch rasch 1 Vgl. Jellinek. Adam in der Staatslehre (Ausgew. Schriften und Reden 2, 40). »Der Urmensch des Naturredits hat aber audi eine vollkommen entwickelte Vernunft.«

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auf einige besondere Auswirkungen der neuen Generalentdekkung fallen. Er war stolz darauf, durch sie den Zugang zum wahren Homer gefunden zu haben. Man hatte ihn nadi Vorstellungen, die schon in der Antike aufgekommen waren, übertüncht zum Lehrer geheimer Weisheit und Schöpfer griechischer Sitten und Zivilisation. Er entfernte diese Tünche, sah ihn als poetisch erhabenes Spiegelbild einer großartigen Barbarei, sah auch nicht ihn personalistisch, sondern ein ganzes Volk, insofern dieses singend seine Geschichte erzählte, als den eigentlichen Schöpfer an. Durch und durch poetisch, phantasieentsprungen war alles Denken und Sprechen des Urmenschen. Die Mythen waren für ihn nichts anderes als poetische Geschichtserzählung durch phantastische Gattungsbegriffe, verständlich aus der enormen Phantasie der Menschen, so daß zum Beispiel Herkules zwar nicht als wirkliche Persönlichkeit, aber »als heroischer Charakter von Gründern der Völker unter dem Gesichtspunkt der Anstrengungen« wirkliches geschichtliches Leben ihm spiegelte. Mythen und Sprachen, die echtesten Überreste jener Zeit, wurden ihm zur eigentlichen Quelle ihrer geschichtlichen Erkenntnis, und die durch die Vorurteile ihrer eigenen Zeit entstellten Berichte der späteren Geschichtsschreiber und Philosophen verloren ihren Wert. Wie wildphantastisch er nun auch die Mythen oft deuten und damit selbst dem Geist dieser Zeit anheimfallen mochte, so war das doch eine psychologisch schier notwendige Begleiterscheinung seiner entdeckerischen Visionen. Heraus aus den trügerischen Kategorien unseres eigenen reflektierenden blassen Zeitdenkens, hinein in das Grauen der Urwelt, wie es wirklich war, sich zu stürzen, war seine fast dämonisch zu nennende Leidenschaft. Audi nicht die geringste Spur romantischer Sehnsucht oder Idealisierung, wie sie im Laufe des sentimental werdenden Jahrhunderts noch oft auf Urzeiten und Naturmenschen sich richten sollte, ist bei ihm zu entdecken, denn die Bewunderung ihrer schöpferischen poetischen Kraft war immer mit Schrecken vor ihrer Unmenschlichkeit gepaart. Da wirkte nodi eher die Empfindungsweise exaltierter Barockmenschen nach, denn mit einem ähnlichen widerspruchsvollen und genießerischen Gemisch von Bewunderung und Abscheu hatte ein Jahrhundert zuvor Boccalini in die Abgründe der Staatsräson geblickt. Aber der ideale Wunsch des späteren Ranke, sein Selbst auszulöschen, um ganz die überwäl-

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tigende Macht geschichtlicher Phänomene in sich aufzunehmen, wurde in gewisser Weise von Vico schon erfüllt. Der Sinn f ü r das echt und wahrhaft Altertümliche gab auch der römischen Geschichte, insbesondere den von ihm intensiv durchdachten Rechtsaltertümern, etwas von ihrer Urfarbe zurück. Er erkannte die eigentümliche Verbindung von formalistischer Starrheit poetisch-sinnlicher Kraft, die dem primitiven Rechte eigen ist, die staatsumbildende Bedeutung des Klassenkampfes zwischen Patriziern und Plebejern und damit des Klassenkampfes überhaupt 1 , das Ineinander von Kontinuität und Wandlung in der Geschichte der Verfassung und Institutionen, und er erriet, immer dabei untermischt mit Massen gewagter Einfälle, dynamisch wirkende, aus den natürlichen gesellschaftlichen Interessen fließende Ursachen. Bedeutend war dabei hier wie anderwärts sein Sinn für die Schichtungen, für das Hineinragen alter Verfassungsreste und Sitten in spätere Zeiten, für das, was man die survivals später nannte, die dem Historiker den Dienst von Leitfossilien tun. Sie gleichen, wie er in einem großartigen, wiederholt gebrauchten Bilde sagte, dem Süßwasser, das die reißenden Ströme durch die Gewalt ihres Laufes nodi weit hinein ins Meer tragen. Vico sah nichts in statischer Ruhe, alles als geworden und weiter werdend an. »Die Natur der Dinge ist nichts anderes, als ihr Entstehen (nascimento) zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Umständen.« Aber wir nähern uns nun den Schranken seines Entwicklungsgedankens, wenn wir bemerken, daß in seinem neu gewonnenen Bilde römischer Staats- und Volksentwicklung weder führende Persönlichkeiten noch auswärtige Kriege und Machtkämpfe eine wesentliche Rolle spielen. Man hat mit Recht bei ihm von einer jähen Pendelschwingung zum Kollektivismus hin gesprochen (Peters S. 19). Wohl überwand er damit den personalistischen Pragmatismus, aber nicht den in diesem nur verkehrt und kurzsichtig sich auswirkenden Instinkt für die Macht der Persönlichkeit in der Geschichte, die auch der allgemeinen Entwicklung, obwohl eingebettet in sie, neue Impulse und Wege zu geben vermag. U n d ebensowenig lassen sich aus dem historischen Entwicklungsgedanken und aus den Schicksalen der Staaten und 1 Hier wirkten vielleicht Madiiavellis Discorsi auf ihn ein. Vgl. Nicolini, La giovinezza di G. Β. Vico S. 107.

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Völker Krieg und Machtpolitik als bestimmmende Faktoren auch f ü r ihr Innenleben, als unberechenbare Faktoren für ihren Aufstieg und Abstieg eliminieren. Die führenden Persönlichkeiten und die Kriege sind es, die den geschiditlidien Abläufen am sichtbarsten den Charakter des Besonderen und Unberechenbaren, in eine allgemeine Gesetzmäßigkeit nicht Hineinzuzwingenden geben. Aber eben auf diese allgemeine Gesetzmäßigkeit, auf die storia ideal eterna, wie er immer wieder sagte, war Vico im Rausche seiner neuen Entdeckungen aus. »Es mußte, es muß, es wird müssen«, war der Prophetenruf einer beinahe dumpfen Begeisterung, den er der vergangenen und der zukünftigen Weltgeschichte zurief. Denn alle Völker sollten, wie wir schon sahen, genau denselben Ablauf ihrer Mentalitäten, Sitten und Verfassungsformen haben, wie er ihn an Rom vor allem exemplifizierte. Notorische Ausnahmen von diesem Schema, wie sie etwa bei den Karthagern und den amerikanischen Urbevölkerungen von ihm bemerkt wurden, erklärte er durch akzidentielle Ursachen. Die Römer aber behandelte er, wie Croce treffend bemerkt, nicht als Römer, sondern als Musterbeispiel der Gattung Volk. Und Weltgeschichte im eigentlichen Sinne darf man bei ihm nicht suchen, denn er ignorierte den weltgeschichtlichen Zusammenhang der Völker unter sich, wie er durch Kriege und Kulturrezeptionen vor allem entsteht, und einer seiner Hauptsätze war es, daß jedes Volk spontan aus sich dieselben Entwicklungsstufen hervorbringe. Er hatte ihn sich erst erarbeitet, denn in einer früheren Schrift (vgl. Croce S. 169) hatte er noch die Römer zu Schülern älterer italienischer und griechischer Völker gemacht. Es war kein reiner Irrtum, denn die Tendenz zu analogen und vergleichbaren Entwicklungsstufen im Aufstiege vom Naturvolk zum Kulturvolk nimmt auch die moderne Forschung an. Überall aber ist auch das Typische mit ganz Individuellem verschmolzen. Vico wollte sich nur für das Typische, nicht f ü r das Individuelle der Völker interessieren. Er sah wohl, daß etwas der Art, durch Klima und anderes verursacht, da war, aber er schob das beiseite, es war ihm nebensächlich. Zwar bevorzugte er Griechen, Römer und die seit dem Untergang der Antike entstandenen abendländischen Völker wohl nicht nur deswegen, weil er von ihnen unvergleichlich mehr wußte als von den grundsätzlich mit umfaßten Völkern des Fernen Ostens

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und der Neuen Welt, sondern audi weil sein Schicksalsgefühl hier unwillkürlich viel stärker, wir dürfen sagen individueller mitpulsierte. Aber die tiefen individuellen Ausprägungen, die jedes Volk sowohl durch seine rassische Zusammensetzung wie durch seine besonderen geschichtlichen Erlebnisse erhält, gingen ihm nicht auf. Mit einem besonderen individuellen »Volksgeist« waren also seine Völker nicht ausgestattet. Die Weltgeschichte wurde zum Bündel gleichartiger Volksentwicklungen, zur reifen Traube, in der jede Beere der anderen zu gleichen scheint. Er lehrte die Entwicklung des Typus Volk, aber nicht die Entwicklung von Individualitäten. Darum blieb sein Entwicklungsgedanke in den Schranken eines bloßen Entfaltungsgedankens. Er war der Vorläufer des modernen Positivismus und Kollektivismus, des Historismus aber nur insofern, als auch dieser die Entwicklung des Typischen mit in sein reicheres und komplizierteres Entwicklungsbild aufnimmt. Deswegen kann als gemeinsames Legat Vicos an Historismus wie Positivismus auch gelten die universale Ausdehnung des geschichtlichen Arbeitsgebietes auf alle Völker des Erdballs und die induktive Forschungsmethode, die er, zwar willkürlich im einzelnen, aber im Prinzip großartig vertrat. Soweit sie nicht induktiv blieb, sondern sich kühnster Deduktionen vermaß - wie etwa der, daß die von ihm gefundenen Gesetze auch für den imaginären Fall der Entstehung anderer Welten gültig sein müßten - , überschritt er freilich metaphysisch sowohl die Schranken des Historismus wie des Positivismus. Erst recht gilt dies selbstverständlich von der Eximierung des jüdischen Volkes Gottes, die sein Offenbarungsglaube vornehmen mußte. Das Verhältnis von Typus und Individualität, dieses geheimnisvollste und logisch niemals ganz zu lösende Problem des geschichtlichen Lebens, sollte erst von Goethe einmal tiefer verstanden werden. Die Typen, die wiederkehrenden Lebensformen, die der menschliche Geist in Staat, Gesellschaft, Religion, Wirtschaft, selbst auch in den menschlichen Charakteren in Fülle hervorbringt, nehmen insofern Teil am Wesen der Individualität, als auch sie nur durch Entwicklung sich offenbaren, nicht statisch verharren, sondern sich wandeln, sich steigern oder verfallen. Wer das überlieferte statische Denken des Naturrechts so gewaltig durchbrach und das Werden, Wachstum und den Verfall eines 5

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Typus so tief und intensiv erfaßte wie Vico, zeigte damit auch eine innere Voraussetzung und Fähigkeit zum Verständnis des Individuellen in der Geschichte. Warum hat er sie nidit walten lassen? Croce gab darauf eine geistvolle Antwort (S. 126 f. und 183). Er sieht schon in der merkwürdigen Eximierung der Juden vom allgemeinen Entwicklungsgesetze ein gewolltes Sehen oder Niditsehen, wie man es bei vielen gebildeten und wissenschaftlich erzogenen Gläubigen treffe. Und Vico hätte, wenn er in das individuelle Sonderleben der Völker einzudringen versucht hätte, entweder dem unwissenschaftlichen Beispiel Bossuets folgen und den Finger Gottes auf Schritt und Tritt zeigen oder die Geschichte ganz und gar verweltlichen müssen. Das eine wollte er nicht, das andere durfte er nicht, und so blieb ihm nur übrig, die Tatsachen unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, den seine Philosophie ihm offen ließ, als ewigen Prozeß des Geistes, der nur das Gemeinsame, nicht das Individuelle enthielt. Man könnte vielleicht einwenden, daß die späteren Beispiele Herders und Rankes die Möglichkeit beweisen, den Gedanken der göttlichen Providenz über der Geschichte mit dem vollen Sinne für das Individuelle in ihr zu vereinigen. Aber diese Beispiele entstammen einem veränderten geistigen Klima. Vico dagegen brach aus dem Banne des Naturrechts eben erst heraus und trug die Spuren dieses Durchbruchs auch in seinem Denken. Wir versuchen daher, die Motivierung Croces zu ergänzen. Wir glauben hier an einer Bruchstelle zu stehen, wo nicht nur der Denker und der Gläubige in ihm sich schieden, sondern auch ein in ihm fortlebender Rest naturrechtlich-statischen Denkens in seinem neuen dynamischen Entwicklungsgedanken wirkte. In ihm war noch etwas von dem synthetischen Geiste der großen Systembildner des 17. Jahrhunderts, noch nichts von der Freude der Aufklärer am Analysieren und Zersetzen, die gepaart mit einer unermeßlidien Neugierde für die bunte Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens sich uns auch als eine Vorstufe zu individualisierender Betrachtung erweisen wird. Erst recht fehlte ihm das Element von Subjektivität, von Beschäftigung mit den Bedürfnissen und Rätseln der eigenen Seele, das durch das Bewußtwerden der eigenen Individualität auch einen Zugangsweg zu den Individualitäten der Geschichte später bahnen sollte. Er

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war versunken in die Menschheit als Ganzes, nicht in den Menschen als Individualität. Dies aber war von jeher audi die Position des Naturrechts gewesen, von der er sich eben nur unterschied durch die größere Versunkenheit und Tiefe seines Eindringens in den Gegenstand Menschheit. Ewige, zeitlose und einfache Gesetze für die Menschheit suchte das Naturrecht des 17. Jahrhunderts, und Vico suchte sie auch, nur mit dem gewaltigen Unterschiede, daß er nicht mehr Gesetze des Seins und Beharrens, sondern der Entwicklung auffand. An Stelle des Satzes, das Sein der menschlichen Natur kehrt wieder und ist im Kerne unveränderlich, trat der Satz, der Wandel der menschlichen Natur zu bestimmten allgemeingültigen Formen kehrt wieder und ist im Kerne unabänderlich. Er tat in eine statische Schale einen dynamischen Inhalt. Eines der größten Beispiele für die Kontinuität geistesgeschichtlicher Entwicklung, in der das Überwundene immer irgendwie im Uberwindenden weiterlebt. Ihm selbst aber mochte die Schale nodi wertvoller dünken als der Inhalt. Das von uns gebrauchte Bild von Schale und Inhalt darf aber selbst nicht zu statisch und äußerlich verstanden werden. W i e sich Starrheit und Bewegung aufs wunderbarste in ihm durchdringen, zeigt die kühnste seiner Lehren, die vom ricorso, der dem ersten corso eines Volkes notwendig folgen und wiederum von Barbarei zur Humanität hinüberführen müsse. Der historische Hergang, der ihm dabei vor Augen stand, war der Aufstieg der abendländischen Völker aus dem Abgrunde des gesunkenen Römerreichs und der Völkerwanderungsbarbarei. E r nannte diesen Hergang einen ricorso und beging damit ein Quid pro quo. Denn die neuen abendländischen Völker waren, wie er selbst sogar erkennen ließ, nicht schlechthin identisch mit dem gesunkenen Volke, selbst nicht das italienische Volk. Sie begannen also jetzt, genau gesehen, nur einen corso, nicht einen ricorso. Für die übrigen von ihm behandelten oder gestreiften Völker machte er nicht einmal den Versuch eines Nachweises ihres ricorso. Und doch leitete ihn dabei ein großes Gefühl einmal für die tiefe Zäsur, die zwischen dem Ablauf der Antike und dem Wiederanstieg der abendländischen Kultur lag, und weiter für die trotzdem bestehende weltgeschichtliche Kontinuität zwischen beiden. Waren es auch nicht dieselben Völker, die sich wieder 5»

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erhoben, so taten sie es dodi als Erben der Kulturgüter und Traditionen der Antike. Und mochten seine Konstruktionen im einzelnen noch so wild dabei ausfallen, so war es dodi wieder eine große und fruchtbare Erkenntnis, daß Analogien in der Sozialentwicklung Roms und des mittelalterlichen Abendlandes bestanden, daß es sich hier wie dort um die Entwicklung der Grundherrschaft mit allen ihren Auswirkungen gehandelt habe. Tief gesehen war audi die Beobachtung, daß die Barbarei des ricorso, die aus der sittlichen Zersetzung des reflektierenden Zeitalters der Humanität käme, schlimmer sei als die Urbarbarei des corso. Ganz identisch waren damit nun freilich auch nach ihm corso und ricorso der Völker nicht, wie denn audi weiter durch das Christentum, das im angenommenen ricorso des Abendlandes an die Stelle der heidnischen Religionen trat, ein neuer Charakter in ihn kam, sogar, wenn wir ihn recht verstehen, eine höhere Humanität in ihm erblühte als im corso der Antike. Doch das sind alles Fragen, die Vico selbst nicht bis zu Ende durchdacht hat, wie es denn an Widersprüchen und Unklarheiten hier nicht fehlt und überhaupt über seiner Lehre vom ricorso ein gewisser Schleier liegt. Denn sie war makroskopische Prophetie und ihrem inneren Wesen nach damit auch verschieden von dem durch Induktion und Intuition gewonnenen Verständnis der Urzeiten. Ein großer Zug aber war es nun wieder, daß er sich damit audi über den Gegensatz von Kulturoptimismus und Kulturpessimismus erhob. Es fällt schon auf, wie flüchtig er im Rahmen seiner Epochenlehre das Zeitalter der Humanität, das seiner Aussage nach dodi die Entfaltung der eigentlichen menschlichen Natur bringen sollte, charakterisiert hat. Er lobte es wohl und sah es doch tragisch dem Untergange geweiht wegen der unausrottbaren Schwäche der menschlichen Natur, aber einem Untergange, der durch allerschlimmste Barbarei doch wieder phönixartig zu neuem Aufstiege führen sollte. Als gläubiger Katholik sah er in diesem Rhythmus des Werdens, Vergehens und Wiederneuwerdens das Mittel Gottes, um das menschliche Geschlecht zu erhalten. Der mechanische Gedanke eines bloßen Untergangs, der die Geschichte sinnlos zu machen drohte, wurde so überwunden durch den höheren Gedanken einer unerschöpflichen Regenerationskraft, die der geschichtlichen Menschheit,

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nicht auf das Einzelne, sondern auf das Ganze gesehen, zu eigen ist. »Geburt und Grab, ein ewiges Meer.« Das starre zyklische Schema Vicos konnte der recht verstandene Historismus später nicht mehr gebrauchen. Aber der Rhythmus des »Stirb und werde«, den Vico vernahm, lebte in ihm wieder auf. Wie anders waren nun die Wege, die von Shaftesbury und Leibniz und die von Vico zu ihm hinführten. Jene konnten, neuplatonisches und protestantisches Denken verbindend, der Idee der Individualität sich schon nähern, aber blieben auf dem Wege zum Entwicklungsgedanken im Perfektionsgedanken, der nun weithin noch das 18. Jahrhundert beherrschen sollte, stecken. Vico konnte mit seiner barocken und katholischen Empfindungsweise wohl das geistesgeschichtliche Wunder vollbringen, eine fremdartige Mentalität der Menschheit tief zu verstehen, ohne vom Individualitätsgedanken ergriffen zu sein, aber lehrte nun auch Entwicklung und nicht Individualität, infolgedessen audi Entwicklung, die zur Entfaltung sich verengerte, aber si(h dann audi wieder mächtig vertiefte durch die Idee der Regeneration sowie der Sinnhaftigkeit und des Sonderwertes jeder Entwicklungsstufe. Auch Leibniz streifte, wie wir uns erinnern, durdi die Idee eines unendlichen Progresses, der auch durch eine bevorstehende Revolution nicht gestört, sondern gefördert würde, an die Vicosche Makroskopie. Sein an Gott hängendes Monadenbündel erinnert zugleich wunderlich an Vicos an Gott hängendes Völkerbündel. Das von beiden gehegte Interesse für die Ur- und Frühzeiten der Menschheit sollte sich auch weiter, wie wir nun sehen werden, im 18. Jahrhundert als Impuls zur Umgestaltung des historischen Denkens erweisen. Aber während sich bei Vico dieses Interesse zu einem wirklichen, seelisch erlebenden Sinne für die Urzeiten steigerte, konnte der kühlere Forsdierblick Leibnizens wohl die Wichtigkeit, aber nicht die Tiefe des neuen historischen Gegenstandes gewahren. Dasselbe gilt vielleicht auch von beider Eindringen in die Sprachen als Ausdruck und Quelle geschichtlichen Lebens. Alles ist bei Vico gefühlter, seelisch durchdrungener und zugleich innerlicher verschmolzen mit dem Gesamtleben des menschlichen Geistes. *

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Um Vicos große Leistung, den Geist der Urzeiten zu erschließen und Entwicklungsgesetze von ihm aus zu erraten, in das redite Licht zu setzen, kann man noch ein anderes zeitgenössisches Gegenstück zur Vergleichung heranziehen. Ein Jahr vor dem Erscheinen seiner ersten Scienza veröffentlichte der Jesuit Lafitau sein großes Werk Mœurs Sauvages Amériquains comparées aux mœurs des premiers temps (2 Bde., Paris 1724). Da wurde nun aus unmittelbarster Kenntnis der amerikanischen Naturvölker heraus der Versuch gemacht, ihre religiösen Vorstellungen, Sitten und Einrichtungen mit den Nachrichten der antiken Autoren über die Urzustände der Bevölkerungen von Griechenland und Kleinasien zu vergleichen. Er hatte fünf Jahre als Missionar unter den Irokesen und Huronen Kanadas gelebt und durch eine auf alles aufmerksame Beobachtung die Überzeugung gewonnen, daß ihr Kulturniveau keineswegs so gering sei, wie in Europa weithin geglaubt wurde. Die Ähnlichkeit mit vielem, was von Herodot an über die Barbaren Thraziens und Kleinasiens und über uralte Sitten überhaupt und auch in der Bibel schon erzählt war, fiel ihm auf. Und vor allem schien ihm die Religion der Indianer, so verderbt sie auch war, Spuren eines einstigen reineren Gottesglaubens zu enthalten. Schon vor ihm hatte man sich oft den Kopf zerbrochen über die Herkunft der amerikanischen Ureinwohner. Am wahrscheinlichsten erschien ihm ihre Herüberwanderung aus Nordostasien, die bald nach der Sintflut nach und nach erfolgt sein müsse. Sein Wissenseifer und sein religiöser Eifer verschmolzen sich in der kühnen Hypothese, daß die Indianer Blutsverwandte der einst in Griechenland vor den Hellenen sitzenden und Kleinasien besiedelnden Barbaren seien und die Reste eines reineren Gottesglaubens als Erbteil der einstigen Uroffenbarung Gottes an die ersten Menschen besäßen. Damit glaubte er den Atheismus entwaffnen zu können. Das berührt zunächst nur als eine jener verwegenen Stammbaumhypothesen, durch die die Antiquare des 17. Jahrhunderts nach oberflächlichen Merkmalen oft ganz entfernte Völker miteinander verknüpften; selbst ein Grotius hatte gewagt, die Indianer Yukatans von den christlichen Abessiniern abzuleiten (Lafitau 1, 412). Aber Lafitau überragte seine Vorgänger sowohl durch ein sehr genaues und noch heute schätzbares Wissen von den wirklichen Zuständen und Denkweisen der Naturvölker wie

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durch einen scharfen Blick für das Institutionelle der Völker überhaupt. Er ist vielleicht der erste gewesen, der die weite Verbreitung des Mutterredits - ginécocratie von ihm genannt - in allen bekannten Erdteilen, bis nach Afrika und nodi im Erbrecht der heutigen Basken spürbar, entdeckt hat. Darauf gründete er sogar eine vorsichtig gewagte Lieblingsvermutung, daß nämlich seine Irokesen und Huronen mit den Völkern Lykiens zusammenhingen. Den Wagemut für kühne Einfalle teilte also Lafitau mit Vico. Aber Vico entdeckte mit genialer Intuition wirkliche Entwicklung und analoge Entwicklungstendenzen in allen Völkern, während Lafitau sich die Ähnlichkeiten primitiver Kulturstufen nur durch das mechanische und auf biblizistischer Konvention beruhende Mittel der Stammbaumhypothesen zu erklären vermochte und nicht Entwicklung, sondern nur Tradition mit Entartungsvorgängen vor Augen sah. Die Denkbilder, Sitten und Einrichtungen der Primitiven beschrieb er als kluger, intellektuell geschulter, sogar human verstehender und billig abwägender Beobachter - während Vico mit innerer seelischer Erschütterung die dunkle Nacht der Primitiven nacherlebte und mit schöpferischer Phantasie Seelenleben und Institutionen miteinander verknüpfte. In einem großen und fruchtbaren Grundgedanken aber trafen sie sich, daß nämlich die Religion das mächtigste, alles übrige Leben durchdringende und mitgestaltende Ferment im Leben der Urvölker sei. La Religion influait autrefois dans tout ce que faisoient les hommes, sagte Lafitau (1,453). Man findet bei ihm sogar schon den Versuch zu einer vergleichenden Religionsgeschichte, die freilich nach seinen dogmatischen Voraussetzungen wieder nur auf Tradition und Entartung und nach der auch ihm anhaftenden naturrechtlichen Denkweise auf den sich immer gleichbleibenden guten und schlechten Eigenschaften der menschlichen Natur beruhte (vgl. 1, 484). Sein Versuch, den Atheismus zu entwaffnen durch den Nachweis der allverbreiteten Spuren göttlicher Uroffenbarung, war zweischneidig. Denn die Naturalisten und Deisten des 18. Jahrhunderts konnten ihn ohne Mühe umdeuten in den Nachweis einer überall in Spuren vorhandenen natürlichen Religion. Aber noch viel größere Dienste leistete sein oft benutztes Werk dem aufsteigenden Bedürfnisse des Jahrhunderts nach genauerer Kenntnis der Menschheit, wie sie von Natur einst war, ja nach

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innerer Fühlung mit ihr. Lafitau malte nicht, wie später Rousseau, ein verlorenes Paradies etwa vor, dazu war er zu nüchtern und sachlich. Aber der Naturmensch stieg durch ihn in der Achtung und erschien im Besitz eigentümlicher Tugenden, die durdi die Humanisierung Europas geschwächt waren (2, 281). Und die Lust am Vergleichen der Völkercharaktere und menschlichen Einrichtungen wurde aus dem primitiven Stadium regelloser Einfalle, trotz aller Residuen aus diesem auf die höhere Notwendigkeit, ein breites empirisches Material dafür erst zu gewinnen, durch ihn verwiesen. So hat das Buch des Jesuiten sowohl der Aufklärungshistorie wie dem kommenden Historismus gedient. Es bedurfte nur einer Durchschmelzung mit Phantasie und Empfindung, und das von ihm gezeichnete Bild gewann sofort an Leuchtkraft. Herder hat das Buch geschätzt und als ein »Kompendium der Ethik und Poetik der Wilden« bezeichnet (Werke 9, 542; vgl. auch 5, 167). Denn hier fand er beglaubigtes Wissen über Naturzustände von Völkern, hier fand er insbesondere den intensiv religiösen Charakter und die hinreißende Macht der Gesänge und Tänze der Wilden verstanden und dargestellt. Verführerisch konnte dabei auf ihn auch der Lafitausche Gedanke einer durch alle Völker in Spuren verbreiteten Uroffenbarung wirken. So kann in gewisser Weise Lafitau als schwächerer, aber gar nicht unerheblicher Ersatz für das gelten, was der unbekannt bleibende Vico dem 18. Jahrhundert hätte werden können. Die viervon uns vornehmlich behandelten Denker des frühen 18. Jahrhunderts - Shaftesbury, Leibniz, Arnold und Vico - aber repräsentieren zusammen bereits die Grundelemente, auf denen sich der kommende Historismus aufbauen sollte: Neuplatonismus, Pietismus und Protestantismus, neues ästhetisches Empfinden, neues vertieftes Bedürfnis nach Kontakt mit der ursprünglichen Menschheit und hinter allem der Flügelschlag eines neuen Seelenlebens. Es bedeutete nun keinen Umweg, sondern eine innere Bereicherung des Entwicklungsweges durch fruchtbare Spannungen, wenn das historische Denken des Jahrhunderts zunächst mit den andersgearteten Mitteln der Aufklärung die geschichtliche Welt für das Leben neu zu erobern unternahm.

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W a s die Aufklärungsbewegung für die Geschichte zu leisten vermochte, das gipfelt zum ersten Male in Voltaire. Man mag den wissenschaftlichen W e r t von Humes, Robertsons und Gibbons Leistungen in mancher Hinsicht vielleicht höher stellen als die Voltaires. Aber keine steht so breit und sichtbar und vor allem so wirksam innerhalb der Gesamtentwicklung des historischen Denkens wie die Voltaires. E r galt schon den Zeitgenossen als der Eröffner einer neuen Bahn, als sein um 1740 begonnener Essai sur les mœurs et l'esprit des nations an das Licht trat (in Bruchstücken schon 1745 und 1750, dann 1753/54, 1756. 1769). U n d bot er hier eine Universalgeschichte von den Zeiten Karls des Großen, summarisch (seit 1756) sogar von den Anfängen menschlicher Kultur überhaupt an, die neue Horizonte ersdiloß, so zeigte er in dem Siècle de Louis XIV (1735 begonnen, die beiden ersten Kapitel 1739, als Ganzes 1751, in letzter Redaktion 1766 erschienen), wie man audi einen zeitlich begrenzten Abschnitt der Geschichte mit neuen Mitteln formen und mit neuen Inhalten füllen könne 1 . Aber nun entwickelte sich das große und spannende Schauspiel, daß diese neuen Errungenschaften des geschichtlichen Denkens, die er soeben der W e l t geboten hatte, kurz 1 Auf diese beiden Werke darf sich unsere Analyse in der Hauptsache beschränken, da sie alles Wesentliche und wirksam Gewordene der V.'sdien Geschichtsauffassung enthalten. Zur Textgesdudite und Quellenbenutzung vgl. die Ausgabe des Siècle von E. Bourgeois; G. Lanson, Volt.; desselben Notes sur le siècle de L. XIV. in Mélanges. Ch. Andler 1924 und Voltaire, Œuvres inédites p. p. F. Caussy 1.1914. — Daß von Bolingbrokes Letters on the study and use of History 1735, wie zuweilen behauptet wird, ein wesentlicher Einfluß auf V. ausgegangen sei, kann idi nicht finden. Bolingbrokes Absicht ging in erster Linie auf die Erziehung aufgeklärter Politiker. Ober die Unterschiede V.'sdier und Bolingbrokesdier Gesdiiditsbehandlung vgl. W. Ludwig, Lord Bolingbroke und die Aufklärung (1928) S.35f.

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darauf im Nadibarlande Deutschland überboten wurden durdi noch viel einschneidendere Ideen. In demselben Jahre 1769, in dem der Voltairesche Essai seine endgültige Gestalt und Zusammensetzung erhielt, trug Herder in das Tagebuch seiner Reise nach Riga die neuen umwälzenden Gedanken ein, die in der Sturm- und Drangbewegung dann ausbradien, auf das gesamte geistige Leben, Dichtung, Kunst und Philosophie voran, als Sauerteig wirken und nicht in letzter Linie nun audi das geschichtliche Denken umgestalten sollten. Die Aufklärung wich zurüdc, der Tag des Historismus brach an. Aber gerade in Herders Geschichtsauffassung, so schroff sie sich auch vielfach von der Aufklärung abkehrte, lebten audi Voltairesdie Anregungen weiter. Das immer wiederkehrende und unerschöpflich anziehende Problem, wie zwischen geistigen Bewegungen, die sich bekämpfen und einander in der Herrschaft ablösen, dodi eine innere Kontinuität bestehen kann, erhebt sich wieder. Und nicht nur nach vorwärts, sondern auch nach rückwärts muß der Blick dabei fallen, um Voltaires geschichtliche Leistung ganz zu begreifen, denn wie die gesamte Aufklärung, so war auch Voltaires Geschichtsschreibung von älterem Gedankengute befruchtet. Als eigenartiges, originelles Gebilde und als Welle im Strome zugleich muß sie verstanden werden. Und das Eigene und Neue an ihr hängt in der Tat untrennbar zusammen mit der geschichtlichen Situation, die der Fluß der Dinge in Frankreich und Westeuropa hervorgebracht hatte. Sie kann das Verdienst in Anspruch nehmen, der klarste geistige Spiegel dieser Situation zu sein. Die politischen, sozialen und geistigen Faktoren der Zeit treten in ihr mit jener abgezirkelten Bestimmtheit, die diese Zeit liebte, auf, und eine unvergleichlich stählerne und dodi dabei immer federnde Mentalität vermochte mit souveräner Sicherheit das gesamte Geschichtsbild ihren Maßstäben zu unterwerfen. Nodi niemals hatte es eine Gegenwart gegeben, die mit so autonomer Gesinnung, mit solchem Selbstvertrauen auf die Vergangenheit zurückschaute. Drei Momente treten hier hervor, die die geschichtliche Situation und die durch sie bestimmten Leitgedanken Voltaires charakterisieren. Das erste und wohl wichtigste war das neue Glücksgefühl am diesseitigen Leben, das in der französischen Bourgeoisie erwacht war und in den Jahrzehnten nach dem Spanischen

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Erbfolgekriege rasch anwuchs. Wohl regte sich zugleich eine gewaltige politische Unzufriedenheit, ein Mißbehagen am Absolutismus und an den Blutopfern der Kriege, die er gefordert hatte. Aber Ludwig XIV. hinterließ auch ein Erbteil von Ruhm und gesteigertem nationalen Selbstgefühl. Und dies wurde vielleicht nodi lebhafter empfunden als das Erbteil der finanziellen Zerrüttung, unter der der Staat mehr als der bürgerliche Privatmann litt. Die wirtschaftlichen Krisen der Regentschaftszeit bedeuteten mehr ein Symptom als eine wesentliche Hemmung des bürgerlichen Dranges, rasch reich zu werden. Sie waren aus überseeisdien Unternehmungen entstanden. Durch eben diese erweiterte sidi audi das geistige Gesichtsfeld, wurde hinter dem materiellen Interesse audi die Neugierde rege. Wohlstand und Reichtum aber wurden in erster Linie als Mittel benutzt zur Verfeinerung der Lebensführung. Kaufmännisches Redinen und Spekulieren war wohl schon reichlich da, aber nodi nicht von dem absorbierenden und atemlosen Geiste des modernen Kapitalismus ergriffen. Der geist- und geschmackvolle Genuß des durch oft nicht einwandfreie Mittel Gewonnenen war - man denke an Voltaires eigene Praxis - die Hauptsache. Die Blüte des Genusses aber war die Geselligkeit, der Salon, das Theater, die Frau, mit allen den glitzernden und üppigen Abenteuern, die man aus Voltaires Jugendgeschichte zur Genüge kennt. Von der liberté de table sagt Voltaire selbst einmal, daß sie in Frankreich als die kostbarste Freiheit, die man auf Erden genießen könne (L'Ingénu c. 19), gelte. Das also sind die douceurs de la vie, die douceurs de la société, fließend aus der art de vivre, der culture de l'esprit, von denen Voltaire immer wieder mit persönlichstem Behagen spricht. Paris übertrifft heute darin, so urteilte er, Rom und Athen in ihrer Glanzzeit. Warum, fragte er im Essai (c. 50), haben die Orientalen nicht den guten Geschmack? Weil sie niemals in Gesellschaft mit den Frauen lebten und nicht dieselben Gelegenheiten, den Geist zu bilden, hatten wie die Griechen und Römer — der Essai ist ursprünglich konzipiert worden, um das Bedürfnis seiner Freundin, der Marquise du Ghatelet, mit der er in Cirey lebte, zu befriedigen. Es war nicht etwa geschichtlicher Wissensdrang schlechthin, der die geistreiche Frau zu dem Wunsche veranlaßte, über die Weltgeschichte seit Karl dem Großen ein ähnlich instruktives Buch zu haben, wie es Bossuets Abriß

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der Universalgeschichte bis zu Karl dem Großen war. Sondern sie wollte den geschichtlichen Stoff nur in einer bestimmten Auswahl und Aufmachung sich gefallen lassen, um den »Degoüt«, den sie bis dahin an der modernen Geschichte gehabt hatte, überwinden zu können. Voltaire faßte ihre Wünsdie dahin zusammen1, daß sie die Geschichte als Philosophie lesen wolle, daß sie nicht alles, was geschehen, sondern nur nützliche Wahrheiten aus ihr lernen, einen Generalbegriff von den Völkern, die die Erde bewohnt und verwüstet hätten, gewinnen und Geist, Sitten und Gebräuche der Hauptnationen kennenlernen wolle, gestützt durch die Tatsachen, die man unbedingt wissen müsse. Wissen müsse man die großen Handlungen der Herrscher, die ihre Völker besserund glücklicher gemacht hätten. Nicht zu wissen brauche man das Detail der vielen Macht- und Interessenkämpfe, die heute keine Bedeutung mehr hätten. Also als Philosoph wollte er die Geschichte lesen, »Philosophie der Geschichte« bieten — er hat dieses Wort zuerst geprägt und die nachträglich entstandene Einleitung zum Essai unter diesem Titel 1756 zuerst in die Welt gehen lassen. Das so glücklich geprägte neue Wort wurde die Keimzelle neuer geistiger Gebilde, von denen Voltaire noch nichts ahnte, eine Aufforderung an die Zukunft, es mit Inhalten zu füllen, die er nie verstanden hätte. Die Geschichtsphilosophie des Aufklärers wollte nicht so hoch steigen, wie der wirkliche Philosoph es versuchen würde, aber auch nicht so tief ins Stoffliche versinken, wie es der bisherige Geschichtsbetrieb tat. Sie wollte durchaus lebensnahe bleiben, um das Leben praktisch meistern zu können. Philosophie der Geschichte bedeutete also für ihn nichts anderes als Herausholung »nützlicher Wahrheiten« aus der Geschidite. Vergleicht man sein Programm mit der Ausführung in den beiden Werken und fragt man nach dem letzten kernhaften, naiv erlebten Interesse, das ihm zugrunde liegt, so kann die Antwort nur sein: Er wollte die universale Vorgeschichte der französischen Bourgeoisie schreiben, dieser zivilisierten, verfeinerten, intelligenten, industriellen und komfortablen Menschenklasse, die sein Entzücken war. Mit ihrem Lebens- und Geistesstande verglich er alle historischen Erscheinungen und vermerkte an ihnen, was Introduction bzw. Avant-propos Schlüsse des Essai. 1

des Essai sowie die Remarques

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ihm entsprach und nicht entsprach. Glück, Geist, Sitten und Gebräuche der Völker, die er ergründen wollte, wurden auf diese Waagschale gelegt. Dabei schnellte diese hoch empor zugunsten der eigenen vollkommenen Zustände. Aber audi diese waren nach seinem Urteile noch keineswegs ganz vollkommen, nicht gesidiert gegen die immer noch wirkenden Mächte einer barbarischen Vergangenheit. Alle diese Störungen des Genußlebens empfand er, man möchte fast sagen, wie ein von Gläubigern bedrängter Schwelger, entweder mit Zorn oder, wie etwa in seinem Roman Candide, mit galligem Humor und Resignation. Zur vollen, echten, dabei von persönlichstem Haß geladenen Kampfesstimmung kam es dabei nur gegen den religiös-kirdxlich gestützten Fanatismus und Aberglauben. Gegen ihn zu kämpfen mit dem Schlachtruf écrasez l'infâme wurde, mit den Jahren sich steigernd, Inhalt seines Lebens; es war auch ein besonderer Zweck seiner Geschichtsschreibung. Aber man würde aus ihm allein es noch nicht verstehen, daß er eine so unsägliche Mühe daran setzte, die Barbarei, das Elend und das Unglück der vergangenen Menschheit zu enthüllen. Es war zum Beispiel ein Widerspruch, daß er die verachteten Machtkämpfe der Fürsten, die er eines philosophischen Interesses für unwert erklärte, dann doch wieder, wenn auch mit steten Ausrufen des Widerwillens, mit einer Ausführlichkeit erzählte, die der der herkömmlichen Geschichtserzählungen oft nicht viel nachgab. Aber in dieser Versenkung in die Nachtseiten des geschichtlichen Lebens lag für ihn noch ein eigener feinster Genuß, das Glücksgefühl, einer besseren und vollkommeneren Welt anzugehören. Zu diesem Glücksgefühl trat nun als zweites Moment, das sein geschichtliches Denken bestimmte, hinzu der ungeheure Eindruck, den die naturwissenschaftlichen und mathematischen Entdeckungen des hinter ihm liegenden halben Jahrhunderts, die Gravitationslehre Newtons voran, auf ihn gemacht hatten. Es wäre zuviel gesagt, wollte man seine und die aufklärerische Denkweise allein aus ihnen ableiten. Es gab schon längst, bevor diese Entdeckungen gemacht wurden, ein libertinisdies Denken, eine Auflehnung des sinnlich-naturalistisch empfindenden Menschen gegen die Zwangsjacke des kirchlichen Christentums. Aber nun hatte man triumphierend den Beweis dafür, daß diese Zwangsjacke künstlich ersonnen sei, daß das Weltall ganz anderen Gesetzen

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gehorche als den von der Kirche gelehrten. Es war wie ein plötzlicher Einbilde in die Tiefen des Universums, als man erfuhr, daß die Bewegungen der Himmelskörper im großen nach evidenten mathematischen Gesetzen erfolgten. So mußte es, schloß man, überall sein. »Offenbar ist es«, sagt Voltaire (Art. Idée im Diet, philos.), »daß eine allgemeine Mathematik die ganze Natur dirigiert und alle Produktionen bewirkt.« Die Welt ist eine Maschine, fabriziert von dem »ewigen Geometer«, alles ist notwendige Wirkung ewiger und unveränderlicher Gesetze (Essai, Remarques IX). Eine notwendige Verkettung verknüpft alle Ereignisse des Universums (Essai, c. 124). Es kann keine Ausnahmen von den natürlichen Gesetzen, keine Wunder geben; Gott ist der Sklave seiner eigenen Gesetze. Der Wunderbau des geoffenbarten Christentums fiel damit in sidi zusammen. Er durfte es zwar unter dem Drucke der Machthaber noch nicht wagen, ihn überhaupt zu leugnen oder zu ignorieren, aber rächte sich für die Verbeugungen, die er vor der kirchlichen Lehre ab und an machen zu müssen glaubte, durch die höhnische Ironie und den Funkenregen der Witze, mit denen er sie vollzog. Er fühlte sich aufatmend innerlich erlöst von ihrer Knechtschaft und sah in der Herrschaft der mathematischen Gesetze, unter die er sich dafür begab, die wahre Freiheit. Konsequent unterwarf er ihr audi das moralische Leben. Le physique gouverne toujours le moral·. (Art. Femme im Diet, philos.) Warum war nun aber, muß man weiter fragen, die Annahme einer Gottheit, die über dem Universum thronte, überhaupt nötig, wenn sie doch nur der Sklave ihrer eigenen Gesetze wurde? Warum nicht das Gesetz selbst zum Herrn und Schöpfer aller Dinge machen und so von einem transzendenten zu einem immanenten Weltverständnis von streng medianischer Kausalität übergehen? Warum nicht statt des Deismus ein rücksichtsloser Atheismus? Andere Aufklärer haben diesen Schritt gewagt, Voltaire hat ihn nicht gewagt. Ihn hielt nur die uralte Denkgewohnheit davon ab, die sich ein sinnvolles Ganzes nur als Werk einer 1 Daß dieser strenge Determinismus sich 1740 und 1755 bei ihm entwickelte, zeigt G. Willensfreiheit bei Volt. Jenaer Diss. 1901. lung der französischen Geschichtsauffassung burger Diss. 1932 S. 52

erst in der Zeit zwischen Merten, Das Problem der Vgl. audi Badi, Entwickim 18. Jahrhundert, Frei-

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bewußten Vernunft, eine Maschine, als die man jetzt das Universum ansah, nicht ohne einen fabrizierenden Ingenieur vorstellen konnte. Hier greift vielmehr auch das dritte der sein geschichtliches Denken bestimmenden Momente ein - sein Moralismus1. Spridit man von einem Moralismus Voltaires, so darf man nicht etwa an seine Bewährung im eigenen praktischen Leben zuerst denken - es zeigt bekanntlich eine nackte Triebhaftigkeit, ein oft lächerliches Gemisch von natürlicher Gutmütigkeit, aufwallendem Rechtsgefühl und allerlei Bosheit und schmutziger Skrupellosigkeit. Aber er brauchte ein bestimmtes Quantum von allgemeiner Moral als Fundament der Gesellschaft, als Bürgschaft und Voraussetzung insbesondere jener verfeinerten Gesellschaft, in der er sich glücklich fühlte. Sie zu genießen, war sein höchster Lebenswert. Aber dieser Genuß war, wie er mit kaufmännisch-bürgerlicher Berechnung einsah, nicht gesichert ohne die allgemeine Geltung der einfachsten und natürlichsten Moralgebote, die er auf die beiden Grundgefühle des Mitleids und der Gerechtigkeit zurückführte (Essai, Introd.). In einer noch egoistischer und utilitarischer gefärbten Fassung führte er sie häufig auf die Lehre zurück: »Behandle die anderen, wie du selber behandelt zu werden wünschest.« (Essai, Remarques XVIII; Art. Athée im Diet, philos, u. ö.) Ein späterer, ebenso utilitarisch gerichteter Positivismus hat die Moral aus den natürlichen, dem Leben immanenten Trieben der Selbsterhaltung und Anpassung abgeleitet. Das wäre für Voltaires Empfindung eine zu unsichere und zu schwer verständliche Begründung gewesen. Daß aus immanenten Faktoren des Lebens sich im Laufe der Entwicklung etwas Neues, was in der Natur nicht von vornherein schon vorhanden gewesen wäre, hätte ergeben können, würde er kaum verstanden haben. Sein Denken wurzelte vielmehr in der alten naturrechtlichen Überlieferung, die von einer Entwicklung von Vernunftwahrheiten nichts wußte, sondern ihnen einen zeitlosen und absoluten Charakter zuschrieb. Seine neue mechanische Weltansicht trat hinzu und verlangte, daß auch das Moralgebot etwas von dem Charak1

Über weitere Nuancen und Motive seines Denkens, die ihn mitunter an den Pantheismus heranführten, vgl. Sakmann, V.s Geistesart und Gedankenwelt S. 152 ff. Wir müssen uns hier, wie durchweg, auf diejenigen Teile seiner Gedankenwelt beschränken, die in seiner Gesdiichtsbehandlung wirksam geworden sind.

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ter eines mechanischen Gesetzes erhalten müsse. Das geschah dadurch, daß es als unumgängliche Klammer der Gesellschaft aufgefaßt und als »fundamentales und unveränderliches Gesetz« erklärt wurde. »Es gibt nur Eine Moral, wie es nur Eine Geometrie gibt.« (Diet, philos. Art. Morale.) Aber das genügte noch nicht, um ihm eine höchste Autorität und Würde zu geben. So mußte der christliche Gedanke der Gottheit als Gebers des Sittengesetzes zu Hilfe gerufen werden, was denn sofort wieder mit seinem Gedanken zusammentraf, die ganze Weltveranstaltung auf einen »Autor der Natur« zurückzuführen. Der alte Theismus wurde so durch das neue mechanistische Denken zum Deismus umgestaltet. Aber das treibende Motiv dafür, auf dieser Stufe nun auch stehenzubleiben, war die praktische Unentbehrlichkeit des Gottesgedankens. »Wenn Gott nicht existierte«, heißt es ja in einem berüchtigten Gedichte Voltaires, »so müßte man ihn erfinden1.« Es war der Gott der bürgerlichen Sekurität. Die Institution der Gottheit war nicht die einzige Anleihe, die Voltaire bei dem ihm verhaßten Christentum machen mußte. Er machte sie mit bewußter Berechnung, aber unbewußt und unberechnet stand sein ganzes Welt- und Lebensbild unter der säkularen Tradition nicht nur des naturrechtlichen, sondern auch des christlichen Denkens, war es in gewissem Sinne nur ein umgestülptes Christentum, eine Profantheologie, wie Benedetto Croce gesagt hat1. Voltaire glaubte an die zeitlose raison universelle wie der orthodoxe Christ an das zeitlos gültige Dogma, die Offenbarung einer übernatürlichen Vernunft. Der Kampf zwischen Himmel und Hölle wurde ersetzt durch den Kampf zwischen Vernunft und Unvernunft. Dieser neue dogmatische Dualismus, der sein geschichtliches Denken nun aufs tiefste durchzog, war im Grunde uneinheitlicher als der alte christliche Dualismus. Denn dieser berief sich auf die evidente Beschränktheit aller menschlichen Weisheit und Vernunft und vermochte dadurch ohne logischen Bruch den Glauben an eine übermenschliche Weis1 »Wir haben ihn«, sagt Goethe in der Gesdi. der Farbenlehre (Jubil.-Ausg. 40, 279), »in Verdacht, daß er seinen Deismus überall und so entschieden ausspricht, bloß damit er sidi vom Verdacht des Atheismus reinige.« Goethes Verdacht ging freilich um eine Nuance zu weit. * Zur Theorie und Geschichte der Historiographie S. 204 und 214.

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heit zu wecken. Voltaires Appell dagegen an die unbeschränkte, souveräne menschliche Vernunft mußte aus ihr als erste und sicherste Lehre die Überzeugung von der lückenlosen Gültigkeit des mechanischen Kausalgesetzes entnehmen. Ein streng mechanistisches Denken aber kann nur in einem monistischen, nicht in einem dualistischen Weltbild enden. Nur durch einen logischen Bruch konnte es in ein solches umschlagen. Wir sahen die seelischen Motive, die das bewirkten. Es war also eine innerlich inkohärente, aus zwei wesensverschiedenen Grundmotiven zusammengeleimte Weltanschauung. Die Kluft zwischen Mechanismus und Moralismus konnte notdürftig nur dadurch ausgefüllt werden, daß auch die Moral mechanisiert wurde. Sie ist, so lehrte er immer wieder, zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieselbe, ihr Gesetz kann niemals aus dem menschlichen Herzen herausgerissen werden. Man kann die menschliche Wärme nicht verkennen, mit der er nun überall im geschichtlichen Leben ihre Spuren aufsuchte und nachwies. Aber noch unvergleichlich viel häufiger mußte er ihre Übertretung und Mißhandlung nachweisen. Von allen Gesetzen, bemerkte er, ist es dasjenige, das am schlechtesten ausgeführt wurde. »Aber es erhebt sich immer wieder gegen den, der es überschreitet; es scheint, daß Gott es in den Menschen gelegt habe als Gegengewicht gegen das Gesetz des Stärksten und um das menschliche Geschlecht zu hindern, sich durch Krieg, Schikane und scholastische Theologie auszurotten.« (Essai, Remarques XVIII.) So war nun die geschichtliche Welt ein dualistisches Nebenund Gegeneinander von Vernunft und Unvernunft. Zur Vernunft gehörte nicht nur das stabile und ewige Moralgesetz in der menschlichen Brust, sondern auch die gereinigte Urteilskraft, die zum Wahren, Nützlichen und Schönen hinführte und damit auch alle jene Güter des Lebens schuf, die Voltaires Herz entzückten. Auch sie hat andauernd mit der Macht der Unvernunft zu kämpfen und unter ihr zu leiden, so daß insbesondere die älteren Völker eine Mischung von »äußerster Narrheit und ein wenig Weisheit« darbieten (Essai, Introd.). Und ebenso konnten audi ihre Aussagen über das, was wahr, nützlich und schön sei, zu allen Zeiten immer nur denselben identischen Inhalt haben, vorausgesetzt, daß sie sich wirklich vollkommen reinigte von dem Schmutz der Unvernunft. Vernunft war das wenige kostbare 6 Meinedie, Historiemus

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Gold, Unvernunft die Masse aller übrigen schlechten Erdenstoffe, die Gott dem Menschen mitgegeben hatte und von denen er sich nun schrittweise zu reinigen hatte. Bei dieser Reinigungsarbeit war der Mensch sidi selbst überlassen und hatte von Gott, wie wir hörten, keine unmittelbare Hilfe mehr zu erwarten. Denn die von Gott einmal geschaffene Maschine hatte nunmehr ihren eigenen ungestörten gesetzlidien Ablauf. Warum nun der Ingenieur Gott die Weltmaschinerie derart konstruiert und das menschliche Leben mit soviel Leid und Schlechtigkeit ausgestattet habe, entzieht sich nach Voltaire unserer Kenntnis. Da sein ganzes Philosophieren der seelischen Tiefe entbehrte, endete es hier achselzuckend in einem bequemen Agnostizismus. Wir lassen andere Inkongruenzen und Unsicherheiten seines Denkens über diese Dinge, wie sie namentlich durch den Einfluß des Lockeschen Sensualismus auf ihn verursacht wurden, beiseite. Genug, daß sein mechanisch-moralistisches und rationalistisches Weltbild ihm alle Hilfsmittel und Maßstäbe bot, deren er praktisch bedurfte, um aus seinem Verständnis der geschichtlichen Welt eine Waffe für sein Kulturideal zu schmieden. Die ganze Weltgeschichte nutzbar zu machen für den Dienst der Aufklärung des menschlichen Geschlechts, die Aufklärung zu beweisen aus der Geschichte, wurde der entscheidende Antrieb seiner Geschichtsschreibung. Ein neues, großartiges und epochemachendes Unternehmen. Zwar nicht absolut neu, aber für den damaligen Moment neu. Will man wissen, welche fernen Vorläufer er gehabt hat in dem Versuche, universale Kulturgedanken zu stützen durch ein nach ihnen gedeutetes Bild der Universalgeschichte, so muß man erinnern an die Leistung des spätantiken und mittelalterlichen Christentums für die Konstruktion einer Universalgeschichte, an Eusebius, Augustin, Otto von Freising und alle ihnen Folgenden. Erst durch sie war es überhaupt zu einer einheitlichen, durch eine universale Idee zusammengehaltenen Universalgeschichte gekommen1. Und wie Voltaire das dualistische Prinzip aus der christlichen Gedankenwelt übernahm und säkularisierte, so auch ihr Bedürfnis, es durch die Universalgeschichte zu bestätigen. Bossuet hatte das zuletzt unternommen, und eben von ihm und seinem Discours sur l'histoire universelle von 1681 erhielt ja 1

Vgl. Croce, Zur Theorie und Gesdiichte der Historiographie S. 163.

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Voltaire den Impuls zu seiner Inversion und Säkularisierung des diristlidien Geschichtsbildes. Das Neue daran war also der Inhalt und der für ein Neues werbende Kämpfer- und Eroberergeist des Geschichtsschreibers. Wohl hatte audi die Geschichtsschreibung der Renaissance und des Humanismus, Machiavelli und Guicciardini vor allem, neue geistige Inhalte gebradit, aber es war mit naiver Selbstverständlichkeit, ohne besondere Polemik gegen das Alte, geschehen. Einzelne Ansätze, die weiter gingen und mit Bewußtsein die Geschichte benutzten zur Begründung bestimmter Lebensideale, hatte es wohl audi schon gegeben (etwa Seb. Franck und Gottfr. Arnold), aber sie hatten keine allgemeine Umwälzung verursacht. Voltaires Tat aber, ein neues universales Kulturideal zu stützen durch eine neue Deutung der Universalgeschichte, wurde der Beginn einer neuen Ära des abendländischen Geistes überhaupt. Denn die geschichtliche Welt wurde damit aus der relativen Ruhe, in der sie bis dahin gelegen hatte, herausgerissen und in den Strom der Gegenwart hineingezogen. Sie wurde damit dauernd mobilisiert und aktualisiert. Der Kampf um die Deutung der weltgeschichtlichen Vergangenheit begleitete fortan alle Kämpfe um die Gestaltung der Zukunft, und diese waren ohne jenen nicht mehr zu führen. Voltaires weltgeschichtliches Verdienst also war es, der abendländischen Menschheit die Überzeugung mitzugeben, daß jedes neue große Ideal einer umfassenden geschichtlichen Begründung bedürfe, die Gegner der neuen, die Erhalter der alten Ideale aber erst recht dadurch zu zwingen, sich geschichtlich zu rechtfertigen. In dem mit historischen Mitteln fortan geführten Kampfe der Ideologien miteinander kam nun wohl die historische Wahrheit selber niemals aus der Gefahr heraus, verdunkelt zu werden durch die Tendenzen, denen jene Ideologien entsprangen. Und doch durfte auch sie sidi trösten, bei unabhängigen Geistern eine Stätte für sich zu finden und durch die kritische Auseinandersetzung zwischen den aufeinanderfolgenden Geschichtsdeutungen gefördert zu werden. Voltaire aber hat diese neue Arena des Kampfes um die Weltgeschichte eröffnet. Mag man noch so streng über die Unvollkommenheiten seines geschichtlichen Denkens urteilen, es lag in ihm eine treibende Macht, die durch ihre eigene Dialektik in geistiges Neuland hinüberdrängen mußte.

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In den an sich unvollkommenen Erscheinungen des geschichtlichen Lebens doch audi immer wieder etwas Schöpferisches zu erblicken, ist der Trost und die Rechtfertigung geschichtlichen Denkens überhaupt. Mochte Voltaire selbst durch seine Weltanschauung gehemmt werden, Schöpferisches in der Geschichte zu sehen. Áber man wird Spuren eines lebendigeren Sehens mit Bewegung hier und da entdecken, und man wird vor allem die tatsächlich und objektiv schöpferischen Wirkungen seiner geschichtlichen Arbeit mit Bewunderung feststellen. Das Größte, wozu ihn seine Denkmittel befähigten, war der Aufbau der geschichtlichen Welt nach eigenem durchdachten Plane, war die Souveränität des geschichtlichen Urteils, die völlige Freiheit von der Konvention - jene Höhe seines Geistes, von der Goethe sagte, daß sie nicht Hoheit sei, aber einem Luftballon vergleichbar sich über alles hinwegschwinge (an Frau von Stein 7. Juni 1784). Noch niemals war es, von den vorhin erwähnten Ansätzen abgesehen, mit solcher Bewußtheit und Entschlossenheit versucht worden, Wertvolles und Wertloses in der Masse des geschichtlichen Geschehens zu unterscheiden. Bis dahin waren die Geschichtsschreiber, befangen von einem naiven Realismus, in hohem Grade im Banne des überlieferten Stoffes geblieben, waren genötigt gewesen, breite Massen desselben passiv zu reproduzieren, ohne zu ihm innerlich Stellung zu nehmen. Das galt zumal von denjenigen Stoffen, die der eigenen Gegenwart des Geschichtsschreibers ferner lagen. Je näher das jeweilige Thema zeitlich und sachlich seiner eigenen Welt stand, um so eher konnte er wohl, wenn er die Kraft dazu hatte, es mit eigenem Geiste durchhauchen. Am weitesten gelangt in der Sichtung eines zeitlich ferner liegenden Stoffes und in der geschmackvollen Gestaltung des für charakteristisch und wichtig Gehaltenen war wohl Bossuet im dritten Teile seines Discours sur l'histoire universelle von 1681, aber er hatte, trotz eines in ihm schon aufsteigenden Sinnes für den kausalen Zusammenhang alles geschichtlichen Geschehens, f ü r das enchaînement

de l'univers

(III c.2),

den

weltgeschichtlichen Stoff schließlich doch beschränkt auf das, was für die Geschicke des Volkes Gottes und der Kirche von Belang war. Diesen Bann des judäozentrischen und christozentrischen Auswahlprinzips durchbrach Voltaire mit bewußtem Elan und erschloß das geschichtliche Gesamtleben der Menschheit dem

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prüfenden und scheidenden Urteile des Geschichtsschreibers. Er erzeugte den Mut in ihr, allenthalben Baumeister zu sein, den historischen Kosmos nach eigenen Plänen zu gestalten. Wohl war das nun ein, im Großen der geistesgesdiichtlidien Entwicklung gesehen, gewissermaßen verfrühter Einbruch der Subjektivität in ein Gebiet, über das bisher nur jener naive Realismus geherrscht hatte. Man war der Meinung gewesen, daß der Historiker, wofern er sich nur von Leidenschaft und Neigung frei zu halten verstünde und die Wahrheit liebe, zum glatten Spiegel der historischen Wahrheit und Wirklichkeit werden könne. Man wußte noch nicht, daß die historische Wahrheit nicht etwas von vornherein Gegebenes und nur von seinen zufälligen Hüllen zu Befreiendes sei, sondern erst geschaffen werden müsse in immer neuen Anläufen des forschenden Geistes, dessen Subjektivität dabei ebenso oft Kraftquelle wie Hemmung des Erkennens sein könne. Die Erkenntnis dieses komplizierten Hergangs wurde erst durch den Kritizismus Kants, wenn auch nicht gleich gewonnen, so doch ermöglicht und angebahnt 1 . In Voltaire aber trat die Subjektivität nodi ohne das Bewußtsein ihrer Schranken und Fehlerquellen und mit dem naiven Glauben, das Organ einer allgemeingültigen und unfehlbaren Vernunft zu sein, an die Aufgabe heran, die geschichtliche Welt nach ihrem Bedürfnis zu formen. So war sie nun wohl zu großen Entdeckungen, aber auch zu schweren Mißgriffen imstande. Alle drei Momente seines geschichtlichen Denkens, Mechanismus, Moralismus und zivilisatorisches Glücksgefühl, wirkten dabei immer zusammen. Ihnen zusammen ist die universale Ausweitung des geschichtlichen Interesses und Horizontes zu danken, die einen weiteren großen Ruhmestitel der Voltaireschen Geschichtsschreibung bildet. Das mechanistische Denken war dabei gewissermaßen der Pionier, der die erste grobe Arbeit verrichtete. Es drängte durch seine eigene Schwerkraft ohne weiteres zur universalen Einbeziehung aller Zeiten und Völker, alles dessen, was Menschenantlitz trug, in das, was er, Bossuet fortsetzend und überbietend, die »notwendige Verkettung aller Ereignisse des Universums« nannte. Es zertrümmerte ebenfalls ohne weiteres alle christlich-dogmatischen Bestandteile des bisherigen 1 Vgl. Unger, Zur Entwicklung des Problems der Objektivität bis Hegel, in »Aufsätze zur Prinzipienlehre und Literaturgeschichte« 1929.

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Geschichtsbildes und insbesondere die Schranke, die dadurch zwischen den christlichen und nichtchristlichen Völkern aufgerichtet war, säkularisierte also die gesamte Geschichte. Alles lag nun auf gleicher Ebene, war des gleichen Interesses würdig und der gleichen Kritik zugänglich. Gerade an dieser Kritik hatte es Bossuet völlig mangeln lassen. W i e flach und voreilig auch diese Kritik oft gehandhabt wurde, so war es doch von ungeheurer Folgewirkung, daß überhaupt einmal eine universal anwendbare kritische Methode geübt wurde. Die evidenten Mängel dieser Methode mußten dann dazu drängen, sie einmal durch bessere und feinere Erkenntnismittel zu ersetzen. Es war Sachkritik in sehr summarischem Verfahren, was er so trieb, gestützt auf das, was ihm nach medianischem Naturgesetz und mechanisch interpretierter Lebenserfahrung möglich oder wahrscheinlich dünkte. Auch seine vielen quellenkritischen Ansätze waren in der Regel nur sachkritische Räsonnements dieser Art. Insgesamt aber wurde das kritische Bedürfnis nach streng kausalem und zuverlässig begründetem Verständnis geschichtlicher Hergänge mächtig durch ihn angefeuert1. Und insbesondere wurde das kausale Interesse erregt für die Anfänge der menschlichen Kultur, für die Primitiven. Nicht Voltaire allein hat es freilich erregt. W i r sahen es schon bei Leibniz, Vico und Lafitau lebendig werden. Rousseau veröffentlichte 1750 und 1754 seine beiden berühmten Discours, die das Idealbild des bedürfnislosen und unschuldigen Naturmenschen der für naturwidrig erklärten Zivilisation seiner Zeit entgegenhielten. Aber überhaupt und allgemeiner war um die Mitte des Jahrhunderts, in England, wie wir noch hören werden, sogar schon etwas früher, ein neues, nicht mehr nur rein antiquarisches Interesse an Urzeiten und Naturzuständen der Menschheit, und es wurde genährt von zwei grundverschiedenen Hauptmotiven, dem der kausalen Wißbegierde des Aufklärers und dem der gemütlichen Teilnahme. 1 Da es außerhalb unseres Themas liegt, die Entwicklung der kritischen Forschungsmethode im einzelnen zu zeigen, so sei für Voltaire hier verwiesen auf Sakmann, Hist. Zeitschr. 97, 366 ff., Bladc, The Art of History S. 51 ff., und Ritter, Entwicklung der Geschiditswissensdiaft S. 248 ff. Ritter weist mit Recht darauf, daß die vorhergehende und gleichzeitige gelehrte Forschung (Mabillon, Beaufort usw.) ihm darin erheblich überlegen war.

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Wir werden später sehen, zu welchen gewaltigen Umwälzungen im geschichtlichen Denken dieses zweite Motiv noch führen sollte. Aber audi das erste Motiv, das einen Voltaire allein leiten konnte, erwies sich als wissenschaftlich fruchtbar. Er war, so spöttisch er auch die Rousseausdie These aufnahm, dodi mit einem der von ihm (im Discours von 1754) aufgestellten Sätze ganz einverstanden, daß nämlich die zeitlichen Dimensionen für die Urzeiten, mit denen man bisher geredinet hatte, bedeutend gestredet werden müßten, daß man mit Jahrtausenden zu rechnen habe, wo man bisher mit Jahrhunderten ausgekommen war. Modite er, als er die Einleitung zu seinem Essai sdirieb, schon von Rousseau angeregt oder selbständig darauf gekommen sein, jedenfalls erwies sich die neue Vermutung als fruchtbar für die Beurteilung der älteren Kulturen. Was man zum Beispiel von den wissenschaftlichen Leistungen der Chaldäer, von dem frühesten staatlichen Zustande der Chinesen erfahre, deute notwendig auf lange, lange Vorbereitungsstadien. »Die Fortschritte des Geistes sind so langsam, die Illusion der Augen so mächtig, die Unterjochung unter überkommene Ideen so tyrannisch«, daß es undenkbar sei, den Chaldäern nur ein Alter von 1900 Jahren vor unserer Ära zuzuschreiben. Er nahm damit voraus, was erst in jüngster Zeit durch die wunderbaren Ergebnisse der mesopotamisdien und indischen Ausgrabungen in vollem Umfange bestätigt worden ist. Die Nachrichten über das hohe Niveau der Chaldäer, auf die sich Voltaire dabei stützte, waren bedenklich. Aber die methodische Einsicht in die natürlichen Bedingungen und säkularen Voraussetzungen der ersten grundlegenden Kulturleistungen war epochemachend. Die modernen Deszendenztheorien und prähistorischen Forschungen haben diese Langsamkeit der menschlichen Kulturanfänge noch tiefer verstehen gelehrt. Voltaire hat wenigstens das eine schon erkannt und auszusprechen gewagt, daß der Mensch den ersten Rang unter den gesellig lebenden Tieren einnehme und ursprünglich in einem tierähnlidien Zustande gelebt habe. In gesunder Übereinstimmung mit dem Kerne der aristotelischen Lehre vom ζώον πολιτιχόν betonte er die gesellige Urnatur des Menschen und lehnte die Rousseausdie Irrmeinung ab, daß das solitäre Leben der wahre Zustand des nodi durch keine Zivilisation entarteten Menschen gewesen sei.

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Das mechanistische Denken, das zu diesen Erkenntnissen beitrug, war für Voltaire Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Er benutzte es, aber es machte ihn nicht satt. Um rein und streng nur erkennen zu wollen, war er zu sehr Genießer. Redit in der Stimmung des unbefriedigten Genießers konnte er oft genug aus dem mechanischen Charakter alles Geschehens den verärgerten Schluß ziehen, daß der blinde Zufall alles beherrsche. Aber man würde fehlgreifen, in diesem Gedanken das Leitmotiv seiner Geschichtsauffassung zu sehen. Die Geschichte bot ihm mehr als nur sinnloses Walten blinder Kräfte; das Herz ging ihm auf, wo er die Elemente, Ebenbilder und Parallelen seiner Aufklärungskultur in der Welt und damit ihre natürliche Berechtigung universalgeschichtlich nachweisen konnte. Und weil sein moralistisch-zivilisatorisches Kulturideal mit bitterstem Ressentiment gegen dessen christliche Feinde verschmolzen war, so ward es ihm eine Wonne, die bisher verdunkelten Kulturleistungen der heidnischen Welt ans Licht zu ziehen und dafür das auserwählte Volk der Offenbarung, die Juden, in die Klasse der Barbarenvölker zu versetzen und mit Ruten zu streichen. Das konnte ihm bei einseitiger Auswahl alttestamentlicher Zeugnisse, die er wieder und wieder durchwühlte, nicht schwer fallen. Um so begeisterter war sein Interesse an der chinesischen Kultur. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts hatten die Berichte der Jesuiten das Abendland auf sie aufmerken gelehrt, und schon Leibniz hatte sidi tun nähere Kunde über sie brennend bemüht1. Die alte naturreditliche Vorstellung von der Gleichartigkeit der menschlichen Natur mußte in ein neues Stadium treten, als diese fremden außereuropäischen Kulturnationen sich dem Blicke erschlossen. Man mußte sich nun bemühen, unter der fremden Hülle, die man kausalmechanisch aus natürlichen Bedingungen sidi zu erklären vermochte, denselben Menschen wiederzufinden, an den man von jeher geglaubt hatte, damit auch dieselbe natürliche Vernunft bei ihm festzustellen. In China sah nun die Aufklärungsbewegung eines ihrer wirksamsten Beweisstücke. Denn hier gab es seit dem Auftreten des Konfuzius lange vor dem 1 0 . Franke, China als Kulturmadit bzw. Leibniz und China. Zeitschrift der Deutsdien Morgenland. Gesellschaft, Bd. 2 und 7. Reidiwein, China und Europa 1923. W. Engemann, Voltaire und China, Leipziger Diss. 1932.

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Christentum eine klare und schlichte Vernunftreligion und eine hochentwickelte Morallehre, die sich in trefflichen Gesetzen und milden Sitten und Gebräudien ausprägte. Konfuzius, so rühmte Voltaire, empfiehlt nur die Tugend und predigt kein Mysterium. Er sagt, daß Gott selbst die Tugend in das Herz des Menschen gepflanzt hat, daß der Mensdi nicht böse geboren wird, sondern es erst wird durch seinen Fehler (Essai, Introd.). Vor einer gar zu hitzigen Idealisierung dieses Mustervolkes schützte ihn sein kühler kritischer Sinn, den er auch in alle seine Sympathien mit hineinverwob. Einmal sah er audi bei den Chinesen die Tatsache bestätigt, daß das niedere Volk der groben Speise des Aberglaubens bedürfe und daß die aufgeklärte Obrigkeit nicht umhin könne, dem Rechnung zu tragen und abergläubische Sekten zu dulden. Und ferner beschäftigte sein kritisdies Nachdenken die merkwürdige Tatsadie, daß die Chinesen zwar in der Moral, dieser »ersten aller Wissenschaften«, allen anderen Völkern weit voraus gewesen und schon in früher Zeit die Stufe der Vollkommenheit erreicht hätten, dagegen in allen übrigen Kenntnissen, Fertigkeiten, Kunstgeschmadc usw. auf einer zwar ebenfalls früh erreichten, aber unvollkommenen Stufe stehengeblieben seien. Es ging nicht sehr tief, was er zur Erklärung dafür anführte. Das Problem, das eine fremdartige, verhältnismäßig hohe und doch ganz anders aufgebaute Kultur dem aufklärerischen Denken aufgab, konnte von diesem noch nicht gelöst werden, weil es nur mechanisch einzelne Teile und Züge der Kulturen miteinander zu vergleichen vermochte und den dafür ungenügenden Maßstab der eigenen Kultur nie aus der Hand ließ. Und doch konnte auch einen Voltaire schon die Ahnung überkommen, daß man, um fremdartiges Geistesleben zu verstehen, sich völlig in dieses hineinversetzen müsse. Es ist charakteristisch, daß das apologetische Interesse des Aufklärers dazu nötig war, ihn dieser Einsicht zu nähern. Es lag ihm daran, die christlichen Vorwürfe zu widerlegen, die man bald gegen den angeblichen Atheismus, bald gegen die angebliche Idolatrie der von ihm bewunderten RegierungChinas erhoben hatte. »Das große Mißverständnis über die Riten Chinas ist daher gekommen, daß wir über ihre Gebräuche nach den unseren geurteilt haben; denn wir tragen bis ans Ende der Welt die Vorurteile unseres zänkischen Geistes« (Essai c. 2). Wie sehr müssen wir uns, sagt er auch in dem

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Muhamed gewidmeten Kapitel des Essai (c. 6) vor unserer Gewohnheit hüten, alles nach unseren Gebräuchen zu beurteilen 1 . Es ist geistesgeschichtlich wichtig, festzustellen, daß man zur Erkenntnis dieser Hemmungen im Verstehen fremder Individualitäten wohl kommen, und dodi zu ihrem wirklichen Verstehen nicht kommen konnte. Dabei war Voltaire ein Entdecker fremder und sonderbarer Welten und Dinge wie wenige8. Er ließ die Welt des Orients bunt und farbenreich erglänzen und konnte etwa in der Darstellung der seltsamen und anziehenden japanischen Kultur ein künstlerisches Meisterstück liefern, das schon etwas von dem Hauche des echt Individuellen hat (Essai c. 142). Und in der Erzählung der abendländischen Geschichte blieb er oft mit Erstaunen stehen vor Erscheinungen, die die widersprechendsten Züge in sich vereinigten und doch dabei ein sehr wirksames Ensemble bildeten. Da heißt es von der Art der Franzosen zur Zeit der Bartholomäusnacht: »Diese Mischung von Galanterie und von Wut, von Lüsten und von Schlächterei bildet das bizarrste Tableau, in dem die Widersprüche des menschlichen Geistes sich jemals abgemalt haben« (Essai c. 171). Da war ferner aus jüngerer Vergangenheit Frankreichs die Erscheinung der Maintenon mit ihrer »Mischung von Religion und Galanterie, von Würde und Schwäche, die sich so oft in dem menschlichen Herzen findet und auch in dem Ludwigs XIV. war« (Siècle c. 27). Da steht er gefesselt vor dem Bilde des holländischen Lebens, das die Fremden nicht müde wurden, in seiner einzigartigen Mischung zu bewundern, wie man da Meer, Stadt- und Landbilder immer zugleich vor Augen habe (Essai c. 187). »Aber das Übel«, fuhr er fort, »ist immer derart gemischt mit dem Guten, und die Menschen entfernen sich so oft von ihren Prinzipien, daß diese Republik, als sie die Arminianer unterdrückte, nahe daran war, selber die Freiheit zu zerstören, für die sie gekämpft hatte.« Man weiß, wie sehr er England und seine Verfassung bewunderte. Im Vergleich mit dieser, urteilte er (Diet, philos. 1 Vgl. audi Sakmann, Universalgeschichte in V.s Beleuchtung. Zeitschrift f. franz. Sprache und Literatur 30, 3. Derselbe, Voltaires Geistesart und Gedankenwelt S. 106. 2 Man muß, außer an seinen Essai, audi an die vielen historischen Einzelartikel seines Diet, philos, erinnern mit ihrer Fülle merkwürdiger Antiquitäten, die er freilich meist nur ausbreitet, um das Christentum zu entwerten.

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Art. Gouvernement), sei die Republik Piatons nur ein lächerlicher Traum. Und dodi stellte er fest, daß aus dieser wunderbaren Verfassung abscheuliche Mißbräudie geboren seien, die die menschliche Natur schaudern machten. Er meinte die Zeiten Cromwells, wo der absurde Fanatismus in dies große, schöne, aber nur aus Holz gebaute Haus wie ein verzehrendes Feuer eingedrungen sei. Dann aber sei es zur Zeit Wilhelms von Oranien aus Stein neu aufgebaut und werde nun solange dauern, als menschliche Dinge überhaupt dauern könnten. Und nun ist folgendes für seine Denkweise lehrreich: Obgleich er die Vorzüge der englischen Verfassung auf eine besondere und in der insularen Lage begründete »Mischung konträrer Eigenschaften«, man möchte fast schon sagen, individualisierend zurückzuführen vermochte, Schloß er doch nicht nur mit dem Wunsche, daß man sie verpflanzen möchte, sondern audi mit dem Glauben, daß man sie verpflanzen könne. Er stellte sich wohl selber dabei die verfängliche Zwischenfrage, warum denn die Kokosnüsse in Indien reif würden, in Rom es aber nicht dazu brächten. Aber er tröstete sich leichtblütig damit, daß auch in England diese Kokosnüsse einer weisen Gesetzgebung nicht immer gereift und erst seit kurzer Zeit kultiviert worden seien. Und doch konnte er ein andermal wieder ganz im Sinne der späteren positivistischen Milieutheorie sagen: »Alles hängt von der Zeit, dem Orte, wo man geboren ist, und den Umständen, in denen man sich befindet, ab.« (Diet, philos. Art. Gregoire VII.) Mechanismus und Moralismus also stritten in ihm andauernd um den Vorrang in der Deutung der geschichtlichen Erscheinungen. Er aber wußte nicht, daß sie in ihm stritten, und überließ sich mit naiver Sicherheit bald dem einen, bald dem anderen Motive. Das Moralgesetz selbst hatte ja bei ihm den Charakter einer mechanischen Stabilität. Und so lag denn das ganze ungeheure Tableau der Zeiten und Völker mit all seinen seltsamen Mischungen und Varietäten letzten Endes in erstaunlicher Einfachheit und Durchsichtigkeit vor seinen Augen. Die menschliche Natur, gemischt aus verschiedenen Leidenschaften mit einem Quantum von »allgemeiner Vernunft«, war der eine, die Gewohnheit, die er merkwürdigerweise von den Anlagen der menschlichen Natur trennte, der andere Hauptfaktor neben Klima und Boden. »Alles, was intim mit der menschlichen Natur zusammenhängt, gleicht

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sich von einem £nde des Universums zum anderen; alles, was von der Gewohnheit abhängt, ist verschieden, und es ist ein Zufall, wenn es sidi gleicht. Das Reich der Gewohnheit ist sehr viel weiter als das der Natur, es erstreckt sich über die Sitten, über alle Gebräuche, es verbreitet die Varietät über die Szene des Universums. Die Natur (des Mensdien) aber verbreitet darüber die Einheit, sie stellt überall eine kleine Zahl von unveränderlichen Prinzipien a u f . . . , die Natur hat in das menschliche Herz die Leidenschaften gelegt..., die Gewohnheit macht, daß das Übel (das sie anrichten) überall auf eine verschiedene Weise geschieht« (Essai c. 197, vgl. auch c. 143). Montesquieu hatte im Klima die stärkste Ursache für die Differenzierungen des menschlichen Geschlechts gesehen und damit den bedenklichen Abweg beschritten, geschichtliches Leben in erster Linie aus physischen Bedingtheiten verstehen zu wollen. Voltaires leichtere Art wollte sich in so strenge Fesseln der Kausalität nicht schlagen lassen und sah auch von seiner aufklärerischen Kampfesstellung aus andere Faktoren in der Geschichte stärker wirken. »Das Klima«, bemerkte er gegen Montesquieu (Art. Climat im Diet, philos.), »hat einige Macht, aber die Regierung hat sie hundertmal mehr und die Religion, vereint mit der Regierung, noch mehr.« Dies Urteil, daß Staat und Religion die stärksten verursachenden Mächte der Geschichte seien, läßt aufhorchen. Wie es sich in Voltaires Geschichtsauffassung im einzelnen auswirkte, wird noch zu zeigen sein. Bemerken wir jetzt, wo wir uns mit ihrem allgemeinen Charakter beschäftigen, nur das eine, daß es nicht etwa in Widerspruch steht mit seiner eben gehörten Meinung von der alle Varietäten hervorrufenden Macht der Gewohnheit. Denn auch Staat und Religion gehörten für ihn, soweit sie verschiedene Formen in der Geschichte annahmen und nicht dem Normaltypus der reinen Vernunft entsprachen, in das ungeheure Reich der Gewohnheit. Angesichts der unermeßlichen Fülle von Varietäten, die dieses Reich hervorbrachte, konnte auch den Aufklärer schon etwas von dem anwandeln, was man Relativismus nennt und was im entwickelten Historismus zum Respekt vor dem individuellen Eigenleben der historischen Gebilde wird. Der Relativismus der Aufklärung konnte freilich nur äußerlich und kausalmechanisch, nicht innerlich motiviert sein. Ein innerlich begründeter Relativis-

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mus hätte in Widerspruch mit ihrem naturrechtlichen Glauben an unveränderliche und zeitlose Nonnen des Lebens gestanden. Aber ihr ebenso starker universaler Drang, die Menschheit in allen ihren Erscheinungen kennenzulernen, konnte nun audi angesichts ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit schon relativistische Stimmungen hervorrufen. Zweifellos hat die historische Neugierde der Aufklärung den tieferen historischen Relativismus damit vorbereitet. Voltaire kannte in der Hauptsache aber nur den weltmännisch lächelnden Respekt vor den wunderlichen Varietäten des Glaubens und der Sitte. Er sah auf sie überlegen herab, weil er im allgemeinen wenigstens zu wissen glaubte, wie sie zustande gekommen seien. Sie wären für ihn alle berechenbar gewesen als Produkte von teils stabilen, teils veränderlichen Faktoren, vorausgesetzt, daß man alle Daten zur Hand gehabt hätte. Freilich verfügte man nun tatsächlich nach seiner Meinung nur über eine sehr geringe Anzahl solcher zuverlässigen Daten, die uns die ursächliche Verkettung der Dinge aufhellen könnten. Deswegen könne es die Geschichte niemals zu dem Grade mathematischer Gewißheit bringen, der in den Naturwissenschaften möglich sei (Art. Histoire im Diet, philos, und Annales de l'Empire unter Heinrich I.). So blieb denn für einen Historiker wie Voltaire zunächst nur übrig, die Varietäten der Geschichte wie die jeweiligen Wechselbilder eines Kaleidoskops anzusehen, von denen man genau weiß, daß sie mechanisch bedingt sind, ohne doch ihre Verwandlungen im einzelnen errechnen zu können und zu wollen. Das Wort Individuum est ineffabile hätte Voltaire nur in dem Sinne aussprechen können, daß es wohl tatsächlich, aber nicht grundsätzlich unmöglich sei, die Komposition eines Individuums als ein Rechenexempel zu behandeln. Leidenschaften sind Leidenschaften, Laster sind Laster und Vernunft ist Vernunft. Auf dieser sauberen Abzirkelung der einzelnen seelischen Elemente innerhalb ihres von der Natur veranstalteten Zusammenspiels beruhte seine historische Psychologie. Und doch kamen ihm bei seiner unermüdlichen Wanderung durch die Galerie der historischen Charaktere auch Eindrücke, die mit dieser Eindeutigkeit der seelischen Grundkräfte schwer zu vereinigen waren. Da war Calvin, von furchtbarer Härte und Unbarmherzigkeit und doch von größter Selbstlosigkeit (Essai c. 134), da war das Mönchsleben, das »so viel Gutes

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und so viel Schlimmes« zugleich gewirkt hat (Essai c. 139), da waren die Konquistadoren mit so viel Heldenmut und so viel abscheulicher Wildheit - »dieselbe Quelle, nämlich die Habsucht, produzierte so viel Gutes und so viel Schlimmes«. Man ist erstaunt und empört, setzte er hinzu, über diese Mischung von Größe und Grausamkeit (Essai c. 148f.). Etwas tiefer heißt es wohl ein andermal, daß die Fehler der Menschen oft mit Tugenden zusammenhängen (Essai c. 134). Aber über die bloße, bald achselzuckende, bald moralisierende Konstatierung merkwürdiger Zusammenhänge zwischen Gut und Schlecht in den Hintergründen der menschlichen Seele kam er nicht hinaus. »Es gehört zur menschlichen Natur, das Beste und das Schlimmste zu vereinigen« (Essai c. 147). Der irrationale Urgrund der Seele blieb ihm verborgen. Aber Voltaire wäre nicht Voltaire gewesen, wenn er sich immer nur damit begnügt hätte, das Kaleidoskop der Zeiten, Menschen und Völker zu zeigen. Gerade in seinem mechanistischen Denken lag auch der Impuls, über die je nachdem spöttische, empörte, gerührte oder verwunderte Betrachtung der Einzelerscheinungen hinauszukommen und wenigstens größere Stücke jener »ewigen Kette« der Kausalitäten, durch die er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden sah, zu entdecken. Dieser Impuls wäre noch wirksamer gewesen und hätte ihn zur Durchführung eines streng positivistischen Entwicklungsgedankens bringen können, wenn nicht der Genießer in ihm doch noch stärker gewesen wäre als der Erkenner. Aber er war vorhanden und hat es hier und da vermocht, größere ursächliche Zusammenhänge des Geschehens zu finden. Man muß es ihm anrechnen, daß er sich nicht damit begnügt hat, das Mittelalter seinen Zeitgenossen durch grellste Malerei zu verekeln, sondern nach dem kausalen Grundverhältnis gesucht hat, das seine wirren Inhalte durchwaltete. So fand idi, sagt er (Pyrrhonisme de l'histoire c. 25), den »Faden in dem großen Labyrinth« der Zeiten von Karl dem Großen bis zu Karl V. in dem Kampfe um Rom, den Kaiser und Päpste miteinander geführt haben. Er tat damit einen ersten Schritt auf die Bahn zu einem universalgeschichtlidien Verständnis des Mittelalters. Mit Recht rühmt man ihm nach, daß er es einmal auch verstanden habe, die geistigen Wandlungen innerhalb eines Volks-

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turns beinahe sdion modern-historisch zu erfassen. Durch eifrigstes Studium des Alten Testaments fand er die Mittel, die aufeinandergelagerten Sdiiditen der Überlieferung und damit audi die voneinander sehr versdiiedenen Stufen der israelitischen Religion wenigstens im groben zu unterscheiden1. Er stellte sidi audi die fruchtbare Frage nadi der Einwirkung fremder Religionen, der ägyptischen, persischen und griechischen, auf die jüdische - fruchtbar und einseitig anklagend zugleich, denn bei alledem kam es ihm nur darauf an, den Nimbus des auserwählten Volkes gründlich zu zerstören. Von einem inneren Drange, allmähliches Wachsen und Werden zu verstehen, war dabei nodi keine Rede. Sein Bedürfnis war schon erschöpft, wenn er den Gläubigen hohnlachend die entblößten disjecta membra des alten Judentums vorweisen und zeigen konnte, daß diese Glieder niemals den Körper einer einheitlichen göttlichen Offenbarung hätten bilden können. Er zeigte damit, wie eng die Grenze ist, innerhalb deren der Haß mitunter historisch sehen lehrt. Will man den Punkt treffen, wo er dem Entwicklungsgedanken innerlidi am nächsten gekommen ist, so muß man noch einmal an seine Behandlung der ersten Anfänge menschlicher Kultur erinnern. Die große Einsicht, daß die Bildung der Frühkulturen sehr viel längerer Zeiträume bedurft hatte, als man bisher angenommen hatte, wurde j a zunächst von ihm auf mechanistischem und empirischem Wege gewonnen. Es erschien ihm beim Vergleich von Kultur und Barbarei und im Hinblick auf die konstitutiven Schwächen der menschlichen Natur sachlich unmöglich, der naiven Überlieferung zu glauben. Dahinter aber erhob sich sofort die Frage, wie es denn überhaupt aus dem tierähnlichen Zustande der Primitiven zu den ersten Anfängen der Kultur gekommen sei. Da versagte nun die starre Psychologie der Aufklärung, der sonst von ihm so mechanisch durchgeführte Dualismus von Vernunft und Unvernunft im geschichtlichen Leben. Von einer »Vernunft« der Primitiven zu sprechen, erschien ihm unangemessen und gewagt. So griff er zur Analogie des Tier1 Sakmann, V.s Geistesart usw. S. 235 ff. Audi an die versdiiedenen Artikel des Diet, philos, ist wieder zu erinnern, in denen er die Geschichte christlicher Dogmen und Institutionen mit der Tendenz behandelt, die mannigfachen Wandlungen und Widersprüche in ihnen nachzuweisen.

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lebens, erklärte den Instinkt als ersten Führer der Menschheit und definierte den Instinkt als »Arrangement der Organe, deren Spiel sich mit der Zeit entfaltet«. Die Natur, bemerkt er ferner (Essai, Introd.), haucht uns nützlidie Ideen ein, die allen unseren Reflexionen vorausgehen. Es gibt also gewissermaßen eine Vorvernunft. Der Weg wäre frei gewesen für eine Auffassung des geschichtlichen Lebens, die weniger an die bewußte Vernunft und mehr an das denkt, was neben und vor ihr im Menschen sich regt, kurz, die auch auf der irrationalen Seite des Lebens wichtige geschichtliche Triebkräfte entdecken konnte. Der englische Sensualismus und Empirismus sollte mit Hume diesen W e g weitergehen. Man darf annehmen, daß Voltaire auch durdi englische Einflüsse dazu kam, ihn wenigstens zu betreten. Aber er hat es nur tastend getan, um den Urzustand der Menschheit sich verständlich zu machen. Hier konnte er denn auch von einem »Sichentfalten« (se déployer, se développer) derOrgane sprechen. Für alles aber, was der Mensch dann weiter mit Hilfe der bewußt gewordenen reflektierenden Vernunft in der Geschichte geleistet hat und nodi zu leisten hat, tönt fast immer nur das Schlagwort perfection, perfectionner an unser Ohr. Die Moral wird »vervollkommnet« von den Chinesen, die schönen Künste werden, bald mehr die bildenden, bald mehr die redenden, »vervollkommnet« in den vier Höhezeiten der Menschheit, die er bewunderte, der perikleisdi-alexandrinischen, der augusteischen, der medizeischen und der ludovizianisdien. Vervollkommnen aber bedeutete ihm immer, einem bestimmten, unverrückbaren, zeitlosen Ideale nahekommen, das die gereinigte Vernunft des Menschen mit innerer Notwendigkeit aufstellt. Es gibt nur eine sehr einfache, aber universal gültige Moral, es gibt nur einen einzigen guten Geschmack in der Welt, der als Maßstab für die künstlerischen Leistungen aller Völker zu dienen hat 1 . Die Chinesen also, die in der Moral die Zensur l a erhielten, mußten, wie wir schon sahen, in der Kunst sich mit der Note 3 - 4 begnügen. An die Intoleranz und Überheblichkeit seiner ästhetischen Urteile braucht hier nur eben erinnert zu werden, wie 1 Vgl. Diet, philos. Art. Goût. Über die steckengebliebenen Ansätze V.s, die Relativität des Geschmackes anzuerkennen, vgl. Sakmann, V.s Geistesart und Gedankenwelt S. 118 ff., und Merian-Genast, V. und die Entwicklung der Idee der Weltliteratur. Roman. Forsdb. 40, 1.

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er über Shakespeares Barbarei schalt, obwohl er selbst zu ihm einst mit einem Gemisch von ehrlichem Staunen und Widerwilligkeit den Weg gezeigt hatte, wie er Tasso über die Ilias und Ariosts Roland über die Odyssee stellte (Essai c. 121), und unzählige ähnliche Urteile. Denn audi in seine Ästhetik war der Medianismus eingedrungen. Und mechanisch war der ganze Vervollkommnungsgedanke, in dessen Rahmen sich alles bewegte, was über die bloßen kaleidoskopartigen Veränderungen menschlicher Dinge in seinem Geschichtsbilde hinausging. Selbst die Ansätze zu einer biologischen Auffassung der menschlichen Natur, die wir in seiner Lehre von der Vernunft wahrnahmen, trugen einen mechanischen Charakter. Jeder Gattung von Wesen ist, so lehrte er, von der Natur ein Gesetz gegeben, das unveränderlich von ihr ausgeführt wird. Der Vogel baut sein Nest, die Sterne gehen ihre Bahn, der Mensch ist zur Gesellschaft geschaffen, er ist darin perfektibel, aber nur bis zu den Grenzen, die die Natur selbst für seine Perfektion gesetzt hat (Essai, Introd.). Wohl gibt es eherne, unübersteigbare Schranken für den menschlichen Höhendrang. Aber wer dürfte wagen, sie statisch festzulegen? Voltaire aber gab mit dem Maßstab und dem Rechenstift in der Hand an, wo die Ziele und Grenzen der Perfektion jeweilig lagen. Und ebenso fatal war die leidige Zufriedenheit, mit der er die derartig bestimmte Perfektion eines Kulturgebietes als ein noti plus ultra verherrlichte. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß es immer und überall die Kulturideale seiner eigenen Zeit und seines eigenen französischen Milieus waren, in denen er die Grenzen und zugleich Höhen weltgeschichtlicher Perfektion überhaupt sah. Im vergangenen Jahrhundert, so heißt es im Siècle de Louis XIV (c.34), haben die Menschen mehr Licht erworben als in allen vorausgegangenen Zeitaltern. Zuweilen sprach Voltaire, statt von Perfektion, auch von »Fortschritten des menschlichen Geistes«. Aber man würde ihn sehr verkennen, wenn man ihm den optimistischen Fortschrittsglauben zutrauen wollte, den vor ihm schon der Abbé St. Pierre vertreten hatte und den dann die späteren Aufklärer und der gemeineuropäische Liberalismus ausgebildet haben 1 . Es war kein not1

Vgl. darüber das in c. 4 über Turgot und Condorcet Gesagte und Delvaille, Hist, de l'idée de progrès (1910). 7

Meinecke, Historismus

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wendig im Wesen der Geschichte liegender progressus in infinitum im Leibnizsdien Sinn, an den er dabei dachte, sondern nur Annäherung an die Vernunft- und Zivilisationsideale seiner Zeit; es war nur ein anderes Wort für Vervollkommnung. Da die Bestandteile der menschlichen Natur, Vernunft und Unvernunft, nach ihm immer dieselben blieben, so konnte audi der Kampf zwischen ihnen nur eben immer auf und ab wogen und nie zu einem ganz sicheren Endergebnis führen. Auf Zeiten des Fortschritts und der Perfektion können Rückschläge der Barbarei folgen. Audi dieser Gedanke trug bei ihm einen medianischen, nicht evolutionistisdien Charakter. Zum vollen Optimismus und Zukunftsglauben der späteren Aufklärer war Voltaire schon deswegen nidit imstande, weil in ihm das Ende des 17. Jahrhunderts, der nüchterne Wirklichkeitssinn, nodi zu mächtig nachwirkte. Auch hatte sein Aufklärungsideal einen zu egoistischen Zug und war zu eng mit dem Interesse der höheren französischen und europäischen Gesellschaft verflochten, um jene universale Schwungkraft aufbringen zu können, die den späteren Glauben an den siegreichen Fortschritt der Menschheit erzeugte. Skeptischer Realismus und Aufklärungswonne stießen in ihm immer hart aufeinander, ohne einander je zu verdrängen. Gerade aus ihrem Aufeinanderprallen entsprang täglich und stündlich das Funkenfeuer seines Witzes, jener unnachahmliche esprit Voltairien, der selbst der Todesstunde mit Grimassen und Kapriolen entgegensah. In solcher Lebensstimmung war der Genuß des Augenblicks das Höchste. Er steigerte ihn sich, indem er ihn universalgeschiditlidi rechtfertigte. Aber weder reichten die Erfahrungen der Universalgeschichte, noch reichte sein eigenes Gemütsbedürfnis dazu aus, um an eine garantierte Dauer oder gar Steigerung aller Aufklärungsfreuden in fernerer Zukunft glauben zu können. »Die Zeit wird kommen, wo die Wilden Opern haben und wir auf den Indianertanz (dance du calumet) zurückgefallen sind1.« In dieser Atmosphäre konnte wohl mitunter ein resignierendes, aber nicht sehr tiefes Gefühl für die tragische Vergänglichkeit aller menschlichen Kulturwerte, jedoch nicht der Sinn für eine irgendwelche Form des Entwicklungsgedankens sich regen. Welt und Geschichte blieben dabei schließlich doch nur 1

Mélanges littéraires; Delvaille a.a.O. S. 311.

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ein kaleidoskopartiges Hin und Her von hellen und dunklen Bildern 1 . Echte historische Entwicklung kann nie »fertig« sein oder werden, sie strömt weiter und bildet unberechenbar Neues - soweit es die letzten Schranken, die der menschlichen Natur gesetzt sind, erlauben. Die Geschichte kann an ihren Enden nicht mit Brettern vernagelt sein. Voltaire aber wagte es, solche Bretter anzunageln. Gewiß, audi er sah in dem Frankreich seiner Zeit die Perfektion noch keineswegs auf der ganzen Linie erreicht. Die Macht der Infâme, des Aberglaubens und des Fanatismus, war immer noch viel zu groß. Aber schlechthin vollkommen und unübertrefflich waren in seinen Augen die moralischen, kulturellen, sozialen und politischen Ideale der Aufklärung, die auf dem Wege waren, sich auf den Thron zu setzen. Und, was für seine Denkweise besonders beweisend ist, gerade auf den Gebieten, auf denen er selber persönlich mit seinem Talente ambierte, sah er den Thron der Perfektion bereits besetzt und die Welt dahinter mit Brettern vernagelt. Epos, Tragödie und hohe Komödie, behauptete er (Siècle c. 32), haben ihre bestimmten und begrenzten Möglichkeiten, die sich erschöpfen. Der Abbé Dubos behaupte zwar, daß die Menschen von Genie noch eine Menge neuer Charaktere erfinden könnten1, aber dazu wäre nötig, daß die Natur solche schüfe. Wenn die moralischen Wahrheiten, die Bilder menschlichen Unglücks und menschlicher Schwächen usw. einmal von geschickten Händen geformt seien, bleibe nichts übrig, als entweder sie nachzuahmen oder sich zu verirren. »Also hat das Genie nur e i n Jahrhundert; hinterdrein m u ß es degenerieren.« Am Geniebegriff sollten sich später die Epochen des geschichtlichen Denkens scheiden. Ist das Genie, so fragte Voltaire, im Grunde etwas anderes als das Talent? Und ist das Talent etwas anderes als die Dispositon, in einer Kunst zu reüssieren? (Diet. 1 Sakmann (V.s Geistesart usw. S. 309 und Universaigesch, in V.s Beleuchtung, Zeitschrift f. franz. Sprache und Literatur 30, 15) hat in der Frage, wie V. zu der Idee des Fortschritts stand, in der Hauptsache schon ganz richtig gesehen, und v. Martin, Hist. Zeitschrift 118, 12 polemisiert mit Unrecht gegen ihn. Vgl. auch Delvaille a. a. O. S. 323. Unsicher behandelt Bach a. a. 0 . S. 54 die Frage.

1

Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture

gabe von 1740 II. 55). 7*

1719 (Aus-

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philos. Art. Génie.) In dem von Voltaire kritisierten Abbé Dubos aber meldete sich schon der neue Geniebegriff an, der im Genie etwas Unerschöpflidies und Unberechenbares sah und dann später, übergreifend auf das gesamte geschichtliche Leben, auch in diesem etwas Unerschöpflidies und Unberechenbares spürte und damit den Strom einer echten Entwicklung rausdien hörte. Man wird dabei Voltaires Natur selbst eine geniale Ader niemals abstreiten können. Es war in ihm zwar nicht dichterische Genialität, wohl aber eine gewaltige und ursprüngliche Vitalität. Seine geistige Lebensführung im ganzen war genialer, unerschöpflicher und unberechenbarer als seine Theorie. Darum konnte er mitunter, aber sehr selten, auch dem numinosen und übernationalen Charakter der Kunst einige leichte Zugeständnisse machen1. Aber audi die genialsten Vertreter der Aufklärungsbewegung - bis zu Rousseau hin - standen unter dem Schicksal, Sklaven einer Theorie bleiben zu müssen, die ihre Genialität nur unvollkommen oder gar nicht ausdrücken konnte. Und so kennt denn Voltaire in der Hauptsache nur Perfektion bestimmter gegebener Elemente und Anlagen des Menschen zu einem bestimmten, berechenbaren Grade, auf dem er, wenn das Glück es wollte, verbleiben oder von dem er dann wieder entartend herabsinken konnte. Die Linie des menschlichen Aufstiegs zur Perfektion von der primitiven Stufe der Instinktbetätigung an über die raison commencée zur raison cultivée verläuft dabei, grundsätzlich gedacht, geometrisch gradlinig und wird nur in der Wirklichkeit der Weltgeschichte tausendmal gestört und auf Umwege gedrängt durch die Mächte der dem Menschen mit einverleibten Unvernunft. In diesem ganz mechanisch und mathematisch gedachten Geschichtsbilde steckte nun ein allerdings unvermeidlicher innerer Widerspruch. Der Mensch war gedacht wie ein von der Natur mit bestimmten, teils guten, teils schlechten Federn und Rädern ausgestattetes und aufgezogenes Uhrwerk, das fortan sich selbst überlassen blieb. Nun sollte das Merkwürdige geschehen, daß dieses Uhrwerk sein eigener Uhrmacher wurde und die nötigen Verbesserungen in seinem Betriebe bis zum Grade der ihm möglichen Vollkommenheit selber vorzunehmen hatte. Unbewußt machte damit Voltaire den schöpferischen, 1

Brandes, Voltaire 2, 49; Gerbi, La Politica del Settecento S. 54f.; Art. Enthousiasme im Diet, philos.

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Neues schaffenden Qualitäten des geschichtlichen Menschen ein großes Zugeständnis. Aber dieses Schöpferische selbst anzuerkennen, war er nicht imstande1. Endlich und begrenzt blieben ihm alle geschichtlichen Möglichkeiten, weil er, im Glücksgefühle seiner Zivilisation und im Banne des Medianismus, über seine eigene geschichtlidie Stufe nicht hinauszusehen vermochte und begehrte. Dann konnte aber auch der Geist der Zeiten, den er zu erfassen unternahm, im wesentlichen nur des Herren eigener Geist bleiben. Geist der Zeiten, Geist der Völker, Geist geschichtlicher Gebilde überhaupt - von alledem hört man bei Voltaire immer wieder. Es gehört zum Grundverfahren seines historischen Denkens, die ihm auffallenden Einzelzüge einer Zeit, eines Volkes, eines geschichtlichen Gebildes auf einen Generalnenner zu bringen, den er Geist (esprit, zuweilen auch génie) nannte. Der Titel des Essai nennt les mœurs et l'esprit des nations als sein Thema, und er ging sogar so weit, sein Werk als eine histoire de l'esprit humain überhaupt zu bezeichnen2. Die so aufgefaßte Geschichte erschien ihm als die eigentlich philosophische Art, Geschichte zu schreiben. Ein gewaltiger und epochemachender Gedanke, der an geschichtlicher Bedeutung nicht verliert durch die schon wahrgenommenen Mängel der Ausführung. Audi das nimmt ihm nichts an Bedeutung, daß man schon lange vor ihm auf dem Wege war, übergeordnete, von einem bestimmten Prinzip belebte geschichtliche Einheiten aus der Fülle der Einzelheiten herzustellen und von ihrem spiritus, ihrem genius oder ingenium, ihrer Seele zu sprechen. Weit in die Antike, auf Piaton, die Stoa und den Neuplatonismus zurückreichende Wurzeln, die einer eigenen Untersuchung bedürften', trieben damit jetzt weiter. Jedenfalls wuchs 1 Das Alterswort in einem Briefe von 1773 (Brandes, Voltaire 2, 49): >11 faut avouer que, dans les arts de génie, tout est ouvrage de l'instinct• kann wohl nur als ein spätes Zugeständnis an moderne Zeitgedanken gelten und nicht als selbstgewonnene Altersweisheit. 1 v. Martin, Hist. Zeitsdir. 118, 25. 3 Die Aufsätze Stenzeis über den Geistbegriff in der griedi. Philosophie u. a. (Die Antike I. II. IV.) wären dafür heranzuziehen, v. Moeller, Entstehung des Dogmas von dem Ursprung des Redits aus dem Volksgeist, Mitt. d. Inst. f. österr. Gesch.-Forsch. 30, enthält nur einiges Wenige darüber. Audi an die christlichen Lehren vom Geist und Pneuma wäre anzuknüpfen. Vgl. ferner Weiser, Shaftesbury usw. S. 210ff. und vor allem den Hildebrandsdien Artikel »Geist« in Grimms Wörterbuch.

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im späten 17. und beginnenden 18. Jahrhundert die Neigung, von einem Geist der Völker, der Staaten und anderer Sphären zu sprechen. Gerade bei Bossuet, dessen Discours sur l'histoire universelle das zu überwindende Vorbild für Voltaires eigene Leistung war, findet man diesen Sprachgebrauch (meist esprit, seltener génie) und denVersuch, Völkercharaktere damals zu zeichnen, nidit selten, und sogar von einem caractère des âges hört man bei ihm einmal (II. c. 27). Von einem genio della nazione sprachen schon die venezianischen Diplomaten des 17. Jahrhunderts in ihren Relationen1. Bei St. Evremond, Leibniz, Shaftesbury, Boulainvilliers und Abbé Dubos steigerte sich die Gewohnheit, von einem Geist (génie und esprit) der Völker, zuweilen audi der Zeiten zu sprechen. Dubos behandelte in der Antrittsrede, die er 1720 in der Pariser Akademie hielt, schon das zukunftsreiche Thema vom Geist (génie) der Sprachen, und daß der Charakter jedes Volkes in den Wendungen und selbst Worten seiner Sprache sich fühlbar madie*. Es ist denkwürdig, wie nun gerade mit der Aufklärung der Drang sich steigerte, den »Geist« der menschlichen Gebilde aufzuspüren, ein rational nicht genau zu fassendes Etwas als bewirkende Kraft da einzusetzen, wo man sonst, wofern es nur möglich gewesen wäre, wohl lieber ein mechanisches Bewegungsgesetz entdeckt haben würde. Aber es war ja nidit möglich, und so wurde diese Lehre vom »Geist« der menschlichen Gebilde ein Akt, in dem die rationalisierende und mechanisierende Aufklärung schon beinahe über sich selbst hinauswuchs und auf eine überrationale Sphäre hingewiesen wurde. Derartige Momente sind in der Geistesgeschidite denkwürdig, weil in ihnen der Keim des einmal Kommenden in dem selbst eben erst Aufsteigenden und damit die innerste Kontinuität aller Entwicklungen zutage tritt. Zunächst nahm man es mit solchem »Geist« der menschlichen Dinge ja etwas äußerlich, Voltaire in seinem Dictionnaire philosophique sagt unter Esprit: Man spricht vom Geist einer Körperschaft, einer Gesellschaft, um ihre Sitten, ihre Art zu sprechen, sich zu benehmen, ihre Vorurteile auszudrücken - vom Geist eines Gesetzes, um seine Intention zu unterscheiden, vom Geist eines 1

v. Schleinitz, Staatsauffassung... der Venezianer in den Relationen des 17. Jahrhunderts. Rostocker Diss. 1921, ungedr. * Morel, Etude sur l'abbé Dubos (1850) S. 102.

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Werkes, um seinen Charakter und sein Ziel begreiflich zu machen. Man könne wohl von einem esprit de vengeance, de faction etc. sprechen, aber nidit von einem esprit de politesse, weil politesse keine Leidenschaft sei, die durch ein führendes mächtiges Motiv bestimmt würde, das man metaphorisch »esprit« nenne. Zuweilen aber, setzte er hinzu, bezeichne esprit den subtilsten Teil der Materie, um das zu bezeichnen, was man niemals gesehen hat und was Bewegung und Leben gibt. Er knüpfte damit wieder an alte antike Vorstellungen an, die sich das Wesen der Seele nur als feinste und unsichtbare Materie dachten. Aber man sieht zugleich, daß er, ebenso wie er es mit seinem Moralismus gemacht hatte, auch den esprit zu mechanisieren und plan verständlich zu machen suchte. Ähnlich dürftig definierte er in dem Artikel Génie das génie d'une nation als Bezeichnung der sie von anderen Nationen unterscheidenden Charaktere, Sitten, Haupttalente und selbst Laster. Interessant ist nodi seine Bemerkung, daß keine Nation so viel Gebrauch vom Worte spiritus gemacht habe wie die französische. In der Tat ging von ihm und von Montesquieu der stärkste Anstoß aus, über den »Geist« der menschlichen Gebilde nachzudenken. Vom esprit und génie der Völker meinte er im Essai einmal, daß er im großen und ganzen beharrlich sei und wenig Veränderungen zeige, und ferner, daß er immer in der kleinen Zahl derer residiere, die die große Masse regieren und arbeiten lassen. Dies zweite, pragmatistisch gefärbte, wenn audi eines gewissen Wahrheitsgehalts nicht entbehrende Urteil zeigt, wie wenig er derjenigen Komponente eines Volksgeistes gerecht werden konnte, die aus den tieferen Schichten des Volkslebens stammte. Dieser Pragmatismus hinderte ihn audi, die Auswirkung des nationalen Geistes im einzelnen bewußt und lebendig zur Anschauung zu bringen1. Origineller und fruchtbarer wandte er die Lehre vom esprit auf die Zeiten an. Er hat auch darin vereinzelte Vorläufer, wie wir sahen, gehabt. Aber so energisch wie er hatte nodi niemand außer vielleicht Leibniz von dem bestimmten charakteristischen Geist einer Zeit zu sprechen gewagt. »Mein Ziel ist es immer, den Geist der Zeit zu beobachten; er ist es, der die großen Ereignisse der Welt dirigiert« (Essai c. 80). Sein Siècle 1

Vgl. M. Ritter, Entwicklung der Geschichtswissenschaft S. 242.

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de Louis XIV begann er mit den berühmten Worten, d a ß es ihm nicht d a r a u f ankomme, die T a t e n eines einzigen Mannes, sondern » d e n Geist der Menschen in dem aufgeklärtesten J a h r h u n d e r t , d a s j e m a l s war, der Nachwelt zu m a l e n « . Diese Absicht hat, wenn a u d i die Durchführung hinter ihr zurückblieb und in den politischen T e i l e n des Werkes in die A u f z ä h l u n g bloßer T a t e n und E r eignisse zurückglitt, auf weit hinaus befruchtend gewirkt. Sie hat d e n Geschichtsschreibern die bloßen » H e l d e n - , Staats- und L e bensgeschichten« verleidet und ihren Ehrgeiz geweckt, d a s geistige B a n d , d a s alle Erscheinungen eines Zeitalters zusammenhält, und d i e Abhängigkeit alles Einzellebens und Geschehens von ihm zu erfassen. » J e d e r Mensch«, heißt es auch nodi im Essai (c. 82), » w i r d durch sein J a h r h u n d e r t g e f o r m t ; sehr wenige erheben sich über die Sitten der Zeit.« F r a g t m a n aber nach den letzten M o tiven des großen Voltaireschen Programms, so gewahrt m a n wied e r die Schranken seines geschichtlichen Denkens. Sein Wunsch, d e n Geist der Zeiten zu erkennen, w a r nicht primär ein W u n s d i d e s erkennen wollenden, sondern des genießen wollenden G e i stes. Sein zivilisatorisches Kulturideal, in dem er schwelgte, brauchte den Kontrast dunklerer Zeiten, um von d e m Feinschmecker ganz genossen zu werden. E s ist sdion g e s a g t und braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, daß der E s s a i die T e n d e n z verfolgt, d a s Mittelalter a l s die Zeit der Roheit und des finstersten Aberglaubens zu malen. » D i e Vergleichung dieser J a h r h u n d e r t e mit d e m unserigen, welche Perversitäten und welche Unglücke wir audi ausstehen mögen, muß uns u n s e r Glück fühl e n lassen, trotz des f a s t unüberwindlichen Hanges, den wir haben, d i e Vergangenheit auf Kosten der G e g e n w a r t zu loben« (Essai c. 82). U n d so wurde denn schließlich der Geist der Zeiten, den er jeweilig schilderte, nichts anderes als die jeweilige Abrechnung ihres Vernunft- und Unvernunftkontos gemäß der V a l u t a der A u f k l ä r u n g . Das läßt sich a u f s genaueste verfolgen von den B i l d e r n asiatischer Kulturen an, die sein Ressentiment gegen d a s Christentum so freundlich ausmalte, über d a s düstere G e m ä l d e des Mittelalters hinüber zu den Zeiten der lichteren Renaissance, d e r abermals umfinsterten Religionskriege und des Sonnenaufg a n g s der modernen westeuropäischen Zivilisation. M a n könnte ihn den historischen Bankier der A u f k l ä r u n g nennen, der die weltgeschichtliche M a s s e f ü r sie verwaltete u n d berechnete.

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Immerhin sahen wir wiederholt schon Spuren, daß seine Vitalität und sein beweglicher Geist die starren Schranken seiner Theorie zwar nicht durchbrachen, aber doch lockerten. Wir gewahrten sein verwundertes Staunen vor rätselhaften »Mischungen« in der Geschichte, das in tiefer empfindenden Lesern wohl neue, weit über ihn hinausführende Gedanken wecken konnte. Uberhaupt, die Fähigkeit, staunen zu können vor den Wundern der Geschichte, vor den tiefen Wandlungen des Menschen, letzten Endes vor dem »Rätsel dieser Welt« (Essai, Resumé), durchbrach zuweilen bedeutend den aufklärerischen Hochmut und die Sicherheit des Aburteilens. Sie hing zustimmen mit dem solidarischen Menschheitsbewußtsein, das die Aufklärung fast als ihren höchsten Wert hervorzubringen vermochte, mit dem Gefühl einer über allen nationalen und religiösen Schranken stehenden Schicksalsverbundenheit der ganzen Menschheit. Es geht uns hier, sagt Voltaire (Essai c. 83), um das Schicksal der Menschen, nicht um die Revolutionen des Thrones. Jeder Geschichtsschreiber hätte sagen müssen homo sum, aber die meisten von ihnen haben nur Schlachten beschrieben. So konnte er denn, durchaus nicht überall, aber wenigstens dort, wo sein Aufklärungsideal auf innerlich verwandte und doch wieder mit fremdartigen Dingen verflochtene Erscheinungen stieß, Bilder des Zeitgeistes entwerfen, die schon etwas von historischer Dynamik haben. Das kurze Kapitel 118 des Essai, Idée genérale du seizième siècle, eröffnet historiographisch den Reigen der großen, seitdem immer wiederholten Versuche, das wunderbare Ensemble dieser Zeit von gewaltigen Machtkämpfen, außerordentlichen Menschen und geistigen Revolutionen, von Erschütterungen und Entdeckungen, von Kunst, Opulenz und Industrie in universalster Überschau zu erfassen. Luther wurde dabei freilich nur anonym durch einen schnöden Seitenblick auf religiöse Querelen abgetan und auch in den folgenden Kapiteln nur als Zerrbild gezeichnet. Dann aber weht in den Kapiteln über Hugenottenkriege und Heinrich IV., seinen Liebling, wieder etwas von wirklicher Zeitatmosphäre. Das Handeln der Menschen sieht man von ihr unmittelbar bestimmt, aber auch die Macht der großen Persönlichkeit kommt in Heinrich IV. einmal ganz stark zur Geltung. Voltaire bildete die Antithese, daß das Jahrhundert Ludwigs XIV. zwar viel größer gewesen sei als das Heinrichs IV.,

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aber daß der Mann Heinrich IV. größer gewesen sei als Ludwig XIV. Sein Siècle de Louis XIV behält denn auch allen bereditigten Einwänden moderner Kritik zum Trotz seinen unvergänglichen Reiz durdi die innere Liebe für das ihm Homogene, durch den Glanz, mit dem er es wiedergibt, durch das gespannte Interesse, mit dem audi das ihm Widrige beachtet wird, durch die Breite und Fülle der hier gegebenen Sitten-, Zustande- und Geistesgeschichte. Nodi heute kann man die Zeit Ludwigs XIV. nicht ganz verstehen, wenn man die Wirkung vergißt, die sie gerade auf diesen ihren, aus ihr emporgewachsenen Geschichtsschreiber ausgeübt hat. Man pflegt oft das historiographisdie Hauptverdienst Voltaires in der Eroberung der sogenannten kulturgeschichtlichen Stoffmassen für die Geschichtsschreibung zu sehen, wobei man unter Kulturgeschichte nicht selten nur ein buntes Bilderbuch von gesellschaftlichen Sitten und Einrichtungen, von technischen Merkwürdigkeiten und Fortschritten und von materiellen Faktoren des äußeren Lebens bis zum Essen und Trinken herab verstand. Dies sozusagen kleinbürgerliche Interesse an der Geschichte wurde in der Tat von Voltaire entscheidend geweckt. Er hat es als französischer Großbürger getan, der zum vollen Bewußtsein dessen gelangt war, was die bürgerliche Gesellschaft seit dem Zerfall von Rittertum und Feudalgeist geistig, wirtschaftlich und technisch geschaffen hatte. Die Verdienste des ersten französischen Großbürgers, der historisch hervortrat, Jacques Cœurs, des Finanzmannes des 15. Jahrhunderts, stellte er über die der Pucelle. Aber audi deren heroische Erscheinung wurde immerhin im Essai (c. 80) anders als in seiner Spottdichtung La Pucelle mit verlegenem Respekte behandelt. In der Thronentsagung Christinens von Schweden feierte er, mit schmunzelnder Billigung von Thronentsagungen überhaupt, einen Sieg des Urbanismus. Sie gab, urteilte er (Essai c. 188), das größte Beispiel der wirklichen Überlegenheit der Künste, der Politesse und der vervollkommneten Sozietät über die Größe, die nur Größe ist. Den Tiers-état Frankreichs erklärte er als den fonds de la nation, der kein partikuläres Interesse habe (Essai c. 175). Er tat es bei der Erzählung der letzten Generalstände, die Frankreich gehabt hatte, der von 1614, und kündete damit leise und jedenfalls ohne jede revolutionäre Absicht auch etwaige politische Ansprüche des Bürgertums an.

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Ihm war es zunächst nur um den ruhigen Genuß und die freie Entfaltung der bürgerlichen Zivilisation im Schutze einer starken monarchischen Regierung zu tun. Diese Zivilisation gipfelte für ihn in den beiden Werten des Nützlichen und des Geschmackvollen. Der zweite Wert, der alle Reize der verfeinerten Geselligkeit und der normalisierten Künste in sich Schloß, war für ihn der höhere. Aber das Nützliche, der Inbegriff wirtschaftlicher und technischer Regsamkeit und der Prosperität, die sie brachte, war die unentbehrliche Voraussetzung für ihn. Und so hat Voltaire, noch nicht mit den Augen eines wissenschaftlichen Wirtsdiaftsund Sozialhistorikers, aber mit dem Wohlgefallen des gutsituierten Bourgeois sein Auge auf alles das schon gerichtet, was im 19. Jahrhundert dann Gegenstand emsigster methodischer Erforschung der realen und materiellen Grundlagen moderner Kultur geworden ist. Rings um ihn herum beschäftigte man sich schon aus praktischem Interesse mit diesen Dingen, aber er hatte als erster den Mut, sie auch in die Geschichtserzählung aufzunehmen und sie als das eigentlich Wichtige in ihr zu erklären. Er tat es auf Grund einer massenhaften, vielfach sehr unzulänglichen und zufälligen Lektüre. Aber er verstand es, Fragen zu stellen und kausale Zusammenhänge zu ermitteln. Bei dem Berichte über Tamerlan fiel ihm auf, daß die Städte des Orients ebenso leicht aufgebaut wie wieder zerstört würden. Er wagte die Vermutung, daß die Badesteine, die an der Sonne getrocknet wurden, dies ermöglichten (Essai c. 88). Er machte sich klar, daß der Heringshandel Amsterdams eine weltgeschichtlich wichtige Tatsache sei (Essai c. 164). Die Veränderungen im Münzwesen und die populationistischen Probleme verfolgte er ebenso eifrig wie das Aufkommen neuer Waffen in den Kriegen, die Wandlungen im Straßenbild der Städte, im Reiten und Fahren der guten Gesellschaft. Bis auf die Barttracht herunter ging seine historische Neugier, die sich über alles klarwerden wollte1. Man darf auch nicht übersehen, daß er vom Theater her zur Geschichte kam. Daher die Freude am Bühnenmäßigen und am Exotischen in den geschichtlichen Szenen, an der farbigen Außenseite des geschicht1 C'est un exercice incessant de la raison qui a besoin de voir clair en tout, sagt Lanson, Voltaire S. 120 in dem lesenswerten Kapitel Voltaire historien. Er sieht nur etwas zuviel vom Positivismus des 19. Jahrhunderts in ihn hinein.

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lidien Lebens. Aber unter dem bunten Kostüm seiner geschichtlichen Menschen regte sich dann freilich auch nur das, was der Aufklärer Vernunft oder Unvernunft, Geschmack oder Barbarei nannte. Dieser Sinn für das anschauliche Detail der Vergangenheit verhielt sich zu der Dürftigkeit der aufklärerischen Leitmotive wie ein bunter Einschlag zu einem farblosen Zettel im Gewebe. Es fehlte ihm die antiquarische Liebe und Andacht zu den konkreten Dingen. Ohne ein Etwas von solcher Liebe blieben diese Dinge nur Kostüm und wurden nicht Kleid der geschichtlichen Menschheit. Aber das Bedeutende und Fruchtbare war doch, daß eine unermeßliche Neugierde für sie überhaupt geweckt wurde. So führte auch hier wieder Voltaire genau bis an die Schwelle des Historismus heran, dessen Aufgabe es werden mußte, die von Voltaire eroberten Stoffmassen zu beseelen. Dasselbe gilt für eine andere Eroberung seines geschichtlichen Interesses, die vielleicht noch höher steht als seine kulturgeschichtliche Leistung. Man darf es aussprechen, daß er als einer der ersten unter den Aufklärern - Hume war ihm 1742 schon darin vorangegangen 1 - die Macht der Meinung in der Geschichte entdeckt hat. Ohne Zweifel rechnete er sie zu jener Sphäre, die er, wie wir uns erinnern, das Reich der Gewohnheit nannte und als Quelle aller Varietäten der Geschichte ansah. Man muß, sagte er (Essai, Remarques II), die Geschichte der Meinung schreiben. Dadurch werde das Chaos der Ereignisse, der Faktionen, Revolutionen und Verbrechen wert, den Blick des Weisen zu fesseln. Auch Religion, die er, wie wir früher hörten, zu den kausalen Hauptfaktoren der Geschichte rechnete, war für sein intellektualistisches Denken nichts anderes als Meinung. Die Meinung also war es, die nach ihm die Kreuzzüge gebar. Er setzte zwar mit einem Rückfall in den personalistischen Pragmatismus hinzu, daß die Päpste diese Kreuzzüge nur für ihr Interesse erregt hätten, aber die Ahnung blitzte doch auf, daß die priesterliche Berechnung allein nicht imstande gewesen wäre, die Völker in den Orient zu schicken, wenn nicht sehr allgemeine, zwar in seinen Augen grundfalsche, aber mächtige Ideen sie bewegt hätten. Man müsse die Verirrungen der Meinung beschreiben, wie die Ärzte 1

In dem Essai über British

government.

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die Pest von Marseille beschreiben, obgleich sie geheilt sei. Am Islam sah er die größte Veränderung, die die Meinung auf unserem Globus hervorgebracht habe. Die Meinung habe audi die Gesetze gemacht, die oft so verschieden seien in ganz nahen Ortschaften. Was wahr und gut sei an einem Ufer, sei falsch und sdilecht am anderen Ufer. Ihn wandelte im Angesidit dieses durdieinanderwogenden Meeres machtvoller Meinungen ein Gefühl an, das die Ohnmacht der stolzen und selbstsidieren Aufklärung gegenüber den wirklichen, den ideellen Mächten der Geschichte spüren läßt. Alles, so setzte er seiner Beobachtung über die irrationale Vielheit der Gesetze hinzu, widerspricht sich also, und wir segeln in einem ohne Unterlaß von konträren Winden bewegten Schiffe dahin. So konnte er die Macht der Meinung in der Geschichte zwar entdecken und war doch nicht fähig, sie zu verstehen. Denn sie gehörte so, wie er sie auffaßte, fast nur zur Pathologie der Geschichte. Das Machtbedürfnis der neuen Aufklärungsmeinungen selbst war es, das ihn zu seiner Entdeckung führte, denn diese sahen ihren mächtigsten Gegner eben in der Herrschaft der falschen und unvernünftigen Meinungen. In der Skepsis aber, die ihn angesichts dieses Gegners oft überkommen konnte, wirkte sich auch das aus, was man als das Erbe des 17. Jahrhunderts in Voltaire ansehen kann: Die realistische Nüchternheit, die Illusionslosigkeit gegenüber Welt und Menschenleben, die zwar nicht allen Menschen des 17. Jahrhunderts, aber in besonderem und charakteristischem Grade den politischen Menschen dieses Zeitalters zu eigen war und von ihnen auch auf ihre Nachfolger im politischen Handwerk vererbt wurde. Friedrich der Große würde mit Voltaire wohl nicht haben Freund werden können, wenn sie sich nicht auch in diesem Punkte verstanden hätten. Ihr gemeinsames Aufklärungsideal war frei von Utopismus, von Überschätzung der menschlichen Natur. Sie sahen sie in ihrer ganzen Blöße, Friedrich sogar noch härter und skeptischer darin als Voltaire. Und wie in Friedrichs Leben dadurch ein unversöhnter Zwiespalt zwischen politischem Realismus und humanitären Idealen kam, so wurde audi Voltaires Geschichtsauffassung dadurch zerrissen. Denn die Kluft zwischen dem großen Reiche der Unvernunft und dem kleinen Reiche der Vernunft, die ihre mechanische Psychologie aufriß, wurde nur noch vergrößert und immer offen gehalten durch ihren

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kühlen und oft zur Menschenverachtung sich steigernden Wirklichkeitssinn. Zwiespältig war darum audi Voltaires Verständnis für dasjenige Gebiet, von dem audi f ü r ihn neben der Macht der Meinungen die stärksten kausalen Wirkungen und Entscheidungen der Weltgeschichte ausgingen - f ü r Staat, Maditpolitik, Krieg. Er sah seine Außenseite, wie sie wirklich war, nackt und abstoßend häßlidi; er konnte audi, wie wir gleich zeigen werden, ein rationales Verständnis für die Motive politischen Handelns bis zu einem gewissen Grade aufbringen. Aber die Innenseite des staatlidien Lebens blieb ihm trotzdem verschlossen, weil sein mechanisches und zugleich egoistisches Denken den Schlüssel zum Eigenleben der objektiven Gebilde des Mensdiengeistes nicht besaß. Wohl wünschte er sich den Staat stark und unabhängig, vor allem unabhängig von jedem kirchlichen Einflüsse, aber nur als Mittel zum Zweck der Zivilisation oder, wie die Aufklärungssprache es nannte, des »Glückes« der Völker. Seine Verachtung der stumpfen und abergläubischen Populace, deren Helotenarbeit er als gegebene und unabänderliche Notwendigkeit für alles höhere Leben ansah, konnte wohl durch Wallungen natürlicher Gutmütigkeit und sozialer Empfindung durchbrochen werden. Aber hinter dem »Glücke« der Völker versteckte sich bei ihm nur gar zu sehr auch das eigene persönliche Glück und Wohlbefinden. So war denn der Maßstab, nach dem er politische Dinge überwiegend beurteilte, die Frage: Was leistet mir und meiner geliebten Aufklärung der Staat? Ein solcher egoistischer Individualismus konnte das Staatsleben in der Regel nicht anders als personalistisdi verstehen. Nicht die großen Staatspersönlichkeiten als solche, sondern nur die je nachdem weisen oder unweisen, friedlichen oder raubgierigen Persönlichkeiten der Herrscher erschienen ihm als die Bringer von Heil und Unheil, zumeist aber von Unheil in der Weltgeschichte. In dieser personalistischen Form kam ihm auch die Abhängigkeit des Kulturlebens vom Staate wenigstens oberflächlich zum Bewußtsein 1 . Personalistisdi gerichtet war über1 Er hat wohl auch die freie Verfassung der italienischen und deutschen Städte als Ursache ihrer Kulturblüte hervorgehoben (Sakmann, V.s Geistesart usw. S. 336), aber gewiß mehr aus Haß gegen kultur-

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haupt schon der Pragmatismus der damaligen Geschichtsschreibung mit seiner Neigung, alle wichtigen Hergänge im Staatsleben aus bewußten Motiven und Zwecken der Handelnden abzuleiten. Voltaire fügte hinzu das Suchen nach den kleinen, allzu menschlichen Motiven, nach romanhaften und pittoresken Anlässen großer Dinge und verriet damit wieder seine Herkunft vom Theaterdichter. Zumeist aber war es Gewalt, was Voltaire von politischen Handlungen auszusagen hatte. Es ist die Gewalt, heißt es einmal im Essai (c. 33), die alles in dieser Welt gemacht hat. In dieser moralistischen Form erkannte sein realistischer Sinn die Bedeutung der politischen Macht im geschichtlichen Leben an. Ihr überpersönlidier Hintergrund, die besondere Struktur und Lebenstendenz der einzelnen Staaten, trat dabei in den Schatten. Unvermittelt, wie die Helden des französischen Dramas, sprangen in der Regel die einzelnen Herrscher und Staatsmänner aus dem allgemeinen Boden der Menschheit hervor. Jeder dieser Helden könnte auch in einer anderen Zeit, die ungefähr auf einer ähnlichen Stufe der Vernunftperfektion stand, gelebt haben. Nur jener Sinn für das Anschauliche, den Voltaire schon hatte, für die Buntheit der Sitten und Gebräuche verbreitete dann so etwas wie individuelle geschichtliche Atmosphäre um die Gewalttaten der politischen Menschen. Audi das kann man noch anmerken, daß seine tief unheroisdie und pazifistische Grundgesinnung gelegentlich von einem naiven Stolze auf französisdie Ruhmestaten unterbrochen wurde. Aber die Vereinigung von Weltbürgertum und Nationalgefühl, die er schon darstellte und aus der heraus er sein Siècle de Louis XIV sdirieb, wurzelte viel mehr in der Kulturnation als in der Staatsnation Frankreich. Und doch gab es ein geschichtliches Erkenntnismittel, das ihn über den moralisierenden Personalismus in der Beurteilung staatlicher Handlungen hätte hinausführen können. Das war die Lehre von der Staatsräson und von den Interessen der einzelnen Staaten, die, von Machiavelli begründet, im 17. Jahrhundert reich ausgebildet, auch im 18. Jahrhundert jedem Politiker und allen denen, die einen Blick in die damalige Politik warfen, wohlvertraut war. Die vom Herzog von Rohan gefundene Formel: losen Despotismus, als aus Nachdenken über den Zusammenhang von Kultur und Staat.

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»Die Fürsten kommandieren den Völkern, aber die Interessen kommandieren den Fürsten« war die Quintessenz dieser Lehre. Das bedeutete einen Wink für den Geschichtsschreiber, bei dem Suchen nach Motiven staatlichen Handelns in erster Linie nicht nach solchen persönlicher, sei es moralischer oder unmoralischer Natur, sondern nach solchen, die aus der sachlichen Notwendigkeit staatlicher Selbstbehauptung flössen, zu fragen. Der spätere Historismus von Ranke an hat diese Lehre ohne weiteres in die von ihm eroberte Anschauung der großen objektiven Gebilde, die den einzelnen umfangen und bestimmen, einbauen können. In den Jahrhunderten zuvor aber führte sie eine geistig isolierte Existenz, befruchtete wohl die politische Praxis und das Nachdenken über ihre Technik, durchbrach aber den Bann der naturrechtlichen Denkweise nur unvollkommen. Es kam nun darauf an, wie sich die Geschichtsschreibung der Aufklärung zu dieser Lehre stellen würde. Vor Augen hatte sie die ganz von dieser Lehre geleitete Praxis der Kabinette, im Herzen trug sie den Eudämonismus der Menschheit. In diesem Dilemma schlug sie ein charakteristisches, sehr eklektisches Verfahren ein. Sie gab dem Handeln nach Staatsräson, das sie aus der Geschichte nicht wegwischen konnte, eine personalistische Färbung, indem sie das egoistische Interesse der Machthaber, ihre Macht und Größe zu behaupten, unterstrich. Trat dann dieses einmal für den Blick des historischen Betrachters zurück vor der Wucht großer sachlicher Entscheidungen, die durch die Staatsräson bewirkt wurden, so wurde diese wohl mit einem gewissen Respekte konstatiert, aber nicht tiefer begründet aus dem Eigenleben des Staates. Die Staatsräson wirkte danach innerhalb des geschichtlichen Lebens entweder mechanisch, wie ein deus ex machina, oder als eine besondere Abart des gewöhnlichen Interessenegoismus. Das hing natürlich aufs engste zusammen mit der damaligen Stufe der modernen Staatsentwicklung. Der absolutistische Staat erschien den Zeitgenossen noch zu sehr als isolierter Machtapparat, ideell zwar bestimmt, für das allgemeine Wohl zu wirken, aber praktisch eine rationell bewirtschaftete Domäne der Herrschenden und ihrer guten oder schlechten Personalmotive. Damit haben wir bereits im allgemeinen die Art charakterisiert, in der Voltaire die Lehre von der Staatsräson in der Geschichtsschreibung anwandte. Er tat das oft und reichlich und

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zeigte auch darin wieder den nachwirkenden Geist des U . J a h r hunderts mit seiner nüchternen Sachlichkeit und Härte. »Das Interesse des Staates ist die souveräne Räson der Könige« (Essai c. 174). »Die Fürsten vergessen Beleidigungen wie Wohltaten, wenn das Interesse spricht« (Essai c. 125). »Die Politik überwindet die Leidenschaften in den Kabinetten« (Essai c. 176). »Alles weicht dem Interesse« (Essai c. 184). Alles wohlbekannte Klänge für den, der die Literatur der ragione di stato seit Botero kennt. Die Handlungen Franz' I., Heinrichs IV., Ridielieus, der Päpste usw. wurden damit motiviert. Aber audi in die vor der Renaissance liegenden Zeiten übertrug er die Lehre und verwandte sie für seinen Kampf gegen die christliche Kirche. Decius, Maximin und Diokletian verfolgten demnach die Christen nur aus Staatsräson, weil diese zu den Gegenkaisern hielten, und Diokletian war weit entfernt von religiöser Intoleranz (Essai c. 8). Audi die ChristenverfoJgungen in Japan beruhten nach ihm auf Staatsräson (Essai c. 196). Kein Wunder, daß er zugleich den machiavellistisdi harten Satz auspradi: »Die Religion ist bei den Fürsten fast niemals etwas anderes als ihr Interesse« (Essai c. 173, ähnlich c. 178). Am glücklichsten und bedeutendsten wandte Voltaire die Lehre vom Imperativ der Staatsnotwendigkeit bei dem Manne wieder an, der unter allen französischen Herrschern seinem Herzen allein nahe gerückt ist, bei Heinridi IV. Religionswedisel, aus so offensichtlichem Interesse vorgenommen, wie er ihn vornahm, hätte, so urteilte er, unter gewöhnlichen Umständen einen Flecken auf seine Ehre werfen müssen. In diesem Falle aber war das Interesse so groß, so verbunden mit dem Wohl des Reiches, daß die Besten unter seinen kalvinistischen Ratgebern ihm selber rieten, die Religion anzunehmen, die sie haßten. Mehrere Politiker meinten dann wohl, daß Heinrich IV., zur Herrschaft gelangt, es wie Elisabeth von England hätte machen und Frankreich von Rom lösen müssen, als einziges Mittel, um es politisch und wirtschaftlich in die Höhe zu führen. Aber, bemerkte Voltaire treffend dagegen, Heinrich IV. war ja nicht »in denselben Konjunkturen« wie Elisabeth, er hatte kein Nationalparlament wie diese, das seine Interessen teilte, auch nicht Geld und Waffenmacht genug, während er sich noch mit Philipp II. und der Liga herumschlagen mußte (Essai c. 174). 8

Meinecke, Historismus

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Man kann an diesem Beispiele vielleicht den Satz bestätigt sehen, daß man nur versteht, was m a n liebt. Er liebte Heinrich IV. und verabscheute Philipp II. Darum wurde dessen Beurteilung ein genaues Gegenstück des moralisierenden Personalismus. Die Religion war ihm, behauptete er, Maske, sein Kampf gegen die Niederlande ausschließlich blutiger Despotismus (Essai c. 163 f.). So bleibt es dabei, daß ihm die Lehre von der Staatsräson zwar eine Reihe heller Einzelerkenntnisse politischer Dynamik vermitteln, aber nicht das ganze Leben der Staaten untereinander dynamisch beleben konnte. Der Realismus des Politikers, aus dem jene Lehre stammte, und der Moralismus des A u f klärers waren zu einer organischen Verschmelzung nicht geeignet. Blicken wir zurück. Insgesamt vermochte das aufklärerische Denken Voltaires wohl die in der Konvention erstarrten Massen der geschichtlichen Erscheinungen in einen Schmelztiegel zu tun und um und um zu rühren. Die Selbständigkeit und Autonomie geschichtlichen Denkens wurde damit erobert, der Horizont geschichtlichen Interesses universal auf alles Menschliche ausgedehnt, die Lust zum Vergleichen, zum Aufspüren von Analogien, zum Nachdenken über die Ursachen von Verschiedenheit trotz evidenter Ähnlichkeit des Verglichenen geweckt, der Sinn f ü r die besondere Struktur jedes geschichtlichen Gebildes und für den Zusammenhang der Kulturerscheinungen untereinander hier und da wenigstens schon wirksam. Und über alle Einzelerscheinungen hinaus wurde ein einheitlicher Gesamtsinn der Weltgeschichte ermittelt durch die Idee der Vernunftperfektion, die es ermöglichte, insbesondere den Gang der abendländischen Geschichte als einen allmählichen, zuletzt aber sich beschleunigenden, wenn audi nicht endgültig gesicherten Aufstieg zu höherer Kultur zu erfassen. Geschichte, aufgefaßt als ein Kampf zur Erringung höchster Güter, kausal bestimmt vor allem durch die Macht des Staates und der Meinungen, der Ideen der Menschen, das war neben der Universalität seines Interesses der zukunftsreichste Ansatz, der in seiner Historik steckte. Aber der Gesamtsinn der Geschichte war dann wieder so eng, so dürftig, so sehr gebunden an die mechanischen Vorstellungen der damaligen Philosophie und an die egoistischen Bedürfnisse der französischen Bourgeoisie seiner Zeit, daß der wahre geschichtliche Mensch in der schöpferischen Fülle seiner verschiedenen Ausprägungen dabei nicht

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zu seinem Redite kommen konnte. Darum fehlte audi das Schmelzmittel, um das Nebeneinander der geschichtlichen Erscheinungen einer Zeit in ein lebendiges, von übergreifenden Ideen beherrschtes Ineinander zu verwandeln. Erobert also wurden die Universalität und ein geistiger Gesamtsinn des gesdiiditlichen Lebens, nicht erobert die unberechenbare Individualität, die es im Großen wie im Kleinsten aufweist, und anstatt lebendiger Entwicklung des Individuellen wurde nur das mechanische Surrogat der Perfektion geboten. Das Voltairesche Geschichtsbild trieb durch seine eigene Dialektik dazu, einmal überwunden zu werden und doch dabei in dem, wodurch es überwunden wurde, weiterzuwirken. Er hatte, wie kaum ein anderer zuvor, den Blick geschärft für den irrationalen Charakter des geschichtlichen Lebens. Sein Staunen vor den geschichtlichen Wundern aber, das ihn dabei sdion ergriff, blieb stecken in einer achselzuckenden realistischen Resignation. So ist nun einmal, sagte er sich, die Welt, sie besteht aus Widersprüchen, sie kann nicht anders sein (Art. Contradictions im Diet, philos.). Aber die Energie,mit der er diese Widersprüche aufdeckte, mußte einmal zu dem Versuche drängen, sie tiefer zu verstehen. Wir sahen in ihm ferner einen ungelösten Gegensatz zwischen der lebendigen Teilnahme an allem Menschlichen in all seinen Verpuppungen, zwischen der wirkenden Kraft seines Homo-sumGefühls auf der einen, und den mechanisch gehandhabten Wertmaßstäben einer stabilen Vernunft auf der anderen Seite, die das geschichtliche Leben in eine große Schutthalde und ein kleines Häufchen von Edelmetallen auseinander sortierten. Oder wie er es am Schlüsse seines langweiligsten und doch immer noch mit allerlei Bosheiten gewürzten Geschichtswerks, der Annales de l'Empire ausdrückte: Man sieht in einer langen Kette von Felsen und Abgründen einige fruchtbare Täler. Dieser Gegensatz zwischen den die geschichtlichen Dinge miteinander verbindenden und den sie wieder auseinanderreißenden Tendenzen der Aufklärung drängte nach einer höheren Vereinigung. Nur ein neues Seelenleben, eine Auf- und Umrührung auch aller inneren seelischen Kräfte des betrachtenden Menschen konnte sie herstellen.

DRITTES KAPITEL

Montesquieu Wer die stufenweise Umbildung aufklärerischen in historisdies Denken veranschaulichen will, muß sich überlegen, ob er Montesquieu vor oder hinter Voltaire darstellen soll. Nadi Lebensalter und zeitlicher Wirkung gehört Montesquieu (1689-1755) unmittelbar vor Voltaire (geb. 1694). Und vergleichen wir hier aus ihrer literarischen Produktion nur diejenigen Werke miteinander, die unmittelbar auf die Geschichtsauffassung der damaligen und folgenden Zeit nadihaltig gewirkt haben, so beginnt er auch da den Reigen mit seinen Considérations sur la grandeur et la décadence des Romains von 1734. Denn die vielgelesene Geschichte Karls XII., die Voltaire sdion 1731 veröffentlicht hat, war zwar eine sehr wirksame literarische Hervorbringung, ein pittoreskes Lesebuch über ein merkwürdiges Heldenleben aus der Gegenwart, enthielt aber noch nichts von dem Neuen und Eigenen, was er in die Geschichtsbehandlung hineingebracht hat. Wohl keimte audi dieses schon in den dreißiger und vierziger Jahren. Das Siècle de Louis XIV entstand in seiner ersten Fassung schon 1735/39, und die ersten Bruchstücke des Essai erschienen 1745. Aber bevor er diese beiden großen Werke der Welt vollständig vorlegen konnte, war auch schon Montesquieu mit seiner folgenreichsten Leistung auf den Plan getreten und hatte nach einer Vorbereitung von fast zwei Jahrzehnten 1748 seinen Esprit des lois veröffentlicht. Dennoch entscheiden wir uns dafür, Montesquieu nach Voltaire zu behandeln. Denn ideell und nicht eng chronologisch gesehen, folgt Montesquieu auf Voltaire. Dieser schöpfte das Neue, was er dem geschichtlichen Denken und Wissen zuführte, aus dem Schatze der Aufklärungsbewegung. An Montesquieu aber hat man schon oft den Januskopf wahrgenommen, wie in seinem politischen, so audi in seinem geschichtlichen Denken. Er ist eine

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Grenzerscheinung, die sehr viel schwerer zu fassen und zu verstehen ist als Voltaire. Wieder und wieder streitet man um ihn, rückt ihn bald mehr in das 18. Jahrhundert, in die Gesellschaft der Auf klärer, in die er nach seinen Denkmethoden zu gehören scheint, oder in eine reaktionär gestimmte Welt, in die ihn seine politisch-sozialen Interessen und Ideale zu verweisen scheinen oder aber man sieht in ihm gerade den Überwinder aufklärerischen Denkens, wohl gar den unbewußten Ausüber einer gotischen, das heißt romantisdien Kunst, und hält ihn politisch für den Bahnbrecher moderner Freiheitsgedanken und Verfassungsformen. Zuweilen gesteht man, daß man, je öfter man ihn gelesen habe, um so weniger wisse, worauf er eigentlich hinauswolle1. Alles das deutet, da an der eminenten Denkerkraft und Geistigkeit des Mannes nicht zu zweifeln ist, auf ungewöhnliche Spannungen und auf einen vielleicht unausgeglichenen, aber fruchtbaren Reichtum von Denkmotiven seines Geistes hin, wie er bei Voltaire in dieser Fülle dodi nicht zu finden ist. Eines ist sicher, daß man in der Folgezeit länger von Montesquieu als von Voltaire geistig gezehrt hat. Voltaires Schriften und Gedanken können wohl audi heute nodi durch den Reiz ihrer Form, wie unnachahmliche Kunstwerke einer abgetanen Epoche, entzückte Leser finden. Dafür vermögen Montesquieusdie Urteile durch ihren Inhalt, trotz ihrer altertümlichen Fassung, noch heute das Denken in Schwingung zu versetzen. Voltaires Fragen, so wediselvoll und launisch sie auch oft berühren, sind von ihm selbst zumeist jeweils klipp und klar beantwortet worden, und seine Antworten interessieren uns heute nur historisch. Montesquieusdie Fragen sind immer wieder aufgegriffen und diskutiert worden, und manches große Wort von ihm kann nodi heute dem Erforscher geschichtlicher Zusammenhänge etwas bedeuten. Schon ein Blick auf Persönlichkeit und Lebensführung der beiden vermag die Verschiedenheit ihrer geschichtlichen Wirkung verständlich zu machen. Voltaire lebte von Anfang bis zu Ende, trotz bewegterer Jugend und gleichmäßiger verfließender Altersjahre, immer dasselbe Leben, ein Ensemble von Genuß, geistiger ') Morf in der Vorrede zur 5. Auflage von Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts Teil 2 (1894). Ebenso urteilten, wie er anführt, Villemain und Bonnetière.

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Drittes Kapitel

Arbeit und Kampf, wo auch Arbeit und Kampf zum unentbehrlichen Genuß inmitten einer hochentwickelten Epoche der Zivilisation wurden. Auch Montesquieu genoß deren Reize, zumal in seiner Jugend, und seine Lettres persanes von 1721 und sdilüpfrigen Jugenddichtungen spiegelten wider, was er, satirisdi, humoristisch und empfänglich zugleich, in der libidinösen Welt des Rokoko erlebte. Aber schon in den Lettres persanes unterbrachen tiefere Töne, Vorspiele seiner späteren Gedanken, den Schellenklang der Satire, und anders als bei Voltaire traten dann Genuß, Arbeit und Kampf in ihm auseinander. Er schuf eine größere Distanz als dieser zwischen seinem Innenleben und dem äußeren Lebensstrom der Welt, führte ein privates Dasein schlichterer Art und konzentrierte sich mit voller seelischer Kraft und tiefem sachlichen Ernste auf die Aufgabe des denkenden und Normen suchenden Betrachters. Sein Amt als Präsident des Parlaments von Bordeaux, das ihm als Kind der noblesse de robe 1716 zugefallen war, wurde ihm frühe leid; er gab es 1726 auf, aber bewahrte auch als Schloßherr von La Brède treu die korporativen Gesinnungen der Parlamentsaristokratie in sich. Er repräsentierte den schon seltener werdenden Typus des französischen Edelmannns, der sich von den Verlockungen des Hofes nicht fangen ließ, und wurde Gelehrter im Geiste edelmännischer Unabhängigkeit. Die großen Reisen durch Europa, die er in den Jahren 1728 bis 1731 unternahm, trugen den Charakter ernster Forschungsreisen, wie seine erst in unserer Zeit ans Licht getretenen Reisenotizen und Materialsammlungen zeigen1. W i e er sich dann durch so viele Jahre auf sein eigenstes Lebenswerk konzentriert - audi die Considérations sind nur ein vorher abgeschiditeter Exkurs des Esprit des lois - , unablässig sammelt und liest und alles Gelesene, Gesehene und Erlebte im Geiste miteinander kombiniert, oft in seinen Vorarbeiten am härtesten Holze sich abmüht, bis er endlich die Höhe erreicht hat, von der aus er aufatmend sagen kann: »Jetzt beugt sich alles meinen Prinzipien« (28, 6 und Vorrede)®, das ist eines der großartigsten Beispiele modernen Gelehrtentums, einer ineinander geschmol1 t

Voyages, 2. Bde. 1894/96. Alle folgenden Zitate, die nur Zahlen angeben, beziehen sidi auf

die Büdier und Kapitel des Esprit des lots.

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zenen Denker- und Forschertätigkeit und der Hingabe des ganzen Menschen an sie. Voltaire mag reichlich ebensoviel gelesen haben wie er; aber bei ihm geht der Prozeß von der Lektüre zu eigenen Gedanken so rasch und flüchtig vor sich, daß er nur einen Teil ihres Nährwertes erfaßt. Man hat auch Montesquieu vorgeworfen, daß er zu rasch von der Beobachtung zum erklärenden Prinzip geeilt sei. Das kann m a n sagen vom Standpunkt modern-methodischer Ansprüche aus. Aber er ragt aus seiner Zeit und insbesondere aus dem Treiben der französischen A u f klärer heraus durch den Ernst, mit dem er dem deduktiven Denken ein induktives Forschen vorangehen läßt. Zum volleren Verständnis nicht nur dieser Arbeitsweise, sondern auch ihrer letzten Ziele und damit des Eigenen und Vorwärtsweisenden, das ihn über Voltaires Geschichtsauffassung hinausführte, gelangen wir durch einen Blick auf die geistigen Strömungen, denen er, verglichen mit Voltaire, sich hingab. Die Aufklärung, die mit dem Maßstabe einer zeitlos gültigen und von religiösen und metaphysischen Bestandteilen sich befreienden Vernunft die geschichtliche Welt beurteilte, war hervorgewachsen aus den geistigen Bewegungen des 17. Jahrhunderts, aus den Steigerungen des alten naturrechtlichen Denkens, wie sie zustande kamen durch den Gartesianismus, durch das Erlösdien der konfessionellen Fanatismen und durch den Aufstieg der einfache Gesetze suchenden und findenden Naturwissenschaften. Aber dem 17. Jahrhundert war audi nodi ein anderer Zug eigen gewesen, auf den wir schon bei Voltaire hinwiesen, nämlich ein nüchterner und harter Wirklichkeitssinn, der zumal die Praxis der Politiker beherrschte und, übertragen etwa auf das Gebiet historischer Studien, in gewaltigem Hunger nach T a t sachen, in ungeheuren Stoffsammlungen sich ausprägte. Zwischen dem formenden und vereinfachenden Geiste des Naturrechts und den Massen des empirischen Stoffes war eine Kluft, die die etwas starre und schwerfällige Art des 17. Jahrhunderts noch nicht zu überbrücken vermochte. Selbst die geistig weiter führenden Gedanken eines Leibniz vermochten sein gewaltiges Tatsachenwissen nicht ganz zu durdidringen. Ferner konnte audi die analoge Kluft, die zwischen dem sehr nüchternen und empirischen Geiste der praktischen Politik und den naturrechtlich fundierten allgemeinen Theorien vom Staate bestand, nicht überbrückt wer-

Drittes Kapitel den. Wohl aber hatte dieser Geist der praktischen Politik eine nur ihm dienende praktische Literatur hervorgerufen, in der von staatlichen Dingen anders gesprochen wurde als in den allgemeinen Staatstheorien jener Zeit. Das ist jene Literatur der Staatsräson und der Lehre von den Staatsinteressen der einzelnen Staaten, deren Bedeutung wir in unserem Buche über die Idee der Staatsräson nachzuweisen versuchten. Dem Staate der Theoretiker, wie er nach naturrechtlidien Voraussetzungen vorgestellt wurde, trat hier der wirkliche Staat, das wirkliche politische Handeln mit seinem Streben nach Machtbehauptung, mit seiner Berechnung der dafür dienenden Mittel und der gegnerischen Sdiachzüge, mit all seinen Rücksichts- und Skrupellosigkeiten, Listen und Schlichen gegenüber. Wohl drangen in das theoretische Denken auch realistische Bestandteile und in die Lehrbücher praktischer Staatskunst auch naturrechtliche Bestandteile ein. Das war möglich, weil hüben und drüben, im Naturrecht wie in der praktischen Politik ein hochgradig utilitarischer Geist lebte, der bald zu dieser, bald zu jener Waffe greifen und naiv aus der einen Denkrichtung in die andere hinüberwechseln konnte. Innerlich verschmolzen aber konnten sie dabei nicht werden. Auch in die Geschichtsschreibung, vor allem die Zeitgesdiiditssdireibung, drang die Lehre von der Staatsräson und den konkreten Staatsinteressen hier und da ein, und Pufendorf konnte sie mit einer harten und einseitigen Großartigkeit zum Prinzip des Verständnisses politischer Aktionen in seinen großen zeitgeschichtlichen, aus den Akten der Handelnden schöpfenden Werken machen. Das Beste an Bolingbrokes etwas seichten Letters on the study and use of History (1735) waren die im Geiste der Interessenlehre gehaltenen Überblicke über die neuere politische Geschichte. Daß auch Voltaire diese Lehre kannte und benutzte, aber meist nur äußerlich neben seinen sonstigen Urteilsmaßstäben verwandte, sahen wir. Sie muß damals allgemein bekannt gewesen sein. Erschien doch noch in denselben Jahren, in denen die großen historischen Studien Voltaires und Montesquieu begannen, das letzte große zusammenfassende Werk über die Interessenlehre, Roussets Handbuch »Les intérêts présents et les prétentions des puissances de l'Europe (zuerst 1733, in 3. Auflage 1741).

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D a ß Montesquieu diese Literatur wohl gekannt hat, läßt sich leicht nachweisen 1 . A b e r es gab nodi mehr als Literatur für ihn, es gab die lebendige Anschauung des Zeitgenossen von der Staatskunst und Kabinettspolitik Ludwigs X I V . und der Regentschaft. Sie ist von allerstärkstem Einflüsse auf die Bildung seiner G e dankenwelt geworden. W i e denn überhaupt das Erlebnis des Spanischen Erbfolgekrieges, der tiefen Erschöpfung, die er hinterließ, der letzten traurigen Zeiten Ludwigs X I V . und der um· und aufwühlenden Regentschaft, die Geister in Frankreich mächtig erregt und zu neuen Gedanken getrieben hat. Die nun a n wachsende Aufklärungsbewegung w a r zum nicht geringen Teile ein Protest gegen das machtpolitische Erbe des 17. Jahrhunderts. Des A b b é St. Pierres Traktat vom ewigen Frieden erschien 1 7 1 3 . »Ich interessiere mich nicht mehr f ü r die Kriege, sondern f ü r den Menschen«, hat Montesquieu einmal gesagt (Pensées et fragments 1, 301). Er hat seine erste, nodi unreife, aber an fruchtbaren G e dankenkeimen schon reiche Geschichtsphilosophie in bewußter Frontstellung gegen das, w a s er v o n Staatskunst und Madit1 Sein besonderes, sehr intensives Verhältnis zu Machiavelli hat LeviMalvano, Montesquieu e Machiavelli, 1912, lehrreich untersucht, ohne dies Thema ganz zu erschöpfen. Wertvoll ist namentlich der Nachweis des Einflusses, den viele Gedanken der Discorsi auf die Considérations und den Esprit d. I. gehabt haben. Eines der berühmtesten W e r k e der Staatskunstlehre des beginnenden 17. Jahrhunderts, die Bilancia politica Boccalinis, wird von Montesquieu in den Pensées et fragments 2, 357 zitiert. Auf der Liste der von ihm zu lesenden Bücher stand ferner des Herzogs von Rohan Interest des Princes et Estats de la Chrestienté 1638 (Pensées et fragments 1,31). In dem, was Esprit 21,30 überMachiavellismus und coups d'état sagt, wird man eine Anspielung auf Gabriel Naudés Lehrbuch machiavellistischer Staatskunst, die Considérations politiques sur les coups d'état von 1639, zu erblicken haben. Ein Nachzügler der »Tacitisten« des 17. Jahrhunderts, die im Anschluß an Tacitus über Staatskunst handelten, war der republikanisch gesinnte Engländer Thomas Gordon, dessen Tacitusübersetzung mit angehängten Diskursen 1728 erschien. Daß Mont, ihn benutzt hat, macht Dédieu, Mont, et la tradition polit, anglaise en France (1909) S. 287, wahrscheinlich. Dazu der Gebrauch der Schlagwörter, mit denen die Literatur der Staatskunst arbeitete, in den Schriften Montesquieus (nécessités de l'état, raison d'état, intérêt de l'état, maximes d'état, bienséance). — Schließlich sein Urteil über Pufendorfs Großen Kurfürsten (Voyages 2, 202): C'est le Tacite de l'Allemagne. Il démêle fort bien les divers intérêts de la cour de Berlin.

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politik vor sich sah, ausgebildet. Die Lettres persanes von 1721 verraten sie sdion hier und da; zum vollen Ausdruck kam sie in einem bald darauf geschriebenen, erst 1892 bekanntgewordenen Aufsatze De la Politique1. So diskreditiert war damals das Wort Politik, daß es ihm für gleichbedeutend galt mit einer Staatskunst ohne Treu und Glauben. »Es ist unnütz«, begann er, »die Politik direkt anzugreifen, indem man zeigt, wie sehr sie der Moral, der Vernunft, der Gerechtigkeit widerstreitet.« Denn die Politik werde so lange bestehen, als es Leidenschaften gäbe, die sie unabhängig vom Joche der Gesetze halten. Man müsse vielmehr anders vorgehen und den Politikern den Nachweis führen, daß ihre kleinen Künste und bösen Praktiken nichts, gar nichts bedeuteten gegenüber dem Gange der Dinge im großen. Ob dieser oder jener am Ruder stehe, ob man diesen oder jenen Entschluß fasse, sei eigentlich für das Endergebnis ganz gleichgültig. Denn über allem Einzeltun walte im gesellschaftlichen Leben der Menschen eine übergeordnete Macht, ein caractère commun, eine âme universelle mit einer Denkweise, die die Wirkung einer Kette von unendlichen, von Jahrhundert zu Jahrhundert sich weiter verzweigenden Ursachen sei. »Sobald der Ton gegeben und angenommen ist, ist er es allein, der regiert, und alles, was die Souveräne, die Obrigkeiten, die Völker tun oder sich einbilden können, mögen sie gegen den Ton zu verstoßen scheinen oder ihm folgen, bezieht sich immer auf ihn, und er herrscht bis zu seiner gänzlichen Vernichtung« - und wann diese eintrete, sei wegen der weiten Verzweigung aller mitwirkenden Ursachen niemals vorauszusehen und zu berechnen. Heute sei es der Geist des Gehorsams, der allgemein herrsche. Die Fürsten hätten es also nicht nötig, besonders geschickt zu sein, denn dieser Geist herrsche für sie, und was sie auch Übles, Zweideutiges oder Gutes tun möchten, es käme alles immer auf dasselbe hinaus. Eine echte Jugendphilosophie, leidenschaftlich radikal und einseitig, auch blind gegen bedenkliche Konsequenzen der eigenen Sätze. Er wollte die Schurkerei der Staatsmänner entwaffnen, moralisch wirken durch Mittel, die jenseits von Gut und Böse lagen. Aber diese extrem kollektivistische und fatalistische Ge1

Mélanges

inédits de Montesquieu

1892 S. 157ff.

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sdiiditsauffassung konnte gerade erst redit zur moralischen Indifferenz führen. Es bäumten sich zwiespältige Gedanken in ihm dadurch auf, die aus der Tiefe seines Wesens stammten und ihn durch sein ganzes Leben bewegen sollten. Einmal ein glühender Moralismus, der die von Machiavelli und den modernen Staatsmännern geschaffene Gedankenwelt und Lebenssphäre an ihrer unsaubersten Stelle angriff - und weiter ein ungewöhnlich hochgespanntes Kausalbedürfnis, das den Sinn für die unberechenbare und undurchdringliche Mannigfaltigkeit aller wirkenden Ursachen mit dem Sinne für große Generalkomplexe von Ursachen und Wirkungen verband, das unendliche Meer und die in ihm waltenden Hauptströmungen gleichzeitig erfaßte. Beide Tendenzen, die moralische mit ihrem Hasse gegen die Maditund Eroberungspolitik und die kausal-deterministische mit ihrem Bedürfnis nach Übertragung der neuentdeckten Naturgesetzlichkeiten auf das menschliche Leben, gehörten zum Wesen der Aufklärung, insbesondere der französischen Aufklärung. In jedem der Aufklärer aber konnte dieser typische Dualismus wieder eine individuelle Form annehmen. In Montesquieu wühlte er sich tiefer ein als in Voltaire. Seine Jugendschrift zeigt ihn in emotionaler Stärke, aber nodi etwas primitiv. Dabei kam es aber nun zu einer merkwürdigen Befruchtung des Montesquieusdien Denkens durch eben die Welt der »Politiker«, die er bekämpfte. Was er an ihr bekämpfte, war ihre häßlidie und vielfach kleinliche Auswirkung im Tagesbetriebe der Kabinettspolitik, war das, was man Madiiavellismus im spezifischen Sinne nennt. Aber Machiavelli hatte dem Staatsmanne audi das empirische Studium des wirklichen Menschen und der im Staatsleben überhaupt wirkenden Ursachen gelehrt. Er hatte Kausalitätenforschung oft der tiefsten Art getrieben, nicht eigentlich um ein neues Weltbild zu gewinnen - dies fiel ihm nur ungesucht als Frucht dabei in den Schoß - , sondern aus praktischen, aus staatsutilitarisdien Motiven, hinter denen freilich audi ein besonderes persönliches Staatsideal lebte. Und weil nun Montesquieus Moralismus keineswegs, wie bei manchen anderen Aufklärern, allein nur aus individualistischen Bedürfnissen entsprang, sondern auch Wohl und Wehe der großen sozialen Gemeinschaften auf dem Herzen trug, so konnte es geschehen, daß er audi bei dem Staatsutilitarismus und Empirismus Madiiavellis in die Schule ging und ihn

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als »großen Mann« deshalb ehrte1. Es ist für unsere Aufgabe nicht erforderlich, alle Einwirkungen Madiiavellis auf Montesquieu hier noch einmal zu verfolgen. Unser Ziel ist, die Geschichtsauffassung, wie sie sidi vor allem in den beiden an das Licht getretenen großen Werken darstellt, zu verstehen. Aber eben dafür ist es jetzt an der Zeit, ihn mit der von Machiavelli begründeten Denkrichtung von einer Seite her zu konfrontieren, die bisher, soweit wir sehen, nicht beachtet worden ist. Vergleicht man die allgemeinen Fragestellungen des Esprit des lois und selbst schon der aus ihm abgeschichteten Considérations mit denen Madiiavellis im Principe und den Discorsi über Livius, so springt sofort eine innere Verwandtschaft ins Auge. Machiavelli gliedert die Staaten nach ihren Staatsformen und stellt sich sowohl für die Republiken wie die Fürstentümer die Frage: Durch welche besonderen Mittel werden sie erhalten, welche Gesetze sind dafür zweckmäßig, vor welchen Fehlern müssen sie sich hüten, welches sind die Ursachen ihres Verfalles und Unterganges? Genau dasselbe Schema schimmert sowohl durch die Considérations, wie durch den Hauptteil des Esprit des lois überall durch. Man darf hierbei auch einen Blick auf die zwischen Machiavelli und Montesquieu liegende Literatur der ragione di stato und arcana imperii, die im 17. Jahrhundert geblüht hatte, werfen. Audi hier dominiert überall die Frage, durch welche der besonderen Lage und Staatsform angepaßten Mittel die Staaten erhalten werden können. Insbesondere war es seit Zuccoli und Settala aufgekommen, von einer besonderen Staatsräson der Monarchie, Aristokratie und Demokratie bzw. ihrer Verzerrungen in Tyrannis usw. zu handeln. Für jede dieser Staatsformen wurde ein Medianismus von Regierungsprinzipien und Verhaltungsmaßregeln herausgeredinet. Letzten Endes führte sidi diese Betrachtungsweise auf Aristoteles und das fünfte Buch seiner Politik zurück. In den Considérations, die uns später nodi eingehender beschäftigen werden, hatte es Montesquieu nur mit den Römern zu 1 Aus der Correspondance de Montesquieu 2, 369 mag hier nodi ein Zeugnis für die ungewöhnliche Bedeutung, die Machiavelli für Montesquieu gehabt hat, stehen. Er läßt am 15. Juni 1751 ein Kompliment für Hénault sagen, qui me toudie comme les grâces et m'instruit comme Machiavel.

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tun. Ihr Ziel war weiter gesteckt, als das der Discorsi Machiavellis, die er zwar in diesem Buche nie nennt, die ihn aber beeinflußt haben. Während Machiavelli nur tatsächlich in die Lehren der Staatskunst, die er primär geben wollte, eine Geschichtsphilosophie hineinlegte, strebte Montesquieu bewußt nach einer geschichtsphilosophischen Deutung des römischen Gesamtschicksals. Aber er tat es mit den Erkenntnismitteln der Staatskunstlehre, die Machiavelli gezeigt hatte. Denn überall achtet er hier in erster Linie auf die politischen Maximen im Handeln der Römer, wofür Polyb ihm eine Hauptquelle war, auf ihre principes toujours constants, auf das, was eine république sage tun darf und nicht tun darf, was ihr schädlich werden kann. Reflexionen über die beste Methode des Eroberns werden eingeflochten. Und was ist der Leitgedanke des Esprit des lois? Das Resultat meiner Untersuchung ist, heißt es in der Vorrede, daß die Menschen in dieser grenzenlosen Verschiedenheit von Gesetzen und Sitten nidit allein durch ihre Launen (fantaisies) geleitet waren1. Wohl war das, wie wir noch zu zeigen haben werden, ein Ergebnis, das sich weit erhob über eine eng begrenzte Staatskunstlehre und in geistiges Neuland wies. Und doch liegt auch ihm die alte technische Frage nach der vernünftigen Zweckmäßigkeit im staatlichen Handeln zugrunde. Er schreibe, sagt er weiter, nicht um das zu zensieren, was es in irgendeinem Lande an Einrichtungen gebe. Jede Nation werde in seinem Buche les raisons de ses maximes finden, und nur der dürfe Veränderungen vorschlagen, der mit einem coup de génie die ganze Konstitution eines Staates durchschaue. Wiederum ein großer, neuen Inhalts schwangerer Gedanke, wiederum aber verwurzelt in hergebrachten Einsichten der Staatskunst des ancien régime, in jenen Untersuchungen über die besonderen konkreten Interessen der einzel1 In den Lettres persanes (L. 129) hatte es nodi geheißen: La plupart des législateurs ont été des hommes bornés que le hasard a mis à la tête des autres, et qui n'ont presque consulté que leurs préjugés et leurs fantaisies. Man kann an diesem Punkte die bedeutende Entwicklung ermessen, die Montesquieus Denken seit seiner Jugend durchgemadit hat. Dabei sprach schon dieser Brief der Lettres persanes, innerlich freilich unverbunden, Grundgedanken des späteren Montesquieu aus, so vor allem den, daß, wenn es einmal notwendig sei, bestehende Gesetze zu ändern, es »nur mit zitternder Hand« geschehen dürfe.

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nen Staaten, also über die raisons de ses maximes. Neben dieser individualisierenden, den einzelnen geschichtlich eigentümlichen Staat betrachtenden Lehre von den Interessen der Staaten hatte, wie wir sagten, auch die schematisierende Lehre im 17. Jahrhundert geblüht, die unter Zurückdrängung des Individuellen nur fragte, was für die Erhaltung der verschiedenen Staatsformen der Monarchie, der aristokratischen oder demokratischen Republik politisch zweckmäßig sei. Und nun weiß man genugsam, daß ein großer Teil des Montesquieuschen Werkes darin besteht, für jede einzelne der von ihm behandelten Staatsformen auszurechnen, was sie zu ihrer Erhaltung bedürfe an Gesinnungen, Sitten, Einrichtungen und Regierungsmaximen1. Dieselben Grundsätze, so führt er oft genug aus, die etwa in der Demokratie verderblich sind, haben gute Wirkungen innerhalb einer Aristokratie. Festungen, so heißt es etwa, schützen die Monarchie, aber Despotien müssen fürchten, Festungen zu haben (9, 5). Verteilungen an das Volk schaden in der Demokratie, können nützen in der Aristokratie (5, 8). Auch das berühmte Kapitel 6 des Buches 11 über die englische Verfassung erhält in diesem Zusammenhange eine besondere Beleuchtung. Es gehört zu denjenigen Partien des Buches, die nicht schematisierend und generell die Lebensprinzipien der einzelnen Staatsformen, sondern individualisierend im Sinne der Interessenlehre die besondere Aufgabe des einzelnen konkreten Staates und die Mittel, deren er dafür bedarf, untersuchen wollen. Denn er geht davon aus, daß jeder Staat außer seiner allgemeinen Aufgabe de se maintenir (das mantenere Machiavellis!) noch eine besondere, ihm eigentümliche Aufgabe sich stelle - das sei für die englische Nation eben die politische Freiheit. Wie sein schematisierender Hang dann aber audi das Bild der englischen Verfassung wieder verrenkt und historisch verunstaltet hat, ist allbekannt. Wir lassen die Streitfrage, ob Montesquieu wirklich, wie lange angenommen wurde, in diesem 1 Dédieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France (1908) S. 132 Anm., und Montesquieu, (1913) S. 50 f., hat auf Doria, Vita civile, 1710, aufmerksam gemacht als eine vermutliche Quelle für Montesquieus Gedanken hierüber. Doria lehrt zum Beispiel, daß die Tugend der Bürger das Prinzip der Republiken, die Ambition das der Monarchien sei u. ä. Aber Doria setzt prinzipiell damit audi nur die Tradition der älteren Staatskunstliteratur fort.

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Kapitel sein eigenstes Staatsideal gezeichnet, sein eigenstes Glaubensbekenntnis abgelegt habe, nodi beiseite. Aber beaditen muß man schon hier, daß es sich um zwei überlieferte Fragestellungen, die der Literatur der Staatskunst und Staatsinteressen eigen waren, handelt: Einmal um die Frage, welche besonderen Interessen ein bestimmter konkreter Staat habe, und sodann um die Frage, welche technischen Veranstaltungen erforderlich seien, um einen bestimmten politischen Wert, nämlich die liberté politique, hervorzubringen. Derartige Fragen wurden von jener älteren. Literatur so behandelt, wie man etwa in modernen Generalstäben Aufmarsch- und Operationspläne für bestimmte supponierte Fälle ausarbeitet. Schon Machiavelli hatte seine Lehren der Staatskunst in dieser Art zu geben geliebt. An diese Tradition der Staatskunstlehre knüpfte Montesquieu, wie überhaupt, so auch hier sichtlich an. Daraus folgt aber, daß man sein Lob der englischen Verfassung nicht gleich zu persönlich, nicht zu wortwörtlich, nicht absolut nehmen darf. Er will zunächst nur sagen, daß unter der Voraussetzung, daß politische Freiheit das höchste Ziel eines Staates sei, die englische Verfassung mustergültig sei, und daß der individuelle englische Staat sich allerdings dies Ziel gesteckt und, soweit es auf die Gesetze ankomme, erreicht habe. Daß persönlichste Herzenstöne in diesem Kapitel mitschwingen, wird man nie leugnen dürfen. Aber auch der politische Relativismus, den die von Machiavelli begründete Denkriditung darstellt, die Kraft des Sich-hinein-Denkens in die verschiedensten Situationen und Aufgaben, prägt sich in ihm aus. Es ist Staatskunst im höchsten, damals erreichbaren Grade, was Montesquieu bieten will, es ist ein Lehrbuch der Staatskunst, die Fortsetzung der Linie, die Machiavelli begonnen hatte, ihr zweiter Höhepunkt nach ihm und in der Hauptsache auch Absdiluß. Denn was nach Montesquieu an ähnlicher Literatur noch erschien, wie etwa Bielfelds Institutions politiqueskommt geistesgeschichtlich nicht mehr in Betracht. Die Größe der Leistung Montesquieus aber bestand darin, daß er die gesamten wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit in den Dienst seiner Aufgabe stellte, dem Staatsmann die tiefste 1 Vgl. über sie meinen kleinen Aufsatz »Bielfeld als Lehrer der Staatskunst« in der Zeitschrift für öffentliches Recht VI, 4.

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Kenntnis staatlichen Lebens und die besten und sichersten darauf fundierten Maximen zu liefern. Die ältere Staatskunstlehre hatte diese Maximen oft nur den Vordergründen praktisch-politischer Erfahrung entnommen. Er wollte sie aus den Hintergründen, aus den letzten erkennbaren Gesetzmäßigkeiten geschichtlichen Lebens schöpfen. Geschichte und Naturwissenschaft, Erd- und Völkerkunde, die in das Gemeinbewußtsein übergegangenen Lehren der zeitgenössischen Philosophie und Psychologie, dazu nicht in letzter Linie die eigenen Erlebnisse, wurden von ihm so verwandt, wie ein Orgelspieler die verschiedenen Register und Tasten seines Instrumentes verwendet. Aus der humanistischen Überlieferung stammte die gewaltige Belesenheit in den antiken Autoren und die klassizistische Verehrung für die Mustergültigkeit antiker Erscheinungen. Aus der Reiseliteratur seiner Zeit die Heranziehung und Vergleichung exotischer Volksund Staatsverhältnisse, aus eigenen Reisen die Kenntnis des modernen Europas. Aus naturwissenschaftlichen Bemühungen der eigenen Jugendzeit die Vertrautheit mit den Ergebnissen der Naturforschung. Aus dem zur Zeit der Regentschaft erwachenden politischen Interesse an der Wiederbelebung der alten, vom Absolutismus unterdrückten Institutionen Frankreichs die intensive Versenkung in die ältesten Wurzeln dieser Institutionen und in die Quellenliteratur barbarischer Jahrhunderte. Und schließlich aus dem Fluidum der französischen Gesellschaft, des Salons, der Lektüre Montaignes und anderer geistreicher Welt- und Menschenkenner, vor allem aber aus eigener Anlage die geistige Versatilität, die milde Läßlichkeit und Aufgeschlossenheit gegenüber den sonderbaren Spielarten der menschlichen Psyche. Voltaire beherrschte ähnlich universal, wenngleich mit geringerer Gründlichkeit, die Erkenntnismittel seiner Zeit und wandte sie doch ganz anders an als Montesquieu. Für ihn waren sie Kampfesmittel in dem einen großen und einfachen Ringkampfe der zeitlos gültigen menschlichen Vernunft mit den mannigfachen Mächten der menschlichen Unvernunft, wobei dann die kausalen Beeinflussungen durch örtliche und zeitliche Faktoren, durch Klima, Boden, Staatsform, Sitten usw. zwar nicht vergessen wurden, aber zurücktraten vor dem dualistischen Hauptthema. In Voltaire feierte die naturrechtliche Auffassung des geschichtlichen Lebens, die inmitten aller seiner Varietäten dem einen

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Leitsterne der stabilen Vernunft folgte, ihren Triumph 1 . In Montesquieu aber vereinigten sidi die beiden großen Grundströmungen der letzten Jahrhunderte, die naturrechtlich-rationale und die empirisch-realistische. So wurde sein Werk nicht nur ein Höhepunkt und Abschluß der von Machiavelli begründeten Denkrichtung und Literatur, die auf Grund empirischer Analyse Lehren für den wirklichen Staat zu geben versuchte, sondern audi ein Höhepunkt inmitten derjenigen Denkrichtung und Literatur, die von allgemeinen naturrechtlichen Idealen geleitet nach dem besten Staate sich umsah. Denn sein höchster Leitstern blieb die Gerechtigkeit und der Einklang von Politik und Moral, und er sah deshalb den Staat nicht nur von oben, mit den Augen des Staatsmannes, sondern auch von unten, von den Bedürfnissen der Regierten, der Individuen aus an. Aber der staatsmännische Gesichtspunkt überwog, und so kam es zu dem denkwürdigen Sdiauspiel, daß der politische Realismus, den er als Sdiüler Machiavellis trieb, eine Achsendrehung durch ihn erfuhr, von dem Gebiete der rein machtpolitischen Fragen sich entfernte, ohne es ganz zu verlieren, und das neue Gebiet des Rechts, der bürgerlichen Freiheit und Ordnung, der Grenzen zwischen staatlicher und individueller Sphäre für sich eroberte. Der Geist der bürgerlichen Aufklärung strömte ein in das Bett, das Machiavelli einst gegraben hatte. Der Begriff der Staatskunst, den er geschaffen hatte, erweiterte sich zu einer alle sozialen und menschlichen Bedürfnisse, soweit sie mit dem Staate zusammenhingen, umfassenden Kunst des Gesetzgebers. Diese neue Staatskunst und ihre Problematik zu würdigen, liegt abseits unserer Aufgabe. Auch das seelische Ringen der Persönlichkeit, das sich in ihr offenbart', darf von uns nur so weit beachtet werden, als es der Klärung unserer eigentlichen Frage dient, was die Vereinigung der beiden Denkrichtungen, 1 »Voltaire wird niemals eine gute Geschichte schreiben«, heißt es in den Pensées et fragments 2, 59, »er ist wie die Möndie, die nicht für den Gegenstand, den sie behandeln, sondern für den Ruhm ihres Ordens schreiben. Voltaire schreibt für sein Kloster.« 1 Mit tiefem Anteil und oft sehr glüdclidi, aber etwas expressionistisch aufgewirbelt ist es dargestellt worden in dem Werke Klemperers über Montesquieu (2 Bde. 1914/15).

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die Montesquieu vornahm, zu leisten vermochte für ein neues und tieferes Verständnis der gesdiiditlidien Welt. Es gilt jetzt, den Gegensatz zwischen naturreditlidi-rationaler und empirisch-realistischer Denkweise noch deutlicher zu machen. Schon innerhalb der naturreditlichen, auf die Stoa zurückgehenden Denkweise gab es einen Gegensatz zwischen einem absoluten Naturrecht, dessen Quelle die menschliche, von Gott gegebene Vernunft war und dessen Aussprüche zeitlos gültige Normen waren, und einem relativen und differenzierenden Naturrecht, das, ohne diese Normen selbst grundsätzlich zu verleugnen, dodi Rücksicht nahm auf die tatsächlichen Unvollkommenheiten der menschlichen Natur und die mannigfaltigen Besonderheiten des gesellschaftlichen Lebens1. So daß in der weiteren Entwicklung bald mehr der absolute, bald mehr der relative Pol betont werden konnte. In Voltaire und der von ihm repräsentierten französischen Aufklärungsbewegung triumphierte der absolute Pol, und jene Unvollkommenheiten und Besonderheiten erschienen gegenüber den Forderungen der Vernunft nur als mehr oder minder unerfreuliche Hemmnisse, die man zwar nie ganz beseitigen konnte, weil die Übermacht der wirklichen Natur dahinter stand, die man aber doch hier und da durch »Perfektion« dem Vernunftideal, dem Ideal der wahren, höheren Natur des Menschen näherbringen konnte. Die empirisch-realistische, von Machiavelli ausgehende Denkweise dagegen ging entschlossen weiter auf dem Wege, den jenes relative und differenzierende Naturrecht schon beschritten hatte, nahm die Menschen und Dinge naturalistisch wie sie wirklich sind und gab mit kühler Zweckmäßigkeit praktische Lösungen der Lebensfragen. Blieb sie sich selbst getreu, so begnügte sie sich, wie bei Machiavelli und seinen Anhängern, mit höflichen Verbeugungen vor den Theorien des absoluten Natur- und Vernunftrechts. Vielfach aber strebte man nach einem Kompromiß zwischen den naturalistischen Einsichten und den Gedanken des absoluten Vernunftrechts. So Hobbes und Spinoza. Aber solange das absolute Naturrecht seinen starren und stabilen Charakter 1

Troeltsch, Das stoisdi-diristlidie Naturrecht und das moderne profane Naturrecht. Histor. Zeitschrift 106 und Gesammelte Sdiriften 4,

166 ff.

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behielt, mußten diese Kompromisse innerlich unvollkommen bleiben. Und der Begriff der »Natur« selbst mußte dabei andauernd schwanken zwischen einer irrationalen oder überrationalen Lebensmacht und Lebensquelle aller Wirklichkeit und einer rationalen, im Geiste des Menschen wirkenden Macht. Nennen wir fortan Naturalismus und Rationalismus diese beiden Pole. Audi Montesquieu ist über solches Kompromiß und solches Schwanken nicht hinausgekommen. Von einem Hauptstück naturrechtlichen Denkens über den Staat, von der Annahme, daß der Staat durch einen Vertrag der Menschen untereinander entstanden sei, hat sich sein Wirklichkeitssinn wohl immer ferngehalten. Aber sein Glaube an ein absolutes Naturrecht ist, wenn audi nicht oft, so doch, genügend bezeugt. Die große Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, heißt es in den Considérations (c. 22 Schlufi), die die Basis für die Ruhe der Völker bildet, ist gegründet nicht nur auf der Religion, sondern auch auf der Vernunft und Natur. Plato, meinte er im Esprit des lois (25, 7), sagt über die Götter alles, was das »natürliche Licht« jemals Verständigstes in Sachen der Religion gesagt hat. Und in der Zusammenstellung aller Arten von Gesetzen, durch die die Menschen regiert werden, mit der das 26. Buch beginnt, wird das droit naturel schlecht und recht vorangestellt. Aus ihm folgt zum Beispiel, da alle Menschen gleich geboren sind, daß Sklaverei »gegen die Natur« ist (15, 7). Aber er fügte sofort hinzu, daß in gewissen Ländern, nämlich denen des heißen Klimas, die Sklaverei dennoch auf einer raison naturelle beruhe. Und damit nähern wir uns dem naturalistischen Naturbegriff, der die zwingenden Wirkungen irrationaler und physischer Gewalten auf das menschliche Leben anerkennen mußte, dann aber es auch für vernünftig erklären konnte, ihnen nachzugeben. Der absolutierenden Vernunft trat damit eine relativierende Vernunft zur Seite. Die Gesetze, die die absolutierende Vernunft aufstellte, waren, von unserem heutigen Standpunkte aus gesehen, nichts anderes als Normen und Ideale für den denkenden und handelnden Menschen. Die Gesetze aber, die die relativierende Vernunft gab oder anerkannte, beruhten auch da, wo sie den Charakter von Normen und nicht etwa von bloßen Kausalitäten trugen, auf natürlichen Kausalzusammenhängen, denen die menschliche Vernunft sich eben anpaßte. Und nun ist 9*

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charakteristisdi für die Unklarheit, in die Montesquieu durdi das Nebeneinander von Naturalismus und Rationalismus in seinem Denken geriet, die große Auseinandersetzung über die Gesetze überhaupt, mit der er sein Werk begann. Gesetze, heißt es hier, sind die notwendigen Beziehungen, die aus der Natur der Dinge fließen1. Alle Wesen haben Gesetze, wie die Gottheit selbst, so auch die materielle Welt; die Tiere haben ihre Gesetze, die Menschen haben ihre Gesetze. Damit scheint, da auch Gott den von ihm gegebenen Gesetzen unverbrüchlich gehorcht, das strengste Kausalitätsprinzip proklamiert zu werden. Und dodi wandte er sich sofort heftig gegen diejenigen, die alle Wirkungen in der Welt auf eine blinde Fatalität zurückführten. Denn der Rationalist in ihm, der an zeitlose, dem gewöhnlichen Kausalzusammenhange entrückte Vernunftwahrheiten glaubte, sträubte sich gegen die deterministischen Konsequenzen seiner Vordersätze. Die Gesetze oder, wie wir sagen würden, die Nonnen der Vernunft, mußten für dies rationalistische Bedürfnis ebenso unveränderlich sein, wie die Gesetze der Bewegung in der materiellen Welt und die Sätze der Mathematik. Diesen Nachweis konnte er nur dadurch zustande bringen, daß er Gesetze im Sinne von Normen und Gesetze im Sinne von Kausalbeziehungen und mathematischen Sätzen durcheinanderwirbelte*. Die Begriffe von Recht und Unrecht zum Beispiel würden wir heute als Normen ansehen, deren Inhalte durch die Entwicklung von niederer zu höherer Lebensstufe entstanden sind und sidi audi weiter entwickeln und wandeln. Für Montesquieu aber mußten sie ebenso zeitlos gültig sein wie die Wahrheit der Mathematik. Und so schrieb er denn: »Zu sagen, daß es kein anderes Recht oder Unrecht gäbe als das, was die positiven Gesetze gebieten oder verbieten, das heißt soviel als sagen, daß, bevor man einen Kreis gezogen hatte, nicht alle Radien gleich lang gewesen seien.« Scharf und glatt faßte er demnach die Widersprüche, die er zwischen den positiven Gesetzen und dem sogenannten Naturrecht fand, als Widersprüche einer ver-

1

Über das Verhältnis von »Beziehung« zu »Gesetz« bei Montesquieu vgl. M. Ritter, Entwicklung der Geschichtswissenschaft S. 211. 2 Vgl. hierzu auch Bardchausen, Montesquieu, ses idées et ses oeuvres (1907) S. 40.

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änderlidien und einer unveränderlichen Normenwelt auf (26 3 und 4)1. Im Banne seines naturrechtlichen Denkens konnte sich also Montesquieu der Unklarheit nicht bewußt werden, die er durch die Vermischung der verschiedenen Begriffe von Gesetz beging. Auch das machte ihn nicht irre, daß, wie er dann selber ausführte, die Vernunftgesetze von dem Menschen auf Schritt und Tritt verletzt werden, während doch seine physische Natur unverbrüchlichen Gesetzen unterworfen sei. Das komme daher, sagte er, daß er als unbegrenzte Intelligenz der Unwissenheit und dem Irrtum, als empfindendes Geschöpf tausend Leidenschaften unterworfen sei. Und nun muß man es Montesquieu lassen,.und darin besteht eine seiner größten Leistungen, daß er diese Spiele der Unwissenheit, des Irrtums und der Leidenschaft im geschichtlichen Leben ganz anders und viel tiefer zu durchdenken vermochte als Voltaire. Sein wissenschaftliches Kausalbedürfnis war echter und ursprünglicher als das Voltaires. W o dieser mit dem selbstgenießerischen Hochmut des Aufklärers in der Regel nur Sinn neben Unsinn gelagert sah und den Unsinn in der Geschichte seufzend und achselzuckend als Naturverhängnis hinnahm, strebte Montesquieu energisch danach, auch einen Sinn im Unsinn zu entdecken. Zunächst dadurch, daß er audi in solchen geschichtlichen Erscheinungen, die dem Vernunftgesetze widersprachen, die Spuren einer trotz alledem sich irgendwo durchsetzenden Vernünftig1 Es gehört zu den kleinen Inkongruenzen M.s, daß er in dem unmittelbar vorhergehenden Kapitel 26, 2 ausdrücklich nur dem »göttlichen Redit« den Charakter der Unveränderlichkeit beilegt. Ganz unzweideutig aber heißt es dann 26, 14: La défense des lois de la nature est invariable, parce qu'elle dépend d'une those invariable. Ein hübsches Beispiel, wie M. bei der Arbeit selbst nodi mit dem Problem rang, die naturrechtlich verstandene Vernunft mit der Fülle der geschichtlichen Varietäten in Einklang zu bringen, gibt Barckhausen (Montesquieu usw. 1907 S. 233) aus den Papieren von La Brède. Der 11. Absatz von I. 3 sollte ursprünglich lauten: La raison humaine donne des lois politiques et civiles à tous les peuples de la Terre... Er wurde geändert in: La loi en général est la Raison humaine en tant qu'elle gouverne tous les peuples de la Terre... Der Rationalismus wurde damit gedämpft, aber nidit aufgehoben. — Vgl. audi Pensées et fragments 1, 381 über die lois invariables et fondamentales, die im Staatsleben herrschen sollten, freilich nicht immer herrschen.

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keit nachwies. Wir erinnern noch einmal an sein großes Wort in der Vorrede, daß die Menschen in der grenzenlosen Verschiedenheit von Gesetzen und Sitten nicht allein durch ihre Phantasien geleitet wurden. Er hatte eben überall und immer wieder entdeckt, daß rationale und irrationale Motive ineinander wirken. Selbst die Irokesen, die ihre Gefangenen essen, heißt es gleich am Anfang des Werkes (1, 3), haben ein Völkerrecht. Sie sdiicken und empfangen Gesandtschaften, kennen Rechte des Krieges und des Friedens; unglücklicherweise, mußte er aber im Sinne des Vernunftsrechts hinzusetzen, sei dieses Völkerrecht nicht auf den wahren Prinzipien aufgebaut. Wie es unendlich viel weise Dinge gibt, die auf eine sehr törichte Manier behandelt werden, so gibt es auch Torheiten, die auf eine sehr weise Manier durchgeführt werden (28, 25). Zu den bekanntesten Zügen seines Denkens gehört der Respekt vor den Sitten der Völker, wie sie nun einmal erwachsen seien, sein Rat, sie zu schonen, wo sie nicht unmittelbar schädlich seien, seine Warnung, sie gewaltsam durch Gesetze ändern zu wollen. Denn ein Volk, sagt er, kennt, liebt und verteidigt immer mehr seine Sitten als seine Gesetze (10, 11). Während er die Entstehung der Gesetze zumeist noch pragmatistisdi - und dadurch tief geschieden von der späteren Volksgeistlehre Savignys - auf den bewußten, wenn audi von den konkreten Umständen bestimmten Willen des Gesetzgebers zurückführte, dachte er schon kollektivistisch über die Entstehung der Sitten und Manieren 1 . Sie sind, urteilte er, das Werk der Nation im allgemeinen (19, 14). Aus der Natur, sagt er ein andermal, ziehen die Sitten ihren Ursprung, die Akzente der Natur sind die süßesten aller Stimmen (26, 4). Die Beispiele, die er dabei vor Augen hatte, lassen zwar erkennen, daß der Begriff der Natur hier noch einen naturrechtlichen Sinn hatte, weil die Sitten, auf die er dabei anspielte, dem, was man unter natürlicher Moral verstand, entsprachen. Aber dies Wort von der süßesten aller Stimmen hatte schon einen Klang und Emp-

1 Freilich nicht ohne Ausnahme. Lycurgue... forma les manières heißt es 19, 16. Hier war er aber, wie später nodi einmal zu betonen sein wird, klassizistisch abhängig von der antiken Tradition. Audi die chinesischen Gesetzgeber behandelt er an derselben Stelle, abhängig von der Reiseliteratur, ähnlich pragmatistisdi.

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findungswert, der über den Rationalismus hinauswies in ein ganz neues, innerlicheres Verhältnis zur Geschichte. Es war das erste Keimen eines neuen Lebensgefühls, einer tieferen, gemütvolleren Erfassung des Begriffs Natur. Schon in dem Jugendwerke der Lettres persanes (L. 53) hatte er gegen den uniformierenden und versklavenden Geist der Gesellschaft an die »Natur« appelliert, »die sich so verschieden ausdrückt und unter so vielen Formen erscheint«1. Aber diesem neuen Gefühle schon ganz sich hinzugeben, war die Zeit nodi nicht reif. Mochte es ihn in der Tiefe schon treiben, im hellen Bewußtsein überwog für ihn das Bedürfnis, seinen Respekt vor den Irrationalitäten des geschichtlichen Lebens utilitarisdi und rational zu rechtfertigen. Die tatsächliche Macht des Irrationalen war den Aufklärern ja überhaupt durchaus nicht unbekannt. Voltaire hatte auch die merkwürdigen Mischungen konträrer Eigenschaften innerhalb derselben geschichtlichen Erscheinung und daß Gutes und Schlimmes aus derselben Quelle fließen könnte, wohl bemerkt. Montesquieu erhob sich schon dadurch über Voltaire, daß er auch das Nützliche dieser Irrationalitäten nachwies - nämlich ihren Nutzen für den Staat. Denn die ganze große Tradition der von Machiavelli begründeten, von der Antike mitgenährten Staatskunstlehre kam hier zu einem höchst modernen Ausdruck. Jene Lehre hatte immer wieder mit den Leidenschaften, Torheiten und Schwächen der Menschen rechnen gelehrt. Schon in seiner stark von Machiavelli beeinflußten* Jugendarbeit, der Dissertation von 1716 über die Religionspolitik der Römer, hatte Montesquieu geschrieben: »Polybius rechnet den Aberglauben in die Reihe der Vorteile, die das römische Volk über die anderen Völker hatte. Was lächerlich den Weisen scheint, ist notwendig für die Dummen®.« In den Considérations liest man (c. 4): »Es 1 Vgl. auch seinein pädagogischen, Rousseau vorauseilenden Gedanken über Kindererziehung Pensées et fragments 2, 307. Votre art trouble le procédé de la Nature... Laissez former le corps et l'esprit par la Nature! 2 Vgl. Levi-Malvano, Mont, e Math. 67. 8 Wie Staatskunstlehre und Aufklärungsgesinnung nebeneinander in ihm lebten, zeigt sehr charakteristisch ein anderes Wort über den Aberglauben in den Pensées et fragments 1, 390. »Nichts ist geeigneter, schädliche Vorurteile zu erzeugen, als der Aberglaube, und wenn es zuweilen geschehen ist, daß weise Gesetzgeber sich seiner mit Vorteil

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gibt nichts so Mächtiges, wie eine Republik, in der man die Gesetze beobachtet nicht aus Furcht, nicht aus Vernunft, sondern aus Leidenschaft - wie in Rom und Lacedämon 1 .« Ganz entsprechend sagt er im Esprit des lois (19, 27) von dem bewunderten England: »Diese immer erhitzte Nation könnte leichter durch ihre Leidenschaften, als durch ihre Vernunft geleitet werden, die niemals große Wirkungen auf den Geist der Menschen ausübt 1 .« Er gab, so scheint es, ein denkwürdiges Ohnmachtsbekenntnis der Vernunft damit ab. Aber darf man es wirklich schlankweg so interpretieren? Fühlte sein Rationalismus sich hier am Ende und kapitulierte er vor der Macht der irrationalen Seelenkräfte in der Geschichte5? Wird hier schon der schmale und hohe Grat überschritten, der die Gefilde der Aufklärung von denen des Historismus trennt? Man dürfte das im Ernste nicht behaupten. Der enge Zusammenhang vielmehr, in dem die Denkweise Montesquieus mit der älteren Staatskunstlehre steht, zwingt zu einer anderen Deutung seiner Worte über die Macht der Leidenschaften. Diese Macht war denen, die man die »Politiker« einst nannte, längst bekannt, und schon Machiavelli hatte mit ihnen arbeiten gelehrt. Für sie waren die Leidenschaften der Mensdien und Völker nichts anderes als das feurige Roß, das die Vernunft als Reiter zu lenken und je nachdem bändigen oder frei rennen lassen sollte. Die Vernunft des Reiters war dabei nicht etwa identisch mit der Vernunft der Aufklärung. Sie hieß vielmehr in erster Linie Staatsräson, Staats- und Machtintcresse, straffe Zweckmäßigkeit und Rationalität in der Benutzung aller, auch der irrationalen Mittel zur Gewinnung und Behauptung von bedient haben, so hat das menschliche Geschlecht dabei tausendmal mehr verloren als gewonnen.« 1 Vgl. dazu audi die Pensées et fragments 2, 225. 2 Ein verwandtes Urteil über England, une nation impatiente, sage dans sa fureur même, schon in den Lettres persanes L. 136, also vor seiner englischen Reise, deren Einfluß auf die Entwicklung seines Denkens nicht übertrieben werden darf. 3 In den Pensées et fragments 2, 133 findet sich einmal der Ausruf: »Merkwürdige Sache! Fast niemals ist es die Vernunft, die die vernünftigen Dinge macht, und man kommt fast nie zu ihr durch sie selbst.« Aber das Beispiel, das er dann gibt (Eitelkeit zweier römischer Frauen als Ursache einer segensreichen Verfassungsänderung), zeigt einen fast primitiven Pragmatismus.

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Macht. Wohl aber konnte sidi, und sdion bei Machiavelli begann das, diese Staatsräson auch verinnerlichen, mit ethischem Inhalt füllen und das so oder so gestaltete Ideal eines gesunden und kräftigen Volks- und Staatslebens, eine vollkommenere Gesellschaftsverfassung als höchstes Ziel sich setzen. Und dabei konnte dann audi die aufklärerische Vernunft mitsprechen und humanitäre, eudämonistisdie Ziele in dies Staatsideal verflechten. So geschah es bei Friedrich dem Großen. Aber bei ihm klafften die praktischen Machtziele und die eudämonistischen Endziele so weit auseinander, daß diese schließlich im Unerreichbaren zu verschwinden drohten. Denn für Friedrich galt der Primat der Außenpolitik, der Machtpolitik κατ' εξοχήν. Für den Juristen Montesquieu aber galt umgekehrt der Primat der Innenpolitik. Persönlichsten Klang hatte sein Wort, daß nächst der christlichen Religion die besten politischen und bürgerlichen Gesetze das größte Gut seien, das die Menschen geben und empfangen können (24, 1). Darum sah er im Staatsmann in erster Linie nicht den Machtpolitiker, sondern den weisen Gesetzgeber, der aus der jeweilig gegebenen irrationalen Wirklichkeit die beste Verfassung, die jeweilig möglich ist, herausgestaltet. Irrational mag, so sagten wir, das Roß, aber rational muß der Reiter sein. Und so folgte jenem Worte aus den Considérations, das wir anführten, daß in Rom und Sparta die Leidenschaft und nicht die Vernunft der eigentliche Grund der starken Staatsverbundenheit des Volkes gewesen sei, der bezeichnende Zusatz: »Denn dann vereinigt sich mit der Weisheit einer guten Regierung die ganze Kraft, die eine Faktion würde haben können.« Und nicht anders steht es mit dem Bilde der von mächtigen Leidenschaften bewegten englischen Nation, das er entwarf. Gäbe es hier nicht, so führte er dabei weiter aus, diese Entfesselung aller Leidenschaften, des Hasses, des Neides, der Eifersucht, der Gier, sich zur bereichern und sich auszuzeichnen, so würde der Staat einem von Krankheit erschöpften Menschen gleichen, der keine Leidenschaften hat, weil er keine Kräfte hat. Auch dieses irrationale Schauspiel, von ihm mit besonderem Feuer, überaus geistreich und fast schon mit Farben des späteren Historismus geschildert, beruht doch letzten Endes auf einem rationalen, man darf sagen, rationalistischen Prinzip. Denn er will hier zeigen (19, 27), »wie die Gesetze zur

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Formung der Sitten, der Manieren und des Charakters einer Nation beitragen können«. Es ist die englische Verfassung, wie er sie auffaßte, jener von ihm so kunstvoll, aber audi so rationalistisch künstlidi berechnete Medianismus der Gewaltenteilung, der diese lebensvolle Entfaltung aller edlen wie unedlen Nationalkräfte ermöglichen und letzten Endes zum Guten wenden soll. Und auch das Spiel dieser Kräfte selbst wird dabei zu einem wundervoll ineinandergreifenden Medianismus und verliert damit an Lebenshauch wahrer Geschichtlichkeit. Nun war aber Montesquieu trotz seines oft bezeugten Glaubens a n die prägende Kraft des weisen Gesetzgebers weit entfernt von der banalen Tagesmeinung des Rationalismus, die hinter allem geschichtlichen Geschehen absichtsvolle Urheber witterte. Er wußte, und darauf beruht die Tiefe vieler seiner Einsichten, daß Allgemeines und Persönliches, Umwelt und Individuen in Wechselwirkung miteinander stehen. Er kannte die prägende Kraft nicht nur des Gesetzgebers, sondern audi der Institutionen. Aber wie naiv mechanisch fiel einmal sein Versuch aus, beide Faktoren grundsätzlich gegeneinander abzuwägen. In der Geburtszeit der Republiken, so liest man im ersten Kapitel der Considérations, sind es die Häupter der Republiken, die die Institution madien; nachher ist es die Institution, die die Häupter der Republiken formt. Man kann danach einen wesentlichen Zug seiner Geschichtsauffassung darin sehen, daß er den personalistischen Pragmatismus, die Vorstellung von der Bedeutung der bewußt zweckhaft handelnden Menschen, vereinigte mit dem Pragmatismus der Institutionen, und nicht nur dieser, sondern aller außerpersönlichen Kausalitäten überhaupt. Dieser Pragmatismus aber blieb im Banne eines sowohl mechanistischen wie utilitarisdien Denkens. Mechanisch wurden die geschichtlichen Kausalitäten gegeneinander abgezirkelt und reinlich, eine jede für sich, beredinet. Als klügster Mechaniker wußte er dabei auch, daß die Wirklichkeit nicht immer mit den berechneten Wirkungen übereinstimmt. »Wie die Mechanik ihre Reibungen hat, die oft die Wirkungen der Theorie verändern oder aufhalten, so hat auch die Politik ihre Reibungen« (17, 8). Und weil er als wollender und wünschender Politiker, nicht aus reinem Betrachtungs- und Erkenntnisdrang die geschichtliche Welt untersuchte, so wird es vollends

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verständlidi, daß er einmal zu einem so unerhört reichen und umfassenden Bilde geschichtlicher Kausalitäten gelangen und sie dodi, wenigstens in den Hauptteilen seines Werkes, nicht innerlich zu einem lebendigen Werdestrome verschmelzen konnte. Denn was kümmerten den politischen Menschen das ancien régime, von Machiavelli angefangen, die letzten geheimen Zusammenhänge des Lebens, wofern er nur alle diejenigen Zusammenhänge kannte, die für das Handeln des Staatsmannes wichtig werden konnten. Das Wissen von solchen Kausalitäten erweitert zu haben bis zur äußersten damals möglichen Grenze, war die ungeheure Leistung Montesquieus. Staatsutilitarismus auf breitester empirischer Basis war der vorwaltende Geist seines Werkes. Immer wieder erscheint er uns so als ein höchster Gipfel in jener mit Machiavelli anhebenden Bewegung, die eine rationale Staatskunst auf empirischer Grundlage schaffen wollte. Freilich zugleich, um es nodi einmal einzuprägen, als ein Bergmassiv, das einen Absturz seiner halben Masse erfahren hat und nun wie halb entblößt dasteht. Denn das volle Interesse und Verständnis für die Bedeutung der auswärtigen Politik, der Macht- und Kriegsprobleme, ohne die audi das Innenleben der Staaten nicht zu verstehen war, war diesem pazifistisch angehauchten Jünger der Aufklärung, diesem Hasser der großen Heere und des Rüstungswetteifers seiner Zeit (13, 17) nidit mehr möglich. Es lag nun im Wesen dieses staatsutilitarisdien Motivs seiner Forschung, daß es Quelle und Hemmung seiner historischen Einsichten zugleich werden konnte. Es trieb ihn an, den Boden der Gegebenheiten, auf dem der Gesetzgeber aufbauen muß, der psychologischen, geschichtlichen und natürlichen Faktoren, mit denen er zu rechnen hat, immer tiefer auszugraben, aber es verführte ihn auch dazu, diesen Faktoren jenen medianisch handlichen Charakter zu geben, der dem Bedürfnis des Praktikers genügt, dem Bedürfnis eines vollen historischen Verstehens und Nadierlebens geschichtlicher Dinge aber nicht mehr genügt. Es ist allbekannt, wie einer seiner Leitgedanken, den Einfluß des Klimas auf den verschiedenen Charakter der Völker und ihrer Einrichtungen nachzuweisen, unter soldier Mechanisierung leidet. Wohl war es eine große Tat, mit dem erweiterten geographischen Wissen seiner Zeit die Frage nach diesem Einfluß, die schon Bodinus und andere, an antike Versuche anknüpfend, sich gestellt

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und ziemlich primitiv beantwortet hatten, systematisch wieder aufzunehmen 1 . Aber sein Interesse haftete nun auch in erster Linie an den unmittelbaren, oft sehr grob aufgefaßten Einzelzusammenhängen zwischen Klima, Volkscharakter und Gesetzgebung und führte gerade dadurch, daß es diese Einzelzusammenhänge nicht einbettete in einen Gesamtstrom geschichtlichen W e r dens, zu doktrinären Verallgemeinerungen und wunderlichen Ubertreibungen. Hat er dodi zum Beispiel die Selbstmordmanie der Engländer aus dem Klima abgeleitet (14,12 f.)1. Die »große Ursache für die Schwäche Asiens und die Kraft Europas, für die Freiheit Europas und die Knechtschaft Asiens« glaubte er in den klimatischen Unterschieden Europas und Asiens entdeckt zu haben (17,3). Da hatte nun einmal Voltaire, geärgert durch den Naturalismus der Montesquieusdien Klimalehre, der sein eigenes aufklärerisches Wollen in die Tiefe bedrohte, den glücklicheren historischen Blick. Nicht auf dem Klima, hielt er ihm entgegen, sondern auf der Leistung der Griechen beruht die Überlegenheit der Europäer über den übrigen Erdenrund. »Wenn Xerxes bei Salamis gesiegt hätte, wären wir vielleicht nodi Barbaren.« Die Klimalehre Montesquieus hatte deterministische Konsequenzen, die in eine merkwürdige Spannung mit seinen staatsutilitarischen und aufklärerischen Ideen gerieten. »Wenn es wahr ist«, so beginnt das erste der Klimalehre gewidmete Budi 14, »daß der Charakter des Geistes und die Leidenschaften des Herzens extrem verschieden sind in den verschiedenen Klimata, so müssen die Gesetze sowohl dem Unterschiede dieser Leidenschaften, wie dem Unterschiede dieser Charaktere entsprechen (doivent être relatives)«. Man beachte den Doppelsinn dieser Worte. Sie können sowohl die rein historische Feststellung einer Kausalität, wie eine Maxime für den Gesetzgeber bedeuten. Tatsächlich geht dieser Doppelsinn auch durch alles Folgende; zuweilen 1 Daß Montesquieu die physiologischen Grundlagen seiner Lehre aus der 1733 erschienenen Sdirift des englischen Arztes Arbuthnot über die Wirkungen der Luft entlehnt hat, scheint mir Dédieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France (1909) S.212ff., wohl nachgewiesen zu haben, aber die breite Anwendung dieser Lehre auf das Staats- und Gesellschaftsleben war Montesquieus Leistung. 2 Darin war ihm Dubos vorangegangen. Lombard, L'abbé Dubos, S. 250 und 327.

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überwiegt die deterministische Lehre1. »Es gibt Klimata, in denen das Psychische eine solche Gewalt hat, daß die Moral fast nichts dagegen vermag« (16, 8). Und doch konnte er dann wieder den vernünftigen Gesetzgeber auffordern, nicht nur die Eigenheiten des Klimas zu beachten, sondern auch den Kampf mit ihnen aufzunehmen, wo sie die natürliche Moral schädigten. »Wenn die physische Macht gewisser Klimata das natürliche Gesetz der beiden Geschlechter und das der denkenden Wesen verletzt, dann ist es Sache des Gesetzgebers, bürgerliche Gesetze zu geben, die die Natur des Klimas zwingen und die natürlichen Gesetze wiederherstellen« (16, 12). Selten kann man so deutlich wie an diesen auseinanderbiegenden Urteilen in den Zwiespalt der beiden DenkriditungenMontesquieus, der naturalistisch-empirischen und der rationalistisdi-naturreditlichen, hineinsehen. Und ein eindeutiger Begriff dessen, was »Natur« sei und wie sie sich zum geschichtlichen Leben verhalte, war dabei nicht zu gewinnen. Schon ihn hat dieser Zwiespalt zwischen der Natur, insofern sie Vernunft war, und der Natur, insofern sie determinierende Zwangsgewalt war, zwischen der Tag- und der Nachtseite des damaligen Weltbildes, seelisch so tief bewegt, daß dieses Problem, dieser Kampf zwischen den causes morales und den causes physiques als ein Grundthema seines Denkens gelten kann*. Er hat diesen Kampf in sich nicht geschlichtet und die Klimalehre nicht konsequent und organisch durchführen können. Mußte nicht dieser hier zutage tretende Zwiespalt alles weitere geschichtliche Denken einmal auf neue Bahnen treiben? Wie von Voltaire, so kann man auch von Montesquieu sagen, daß eine innere Dialektik von den ungelösten Problemen der Aufklärung hinüberdrängte zu den Lösungsversuchen des Historismus. 1 In 16, 2 Scfaluß findet sidi ein Wort, das auf den ersten Blick das Klima als eine alle raisons humaines bestimmende cause suprême hinzustellen scheint. So hat es audi Klemperer 2, 157 interpretiert. Aber vor ihm hatte schon Dédieu, Montesquieu ( 1913), S. 309, wahrscheinlich gemacht, daß an dieser erst in der Ausgabe von 1753 hinzugefügten Stelle die cause suprême vielmehr als göttliche Leitung der Welt verstanden werden kann. Der Zusatz ist unorganisch genug eingefügt und dabei zweideutig formuliert. Sollte es Montesquieu etwa absichtlich getan haben, um die kirchlichen Kritiker seiner Klimalehre zu beruhigen und zugleich naszuführen? 1 Vgl. Klemperer, Montesquieu 1, 30; Dédieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France (1909), S. 197 ff.

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Was aber auf der Stufe der Aufklärungsepoche durch die Vereinigung naturalistischer und rationalistischer Betrachtungsweise geschichtlich bereits geleistet werden konnte, das hat Montesquieu aufs großartigste geleistet. In beiden Denkweisen wirkte sidi das Bedürfnis nach kausaler Erkenntnis, das der Aufklärung im ganzen eigen war, aus. Die innerlich mächtigere Denkweise war damals innerhalb der französischen Aufklärung wohl nodi die rationalistisdie. Bei Voltaire überwog sie derart, daß darüber das reiche Spiel der geschichtlichen Mannigfaltigkeiten zum bloßen Kaleidoskop wurde. Montesquieus Tat war es, daß er, von jenen Bruchstellen der beiden Denkweisen, die wir bei ihm beobachteten, abgesehen, sie mit weit ausgreifenden Armen miteinander zu vereinigen und zu durchdringen strebte - den empirischen Sinn für die Mannigfaltigkeit der menschlichen Dinge und ihrer unendlich vielen besonderen Verursachungen, und den Sinn für die vernunftgemäße Einheit, die diese Mannigfaltigkeit beherrscht und letzten Endes erklärt, für oberste Gesetze, aus denen man alle Mannigfaltigkeit wie aus einer Quelle fließen sehen möchte. So daß zuletzt, wie es im Eingang des Esprit heißt, jede Verschiedenheit Uniformität, jede Veränderung Konstanz wird. Die kühnste philosophische Absicht, die immer nur sein kann, dem Sein und dem Werden gleichzeitig gerecht zu werden, regt sich dahinter, aber freilich nodi gebannt in das mechanistische Denken der Zeit. Der große historische Wurf der Considérations, das gewaltige Drama der römischen Geschichte in Aufstieg und Niedergang als einen von allgemeinen Gesetzen beherrschten einheitlidien Prozeß zu begreifen, beruhte hierauf. Das Thema war wie kein anderes geeignet, das historische Denken aufzuregen und das Forschen nach Ursachen anzustacheln. Die Geschichte dieser Forschung von Biondo und Machiavelli an bis zu St. Evremonds 1664 geschriebenen Réflexions sur les divers génies du peuble Romain dans les divers temps de la République und zu dem Bossuetsdien Discours von 1681 zeigt die Wandlungen im kausalgesdiiditlidien Denken von der Renaissance an1. Montesquieu hat zweifellos aus ihr viel gelernt. St. Evremond hatte, wenn auch nur mit den 1

Vgl. Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken (1930), der sogar dafür bis in die Antike selbst zurückgreift.

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Mitteln einer summarischen Psychologie, den Wandel des »Geistes« im Römervolk von roher, aber kraftvoller Staatshingabe bis zum Aufkommen eines partikularen Interessenegoismus verfolgt und dabei schon grundsätzlich alles Detail der Überlieferung eingeschmolzen in seine allgemeine Frage. Je cherche moins à décrire les combats qu'à faire connaître les génies. (Œuvres 1714. 1, 287.) Bossuet war kausal nodi weitergegangen und hatte ebenfalls ganz grundsätzlich die Frage nach den causes universelles über die gewöhnliche personalpragmatische Frage nadi der Charakterbeschaffenheit der Handelnden gestellt (III, 7 Sdiluß). Beide bahnten also methodisch den W e g zu einer Gesamtbetraditung des römischen Schicksals. Neu war bei ihnen einmal die Absicht, nicht bloß, wie es bei Machiavelli nodi überwiegend der Fall war, staatsutilitarische, sondern historische Erkenntnis zu gewinnen und weiter das zwar noch nicht wahrhaft kritische, aber freiere und souveränere Verhältnis zur antiken Überlieferung, die sie umgruppierten unter Einsatz der eigenen reflektierenden Subjektivität. St. Evremond hat auch schon an der Autorität des L i vius kritisch zu zweifeln begonnen. Darin folgte ihm der gar zu quellengläubige Montesquieu zwar nicht. Aber er überbot beide Vorgänger* durch die leidenschaftliche Anspannung, mit der auch er nunmehr die Generalursadien zu ermitteln versuchte. »Nicht das Glück regiert die W e l t ; man kann es bei den Römern erfragen, die eine dauernde Folge von Glücksfällen hatten, als sie sich nach einem bestimmten Plane regierten, und eine ununterbrochene Reihe von Unglücksfällen, als sie sich nach einem anderen Plane richteten.« Audi Machiavelli hatte in den Discorsi (II, 1) die eigentlichen Ursachen der römischen Größe nicht in der fortuna, sondern in der virtù erblickt, dann aber doch wieder (11,29) der fortuna eine dämonische Macht zugeschrieben und im Principe (c. 25) die Herrschaft über menschliches Handeln geteilt gesehen zwischen fortuna und virtù. Zu einer allgemeinen und zusammenhängenden Kausalitätstheorie erhob er sich noch nicht. W i e sehr nun aber seit der Renaissance das Kausalitätsbedürfnis und das Selbstvertrauen des Geistes, das Leben er1 Über seine Einzelpolemik gegen Bossuets Klerikalismus, audi über die Bedeutung, die Polybios' Geschichtsauffassung für beide gehabt hat, handelt Duraffours, Montesquieu, Bossuet et Polybe in Mélanges Ch. Andler 1924.

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klären zu können, gewachsen war, das zeigen die weiteren Worte Montesquieus, die schon des jungen Friedrichs des Großen Aufmerksamkeit erregt haben: »Es gibt allgemeine Ursachen, seien es physische, seien es moralische, die in jeder Monarchie wirken, sie erheben, erhalten oder stürzen; alle Äkzidenzfälle sind diesen Ursachen unterworfen, und wenn der Hazard einer Schlacht, das heißt eine partikulare Ursache, einen Staat ruiniert hat, so gab es immer eine allgemeine Ursache, die es bewirkte, daS dieser Staat durch eine einzige Schlacht zugrunde gehen mußte. En un mot, l'allure principale entraîne avec elle tous les accidents particuliers (c. 18).« Es war die reifste Formulierung seiner historischen Kausalitätstheorie, der wir sdion in seinem Jugendaufsatze De la Politique begegnet sind. Dieses Prinzip angewandt auf die römisdie Geschichte, ergab folgendes Bild: Durch ein einheitliches und konstant gehandhabtes System großartiger Maximen, alle darauf gerichtet, den Staat zu vergrößern, wurde die römische Republik zur Weltmacht. Der »Geist der Römer« wirkte sich darin aus. Wir werden auf seine Lehre vom Geiste zurückzukommen haben und bemerken hier nur, daß er, um seiner Lehre von den Generalursachen, der allure principale, den stärksten und einfachsten Ausdruck zu geben, diesen »Geist der Römer« als ein beinahe von Anfang an fertiges Gebilde bewunderungswürdiger Eigenschaften auftreten läßt. Das war eigentlich ein Rückschritt gegen St. Evremonds Betrachtungsweise, die sich gerade auf die verschiedenen zeitlichen Abstufungen des Römergeistes gerichtet hatte. Ihn drängte es aber zur Zusammenballung der Ursachenkomplexe. Ganz massiv ist darum audi die Ursache gedacht, die diesen Römergeist, insofern er auch der Geist eines Freistaats war, zugrunde richtete. »Die G r ö ß e des Reichs verdarb die Republik«, »es war einzig allein die G r ö ß e der Republik, die das Unheil hervorrief« (c. 9)1. Unter dem zwingenden Drucke der Aufgaben, die das zum Weltreich vergrößerte Reich stellte, mußten die alten Maximen aufgegeben werden. Daraus machte nun Montesquieu diarakteristisdierweise ein nicht nur für Rom, sondern allgemein gültiges Bewegungsgesetz des Staatenlebens. »Immer hat man gesehen, daß gute Gesetze, die eine kleine Republik groß gemacht 1 Begleitursachen, die Montesquieu an anderen Stellen noch anführt, lassen wir hier beiseite.

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haben, ihr zur Last werden, wenn sie sich vergrößert hat, weil sie von der Art waren, daß ihre natürliche Wirkung wohl war, ein großes Volk zu schaffen, nicht aber, ein solches audi zu regieren« (c. 9). Man mußte also zu einer neuen Regierungsform übergehen, um das Weltreich zu beherrschen. Die Maximen aber, die in dieser neuen Regierungsform geübt wurden und den ursprünglichen Maximen entgegengesetzt waren, führten schließlich auch zum Sturze der Größe des Reichs (c. 18). Rom ist also an seiner eigenen Größe zugrunde gegangen. Nur einmal fügte er in diese eherne Kette der Ursachen ein Glied von etwas weicherem Metalle ein. »Rom«, heißt es am Schluß von c. 9, »war geschaffen, sich zu vergrößern,... es verlor seine Freiheit, weil es sein Werk zu f r ü h vollendete.« Wäre es also doch, wenn das Eroberungstempo verlangsamt worden wäre, möglich gewesen, zur vollen Größe zu gelangen, ohne die Freiheit zu verlieren? Aber Montesquieu hat dieses leise in ihm aufsteigende Wunschbild nicht weiter verfolgt, und so bleibt es in der Hauptsache bei dem Eindruck eines unentrinnbaren Schicksals. Trotz seiner Neigung zu medianischer Vereinfachung behält dieses gewaltige Bild des großen Hergangs doch dauernd gültige Züge. Historisch fördernd war vor allem, daß der personalistische Pragmatismus, obgleich Montesquieu ihm im einzelnen noch zuweilen nachgab, im großen doch überwunden wurde durch ein Kräftespiel allgemeiner Ursachen, denen gegenüber die zufälligen Eigenschaften oder Fehler der einzelnen als ganz nebensächlich erscheinen. So heißt es denn audi von dem Falle der Republik: Man solle dodi nicht die Ambition einiger Partikuliers anklagen, sondern den Menschen überhaupt anklagen, der, je mehr Macht er habe, um so gieriger nach weiterer Macht werde (c, 11). Zur hinreißenden Gewalt des allgemein menschlichen Machttriebes fügte nun Montesquieu die hinreißende Gewalt der Situationen, die dieser Machttrieb geschaffen hatte, und konnte so Rom durch den Erfolg seines eigenen Werkes zugrunde gehen lassen. »Die Fehler, die die Staatsmänner begehen, sind nicht immer frei; oft sind sie notwendige Folgen der Situation, in der man ist, und die Inkonvenienzen erzeugten wiederum Inkonvenienzen« (c. 18). Höher und höher getragen durdi sein Forschen nach immer umfassenderen Kausalitäten erhob sich so Montesquieu zur Anto Meinedte, Historismus

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schauung eines großen historischen Schicksals. Man sollte dies sein Sdiicksalsgefiihl freilidi nicht, wie es gesdiehen ist1, zu modern interpretieren. Dafür steckt es noch zu sehr im Banne der mechanischen Kausalität, der seit Descartes das wissenschaftliche Denken beherrschte, und weiter audi nodi zu sehr im Banne der alten Kreislauftheorie, die, von Polybios begründet, von Machiavelli erneuert, die Geschicke der Völker und Staaten abrollen sah in einer immer wiederkehrenden Folge von Aufstieg und notwendigem Abstieg und Verfall 2 . Dafür war es audi nodi zu sehr verwoben mit Montesquieus politischem Ressentiment gegen große Reidie und gegen Eroberungspolitik überhaupt®. Es war ein großer Zug von ihm, daß er sich dadurch nicht zu einem allgemeinen und moralisierenden Ressentiment gegen den nun einmal zum Erobern geschaffenen Römergeist überhaupt hinreißen ließ. Davon hielt ihn die nicht nur hergebrachte, sondern audi wohl begründete Bewunderung der ursprünglichen Römertugenden ab. Audi konnte die Art, wie diese Römertugenden ihren notwendigen Platz in einem wohlberechneten, durchsichtigen und gewaltig wirksamen System von Kräften hatten, den Rationalisten in ihm fesseln - wie denn überhaupt diese Seite des Römertums der Aufklärung wohl gefiel. So konnte Montesquieu mit Bewunderung und Haß zugleich auf den römischen Gesamtverlauf blicken. In seinen intimen Aufzeichnungen (Pensées et fragments 2, 234, vgl. auch 1,133) findet sich das Wort, daß die Errichtung der römischen Macht die längste Verschwörung sei, die 1

Von Klemperer. Die Kreislauftheorie deutlich formuliert in den Pensées et fragments 1, 114 (vgl. audi 1,278). Dieser an Vicos Lehre etwas erinnernde Kreislauf, den er »bei fast allen Nationen der Welt« wahrzunehmen glaubte, umfaßte die Stadien der Barbarei, des Eroberns, der staatlichen Polizierung, der darauf beruhenden Maditausbreitung, der ihr folgenden Verfeinerung und inneren Schwächung, worauf sie erobert und wiederum barbarisch werden. In einer anderen Aufzeichnung (Pensées et fragments 2, 201) polemisiert er allerdings gegen eine andere Kreislauftheorie, nämlich die mit dem Stadium des Glückes und der Unschuld beginnende. Aber nach dem Fundorte der Aufzeichnungen zu schließen, ist die erste Aufzeichnung die zeitlich erheblich spätere und wahrscheinlich nach Abschluß der Considérations entstanden. 5 Dies Motiv wird richtig, nur etwas zu einseitig hervorgehoben von Bardchausen, Montesquieu (1907), S. 200 ff. 2

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sich jemals gegen das Universum gerichtet habe. Und den tieferen gefühlsmäßigen Hintergrund erhielt diese Konzeption durch den zwar nicht ausgesprochenen, aber mitschwingenden dunklen Gedanken, daß Roms Endschicksal auch Frankreichs Schicksal einmal werden könne. Das war sogar vielleicht für ihn, den Hasser des ludovizianischen Despotismus, das letzte verborgene Motiv für den gewaltigen Elan seines kausalen Denkens, der in dem Werke hervorbrach1. Es war insgesamt wohl die höchste Steigerung historischen Empfindens, die auf der Stufe der Aufklärungsbewegung schon möglich war. Weiter aber wird man durch seine Gedanken auch wieder an Machiavelli und die von ihm begründete Lehre von der Staatsräson erinnert. Zweckmäßige Maximen und Gesetze, so konnte man aus ihm schon lernen, führen den menschlichen Machttrieb zum Erfolge. Ändern sich die Situationen, so müssen sich auch die Maximen ändern, wenn man nicht ins Unglück stürzen will; die necessità der Situationen beherrscht also in großem Umfange das staatsmännische Handeln. Machiavelli hatte sich dabei freilich noch nicht zu dem allgemeinen Gedanken erhoben, daß die Expansionskraft Roms selbst schon die Ursache seines Niedergangs wurde 2 . Diese mächtige Vorstellung3 hat erst Montesquieu hinzugefügt, indem er hier genial und fruchtbar die aufklärerische Abneigung gegen das Erobern mit dem ebenfalls aufklärerischen Bedürfnis nach radikalen Kausalitäten verschmolz. Dadurch erst gab Montesquieu den Madhiavellisdien Gedanken eine höhere gesdiichtsphilosophische Bedeutung. Die eben verglichenen Gedanken Madxiavellis und Montesquieu führen uns wieder auf das schon in anderem Zusammenhange berührte Problem des Relativismus zurück. Gesetze, so hörten wir, die für die eine Situation gut waren, waren es nicht für die andere. Daraus ergab sich die politische Nutzanwendung, daß der Staatsmann nicht nach dem absolut und dauernd Besten, sondern nach dem relativ, nach Zeit und Umständen Besten zu 1 Vgl. Rehm, Der Untergang Roms im abendländischen Denken (1930), S. 99 f. 2 Richtig hervorgehoben von Klemperer 1,175. * Über ein verwandtes Urteil aus dem Mittelalter (Engelbert von Admont) vgl. Rehm, S. 40 und 103.

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streben habe. Man fragte Solon, so erzählt Montesquieu nadi Plutarch (19, 21), ob die von ihm den Athenern gegebenen Gesetze die besten seien. Er antwortete: Es waren die besten, die sie aushalten konnten. Ein sdiönes Wort, bemerkte Montesquieu, das von allen Gesetzgebern gehört werden sollte. Also nur eine bonté relative könne man von den Gesetzen verlangen. Dieser politische Relativismus war einer der Wegbahner des kommenden Historismus. Er reidite, eben weil er politisch war und sich mit praktischen Lösungen begnügte, noch nicht aus, um die Herrschaft absoluter naturrechtlicher Maßstäbe in Staatsleben und Geschichtsbetrachtung ganz zu brechen. Aber er konnte in allen konkret betrachteten Einzelfällen Antworten geben, die den Glauben an jene Maßstäbe allmählich erschüttern mußten. Montesquieu stand noch mitteninne zwischen absolutierender und relativierender Denkrichtung und ließ bald die eine, bald die andere walten. Es gibt allgemein relativistische Bekenntnisse von ihm in überraschender Schärfe. Wahrheit in einer Zeit, heißt es schon in den Lettres persanes (L. 75), ist Irrtum in einer anderen Zeit. »Die Ausdrücke schön, gut, edel, groß, vollkommen sind Attribute der Gegenstände, die relativ den sie betrachtenden Wesen sind. Man muß sich dies Prinzip wohl in den Kopf einprägen, es ist der Schwamm für die meisten Vorurteile« (Pensées et fragments 2, 476 und Œuvres p. p. Laboulaye 7, 160j1. Aber schon in der Anwendung dieses Prinzips auf das ästhetische Gebiet wurde er wieder, wie wir es schon bei seiner Stellung zum Naturrecht sahen, inkonsequent. Er huldigte dem klassizistischen Ideal der Simplizität in der Kunst und sah ihre »Perfektion« erreicht bei den Griechen und - mit Abstand - bei den von ihnen lernenden Meistern der Renaissance. Ab und an bewunderte er wohl audi ein gotisches Bauwerk. Wohnte er doch selber in einem, wie er entschuldigend einmal bemerkte, gotischen Schlosse. Vielleicht schwang da doch schon traditionalistisches Wohlgefühl und etwas von dem, was wir später als »Präromantik« kennenlernen werden, mit. Aber das Maß von relativistischer Anerkennung, das er der gotischen Kunst im allgemeinen zollte, beschränkte sich auf die Meinung, daß sie eben der »Geschmack der Ignoranz« und deswegen typisch sei sowohl für primitive, wie für Verfalls1

Weiteres über diesen Relativismus Montesquieus und seine vermutliche Beeinflussung durch Malebranche bei Klemperer 1, 91 f.

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und Endzeiten der Kunst1. Da griff dann also sein Glaube an den Kreislauf geschichtlicher Dinge wieder ein. Freier entfaltete sidi dagegen sein Relativismus auf religiösem Gebiete. Die Auflockerung des dogmatischen Denkens, die Freigeisterei war ja von vornherein und schon bei Machiavelli mit dem politischen Relativismus aufs engste verknüpft und wurde vielfadi von ihm überhaupt erst hervorgetrieben. Die Idee der Staatsräson unterminierte seit dem 16. Jahrhundert den Glauben an den absoluten Wert einer bestimmten Konfession. Denn sie verleitete dazu, alle Dinge nach ihren politischen Zweckmäßigkeiten, nach ihrer »relativen Güte« für den Staat zu beurteilen. Unter Umständen konnte man dadurch auch zur Kirche zurückgeführt werden, wenn man freigeistig begonnen hatte - zwar nicht zu einer inneren Gläubigkeit, aber zu einer hohen Anerkennung ihres Nutzens für Staat und Gesellschaft. In wie hohem Grade beruht nicht die Erhaltung des positiven Christentums im neueren Europa auf dieser innerlich fragwürdigen, aber naturhaft starken Stütze der Staatsräson! Montesquieu nun war einer derer, die als Freigeist begannen, es auch immer blieben, aber als politische Menschen den Wert des Christentums und der Kirche bejahen lernten. Er ging so weit, die Richelieusche Politik, mit den Protestanten sich zu verbünden, für veraltet zu erklären, denn Frankreich werde niemals tödlichere Feinde als sie finden (Voyages 2, 206). So urteilte er aus politischem Relativismus, der durch das Emporwachsen des französisch-englischen Gegensatzes die Weltlage seit Richelieu verändert sah. Daß aber neben diesem spezifisch politischen Relativismus auch ein spezifisch religiöser Relativismus, ein schon an Lessingsche Toleranz erinnernder Relativismus in ihm lebte, bezeugen Worte im ursprünglichen Entwurf des Esprit des lots (zu 25, 9), die er vor dem Drucke aus Sorge vor der Zensur gestrichen hat. »Wir können Gott als einen Monarchen betrachten, der mehrere Nationen in seinem Reiche hat; sie kommen alle, ihm ihren Tribut zu bringen, und jede spricht zu ihm ihre Sprache2.« Es ist auch im Drucke noch manches 1 Vgl. Voyages 1, 43,97,156,158,169, 229 ff.; 2,6,185 (Kölner Dom), 303 f., 351, 367 ff. u. ö. Correspondance 1, 403 (Schloß La Brède). »Gotisch« war ihm danadi auch schon die Kunst der Ägypter und des verfallenden Roms. 8 Hardehausen, Montesquieu usw. (1907), S. 244; Pensées et fragments

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stehengeblieben, was daran erinnert. Montezumas Wort, daß die Religion der Spanier zwar gut für ihr Land, die Religion Mexikos aber gut für dieses sei, war nach seiner Meinung (24, 24) nicht absurd. Denn die Gesetzgeber könnten nicht umhin, Rücksicht auf das zu nehmen, was die Natur vor ihnen geschaffen hätte. Es ist beinahe nicht möglich, urteilte er ein andermal (19,18), daß das Christentum sich jemals in China festsetze. Denn Manieren, Sitten, Gesetze und Religion seien dort durch die Gesetzgeber dermaßen zur Einheit verschmolzen, daß jeder neue Eroberer des Landes dadurch in ihren Bann gezwungen würde. Auch hier fand also Montesquieu wieder eine jener großen Generalursachen, auf die er aus war. Im Suchen nach ihnen mußte er nun auch den, wie wir bei Voltaire schon sahen, längst bereit liegenden Gedanken, einen »Geist« geschichtlicher Erscheinungen anzunehmen, ergreifen und ausbilden. Mystisches Ahnen geheimnisvoller Urkräfte lag dabei weit ab von ihm. Sein immer von den Realien genährter Rationalismus war wohl helläugig genug, um überall ein inneres Band zwischen den Erscheinungen zu sehen, aber strebte nun auch danach, es so klar und sinnfällig, so eng verbunden mit der naturhaften Wirklichkeit wie möglich aufzufassen. Charakteristisch dafür ist schon die Definition dessen, was er unter seinem Esprit des lois überhaupt verstand 1 . »Dieser Geist besteht in den verschiedenen Beziehungen (rapports), die die Gesetze mit verschiedenen Dingen haben können« (1,3). Er bedeutete ihm also das Ensemble der Kausalbeziehungen zwischen Gesetzgebung und Leben. Sein Kausalbedürfnis ging nicht vom Greifbaren auf ein Ungreifbares, verborgen dahinter Liegendes zurück, sondern sdiritt vorwärts vom Greifbaren zu dem, was durch das jeweilig verschiedene Zusammenwirken greifbarer Faktoren erzeugt zu sein schien - zu dem, was er den esprit général einer Nation nannte. »Mehrfache Dinge«, heißt es in dem diesem Thema gewidmeten und, wie er es liebte, epigrammatisch zugespitzten Kapitel seines Buches (19, 4), »beherr1,186 und 2, 498. Vgl. audi seinen Brief an Warburton von 1754 über Bolingbrokes antireligiöse Schriften (Correspondance 2, 528): Celui qui attaque la religion révélée, n'attaque que la religion révélée; mais celui qui attaque la religion naturelle, attaque toutes les religions du monde. 1 Über die vermutliche Beeinflussung durch Doria, Vita civile 1710, der das Schlagwort »Geist der Gesetze« schon verwendet, vgl. Dédieu, Montesquieu (1913), S. 67.

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sdien die Menschen, das Klima, die Religion, die Gesetze, die Maximen der Regierung, die Beispiele der vergangenen Dinge, die Sitten, die Manieren; daraus bildet sidi ein esprit général, der aus ihnen resultiert« 1 . Und die Generalgeister der einzelnen Nationen unterscheiden sich, wie er weiter lehrt, durch die verschiedene Dosierung dieser Faktoren voneinander. Die Wilden zum Beispiel werden fast allein durch Natur und Klima beherrscht, in Sparta waren einst die Sitten tonangebend, in Rom die Regierungsmaximen und Sitten zusammen. Jeder Nationalgeist, dürfen wir danach schließen, hat seine besondere Dominante, die aber immer nur einen typisdien, im Einzelfall besonders stark ausgeprägten Faktor, nicht einen ganz individuellen und unvergleichlichen Wesenszug darstellt. Die verschiedenen Ingredienzien der verschiedenen Nationalgeister sind ebenso typisch gedacht wie die moralischen Kategorien der Tugend, der Ehre und der Furcht, auf die er seine Psychologie der drei Staatsformen der Republik, der Monarchie und der Despotie aufbaute. Wohl spürt man, wenn man seine Considérations liest und ihn ergriffen vom »Geiste« der alten Römer spredien hört, daß ihm eine ganz individuelle und lebensvolle Erscheinung dabei vor Augen stand. Aber mit den theoretischen Mitteln seiner Gesdiiditsauffassung vermochte er nodi nicht an diese Individualität heranzukommen. Sie würden demnach ausgereicht haben, um wenigstens die ersten Schritte auf der Bahn zu tun, die die spätere Lehre vom Volksgeiste, zwar vielfach irrend, im ganzen doch fruchtbringend gegangen ist. Das heißt, es wäre ihm möglich gewesen, den esprit général der Nationen nicht nur als ein Produkt von soundsoviel Faktoren, sondern audi als bewirkende Ursache der einzelnen Erscheinungen im Nationalleben zu behandeln. Es finden sich auch Ansätze dazu, namentlich in den Considérations1. W i r be1

Nodi enger lautet seine Definition des Volksgeistes in den

Pensées

et fragments 2, 170: J'appelle génie d'une nation les mœurs et le caractère d'esprit de différents peuples dirigés par l'influence d'une même

cour et d'une même capitale. Diesen Einfluß, den eine große Hauptstadt wie Paris auf den esprit général der französischen Nation geübt

hat, hat er sehr geistreich beobachtet. C'est Paris qui fait les François: sans Paris, la Normandie, la Picardie, l'Artois seroient allemandes comme l'Allemagne; sans Paris, la Bourgogne et la Franche-Comté seroient suisses comme les Suisses etc. Pensées et fragments 1. 154. 1

Vgl. c. 14 Sdiluß, wo die Trauer des römischen Volkes beim Tode

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merkten ferner, daß er Sitten und Manieren aus dem Volksleben im ganzen hervorgehen ließ, und erinnern noch einmal an das geistreiche Bild des englischen Nationaldiarakters, das er im Esprit des lois (19, 27) entwarf, mit seinen Auswirkungen im Großen und Kleinen bis ins tägliche Leben hinunter und bis zu d e n geistigen Schöpfungen hinauf. Aber wie bezeichnend ist es für seinen Pragmatismus, daß er damit nicht etwa die Macht des Nationalgeistes über das Leben, sondern den Einfluß der Gesetze auf die Bildung des Nationalcharakters nachweisen wollte. Im Grunde hat er audi das Problem des Nationalgeistes nicht mit historischen, sondern mit politischen A u g e n angeschaut. D e r staatsutilitarische Grundzug seines Denkens schlug durch. D e r Gesetzgeber, war seine Meinung, muß d e n Nationalgeist kennen, beachten und schonen. Schon in den Considérations hieß es: »Es gibt in jeder Nation einen esprit général, auf den die Macht (sc. der Regierung) selbst sich gründet; w e n n sie diesen Geist verletzt, verletzt sie sich selbst« (c. 22). »Die Gesetze«, sagte er im Esprit des lois ( 19,12), »werden gesetzt, die Sitten werden inspiriert; diese hängen mehr mit dem esprit général, jene mehr mit einer besonderen Institution zusammen; darum ist es ebenso gefährlich, j a nodi gefährlicher, den esprit général umzustürzen, als eine besondere Institution zu ändern.« M a n mache die Völker unglücklich, wenn m a n ihnen ihre Gewohnheiten mit G e w a l t nehme (19,14). W o h l hob sich diese t i e f e politische Einsicht in die zarte und empfindliche Natur der irrationalen Mächte des Volkslebens scharf ab von dem beginnenden rationalistischen Gesetzeseifer des aufgeklärten Despotismus. Er kritisierte das gewaltsame Vorgehen Peters I. in Rußland (19, 17) und kritisierte damit im voraus Joseph II. und die Gesetzgeber der Französischen Revolution. Aber diese Einsicht erwuchs ihm aus den

des Germanicus dazu dient, das génie du peuple Romain zu charakterisieren, und c. 15, wo die furchtbare Tyrannei der Kaiser aus dem esprit général der Römer abgeleitet wird. Hildegard Tresdiers Kritik (Montesquieus Einfluß auf die philosophischen Grundlagen der Staatslehre Hegels, Leipziger Diss. 1917, S. 83), daß Montesquieu »die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen n i e auf das kulturelle Ganze... zurückführt«, geht also etwas zu weit. Über die bisherigen Auffassungen von Montesquieus Volksgeistlehre vgl. Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920) 1,224 f.

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Traditionen der Staatskunstlehre, die es audi schon verstanden hatte, das Irrationale politisch zu respektieren. Er verzichtete auch durdbaus nicht etwa darauf, den Nationalgeist, wenn er politisdi schädliche Züge hatte, durch den Gesetzgeber umzubilden, sondern lehnte nur das unzweckmäßige Mittel des Gesetzes dafür ab. Seine Meinung war, man müsse, wenn es erforderlich sei, die Völker selbst veranlassen, ihre Sitten zu ändern (19,14). »Der Gesetzgeber«, urteilte er zusammenfassend, »muß dem Geiste der Nation folgen, wenn er den Prinzipien der Regierung nicht zuwider ist« (19, 5). Diese Prinzipien erhielten also damit im Falle eines Konfliktes den Primat. Was waren aber diese Prinzipien? Nicht etwa individuelle Prinzipien der Staaten im Sinne der späteren historischen Staatslehre, sondern jene schematisch festgelegten Prinzipien der drei Regierungsformen, die zu begründen eine Hauptabsidit seines Werkes war. Und dodi weht uns gerade an dieser Stelle ein neuer, sdion einmal von uns bemerkter Hauch wieder entgegen, wenn er jenem Satze die Worte folgen läßt: »Denn wir tun das am besten, was wir frei tun, indem wir unserem génie naturel dabei folgen.« Und dies vielleicht zukunftsreichste Wort seines Buches entsprang aus unmittelbar Erlebtem, aus dem Volksgeiste der ihrer selbst jetzt bewußt werdenden französischen Nation. Was gewinnt denn der Staat, fuhr er fort, wenn er einer von Natur fröhlichen Nation einen Geist der Pedanterie beibringt. Lasset sie nur die nichtigen Dinge ernst und die ernsten Dinge fröhlich verrichten. Spradi Voltaire häufiger vom Geist der Zeiten als vom Geist der Völker, so war es bei Montesquieu umgekehrt. Das hing mit der Verschiedenheit ihrer Grundabsiditen zusammen. Voltaire sah die geschichtlichen Dinge mehr in der zeitlichen Dimension, weil ihm daran lag, die Schicksale seines Vernunftideals, seine Kämpfe, Niederlagen und Siege durch die Zeiten bis zur eigenen Zeit zu verfolgen. In dieser, und nur in dieser beschränkten Hinsicht dürfte man sagen, daß Voltaire historischer gedacht und gesehen habe als Montesquieu, der die Dinge mehr in der örtlichen Dimension, gleichsam auf einer großen Fläche ausgebreitet, sah, weil er staatsutilitarische Lehren aus ihnen gewinnen, überhaupt ein politisches System aus der Geschichte herausziehen wollte. Die wenigen Male, wo er den »Geist der Zeit« ausdrücklich auftreten ließ (vgl. zum Beispiel 31, 13), zeigen ihn aber vollkom-

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men fähig, audi dem Moment der Zeit gerecht zu werden, und die rein historischen Partien seiner Werke, die Considérations und die der Geschichte des Feudalwesens gewidmeten Schlußkapitel des Esprit des lots beweisen es erst redit. Und eine der schönsten geschichtlichen Beobachtungen seines Werkes war, als er nadiwies, wie im Laufe der Zeit eine Einrichtung wohl verschwinden, aber der in ihr lebende Geist noch weiter zu wirken vermag. Die Volksrechte der Völkerwanderungszeit, führte er aus, verschwanden, weil das Lehnswesen sie unanwendbar machte, aber der »Geist« dieser Redite (nämlidi der, die meisten Dinge durch Geldstrafen zu regeln) blieb. »Man folgte dem Geist des Gesetzes, ohne dem Gesetze selbst zu folgen« (28, 9). Wenn jedes Jahrhundert, wie er einmal bemerkte, sein génie particulier hatte (P. et fr. 2,141), so konnte aus dieser Erkenntnis das große methodische Prinzip herauswachsen, daß man die gewohnten Vorstellungen der eigenen Zeit in sich zu unterdrücken habe, um die Vergangenheit richtig zu sehen. Kein Vorwurf pflegt der Aufklärungshistorie häufiger gemacht zu werden als der, daß sie dies nicht zu tun vermocht habe. Sie vermochte es auch nicht. Aber es ist wichtig, festzustellen, daß sie angesichts der von ihr erschlossenen Mannigfaltigkeit geschichtlicher Welten und verschiedenster »Geister« der Zeiten, Völker und Dinge wenigstens den Grundsatz schon aufgestellt hat, daß man Fremdartiges nicht am Maßstabe der eigenen Zeit und Umwelt messen dürfe. Wir sahen schon bei Voltaire eine Regung dieses Gedankens (s. o. S. 96). Montesquieu hat ihn noch bestimmter ausgedrückt: »In entfernte Jahrhunderte alle Ideen des Jahrhunderts, in dem man lebt, zu übertragen, ist die fruchtbarste unter den Quellen des Irrtums« (30,14). Alles in allem hat er die Lehre vom »Geist« der Völker, der Zeiten, der Institutionen usw. zu verfeinern und trotz der Schranken seiner schematisierenden Psychologie stärker auf das Individuelle zu richten vermocht als Voltaire. Es war ihm nicht wie diesem in erster Linie darum zu tun, den Kontrast unaufgeklärter und aufgeklärter Zeiten, unvernünftiger und vernünftiger Erscheinungen herauszuarbeiten und das Glüdc der eigenen Zeit dabei recht zu genießen. Sondern er trat mit der dominierenden Absicht strenger kausaler Erkenntnis an die fremdartige Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Welt und respektierte, wenn auch

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nodi nicht das ganz und wahrhaft Individuelle in ihr, so doch die Komplexe der Kausalitäten, die so Verschiedenartiges in der Geschichte hervorgebracht und zwingend hatten hervorbringen müssen. Er nahm die Mannigfaltigkeit und den vielfach so irrationalen Charakter der geschichtlichen Gebilde nicht nur achselzuckend wie Voltaire als Folgen der unvollkommenen Naturausstattung des Menschen hin. Sondern man spürt bei ihm ein unausgesprochenes Gefühl der Ehrfurcht vor dem geschichtlichen Kosmos, vor dem Schauspiel, daß große und einfache Grundgesetze in ihm walten, alles Mannigfaltige hervorrufen, und auch in den sonderbarsten und fremdartigsten Varietäten sich nicht verleugnen. Eine Ehrfurcht, die wohl in letzter Tiefe, wie wir vermuten durften, aus dem Gemüte und einem keimhaft sich regenden neuen Lebensgefühle quoll, aber sich für ihn nur rechtfertigen konnte durch das Verantwortungsbewußtsein des rationalen Politikers, der aus höchster ratio status das Irrationale schont und benutzt. Mit alledem ist bereits angedeutet, wie Montesquieu zu den beiden Grundbegriffen des kommenden Historismus, dem der Individualität und dem der Entwicklung, gestanden hat. Der natürlichste W e g zum Verständnis des Individuellen in der Geschichte w a r der der ästhetischen Empfindung, daß die Mannigfaltigkeit der menschlichen Erscheinungen selbst, auch wenn sie dem herkömmlichen Schönheitskanon widersprechen, etwas Schönes und Reizvolles sei. Und die natürliche Wißbegier jedes forschenden Antiquars, aber auch jedes reiselustigen Reisenden trug von jeher diesen Keim zu wahrhaft historischer Empfindung in sich und konnte, naiv sich selbst überlassen, Bilder menschlichgeschichtlichen Lebens gestalten, die das Individuelle getreu wiedergaben. Von Herodot an ist das geschehen. Zur vollen Entwicklung aber konnte dieser Keim so lange nicht kommen, als das naturrechtliche Denken der individuellen Mannigfaltigkeit der Dinge und Menschen, die durch die Erfahrung sich aufdrängte, stolz und überlegen die Normen der Einheit und A l l gemeingültigkeit, die man in der zeitlosen Vernunft zu finden glaubte, entgegenhielt. Das Individuelle in Geschichte und Leben konnte dabei nur tatsächlich anerkannt, hier und dort vielleicht auch unbewußt oder halbbewußt geliebt, aber nicht innerlich

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gerechtfertigt, nicht in den Mittelpunkt weltanschaulichen Denkens gerückt werden. Seine Faktizität blieb unbestritten, sein innerstes Lebensredit aber zweifelhaft oder gleichgültig. Auch jene Lehren von der Staatskunst, die seit Machiavelli das Individuelle zu beachten lehrten, kamen, wie wir sahen, über ein bloß utilitarisches Verhältnis zu ihm nicht hinaus. Diese Schranke hat auch Montesquieu im ganzen nicht zu sprengen vermocht. Der Staatsdenker und Gesetzgeber in ihm studierte das Individuelle der Völker, Zeiten und Einrichtungen für die praktischen Zwecke der Gesetzgebung, die vernünftig handle, wenn sie den tatsächlichen Verschiedenheiten sich anpasse. Der Rationalist in ihm wiederum neigte dazu, das ihm entgegentretende bunte Leben begrifflich zu vereinfachen und auf aligemeine Kategorien wie Religion, Ehre, Handel, Ackerbau usw. zurückzuführen. Das hat schon Moriz Ritter bemerkt. »Nicht persönlich lebensvolle Mächte, sondern Abstraktionen erscheinen damit als die eigentlich wirkenden Kräfte1.« Dies zur Vereinfachung drängende Kausalitätsbedürfnis war übermächtig in ihm. Die Menschen, heißt es in den Considérations (c.l), haben zu allen Zeiten dieselben Leidenschaften gehabt. Die Gelegenheiten, die die großen Veränderungen hervorbringen, sind zwar verschieden, aber die Ursachen sind immer dieselben. Bei solcher Auffassung des historischen Menschen - es war ja die alte, von jeher herrschende - mußte auch das innerlich Individuelle der historischen Persönlichkeit, das auch ihren auseinanderklaffenden Taten und Gedanken Einheit zu geben vermag, ihm verschlossen bleiben. Man sieht es an seinem Verhältnis zu Machiavelli. Er machte es mit ihm, wie man es unter dem Einfluß der naturrechtlichen Denkweise mit den Gedankenwelten historischer Menschen überhaupt machte. Man behandelte sie nicht als eine gewachsene Struktur, sondern griff ihre Teile heraus, lobte die einen, tadelte die anderen und brachte sie unter in den Schubfächern naturrechtlicher Moral und Weltanschauung. Wohl hat Montesquieu auch glänzende und geistreiche Porträts historischer Charaktere zu entwerfen vermocht. Die Réflexions sur le caractère de quelques princes gehören zu den anziehendsten Stücken seiner ungedruckten, erst in neuer Zeit bekannt 1

Entwicklung der Geschichtswissenschaft S. 227.

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gewordenen Schriften (Mélanges inédits 17Iff.). Aber es sind beinahe zeitlose psychologische Kunstwerke, entworfen unter dem politischen Aspekt, inwiefern der so oder so gemisdite Charakter tauglich war für die Lösung der ihm gestellten Aufgabe, welche Erfolge oder Mißerfolge er erzielen mußte. Die einzelne Persönlichkeit erscheint da nur wie ein so oder so konstruiertes Uhrwerk. Daran ändert auch nichts sein scharfes Verständnis für die Bedeutung, die die »Mischungen« guter und schlechter Eigenschaften jeweilig haben können. Der kritische Intellekt mehr als die nacherlebende Intuition hat diese Bilder geschaffen. Hier haben wir nun einen der Fälle in der Geistesgeschichte, wo das geistige Klima einer Zeit die Entwicklung eingeborener Fähigkeiten und Triebe, die in einem anderen Zeitalter sich vielleicht prachtvoll hätten entfalten können, niederhält oder umbiegt. Unter der Decke des ihn beherrschenden Rationalismus keimte ja ein neues, aus dem Gemüte genährtes Lebensgefühl und sprach sich in seinen intimen Aufzeichnungen oft nodi deutlicher aus als in seinen veröffentlichten Werken. Nicht der Geist, sondern das Herz bildet die Meinungen, ist eines der zukunftsreichen Worte, das man in ihnen findet1. Und so war auch hinter der bewußt utilitarisdien und abstrahierenden Richtung seines Denkens, die ihm Tradition und Zeitgeist gaben, jenes Urelement historischer Empfindung, die Freude am Mannigfaltigen und Individuellen, in der Tiefe durchaus in ihm lebendig. Man spürt es schon aus seiner unersättlichen Lust in der Erfassung immer neuer Varietäten in der Geschichte. Aber er hat sich audi sich selber gegenüber mit aller Deutlichkeit darüber ausgesprochen. Als er auf seiner Reise in Italien 1729 in Genua eine Fremde über die schlechten Manieren der genuesischen Damen lästern hörte, bemerkte er: »Ich würde sehr ärgerlich sein, wenn alle Menschen ebenso beschaffen wären wie ich oder einander glichen. Man reist, um verschiedene Sitten und Façons zu sehen, nicht um sie zu kritisieren« (Voyages 1,138, vgl. auch 2, 78). Ihn konnte schon 1 Mélanges inédits 145. Vgl. auch Pensées et fragments 1, 29: Ce n'est pas notre esprit, c'est notre âme qui nous conduit. Das schränkte er dann freilich rationalistisch sich besinnend ein andermal wieder ein. Comme le cœur conduit l'esprit, l'esprit, à son tour, conduit le cœur. Il faut donc perfectionner l'esprit (Pensées et fragments 1,158).

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die übermäßige Regelmäßigkeit im modernen Häuserbau, ja selbst in den Gartenanlagen, in denen er lauter Kopien Le Nôtres sah, verdrießen. Unsere Häuser sind, seufzte er, wie unsere Charaktere (Pensées et fragments 2, 78). Nadi seinem Aufenthalt in England, wo er den neuen englisdien Gartengeschmack kennenlernte, ließ er den Schloßpark von La Brède danach umgestalten (Viau, Hist, de Montesquieu 131 f.). Den Wert und die Schöpferkraft des Individuellen lernt ein eigenartiger Schriftsteller am leichtesten an sich selbst und seinem Stile empfinden. Das trifft auch auf Montesquieu zu. Er war sich der Herbigkeit seiner Schreibart, die dem glatten Zeitgeschmack viel zumutete, wohl bewußt und lehnte es ab, sich nach diesem Zeitgeschmack beurteilen zu lassen. Ein Mann von Geist ist, bemerkte er, ein S c h ö p f e r von Diktionen, er kleidet seinen Gedanken in s e i η e Mode ein. Ein Mann, der gut schreibt, schreibt nicht, wie man geschrieben hat, sondern wie e r schreibt, und oft, indem er schlecht spricht, spricht er gut (Pensées et fragments 2, 7). Das Schöpferische nun aber auch in den individuellen Gebilden der Geschichte voll zu empfinden, blieb ihm versagt. Hier blieb er im Banne der mechanischen Kausalität, den Descartes und das spätere 17. Jahrhundert aufgerichtet hatten, stecken. Und dodi vollzog sich audi hier wieder in ihm ein Vorgang historischer Dialektik, wonach ein zum Maximum gesteigerter Gedanke sein Gehäuse sprengt und Samen für ganz Neues auswirft. Denn er vermochte den individuellen Gebilden der Geschichte schon dadurch einen höheren Wert zu geben als bisher, daß er sie mit einer Energie, wie sie nie zuvor geübt worden war, kausal zu erklären versuchte aus den mannigfaltigsten, physischen wie geistigen Ursachen. Wobei dann sein Hang, dominierende Generalursachen über das Nebenwerk partikularer Ursachen aufsteigen zu lassen, dem jeweiligen Bilde eine ganz eigene scharfe Kontur oft zu geben vermochte. Alle Kritik, die man an der künstlichen Schärfe dieser Konturen und an der Voreiligkeit seiner Kausalerklärungen von jeher, von Voltaire an, schon geübt hat, mindert nicht das gewaltige geistesgeschichtliche Verdienst Montesquieus. Er zwang damit die geschichtliche Forschung in neue Bahnen, zwang sie, sich mit den individuellen Erscheinungen in der Geschichte viel gründlicher abzufinden als bisher und mit der Vermutung jedesmal an sie heranzutreten, daß ein Komplex weit verzweig-

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schied zwischen Natur und Prinzipien der Staatsformen und verstand unter Natur ihre »besondere Struktur«, das heißt ihre sichtbare äußere Form, unter Prinzip die besonderen menschlichen Triebe, durch die sie handle und sich bewege — vertu in der Republik (Weiterbildung der Machiavellischen virtù]), Ehre in der Monarchie, Furcht in der Despotie (3,1 ff.). Diese Triebe verändern sich, nehmen zu oder ab und verändern dadurch auch das jeweilige staatliche Gebilde, in dem sie hausen - aber diesen von Montesquieu sorgfältig beobachteten Hergang kann man unmöglich schon als »Entwicklung« bezeichnen. Denn er kam dabei aus bloßer Mechanik noch nicht heraus. Wohl aber tat er einen wesentlichen Schritt zum Entwicklungsgedanken dadurch, daß er, wie wir schon in anderem Zusammenhange bemerkten, den personalistischen Pragmatismus der gewöhnlichen Aufklärung zwar nicht ganz, aber in hohem Grade durch einen sachlichen Pragmatismus ersetzte, das heißt staatliche und gesellschaftliche Zustände und Wandlungen weniger aus den vernünftigen oder unvernünftigen Akten einzelner, und mehr aus sachlicher Notwendigkeit, aus der Einwirkung sachlicher Faktoren, von Klima, Boden, Ortswechsel usw. angefangen, motivierte. Gesetze und Einrichtungen konnten dann Wirkungen haben, die unvorhergesehen waren, in das bisherige System nicht paßten und zu neuen Einrichtungen drängten. Dann konnte das eintreten, was Montesquieu mit einem großen Ausdrucke einmal die force de la chose nennt (28, 43). Auch daß diese oft nur nach und nach, in unmerkbaren Übergängen wirkte, hat er wiederholt fein bemerkt. »Es bedarf zuweilen vieler Jahrhunderte, um die Veränderungen vorzubereiten; die Ereignisse reiften, und dann waren die Revolutionen da« (28, 39). Da weht uns schon etwas vom Hauche echter Entwicklung an1. Aber deuten wir ihn recht, so ging sein bewußtes Denken weniger darauf aus, das langsame Werden, Wachsen oder Sidiwandeln der Institutionen sinnig zu belauschen, als vielmehr 1

Vgl. auch Pensées et fragments 1, 307 seinen Spott über den vulgären Pragmatismus, der die Könige der Urzeit als die Erfinder nützliche Künste ansähe, während die verbreitetsten Künste doch nur in »unmerklichen Fortschritten« durch namenlose Erfinder gediehen seien. Man könnte hier wieder die Möglichkeit einer Beeinflussung durch Vico (vgl. oben S. 156 Anm. 2) erwägen.

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ter Ursachen ihnen zugrunde läge1, so daß audi das sdieinbar Anomale und Perverse einen Sinn erhielt, wenn man seine Ursachen durchschaut hatte. Individualitätsbegriff und Entwicklungsbegriff hängen im historistischen Denken eng zusammen. Genauer gesagt, von den verschiedenen Entwicklungsbegriffen, die möglich sind, fordert der historische Individualitätsbegriff einen ganz bestimmten Entwicklungsbegriff als Komplement - nämlich denjenigen, der zu den Merkmalen einer bloß biologischen und pflanzenhaften Entwicklung, das heißt einer bloßen Entfaltung nach angeborener Tendenz, nodi die Merkmale der geistigen Spontaneität des sich Entwickelnden und seiner plastischen Wandlungsfähigkeit unter dem Einflüsse singulärer Faktoren fügt und demnach Notwendigkeit und Freiheit überall untrennbar verschmolzen sieht. Inwieweit ist Montesquieu an diesen vom Historismus geschaffenen Entwicklungsgedanken herangekommen ? Montesquieus Aufgabe war, Wesen und Wandlungen der politischen und der mit den politischen zusammenhängenden sozialen Institutionen sich klarzumachen. Von der Art, wie er ihr Wesen erfaßte, hing audi die Art ab, wie er ihre Wandlungen, modern gesagt, ihre Entwicklung erfaßte. Das Wesen einer Institution aber ist ihre Individualität, die gewiß audi typische, vergleichbare, allgemeiner wiederkehrende Züge jeweilig hat, aber auch ganz individuelle und unvergleichbare. Zum Verständnis dieses ganz Individuellen ist Montesquieu, im großen gesehen, wie wir sahen, trotz schärfsten Sinnes für die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nicht gekommen. Seinem auf das Typische und Vergleichbare gerichteten Blicke mußten so die Staatsformen als die höchsten und alles Übrige beherrschenden Institutionen, die er voran studierte, wie kunstreiche, in sich ausbalancierte Mechanismen erscheinen. Er sagte das geradezu einmal von der Monarchie, die er mit »den schönsten Maschinen« verglich, weil sie mit einem Minimum von vertu auskommen könnte, ebenso wie jene mit einem Minimum von Triebkräften und Rädern es täten (3, 5). In den Medianismen der Staatsformen sah er nun von vornherein einen veränderlichen Faktor wirksam. Er unter1 II y a peu de faits dans le monde qui ne dépendent de tant de circonstances qu'il faudrait l'éternité du monde pour qu'ils arrivassent une seconde fois, heißt es in den Pensées et fragments 2, 309.

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darauf, ihren Wandel zu erklären aus der Änderung bestimmter Ursachenkomplexe, unter denen dann die von ihm besonders geliebten Generalfaktoren - die Staatsformen mit ihren spezifischen Prinzipien, Klima, Boden usw. - obenan standen. Auf die greifbaren, abgezirkelten Kausalitäten kam es ihm an. Man möchte die so von ihm beschriebenen Hergänge nicht als Entwicklung, sondern als Umstellung oder Anpassung bezeichnen. Geben wir einige Beispiele. Ein monarchischer Staat, heißt es (8, 17), muß von mäßiger Größe sein. Wäre er klein, so würde er sich zur Republik umbilden. Wäre er sehr ausgedehnt, so würden die Granden im Lande nicht mehr unter den Augen des Fürsten stehen, gegen rasche Exekutionen aber durch die (wie er meint, der Monarchie eigenen) Gesetze und Sitten geschützt bleiben und aufhören zu gehordien. Als Beispiele dienen die Reiche Karls des Großen, Alexanders und Attilas. Rettungsmittel gegen die Auflösung eines solchen Reidies kann dann die rasche Aufriditung einer unumsdiränkten despotischen Gewalt werden. - Wohl wurde damit ein typischer historischer Ablauf geschildert, aber nicht in den fließenden Formen einer Entwicklung, sondern in der harten Form einer mechanisch zu beredinenden Umstellung. Ein Staat, sagt er weiter (11, 13), kann auf zweierlei Weise sich verändern, entweder weil die Verfassung sich verbessert oder weil sie sich korrumpiert. Konserviert er seine Prinzipien (er meint jene, die den Staatsformen eigen seien) und verändert sich die Verfassung, so verbessert sie sich; hat er seine Prinzipien verloren, während die Verfassung geändert wird, so korrumpiert sich diese. - Wiederum ein schnurgerades Linienwerk an Stelle natürlidier Flußläufe einer Entwicklung. Er betonte das Typische und Immerwiederkehrende an diesen Vorgängen, ganz wie es Machiavelli einst getan hatte, weil es ihm wie diesem darauf ankam, Maximen für das politische Handeln aus der Geschichte zu gewinnen. Dies staatsutilitarische Motiv allein schon konnte ihn festhalten in der alten Auffassung, daß, von höherem Punkte aus gesehen, alle großen staatlichen Gebilde im Kreislaufe von Aufstieg und Abstieg sich bewegen. Wir sahen das bei der Würdigung der Considérations. Montesquieu entging nun wohl der Gefahr, das Schema dieses Kreislaufes zu schématisât zu behandeln, durch die unendliche Fülle il

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von interessanten Varietäten, die er entdeckte. Und durch die Kreislauftheorie selbst entging er audi einer anderen Klippe, die auf dem Wege zu einem entwicklungsgeschichtlichen Denken gelegen .hätte, nämlich der, einen allgemeinen stufenweisen und immer höher führenden Fortschritt der menschlichen Kultur zu konstruieren. E r kennt, wie Voltaire, obwohl praktisch ein Vorkämpfer des Fortsdxritts, nodb nicht den Fortsdirittsgedanken der späteren Aufklärer 1 . E r war aus anders gemischten Motiven als dieser immun gegen ihn. Aber beide atmeten jene Luft des frühen 18. Jahrhunderts, in der, trotz aller Fortsdbritte, die man gemacht zu haben glaubte, ein allgemeiner geschichtsphilosophischer Glaube an den Fortschritt nodi nicht recht gedeihen konnte. M a n lebte nodi in einer durchaus aristokratisch gegliederten und empfindenden Gesellschaft. Aristokratien aber denken wohl an ein Erhalten und Wiederherstellen, aber nicht an ein andauerndes Fortschreiten, das über sie selbst hinausschreiten könnte. Eher denken sie an die Gefahr ihres Unterganges, was dann leicht wieder den Glauben an den Kreislauf aller mensdilichen Dinge stärken konnte. Schließlich verschmilzt sich gerade mit aristokratischem Denken gern j e n e r nüchterne Wirklichkeitssinn, den wir als gemeinsames Erbe aus dem 17. Jahrhundert bei Voltaire wie bei Montesquieu fanden. Audi er stand dem Fortschrittsglauben noch im Wege. Mit alledem ist dennoch das letzte W o r t über Montesquieus Stellung zum Entwicklungsgedanken nodi nicht gesprochen. Seelische Motive besonderer Art konnten es bewirken, daß er einem bestimmten historischen Ablaufe gegenüber den Bannbezirk intellektualistischer Ursachenforschung verließ und wirkliches geschichtliches Weiden und Wadisen belauschte. W i r müssen dafür weiter ausgreifen und einiges schon Beobachtete in einen neuen Zusammenhang bringen. Drei große geschichtliche Welten treten in Montesquieus A r beiten in besonders heller und warmer Beleuchtung hervor, sind ihm Lieblingsobjekte gewesen: das republikanische Rom, das 1 Das muß audi Delvaille in seiner Histoire de l'idée de progrès ( 1910), trotz aller Bemühungen, Spuren des Fortschrittvsgedankens bei Montesquieu zu finden, schließlich zugeben. Vgl. audi Bach, Entwicklung der französischen Geschichtsauffassung im 18. Jahrhundert (1932),S.45.

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konstitutionelle England und das germanisch-französische Mittelalter. Und jeder dieser Welten gegenüber übte er, wenn man genauer hinsieht, eine eigene Betrachtungs- und Urteilsweise, gerieten andere Seiten seines Geistes in Schwingung. Die römische Welt umfaßte er mit klassizistischer Begeisterung. Die Tugend, die er als Prinzip der Republik ansah, war ja nicht Tugend im allgemeinen ethischen Sinne, sondern politische Tugend, Bürgertugend, »Verzicht auf sich selbst und Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterlande« (4, 5). Was die Antike darin in ihrer guten Zeit leistete, »läßt unsere kleinen Seelen erstaunen« (4, 4). Ich fühle mich stark in meinen Maximen, heißt es ein andermal, wenn idi die Römer auf meiner Seite habe (6, 15). Niemals kann man von den Römern lassen; noch heute läßt man in ihrer Stadt die neuen Paläste beiseite und sucht die Ruinen auf (11, 13). Und prüft man das großartige Geschichtsbild, das er in den Considérations von Aufstieg und Niedergang Roms entworfen hat, so fühlt man sich überall, trotz der neuen Erkenntnismittel, die er verwandte, klassizistisch angeweht, spürt man die Abhängigkeit von der antiken Überlieferung. Das Neue, was er hinzubrachte, war die eigentümliche Methode seiner Kausalitätenforschung, die Kunst, die Einzelheiten von Gesetzen, Institutionen und politischen Taten in einen genauen, von politischen Zwecken beherrschten Zusammenhang zu bringen und über den Zwecken der steten Machterweiterung die Generalursache walten zu lassen, daß die wachsende Größe Roms die Voraussetzungen dieser Größe, die Prinzipien der republikanischen Staatsform selbst erschüttern mußte. Aber innerhalb dieses Kausalnetzes lag audi das, was die antiken Autoren, namentlich der von ihm sehr geschätzte Florus, schon über die Ursachen von Größe und Verfall Roms vorgebracht hatten, getreulich beieinander. Es war dodi - wenn man von dem pragmatisch denkenden Polybios, der für Montesquieu allerdings sehr wichtig wurde, absieht - eine hochgradig moralisierende, das heißt im Sinne einer Macht- und Ruhmesethik moralisierende Geschichtsbetrachtung, die sie geübt hatten. Die Blüte Roms war da geknüpft an den Heroismus der Bürgertugend und an die Weisheit des Senats, der Verfall an die korrumpierende Wirkung von Reichtum und Luxus, an den Ehrgeiz der Demagogen und die Zuchtlosigkeit der Parteien. Das, was dahinter lag, ist erst nach und nach ent11*

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deckt worden. Montesquieu war, was man oft mit Redit gerügt hat, zu kritiklos gläubig gegenüber den erzählenden Quellen. Er konnte wohl da über sie hinauskommen, wo sein politisches Sachverständnis sie durchleuchtete, und so machte er in seinen Considérations, die auf den Zusammenhang der Institutionen achten lehrten, wohl den Anfang damit, aber ließ die alte Übermalung, an die man sich durdi die humanistische Tradition der Schule gewöhnt hatte, trotzdem in großem Umfange bestehen. Einmal hat er wohl auch an ihr energisch Kritik geübt und dem Livius vorgeworfen, daß er Blumen auf die gewaltigen Kolosse des Altertums würfe (Cons. c. 5). Aber durchbrochen hat er sie dodi nicht ganz. Erst Niebuhr tat das und lehrte das allmähliche Wadisen und Werden und die stillen Umbildungen der Dinge tiefer verstehen. Selbständiger und nidit gebunden an humanistische Traditionen sah er England an. Hier hatte er mit eigenen Augen gegenwärtigstes saftvolles Leben geschaut, mit Widersprüchen, die doch im ganzen merkwürdig zusammenwirkten zur Schaffung eines Staats- und Nationalgeistes großen Stiles und in allen großen wie kleinen Dingen spürbar. Das vermochte er lebendig und individuell, wenn audi schon stark mit seinen Generalkausalitäten (Klima) konstruierend, wiederzugeben. Aber seinem Hange zum Konstruieren mit medianischen Mitteln unterlag er ganz, als er, im Anschluß an Locke und andere, das Bild der englischen Verfassung entwarf. Die Aufgabe, die hier für den Staats- und Rechenkünstler sidi bot, genau auszurechnen, welcher Verteilung von Gewichten und Gegengewichten das Zustandekommen der liberté politique bedürfe, riß ihn hin. Diesmal war es nicht eine klassizistische Tradition, die den vollen Durchbruch historischen Denkens hemmte, sondern die Tradition der Staatskunstlehre, die zu kalkulatorisch, zu utilitarisch auf Endzwecke gerichtet war, um die in ihr enthaltenen Ansätze zu historisch individuellem Sehen schon frei entfalten zu können. Aber es gab nodi eine dritte Tradition, die in ihm lebte, und die ihm nun half, den dritten Lieblingsgegenstand seiner Betrachtung, das germanisdi-französisdie Mittelalter mit neuen Augen zu sehen. Das war die Tradition des französischen Edelmanns, die in der Zeit der Regentschaft neu erwacht war und die er sowohl als Abkömmling einer sich für leidlich alt haltenden

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Adelsfamilie (vgl. P. et fr. 1, 9), wie als Mitglied der noblesse de robe pflegte, aus der heraus er nun dem Ursprung seiner unmittelbarsten politischen Ideale nachging. E i n solch unmittelbares Ideal darf man in seiner Begeisterung für die römische vertu nodi nicht suchen. Viel näher seinem eigentlichen Wollen stand schon das Idealbild der englischen Freiheit, das er sich konstruierte. Aber auch dies Ideal hatte, wie wir bemerkten, nodi etwas Gemachtes und Reflektiertes an sich. Und weiter hat er es schon am Eingang seines Werkes als einen sehr großen Glüdcszufall erklärt, wenn die Gesetze, die einem Volke auf den Leib zugeschnitten sein müßten, auch für ein anderes Volk paßten (1, 3; vgl. auch das 29, 13 über bürgerliche Gesetze Gesagte). Das steht der alten Meinung im Wege, die in dem liebevollen Idealbilde der englischen Verfassung sein eigentlichstes Wollen ausgedrückt sah 1 . Vielmehr lag dieses, wie Morf® richtig erkannt hat, in den Rahmen der gegebenen, geschichtlich erwachsenen französischen Zustände eingebettet. Auf die Erhaltung der aristokratischen Zwisdiengewalten als Bollwerke von Freiheit gegenüber dem modernen Absolutismus kam es ihm unmittelbar an (2, 4; 8, 6; vgl. auch 23, 24). Republikanertugend und Sicherung der Freiheit durch saubere Teilung der Gewalten waren daneben und darüber hinaus schöne Theoreme einer platonischen Liebe. Aber schon den Ursprung der englischen Freiheit führte er auf die W ä l d e r Germaniens zurück, und dazu bestimmte ihn nicht nur eine längst vorhandene Tradition und Lieblingsmei1 Dazu audi die Vorbehalte, die er selber am Schlüsse des die englische Verfassung darstellenden Kapitels 11,6, macht, l.daß er nicht prüfen wolle, ob die Engländer wirklich die von ihm geschilderte Freiheit genössen, sondern nur zeigen wolle, daß sie durch ihre Gesetze etabliert sei, 2. daß man audi mit einem mäßigeren Grade von politischer Freiheit sdion auskommen könne und daß l'excès même de la raison n'est pas toujours désirable. Vgl. audi Klemperer, Montesquieu 2,98. Aber nodi Hildegard Tresdiers kluge Arbeit S. 39 sagt übertreibend, daß Montesquieu die englische Verfassung »allen Staaten als Muster empfiehlt«. Das hätte er, darf man vielleicht vermuten, seiner Neigung nadi wohl gern getan, wenn ihn nicht sein relativierendes Gewissen davon abgehalten hätte. Er verstand politisch zu resignieren. »Die beste von allen Verfassungen ist gewöhnlich die, in der man lebt, und ein verständiger Mensch muß sie lieben«, heißt es in den P. et fr. 1, 416. 1 Ardiiv für die Studien der neueren Sprachen 113, 391.

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nung politischer Denker namentlich in England 1 , sondern audi ein persönliches Bedürfnis. Alle zur Zeit mögliche Freiheit, englische Freiheit ebenso wie die Reste französischer Freiheit, wollte er historisch begründen durch Aufweisung ihres Stammbaums. »Unsere Väter, die Germanen«, in diesem oft von ihm wiederholten Worte, das ihm Voltaire übelgenommen hat, klingt dieses Bedürfnis an. Es war nicht die Stimme des Blutes, die ihn, den Gaskogner, so sprechen ließ; auch nicht romantische Sehnsucht oder eine besondere Vorliebe f ü r deutsches Wesen, - Deutschland gerade kommt in seinen Reisetagebüchern von 1729 ziemlich schlecht weg. Aber seine Wißbegierde trieb ihn an, zu ermitteln, wie es einst in Europa ausgesehen habe. So wollte er auf seinen Reisen audi Ungarn besuchen, weil, wie er meinte (P. et fr. 1, 22), alle Staaten Europas einmal so gewesen seien wie das heutige Ungarn, »und weil ich die Sitten unserer Väter sehen wollte«. Es war ein schon historisch zu nennendes Gefühl f ü r gewachsenes Erdreich, für den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart und für den Zusammenhang abendländischer Kultur überhaupt. Er schämte sich der barbarischen Väter nicht, aber er vergötterte sie audi nicht. W i e unromantisdi er dem Mittelalter gegenüberstand, wie durchaus mit dem Überlegenheitsgefühl des modernen Geschmackes, das zeigt seine Klage über die »kalten, trockenen, insipiden und harten« Schriften jener Zeit, durch die er sich habe durcharbeiten müssen; man müsse sie verschlingen, sagte er, wie Saturn nach der Fabel Steine verschlungen habe (30, 11). Hier am Mittelalter bohrte er am härtesten Holze, um zu befriedigenden Erkenntnissen zu kommen. U n d das war von Segen. Denn hier lag nicht, wie in der Antike, ein fertiges geprägtes Bild schon vor, das eine zwingende Gewalt auf den humanistisch gebildeten Leser ausübte, audi nicht, wie in England, eine moderne Staatsmaterie, die leicht in klare Begriffe eingespannt werden konnte, sondern eine erst noch zu formende Masse geschichtlichen Geschehens. Das Wissen von ihm, insbesondere von der fränkischen Zeit und dem französischen Mittelalter, war durch die gelehrten Arbeiten und Editionen der Benediktiner und anderer Forscher im späteren 17. Jahrhundert bedeutend vermehrt wor1

Hölzle, Idee einer altgermanisdhen Freiheit vor Montesquieu, 1925.

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den. Der kritische Sinn gegenüber der Uberlieferung war erwacht und gab diesen Arbeiten eine für die europäische Geschichtswissenschaft bahnbrechende Bedeutung. Auch der Formungsprozeß, der Versuch, die mittelalterliche Vergangenheit und die Gegenwart des französischen Staatslebens in einen klaren und einheitlichen Zusammenhang zu bringen, hatte schon begonnen, als Montesquieu mit seiner Forschung einsetzte. Man war am Vorabend entwicklungsgeschichtlichen Denkens, und man muß feststellen, daß es überall, wie bei Montesquieu selbst, so auch bei seinen Vorgängern, politische Bedürfnisse und Maßstäbe waren, mit denen man versuchte, über eine bloß antiquarische oder einzelkritische Behandlung der Vergangenheit hinauszukommen. Lebendiges Blut der Gegenwart, eigenes Wollen und Wünschen mußte der Vergangenheit eingeflößt werden, um sie für die Gegenwart wichtig zu machen, um eine Vorstufe entwicklungsgeschichtlichen Denkens damit erreichen zu können. Denn eine Vorstufe blieb es trotz aller schon herausgearbeiteten Zwischenglieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Wir müssen sie kennenlernen, um Montesquieus merklich weiterführende Leistung recht zu würdigen und selbst in einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang einzufügen. *

Es handelte sich um das große, bis heute lebendig gebliebene Problem, wie sich die fränkisch-germanischen und die galloromanisdien Wurzeln des französischen Gesellsdiafts- und Staatslebens zueinander verhielten, welche kausale Bedeutung und welcher dauernde Wert den einen und den anderen zukommen. Wer die zentralistisdie und absolutistische Monarchie der Gegenwart bejahte, mußte sich zur romanischen Wurzel, wer sich, wie der jetzt aufbegehrende Teil des französischen Adels, von dieser unterdrückt fühlte, mußte sich zur germanischen Wurzel hingezogen fühlen. In primitiver Weise hatte schon Franz Hotman während der Hugenottenkriege (Francogallia 1573) diesen Kampf um die Geschichte eröffnet, die Franken als Bringer der Freiheit für die von den Römern unterjochten Gallier verherrlicht und die Forderung eines auf Volkssouveränität beruhenden Königtums daraus abgeleitet. Jetzt, als Montesquieu zu arbeiten be-

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gann, waren es - um nur die herauszugreifen, an die er unmittelbar anknüpfte - zwei Antipoden, die das Problem eben aufgegriffen und der eine in fränkisch-germanischem, der andere in romanischem Sinne beantwortet hatten, Graf Boulainvilliers und Abbé Dubos. Boulainvilliers' Histoire de l'ancien gouvernement de la France ersdiien, fünf Jahre nach seinem Tode, 1727 (3 Bde.); des Abbés Dubos Histoire critique de l'établissement de la monarchie française dans les Gaules 1734 (hier benutzt in der zweibändigen Ausgabe von 1742). Es kommt uns hier weniger auf den Inhalt ihrer geschichtlichen Behauptungen als auf die Frage an, was sie als Vorstufe entwicklungsgeschichtlichen Denkens bedeuten. Es genügt zu wissen, daß Boulainvilliers sich mit knorrigem Trotze als Blutserbe der Franken fühlte und in ihnen nicht nur die Eroberer Galliens und die Begründer und alleinigen Rechtsinhaber eines freien Staatswesens mit Wahlmonarchie, sondern audi die Vorfahren des editen französischen Adels sah. Und nun verfolgte er den Prozeß, wie die Herrscher der aufeinanderfolgenden Dynastien - von dem sehr ideal aufgefaßten Karl dem Großen abgesehen die Redite dieses Adels mehr und mehr herabdrückten, ihre eigene despotische Gewalt dafür aufrichteten und den Adel selbst verwässerten durch die Schaffung eines neuen künstlichen Briefadels aus den Reihen der einst Unfreien, der einst von den Franken unterworfenen gallischen Bevölkerung. Ein gewaltiger säkularer Prozeß, zuerst langsamer, zuletzt rascher sich abrollend, wurde hier durchaus als eine Einheit erfaßt! Richelieu und Ludwig XIV. vollendeten in dreißig Jahren, heißt es (3, 135), was die vorhergehenden Könige ni dit in 1200 Jahren hatten erreichen können. Insofern kann man hier von einer Vorstufe des Entwicklungsgedankens sprechen. Aber die Kriterien echter historischer Entwicklung findet man in dem Vorgang, wie er ihn schilderte, nicht. Denn es fehlen die inneren sachlichen Triebkräfte, die Notwendigkeit und Freiheit vereinigend, von einem Zustande zum anderen hinüberführen. Es wird dafür geschildert ein idealer und musterhafter Urzustand - musterhaft wenigstens politisch, denn die Ignoranz und Barbarei seiner Träger wird durchaus zugegeben (3, 137). Und er wird umgestaltet durch die bewußten Akte herrschgieriger Monarchen, die gelingen konnten, weil der Adel selbst unaufmerksam und träge war (1, 179, 327

Boulainvilliers

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u. ö.). Das ist echter personalistisdier Pragmatismus. Und zugleich das alte, aus der Antike überkommene Schema vom goldenen Zeitalter und seiner Verderbnis durch die Sünden und Fehler der Menschen. Dennoch waren audi von soldi trotzigem Traditionalismus her, wie er ihn vertrat, Wege zu einem relativierenden Geschichtssinne schon möglich. Indem er überall die schlechte Gegenwart mit der guten Vergangenheit verglidi, konnte er den Geschichtsschreibern seiner Zeit - er zielte besonders immer auf des Jesuiten Daniel Histoire de France (1703) — den Vorwurf machen, daß sie »die entferntesten und am wenigsten vergleichbaren Tatsachen auf den Nutzen der Gegenwart bezögen«, während doch alle Zeitalter ihre besonderen Vorzüge hätten, die nicht auf die folgenden Generationen übergingen (1, 322). Noch näher rückte er an die von Montesquieu dann eingenommene Position heran mit dem Worte seiner Vorrede, daß nicht alle Arten von Gesetzen gut für alle Nationen seien. Athens oder Lacedämons Gesetze, die man als Meisterwerke des menschlichen Geistes anerkenne, würden, fuhr er fort, monströs in unserem Staate, und unsere Gebräuche würden unerträglich für England oder Polen sein. Sicherste Regel also müsse für uns das Beispiel dessen sein, was unter uns geschehen und gehandhabt worden sei. Der eigenen schlechten Zeit sah er deshalb wohl mit Herzeleid, aber nicht mit radikaler Ablehnung ins Angesicht, denn auch sie, gestand er, habe ihre besonderen Vorzüge (3, 205). Es kam so etwas wie ein heroisches Schicksalsgefühl, das den unvermeidlichen Untergang des Herrlichen kommen sieht, über ihn. »Das Augurium einer noch viel größeren Dekadenz für die Ehre des französischen - er meint des altadlig-fränkischen Bluts ist für die Zukunft nur zu sicher« (3, 205). Die Staaten haben, bemerkte er ein andermal (2, 270), ihr Schicksal, das ebenso unvermeidlich ist wie das des einzelnen. Wie ein Freigeborener durch die Verkettungen seines Lebens in die Knechtschaft geraten könne, so auch ein Volk trotz der Sicherheit seines ursprünglichen Rechts. Und nun griff er audi darin schon Montesquieu vor, daß er an das Schicksal der Römer erinnerte, die ihre Freiheit durch ihre eigenen Waffen zerstört hätten, um dann niemals aus der schmählidisten Unterwürfigkeit wieder herauszukommen. Es gab noch andere Spuren eines weitergreifenden histori-

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sehen Denkens bei diesem rassestolzen und hartnäckigen Edelmann1. Hat dodi Gobineau in ihm den, wenn audi nodi sehr unvollkommenen Vorläufer und Bahnbrecher seiner eigenen Rassetheorie gesehen2. Aber der Grundgedanke der Boulainvilliers'sdien Geschiditsauffassung, das droit primordial der ersten Eroberer und seine Vernichtung durch die Herrsdisudit der Könige, war und blieb grob und untauglidi für die Aufgaben des kommenden Historismus. Dabei konnte er ihn selber nicht einmal konsequent durchführen. Denn mit dem Rechte der Eroberung ließ sidi audi der von ihm so gehaßte Aufstieg des Königtums zur unumschränkten Gewalt begründen. Darum machte er auch hier und da Anleihen beim gewöhnlichen Naturrecht und berief sich auf »die natürliche Freiheit der Menschen« (1,255), wodurch er dann wieder in schreienden Kontrast zu seinem Pochen auf das Recht der Eroberer geriet. Dennoch kann man insgesamt die Naturfrisdie seiner traditionalistischen Empfindung als eines der Fermente bezeichnen, die auf ein neues Verhältnis zur geschichtlichen Welt hinwirken konnten. Montesquieu hat sie gern auf sich wirken lassen und die simplicité und ingénuité de l'ancienne noblesse, die aus ihm spräche, mit Behagen anerkannt (30, 10). Boulainvilliers' historischer Versuch, ein Stück Mittelalter zu rechtfertigen, wurde ihm ein Ansporn, es besser zu machen als dieser. Während er Boulainvilliers' Buch als eine Verschwörung gegen den dritten Stand bezeichnete, erschien ihm des Abbés Dubos Buch als eine Verschwörung gegen den Adel. Dubos arbeitete mit viel stärkerem wissenschaftlichem Rüstzeug als Boulainvilliers. Er bemühte sich, allen Anforderungen kritischer Erudition, die durch die gelehrte Arbeit des späteren 17. Jahrhunderts gestellt worden waren, gerecht zu werden. Aber so sachlich und eindringlich er die Kette der Ereignisse, die zur Begründung der fränkischen Monarchie führten, zu untersuchen schien, so fein und 1 Vgl. Hölzle S. 57, über die von ihm vertretene, aus englischem Denken übernommene Idee einer umfassenden gemeingermanischen Freiheit, aus der er dann sowohl die englischen wie die deutschen Verfassungseinrichtungen summarisch ableitete. Über andere Bestandteile seines historischen Denkens (Geist der Völker, gemeinsame Denkweise eines Jahrhunderts, Interesse für Sittengeschichte) vgl. das oben bei Voltaire Bemerkte S. 107 f. 2 Schemann, Gobineaus Rassenwerk, S. 475 ff.

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freundlich gewinnend er sich dabei auch gab 1 , die v o r g e f a ß t e leitende T e n d e n z penetrierte bei ihm genau ebenso stark wie bei Boulainvilliers, und sein reiches Wissen w u r d e zu ihren Gunsten geschickt zurechtgebogen und, wo die Quellen versagten, durch Phantasie ergänzt. Es kam ihm darauf an, die These Boulainvilliers' vom Herrenrechte der fränkischen Eroberer zu w i d e r legen. Diese Herrenrechte, die v e r h a ß t e n Rechte der Seigneurie und der erblichen Gerichtsbarkeiten, w a r e n nach seiner Meinung vielmehr eine Usurpation der tyrannischen G e w a l t h a b e r des 9. u n d 10. J a h r h u n d e r t s (Discours prélimin. 1, 39 und 2, 608). Bis d a h i n aber seien die gesellschaftlichen G r u n d l a g e n u n d staatlichen E i n richtungen, wie sie zur Römerzeit gewesen seien, im wesentlichen erhalten geblieben, abgesehen von der Sonderrechtsstellung der F r a n k e n , deren Zahl nicht sehr groß gewesen sei. U n d n u n kam es ihm weiter darauf an, zu beweisen, d a ß eine genaue rechtliche Kontinuität zwischen dem Imperium Romanum und den f r ä n kischen Königen bestanden habe, d a ß diese nicht als erobernde Volkskönige, sondern als officiers de l'Empire (2, 76) die H e r r schaft über das eigentliche Gallien erlangt, zuletzt durch Justinian auch eine förmliche Zession d a f ü r erhalten hätten. Die h e u tigen französischen Könige also seien die legitimen Nachfolger des Augustus u n d des Tiberius, den Jesus Christus selbst als legitimen Souverän a n e r k a n n t habe, die einzigen modernen Monarchen, die sich rühmen könnten, ihre Rechte unmittelbar vom alten römischen Reiche erhalten zu h a b e n ! (2, 370 f.) W a s mußte nicht alles zuredit geglättet u n d geplättet werden, um diesen Z u s a m m e n h a n g herzustellen u n d die wilde Erscheinung Chlodwigs zu zivilisieren. Die These von d e r Kontinuität der römischen Einrichtungen d a g e g e n hatte einen partiellen W a h r heitsgehalt, u n d Alfons Dopsdi, der sie jetzt wieder a u f g e n o m men hat, d u r f t e auch Dubos unter seinen V o r l ä u f e r n nennen. Dieser mit wissenschaftlicher Energie durchgeführte Versuch, eine große Kontinuität geschichtlichen Lebens nachzuweisen, berührt schon modern historisch. Fueter in seiner Geschichte der neueren Historiographie (S. 329) hat Dubos' Leistung mit der Justus Mosers verglichen. D a s k a n n m a n f ü r sein W e r k über die französische Monarchie, wie gleich zu zeigen sein wird, nur mit 1

Sehr hübsdi darüber Thierry, Récits des temps Mérovingiens 1, 68.

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Vorbehalt gelten lassen. Aber die Gesamtstellung Dubos' inmitten der frühen französischen Aufklärung erinnert in der Tat etwas an Mosers Erscheinung, indem er nämlich als selbstdenkerischer Kopf neue Wege sudite, die über die eigentliche Aufklärung einmal weit hinausführen mußten. Hier kommen vor allem in Betradit seine später noch auf Lessing wirkenden Réflexions

critiques

sur la poesie

et la peinture

(zuerst 1719, h i e r

in der dreibändigen Ausgabe von 1740 benutzt). Da bradi er schon gegenüber der Regelhaftigkeit des französischen Klassizismus für die Bedeutung des Gefühls, der Leidenschaft und des angeborenen Genies in der Kunst eine Lanze. Er tat es in bewußter Frontstellung gegen den cartesianischen, mathematischdeduktiven Geist, der damals das Denken weithin beherrschte, und in bewußter Anlehnung an die empirisch-induktive Methode der Naturwissenschaften und an die sensualistisdie Philosophie der Engländer. Dadurch erhielt nun freilich seine Genielehre mit allen daraus gezogenen Folgerungen über die Ursachen von Blüte und Verfall der Kulturen einen schlechthin naturalistischen Charakter. Denn er führte die Tatsache, daß es geniereiche und geniearme Perioden gab, einfadi zurüdk auf physikalische Ursachen, auf die dem Wechsel unterworfenen Einflüsse von Klima, Luft- und Bodenbesdiaffenheit. So wurde er audi durdi seine Klimatheorie ein unmittelbarer Vorläufer Montesquieus. Und insgesamt war er mehr ein Vorläufer des späteren Positivismus1 als des späteren Historismus. Wohl präludierte er audi diesem durdi das neue Lebensgefühl für die Macht des Irrationalen, das er als Ästhetiker schon hatte. Aber er rationalisierte, darf man sagen, audi das Irrationale und blieb in den Schranken naturreditlidien Denkens, indem er an die Stelle einer zeitlos gültigen Vernunft ein ebenso zeitlos gültiges »sentiment« als Richter über ästhetische Werte setzte®. Und seine Kraft und sein Wille reichten auch nicht aus, um schon das gesamte Gebiet der geschichtlichen Welt mit seinen neuen Gedanken zu durchdringen. So steht die geschiditlidie Denkweise seines Werkes über 1

Sein liebevoller und gelehrter Biograph Lombard (L'abbé Dubos, un initiateur de la pensée moderne, 1913) zeigt das mit großer Sympathie. 2 »Merkwürdig, zu beobachten, wie eigentlich bei unserem Autor das Gefühl an dieselbe Stelle tritt, welche bei Boileau die Vernunft einnahm.« H. v. Stein, Entstehung der neueren Ästhetik, S. 238.

Dubos

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die französische Monarchie unter merklidi anderen Aspekten als seine ästhetische Theorie. Er war unsprünglich im diplomatischen Kleindienste der französischen Regierung verwandt worden. Er wußte, was Staatsräson und Interessen der Staaten bedeuten, und hatte praktisch und als offiziöser Publizist damit hantiert. Mit politischem Seitenblick auf erobernde Handelsrepubliken hatte er während des Spanischen Erbfolgekrieges ein Buch über die Liga von Cambray geschrieben und stand also ganz in der Tradition der Staatskunstlehre. Er hatte auch ein besonderes Interesse für das, was man den état eines Landes damals nannte, für den Aufbau des Behördenwesens, für staats- und verwaltungsrechtliche, steuerpolitische usw. Fragen. Das alles kam seinem Werke, das diese Dinge überaus eingehend und lichtvoll, in vieler Hinsicht sogar bahnbrechend für die romanisch-germanische Übergangszeit behandelte, sehr zustatten und sieht auch schon Möseriscb genug aus. Was ihn trotzdem von Moser in der Tiefe unterscheidet, ist seine unwiderstehliche Neigung, die Vergangenheit innerlich zu modernisieren 1 . Diese Menschen der Völkerwanderungszeit, wie er sie schilderte, trugen eigentlich alle die Staats- und Gesellschaftskleider des 17. und 18. Jahrhunderts. Einige Barbarei wurde natürlich zugestanden, aber die Franken seien viel bildungsfähiger als die anderen Germanen gewesen und seien darum von der nation Romaine gewissermaßen »adoptiert« worden (2, 227). Das Gallien der spätrömischen Zeit erscheint wie ein modernes Frankreich, das hochkultiviert, aber durch Bürgerkriege und schlechte Regierung außer Rand und Band geraten ist, um in den Frankenkönigen schließlich seine »Protektoren« zu finden. Er argumentierte oft so, als ob es ein zeitlos gültiges Staats- und Völkerrecht gäbe, und ein Staatsalmanach der Völkerwanderungszeit könnte danach ebenso sauber und übersichtlich ausfallen wie nur irgendein moderner, wie man ihn zu Dubos' Zeiten überall schon verfertigte. Dieser moderne Kanzleigeist machte sich nun die kriegerischen und machtpolitischen Vorgänge jener Zeit mit 1 Das wird auch Lombard gewahr S. 399 und schreibt ihm trotzdem merkwürdigerweise S. 401 einen philosophischen sens de la différence des temps zu. In seinem ästhetischen Werke ist dagegen viel mehr davon zu spüren. Vgl. noch über Dubos Cassirer, Philosophie der Aufklärung, S. 397, und Finsler, Homer in der Neuzeit, S. 233 ff.

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einer Fülle von oft sehr geistreichen Analogien aus dem neueren europäischen Staatensystem verständlich. Er verglich zum Beispiel Chlodwigs angebliche Doppelstellung als fränkischer Volkskönig und römischer Reichsbeamter mit derjenigen Wilhelms III. von England, der zugleich Generalkapitän der Niederlande geblieben sei. Für das Nebeneinander verschiedener Volksrechte im Frankenreiche fand er die sehr hübsche Analogie der modernen Türkei seiner Zeit, wo die Politik der Sultane einen ähnlichen Zustand aufrecht halte. Warum sollten nicht, fragte er ganz im Sinne der Staatskunstlehre, auch unsere ersten Könige aus Politik ihre Untertanen national getrennt gehalten haben? (2, 385). Die durch politisches Sachverständnis zu findende Analogie moderner Verhältnisse war demnach ein Haupterkenntnismittel seines historischen Denkens. Es beruhte auf der stillen Voraussetzung, daß das politische Leben aller nicht schlechthin barbarischen Zeiten typisdie, immer wiederkehrende Züge habe. Auf das Typische also, nicht auf das ganz Individuelle war das Auge gerichtet. Das fruchtbare Unternehmen Dubos', ein Stück großer historischer Kontinuität durch die Jahrhunderte nachzuweisen, verlor damit an echt historischem Gehalte. Im Hintergrunde lag doch bei ihm, wie auch bei Montesquieu, die alte Lehre vom Kreislauf der Dinge1, von der Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen. Diese Lehre konnte sich dem Pragmatismus, sowohl dem personalistischen wie dem sachlichen Pragmatismus, leicht verbinden. An beiden Arten dieses Pragmatismus nahm auch Dubos teil. Die gewagten Hypothesen, die er zur Ausfüllung der Uberlieferungslücken und zur Herstellung eines staatsrechtlich glatten Zusammenhanges zwischen Imperium und Frankenmonarchie in gutem Glauben an seine Methode vornahm, hätte er nicht wagen können, wenn ihn nicht jene Vorstellung von der inneren Gleichartigkeit alten und neuen Staatslebens beherrscht hätte. Der sachliche Pragmatismus dominierte bei ihm, ähnlich wie bei Montesquieu, über den primitiveren, bloß personalistischen Pragmatismus. Ihm haben wir die wertvolle Ausdehnung des historischen Interesses auf Beschaffenheit und Wandel der Institutionen, die er schon vornahm, zu danken. Die kritische Behutsamkeit in ihrer Behandlung, die man bei ihm noch ver1

Vgl. seine Réfi, crit., Ausg. 1740, 2, 319, und Lombard S. 255.

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mißt, konnte erst dann sich einstellen, als auch der Sinn für das wahrhaft Individuelle im historischen Denken sich durchgesetzt hatte. *

W i r kehren zu Montesquieu zurück. Dubos' Werk war ein Hymnus auf die ungeteilte, von den römischen Kaisern den fränkischen Königen vermachte Staatsgewalt und stieß damit hart an gegen den politischen Lieblingsgedanken Montesquieus, daß die Teilung der Gewalten im Staate heilsam sei1. Von Dubos' weiteren Behauptungen, die er in der Regel, ungerecht gegen seine Gesamtleistung, mit Spott behandelte, mag ihn am stärksten wohl die gereizt haben, daß erst die Usurpatoren des 9. und 10. Jahrhunderts die seigneurialen Rechte und erblichen Gerichtsbarkeiten geschaffen hätten. Denn hier setzte er ein, als er daran ging, den Ursprung der von ihm so hochgeschätzten aristokratischen Zwischengewalten zu ermitteln. Hatten diese selbst heute noch Sinn und Wert, so konnten vielleicht audi ihr Ursprung im Feudalwesen und dessen Vorstadien nicht ganz sinnlos und barbarisch sein. Das war die vom politischen Interesse eingeflüsterte, aber historisch höchst fruchtbare Frage, die er sich stellte. Dazu kam die weitere Frage des wißbegierigen Juristen nach dem Ursprung französischen Rechtes und französischer Gesetzgebung überhaupt, nach den Ursachen der Spaltung Frankreichs in eine gewohnheitsrechtliche und eine römisch-rechtliche Zone. Diesen Fragen waren drei der letzten Büdier seines Esprit des lois gewidmet, die durch ihren rein historisch untersuchenden Charakter von den meisten übrigen, systematisch disponierten Teilen sich abheben und disparat zu ihnen verhalten. Aber was vom Standpunkte der literarischen Komposition ein Mangel war, wurde zum Ruhmestitel seines historischen Denkens. Er sprengte die Schranken des politischen Lehrbuchs, in dem auch das geschichtlich Fließende einen statischen Charakter annehmen mußte, und ließ sich hier hinreißen vom Schauspiel des Fließens der Dinge, weil die vernünftigen Sinn- und Zweckgehalte, die er in ihnen suchte, nur in diesem Schauspiel zu erfassen waren. Auf die Fehler und Irrtümer, die er dabei im einzelnen beging, kommt 1 Vgl. Dédieu, Montesquieu France (1909), S. 158.

et la tradition

politique

anglaise

en

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es hier gar nicht an. Seine Methode selbst sdion war eine geistesgeschichtliche Tat. Es ist unmöglich, erklärte er (30, 19), in unser Staatsrecht einzudringen, wenn man nicht vollkommen die Gesetze und Sitten der germanischen Völker kennt. Woher stammt, so fragte er sich mit besonderem Nachdrucke, die heutige Patrimonialgerichtsbarkeit der Seigneurs? Er führte sie zurück auf das fein ausgebildete Straf- und Bußrecht der Germanen und verfolgte geduldig die Weiterentwicklung dieser Institution. Mitteninne rief er mit der Freude des Entdeckers aus: Schon sehe ich die Gerichtsbarkeit der Seigneurs geboren werden (30, 20), - und kam so zu dem Ergebnis: diese Gerichtsbarkeiten verdankten ihren Ursprung nicht einer Usurpation, sie fließen (dérivent) aus der ersten Einrichtung und nicht aus ihrer Entartung (30, 22). Man kann vieles gegen die Richtigkeit dieser Entstehungsgeschichte der Patrimonialjustiz einwenden. Man kann audi politische Tendenz vermuten hinter seiner Ablehnung der pragmatistisch-moralisierenden Erklärungsweise aus Usurpation, die Dubos geübt hatte. Aber daß er sie hier bewußt ablehnte und einen nodi lebenden Uberrest der Vergangenheit aus langsamer Umbildung ursprünglicher Einrichtungen durch die in ihnen selbst liegenden Triebkräfte entstehen ließ, war eine geniale Leistung. Mit dieser Methode, sagte er sich mit berechtigtem Stolze, kann man überhaupt die »Generation«, die »Geburt der Gesetze« bei den meisten Völkern studieren. Er griff damit über sich selbst und über die sonst zumeist von ihm geübte pragmatistisdie Methode hinaus. Dabei verglich er, wie dies auch Boulainvilliers getan hatte und oft schon geschehen war, die Völker mit den Individuen. Aber er verglich sie so, daß neben dem Typischen auch das Individuelle dabei schon zu seinem Rechte kam. Denn, so sagte er, wie die Individuen, so haben auch die Völker ihre suite d'idées, ihre manière de penser totale, ihren Anfang, Mitte und Ende (P. et fr. 1, 193). Da war weiter der gerichtliche Zweikampf des Mittelalters, die Tatsache, daß »unsere Väter« Ehre, Glück und Leben mehr vom Zufall als von der Vernunft abhängig machen konnten (28, 17ff.). Er erklärte es sich geistesgeschichtlich wieder aus ihrer manière de penser, aus ihrer Art, den Krieg unter Regeln zu bringen und in seinem Ausgang ein Werk der Vorsehung zu

Montesquieu

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sehen, und aus dem besonderen Ehrgefühle eines kriegerischen Volkes. »Die Probe durdi den Einzelkampf hatte einige Räson, gegründet auf die Erfahrung.« Denn Feigheit mußte in einem kriegerischen Volke audi als Verdachtgrund für andere Fehler gelten. Aus der Verbreitung des gerichtlichen Zweikampfes erklärte er sich das Schwinden der Autorität der geschriebenen Rechte, denn der Zweikampf genügte ja fortan als gerichtliches Beweismittel. Über den Ursprung und die Wandlungen des point d'honneur stellte er sinnreiche Betrachtungen an. Aus dem gerichtlichen Zweikampfe und dem Glauben, daß man dabei Zauberkräuter gebrauchen könne, ließ er dann, allerdings sehr vereinfachend und pragmatisierend, das »wunderbare System der Ritterschaft« mit seinen Zauberpferden, Paladinen, Feen usw. herauswachsen. Damit verknüpfte er wieder die Entstehung des eigenartigen esprit de galanterie in Mittelalter, der ein von der Antike nodi nicht gekanntes Verhältnis der Geschlechter zueinander geschaffen habe. Insgesamt aber war sein Ziel, »den monströsen Gebrauch des gerichtlichen Zweikampfes auf Prinzipien zurückzuführen und dadurch den Körper einer so eigenartigen Jurisprudenz zu finden«. Denn »die Menschen, im Grunde vernünftig, bringen selbst ihre Vorurteile unter Regeln« (28, 23). Das war wohl nodi immer rationalistisch empfunden, aber diese Art von Rationalismus bahnte den Weg zum Verständnis des Irrationalen und Individuellen. Voltaire lehrte den Kampf der Vernunft gegen die Unvernunft, wobei das Mittelalter zum Träger der Unvernunft wurde. Montesquieu lehrte die Anpassung der Vernunft an die Unvernunft in der Geschichte, wobei das Mittelalter als eine von Vernunft keineswegs ganz entblößte Barbarei erschien. Voltaire fand den Zustand lächerlich, daß jeder Flecken sein eigenes Recht hatte. Montesquieu erklärte sich diesen Zustand aus der berauschenden Idee der eigenen Souveränität, die damals alle ergriffen habe, und urteilte, daß es unbedachtsam gewesen wäre, bei dieser Verfassung der Geister ein einheitliches Reditsbuch für sie zu schaffen (28, 37). Wiederum war das noch nicht Historismus, sondern Staatsutilitarismus, jene klügste, im Grunde schon von Madiiavelli gelehrte Art von Staatsutilitarismus, die mit den Menschen rechnete, wie sie wirklich sind, nicht .wie sie sein sollten. Diese Art von Anpassung der Vernunft an die Unvernünftigkeiten der 12

Meipedte, Historismus

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Drittes Kapitel

Geschichte machte die stabile Vernunft des Naturrechts nodi nicht wahrhaft flüssig, sondern nur eben sehr biegsam. Flüssigwerden der Vernunft hieß, sie sich individualisieren lassen, hieß, sie anerkennen in jeder ihrer tausendfältigen Metamorphosen, die sie im Laufe der Geschichte annimmt, hieß, in jeder von ihnen eine unersetzliche und in sich wertvolle Individualität sehen. Dieser schöpferische Prozeß des Neusehens und Anstaunens der Dinge, als sei in jedem von ihnen eine besondere Offenbarung der GeistNatur, fehlt nodi bei Montesquieu. Oder ist er dodi wenigstens in Ansätzen schon da? Es ergriff ihn im Laufe dieser Untersuchungen einmal das wahrhaft historische Gefühl, im Feudalwesen des Mittelalters eine Erscheinung vor sich zu haben, die niemals vorher und nachher in der Welt gewesen sei (30, 1). Wir schränken das zwar heute tatsächlich ein durch den Hinweis auf analoge feudale Verfassungen und Entwicklungsstufen in anderen Völkern und Kulturkreisen. Und doch behält audi das mittelalterlich-abendländische Feudalwesen dabei noch einen ganz individuellen Charakter. Dies Gefühl für eine unvergleichliche Individualität überhaupt war etwas Großes. Es schärfte sofort seinen Blick dafür, daß ihre historischen Wirkungen nicht einfach nur gut oder schlecht gewesen sein könnten, daß Gutes und Schlimmes zugleich aus ihnen hervorgegangen sei. Ihn wandelte dabei ein noch höheres Gefühl an, das der Ehrfurcht vor großen geschichtlichen Gebilden, in denen ein Geist lebte. »Schön ist das Schauspiel der Feudalgesetze: eine alte Eiche erhebt sich, das Auge sieht von weitem das Laubwerk, man nähert sich, man sieht den Stamm, aber man bemerkt nicht die Wurzeln. Man muß graben in der Erde, um sie zu finden.« *

Das Eigene bei Montesquieu ist also, daß er noch nicht allgemein und auf der ganzen Linie, aber doch in einem bestimmten Bereiche der geschichtlichen Welt in ein neues, über Staatsutilitarismus und Rationalismus hinausführendes Verhältnis zu ihr hineinwachsen konnte. Sowohl der Individualitäts- wie der Entwicklungsgedanke wurden in diesem wach. Den rationalistischen Geschmack verloren sie dabei noch nicht ganz, denn das Suchen nach dem Sinn im Unvernünftigen war, wenn es so beflis-

Montesquieu

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sen und utilitarisdi deutend, wie es hier nodi oft geschah, betrieben wurde, noch im Banne des Pragmatismus. Montesquieus geistige Welt gleicht jenen merkwürdigen Siedlungen im Hochgebirge, für die der Gebirgskamm zwar eine natürliche Grenze im ganzen, aber keine absolute Grenze ist. Herkunft, Interesse und Verkehr weist die in ihnen wohnenden Menschen auf die eine Seite des Gebirges. Von ihr aus schauen sie ins Leben. Aber sie haben jenseits des Kammes noch Weiden, auf die sie zu günstiger Jahreszeit ihre Herden treiben; und die Wege, die sie bauen, dienen der künftigen Erschließung der jenseits liegenden Welt. Von dieser neu zu erschließenden Welt her hat dann schon Herder den Doppelgeist in Montesquieu gespürt und über den Esprit des lots das klassische Urteil gefällt, daß dies edle Riesenwerk ein gotisches Gebäude im Geschmack seines philosophischen Jahrhunderts sei (1774; Werke 5, 565). Sein Werk trug weiter als sein eigenes Wollen und Können. Die stärkste Wirkung, die von ihm auf das geschichtliche Denken ausging, war der neue Respekt vor den Gebilden der geschichtlichen Welt, die neue Empfindung, daß überall noch Entdeckungen eines bisher unbekannten Sinnes und Zusammenhanges zu machen seien. Am wenigsten war von dieser Wirkung freilich im eigenen Lande damals zu spüren. Man bewunderte ihn wohl, aber ging zumeist lieber auf der breiten Straße der Aufklärung mit ihren Wegweisern ins Zukunftsland weiter1. Doch wird das folgende Kapitel zeigen, daß die zum Historismus hinführenden Tendenzen, die er vertrat, innerhalb des französischen Bereiches nicht ganz isoliert blieben.

1 Charakteristisch dafür ist das Edio, das sein Werk nach Erscheinen im Kreise seiner nächsten Freunde fand, worüber die Correspondance de Montesquieu II (1914) viel Belehrendes enthält. Seine am Mittelalter vollbrachte Leistung wurde wohl angestaunt, aber nicht tiefer empfunden (vgl. auch Laboulayes Anmerkung zu 30, 1: Œuvres 5, 415). Das Hauptinteresse galt seinen politischen Maximen. Die Gefährlichkeit seiner Methode für die reinen Aufklärungsideale empfand am schärfsten Helvetius (Correspondance II, 16 ff. und 565 ff.: *Sa manière est éblouissante. C'est avec le plus grand de génie qu'il a formé l'alliage des vérités et des préjugés). Vgl. über Helvetius' Kritik audi Wahl, Montesquieu als Vorläufer von Aktion und Reaktion, Historische Zeitschrift 109, 144 ff.

VIERTES

KAPITEL

Französisches Geschichtsdenken neben und nadi Voltaire und Montesquieu In Montesquieu gab der französische Geist einen unentbehrlichen Beitrag zur Entstehung des Historismus, und von den ihm nachfolgenden französischen Denkern und Forschern hat nur nodi der eine Rousseau durch die Wirkungen, die von ihm ausgingen, eine vielleicht unersetzliche Funktion im Leben derer geübt, die in Deutschland den neuen historischen Sinn dann wecken sollten. Doch dürfen wir darum die französische Reihe noch nicht ganz hier abbrechen. Die große französische Geschichtsphilosophie der zweiten Jahrhunderthälfte, beginnend mit Turgots Discours sur les progrès successifs de l'Esprit humain von 1750 und gipfelnd in Condorcets Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain (1794), gehört freilich mehr in die Vorgeschichte des Positivismus als des Historismus, weil nicht der Sinn für das Individuelle, sondern der für das Typische und Allgemeingültige in ihr dominierte und der Fortschritt zu größerer Vervollkommnung der Menschheit, an den sie glaubte, als ein auf allgemeinen Gesetzen beruhender Prozeß aufgefaßt wurde. Die Zusammenhänge, die von einer Stufe dieses Prozesses zur anderen hinüberführen, beobachteten sie wohl genauer und nachdenkender als Voltaire und förderten dadurch ohne Zweifel das entwicklungsgeschichtliche Denken überhaupt1, aber spannten es auch übermäßig ein in das Schema des Fortschrittsgedankens, der nun in der zweiten Jahrhunderthälfte sich stärker durchsetzte. Man wird das zum nicht geringen Teile als Wirkung des Schauspiels ansehen dürfen, das der sich jetzt entfaltende aufgeklärte Despotismus den Philosophen bot. Wenn die Regierungen selbst jetzt nadi Jahrhunderten unvernünftigen Waltens begannen, auf die Stimme der Vernunft zu hören, wie sollte man da nicht auf un1 Näher ausgeführt bei Breysig, Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung (1936), S. 84 ff.

Turgot / Condorcet

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geahnte weitere Siege dieser Vernunft hoffen. Zum Rausche konnte diese Stimmung durch die Französische Revolution werden, wo die Vernunft nun gar selbst die Bildung der Staatsgewalt in ihre Hand zu nehmen schien. So ist es gekommen, daß der Weg universalgeschichtlicher Deutung, den Condorcet einschlug, noch weiter abbog von den Wegen geschichtlichen Denkens, denen wir hier nachgehen, als der von seinem Lehrer Turgot vorher begangene. Denn in Turgot lebte noch, inmitten seiner Neigung, zu einer »Mechanik der moralischen Ursachen« (Œuvres 2, 213) zu gelangen, der Realismus der Lehre von den Interessen der Staaten, der schon seit Machiavelli es in gewissem Grade vermochte, politische Interessenkomplexe morphologisch als natürliche Wachstümer zu betrachten. Seine Entwürfe zu einer »politischen Geographie« (Œuvres 2, 166 f f . ) , bedeutend als Vorahnung moderner Geopolitik, waren reich an fruchtbaren Fragestellungen, wie etwa der, das Verhältnis von Gebietsausdehnung zur inneren Verwaltung und Regierungsform zu untersuchen oder die Religionen auf ihr jeweiliges Verhältnis zur Politik und auf ihren propagandistischen oder nichtpropagandistischen Charakter in Typen zu unterscheiden. Er führte damit die Montesquieusdie Methode fort mit dem Vorhaben, sie zu verfeinern, wie er denn der Einseitigkeit seiner Klimalehre entgegentrat, und er erinnert, wie Dilthey gezeigt hat, durch seinen Späherblick schon etwas an Herder. Erst recht auch dadurch, daß er an eine göttliche Providenz des geschichtlichen Gesamtverlaufs noch glaubte - den er dann freilich, merklich mechanischer und regelrechter als Herder, sich nur vorstellen wollte wie den Marsch einer ungeheuren Armee, den ein gewaltiges Genie dirigiere (Œuvres 2, 225). Bei dem antikirchlichen Condorcet verschwand die göttliche Providenz und trat das reine Naturgesetz des Fortschrittes in Kraft - »fast«, wie er sich mit einem Anflug von Vorsicht noch ausdrückte, »ebenso sicher wie das der Naturwissenschaften« (S. 244 und 327) - und steigerte sich zum feurigsten Glauben an die unbegrenzte Perfektibilität des Mensdien. Es verschwand ferner zwar nicht, aber es trat zurück jener Sinn für konkrete gewachsene Gebilde der Geschichte, den nodi Turgot, freilich nur typisierend, nicht individualisierend gezeigt hatte und der auch im späteren Positivismus des 19. Jahrhunderts, wiederum auf das Typische beschränkt, wieder aufleben konnte. Ihm lag es am

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Viertes Kapitel

Herzen, die menschliche Vernunft als eine ebenso unfehlbar wirkende Naturkraft nachzuweisen, wie etwa die Schwerkraft, rudimentär schon vorhanden in den Urzeiten, durch alle Hemmungen der menschlichen Natur sich langsam und sicher durcharbeitend, immer nur voran-, niemals zurückschreitend, zu Kompromissen mit ihren Gegnern auf ihrem Vormarsch wohl genötigt, aber auf eine uniforme Zukunft der ganzen Menschheit gerichtet. So geistesmächtig die Leistung Condorcets, der im Gefängnis, seinem Tode entgegensehend, sie vollbrachte, audi war, sie kommt für uns nur peripherisch in Betracht, um der Kluft innezuwerden, die den werdenden Positivismus von dem werdenden Historismus trennte. Sie gehört zu dem Äußersten, was die Aufklärung, sich selbst überlassen, für das geschichtliche Weltbild leisten konnte. Für die Entstehung des deutschen Historismus, soweit wir diese verfolgen wollen, haben weder Turgot noch Condorcet unmittelbar etwas bedeutet. Turgots universalhistorische Entwürfe wurden auch erst 1808 in der Sammlung seiner Werke veröffentlicht. Verfolgen wir nun summarisch die Erscheinungen des französischen Geisteslebens in der zweiten Jahrhunderthälfte weiter, insofern sie entweder durch ihre Analogie oder durch ihre Einwirkung zum Verständnis der deutschen Bewegung beitragen. Schon bei Turgot und Condorcet geht bei aller Vorliebe für mechanische Gesetze und dem Glauben, die Geschichte analog den Methoden der Naturforscher behandeln zu können, die tatsächliche Auffassung geschichtlicher Wandlungen oft in eine dynamische über. Die unwillkürliche Abwendung von mechanischem und abstraktem zu einem mehr dynamischen und naturalistischen Denken ist nun aber, wie Cassirer in seiner »Philosophie der Aufklärung« (1932) gezeigt hat, charakteristisch für die französische Aufklärung der zweiten Jahrhunderthälfte überhaupt. Sie trat in Buffons Histoire naturelle (1749 ff.) in einer Weise hervor, die später auch Herders und Goethes Entwicklunggedanken befruchten konnte. Daneben aber konnte in Frankreich auch ein extremer Rationalismus fortdauern und ein Materialismus aufkommen. Die begrenzte Umbildung des französischen Aufklärungsgeistes war der Tribut, den er der allgemeinen, seit der Jahrhundertmitte überall spürbaren Umbildung des abendländischen Geistes brachte. Diderot, der beweglichste unter den fran-

Diderot / Rousseau

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zösischen Denkern, der zwischen Materialismus und Idealismus hin und her sich wenden konnte, der Bahnbrecher einer Dichtung bewegter, wenn auch noch nicht aus tiefster Seele bewegter Leidenschaften, ist neben dem noch gewaltiger wirkenden Rousseau der Hauptzeuge dafür. Aber zu einer Erneuerung des geschichtlichen Denkens ist es durch sie nicht gekommen. Denn die naturrechtliche Grundvoraussetzung von der Unwandelbarkeit der Vernunft wurde auch durch sie nicht erschüttert. Wohl faßte man die Vernunft jetzt unter dem Einfluß des englischen Sensualismus und unter der Wirkung eines neu aufsteigenden naturalistischen Lebensgefühls weniger als einen Inbegriff eingeborener Wahrheiten und mehr als eine Kraft, die sich mit den unterrationalen Kräften der jetzt reicher gesehenen menschlichen N a tur auseinanderzusetzen habe. Aber der Glaube blieb, daß sie zu zeitlos gültigen Forderungen und Wahrheiten führe. In diesem Irrtum verharrte auch Rousseau. W a s er denen, die in Deutschland den neuen historischen Sinn dann weckten, mehr als starkes Reizmittel, denn als eigentlicher Führer bedeutet hat, wird später zu bemerken sein. W i r fassen uns audi hier bündig zusammen. Wohl hat er durch die radikale Kulturkritik der beiden Discours von 1750 und 1754 die aufklärerische Selbstsicherheit der Menschen erschüttert und zu tieferem Nachdenken angestachelt. Audi hat ein so eigenwilliger und konventionswidriger Mensch wie er Unermeßlidies geleistet für das Recht der Individualität. Er hat es vorgelebt und Unzähligen den Mut gegeben, von ihm Gebrauch zu machen und aus erregter Innerlichkeit heraus sich selbst und das Leben ringsum individueller zu empfinden. Auch die Einbettung alles Individuellen in ein höheres Gesamtleben, das er Natur nannte und mit glühender Liebe umfassen konnte, hat er stark und originell empfunden. Dieser Gedanke eines lebendigen Zusammenhanges zwischen Individualität und Natur, so ungeklärt er bei ihm blieb, hat durch die Inbrunst der Stimmungen, die er zu wecken vermochte, wiederum unermeßlich das Bedürfnis verstärkt, neue Wege zu suchen zwischen der Welt und dem Menschenherzen. Aber er selbst fand den Weg, der dabei auch einmal zur geschichtlichen Welt führen sollte, nicht. Der Idealmensch der unverdorbenen Natur und des tugendhaft empfindenden Herzens, den er predigte, war nur der umgestülpte Normalmensch der Aufklärung. N u r wegen seiner Wirkungen,

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Viertes Kapitel

nicht oder dodi nur sehr eingesdiränkt wegen seiner Lehren kann man ihn als einen derjenigen nennen, die den Sinn für das Individuelle, dessen der kommende Historismus bedurfte, erweckt haben. In seinem Contrat social von 1762, der die Freiheit als Ziel sich setzte, aber in dem Despotismus der volonté générale endete, kam es vollends heraus, daß sein Denken dem normativen Geiste des Naturrechts verhaftet blieb. Führen also die großen Wege Frankreichs in der zweiten Jahrhunderthälfte noch nicht in das Land, das wir suchen, so gab es doch Regungen, die irgendwie zu ihm hintasteten und zu den Vorstufen der Leistung Herders gehörten. Gleichzeitig mit Voltaire versuchte sich der junge A. J. Goguet an der neuen Aufgabe einer allgemeinen Kulturgeschichte der frühen Menschheit, die er von den Urzeiten bis zur Blüte von Griechenland führte: De l'origine des loix, des arts et des sciences et de leur progrès diez les anciens peuples (3 Bde., 1758; deutsche Ubersetzung von Hamberger: Untersuchungen von dem Ursprung der Gesetze, Künste und Wissenschaften, wie auch ihrem Wachstum bei den alten Völkern. 3 Bde. 1760/62)1. Harmlos verband er gewisse Ideen der Aufklärung mit kirchlicher Gläubigkeit, deshalb viel unkritischer gegenüber der biblisdien Uberlieferung als Voltaire, aber der Vervollkommnung der Menschheit zugetan und viel emsiger und bohrender dabei als dieser in seinen konkreten Untersuchungen. Er konnte Fragen aufwerfen, die noch heute die frühgeschichtliche Forschung beschäftigen, etwa wie es zur Technik des Ackerbaues, zur Schreibund Rechenkunst, zur Kopfbedeckung, zum Tragen von Fingerringen kam, wie die Obelisken gebaut wurden usw. Freilich fragte er auch, wie Moses es technisch fertigbringen konnte, das Goldene Kalb zu verbrennen. Zivilisation als die Leistung des durch die Notdurft getriebenen Verstandes, in enggeschlossener Kontinuität aus fast tierischer Roheit sich stufenweise emporarbeitend, gipfelnd in den gepriesenen Fortschritten der letzten hundert Jahre - das war seine Lehre. Allgemeine Gesetze stellte er nicht auf, aber versuchte in der Regel pragmatistisch aus zweckmäßi1 Die Monographie von Emil Spieß über ihn in »Studien aus dem Gebiete von Kirdie und Kultur. Festschrift Gustav Schnürer« 1930, tut ihm wohl etwas zu viel Ehre an. Vgl. auch Unger, Hamann, S. 653 ff., und Justi, Winckelmann s 3, 71.

Goguet / Boulanger

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gen Überlegungen den Fortschritt zu erklären. Das Individuelle, den »Geist«, die Meinungen und Denkweisen der einzelnen Völker sah er wohl summarisch, aber führte sie wiederum mehr auf äußerliche Ursachen zurück. Aber die unermeßliche Neugierde der bürgerlichen Aufklärung für alles Menschliche wurde in ihm fruchtbar, wie er denn die amerikanischen Naturvölker zur Vergleichung heranzog und altgermanische und altgriechische Zeiten, übrigens ziemlich vage, miteinander verglich. So erinnert erwohl audi an Lafitau, aber berührt schon etwas moderner als dieser. Auf Herder, der Goguet zuweilen erwähnte, mag nicht nur einzelnes, sondern vor allem der Kettengedanke der Tradition, der Glaube, daß keine Errungenschaft der Tradition dauernd verlorengehen können, Eindruck gemadit haben. Wieder anders packte, aufklärerische und Vicosdie Gesichtspunkte vereinigend, Boulanger die Probleme der menschlichen Frühzeiten an. Er hatte seinen Beruf als Wege- und Brückenbauer 1758 wegen Kränklichkeit aufgegeben und stürzte sich nun als Dilettant und Autodidakt auf das Studium der Urzeit, lernte nacheinander die dafür in Betracht kommenden alten Sprachen und glich, wie einer seiner Freunde sagte1, dem Seidenwurm, der sich einspinnt und alles mit seinen Fäden überspinnt. Es ist möglich, daß er Vicos Werk gekannt hat 1 und durch ihn auf den Einfluß aufmerksam gemacht wurde, den die ungeheuren Naturkatastrophen der Urzeit auf die Gestaltung der frühen Menschheit gehabt haben sollten. Ganz in Vicos Sinne war es auch, wenn er in seinem ersten Werke Recherches sur l'origine du despotisme oriental 1761 (anonym) den methodischen Grundsatz aussprach, daß man das Altertum nicht aus den lügenhaften Erzählungen der späteren Gesdiiditssdireiber, sondern aus seinen Gebräuchen kennenlerne. Aber sein an Rousseau erinnernder Glaube an die ursprüngliche Güte und Vernünftigkeit des primitiven Menschen verflachte sofort die von diesem gewonnenen Vorstellungen, und so erschien ihm denn der verhaßte orientalische Despotismus als ein Entartungsprodukt aus der Theokratie und diese wiederum als eine Pervertierung der guten Glaubensvorstellungen und 1

Gaietta littéraire de l'Europe 7,207 ff. (1765). Vgl. Croce, Philosophie Vicos, S. 243, und Bibliografia S. 50. 2

ViAiana,

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Viertes Kapitel

Einrichtungen, die die Menschen nach jenen Naturkatastrophen sich gebildet hatten. Die Sintflut ließ Boulangers Phantasie aber nicht ruhen. Von einer ganz neuen Seite her beleuchtete er ihre Bedeutung für das geschichtliche Leben der Menschheit in einem zweiten posthum erschienenen Werke: L'Antiquité dévoilée par ses usages, 1766 (3 Bde., deutsch: Das durch seine Gebräuche aufgedeckte Altertum. 3 Bde. 1766). Als Wegeingenieur war er auf die Veränderungen der Erdoberfläche aufmerksam geworden, hatte sie auf die Sintflut zurückgeführt und sah die Wirkungen dieses ungeheuren Ereignisses nunmehr in der erschütterten Denkungsart der verstörten Menschheit, in Furcht und Schrecken, die nun die Religionen, Sitten und Staatseinrichtungen der Völker bis ins Kleinste hinein geprägt hätten, derart, daß noch heute, etwa in der Askese der Mönche, die Wirkungen nachzitterten, obschon die Ursachen längst vergessen seien. Erstaunlich viel Material über religiöse Riten, die irgendwie mit Wasser zu tun hatten, sammelte er, um seine These zu beweisen. Er wollte die Menschheit von den säkularen Ängsten, in denen sie gelebt habe, befreien durch Aufdeckung ihrer längst erledigten Ursachen. Das alles berührt zunächst enorm dilettantisch. Trotzdem gibt es zu denken, daß Herder 1766 an Hamann schreiben konnte: Das Werk »ist sehr für mich«. Denn was ihn an dem Buche interessieren konnte, war der Versuch, in tiefere Schichten des geschichtlichen Lebens und insbesondere der Urzeit hineinzuleuchten, die der gewöhnlichen Schulweisheit verborgen blieben, in eine Welt des dunkel Emotionalen, die gleichwohl Gestaltungstrieb für viele religiöse und soziale Gebilde mit längst vergessenem Ursprung hatte. Die wahre Historie, sagte Boulanger, sei hinter dem Vorhange der Zeiten versteckt. Daß er in einem Atem zugleich uralten Ursprung bestimmter Dinge und ihr Fortleben im Gestaltenwandel nachweisen wollte, daß er nicht nur Geschichte von Meinungen, sondern der sie hervorbringenden seelischen Haltungen zu geben versuchte, daß er statt des abstrakten Menschen des Naturrechts den wirklichen Menschen der Urzeit ergründen wollte, das konnte einen Herder 1 , der von dem viel

1

Vgl. seinen fragmentarischen Jugendaufsatz »Zur Geschichte der Wissenschaften aus Boulanger« in Werke 32, 153. Die dort schon ge-

Boulanger/De la Curne Sainte Palaye

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größeren Vico damals nichts wußte, wohl mit anregen, nun auch mit eigenen Augen hinter den Vorhang der Zeiten zu blicken. Abseits vom großen Strome der französischen Aufklärungsbewegung, der durch die Pariser Salons ging, gab es nodi andere für uns interessante Tendenzen im Lande, die man wohl auf drei Wurzeln zurückführen kann: Auf die antiquarische Freude am Alten schlechthin, auf die bewußte Pflege geblütsaristokratischen, von mittelalterlichen Erinnerungen genährten Geistes und auf das um die Jahrhundertmitte fast in ganz Europa erwachende Interesse für die Urzeiten der Völker, und nun nicht bloß für die Urzeiten der Menschheit überhaupt, wie sie Voltaire und Goguet analysierten, Rousseau idealisierte und Boulanger wieder in Nacht und Grauen hüllte, sondern für die frühen und mittleren Zeiten der europäischen, insbesondere nordischen Völker, die vielleicht der Gegenwart noch mehr zu sagen hatten als die Indianer und Südseeinsulaner. Noch inmitten der streng klassizistischen Zeit Ludwigs XIV. hatte man im Lande fortgefahren, gotisch zu bauen (E. Lanson, Le goût du moyen âge en France au 18. siècle, 1926, S. 8), und hatte der feingebildete Kunstsammler Abbé Marolies einen unbefangenen Geschmack für die Schönheit der gotischen Bauwerke ausbilden können (Weisbach über ihn in der Deutschen Rundschau, Nov. 1929). Ebenso tauchte schon in jener Zeit ein Interesse für die einstige Troubadourpoesie auf und wurde durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch nicht stark, aber spürbar gepflegt, um am Vorabend der Revolution, als der französische Adel in seiner wachsenden Unruhe sich stärker auf seine Vergangenheit besann, sogar lebhafter zu werden (Baldensperger, Le genre Troubadour. Etudes d'hist. littéraire 1,1907). Boulainvilliers war uns schon in der Frühzeit des Jahrhunderts ein Zeuge dieser traditionalistischen Pflege aristokratischer Werte, und Montesquieu setzte sie in seiner Weise fort. Noch bevor sein Esprit des lois erschien, hat De la Curne Sainte Palaye, der auch die Sammlung von Troubadourdichtungen betrieb, mit einer groß angelegten Ehrenrettung des mittelalterlichen Rittertums begonnen und im November 1746 in der Académie des inscriptions et belies übte Kritik an Boulangers Phantastereien verschärfte sidi in seinen späteren Äußerungen über ihn.

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Viertes Kapitel

lettres das erste seiner fünf Mémoires sur l'ancienne dievalerie vorgetragen (diese erschienen dann in Bd. 20 der Mémoires de littérature der gen. Akademie, 1753). Ein sehr merkwürdiges, belesenes und stoffreiches Buch. Er sah das Rittertum gleichsam durch die Brille eines ritterlich gesinnten Rokokoedelmanns, verherrlichte mit glühender Freude seine Einrichtungen, Tugenden und Leistungen und Schloß mit dem Bedauern, daß die alten Ritter in der Unwissenheit und Barbarei jener Zeiten die »Kultur des Geistes und der Vernunft« nicht hätten haben können, durch die sie zu Idealmenschen, denen des Piaton überlegen, hätten werden können. »Sie liebten den Ruhm, aber sie kannten nicht den wahren Ruhm.« Er kam also von den Maßstäben einer zeitlosen Aufklärungsvernunft nicht los. Wir werden aber sehen, wie er auf England und von dort vermittelt audi auf Deutschland, auf Herder hinüberwirken konnte. Es kamen nun auch in Frankreich mittelalterlich-ritterliche Stoffe in Literatur und Kunstgeschmack seit der Jahrhundertmitte neben den schon bisher beliebten exotischen Stoffen wieder etwas in Mode. Ob man diese Mode schon präromantisch nennen kann, hängt von den Tönen echter Empfindung ab, die dabei mitschwingen konnten, zumeist aber nicht mitschwangen. Aber eine Gruppe jüngerer Dichter, die seit 1760 etwa gegen die aufklärerischen Philosophen revoltierte und strenge katholische Gläubigkeit, traditionalistisch-theokratische Gesinnung und erregte Subjektivität miteinander vereinigten, kann als ein echtes Vorspiel der späteren katholischen Romantik Frankreichs schon gelten (vgl. Kurt Wais, Das antiphilosophische Weltbild des französischen Sturm und Drang 1934)1. Im Lande verstreut, haben diese jungen Dichter es zu einer zentralen Wirkung auf das französische Geistesleben nicht zu bringen vermocht. An dessen Peripherie erwuchs auch eine Lei1

Man wundert sich, daß Wais, der den Begriff Sturm und Drang auf die von ihm entdeckte französische Bewegung zu übertragen wagt, den Begriff Präromantik für diejenigen Regungen des 18. Jahrhunderts, die der eigentlichen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts vorgearbeitet haben, verwirft. Wir kommen um soldie Begriffe, so weitmaschig sie audi sind, nicht herum, wenn wir die Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen individuellen Gebilden bestehen, erfassen wollen. Präromantik ist ebensowenig mit Romantik gleichzusetzen, wie die Präraffaeliten mit Raffael, aber geschichtlich hängen sie trotzdem zusammen.

Mallet

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stung, die nicht auf Frankreich, wohl aber auf die nordischen Länder wie die Entdeckung einer unbekannten Welt wirkte, das Budi des jungen Genfers Mallet, Introduction à l'Histoire de Dannemarc, 1755, das die Wunder- und Riesenwelt der Edda und des altnordischen Heldentums erschloß. Er war nach Kopenhagen geraten und beutete dort aus, was die Antiquare des 17. und frühen 18. Jahrhunderts gesammelt und konjekturiert hatten1. Was er aus ihnen und ihren Quellen (Snorro Sturleson u. a.) über die Tatsädilichkeiten altnordischer Gesdiidite, etwa über den aus Asien kommenden König Odin und seine Asen oder Asiaten entnahm, geht uns hier nidits an. Aber er sah diese Welt auch von neuen Gesichtspunkten aus, wo dann hinter jenen fabulosen Tatsachen eine lebendige Geschichtlichkeit auftauchte. Er kam zu seiner neuen Betrachtungsweise nicht nur durch die Führung des von ihm hoch verehrten Montesquieu, sondern audi durch eine eigene, schon Einfühlungsgabe zu nennende Anlage. Aufklärer, der an der naturrechtlichen Grundvorstellung von der Gleichartigkeit der menschlichen Natur nicht rüttelte und die helle Vernunft seines Zeitalters gegen die monströsen Verirrungen roher Zeiten hielt, blieb er trotzdem und übernahm auch von Montesquieu das kühne Kausalitätsunterfangen, aus einfachsten Prinzipien das Mannigfaltige abzuleiten. Auch seine Richtung auf den Norden knüpfte an das berühmte Montesquieusdie Wort vom Ursprung der englischen Freiheit in den Wäldern Germaniens und an sein anderes Wort von den kräftigen Tugenden, die das Klima des Nordens hervorbringe (Esprit 14, 2), an. Eine besondere, auch von anderen schon annähernd vertretene Vorstellung Mallets führt dann erst recht in ein Mischgebiet naturrechtlicher Prinzipien, Montesquieuscher Lehren und antiquarisch liebevoller Vorurteile, nämlich die Meinung, daß der ursprüngliche gute Monotheismus der Urzeit sich zwar nirgends rein erhalten habe, aber im Norden, wo das Klima die Leidenschaften in Zucht hielte, die meisten Spuren hinterlassen habe. Seine selbständige Leistung aber, die unter heutigen Aspekten hoch bewertet werden wird, war es, ein besonderes altnordisches Menschentum 1

Über die Zusammenhänge, in denen Mallets Wirken mit der Renaissance des alten Nordens in Dänemark und Deutschland stand, vgl. Leop. Magon, Ein Jahrhundert geistiger und literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Skandinavien 1750—1850. 1,1926.

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zu entdecken, seinen Lebensäußerungen zwar mit aufklärerischer Distanz, aber mit trotzdem durchbrechender heller Freude in allen Einzelheiten nachzugehen und so ein geschlossenes und farbenreiches Bild von Volkstum und Zeitgeist zu entwerfen, wie es so individuell unseres Wissens noch von keinem Zeitgenossen je gestaltet war - ein Vorläufer in der Kunst, die Jacob Burckhardt ein Jahrhundert später zur Höhe führen sollte. Denn so malte er die Nordvölker: Abundierend an Blut, mit starken und wenig beweglichen Fibern, voll Leidenschaft, wenn sie entzündet war, sonst von Phlegma und Indolenz, unbändig gegen willkürliche Autorität, offen, ja zuweilen großherzig aus Selbstgefühl, abgeneigt gegen alles, was mehr Beharrlichkeit als Tatkraft forderte. Der Krieg allein gab ihnen die Erregung, die sie brauchten. Dadurch wurden dann Religion, Gesetze, Vorurteile und Enthusiasmus bei ihnen geprägt (S. 250 ff.). Tief unterschieden sich nach ihm, der damit Taciteisdies weiterführte, Nord- und Südvölker durch ihre Stellung zur Frau, und wahrscheinlich hätten die Nordvölker am meisten dazu beigetragen, den Geist der Mäßigung und des Edelmuts im Verkehr mit der Frau, kurz, den Geschmack der Galanterie über das Rittertum hinüber in ganz Westeuropa zugleich mit den Schwärmen der Skandinavier, die sich dort festsetzten, zu verbreiten (S. 197 ff.). Aus der Mischung der Sieger mit den Besiegten entsprangen nach ihm die Sitten und der Geist, die noch heute Europa regierten (S. 6). Dem lagen nun audi methodische Überlegungen über die Aufgabe der Geschichtsschreibung zugrunde, deren Ansatzpunkt sowohl bei Montesquieu wie bei Voltaire sich findet, die aber auch zeigen, wie fruchtbar die von ihnen geförderte modische Neugierde für »Geist und Sitten« eines Volkes werden konnte, wenn sie nicht durch aufklärerisches Überlegenheitsgefühl, sondern durch Mitgefühl geleitet wurde. So lautete nämlich sein Programm (Vorrede) : Die Taten der Völker, Fürsten, Eroberer und Gesetzgeber zu erzählen, ohne ihre Denkweise, ihren Charakter, den Geist, der sie belebte, zu kennen, das heiße nur die Skelette der Geschichte halten, nur stumme und irrende Schatten im Dunkel sehen, anstatt mit den Menschen zu leben und zu sprechen. Nur durch die Vereinigung des Einen mit dem Anderen, der Kriegs- und politischen Geschichte mit der Meinungs- und Sittengeschichte komme d a s corps

d'histoire

véritablement

utile

et

Mallet

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complet zustande (S. 35). Eine solche Vereinigung versuchten praktisch, wie wir bei Voltaire schon sahen und weiter sehen werden, alle großen Aufklärungshistoriker zu üben, wobei es freilich nur zu einem Nebeneinander, nicht zu einem Ineinander kam. In Mallets Worten schwingt sdion etwas von der Ahnung mit, daß es zu einem solchen Ineinander, zu einer seelischen Belebung audi der Staaten- und Kriegsgeschichte kommen müsse. Er selbst war noch nicht zu ihr imstande, und den Tatsachenbestand der geschichtlichen Überlieferung behandelte er noch ganz unkritisch und pragmatisch. Aber für das ganz Neue, was er sehen wollte, gewann er schon eine richtige und weittragende methodische Einsicht: »Der leichtgläubigste Schriftsteller, oder mag er auf das Wunderbare erpicht die Geschichte seines Jahrhunderts entstellen, malt es dennoch, ohne es zu bemerken.« So könne und müsse man auch die fiktionsreichsten Dichter alter Zeiten historisch benutzen, denn »ohne es zu wollen« spiegelten sie Denkweise und Sitten ihrer Zeit (S. 35 f.). Eine von Vico schon gewonnene Einsicht wurde damit wieder lebendig. Irgendeine partikuläre Schwärmerei, wie sie der nach dem Norden verschlagene junge Genfer für die ihm hier plötzlich aufgehenden Dinge faßte, mußte wohl im Spiele sein, um unter der Herrschaft der Aufklärungsideen das naturrechtliche Geschichtsdenken wenigstens an einer einzelnen Stelle so zu durchbrechen, wie es hier geschah. Für das damalige Frankreich bedeutete das in Kopenhagen erschienene Buch, soweit wir sehen, so gut wie nichts, um so mehr für England und Deutschland, wo es eine modische »Septentriomanie« weckte und die Dichter zu nordischen Stoffen begeisterte. So ging des jungen Herders Wunsch, als er 1765 die deutsche Ubersetzung Mallets anzeigte (Werke 3, 73 ff.), in Erfüllung, daß das Buch »die Rüstkammer eines deutschen Genies« werden möchte. Später, als er die nordischen Originalquellen Mallets besser kennenlernte, urteilte er wohl kritischer über seine Obermalungen (1778; 8, 390). Aber daß er ihm starke Anregungen gegeben hat, ist sicher. Auch Goethe kannte das Buch (Dicht, u. Wahrh. III, 12). So äußerlich und kostümhaft auch nun die von Mallet ausgehende literarische Mode meist berührt, so trug auch sie bei, das Denken nach Aufklärungsmaßstäben zu lockern und den Sinn für individuelle Geschichtlichkeit vorzubereiten.

Viertes Kapitel

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In Frankreich aber schritt die Aufklärungsbewegung ihrem größten und verhängnisvollsten Siege, der Revolution von 1789, fast mit logischer Konsequenz entgegen. Der Boden wurde hier am heißesten, die Gesellschaft, geistig und sozial aufgeregt und vom Staate abgedrängt, am begierigsten, ihn zu erobern - das Drama der Geschichte selbst dadurch am bewegtesten. Aber dieselben abstrakten Prinzipien eines unveränderlichen Naturrechts, mit denen man welthistorisch wirksam jetzt kämpfte, ließen das geschichtlidie Denken erstarren. Für diesen doppelten Hergang, in dem der Esprit classique sich jetzt auswirkte, ist repräsentativ das kleine Handbuch der Geschichtsschreibung, das ein Vorkämpfer der egalitären Demokratie, der viel schreibende Abbé de Mably, 1783 veröffentlichte: De la manière

d'écrire

l'histoireAls

wichtigste V o r a u s s e t z u n g

f ü r Geschichtsschreibung erklärte er hier die Kenntnis des Naturrechts (droit naturel), weil man sonst keinen Maßstab habe, über Redit und Unrecht der geschiditlidien Unternehmungen zu urteilen. Der Historiker habe den Kampf des Lasters mit der Tugend, die häufigen vorübergehenden Siege des Lasters, aber audi die steten Rückschläge, die ihnen folgten, zu schildern. Auf ein Urteilsvermögen dieser Art wollte er mehr Wert legen als auf Erudition. Auf das anmaßendste kanzelte er sogar die großen Leistungen der Aufklärungshistorie von Voltaire bis zu Gibbon ab. Es war seichtes Gesdiwätz. Nicht die geringste Spur einer Berührung mit den leisen präromantischen Regungen, die wir kennenlernten, zeigte er. Daß er sie nicht einmal tadelnd erwähnte, zeigt, wie wenig sie durdigedrungen waren. Dem germanischen Geiste blieb es vorbehalten, sie aufzunehmen, zu vertiefen und dem geschichtlichen Denken die entscheidende Wendung zu geben.

1

Eine deutsche Übersetzung von dem Straßburger Salzmann mit Vorrede von Sdilözer erschien 1784. Ein früheres Werk Mablys, De l'Etude de l'Histoire à Monseigneur le Prince de Parme (Kouv. éd. 1778), behandelte mit aufklärerischer Trivialität die Geschichte als Beispielsammlung für Fürsten und als Mahnung, die égalité im Staate durchzuführen. — Weiteres über die rationalistischen bzw. materialistischen Geschichtsdenker Frankreichs vor und während der Revolution bei Badi, Entwicklung der französischen Geschichtsauffassung im 18. Jahrhundert, Freiburger Diss. 1932.

FÜNFTESKAPITEL

Die englische Auf klärungshistorie I. Hume, II. Gibbon, III. Robertson

England war das Mutterland der Auf klärungsbewegung, zu deren Wesen es gehörte, ihr neues Menschheitsideal nicht nur durch die reine Vernunft, sondern auch durch die vernünftig betrachtete Geschichte zu beweisen, so daß das so geschaffene neue Geschichtsbild die Vorstufe dessen wurde, das der Historismus dann nach und nach schaffen sollte. Voltaire wie Montesquieu waren von England her stark beeinflußt. W i r betonten in ihren geschichtlichen Gedanken die Punkte, wo es mit den Erkenntnismitteln der Aufklärung zu Ende ging und neue Lösungen sich unter der Decke vorbereiteten. Zu diesen neuen Lösungen war nun gerade audi wieder von England aus eine ganz frühe, wenn auch lange unbenutzt bleibende Hilfe geboten worden durch die platonisierenden Lehren Shaftesburys. Wohl erreichte nun um die Mitte und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Geschichtsschreibung in England eine hohe Blüte durch die W e r k e David Humes, Edward Gibbons und William Robertsons 1 ). Aber nicht Shaftesbury mit seinem Hinweis auf das von innen her gestaltende Formprinzip in allen lebendigen Gebilden lebte in ihr fort, sondern Locke mit seiner Begründung einer sensualistischen und empiristischen Aufklärung. Auch von dieser aus war es, wie wir bei Shaftesbury andeuteten, möglich, Neuland geschichtlicher Erkenntnis zu gewinnen und das naturrechtliche Schema in der Erklärung geschichtlicher Dinge dadurch zu überwinden, daß 1 Wir lassen das große englische Kollektivunternehmen der Universal history from the earliest account of the time to the present 1736 ff. hier ebenso beiseite, wie später ihre deutschen Bearbeitungen. In der Umfassung aller, auch der niditdiristlichen Völker führte sie zwar einen Grundgedanken der Aufklärung aus, blieb aber fast ganz im Stofflichen stecken. Vgl. F. Borkenau-Pollak, An universal history of the world etc. Leipziger Diss. 1924 (Masdiinensdir.).

13 Mcinccic. Historismu»

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Fünftes Kapitel

man das menschliche Seelenleben, wie es wirklich war und in der Geschichte sidi zeigte, mit kritischer Sonde untersuchte. Ob diese Sonde in jeder Hinsicht dazu tauglich war, wird sich uns jetzt zeigen, wenn wir die neuen Wege betrachten, die diese Engländer zur Erkenntnis und Nutzbarmachung der Vergangenheit mit ungewöhnlicher Energie beschritten. Wir wählen als Gegenstand einer eingehenderen Analyse David Hume (1711-1776), weil seine Arbeit auf der stärksten geistigen Substruktion und auf dem größten Reichtum von Motiven beruhte. Aber auch die wesentlichen Züge der Gibbonsdien und Robertsonsdien Geschichtsauffassung müssen erfaßt werden, um Stärken und Schwächen, Zeitgebundenes und Vorwärtsweisendes in der englischen Aufklärungshistorie zu verstehen.

I. HUME Die Ausbildung von Humes Philosophie ging seiner Geschichtsschreibung voraus. Sie war und blieb, da er sie später nicht mehr weiterbildete, das Werk einer genialen Jugend. 1739/40 erschien der große Wurf seines Treatise on human nature, von den Zeitgenossen aber kaum beachtet; 1748 dann das durchschlagende Werk, das unter dem später gegebenen Titel An Enquiry concerning human understanding berühmt geworden ist. Seine verschiedenen Essaysammlungen, die in den Jahren 1741 bis 1752 erschienen, brachen zugleich schon verschiedene Wege in die geschichtliche Welt, der er dann als Bibliothekar in Edinburgh bis 1762 seine Kraft widmete. Hume hat schon als reiner Philosoph vom Boden der Aufklärung aus die Aufklärung zu überwinden begonnen. Aufklärer blieb er immer, und wo man ihn urteilen hört über menschlichgeschichtliche Dinge, spricht immer noch die alte stabile, entwicklungslose Vernunft des Naturrechts, »gegründet auf die Natur der Dinge, ewig und unbeugsam« (Enquiry conc. the principles of morals) aus ihm. Aber seine große Tat war es, daß er ihren Wirkungskreis bedeutend einschränkte, daß er ihren schöpferischen Charakter leugnete und ihr nur die Aufgabe zuwies, Wahrheit und Irrtum zu scheiden und die aus den tiefer liegenden, schöpferischen Quellen des Gefühls und Geschmacks (sen-

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timent, taste) emporsteigenden Regungen zu prüfen und zu reinigen. Deutlich knüpfte er hier an Shaftesbury an und wäre, da er audi Geschichtsdenker war, berufen gewesen, den entscheidenden Schritt zu tun und die schöpferischen Kräfte der Seele zugleich audi als individuelle Kräfte zu erkennen - wenn nicht eben die »Vernunft« in ihm nodi gefesselt gewesen wäre in den Banden der naturreditlidien Denkweise. Den Durchbruch zum Erlebnis der ganzen Seele, zum vollen Bewußtsein ihrer Totalität und Individualität hat er nicht getan. Sein Intellektualismus erlaubte ihm nur eben, schärfer und genauer als bisher, die positive Bedeutung der irrationalen Seelenkräfte und damit auch die Grenzen des Veraunftvermögens aufzudecken. Er wies als unentbehrlichen Untergrund der Vernunft, ohne den sie zu Beurteilungen des Lebens nicht fähig sei, die Beobachtung und Erfahrung nadi. Je nach der wachsenden Erfahrung wandelten und reinigten sich für ihn nun audi die tatsächlichen Vernunftinhalte der Menschen. Aber dieser Prozeß, wohlgemerkt ein Reinigungs- und kein Entwicklungsprozeß, konnte bei der angeborenen und unheilbaren Schwäche der menschlichen Natur, die er nicht müde wurde einzuprägen, das Ideal einer ganz gereinigten Vernunft nur annähernd erreichen. So kam in dem tiefbohrenden und unbedingt ehrlichen Denker eine ganz eigene Verbindung von Vernunftvertrauen und Skepsis zustande. Die Skepsis hielt das Vernunftvertrauen, das Vernunftvertrauen die Skepsis in Schranken. Er verließ sich auf die Vernunft und konnte dodi skeptisch werden gegen jeden einzelnen ihrer Aussprüche, weil die Erfahrung ihm sagte, daß er getrübt sein könne durch unausrottbare menschliche Schwäche. Diese Schwächen rücksichtslos aufzudecken und dodi fest und heiter auf das Gute im Menschen zu vertrauen, wurde das Ethos seiner Natur. Mit der aus der Erfahrung schöpfenden Vernunft übte er drei einschneidende Kritiken, die nicht nur bisherige Stützen des Rationalismus erschütterten, sondern auch historisches Denken bald hemmend, bald fördernd beeinflußten: Die Kritik des Substanzbegriffes, des Kausalgesetzes und der natürlichen Theologie. Von dieser letzten werden wir nodi eingehend zu sprechen haben. Die von ihm versuchte Zerstörung des Substanzbegriffes zeigt besonders klar, daß ihm das Erlebnis der seelischen Totalität noch nicht zuteil geworden war. Denn er löste sogar die geistige 13*

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Substanz der Persönlichkeit in ein bloßes Bündel von Sensationen und Vorstellungen auf und schuf damit, wie man gesagt hat, eine Psychologie ohne Seele. Die von ihm selbst dodi als schöpferisch bezeichneten irrationalen Seelenkräfte verwandelten sich dadurdi in bloße Komplexe. Daß sie schöpferisch und sinnvoll wirkten, blieb ihm ein für menschlichen Verstand undurchdringliches Geheimnis der weisen Natur (vgl. Enquiry conc. human understanding V, 2). Auf historisches Denken sollte diese Auflösung der substantiellen Persönlichkeit, wie wir sehen werden, als ein überstarkes Scheidewasser wirken. Wohl aber kam allem künftigen historischen Denken seine Kritik des Kausalgesetzes zustatten, an die später Kant noch tiefergreifend anknüpfen sollte. Er sprach ihm den Charakter der Notwendigkeit ab und leitete es her aus der Gewohnheit, dieselben bestimmten aufeinanderfolgenden Vorgänge immer wieder miteinander verknüpft zu sehen. Wer diese Kritik fortan auf sich wirken ließ, konnte wohl frei werden von der lähmenden Vorstellung, daß alles menschliche Leben und Treiben sich ausschließlich in blinder mechanischer Notwendigkeit vollziehe, und konnte nach anderen innerlicheren Bindegliedern des geschichtlichen Lebens ausschauen. Das sollte sich später bei Herder zeigen. Hume selbst freilich, von nüchterner, skeptischer Empirie ausgehend, hatte dieses Bedürfnis noch nicht, sondern stellte das, was er theoretisch zerstört hatte, praktisch wieder her durch die Lehre, daß wir die an sich unbeweisbare Kausalität der Dinge doch glauben dürften, weil dieser Glaube uns als Instinkt von der weisen Natur eingepflanzt sei und uns praktische Sicherheit gäbe. Denn er war immer, darin edit englisch, Empirist und Utilist zugleich und immer bereit, gefährlich werdende Konsequenzen seiner Einsichten, j a audi seiner Ideale praktisch abzudämmen und den Notwendigkeiten des Lebens, wie er sie verstand, anzupassen. Überall wollte er sorgfältig, gewissenhaft und unparteiisch die Tatsachen beobachten und ruhig ihren Nutzen oder Schaden für seine ethischen und politischen Ideale abwägen. So konnte er sehr viel freier und unvoreingenommener auf die geschichtliche Welt blicken als der durchschnittliche rationalistische Aufklärer. Dabei war aber das eigentliche Lebensgefühl der Aufklärung in ihm noch fast ungebrochen, jenes Lebensgefühl eines Gipfeldaseins der Mensch-

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heit und eines Nutznießertunis der Vernunft an allem, was das einmal erreichte Gipfeldasein zu stützen geeignet war. Audi Fiktionen, audi irrationale Dinge konnten dafür nützlidi sein. In diesem sowohl kognitiv wie utilitarisdi interessierten Studium der irrationalen und subrationalen Sphäre im Menschen und in der Geschichte berührte er sich unmittelbar mit Montesquieu, dessen Esprit des lois er denn audi sehr hoch schätzte und mit dem er in Briefwechsel trat. Ihn und Montesquieu kann man voran als diejenigen nennen, die mit den Mitteln der Aufklärung in der verstehenden Erfassung der geschichtlichen Welt soweit gekommen sind, als damit eben möglich war. Aber man muß hinzusetzen, daß sie es nur konnten, weil hinter dem Utilitarismus, mit dem sie ihr geschichtliches Interesse rechtfertigten, noch eine naturwüchsige Neigung lag, eine unmittelbare Freude an dem Reiditum der menschlichen Erscheinungen, an der variety of mankind, wie Hume sagt, lebendig war. Sie hatten damit die charismatische Grundbedingung des editen Historikers. Das menschliche Gesdiledit, heißt es in Humes Essay über das Studium der Geschichte, in seinen wahren Farben, ohne Verkleidung wie sonst so oft im Leben zu sehen, was kann es für ein großartigeres Schauspiel geben? Und er führte sogar unter den drei Vorteilen, die dieses Studium brächte, an erster Stelle an, daß es der Phantasie Nahrung gäbe (amuses the fancy). Er schlug audi in der Erörterung der beiden anderen Vorteile des Studiums, der intellektuellen und der moralischen Förderung (improves the understanding - strengthens virtue), neben gemeinplätzigen Gedanken, wie sie schon Bolingbroke in seinen Letters on the study and use of history (1735) reichlich verschwendet hatte, Töne von tieferer historischer Bewußtheit an. Er ist vielleicht einer der ersten gewesen, der sich voll bewußt geworden ist, daß moderne Bildung in ihrem besten Teile historische Bildung sei. Er konnte es freilich nur etwas schulmäßig ausdrücken mit dem Worte, daß ein großer Teil der von uns so hoch geschätzten Erudition nichts anderes sei als Bekanntschaft mit historischen Fakten. Weiter aber, meinte er, würden wir Kinder im Verstehen bleiben, hätten wir nidit die Erfahrung von allen vergangenen Zeitaltern und Nationen. Ein Mann, der mit Geschichte vertraut sei, könne in einiger Hinsicht dafür gelten, von Beginn der Welt an gelebt zu haben. Schließlich erwartete er von der Geschichte auch noch

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stärkere sittliche Wirkungen als von der Poesie und der Philosophie. Man sieht, weldie Bedeutung für ihn selbst im Rahmen seines Lebenswerkes die Geschichtsschreibung gehabt hat und daß sie für ihn beinahe gleichwertig neben seine Philosophie trat. Seine Philosophie hat freilich stärker auf die geistige Weiterentwicklung gewirkt als seine Gesdiiditssdireibung. Sie wedkte, um mit Kant zu sprechen, die Menschen aus dem dogmatischen Schlummer auf; sie gab ihnen den Stachel zu neuen Lösungsversuchen der philosophischen Urfragen. Seine Gesdiiditssdireibung dagegen blieb, trotz aller großen Qualitäten, die er ihr mit seiner spezifischen Methode zu geben vermochte, im Banne des naturrechtlichen Denkens stecken durch das alte, neuerdings audi noch durch Locke bekräftigte Grundvorurteil, daß die menschliche Natur sich zu allen Zeiten gleiche. »Willst du«, heißt es in der Enquiry concerning human understanding (Vili, 1) »die Gefühle, Neigungen und Lebenslauf der Griechen und Römer kennenlernen? Studiere sorgfältig das Gemüt und die Handlungen der Franzosen und Engländer. ...Die Menschen sind zu allen Zeiten und an allen Orten so sehr die gleichen, daß die Geschichte uns hierin nichts Neues oder Fremdes lehrt.« Dann konnte das, was er aus der Geschichte lernen wollte, nichts dem Wesen nach Individuelles, sondern nur etwas Typisches und Generelles sein, wie dessen ja auch genug in ihr zu finden ist, aber niemals ausreicht, um Geschichte in der Tiefe zu verstehen. Sein eigener unverbildeter, sozusagen naiver Sinn für die variety of mankind vermochte vielleicht trotzdem, wie er es bei allen großen und echten Historikern der Vergangenheit vermocht hatte, individuelle Gestalten und Züge der Vergangenheit mit großer Lebendigkeit wiederzugeben. Er hat sogar theoretisch einmal einen kleinen Anlauf gemacht, in Shaftesburys Bahnen wieder einzubiegen, und von der besonderen Struktur der Seele (particular fabric or structure of the mind; Essay the Sceptic) gesprochen, die unweigerlich audi zu verschiedenen Empfindungen von Schönheit und Wert führe. Er hat von geheimnisvollen und unerklärlichen seelischen Qualitäten, die manche Menschen hätten, von einem I-know-not-what in ihnen gesprochen (Enquiry conc. the principles of morals, Sect. VIII). Aber er hat diese auf das Individualitätsproblem hinführenden Gedanken nicht weiter

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verfolgt. Sein eigenes bewußtes Wollen ging vielmehr darauf, das ihn mächtig bewegende Schauspiel der Mannigfaltigkeit menschlicher Kultur nidit durch individuelle, sondern durch generelle Gesetzlichkeiten verständlich zu machen. Der Rhein fließt, sagte er einmal (A Dialogue) nach Norden, die Rhone nadi Süden, aber beide entspringen auf demselben Gebirge und werden zu ihren entgegengesetzten Richtungen durch dasselbe Gesetz der Schwere bestimmt. Die verschiedene Neigung des Grundes, den sie durchfließen, verursacht auch alle Verschiedenheit des Laufes. So auch, meinte er, wandelten sich die moralischen Werturteile und Neigungen der Völker, aber unwandelbar seien die ersten Prinzipien, die ursprünglichen Ideen von dem, was verdienstvoll sei. Er gab zwar vorsichtig zu, daß nicht alles dabei auf allgemeine Regeln zurückgeführt werden könne. Aber er sah nur den Zufall in diesen Ausnahmen wirksam, und Zufall war für ihn nur ein Wort für noch unbekannt gebliebene Ursachen. Also galt es für ihn, einen »Leitfaden für die menschliche Natur, um alle ihre Verwicklungen zu entwirren«, zu finden. »Gäbe es keine Gleichförmigkeit in den menschlichen Handlungen«, so heißt es weiter in dem schon angeführten Abschnitt seines berühmtesten Werkes, »und wäre jedweder Versuch dieser Art, den wir anstellen könnten, ohne Gesetz und Regel, so wäre es unmöglich, irgendwelche allgemeinen Beobachtungen über die Menschheit zu sammeln, und keinerlei Erfahrung, wie sorgfältig durchdacht sie auch sein möchte, würde jemals einen Zweck haben.« Erkenntnismittel für die Geschichte war danach eine Psychologie alles Typischen in der menschlichen Natur. Die Abundanz der Natur konnte dabei, um mit ihm selbst zu sprechen, dieselben Ingredienzien aufs mannigfaltigste mischen (Essay of national characters). Sie blieben doch immer dieselben, und das prüfende Organ für sie blieb jene Vernunft, die trotz ihres von Hume scharfsinnig aufgedeckten Untergrundes von Beobachtung und Erfahrung und trotz ihrer Trübung durch menschliche Mängel ihren alten stabilen und zeitlosen Charakter für ihn nicht verlor. Sie hat ihn nicht vor dem typischen Fehler der Aufklärungshistorie behütet, vorschnell zu generalisieren und Kausalitäten zu konstruieren. Seine Auflösung der geistigen Substanz des Menschen in ein Bündel von Vorstellungen aber führte dazu, Leben und Weltgeschichte in eine Unsumme psychologischer Komplexe, bestimmt durch all-

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gemeine Gesetze, zu verwandeln. Man hat mit Redit Hume einen der Väter des modernen Positivismus genannt. Er hat, wie Dilthey einmal bemerkt (Schriften 2, 358), diejenige Richtung des Positivismus eingeleitet, die im Gegensatz zu der französischen Turgots und Condorcets ihre Gesetzmäßigkeiten nicht aus der Außenwelt, sondern aus der inneren Erfahrung ableitet. Aber diese innere Erfahrung drang nicht zur Tiefe durch. Ein mit seinen Instrumenten bearbeitetes Erfahrungsmaterial konnte nicht das hergeben, was es unter anderen Händen später herzugeben vermochte. Es blieb in den Kategorien einer stabilen Vernunft und einer mechanischen Kausalität gefangen, es offenbarte nur einen Teil seines Gehaltes, nur den Vordergrund des Geschehens. Es offenbarte nur Teile, nicht Ganzheiten - soweit sich diese nidit seinem ursprünglichen Sehvermögen trotzdem aufdrängten. *

Wir würden selbst nur Teile, nicht Ganzheiten gewahren, wenn wir, um die Humesdie Geschichtsauffassung im allgemeinen verständlich zu machen, uns mit der bisherigen Darlegung seiner Gedanken und Tendenzen begnügen wollten. Alle geistigen Theoreme erwachsen aus Persönlichkeit und Erlebnis, aus dem besonderen Erlebnis, das eine besonders geartete Persönlichkeit in einer besonderen Zeitlage erfährt, wobei dann diese wieder geschwängert ist mit Keimen aus der ganzen Vergangenheit ihres Kulturkreises. Allgemeinstes darüber haben wir schon kennengelernt: Die natur- und vernunftreditlidie Tradition, zwar stark aufgelockert durch den skeptischen Empirismus Hilmes, aber noch nidit von Grund aus preisgegeben, und ein enges Bündnis von nüchterner Erfahrung und kritischer Vernunft in ihm, um mittelst einer Gesetze liefernden Psychologie dem Leben nützlich zu dienen. Aber Blut und Leben strömen in dieses abgezogene Bild sofort hinein, sobald das besondere Erlebnis Humes als Briten um die Mitte des 18. Jahrhunderts vor uns auftaucht. Seine Essays und seine History of England sind auf Schritt und Tritt durchtränkt von einem höchst konkreten und individuell empfundenen Erlebnis. Große Güter - so kann man es kurz zusammendrängen - ge-

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nießen wir heute in England, wie sie nodi kein Volk und keine Zeit so genossen hat. Es gibt, heißt es im Essay of the protestant succession, in der ganzen Weltgeschichte keine Zeit, wo so viele Millionen gelebt haben suitable to the dignity of human nature. Wir haben eine ganz singulare und glücklidie Regierungsform, eine öffentliche Freiheit und zugleich ein gesundes Gleichgewicht zwischen Autorität und Freiheit, um deren Exzeß zu verhüten, Freiheit des Gedankens und unfanatische Stimmung der Geister, persönliche Sicherheit, Wohlstand und Reichtum durch Handel und Gewerbe und eine Verfeinerung der Künste und Wissenschaften, eine Blüte der geistigen Kultur. Und all das, »Industrie, Wissen und Humanität«, hängt unter sich zusammen, befördert einander und wird sozial getragen von jener Mittelklasse, »die die beste und festeste Basis öffentlicher Freiheit ist« (Essay of Refinement in the arts, dazu zahlreiche Stellen in den anderen Essays und der History). Hume teilte dieses stolze Glücksgefühl, aber war zu tief und zu ernst, um ganz in ihm aufzugehen. Er sah Schatten im Bilde - zwar nidit diejenigen, die wir heute zu sehen gewohnt sind, wenn wir an das Walpolesche Korruptionssystem und nodi mehr an die damals leise beginnende wirtschaftlich-soziale Umgestaltung denken. Der damalige Engländer pflegte sich darüber nodi keine großen Sorgen zu madien, und Hume, ein Vertreter der jetzt aufsteigenden bürgerlichen Schichten, sah sozial mehr nach oben als nach unten. Wohl aber bekümmerten ihn die ihm verderblich erscheinende öffentliche Schuldenlast und die immer nodi nicht zur Ruhe gekommenen Stuartsympathien. Er sah auch, von der überlieferten Kreislauftheorie mehr geleitet als beherrscht, Aufstieg, Blüte und Verfall der Nationen in regelmäßigem Ablauf vor sich gehen und demnach auch für England einmal eine Zeit kommen, wo der Acker erschöpft sein mußte. Aber das war es nodi nidit, was ihn im Innersten besdiäftigte. Seine denkerische Originalität und die Anlage zum großen Historiker in ihm zeigt sich vielmehr in der Rückwendung seines Geistes zur Vergangenheit, in der mit unbedingtem und unbeirrbarem Wahrheitsdrange an sie gerichteten Frage, wie es denn eigentlich zu diesem seltenen und glücklichen Endergebnis der englischen Geschichte gekommen sei. Man kann alle seine historischen Schriften, nicht nur die History of England, sondern auch die Natural history of religion und sogar den gro-

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ßen bevölkerungsgeschichtlichen Essay Of the populousness of ancient nations als von dieser Grundfrage still geleitet ansehen. Und da ergab sich ihm denn nun als merkwürdiges Ergebnis seiner Forschung, das er nicht müde wurde sich immer wieder vor Augen zu führen, daß der Ursprung der heutigen englischen liberty in Kräften lag, die ihm tief unsympathisch waren - in dem religiösen Enthusiasmus der Puritaner. So absolut, heißt es in der History (Ausg. 1762, 4, 125), war die Autorität der Krone Elisabeths, daß der kostbare Funke der Freiheit allein von den Puritanern entzündet und bewahrt wurde. Dieser Sekte, deren Grundsätze so nichtig (frivolous) und deren Gewohnheiten so lächerlich erschienen, verdankten die Engländer die ganze Freiheit ihrer Verfassung. Noch unter Jakob I. habe es so gestanden, daß die Patrioten verzweifelt hätten, den Widerstand gegen die Krone fortzusetzen, wären sie nicht durch religiöse Motive getrieben worden, die einen Mut einhauchten, unüberwindbar durch irgendweich menschliches Hindernis (5, 74). Er lehnte dann die Vergleidiung der gefeierten Freiheitsmänner Pym und Hampden mit antiken Freiheitshelden ab. Denn diese waren, meinte er (5, 259 f.), hochgebildete Männer, jene aber waren befleckt mit mysteriösem Jargon und voll der niedrigsten und vulgärsten Hypokrisie. Das war der »tiefe Trunk aus berauschendem Gifte« (5, 295), der dann in der Revolution von 1641 alle Stände in die wildesten Exzesse trieb, die festesten politischen Ordnungen umwarf - und letzten Endes doch die englische Freiheit hervorbrachte. Der spätere Historismus suchte dieses gewaltige, zerstörendbefruchtende Phänomen aus der Entwicklung innerer individueller Kräfte, die dabei auch immer großen Typen entsprechen, zu verstehen. Für Hume wurde es eine Aufforderung, die Psychplogie der menschlichen Seele zu ergründen und aus diesen Erfahrungen generelle, zeitlos gültige Lehren zu gewinnen. Schon in seiner ersten Essaysammlung von 1741 steht der Essay of superstition and enthusiasm, der das besondere Geschichtsbild eines englischen Aufklärers und Freiheitsfreundes ausdehnte zu einem Bilde allgemeiner Religionspsychologie. Korrruption des Besten, so beginnt er, bringt das Schlimmste hervor; das zeigen die verderblichen Wirkungen der Superstition und des Enthusiasmus, die Korrruptionen wahrer Religion. Aber ihre Natur ist

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konträr. Superstition erwächst aus Schrecken und Furcht vor unbekannten Mächten, die man dann imaginierte; dazu wirken Schwäche, Melancholie und Ignoranz mit. Ebenso aber gibt es auch eine menschliche Geistesrichtung, die durch grundlose Überhebung, luxierende Gesundheit und Starkgeistigkeit zum Enthusiasmus führt. Auch hier arbeitet die Imagination und träumt sich Dinge, insbesondere unmittelbare göttliche Eingebungen, denen keine sublunaren Schönheiten und Freuden mehr entsprechen. Die Ignoranz ist dabei im Bunde mit Hoffnung, Stolz, Anmaßung und Imagination. Nun aber zeigt sich ein ganz verschiedenes Verhältnis, das Superstition und Enthusiasmus zur Priesterherrschaft haben. Superstition ist ihr eigentlicher Nährboden, und je stärker das Ingrediens von Superstition in einer Religion ist, um so höher steigt auch die Autorität der Priesterschaft, während der Enthusiasmus dieser Autorität mindestens ebenso fern, eher noch ferner steht als gesunde Vernunft und Philosophie. Denn der Enthusiast bedarf ja keines menschlichen Mittlers zwischen sich und der Gottheit. Aus einer vergleichenden Betrachtung analoger religionsgeschichtlicher Vorgänge - Wiedertäufer in Deutschland, Camisarden in Frankreich, Levellers und Covenanters in England-Schottland - zog dann Hume den weiteren Schluß, daß die enthusiastischen Religionen bei ihrem ersten Aufstieg zwar wütender und heftiger seien als die superstitionellen, aber nach kurzer Zeit sich milderten und mäßigten. Ihre Wut sei wie die des Donners und Sturmes, die sich selbst erschöpften und dann die Luft ruhiger und heiterer hinterließen als zuvor - während umgekehrt Superstition stufenweise und unmerklich sich einschleidie und die Menschen für die tyrannische Priesterherrschaft präpariere. Damit gewann Hume die Basis für die dritte und letzte Sdilußfolgerung: Superstition ist ein Feind der bürgerlichen Freiheit, Enthusiasmus aber ein Freund von ihr. Independenten und Deisten bei uns waren, obgleich scharf entgegengesetzt in ihren religiösen Prinzipien, doch einig in ihrer politischen Begeisterung für den Commonwealth. Politische Freiheit und Aufklärung als Resultat gewaltigster Stürme und bedenklichster Irrwege der menschlichen Seele vielleicht ist aus diesem geschichtlichen Erlebnis Humes seine ganze Psychologie erwachsen. Sein geschichtliches Denken und Forschen aber war überwiegend nichts anderes als angewandte

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Psydiologie, oder genauer, ein Versuch, sein Bild von der menschlichen Natur zu bestätigen durch die Gesdiidbte. Die Metamorphose des puritanischen Enthusiasmus in englisdie Aufklärung und parlamentarische Freiheit diente ihm als naturwissenschaftlicher Experimentalbeweis für den kausalen Ablauf bestimmter religiöser Ersdieinungsformen. Man kann nidit von Entwicklung im geschichtlichen Sinne hier reden, denn es fehlt das Substrat einer solchen, der individuelle Träger, der Mensch in seiner Totalität und die aus solchen Menschen zusammengewachsene Gemeinschaft. Sein Interesse gilt vielmehr einzelnen, isoliert betrachteten menschlichen Anlagen und Trieben - der Mensch wird ja von ihm aufgelöst in ein Bündel von Vorstellungen und Strebungen, und so nun auch die Religionsgeschichte. Sie wird zu einer Art von Meteorologie, deren regelmäßig wiederkehrende Vorgänge kausal so weit erklärt werden, als es der skeptische und vorsichtige Betrachter vermag. Alle geschichtliche Kausalitätenforschung aber ist, von welchem Standpunkte aus man sie auch treiben mag, mit einem Werten verschmolzen, das sie zugleich fördert und hemmt. Die Hemmung liegt in diesem Falle zutage. Eine »wahre Religion«, nämlich die deistische der gereinigten Vernunft, wurde hier vorausgesetzt und als Maßstab benutzt, um alle übrige Religion, die mit Superstition oder Enthusiasmus gefüllt ist, als Verderbnis zu bedauern. Die tiefere geschichtliche Frage, ob nicht in dem, was er Superstition und Enthusiasmus nannte, auch ein unentbehrliches Etwas jeder Religion stedce, vermochte er sich in seiner Wertbefangenheit noch nicht zu stellen. Auch die wunderbare und ergreifende Metamorphose des englischen Geistes, die ihn vom Enthusiasmus zur Aufklärung führte, blieb für ihn nur ein psychologischer Beruhigungsvorgang. Durch diese Art von meteorologischer Psychologie wollte er sich überhaupt beruhigen über die Rätsel der menschlichen Natur und des geschichtlichen Lebens. Er hat einmal das schöne Wort gesprochen, daß das menschliche Herz dazu geschaffen sei, Widersprüche miteinander zu versöhnen (Essay of the parties of Great Britain) - ein Grenzwort seines eigenen Erkennens. Aber es blieb für ihn nur eine freundliche empirische Feststellung und wurde nicht zum Schlüssel seelischer Totalität. Der Essay of superstition and enthusiasm wurde zur Keim-

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zelle seiner berühmten Natural history of religion (1757 erschienen). Diese ging aber über die bloße Gegenüberstellung zweier religiöser Typen weit hinaus zu der tieferen Frage, wie denn Religion innerhalb der menschlichen Natur überhaupt entstanden sei, da sie ja nicht, wie Selbstliebe, Geschlechtstrieb, Liebe zur Nachkommenschaft, Dankbarkeit u. ä., einem ursprünglichen Instinkte oder einem unmittelbaren natürlichen Einflüsse zu entstammen scheine. Gäbe es dodi, wenn man Reisenden und Geschichtsschreibern glauben dürfe, Völker, die ohne Religionsvorstellungen seien. Durch diesen Ansatzpunkt in der Untersuchung, der die Religion zu einer partikulären, wenn audi die Mehrzahl der Völker umfassenden Erscheinung innerhalb der Menschheit machte, distanzierte er sie von vornherein zu ihrem Naditeil von der Moral, die er auf eine universale, im Gefühl wurzelnde Anlage des Menschen zurückführte (Enquiry concerning the principles of morals). So blieb nur übrig, die Religion als ein sekundäres Produkt bestimmter psychischer Faktoren und von bestimmten Kulturstufen abhängig kausal zu erklären. Mit Notwendigkeit, lehrte er, war Vielgötterei oder Götzendienst die erste und älteste Religion. Der Mensch war ein notleidendes Tier, getrieben durch Wünsche und Leidenschaften, noch unfähig durch kausales Nachdenken zum Glauben an ein höheres Wesen zu kommen, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung - der nun die unbekannten Ursachen seines Glücks und Unglücks als Wesenheiten menschlicher Art, aber mit mehr als menschlicher Macht und Klugheit ausgestattet, erblickte und angstvoll verehrte. Soweit berührte sich Hume mit Vicos freilich noch tiefer sich einfühlender Psychologie des Urmenschen, fuhr aber nun pragmatisch konstruierend fort: Auf die Dauer habe den Menschen jene Vorstellung nicht genügt; die übertriebene Verherrlichung jener Wesenheiten konzentrierte sie zuletzt auf das Bild einer einzigen allmächtigen und unendlichen Gottheit. Aber dieser aus sinnlichen Motiven, aus abergläubisdier Furcht und Selbsterniedrigung geborene Theismus habe keine Garantie der Dauer, falle leicht in Abgötterei zurück, erhebe sich wohl aus ihr von neuem, um wiederum zu zerfallen. Es ist charakteristisch für sein Ressentiment gegen die theologischen Gottesvorstellungen, daß er die Vielgötterei, wie sie die Griechen und Römer gekannt hatten, in vieler Hinsicht ihnen vorzog. Die Eingottlehre führte

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nach ihm zur Intoleranz gegen andere Religionen, während alle Götzendiener nach seiner Meinung einen Geist der Versöhnlichkeit hatten. In gemilderter Form, als Kontrast von tolerantem Heidentum und intoleranter Priesterkirche, wurde dieser Gedanke Gemeingut rationalistischer Geschichtsauffassung, von der audi ein Herder nicht frei blieb. Hume verband damit aber noch ein anderes durch die Jahrhunderte gehendes Werturteil. Er berief sich nämlich auch auf Machiavellis Lehre von den sklavischen Wirkungen des Christentums und fand im Gegensatz zu diesem die antike Mythologie gar nicht so sinnlos. Denn diese Götterwelt, verwandt mit der sinnlich-vernünftigen Natur der Menschen, nur aus feinerem Stoffe und mächtiger als sie, trage ein so natürliches Gepräge, daß sie den Menschen mehr als wahrscheinlich werden konnte. Sie war leicht, hell und anmutend, wahrlich eine poetische Religion. Daraus sprach auch etwas leichte geschichtliche Anempfindung, nicht etwa romantische Sehnsucht nach den Göttern Griechenlands. Aber er präludierte damit manchen kommenden Stimmungen, bis zu Nietzsche und zu unseren Tagen hin, die dabei alle mit dem Aufklärungsgeist irgendwie zusammenhingen. Der unmittelbarste Ausdruck dieses Aufklärungsgeistes auf religiösem Gebiete aber war der Deismus, die rationale Gottesvorstellung, die nichts anderes war als ein abstrakter und loser Überbau über der strengen Gesetzmäßigkeit des Universums, ausgestattet wohl mit den Prädikaten einer unfaßbaren Weisheit und Vernunft, aber für jede wahrhaft religiöse Annäherung unerreichbar. Der Sinn der Aufklärung für strenge Kausalität und das pragmatistische Bedürfnis der Aufklärung, Zwecke und Absichten hinter geordneten Dingen zu vermuten, waren im Deismus ziemlich äußerlich und unorganisch verbunden. Hume vertrat diesen Deismus, indem er es für natürlich, wenn nicht für notwendig erklärte, aus der im Weltall waltenden Einheit auf eine einfache und ungeteilte Weltintelligenz zu schließen. Aber er gab diesem Deismus eine neue Wendung, durch die er das naturrechtliche Denken an einer wichtigen Stelle sprengte - wiederum aber, was so charakteristisch für ihn ist, ohne sich selbst dabei ganz vom naturreditlidien Denken zu lösen. Der bisherige Deismus, wie er seit Herbert von Cherbury vertreten wurde, war rein naturrechtlich aufgebaut gewesen, das

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heißt es gab nach ihm einen natürlichen und vernünftigen Glauben an die eine Gottheit, der zu den zeitlosen Urbestandteilen derVernunftwahrheiten gehörte, in alten Zeiten dann wohl durch Abfall und Entartung verdunkelt werden konnte, aber immer wieder auflebte, sobald die Vernunft wieder siegte. Indem aber nun Hume den gewaltigen und erschütternden Nachweis führte, daß der Eingottglaube der historisch sichtbaren Völker nicht aus dem Lidite der Vernunft, sondern aus dem Dunkel der Vielgötterei, aus dem trüben Gewoge von Angst, Sorge, Furcht und Radigier primitiver Mensdien emporgestiegen sei, traf er nicht nur den diristlichen Offenbarungsglauben, sondern auch den alten antik-naturrechtlichen Glauben an die zeitlos wirksame, stabile Vernunft des Mensdien. Nur stufenweise, sagte er, schreitet die Menschheit vom Niederen zum Höheren fort. Das Tor schien damit weit aufgestoßen zu einer natürlidien, von Barbarei zu Kultur führenden Entwicklungsgeschichte des mensdilichen Geistes. Tatsächlich hat auch seine Schrift unermeßlich darauf hingewirkt. Aber man muß nun auf die Schranken dieses Entwicklungsgedankens, die ihn verhinderten, Entwicklung im Sinne des späteren Historismus zu zeigen, hinweisen. Die innerste und stärkste Schränke lag in jener Psychologie Humes, die nur seelische Teile und ihr medianisches Ineinanderspiel, aber nicht seelische Ganzheiten, die von einem inneren individuellen Mittelpunkte her sidi entwickeln, kannte. Nur in der sympathischen Beurteilung des griechischen Götterglaubens sahen wir einmal eine leise Regimg historischer Einfühlung, individualisierender Betrachtung. Im übrigen aber gewahrten wir in dem Bilde seiner Entwicklung nur das Spiel von immer denselben mensdilichen Affekten und Trieben, wie es gesetzmäßig erklärt werden kann durch Stoß und Gegenstoß, Auf- und Abschwellen. Die zeitlose Tätigkeit der stabilen Vernunft wurde hier ersetzt durch die zeitlose Tätigkeit der sich gleichbleibenden Triebe und Leidenschaften. Es war sehr viel mehr Dynamik in diesem Bilde und insofern viel größere Nähe zur historischen Wirklichkeit als in den rein naturrechtlich bestimmten Geschichtsbildern. Viele typische Entwicklungsvorgänge in der Geschichte der Religion wurden dadurch richtig getroffen. Aber das Individuelle in ihren einzelnen Erscheinungen blieb, von jener kleinen Ausnahme abgesehen, unbeachtet und unverstanden, ebenso wie

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es schon der naturrechtlichen Denkweise unverstanden blieb. Schon insofern kann man hier von einem Residuum dieser Denkweise spredien. Hume hat ferner audi, was aus dem eben Gesagten schon hervorgeht, seinen eigenen Entwicklungsgedanken nicht rein durchzuführen vermocht. Stufenweise, hörten wir, sollte die Menschheit vom Niederen zum Höheren fortschreiten. Aber wir hörten auch nodh ein anderes, daß nämlich Polytheismus und Theismus - wohlgemerkt der Theismus der geschichtlichen Religionen auf- und absdiaukeln in der Geschichte. Also geht es in ihr damit dodi nicht stufenweise aufwärts, sondern stufenweise bald aufwärts, bald wieder abwärts. Das war wieder die alte Kreislauftheorie, die Wiederkehr des Gleichen in der Geschichte, wiederum ein Residuum der naturrechtlichen Denkweise, die ja nicht nur an die Stabilität der Vernunft, sondern an die zeitlose Gleichartigkeit der menschlichen Natur überhaupt glaubte. Und nun das dritte Residuum. Der Theismus der positiven Religionen galt ihm deswegen als so unbeständig und locker, weil er bei den Meissen der Gläubigen nur durch unvernünftige und abergläubische Vorstellungen gestützt würde. So gelangten sie, wie er am Jehovaglauben demonstrierte, wie zufällig zu einer Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vernunft, obwohl es der Weg einer engsten und kriechendsten Untertänigkeit war. Deswegen ersdiien ihm auch der Rückfall von Theismus in Polytheismus so leicht. Eine tiefe Kluft sdiied also nadi ihm den irrational entstandenen Theismus von dem rational enstandenen und begründeten Theismus oder, wie wir jetzt der Deutlichkeit wegen sagen müssen, dem Deismus seiner Zeit. Er redinete dabei selbstverständlich audi die aufgeklärten Philosophen der Antike zu den Seinen. Aber deren Zahl ersdiien ihm überhaupt, auch in seiner eigenen Zeit, erstaunlich klein. Der große Haufe ist, urteilte er, unwissend und unaufgeklärt, eigentlich die ganze Menschheit bis auf wenige Ausnahmen. Diesen wenigen war es nach seiner Meinung vergönnt, durch Sdilußverfahren das Dasein einer unsichtbaren vernünftigen Macht zu erkennen. Diese Erkenntnis war dabei für seinen Skeptizismus, wie seine Dialoge über die natürliche Religion des weiteren zeigten, nodi nicht einmal eine unbedingt sichere, aber die auf rationalem Wege einzig mögliche. Die Ratio aber, die ihn dabei leitete und die

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ihm vor Augen stand, war keine andere als die stabile des Naturredits, die, wofern man sie nur befreite von allen Trübungen der Sinne und Affekte, zu allen Zeiten dasselbe aussagen mußte. Ihren Wirkungsbereich in der Geschichte hat er in entscheidender, man darf fast sagen epochemachender Weise eingeschränkt durch die Aufdeckung des Wirkungsbereiches der irrationalen und subrationalen Mächte - aber er hat ihr Wesen selbst nicht angetastet. Er hat gewissermaßen den Rationalismus nur quantitativ, nicht qualitativ überwunden - oder dodi nur insofern qualitativ, als er seinerZeit den Stachel eines erkenntnistheoretischen Zweifels eindrückte. Sein Deismus, von ihm für die »wahre Religion« gehalten, war ja keine eigentliche Religion, sondern eine Sache des Erkennens. In der Tiefe wird man seinem von Jugend auf rastlosen Suchen, Fragen und Zweifeln und zweifelnd Bejahen die echt religiöse Ader eines Gottsuchers nicht abstreiten. Aber für sein Bewußtsein war Religion nicht einmal unbedingt notwendig für die Gestaltung des Lebens. Dafür genügte schon die Moral, deren Wurzeln er ja zum primären Besitz der menschlichen Natur rechnete. Dennoch konnte er am Schlüsse, nicht ganz im Einklang mit seinem Eingangsgedanken, sagen, daß ein Volk ohne irgendwelche Religion, wenn man es überhaupt finde, nicht viel höher als die Tiere stünde. Seine innerste Abneigung gegen die positiven Religionen hinderte ihn also nicht, sie als Bindemittel der Gesellschaft, wenn auch nur sehr unvollkommenes Bindemittel, gelten zu lassen. Sein Utilitarismus und sein penetrantes Gefühl für die Schwächen und Unvollkommenheiten der menschlichen Natur ließen ihn so denken. Zum radikalen Mensdienverächter aber wurde er darum nicht. Er glaubte ja, indem er alte naturrechtlich-stoische Vorstellungen herunterdrückte in das Gebiet einer naturalistischen Psychologie, an angeborene, wenn audi zunächst ungeklärte moralische Gefühle des Menschen, die durch die Vernunft gemäß dem gesellschaftlichen Fortschritt allmählich gereinigt würden. Es ist nun bezeichnend für die Grundrichtung seines Wesens und dessen tiefe Einbettung in englisches Wesen, daß nicht die Probleme der Individualethik, der sittlichen Persönlichkeit, sondern die der Sozialethik ihn am stärksten fesselten. Er wandte also insbesondere denjenigen moralischen Gefühlen und Trieben seine 14

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Aufmerksamkeit zu, die auf den Nutzen der Gesellschaft gingen. Immer hatte er dabei audi das Gegenspiel der egoistischen und grobsinnlidien Triebe in voller Stärke vor Augen. Aber Gesellschaft und Staat beruhten nicht allein auf solchen. Ihr Ursprung und ihr Bestehen hatten für ihn, darf man sagen, eine merklidi andere Grundlage als die aus Angst, Furcht usw. entstandenen und weiterlebenden positiven Religionen. Es gehört aber zu den Grundzügen seiner Geschichtsauffassung, daß er dieselbe Methode empiristisdier Beobachtung, geschichtlichen Studiums und Heranziehung auch des Wissens von den Naturvölkern, mit der er die Entstehung der Religion aufzuhellen versucht hatte, audi auf die Entstehung der Gesellschaft und des Staates anwandte. Da kamen dann neben den moralischen Trieben der Sympathie und des sozialen Nutzens audi die naturalistischen Motive wieder zu stärkster Geltung. Nicht etwa schon für die ursprüngliche menschliche Gesellschaft überhaupt, die er als ein Urphänomen primitiven Zusammenlebens bei geringen, leidit zu befriedigenden Bedürfnissen ansah (Treatise on human nature). Wohl aber für die Entstehung des Staates, des governments, der authority. Der Kampf der Horden untereinander, der Krieg mit seiner Notwendigkeit militärischen Führertums haben sie nach ihm hervorgebracht. In Kriegszeiten, heißt es im Essay of the origin of government, gewinnt Einer die Herrschaft über die Menge, gewöhnt sie an Unterwerfung, und ist er klug und billig, so wird er durch eine Mischung von Gewalt und Zustimmung seine Autorität befestigen; die Unterworfenen lernen die Vorteile des neuen Zustandes, wenn er Rechtssicherheit bringt, kennen, und ein Gefühl der Verpflichtung erwacht in ihnen. Die monarchische Staatsform also, auf militärischer Macht beruhend, ist die ursprüngliche. Republiken entstanden aus dem Mißbrauch der monarchischen und despotischen Gewalt. Camps are the true mothers of cities (Treatise). Das Wort ist ein genaues Gegenstück zu dem harten Worte am Sdiluß der Natural history of religion: Ignorance is the mother of devotion. Aber es stand der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens sehr viel näher als dieses, das die religiöse Uranlage des Menschen verkannte. Wohl ist audi die naturalistische Lehre Humes von der Entstehung des Staates von naturrechtlichen und pragmatistisdien Zügen nicht ganz frei geblieben (namentlich nicht im Treatise).

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Aber ebenso wie seine Religionsgeschichte dem rationalistischen Gebilde einer natürlichen Theologie den Todesstoß versetzt hatte, so wurde hier die alte naturrechtlidie Vorstellung von der Entstehung des Staates durdi einen Vertrag über den Haufen geworfen. (Näher begründet dann von ihm in seinem Essay of the original contract.) Shaftesbury und andere waren ihm wohl in der Verwerfung der Vertragstheorie schon vorangegangen, sie lebte auch nach Hume weiter, weil die wissenschaftliche Zerstörung einer falschen Lehre noch nicht ihren geschichtlichen Tod bedeutet. Letzten Endes konnte sie erst durch neue geschichtliche Erlebnisse und ein neues Geschichtsbewußtsein aus der Welt geschafft werden. Zu den wirksamsten Vorbereitem dieses neuen Geschichtsbewußtseins aber gehört auch Hume allein schon durch diese beiden Breschen, die er in die naturrechtlich-rationalistisch aufgebaute Geschiditswelt legte. Das neue Geschichtsbewußtsein des 19. Jahrhunderts beruhte gewiß nicht allein auf dem Verständnis für den Faktor der politischen Macht in der Geschichte, aber es wurde durch dieses Verständnis sozusagen erst komplett. Hume hat es schon besessen, ohne das Wesentlichste des neuen Geschichtsbewußtseins, den Sinn für Individualität und individuelle Entwicklung, zu besitzen. Die Welt, heißt es im Essay of the original contract, ist in dauerndem Wandel kleiner in große, großer in kleine Reiche und durch Siedlungen und Wanderungen der Stämme. Ist da etwas anderes in diesen Ereignissen zu entdecken als Macht und Gewalt (force and violence)? Dann aber wirken Zeit und Gewohnheit auf die Gesinnung der Menschen, und aus ursprünglicher Usurpation oder Rebellion erwachsen Autorität, Recht und Verpflichtung. Die Gewohnheit ist es, die die besondere Richtung in der Anerkennung eines neuen Zustandes bestimmt, als »allgemeiner Instinkt« aber wirkt dabei das Interesse der Menschen an einem gesicherten Rechtszustand (Treatise). In dieser Pendelschwingung zwischen der Schwertführung des Soldaten und den sozialmoralischen Urbedürfnissen des Menschen sah Hume das geschichtliche Leben sich vollziehen. Wohl schimmert auch hier wieder, wie in seiner Konstruktion der Religionsgeschichte, die alte Kreislauftheorie, der Glaube an die Wiederkehr derselben Abläufe in der Geschichte durch. Aber diesem Glauben lagen zwar nicht immer, aber oft, wirkliche historische Erfahrungen

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zugrunde. Die Pendelschwingung zwischen Gewalteinbruch und Reditszustand, die er für die politische Geschichte annahm, ließ sich sehr viel besser historisch begründen als die Pendelschwingung zwischen Theismus und Polytheismus, die er in der Religionsgeschichte konstruierte. Jedenfalls war das Bild sehr viel schärfer und richtiger gesehen als das Voltairesche, das in der Hauptsache nur die Sinnlosigkeit der brutalen Machtkämpfe und die Ohnmacht der Vernunft ihnen gegenüber kannte. Voltaires Dualismus zerriß die Geschichte in einen sinnlosen und sinnvollen Teil. Der Humesche Dualismus stellte ein verknüpfendes Band zwischen ihnen wieder her, eine Polarität naturalistischer und moralistisdier Grundkräfte in der Geschichte. Die Menschheit brauchte danach nicht zu verzweifeln über den ewigen Wiedereinbruch zerstörender Gewalten, denn ewig waren auch stille Gewalten am Werke, um die Tat der Zerstörer umzuwandeln in neuen Aufbau. Die militärische Gewalt selbst konnte dabei unter Umständen als Retter in der Not begrüßt werden. In chaotischen Zuständen, meinte Hume (Essay of the original contract), würde doch jeder weise Mensch sich einen General an der Spitze einer gehorsamen Armee wünschen, um dem Volke einen Herrn zu geben, den es selbst nicht geeignet ist sich zu wählen. Es zeigt sich, wie undoktrinär Hume auf den Wandel der Machthaber, der Staatsformen und Verfassungen blickte. Wohl galt ihm die Freiheit, wie sie in England schließlich errungen war, als die segensreiche »Perfektion der bürgerlichen Gesellschaft« (Essay of the origin of government). Aber die geschichtliche Erfahrung sagte ihm, daß sie auch notwendig der Autorität zu ihrer Existenz bedürfe, daß in jedem Staate ein dauernder innerer Kampf zwisdien Autorität und Freiheit woge, keine von ihnen absolut siege, selbst im orientalischen Despotismus Reste von Freiheit des einzelnen und der Gesamtheit blieben. In Fällen schlimmsten Mißbrauchs der Autorität erkannte auch er ein natürliches Recht auf Widerstand an, war aber sogleich bemüht, diesen Abgrund wieder zu verbergen und es als Regel hinzustellen, daß bei Kämpfen zwischen Freiheit und Autorität diese den Vorrang beanspruchen könne. Das war nicht nur ein historisches Tatsachenurteil, sondern auch ein Werturteil. Denn lieber wollte er, da doch einmal Tod das unvermeidliche Ende jedes, auch des politischen Lebens sei, sein freies England in der Euthanasie einer

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absoluten Monarchie als in den Konvulsionen einer reinen Volksherrschaft untergehen sehen (Essay whether the British government inclines more to absolute monarchy or to a republic). Shaftesbury hatte im Hochgefühl der neu gesicherten englischen Freiheit die Kultur des Geistes, Kunst und Wissenschaft nur in einem freien Staate dauernd gesidiert geglaubt. Das war ein Gedanke, der sidi sehr begreiflicherweise schon einst in der frühen römischen Kaiserzeit geregt hatte, zugleich aus Tatsachenbeobachtung wie aus Wertempfindung geboren, wo dann die Wertempfindung leicht die Beobachtung mit sich fortreißen konnte. Hume versuchte hier wohl, die reine Erfahrung sprechen zu lassen. Blühten nicht, fragte er, die Künste im modernen Rom der Priestertyrannei? Haben nicht in Florenz Künste und Wissenschaften ihre Hauptfortschritte seit der Mediciherrsdiaft gemacht? Das absolutistische Frankreich aber sei das einzige Volk außer den Griechen, das gleichzeitig Philosophen, Dichter, Künstler, Geschichtsschreiber usw. hervorbrachte. Zeitgebundene Wertempfindung war freilich auch bei ihm im Spiel, wenn er die modernen Franzosen in der Gesamtstufe ihrer Leistung sogar über die Griechen stellte, die ihrerseits wieder bei weitem die Engländer übertroffen hätten (Essay of civil liberty). Er kam noch einmal, im Essay of the rise and progress of the arts and sciences, auf das Thema zurück, versuchte hier mit kritischer Vorsicht zu allgemeinen Erfahrungsregeln zu gelangen und brachte es doch nur, trotz mancher feinen Einzelbeobachtung, zu dem fragwürdigen Ergebnis, daß Künste und Wissenschaften zwar in Freistaaten zuerst entsprängen, aber auch überpflanzt werden könnten in zivilisierte Monarchien, und daß die Republik mehr dem Wachstum der Wissenschaften, die zivilisierte Monarchie mehr den feineren Künsten zugute komme. Aber das Problem bedurfte einer individualisierenderen Behandlung, als er sie mit seinen Erkenntnismitteln zu leisten vermochte. Die Ergebnisse der Erfahrung mit den Normen der Vernunft in Einklang zu bringen, war das große Bemühen Humes. In Wahrheit siegte dabei bald sein Empirismus über den in ihm fortlebenden Rationalismus, bald wieder sein Rationalismus über den Empirismus, und jedesmal mit charakteristischen Konzessionen an den Besiegten. Rationalistisch und normativ war sein Kunstgeschmack. Die Erfahrung aber lehrte ihn, daß die Mannig-

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faltigkeit des Geschmacks bei den verschiedenen Mensdien, Zeiten und Völkern bei näherer Prüfung noch viel größer sei, als schon der erste Anschein zeige (Essay of the standard of taste). Wie sollte man sich da verhalten? Sollte man da alles, was dem heutigen Geschmack nicht entspräche, verwerfen? Sollen wir etwa, fragte er, die Bilder unserer Vorfahren wegen ihrer Halskragen und Reifröcke wegtun? So duldsam hatten doch Empirismus und Weltkenntnis die Menschen des 18. Jahrhunderts schon gemacht, daß Hume, seines Publikums gewiß, dies lächelnd abwehrte. Unschuldige Besonderheiten der Sitten, die uns in den Kunstwerken der Vergangenheit begegnen, dürften uns nicht stören. Entschuldbar seien auch die spekulativen Irrtümer der Religion, und über die Absurditäten der heidnischen Götterlehre könne man bei der Kritik der antiken Poesie hinwegsehen. Wo aber Bigotterie und Superstition sich zeigten oder wo die Ideen der Moral und Schidclichkeit empfindlich verletzt würden, da müsse man urteilen, daß die Kunst entstellt sei. Und er nahm nun selbst Homer und die griechischen Tragiker nicht ganz von diesem engherzigen Verdikte aus. Wieder war es der Maßstab zeitloser Vernunftwahrheiten, mit dem hier Erscheinungen verworfen wurden, die ihnen widersprachen. So bricht überall das Streben der Aufklärung, die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erscheinungen durch Generalwahrheiten und große Gesetzmäßigkeiten zu beherrschen, durch. Am ersten war es ihm, wie wir zeigten, auf dem Gebiete des staatlichen Lebens gelungen, wirkliche Typen des geschichtlichen Geschehens zu entdecken. Sie konnten freilich nur sehr allgemein sein, und er hat sich audi in der Regel gehütet, die einzelne historische Tatsache übermäßig zu generalisieren. Sein Empirismus war darin echter Empirismus, daß er keinen Augenblick die Schranken menschlicher Erfahrung vergaß. Wir haben ja, sagte er selbst (Essay of civil liberty), viel zu wenig Erfahrung und die Welt ist noch viel zu jung, um Generalwahrheiten in der Politik aufstellen zu können, die bis zur spätesten Zukunft wahr bleiben werden. Was wissen wir davon, welchen Grades von Tugend oder Laster die Menschheit fähig ist und was von ihr erwartet werden kann, wenn irgendeine große Revolution in Erziehung, Gewohnheit oder Prinzipien einmal erfolgt? *

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Mit dieser undogmatisdien und aufgeschlossen bleiben wollenden Gesinnung, mit diesem Schatz empirisch-psychologischer, aber ins Generelle strebender Erkenntnismittel, aber audi mit den damit untrennbar verbundenen Werten und Idealen der Aufklärung wurde Hume einer der großen Geschichtsschreiber seiner Nation. W i r halten uns an die zusammenfassende und manches revidierende Form, die er seinen drei Werken in der Ausgabe der History of England von 1762 gegeben hat 1 , und versuchen, die Eigentümlichkeit seiner Leistung und die Stufe, die sie in der Vorgeschichte des Historismus einnimmt, zu erfassen. 1751 war Voltaires Siècle de Louis XIV erschienen. 1754 erschien der erste in den Jahren 1752/54 geschriebene Band von Humes Erstlingswerk über die Stuartzeit. Man hat deswegen schon früh in ihm einen Nachahmer Voltaires sehen wollen. Hume selbst hat dem bereits in einem Briefe vom 5. November 1755 widersprochen (Metz, Hume S. 395) : »Die Wahrheit ist, daß meine Geschichte bereits vor dem Erscheinen jenes vortrefflichen Werkes geplant und in großem Umfange niedergeschrieben war.« E r irrte sich zwar in der Zeitannahme über Voltaires Werk. 1 Die Geschichte Englands unter den Stuarts war in zwei Bänden 1754 und 1756 erschienen, die unter den Tudors 1759, die bis zu der Thronbesteigung Heinrichs VII. reichende in zwei Bänden 1761. Metz, D. Hume, S. 41 f f . Seine und anderer Angabe, daß die erste Einheitsausgabe des ganzen Werks 1763 erschienen sei, ist irrig. Uns liegt die sechsbändige Quartausgabe von 1762 vor. Hume bezeugt selbst in seiner Lebensskizze, daß er bei der Revision der Stuartgeschichte über hundert Stellen in torystischem Sinne geändert habe. Darüber Burton. Life and correspondence of D. Hume (1846) 2, 73 f . Auch der Ausdrude superstition wurde oft in religion gemildert. Unsere Aufgabe erfordert es nicht, auf diese Varianten einzugehen. Kurz sei hierbei auch auf die bisherigen monographischen Behandlungen der Humesdien Geschichtsauffassung hingewiesen: Goebel, Das Philosophische in Humes Geschichte von England, 1897; Daiches, Verhältnis der Geschichtsschreibung Humes zu seiner praktischen Philosophie, Leipziger Diss. 1903; Goldstein, Die empiristische Geschichtsauffassung Humes, Darmstädter Habilitationsschrift 1902; Wegridi, Geschichtsauffassung Humes im Rahmen seines philosophischen Systems, Kölner Diss. 1926. Die beste Arbeit ist die von Goldstein. Die von Wegridi ist ungenießbar durch schlechten philosophischen Jargon und überdeckt mit ihrer phänomenologischen Kritik derart das Phänomen Hume, daß man es mühsam herauserkennt. Ein gutes Kapitel über Hume enthält auch Black, The Art of History (1926).

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Aber dem wahrheitsliebenden und von Eitelkeit freien Manne darf man es glauben, daß er erst während der Arbeit das Voltairesche Werk kennengelernt haben wird. Daß es ihn dann in seiner eigenen Richtung vielfach bestätigt und gefördert hat, wird man annehmen dürfen. Aber die Originalität seiner Leistung wird dadurch nicht berührt. Große Geschichtsschreibung entspringt immer aus der werdenden Geschichte selbst, das heißt aus dem Leben, und erhält ihre erste Grundriditung durch die Lebenskämpfe und Lebensziele, in deren Mitte der Erzähler steht. Je nachdem blickt er verschieden auf die Dinge, ob er in beruhigter oder kampferfüllter Zeit schreibt, ob er einen Siegesberidit erstattet oder die Ursachen erlebten Grauses zu ergründen sucht. In der Aufklärungshistorie mischen sich die Züge der beruhigten und der bewegten Zeit. Man glaubte, entscheidende Siege hinter sich zu haben und fortzuschreiten auf dieser Bahn, ohne das Ziel sdion endgültig erreicht zu haben. W i r kennen bereits die Grundstimmung Humes. Es war die eines kritisch und vorsichtig denkenden Siegers, der mit den eigentlich unzulänglichen Kräften der menschlichen Natur auf einen Höhepunkt menschlicher Entwicklung sich geraten erblickte. Entwicklung? Wir gebrauchten das Wort, wie man es abgeschliffen für alle geschichtlichen Verläufe wohl gebraucht, aber haben nun wieder zu fragen, ob er eine »Entwicklung« in unserem historischen Sinne geschildert hat. In seiner »Natürlichen Geschichte der Religion« fehlte schon die erste Voraussetzung dafür, das individuelle Substrat, das sich entwickelt. Der Auflöser des Substanzbegriffes stellte nur die Veränderungen typischer psychologischer Komplexe, aber nicht den Wandel geistiger Wesenheiten dar. In der »Englischen Geschichte« war die individuelle Wesenheit von selbst gegeben, das englische Volk. Hume war Schotte und hatte zwar manche eingeborene Antipathien gegen englisches Wesen, verschonte aber auch sein eigenes Volk nicht mit scharfer Kritik seiner einstigen Barbarei. Seine Theorie sprach das auflösende Wort, daß Nation nichts anderes sei als eine Kollektion von Individuen, die unter denselben Ursachen stehen (Essay of national characters). Aber sein Gefühl erwies sich stärker als seine Theorie und durchwehte das Werk trotzdem mit englischem Nationalgeiste, freilich einem sehr modernen und mehr rational als wurzelhaft entstandenen. Man

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sieht es aus der Art, wie er die politische Vereinigung Schottlands mit England beurteilte. Sie war ihm ein Sieg vernünftiger Staatenbildung. Denn die Schotten, sagt er einmal (6, 187), hatten bis dahin nur sehr unvollkommene Begriffe von Gesetz und Freiheit gehabt. Das deutet darauf hin, worin er den Sinn der englischen Geschichte sah: Von einem government of will zu einem government of laws (2, 149) zu werden. Diesen unendlich mühsamen, ja häßlidien, aber zum Guten endenden Prozeß in seiner ganzen Komplikation und in allen seinen Phasen anschaulich zu machen, war oder wurde vielmehr sein Vorhaben. Hatte er zuerst gleichsam den Stier bei den Hörnern gepackt und die für sein Grundinteresse entscheidende Zeit der Stuarts herausgegriffen, so drängte ihn dies Grundinteresse immer weiter in die ihn viel weniger anziehenden älteren Zeiten, um die Reihe der Kausalitäten, die zu dem government of laws geführt hatten, vollständig zu machen. Eine politische Grund- und Hauptfrage wurde so zum Generalthema seines Werkes. Nur von ihm aus ist es, was bisher immer übersehen wurde, in seiner Anlage und Stoffauswahl zu verstehen. Dadurch unterscheidet es sich charakteristisch von den Voltaireschen Werken, die eigentlich Zivilisationsgeschichte geben wollten und doch mit Widerwillen die grundsätzlich mißachteten politisch-kriegerischen Stoffmassen nach alter Weise breit mit aufnahmen. Auch Hume stand unter der alten historiographischen Konvention, die diese Stoffmassen von je bevorzugte. Aber er hauchte ihr einen höheren Sinn ein, indem er ein bestimmtes großes Problem politischer Geschichte zum Mittelpunkt dieser Stoffmassen werden ließ. Schon die Wahl gerade dieses innenpolitischen Problems zeigte freilich den Aufklärer, den die Wesenheit Staat nicht um ihrer selbst willen interessierte, sondern als Mittel zum Zweck eines rechtlich gesicherten und geordneten Privatlebens. So konnte er denn auch das Problem selbst nur im Lichte seiner Ideale und seiner psychologischen Voraussetzungen sehen. Nicht nur national-englisch, sondern auch universal-menschlich war es dabei mit ihm gemeint. Es sollte gezeigt werden, bis zu welchem Grade von Perfektion die schwache menschliche Natur geführt werden könne. Es war Perfektion, nicht Entwicklung in unserem geschichtlichen Sinne, die er zu zeigen beabsichtigte. Der Perfek-

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tionsbegriff zeigte sidi uns als Schranke des geschichtlichen Denkens bei Leibniz wie bei Voltaire, bei den Aufklärern überhaupt. Daß ihn Hume ohne große Illusionen über den Grad und die Haltbarkeit der erreichbaren Vervollkommnung vertreten mußte, geht aus seinem ganzen Denken hervor. Die Idee eines perfekten und unsterblichen Commonwealth, heißt es in der History bei der Erwähnung von Harringtons Oceana (6, 128), wird immer als ebenso diimärisch befunden werden wie die eines perfekten und unsterblichen Menschen. Und dennoch steckte der Perfektionsgedanke ihm tief im Blute. Hat er doch selbst in seinen Essays die Idea of a perfect commonwealth entwickelt. Zwar begann er hier ganz realistisch mit dem Satze, daß Autorität, nicht Vernunft die Masse der Menschheit regiere und daß nichts Autorität bringe, was nicht die Empfehlung des Altertums habe. Da aber, unabhängig von den Sitten und Neigungen der besonderen Menschen, eine Staatsform vollkommener sein könne als die andere, so dürfe man fragen, welche die vollkommenste von allen sei. Wer wisse, ob nicht künftige Zeiten sie ausführbar madien würden; audi könne man die jetzige Verfassung soviel wie möglich, soweit es ohne Erschütterungen gehe, ihr annähern. Wir lassen den Inhalt dieser Optimalverfassung, so interessant er in politischer Hinsicht auch ist, hier beiseite. Der Beweis ist geliefert, daß aller ihm eigene Sinn für die Variety of mankind, für die Typik und kausale Entstehung ihrer besonderen Denkweisen und Sitten, nicht durchdrang zur Erkenntnis des individuell gebundenen und geformten Charakters aller politischen, aller gesdiiditlidien Gebilde überhaupt. Letzten Endes kam wieder trotz allem Empirismus der alte naturrechtliche Maßstab einer zeitlosen Vernunft zur Geltung. Die englische Geschichte also ein Perfektionsprozeß gemäß den Gesetzen psychologischer und politischer Erfahrung. Wir kennen seine Lehre von der rhythmischen Bewegung im Staatenleben, die von gewaltsamer Machteroberung zur allmählichen Eingewöhnung, Anpassung von Herrschern und Beherrschten und Autoritätsbildung führt. Sie war so recht der englischen Geschichte nachgebildet, die von der römischen Eroberung an bis zur Revolution von 1688/89, dem Schlußpunkte der History, eine merkwürdig aufeinanderfolgende Reihe solcher rhythmischen Abläufe bildete. Hume stellte sie ohne übermäßige Schemati-

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sierung dar, aber den Blick immer nach vorwärts gerichtet, auf den letzten ihn am stärksten beschäftigenden Ablauf, der von dem fanatischen Enthusiasmus der puritanischen Erhebung in den schönen Gleichgewichtszustand von Autorität und Freiheit führte. Was auf diesen schon früher, in altgermanischer Freiheit, Magna Charta, Parlamentsanfängen usw. deutete, wurde von ihm wohl betont, aber ohne jede Überschätzung. Er zerstörte sogar die herrschenden Legenden von ausgebildeten und klaren Parlamentsrechten, mochten sie schon für das späte Mittelalter oder für die Tudorzeit oder für die Anfänge der Stuartzeit behauptet worden sein. Daß sie eine ganz späte Errungenschaft seinen, war einer der Hauptgedanken seines Werkes, den er in der Gesamtausgabe noch verschärfte. Er verärgerte damit gleichzeitig alle Parteien seines Landes, aber wirkte bahnbrechend für eine objektivere Behandlung der Tudor- wie der Stuartzeit. Und er bestätigte sich dadurch seine Überzeugung von der Langsamkeit aller menschlichen Vervollkommnungsprozesse. Eine traditionalistische Geschichtsauffassung, wie sie etwa Boulainvilliers in Frankreich übte, die ein altes ursprüngliches Recht aus der Vergangenheit wieder ausgraben wollte, lag ihm innerlich ganz fern. Demnach wird die englische Geschichte aufgefaßt als ein langsam und spät, unter Blut und Tränen sich klärender Wirrwarr. Aus gotisch-feudaler Inkonsistenz der staatlichen Gewalten, aus Mischung von Autorität und Anarchie kommt es schließlich zur rechten Mischung von Autorität und Freiheit. Hume erkannte auch scharf, daß dieser Prozeß nur möglich wurde durch die großen sozialen Umgestaltungen des englischen Volks, durch die Vernichtung des Feudaladels, den Aufstieg der Gentry und den ihm vor allem am Herzen liegenden Aufstieg der Mittelklassen, der Träger der neuen Zivilisation. Was darunter sich vollzog, die Entvölkerung des Landes, die ungerechte Behandlung der unteren Klassen, entging zwar nicht ganz seiner Aufmerksamkeit, aber bewegte ihn nicht tiefer. Er schrieb ja noch im ersten Beginn der großen industriellen Revolution, und so störten noch keine dunkleren Schatten sein befriedigtes soziales Bewußtsein. Zum Ruhme des Werkes aber ist zu sagen, daß er es nicht nur als konstruierender und moralisierender Philosoph, sondern auch als historischer Erzähler großen Stils geschrieben hat. Wohl trat

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er als Psychologe und Moralist auch an den Stoff, analysierte, lobte und tadelte. Aber die Freude am Stoffe, an der bunten Welt von Gestalten und Ereignissen, so unschön sie zugleich auch immer auf ihn wirkte, bradi trotzdem durch. Es ist Strom in der Erzählung, sie ist spannend, anregend und fesselnd und in der Komposition vielfach glänzend. Man hat wohl Anstoß daran genommen, daß er den Stoff zu äußerlich nach den Regierungszeiten der einzelnen Herrscher disponiere. Für das Mittelalter ist dieser Vorwurf berechtigter als für die neuere Zeit seit Heinrich VII., wo jede neue Regierung auch eine neue Prägung brachte, - wenigstens bis zum Endpunkte der Erzählung, der Revolution von 1688. Aber auch für das Mittelalter kam es dabei gut heraus, was der Wechsel des Herrschers für das Auf und Ab der inneren Entwicklung jeweils bedeutete. Das Höchste an Formung hat er vielleicht geleistet in der Art, wie er das Schicksal Elisabeths aufbaute, wie sie, die selbst nie das Gefühl verlor, auf schwankem Boden zu stehen, doch das Bollwerk der Protestanten Europas werden mußte, wie dadurch der Knoten zum Entscheidungskampfe mit Philipp sich schürzte und sie nun großherzig die Notwendigkeiten erkannte und das Notwendige tat (vgl. etwa 4, 45, 127, 185). So wie hier, gelang es ihm auch in der Geschichte Karls I., persönliches und allgemeines Sdiidcsal ineinander zu verweben und zu zeigen, wie seine besonderen Charaktereigenschaften erst durch die besondere zeitgeschichtliche Situation verhängnisvoll wurden, die ihn hineinstellte zwischen die absolutistischen Präzedenzien der Tudorzeit und den neuen nach Freiheit strebenden Geist des Volkes (5, 485 f.). Sieht man hin, so stellen solche Höhepunkte historischer Gestaltung Fälle dar, in denen die sichtbaren Kausalitäten sachlicher wie psychologischer Art derart ineinandergriffen, daß ein großes Schicksalsdrama sich entfaltete. Für das Walten solcher Schicksale, wie sie den einzelnen mit zwingender Notwendigkeit in eine bestimmte Bahn drängen, war schon die Aufklärung nicht taub. Shakespeare hat schon auf sie zu wirken begonnen, Montesquieus und Gibbons ergreifende Darstellungen des Römerschicksals beruhten auf dem Sinne dafür, und Schillers Dramen, die doch noch so stark vom Geiste der Aufklärung durchweht sind, zeigen es erst recht. Aber wir müssen, um die Distanz zwischen Hume und dem späteren Historismus genauer zu messen, nun fragen, in-

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wieweit der Sinn für die Individualität der geschichtlichen Gebilde, vor die er trat, in ihm schon entwickelt war. Wohl leitete ihn, wie schon bemerkt, ein unwillkürliches Grundgefühl englischen Nationalgeistes. Aber schon den konkreten Grundlagen englischer Eigenart, den geographischen Bedingungen, der rassischen Zusammensetzung, den besonderen wirtschaftlichen Faktoren widmete er keine zusammenhängende Betrachtung. Nodi mehr versagt er, wenn wir fragen, inwieweit audi der Sinn für die im Innersten der Dinge, der sachlichen wie der psychologischen, waltenden Kräfte, für ihre »Mittelpunkte« und die von ihnen gestalteten und nur mit geistigem Auge wahrnehmbaren Wesenheiten bei ihm erwacht war. Wir nennen diese Wesenheiten oder deuten auf sie seit Ranke hin mit den Worten Ideen, Tendenzen der Jahrhunderte, objektive Notwendigkeiten der Zeit, allgemeine Weltverhältnisse. Es sind zum Teil versdiwimmende Worte, weil die Grenzen dieser Wesenheiten dem Blicke verschwimmen. Aber, um wieder mit Ranke zu sprechen, ein »real-geistiger« Vorgang individueller Art, mag es sich um die Motivenwelt einer Persönlichkeit oder um allgemeinste Bewegungen des ganzen Abendlandes handeln, kann immer in ihnen gefühlt, erschaut, erkannt werden. Da ist denn zu sagen, daß Hume wohl den Vordergrund des Bewegten gewöhnlich scharf erkannt und beschrieben hat, den Hintergrund des Bewegenden aber nur unzulänglich. Der Vordergrund der Handlungen, mochten sie von ganzen Völkern oder einzelnen ausgehen, wurde mit unerbittlicher Deutlichkeit beleuchtet wie Figuren auf dem Schachbrett. Aber das Leben und Weben verborgener, die Dinge leise und sicher umgestaltender Tendenzen fehlt. Wie sich etwa, um hier wieder aus Ranke zu schöpfen, neue große weltgeschichtliche Kombinationen durch das Bündnis zwischen Normannen und Kirche, ritterlichem und hierarchischem Geiste bilden, wie die von Hume aus bloßer wilder Vitalität abgeleiteten Expansionen und Invasionen der Engländer in Frankreich dem englischen Volke zum ersten Male ein Bewußtsein seiner eigenen Machtstellung gaben, wie dadurch ein universales und doch von lauter Einzelleben erfülltes Gesamtleben sich weiter entwickelt - das konnte Hume noch nicht erfassen. Aus der psychologischen Beobachtung geistiger Kollektiverscheinungen und aus dem Bedürfnis nach allgemeinsten Kau-

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salitäten war, wie wir bei Voltaire und Montesquieu auseinandersetzten, die Vorstellung von einem »Geiste« der menschlichen Gebilde seit dem späteren 17. Jahrhundert belebt und auf ganze Zeiten angewandt worden. Wohl trieb diese Vorstellung durch sidi selbst allmählich weiter zum Aufsuchen verborgener Lebenskräfte, aber innerhalb der Aufklärung verblieb sie in der Regel bei der summarischen Zusammenfassung evidenter seelischer Eigentümlichkeiten einer Zeit oder eines Volkes und ihrer summarischen Kausalwirkung auf das Geschehen. Audi Humes Werk ist voll von Anwendungen dieser Art, etwa dem romantic spirit des Mittelalters, den er in Wilhelms des Eroberers Zug wahrnahm und der dann die Kreuzzüge leitete, vor allem dem spirit of superstition der mittelalterlichen Menschheit, dem spirit of bigotry ihres Klerus. Meist wußte er nicht'viel Gutes von diesem spirit zu sagen; eher sprach ein pathologisches Bedauern aus seinen Worten. Doch wissen wir, daß Hume diese ihm unsympathischen Erscheinungen zutiefst aus der angeborenen und nur relativ zu verbessernden Schwäche der menschlichen Natur ableitete. Zu einem milden Verstehen des ihm Fremdartigen langte diese kühle Einsicht freilich nicht aus. Aber sie gab doch seinen geschichtlichen Werturteilen eine merklich resigniertere Farbe, als sie Voltaires bitteres Ressentiment zu geben vermochte. Und eher noch stärker als dieser fühlte er als kausal erklärender Psychologe die gewaltige geschichtliche Bedeutung der minds of men, der geistigen Wandlungen von Zeitalter zu Zeitalter, der history of the human mind (5, 207). War doch die große Wandlung des englischen Geistes um die letzte Jahrhundertwende seine geschichtliche Haupt- und Grunderfahrung und die Wurzel seiner eigenen geistigen Existenz geworden. Der erfreuende Blick auf diese Zeit, wo Politik und Krieg, Wirtschaft und Wissenschaft, mechanische und höhere Künste mit- und ineinander wirkten, konnte ihm einmal das verheißungsvolle Wort eingeben: The spirit of the age affects all the arts (Essay of refinement in the arts). Audi bei primitiveren Zeiten konnte er einmal tiefer greifen und in der Erhebung seines Landsmanns, des schottischen Nationalhelden Robert Bruce, den »Genius der Nation erwacht« sehen (2, 120). Innerer lebendiger Anteil vermochte ihn so zuweilen über die Grenzen seiner eigenen Psychologie zu führen. Und da es sich in dieser immer nur um Wiederkehr, Umgruppie-

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rung und günstigenfalls Klärung und Verfeinerung derselben gleichbleibenden seelischen Grundkräfte handelte, so blieb ihm geistig-individuelles Leben im tiefsten Grunde unverständlich. Was er über die mittelalterliche Geistigkeit oder gar Frömmigkeit sagte, gehört zu den traurigsten und uns am fremdesten gewordenen Partien des Werkes. Gänzlich versagte er deshalb audi im Verständnis von Luthers Reformation. Sah er dodi das Urmotiv seines Auftretens in der Eifersucht der Augustiner auf die Dominikaner (3, 119). Unwissenheit, so hörten wir früher, galt ihm als Mutter der Frömmigkeit, vor allem der mittelalterlichen Superstition. Er hatte zwar den alten Irrglauben des antiken Intellektualismus, daß Tugend lehrbar sei, zu überwinden begonnen auf dem Gebiete der eigentlichen Moral - auf den daneben und dahinter liegenden Gebieten des religiösen Lebens ließ er diesen Intellektualismus ahnungslos walten. Die Individualität der Kollektivgebilde seelisch-geistigen Lebens ist schwerer zu erfassen als die des einzelnen Menschen. Das unmittelbare Verstehen von Mensch zu Mensch, wie es sogleich bestimmte Bilder vom Wesen des anderen hervorbringt, ist auch für den Historiker die Brunnenstube alles weiteren Verstehens, nodi vor aller eigentlichen Psychologie. Hume war Menschenkenner nodi vor seiner Psychologie. Diese zerlegte ihm zwar das Seelenleben in zerlegbare Komplexe derselben überall wiederkehrenden Triebfedern und gab deshalb auch seinen Charakteristiken historischer Menschen oft einen eintönig typisierenden und das Einzelne nur addierenden Zug. Und dodi sind sie nicht ganz ohne Kraft und Feuer geblieben. Umgekehrt wie Voltaire, den im Grunde, trotz seiner kausalen Bemühungen um die Urzeit der Mensdien, die Barbarei ennuyierte und den nur der zivilisierte Mensch anzog, hatte Hume, wie seine Religionsgeschichte schon zeigte, einen gewissen Sinn für den primitiven und nur von Affekten bewegten Menschen. Darin berührte er sich eher wieder mit Montesquieus Art. Die wilden Persönlichkeiten der normannischen Herrscher und Barone des Mittelalters malte er geradezu mit künstlerischem Interesse aus. Sie wirken wie ungezähmte Naturkräfte, die man mit Staunen und Grauen und zuweilen nicht ohne Bewunderung anschaut. Freilich, was individuell nodi dahinter liegen mochte, ahnt man nicht. Pflichtgemäß suchte er am Schlüsse jeder Regierungszeit ein kräftiges Gesamt-

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bild des Herrschers zu geben. Da erscheint denn auch Heinrich VIII. mit furditbaren und abstoßenden, großen und anziehenden Zügen nebeneinander, in der ersten Wirkung des Bildes gar nicht viel anders, als ihn später Ranke gemalt hat. Nur sah ihn dieser freilich als ganz individuelles Gebilde, Hume als eine jener rätselhaften »Mischungen« menschlicher Qualitäten, von Gut und Böse, Weisheit und Torheit, die ihn am Schlüsse seiner Natural history of religion das skeptische Bekenntnis entpreßt hatten, daß das Ganze doch ein unexplikables Mysterium sei. Das konnte ihm auch wieder bei Cromwell zum Bewußtsein kommen. Das Lebenswerk dieses Heuchlers und Fanatikers - so sah er ihn an - war so eng mit den Ursprüngen der neuen englischen Freiheit verknüpft und stand zugleich so sehr im Widerspruch zu ihr, daß man das Schwanken begreift, mit dem Hume sein Bild gestaltete, ein Schwanken zwischen rein politischem Sachverständnis, Würdigung seiner großen Qualitäten und tiefer Abneigung gegen den Mann, dem alle Mittel nur Deckmäntel seines Ehrgeizes waren (vgl. etwa 6, 58). Schließlich überwog sein moralisches Verdikt über ihn (6, 89), und der gestaltende Mittelpunkt dieser gewaltigen Persönlichkeit blieb unverstanden 1 . Um aus diesem Schwanken, der notwendigen Folge seiner atomisierenden Psychologie und seiner nebenherlaufenden politischen Urteilskraft herauszukommen, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Sprung zu tun, menschlich-psychologische und politische Sachbeurteilung der Persönlichkeit zu trennen und sich in schwierigen Fällen auf diese zurückzuziehen. Ganz bewußt verfuhr er so bei Elisabeth. Er schilderte zuerst ihre menschlichen Schwächen und fuhr fort: »Aber die wahre Methode, ihr Verdienst abzuschätzen, ist, all diese Betrachtungen beiseite zu lassen und sie rein als ein rationales Wesen zu betrachten, das Autorität erhielt und zur Regierung von Menschen berufen wurde« (4,313). Dies politische Sachverständnis, das zugleich Sinn für die dauernden Interessen der Staaten und für das Walten der Staatsnotwendigkeiten, der von ihm oft genannten Staatsräson hat Hume in hohem Grade gehabt. Ihr Hinwegschreiten über Recht, Wahrheit und Sitte mußte dem Moralisten zwar als eine der 1 Uber Humes Bild von Cromwell, verglichen mit Burkescher Denkweise, vgl. Meusel, Edmund Burke und die Französische Revolution, S.105 ff.

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großen Unglücksquellen der Menschheit, dem Empiriker zugleich aber als ein uraltes Weltübel, mit dem man zu rechnen habe, erscheinen (2, 114 u. ö.). Ihre zweischneidigen Wirkungen sah er, aber ihr Walten verstand er. So fehlte es ihm audi nicht an Sinn für die Unentbehrlichkeit der englischen Seemacht, wiewohl er zivilisatorisdi-warnend einmal bemerkte, daß der Handel keineswegs schlechthin nur von der Macht abhänge (6, 165). Man atmet bei ihm überhaupt viel mehr politische Luft als bei Voltaire, in dessen Geschichtsschreibung wir doch auch manche Spuren des dem 18. Jahrhundert noch sehr gegenwärtigen politischen Realismus gewahrten. Die große politische Geschichtsschreibung seit Machiavelli und Guicciardini über Thuanus und Davila zu Clarendon, einer Hauptquelle Humes, war von ihm durchdrungen. An Pufendorfsche Art erinnert es, wenn Hume nicht selten, um die verwickelten partikulären Ereignisse zu durchleuchten, die politischen Rationes der miteinander streitenden Parteien zusammenhängend entwickelt und konfrontiert - eine Fortbildung der alten antiken Sitte, durch fingierte Reden der Handelnden ihre Motive zu erhellen. Noch moderner war ein anderes von ihm geübtes historiographisches Kunstmittel, nämlich von Zeit zu Zeit die gesamte außenpolitische Lage Englands und Europas zu erörtern. M a n sieht sein Streben nach geistiger Beherrschung und feinerer Gliederung eines Stoffes, der ihn innerlich doch wenig anzog. Es ist viel politische Weisheit in dem Werke ausgestreut. Aber auch bei ihm bestätigt sich, was wir bei Voltaire und Montesquieu gewahrten, daß das überkommene realistische Verständnis für die besonderen eigenartigen Interessen der Staaten noch nicht ausreichte, um die Staaten selbst als lebendig-individuelle W e senheiten zu verstehen. Darum fehlte auch die innerliche Verbindung zwischen dem, was Hume am Staate besonders am H e r zen lag, dem Strebeziel der verfassungsmäßigen und weise eingeschränkten Freiheit, und seinen Betätigungen als reiner Machtstaat. Die Inkohärenz zwischen den verschiedenen geschichtlichen Lebenssphären, die man sah und behandeln wollte, ist charakteristisch f ü r das Unvermögen der Aufklärung, mit ihren nur rationalen und empirischen Mitteln und utilitarischen Erkenntniszielen geistige Einheiten herzustellen. Der Staat als Rechts15 Meinedte, Historismus

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staat, der Staat als Maditstaat, die Psydiologie der ewig wiederkehrenden, in der Religion vor allem sich auswirkenden menschlichen Schwächen - all das lief nebeneinander her und entbehrte der verbindenden Schmelzmittel. In Staat und Religion sah Hume wohl audi, wie Voltaire, die kausalen Grundmächte der Geschichte. Aber nicht einmal diese beiden Mächte vermochte er, auf die Erkenntnismittel seiner medianisdien Psychologie beschränkt, in einen organischen Zusammenhang zu bringen. Erst redit entbehrte eines solchen nun auch alles das, weis durch das neuerwachte Interesse der Aufklärung an den Fortschritten der Zivilisation, den Sitten und Einrichtungen, der Technik und Wirtschaft zu den bisherigen Stoffmassen hinzukam. Hume teilte auch dies Interesse, aber es dominierte nicht bei ihm. Er hat wohl, durch Montesquieu angeregt, der angelsächsischen Verfassung und dem Feudalismus besondere Exkurse gewidmet, auch auf Finanzen und Preise geachtet, in den späteren Bänden dann jeder Regierungszeit einen kurzen Abschnitt sowohl hierüber wie über Handel, Gewerbe, Literatur, Kunst und Sitten angefügt. Gleichzeitig mit Voltaire also hat er diese kulturhistorische Erweiterung des herkömmlichen historiographisdien Rahmens vorgenommen. Selbst triviale Vorkommnisse, sagt er einmal (4, 37), wenn sie die Sitten der Zeit zeigen, sind oft instruktiver und unterhaltender als die großen Transaktionen der Kriege und Unterhandlungen, die sich beinahe allezeit und allenthalben gleichen. Aber gehandelt hat er nicht danach; jene Abschnitte kamen über unbefriedigende Notizensammlungen nicht hinaus und reichen auch an die Voltairesche Kulturgeschichtsschreibung nicht heran. Wohl war die Ahnung eines Staat und Kultur, Begebenheiten und Zustände verbindenden Gesamtlebens schon da, und so erhielt die Geschichtsschreibung durch ihn und Voltaire wohl mehr Glieder als bisher am Körper, aber es fehlten die Gelenke, um sie mit dem Rumpfe lebensvoll zu verbinden. Deutsche Leser ersten Ranges haben in einer Zeit, wo schon die Wendung des deutschen Geisteslebens zu Staat und Geschichte eingesetzt hatte, dem Humeschen Werke gleichzeitig charakteristische Kritik und hohe Achtung widmen können. Niebuhr schrieb am 16. Dezember 1814 an Dore Hensler: »Humes große Eigenschaften und entschiedene Vorzüge vor Gibbon erkenne ich sehr gern: aber in der älteren Zeit vermißt man doch noch viel meh-

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reres von der Art wie das Dir an ihm fehlt: und in der späteren fehlt ihm das Gefühl der Herzensbedürfnisse der Männer, die ihm für Toren und Rebellen gelten. Darin aber freilich war es mit Gibbon gar nicht besser beschaffen.« Und der Freiherr vom Stein rühmte das Werk als Muster von Besonnenheit, Unparteilichkeit und Sdiarfsinn in der Entwicklung des inneren politischen Zusammenhanges der Begebenheiten, lobte audi die hohe Kultur des Stils. Freilich fehle ihm die Wärme der Darstellung, die Phantasie, sidi das Abwesende und Entfernte zu vergegenwärtigen. Mit genauestem Gefühl vermißten beide eben das an der großen Leistung Humes, was der Aufklärungshistorie überhaupt fehlte: die innere Beseelung des geschiditlidien Lebens1. In England blieb sein Werk, trotz der von den Parteien an ihm ständig geübten Kritik, in hohem Ansehen. Ein hochkirchlicher Gegner, erregt durdi die andauernde schädliche Wirkung seiner unreligiösen Geschichtsbehandlung, hat es nodi um die Mitte des 19. Jahrhunderts für nötig gehalten, gründlich mit ihm abzurechnen2. Da zeigte sich dann, wie bei Voltaire, daß es mit der gelehrten Grundlegung sdiwadi bestellt war. Man konnte ihm erhebliche Schnitzer wegen ungenügender Kenntnis der mittelalterlichen Zustände nachweisen. Audi in der Sammlung des Materials habe er es sidi bequem gemacht und habe mit Vorliebe aus den Vorgängern in der Darstellung englischer Geschichte (Carte, Tyrrell, Brady u. a) geschöpft. Diese für uns hier nebensächliche und die Selbständigkeit seines geschichtlichen Denkens nicht berührende Frage bedürfte, da der Kritiker der Parteilichkeit verdächtig ist, nodi einer Nachprüfung*. Ungerecht ist jeden1

Gerhard und Norvin, Die Briefe B.G.Niebuhrs 2, 514 f. bzw. Botzenhart, Frh. vom Stein, Staatsgedanken S. 107. Auch ein charakteristisches Urteil des jungen Ranke über Humes Werk mag hier nodi angeführt werden. Er wurde 1825 von Perthes aufgefordert, eine englische Geschichte zu schreiben und bemerkte dazu: »Idi würde meinen Blidc auf das Ganze und die durchgehende Entwicklung richten, was bei ihm weniger der Fall ist.« Oncken, Aus Rankes Frühzeit S.30. Ranke stimmte übrigens mit einer Hauptthese Humes, nämlidi, daß im englischen Staatsrecht zur Zeit Karl I. »noch vieles unbestimmt« gewesen sei, überein. Epodien der neueren Geschichte S. 174. 1 Hume and his influence upon History in The Quarterly Review Bd. 73 (1844), S. 536 ff. 8 Auch die scharfe Kritik der Humesdien Arbeitsweise bei Blade, The Art of History S. 90 f., und Peardon, The transition in English 15*

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falls der von Fueter ihm gemachte Vorwurf, daß er Quellenkritik nie geübt habe1. Sogar von Fälschungen hat dann jener ältere hochkirchliche Kritiker gesprochen. Davon kann nun keine Rede sein, wenigstens nicht im subjektiven Sinne. Hume wollte hüllenlos die ganze Wahrheit sehen, aber konnte freilich mit den Vorurteilen des Aufklärers an ganze Seiten des geschichtlichen Lebens nicht herankommen und hat sich selbst und seine Denkweise in die Menschen und Dinge hineingesehen. Trotz alledem war es seine Leistung, wie für die Philosophie so auch für die Geschichte, die Grenzen des aufklärerischen Denkens zu zeigen, soweit dieses sich selbst durch die Erfahrung zu kontrollieren vermodite. E r wußte, daß noch ein »inexplikables Mysterium« hinter dem Wesen des Menschen lag, und daß das W o r t »Zufall« nur ein Ausdruck für noch unbekannte Ursachen sei. Voltaire, der zu ähnlicher Skepsis gelangte, zog es vor, sich als Genießer auf die ihm bekannte W e l t zurückzuziehen. Der strengere und tiefere Denker Hume streckte aus intellektueller Rechtschaffenheit vor der unbekannten Sphäre seine eigenen Waffen. Nun galt zwar von seiner geschichtlichen Arbeit das historical writing 1760—1810, S. 21 f., stützt sich anscheinend hauptsächlich auf den Aufsatz der Quarterly Review. Die Benutzung der kurz vorher 1747 ff. erschienenen History of England von Th. Carte durch Hume ist schon in der Edinburgh Review 53 (1831), S. 15 nachgewiesen worden, ohne daß der Kritiker dadurch an der geistigen Selbständigkeit der Humesdien Geschichtsschreibung irre wurde. 1 Als Beispiele seien erwähnt die Ausführungen 1,19 über die Mängel der mönchischen Uberlieferung; 1, 153 über den prekären Erkenntniswert öffentlicher Statuten für die wirklichen sittlichen Zustände; 2, 111 über phantastische Zahlenangaben; 2,397 über die schlechte Oberlieferung der Rosenkriege; 4, 95 ff. über die (allerdings zu weitgehend angenommene) Echtheit der Kassettenbriefe Maria Stuarts; 5,38 über den von Sully behaupteten großen Plan Heinrichs IV.; 6, 231 über die typischen Sdiwächen der Seesdilachtberichte. Vgl. auch Wegridi, Geschichtsauffassung D. Humes usw. (Kölner Diss. 1926), S. 54 f. — Noch bedeutender scheint uns die quellenkritische Methodik in seinem großen Essay of the populousness of ancient nations entwickelt zu sein. The ßrst page of Thucydides, heißt es hier, is in my opinion the commencement of real history. Audi hier wird an den Zahlenangaben der antiken Schriftsteller schon einschneidende Kritik geübt und der feine Grundsatz einmal ausgesprochen, daß man ihren gelegentlichen und nebenher gemachten Angaben über reale Zustände mehr Glauben schenken dürfe, als dem, was sie breit und direkt erzählen.

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Wort Hegels, daß der Empirismus nur zerstückele, ohne wieder zu vereinigen. Aber diese Zerstückelung lockerte audi ähnlich wie die Leistung Montesquieus das Erdreich derart auf, daß es für neue Saat empfänglich wurde.

II. G I B B O N

Die geistige Kraft, die Energie des auf die Vergangenheit gerichteten Erkenntniswillens ist nicht nur der imponierendste Zug an der großen Aufklärungshistorie, sondern audi dasjenige Moment, das man in erster Linie nennen muß, um ihre Funktion in der Entstehungsgeschichte des Historismus zu begreifen. Sie mußte in einem neuen und von Grund aus anders empfindenden Gesdiledite den Wetteifer entzünden, mit derselben Energie, aber mit tiefer dringenden Werkzeugen die Geschichte zu meistern. Konnte Hume durch die philosophischen Elemente seines historischen Denkens die geistige Weiterbewegung antreiben, so wurde als Geschichtsschreiber noch gelesener und wirksamer als er Edward Gibbon (1737—1794) durch sein gewaltiges Werk The decline

and fall of the Roman

empire,

dessen erster B a n d 1776

erschien und das 1787 vollendet wurde1. Es kam seiner nachhaltigen Wirkung schon der Umstand zustatten, daß es nicht nur auf eigener großer Belesenheit in den antiken Quellen, sondern audi auf den von Tillemont gelegten kritischen Fundamenten beruhte, wie sie andere Zeitalter so noch nicht besaßen. Noch heute kann es zugleich anfeuern und abstoßen, Bewunderung und Unlust wecken. Aber jeder ernst auf Universalgeschichte gerichtete Geist hat sich mit ihm innerlich auseinandersetzen müssen. Und zwei Grundgedanken, die man als besonderes Erbe der Aufklärung an den Historismus bezeichnen darf, führen unmittelbar zu dessen Höhepunkt in Ranke hinüber. Das ist einmal die universalhistorische Umgreifung, Durchdringung und Gliederung seines Gegenstandes, die sich nirgends mit der äußerlichkriegerisch verheerenden Einwirkung fremder Völker auf das Schicksal Roms begnügt, sondern jedes dieser Völker audi mit 1 Erste Ausgabe in sedis Quartbänden. Die letzten drei Bände erschienen 1788.

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seinem eigenen Wesen und Schicksal auftreten läßt 1 . So daß das Werk zu einer grandiosen Volkerrundschau wird, angeschaut von der Höhe des Kapitols, auf der Gibbon einst 1764, ergriffen von den Überresten des mächtigsten aller Reiche, die Idee seines Unternehmens konzipiert hatte. Audi in der Anwendung seines universalen Interesses auf das Innenleben der Völker, in der Auswahl und eindringenden Behandlung derjenigen ihrer Lebenssphären, die man für universalgeschichtlich entscheidend hält, erinnert er bereits an Ranke. Staat und Religion stehen, wie schon für Voltaire und Hume, nur nodi bewußter, für ihn überall allem anderen schlechthin voran. Freilich interessiert ihn im Grunde weniger ihr Eigenleben, als die edit aufklärerische Frage, was sie zum Glück oder Unglück der Menschen geleistet haben. Deswegen die utilitarische Behandlung des Staatslebens, die audi die »nützlichen Vorurteile« als Herrschafts- und Zuchtmittel für die Massen gelten läßt. Deswegen auch die ausführliche Behandlung des Christentums. Man könnte aus den verschiedenen Kapiteln des Werkes darüber eine besondere, wenn auch nicht vollständige Kirchen-, Dogmen- und Ketzergeschichte herauslösen. Damit hängt aber wieder ein spezifisch aufklärerischer Grundmangel seines Werkes zusammen, die fehlende innere Kohärenz und Verwebung zwischen verschiedenen Entwicklungsreihen, die wir eben bei Hume bemerkten. Wie seltsam etwa berührt es, daß Constantins Aufstieg zur Macht so erzählt wird, fast als ob es kein Christentum damals gegeben hätte, und dann erst gleichsam die Schleuse plötzlich aufgezogen wird, um die zurückgehaltenen Gedankenmassen darüber zu ergießen. Die universale Denkweise der Aufklärung, wie sie Gibbon vertrat, und des Historismus, wie ihn Ranke vertrat, flöß aus dem beiden gemeinsamen Bewußtsein, daß die Kultur, die in ihnen lebte, nicht das Werk und die Aufgabe eines einzelnen Volkes, sondern einer durch Schicksal und Geistigkeit eng miteinander verknüpften Völkergemeinschaft der christlidi-abend1

Gibbon (7he Autobiographies of E. G. 1896, S. 332) bezeugt, einer Anregung des Abbé de Mably (Manière d'écrire l'histoire, 1783, p. 110) darin gefolgt zu sein, der dazu geraten habe, nicht zu minutiös den Verfall des Ostreiches, dafür aber gründlicher die barbarischen Eroberer zu behandeln. Dann hätte Mablys höchst triviales Budi wenigstens dies Verdienst.

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ländischen Nationen sei. Das war der zweite, aus der weit zurückreichenden Wurzel des corpus christianum entsprungene Grundgedanke, der sie verband und in dieser oder jener Nuance - so etwa in Fergusons Essay on the history of civil society von 1767 - zum Gemeingut audi der Aufklärung gehörte1. Mannigfaltigkeit und Einheit zugleich dieser Völkergemeinschaft wurden, wie von Ranke, so audi schon von Gibbon freudig bemerkt. Von Ranke wurde dieser Gedanke später freilich viel wachstümlicher und inniger ausgeprägt, als es Gibbon mit den zerstückelnden Erkenntnismitteln der Aufklärung möglich war. Aber er stand ihm klar vor Augen (vor allem in den General observations on the fall of the Roman empire in the West hinter cap. 38), und er wurde ihm, nur freilich in sehr aufklärerischer Weise, zum Angelpunkte seiner weltgesdiiditlidien Konzeption überhaupt. Denn nun kam dabei ein Lieblingsdogma der Aufklärung, die einst von Shaftesbury schon vertretene, von Hume freilidi schon einmal eingeschränkte Lehre, daß liberty and letters, politische Freiheit und Kultur normalerweise zusammengehörten und daß Despotismus der Kultur schade, in Bewegung und führte ihn zu folgender Konstruktion: Wir sind heute, nur in viel größeren und, wie er meinte, audi gesidierteren Verhältnissen zurückgekehrt zu dem erfreulichen Zustand eines Nebeneinanders unabhängiger, aber auf gleichem Kulturniveau lebender und miteinander wetteifernder Staaten, von dem einst die große Kultur ausgegangen war. Die kleine Staatenfamilie Griechenlands mit ihrer happy mixture of union and independence wurde ihm also zum Prototyp des modernen Abendlandes (c. 53 Schluß, vgl. auch schon c. 2 Schluß und c. 3 Sdiluß). Mit dem römischen Kaiserreich aber wurde die Welt nicht nur zum Gefängnis für die Feinde des Alleinherrschers (c. 3 Sdiluß), sondern audi durch ein langsames und geheimes Gift allmählich von innen her, politisch wie sittlich und geistig, entkräftet. Dieses Gift wurde hineingetragen durch den langen Frieden und die einförmige Herrschaft; es verflachte den Geist der Menschen, erstickte das Feuer des Genius und ließ sogar den kriegerischen Geist verdunsten (c. 2 Schluß). Es schwingt in diesem bewegenden Urteil

1 L'Europe n'est plus qu'une nation composée de plusieurs, sagte Montesquieu (Monarchie universelle; Deux opuscules 1891, S. 36).

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schon etwas mit, was über das moralistische und mechanistische Denken der Aufklärung hinausgeht. Und doch gab er auch ihrem mechanistischen Zuge und dem Vorbilde Montesquieus ein andermal (in den General observations) nach, indem er die Ursachen des Verfalls vereinfachte zu einer unausweichbaren Naturgesetzlichkeit und die übermäßige Größe des Weltreichs schlechthin als das zwangsläufig wirkende Moment der allmählichen Zersetzung nannte1. Um so wunderbarer berührt nun dagegen sein berühmtes Wort, daß man auf die Frage nach der glücklichsten Periode des Menschengeschlechts ohne Zögern die Zeit der guten Kaiser zwischen dem Tode Domitians und dem Regierungsantritt des Commodus nennen würde (c. 3). Dieses Wort hatte also, was man oft vergißt, einen tragischen Hintergrund. Aber hat er ihn, hat er die von ihm angenommene Tatsache, daß höchstes Menschenglück in einer schon dem Untergange geweihten Kultur sich entfaltet hat, wirklich ganz tief und rein tragisch empfunden? Es offenbart sich in seinen Urteilen doch zugleich auch der Zwiespalt der Maßstäbe, mit denen der Aufklärer im späten ancien regime vor 1789 die politischen Schicksale der Völker beurteilte. Man schwärmte für Freiheit und kleine Staaten und war doch einverstanden mit den Segnungen eines aufgeklärten Despotismus im Großreich. Und weil man zugleich das geschichtliche Geschehen im einzelnen gern personalistisch und moralisch auffaßte, so erhielten die absolutistischen Volksbeglücker der Vergangenheit auch immer eine besondere Lobesnote. Aber die Inkohärenz im geschichtlichen Denken der Aufklärung zeigt sich auch hier wieder. Man urteilte am liebsten nach absoluten Normen, man kannte aber auch praktische Erfahrungen. Die absolute Norm empfahl die Freiheit, die praktische Erfahrung einen wohltätigen Absolutismus, wo dann die Tugend des Herrschers auch den Beifall der absoluten Norm 1 Er kann diesen vereinfachenden Gedanken zu Beginn des Werkes nodi nicht gehabt haben, wie die Worte in c. 2 (gegen Sdiluß) zeigen: Whatever evils either reason or declamation have imputed to extensive empire, the power of Rome was attended with some beneficial consequences to mankind (die dann geschildert werden). Vielleicht ist das Urteil der General observations außer durch Montesquieu audi durch Robertson beeinflußt, der im Eingang seiner großen Einleitung zur Geschichte Karls V. geschrieben hatte: The dominion of the Romans, like that of all great empires, degraded and debased the human species.

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ernten konnte1. Erst die individualisierende Betrachtungsweise des Historismus machte es möglich, die große Tragödie der sterbenden und dodi in ihrem Tode wieder neues Leben entbindenden Antike mit einheitlicher Lebens- und Schicksalsempfindung zu verstehen. Etwas von Schicksalsempfindung hatte freilich auch schon die Aufklärung. Wie sie um Montesquieus Römerbuch wehte, so auch um seines Schülers Gibbon großes Werk. Kein Zweifel, daß sie beide mit tiefer Ergriffenheit das Schauspiel sahen, das sie mit ihren kausalmechanischen und moralischen Begriffen zu erklären versuchten. Sobald aber Gibbon die Einzelheiten erzählt, verweht der Duft jener Schicksalsahnung vor der moralisierenden und zensurierenden Beurteilung der handelnden Menschen. In seinen in Lausanne verlebten Jugend jähren hatte Gibbon den französischen Geschmack in sich eingesogen, hatte Voltaire selbst auf dem Theater spielen gesehen. Wieder und wieder wird man nun auch in seinem Gesdiiditswerke an die theatralischen Szenen eines klassizistischen Schauspiels erinnert, und der rhetorische Glanz der Diktion, so gestrafft sie auch ist, ermüdet dodi zuweilen. Und kalt, ja eisig wird die Luft, wo eine innerste Abneigung ihm die Feder führt, wo der Zusammenstoß von Heidentum und Christentum und das Eindringen des Christentums in den schon morsch gewordenen Körper des Reiches dargestellt wird. Es ist nicht richtig, daß er in erster Linie dem Christentum die Schuld am Verfall des Reiches zuschreibe2, denn das »langsame und geheime Gift« sah er schon lange vorher in seinen 1 Über ein 1777 in Paris geführtes charakteristisches Streitgespräch zwischen Gibbon und dem Abbé de Mably, wo dieser hitzig für die Republik eintrat und jener die Sache der Monarchie verteidigte, vgl. The Autobiographies of E. Gibbon, S. 314. Dort audi S. 342 scharfe, 1791 geschriebene Worte über die Französische Revolution und Zustimmung zu Burkes Reflections, die er freilich nur in ihrer praktischen Spitze, nicht in ihrer tieferen geistigen Begründung verstehen konnte. ! Dies gegen Bury in der Einleitung zu seiner Ausgabe Gibbons. S. X X X V I I I ; Rehm, Untergang Roms im abendländischen Denken, S. 125, und McCloy, Gibbons Antagonism to Christianity, 1933, S. 13 und S. 50. Richtig dagegen über Gibbons Meinung Black, The Art of History, 1926, S. 170 f f . , und Trude Benz, Die Anthropologie in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (1932), S. 71 f. Auch das Zeugnis einer seiner Selbstbiographien (As I believed and as l still believe, that the propagation of the gospel and triumph of the churdi

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Eingeweiden wirken. Wohl aber beschleunigte nach seiner Meinung die Bekehrung Constantins den Verfall. (General observations.) Mit unverdrossenem Fleiße, in viel ernsterem Ringen mit den Dingen als Voltaire, aber audi mit erbarmungsloser Härte ging er den Auswirkungen des Christentums in der Geschichte von früh an bis zum Wiedererwachen von Vernunft und Wissenschaft im 15. Jahrhundert nach, nicht als einer Entwicklung lebendiger individueller Kräfte, sondern als einem wie mit Zahnrädern ineinandergreifenden Spiele bestimmter menschlicher Triebe, Leidenschaften, Überlegungen und Kunstgriffe. Dabei aber läßt die Gründlichkeit, mit der er gerade die dogmatischen Streitigkeiten behandelte, uns aufhorchen. Der Theologe Robertson hatte, als er die Geschichte Karls V. schrieb, gemeint, das dogmatische Detail der Reformationszeit den Kirchenhistorikern überlassen zu können. Voltaire hatte zwar im Siècle de Louis XIV die theologischen Kämpfe dieser Zeit mit Unlust, da sie der menschlichen Vernunft zur Schande gereichten, oberflächlich behandelt. Aber den Aufklärern, wenn sie Geschichte schreiben, lag es in der Regel nicht, sich mit diesen innerlich ihnen fremd gewordenen Dingen eingehender zu befassen. Was war der Grund, weshalb der ganz unreligiöse Gibbon diese Erweiterung, die schon so etwas wie geistesgeschichtliche Unterbauung allgemeiner Geschichte anmuten könnte, vorgenommen hat? Ein ihm und dem Geiste des 18. Jahrhunderts in mancher Hinsicht wahlverwandter Kritiker des 19. Jahrhunderts, der bedeutende jüdische Philologe Jacob Bernays, hat es in seinen spitzig geistreichen, aber von Sachkenntnis gesättigten Bemerkungen über Gibbon (Gesammelte Abhandlungen 1885, S. 215) erraten. Gibbon hatte in unreifen Jugend jähren sich 1753 verleiten lassen, zur katholischen Kirche überzutreten, um dann, vom Vater nach Lausanne verpflanzt, das Jahr darauf schon wieder zum Protestantismus zurückzukehren. Beide Male scheint es ein mehr intellektualistisch als religiös motivierter Vorgang gewesen zu sein. Aber ein starkes Erlebnis war es, und es zitterte nach in dem Interesse, das der Geschichtsschreiber nunmehr den Dogmen der Kirche widmete. Eine solche Vertiefung in sie, are inseparably connected with the decline of the Roman Monarchy; The Autobiographies of E. Gibbon, S. 285) widerspricht unserer Auffassung nicht.

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bemerkt Bernays treffend, »mutet sidi nur die nach Erhitzung abgekühlte, nicht die von Haus kalte Indifferenz zu«. Es gab ein Gebiet geschichtlicher Entwicklung, auf dem schon Montesquieu über die Schranken pragmatistisdben Erklärens hinausgegangen war, als er die Geschichte der Patrimonialjustiz als langsame Umbildung einstiger Rechtsinstitute darstellte. Das Rechtsleben war eine Sphäre, die auch der Intellektualismus der Aufklärung schon in gewissem Grade genetisch zu behandeln vermochte, weil hier das geschichtliche Tun des einzelnen zurücktrat. So hat denn das 44. Kapitel des Gibbonschen Werkes, das die Geschichte der römischen Jurisprudenz von Romulus bis zu Justinian behandelte, die Bewunderung großer Juristen audi des 19. Jahrhunderts gefunden. Aber ganz frei von moralisierendem Pragmatismus blieb es keineswegs. Und so meisterhaft es in sich gefügt war, so mangelte ihm dodi, wie man mit Redit bemerkt hat, die innere Verbindung mit den übrigen Teilen des Werkes 1 . Und überhaupt fehlte es den gewaltigen Stoffmassen von anderthalb Jahrtausenden, die er mit bewunderungswürdiger Kunst formte, durch die Auswahl und Abgrenzung, die er ihnen gab, etwas an jener inneren Einheit, durch die sie zu einer großen historischen Gesamtindividualität werden. Das Schicksal Ostroms mußte zwar mit Fug und Recht bis zum Falle Konstantinopels durchgeführt werden, und die Einbeziehung aller Völker, die mit ihm verflochten waren, stellte, wie wir sagten, einen universalhistorischen Fortschritt dar. Aber die weiteren Schicksale Roms und Italiens gehörten nicht mehr in eine Verfallsgesdiidite 1 Ritter, Entwicklung der Geschichtswissenschaft, S. 302. Vgl. audi die wertvollen Bemerkungen über Gibbon bei K. J . Neumann, Entwicklung und Aufgaben der alten Geschichte, 1910, S. 90ff. Ringelings Rostodcer Dissertation 1915 »Pragmatismus in Edw. Gibbons Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Reiches« deutet viel zuviel moderne Gedanken in ihn hinein. Gibbons Auffassung des Mittelalters wird eindringend behandelt von Falco, La polemica sul medio evo I, 1933. Auch er betont S. 196, wie wir, die Inkohärenz der Konstruktion; überschätzt dann S. 254 f. die Ansätze zu antipragmatistisdien Auffassungen bei G., um schließlich S. 264 dodi zu urteilen: L'opera è irrimediabilmente statica. Eine Jugendarbeit Diltheys über Gibbon (Westermanns Monatshefte 21, 135 ff., 1867, unter dem Pseudonym W . H offner veröffentlicht) wird um des Verfassers willen noch heute Anteil erregen. Aber sie gibt mehr ein Lebensbild Gibbons, als eine kritische Würdigung seines Werkes und behandelt dieses noch etwas panegyrisch.

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des Römerreidis und wurden überdies unorganisch abgebrochen mit dem Ausgang des Mittelalters. Ein sentimentales Gefühl, wie es die erste Konzeption des Werkes schon hervorgerufen hatte, schuf künstlich einen Absdiluß durch die letzten der Stadt Rom, dem Abenteuer Rienzos, dem Papsttum und schließlich den Ruinen des alten Rom gewidmeten Kapitel. Eigentlich kam auch in diesen Kapiteln die ursprüngliche Konzeption des Werkes im Jahre 1764, die auf den Verfall der Stadt Rom, nicht des römischen Reiches gegangen war, wieder zum Durchbruch. (Vgl. The Autobiographies

of E. G. S. 270, 302 und

405.)

Sentimentalität und Geistesstärke vereint schufen das Werk, nicht seelische Tiefe. Die Sentimentalität war auch nur die Trauer über den Untergang von Aufklärungswerten, gemildert durch das Glücksgefühl der Gegenwart. Der Typus des vornehmen englischen Gesdimadcsmenschen schlug in ihm wieder durch. Shaftesbury hatte einst diesen Typus zu beseelen und zu vertiefen vermocht. Bei Gibbon führte er zu einem genießenden Intellektualismus von höchster Kraft und unbedingter Selbstsicherheit. Wer die gespannte geistige Energie, aber auch die Selbstzufriedenheit und das Sicherheitsgefühl Gibbons ganz kennenlernen will, muß zu seinen autobiographischen Aufzeichnungen greifen. Einmal kam ihm da bei der Rückschau auf sein Lebenswerk inmitten des Vernunftstolzes wohl der Zweifel an, ob er nicht doch einige Blumen der Phantasie, einige anmutige Irrtümer mit dem Unkraut des Vorurteils in sich ausgerottet habe (S. 344). Es war eine ganz leise Berührung mit Strömungen, die seine Zeitgenossen bereits zu bewegen anfingen, ein ganz leises Zeichen, daß die Aufklärung ihre Grenzen zu ahnen begann.

III. R O B E R T S O N

Blicken wir, indem wir uns dem dritten der drei großen britischen Aufklärungshistoriker, William Robertson (1721 bis 1793), zuwenden, noch einmal zurück auf die besondere Art, wie die universalhistorische Tendenz, der Ruhmestitel der Aufklärung, sich jeweilig verschieden bei Hume und Gibbon ausgewirkt hat. Humes Interesse umfaßte wohl die ganze Menschheit in ihrem Aufstiege von Barbarei zur Zivilisation, packte

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von hier aus die Religionsgesdiidite an, vermochte aber in seiner »Englischen Geschichte«, trotz des audi ihr zugrunde liegenden universalen Interesses, ihre universale Verwebung in die allgemeine abendländische Geschichte nur unvollkommen auszudrücken; er erforschte auch zu wenig von dieser. Gibbon umfaßte universal die gesamte in das Sdiicksal Roms verflochtene Völkerwelt, vermochte aber mit seinen Erkenntnismitteln dem Ganzen, was er darstellte, eine volle innere Einheit nicht zu geben. In Robertsons Geschichtsschreibung vollzieht sich nun, obgleich auch sie über die aufklärerischen Erkenntnismittel und Wertmaßstäbe kaum hinausgelangte und in geistiger Gesamtkraft hinter Hume wie Gibbon zurücksteht, dodi ein gewisser Fortschritt des universalhistorischen Verfahrens. Wir handeln deswegen erst jetzt von ihr, obgleich sie zeitlich dem Auftreten Gibbons vorangeht. Seine History of Scotland erschien 1759 (2 Bde.), kurz nach den ersten Teilen des Humeschen Werks und fand im Lande die wärmste Aufnahme 1 . In Europa wurde sein Ruhm begründet durch sein größtes Werk, die History of the Reign of the Emperor Charles the Fifth, 1769 (3 Bde.); sein letztes größeres Geschichtswerk (von einer Altersarbeit über die Kenntnisse der Alten von Indien, 1791, abgesehen) war die History of America, die in ihrer ersten Form 17772 (2 Bde.) erschien. Alle drei Werke haben eine bestimmte universalhistorische Ader und sind Leistungen eines geborenen historischen Talents, dem zwar die Genialität fehlte, aber nicht die vornehme Achtung vor den Erscheinungen einer bewegten Welt und selbst, soweit er sie fassen konnte, ihrer Eigenart, auf der die echte historische Objektivität beruht. Diesen Respekt vor den Tatsachen und die Gewissenhaftigkeit seiner, auch in die Archive schon eindringenden Forschung haben ihm das Lob eingetragen, daß er der most impeccable historian des 18. Jahrhunderts gewesen sei (Black, The Art of History S. 122)'. Der Entwicklungs1

Vgl. B. Pier, W. Robertson als Historiker und Gesdiiditsphilosoph. Diss. Münster 1929. 1 Aus seinem Nachlasse wurden später nodi Abschnitte über Virginien und Neuengland hinzugefügt. Wir benutzten die dreibändige Ausgabe von 1790. ' Daß seine kritische Quellenbenutzung neben manchen Treffern audi viele Fehlgriffe aufweist, hat Pier a. a. O. gezeigt.

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Fünftes Kapitel

gang seines universalhistorischen Sinnes in den drei Werken aber zeigt eine organische Stufenfolge, indem er zuerst die schottische Heimat, nicht isoliert, sondern in ihrer europäischen Einbettung, dann europäische Geschichte schlechthin und schließlich die neue Welt in ihrem eigenen ursprünglichen Befunde wie in ihrer Gestaltung durch die Mächte der Alten Welt darzustellen unternahm. Ein weiterer organischer Zugseiner Geschichtsschreibung ist der, daß alle drei Werke in der Hauptsache dem 16. Jahrhundert gewidmet sind und so ein universalhistorisches Zeitalter erster Ordnung von den verschiedensten Seiten her zu durchdringen versuchen. Voltaires Anregungen in seiner »Generalidee des 16. Jahrhunderts«, dem Kapitel 118 seines Essai trugen hier Frucht. Der Grund seines intensiven Interesses an ihm aber war noch ausschließlich aufklärerischer Natur. Es war die Zeit, heißt es in der »Schottischen Geschichte«, wo die Welt aus ihrer Lethargie erwachte, der menschliche Geist seine eigene Kraft fühlte und die Fesseln der Autorität zerbrach. Er faßte diesen Hergang rein als Vervollkommnungsprozeß, als improvement of the human mind, auf, sah wohl in der Reformation Luthers eines der größten Ereignisse der Menschheitsgeschichte, aber würdigte sie, - übrigens mit größerer Wärme und Mitgefühl als Hume, durchaus nur rationalistisch als Durdibrudi zu freierem und vernünftigerem Denken über Gott. Die religiösen Probleme als solche zogen ihn nicht tiefer an; er begnügte sich für seinen historischen Hausgebrauch mit einem milden, Aufklärung und Christentum sanft, aber unorganisch verbindenden Glauben an eine die Weltgeschichte lenkende, auch bei großen Wendungen zu spürende und zum Fortschritt hinführende Vorsehung und erklärte, enger wieder als Gibbon darin verfahrend, die dogmatischen Fragen den Kirchenhistorikern überlassen zu können. Kannte er überhaupt »Probleme« im echten und tiefen Sinne des Wortes? Jede Frage, die er stellte, untersuchte er wohl mit gründlichem Ernste, wußte sie dann aber so befriedigend und plausibel, so anmutig eine Ursache mit der anderen verknüpfend zu beantworten, daß kein Rätsel übrigblieb und alles sich harmonisch zum Stufenbau des Fortschritts fügte. In diesem Sinne ist schon die Einleitung zur Schottischen Geschichte des 16. J a h r hunderts angelegt, vor allem aber die berühmte, in ihrer Art

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meisterhafte Einleitung zur Geschichte Karls V. mit ihrem Rückblick auf das dunkle und allmählich sich aufhellende Mittelalter. Es hört sich hier alles wunderschön an, wie es immer besser und besser wurde in Europa. Dabei konnte er den positiven Wirkungen der Kreuzzüge und des Rittertums viel gerechter werden, als es nach ihm der skeptischere Gibbon vermochte. Lange Entwicklungsreihen in Staat, Verfassung, Recht, Handel, Gesellschaft und Kultur wurden mit großer Kunst aufs angenehmste stilisiert. Die kausale Bedeutung der Institutionen für das Gesamtleben wurde kräftig und sogar übertreibend herausgearbeitet, wobei dann auch der pragmatistische Hang zuweilen sich geltend machte, unbewußt vollzogene Umwandlungen zu bewußt gewollten umzudeuten. Echt aufklärerisch war es audi, in Wissenschaft und Handel die stärksten Hebel des Fortschritts zu erblicken. Die Fähigkeit Robertsons, große Linien zu ziehen und durch repräsentatives Detail zu beleuchten, ist um so höher zu achten, als sie auf großem Wissen und Stoffbeherrschung beruht. Der Fortschritt über Voltaire mit seinem geringeren Wissen und größerer Kühnheit ist unverkennbar. Und es gelang ihm dann auch besser, als es Voltaire und selbst Hume gelungen war, die breite Darstellung politisch-militärischer Machtkämpfe sachlich zu rechtfertigen. Indem er nämlich die regulierten Kabinettskriege und die vernünftig sich begrenzende Interessenpolitik seiner Zeit mit der wilden und maßlosen Kriegführung früherer Zeiten verglich, ging es ihm auf, daß durch die Ausbildung eines europäischen, stetig im Gleichgewicht sich haltenden Staatensystems ein Fortschritt der Menschheit erreicht worden sei wie nie zuvor. Diese audi den Machtkampf rationalisierende Gleidhgewichtspolitik war ihm das Great secret of modern politics (Hist, of Scotland). Wir bemerkten bei Gibbon ein verwandtes Gefühl für die Kulturbedeutung des neueren europäischen Staatensystems und damit eine Brücke, die zu Ranke hinüberführt. In der Ausbildung der kulturfördernden Gleichgewichtspolitik sah Robertson die universalhistorische Bedeutung des Machtkampfes zwischen KarlV. und Franz. I. Dessen Darstellung selbst, wesentlich auf die erzählenden Werke der Renaissancehistorie gestützt, zeigte dann freilich kaum etwas von der Kunst der großen Linie, die in der Einleitung sich entfaltet hatte. Sie ging mit beengtem Horizont von Aktion zu Aktion, unterschied säuberlich jeweilig reale In-

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Fünftes Kapitel

teressen und Leidenschaften als Motive des Handelns, aber ermangelte der großen ideellen Zusammenhänge. Das allgemeine improvement der Menschheit konnte er als Aufklärer zu einem künstlerischen Schauspiel gestalten, aber die Stunde zur vollen Belebung der politischen Historie war nodi nicht gekommen. Nur die »Sdiottisdie Geschichte" sdilug in der Darstellung der Machtkämpfe schon etwas lebendigere und individuellere Töne an. Der Herzensanteil des Schotten an dem Schicksal seiner Heimat weckte sie. Ihn bewegte das Schauspiel, wie sie, die im Mittelalter der isolierte Kampfplatz des wilden Feudalismus und der Adelsherrschaft gewesen war, im 16. Jahrhundert durch die Verwebung mit dem Schicksal Englands und darüber hinaus mit dem neuen europäischen Staatensystem sich wandelte und ihrem Endschicksal der Verschmelzung mit England entgegenreifte. Nicht ohne Wehmut erörterte er am Schlüsse die Möglichkeit, daß bei einem weiteren Sonderdasein auch die schottische Sprache, ähnlich wie es einst in der Vielfalt griechischer Dialekte geschehen war, zu besonderer Schönheit hätte erblühen können. Aber dem Zwitterdasein des 17. Jahrhunderts zog er entschlossen die Einswerdung zu einem britischen Volke als heilsam sowohl für die Freiheit wie für den Genius der Nation vor. Die leise, romantische Regung, die ihn schon berührte, drängte er also sofort zurück. Sein deutlich wahrnehmbares Bemühen, neben den allgemeinen und einfachen Gesetzlichkeiten im Fortschritt der Menschheit auch das Besondere der jeweiligen historischen Erscheinung genau zu erfassen, gab ihm wohl die Warnung ein, die Vorstellungen der Gegenwart nicht auf die Vergangenheit zu übertragen. Aber diese Warnung hatten auch schon Voltaire und Montesquieu ausgesprochen, und er bildete nur die kausale Methode Montesquieus mit gesteigerten Ansprüchen an genaue Einzelforschung und gewachsenem Sinne für die Vielfältigkeit der jeweils zusammenwirkenden Ursachen weiter. »Die Leidenschaft dieses großen Mannes für das System machte ihn zuweilen unachtsam in der Forschung«, heißt es ganz richtig in der History of America (3, 379). Von der Einseitigkeit seiner Klimalehre also hielt er sich frei, zeigte Sinn für geographische Bedingtheiten und forschte vor allem, wie schon Voltaire, nach moralischen und politischen Ursachen und ihren besonderen Konstellationen. Erforsdiungswert aber war und blieb ihm die Ver-

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gangenheit nicht wegen irgendwelcher Eigenwerte, sondern nur als Erkenntnismaterial für die Entstehung der modernen Zivilisation und für die Vervollkommnung der Gattung Mensch. Rein kausal also, nicht werthaft war sein Verhältnis zur Vergangenheit grundsätzlich bestimmt. Wenigstens waren die Werte der Vergangenheit, die er anerkannte, nur Annäherungswerte der sich allmählich reinigenden Vernunft. Nur gleichsam akzessorisch konnte in der »Schottischen Gesdiichte« das Gemüt mitschwingen. Völlig unromantisch sah er auf die ältere Vergangenheit seines eigenen Volkes. Man sollte, meinte er im Eingang, die älteste Periode als ganz fabelhaft entweder völlig vernachlässigen oder der Leichtgläubigkeit der Antiquare überlassen. Nationen wie Menschen kämen durch Stufen zur Reife, und was in ihrer Kindheit oder frühen Jugend passiere, könne und verdiene audi nicht, ins Gedächtnis zurückgerufen zu werden. Dennoch hat er diesen Grundsatz später durchbrochen, als er in der »Gesdiichte Amerikas« die primitive Lebensstufe der Indianer und die etwas höhere Stufe der Halbkulturvölker Mexikos und Perus sorgfältig auf Grund aller damals zugänglichen Quellen analysierte. Hier wurde er nicht schon durch die Fabelhaftigkeit der Überlieferung abgeschreckt. Hier lockte vielmehr die Aufgabe, an einem zuverlässigen Material die untersten Stufen des großen menschlichen Vervollkommnungsprozesses zu zeigen. Rousseaus These von der Idealität des Naturzustandes hatte die Geister der Aufklärung zur Opposition gereizt. Voltaire war vorangegangen, der Schweizer Iselin hatte 1764 schon viel völkerkundliches Material gegen Rousseau zusammengetragen, ohne das Problem zu vertiefen. Feiner als er hatte dann Ferguson 1767 die Stufen der primitiven Kulturen untersucht. In diese Reihe trat nun Robertson, ebenfalls mit nüchterner Ablehnung Rousseaus. Allem Besonderen, was er vorfand, ging er audi hier wieder aufmerksam nadi, aber der Grundgedanke, der ihn leitete, war, daß alle Besonderheiten der amerikanischen Urbevölkerung nur sekundär seien gegenüber den allgemein menschlichen, für alle Völker gültigen Typen, die sie darstellten. Er bestritt es, daß man aus der Ähnlichkeit gewisser altgermanischer und indianischer Sitten, wie man versucht hatte, auf Verwandtschaft und gleichen Ursprung dieser Völker schließen könne, erklärte diese Ähnlichkeit vielmehr aus den Wirkungen der16

Meinedte, Historismus

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Fünftes Kapitel

selben Lebensweise und Kulturstufe. »Ein Stamm von Wilden an den Ufern der Donau muß nahezu einem soldien auf den Ebenen, die der Mississippi bewässert, gleichen« (History of Am. 1, 26; vgl. audi Hist. of... Charles V., Note 6 zu Sect. 1). Von derselben Meinung war audi Fergusons Analyse der Naturvölker schon ausgegangen. Ihre Thesen dürfen als Fortschritt über bisheriges wildes und kritikloses Spekulieren hinaus, wie es selbst nodi Lafìtau mit seiner Stammbaumhypothese geübt hatte, gelten. Sie waren, ebenso wie die verwandte religionsgeschichtliche Lehre Humes, bahnbrechend für eine vergleichende Wissenschaft von den Kulturstufen. Man steht wieder, wie bei Hume, vor den Anfängen positivistischer, lediglich auf Entwicklung von Typen gerichteter Geschichtsbetrachtung. Aber der nachwirkende Geist des Naturrechts zeigte sich freilich in der Annahme Robertsons, daß die gleichartige Natur des Menschen sich in der Gleichartigkeit seiner Vervollkommnungsstufen auspräge. »Der menschliche Geist hält dieselbe Bahn ein in der Neuen wie in der Alten Welt« (Hist, of Am. 3, 171). »Ein menschliches Wesen, wie es ursprünglich aus der Hand der Natur kommt, ist überall dasselbe«, möge es unter den wildesten Wilden oder in der zivilisiertesten Nation aufwachsen. Die Fähigkeit zum improvement scheine dieselbe zu sein, und die Talente und Tugenden, zu denen man es bringe, hingen in hohem Maße von dem jeweiligen Zustande der Gesellschaft ab (Hist, of Am. 2,188). So sah er denn zum Beispiel audi in der Feudalverfassung des alten Mexiko ein genaues Seitenstück zu dem Feudalismus des mittelalterlichen Europa. Derartige Vergleiche konnten nur dann fruchtbar ausfallen, wenn der neue Sinn für Typen, der hier aus dem englischen Empirismus erwuchs, mit einem neuen lebendigeren Sinne für das Individuelle sich verband. Dieser fehlte ihm, und die gewissenhafte Beschreibung der Besonderheiten allein konnte ihn nicht ersetzen. Aber er fehlte nicht dem englischen Geistesleben des 18. Jahrhunderts überhaupt. Ein höchst denkwürdiges Schauspiel soll nun gezeigt werden.

SECHSTES

KAPITEL

Die englische Präromantik, Ferguson und Burke I. D I E E N G L I S C H E

PRÄROMANTIK

Es gehört zum innersten Wesen geschichtlicher Entwidklung, daß sie immer nur möglich wird durch Polarität, durch eine nie aufhörende Spannung entgegengesetzter Tendenzen. Große geistige Bewegungen, wenn sie neu aufsteigen, sidi durchsetzen und das Leben beherrschen, scheinen zwar oft einen absoluten, alles ihnen Entgegengesetzte wenigstens zeitweise niederzwingenden Charakter anzunehmen. In Wahrheit, wenn man genau hinschaut, ist nidit selten sdion von Anfang an in, neben und hinter ihnen irgendeine Kraft von anderer Art und Richtung spürbar, die über sie hinüberschaut in eine fernere Zukunft, mit der zunächst siegenden Bewegimg zwar oft noch in enger vitaler Gemeinschaft steht, aber sie dermaleinst abzulösen berufen ist um dann wiederum demselben Hergang von Aufstieg und Zersetzung zugleich verfallen. „Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung." Vom Charakter des Betrachtenden hängt es ab, ob dieses überwältigende Schauspiel Sinn oder Sinnlosigkeit der Geschichte, Welttrost oder Weltverzweiflung bedeutet, ob es schlaffen Relativismus oder gläubige Hingabe an eine Idee trotz ihres drohenden Unterganges hervorbringt. Dieser Glaube darf sich, um von anderem zu schweigen, auch schon darauf verlassen, daß auch das Untergehende in dieser Dialektik der Entwicklung niemals ganz untergeht, sondern »aufgehoben« weiterwirkt. Das 18. Jahrhundert ist eines der größten Beispiele für den Hergang, daß eine neue geistige Macht für eine gewisse Zeitdauer anscheinend absolut siegt, aber vom Beginn ihres Siegeszuges an schon von einer gegenwirkenden Tendenz begleitet wird, die sie später dann ablöst. Das Jahrhundert der Aufklärung und des Rationalismus ist niemals nur dieses allein gewesen, sondern hat in seinem Schöße bereits von vorneherein

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Sechstes Kapitel

die Keime enthalten, die als Romantik, als Irrationalismus und Historismus im 19. Jahrhundert aufgingen. Allenthalben in Europa kann man dies beobachten, für Frankreich taten wir es schon, und für die allgemeine Literaturgeschichte hat es ein Franzose, Paul van Tieghem, mit glücklichem Griffe, wenn audi in der Ausführung nicht voll befriedigend, bereits gezeigt in seinem Buche Le Préromantisme,

Etudes

d'histoire

littéraire

européenne (2 Bde., Paris 1924). Polarität aber bestimmt nidit nur die Entwicklung des abendländischen Geisteslebens im großen, sondern auch das Leben der einzelnen Völker in sidi. Jedes Volk birgt in sich Polaritäten seines Charakters, gegensätzliche Tendenzen, die oft in derselben Brust zusammenleben, gleichsam auf- und niedergehende Schalen einer und derselben Waage. Der Ruf der Zeit, eine gemeinhin aus den großen Gegensätzen des abendländischen Gesamtlebens erwachsende Konstellation läßt sie auf- und niedergehen. Edit englisch war es, daß der Aufklärungsgeist, der den Gegenschlag gegen das Zeitalter der Religionskriege führte, durdi Locke, Hume und andere die Form des Empirismus und Sensualismus annahm. Ebenso edit englisch war es audi, daß der Gegenpol zum common sense des englisdien Nationalcharakters, ein Etwas, das wir ganz summarisch als romantisch-ästhetisdies Bedürfnis bezeichnen wollen, unter dem Siegeszuge des Aufklärungsgeistes nicht einfach erstarb, sondern weiterleben und seine Ansprüche allmählich wieder anmelden konnte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, also sogar nodi vor dem Höhepunkt der englisdien Aufklärung, zeigte sich uns in Shaftesbury eine erste große Regung dieser Art, eng verwachsen dabei zugleich mit ihrem Gegenpol der Aufklärung. Umgekehrt war audi schon in Pope, dem klassischen Dichter des englischen Aufklärungsgesdimacks, der romantisdi-ästhetisdie Gegenpol nicht ganz tot. Audi in seinem Geiste, hat man gesagt, war Raum für Zweifel, Mysterium und Unendlichkeit1. Shakespeare wurde zwar von den Aufklärern wegen seiner Verstöße gegen den guten Geschmack hart angefahren, aber zugleich auch ständig bewundert. Er war und 1 Crane Brintoii, 7'he political ideas of the English romanticists (1926), S. 11. Phelps, The beginning of the English romantic movement (1899), zitiert S. 18 aus dem Briefe Popes von 1716 den Satz: The more 1 examine my own mind, the more romantic I find myself.

Englische Präromantik

245

blieb der englische Nationaldichter, der allem, was über den englischen common sense hinaus extravagierte, den gewaltigsten Ausdrude gab. Er allein sdion hielt diesen Gegenpol gegen die Aufklärung in Leben. Freilich nur eben in einem halbwachen Leben. So ist es für den Charakter der Bewegung, die wir darzustellen haben, entscheidend geworden, daß sie trotz mancher Vertiefungen, von einer großen fast singulären, am Schlüsse von uns darzustellenden Erscheinung abgesehen, in den Grenzen einer Geschmacksbewegung gebildeter und feinfühliger Menschen blieb. Es wäre zwar möglich gewesen, den Weg Shaftesburys weiterzugehen, der wohl auch ein Geschmacksmensch erster Ordnung gewesen war, aber nicht nur zu genießen, sondern das Genossene aus metaphysischen Tiefen und mit weltanschaulichem, ja religiösem Schwünge zu verstehen vermocht hatte. Englischer Art aber war etwas anderes angemessener, nämlich ganz untheoretisch, aber mit instinktiver Sicherheit neue Regungen des Lebens zu befriedigen und alles sie Hemmende leicht beiseite zu schieben, ohne es von Grund aus zu bekämpfen. Was an Fähigkeit und Trieb zu radikalen geistigen Revolutionen trotzdem im englischen Wesen lag, hatte sich im 17. Jahrhundert auf lange Zeit hinaus ausgegeben. Was aus ihnen hervorgegangen war, der ausgekühlte Deismus und Intellektualismus der Aufklärung mit seiner Tendenz auf klare und einfache Gesetzmäßigkeiten, befriedigte nicht, wie er nun nackter hervortrat, das empfindende Gemüt - , befriedigte audi nicht einmal das Bedürfnis des bloßen Geschmackes nach reizvoller Mannigfaltigkeit. Schritt für Schritt schufen sich Geschmack und Gefühl nun, ohne deswegen der Aufklärung untreu zu werden, ihre eigenen Ausdrucksformen, mit herzlichem Behagen an der neuen kleinen Welt, die so entstand, ohne Ahnung, daß diese neue kleine Welt in eine neue geistige Welt des Abendlandes hinüberführen werde. Hier konnte auch Shaftesbury mit seiner ursprünglichen Begeisterung für die Schönheit der frei aus sidi schaffenden Natur auf seine Landsleute einmal unmittelbar einwirken. Er, Addison und Pope sprachen die Gedanken aus, die dann in den englischen Gärten seit 1720 etwa verwirklicht wurden 1 . Der normative Geist 1 Marie Luise Gothein, Gesch. der Gartenkunst, Ausgabe 1926, 2, 367ff.

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Sechstes Kapitel

der französisch-italienischen Gartenkunst wich der Freude an den ungezwungen entstehenden, sei es milden, sei es wilden Reizen der Natur. Man mag dabei inne werden, daß es Wurzelfäden dieser Empfindung schon im 17. Jahrhundert in der Schäferpoesie und der Kunst Ruysdaels, Salvator Rosas und anderer gegeben hat. In dieselbe Zeit wie die ersten englischen Gärten fallen auch die ersten Regungen in der Literatur, die man als romantizistisch bezeichnet hat 1 . In der Architektur* war nun wohl gerade die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts die Zeit, in der die Formen der Renaissance sich derart durchgesetzt hatten, daß eine Pause, ein Leerraum in der Fortentwicklung des heimischen gotischen Stils eintrat. Nodi das 17. Jahrhundert hindurch hatte man, obgleich für öffentliche Bauten schon weithin die Normen Palladios gesiegt hatten, doch nebenher in Privatbauten und in der hodikirdilich-traditionalistisdi gestimmten Universitätsstadt Oxford bei Neubauten von Colleges den altgewohnten gotischen Stil angewandt. Es hatte audi im 17. Jahrhundert eine kleine Schule von Antiquaren gegeben, die weniger aus Liebe für den gotischen Stil, als weil es sich um Altes handelte, das Interesse an ihm lebendig erhielten. Auch in der Reihe dieser Antiquare entstand gegen Mitte des 18. Jahrhunderts eine Lücke. Der Aufklärungsgeschmack, dem alles Gotische Symbol mittelalterlicher Barbarei war, schien auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Aber ein reisender junger Engländer, Thomas Gray, konnte schon um 1740 die Kathedrale von Reims bewundern und in Italien Stimmungen von romantischer Farbe in sich aufkommen lassen. Gray war einer jener Menschen, die in Übergangszeiten wichtig werden können nicht als produktive Schriftsteller, aber als lebendige Mittelpunkte von Freundeskreisen, die eine einmal ergriffene Tendenz weiter und weiter treiben. Sein damaliger Reisegefährte Horace Walpole, der geistreich-fahrige Sohn Ro1 Phelps a. a. O. und Henry A. Beers. A History of English romanticism in the 18. century, 1899. 1 Das altere Werk von Eastlake, A History of the Gothic Revival 1872 ist überholt worden durch Kenneth Clark, The Gothic Revival 1928, und durch die auch auf England zurückgreifende Arbeit von Alfred Neumeyer, Die Erwedcung der Gotik in der deutschen Kunst des späten 18. Jahrhunderts, Repert. f. Kunstwissenschaft Bd. 49 (1928). Beide Werke fundieren ihr Thema auch geistesgeschichtlich.

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bert Walpoles, erregte plötzlich die Aufmerksamkeit, als er seit 1750 sein Landhaus in Strawberry Hill nahe Windsor nach und nach im gotischen Geschmack um- und ausbaute zu einem wunderlidien, aber pittoresken Komplex von Gebäuden. Rokokogotik hat man es genannt. Sie war durch und durch wild eklektisch und unecht empfunden - in der Halle saß man etwa an Altartisdien u. ä. Und ebenso wild und mittelalterlich-unecht fiel auch Horace Walpoles berühmter Roman »Das Schloß von Otranto« 1765 aus. Er war gefüllt mit den Attrappen mittelalterlicher Schauerromantik, aber er eröffnete die Reihe, die in den vergangenheitsfrohen Romanen Walter Scotts dann gipfeln sollte. Für Horace Walpole war das alles, wie man richtig gesagt hat, Sport, nicht tieferes Lebensbedürfnis. Denn im übrigen blieb er der polierte und aufgeklärte Mann des 18. Jahrhunderts. Daß er aber bald Nachfolger fand, zeigt, daß ein glücklicher Instinkt für eine sich vollziehende Wandlung im geistigen Leben ihn geleitet hatte. Man darf dabei vielleicht unterscheiden das mitspielende Element von Spleen, von Sammeleifer für das Absonderliche, auch Exotische, den schon Shaftesbury bei seinen Landsleuten bemerkt hatte, und den edit englischen Traditionalismus, der, umgeben von den ragenden Zeugen der Vergangenheit, auch im Rechts- und Staatsleben überall vergangene Formen pietätvoll konservierte, auch wenn die Köpfe dabei mit Aufklärungsgedanken gefüllt waren. Die großartige Kontinuität der englisdien Entwicklung, die sich auch in den Äußerlichkeiten symbolisierte, wurde so der Nährboden eines traditionalistisdien Geschichtsgefühls, das unbewußt immer schon da war, zum Bewußtsein aber bezeichnenderweise gerade nach dem kurzen Augenblicke erwachte, wo der Aufklärungsgeschmack anscheinend auf der ganzen Linie gesiegt hatte. Die Dinge müssen sich im Leben immer ganz auswirken, um den Gegenpol in volle Aktion zu bringen. Die Aufklärung erwies sich hier, wie allenthalben, als das unentbehrliche starke Reizmittel zur Weckung entgegengesetzter Kräfte. Es war das Auge des konkret gerichteten Engländers, das zuerst nach neuer Weide suchte und in den englischen Gärten und gotischen Gebäuden sie fand. Überall, hat man gesagt (Neumeyer), wo englische Gärten auftauchten, kann man erwarten, audi bald Gotica zu finden. Die Schwingungen des Gefühls aber,

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Sechstes Kapitel

die dahinter wirkten, konnten sidi nadi mancherlei Richtungen ausbreiten. Sdion Leslie Stephen in seiner History of English thought in the 18. century (1876 u. ö.) hat auf den Zusammenhang von Romantizismus, Sentimentalismus und Naturalismus, der zumal in der englischen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte hervortritt, aber auch schon vorher zu spüren ist, hingewiesen. Was er dabei Naturalismus nannte, war die Sehnsucht nach jener Natur, die Rousseau seit der Jahrhundertmitte verkündete und die nichts anderes war als eine Art von umgestülpter Zivilisation, ein aus der Reaktion gegen sie aufsteigendes sentimentales Traumbild von natürlicher Einfachheit, das man nun bald bei den Naturvölkern, bald in den Frühzeiten der großen Kulturvölker verwirklicht glaubte. Da richtete sich denn der Blick zuerst, wie es der klassischen Erudition entsprach, auf Homer und die von ihm dargestellte Menschenwelt1. »Das Vergnügen an der Vorstellung natürlicher und einfacher Sitten ist unwiderstehlich und bezaubernd«, konnte Blackwell schon 1735 sagen, als er (anonym) seine Untersuchung über Homers Leben und Schriften veröffentlidite, die Johann Heinrich Voß noch 1766 als frische Gabe den deutschen Lesern in Übersetzung bieten konnte. Er wagte an die »alte Meinung« wieder zu erinnern, daß die Poesie vor der Prosa gewesen sei (S. 38, Übersetzung S. 49). Diese große Erkenntnis hatte schon Vico aus noch tieferer Versenkung in das Altertum gewonnen, hatte audi Konsequenzen daraus gezogen, die das naturrechtliche Geschichtsdenken von Grund aus erschütterten. Uber solche seherische und umwälzende Kraft verfügte Blackwell nicht. Aber er gab vielleicht einen Anstoß zu Hamanns späterem berühmt und für Herder so fruchtbar gewordenen Wort, daß Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechtes sei*. Alle großen Originalschriftsteller, heißt es weiter mit neuer Empfindung, waren nur da vortrefflich, wo sie in ihrer Muttersprache und von Dingen redeten, mit denen 1 Grundlegende Geschichte der Homerdeutung im 18. Jahrhundert bei G. Finsler, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe, 1912, nur etwas überlastet mit Nebensächlichem und deswegen die geistesgeschichtlichen Gesidhtspunkte nicht immer klar herausarbeitend. 2 Über Hamanns Kenntnis Blackwells vgl. Unger, Hamann 215, 641, 658. Herder lernte Blackwell schon 1765 kennen (Werke 18, 424 und 593). Windcelmann nannte Blackwells Werk »eines der schönsten Bücher in der Welt« (an Hagedorn 16. November 1758, Werke 11, 508).

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sie am meisten umgingen. Lateinisch schreibende Autoren der Renaissance waren ihm ein Beweis dafür, daß man den Gipfel der Vollkommenheit nicht erreidie, wenn man sidi in eines anderen Weise hineinzuarbeiten versuche, selbst wenn sie in Sprache und Gebärdung besser sei als die eigene. Schicksale, Sitten und Sprache eines Volks sah er wie in einer Kette miteinander verbunden und aufeinander wirkend. So müsse man also, um Homer zu verstehen, unter seine Zuhörer sich versetzen inmitten eines kriegerischen Volkes, das etwas von den Heldentaten der Vorfahren hören wollte. Man dürfe auch nicht mit dem feinen Geschmadke unserer Zeit Anstoß an seinen naturderben Ausdrücken nehmen. Wenn er den fürstlichen Menelaos βοή ν αγα&ός nenne, so müsse man das nicht, wie es geschehen sei, als unschicklich tadeln, sondern höchlichst loben, weil die damaligen Heerführer einer starken Stimme bedurften. Neben diesen merkwürdig frühen Durchbrüchen zu frisch individualisierender und historisierender, dabei noch leicht pragmatistisch gefärbter Betrachtung enthielt das Blackwellsche Buch dann freilich auch viel unkritische und breit ausgesponnene Spekulationen über ägyptische und phönizische Quellen Homerischer Weisheit und Phantasie - immerhin waren sie auch ein Ansatz zu einer völkerverbindenden Kulturgeschichte des antiken Ostens. Durchweg waren es warme, überall leicht sich an die vorhandene Konvention angleichende Luftströmungen, die so in das ausgekältete Klima der englischen Aufklärung jetzt eindrangen. Inwieweit hat da auch die stürmisch verlaufende religiöse Wiederbelebung, wie sie in der Methodistenbewegung der Brüder Wesley und Whitefields hervortrat, mitgewirkt? In Deutschland sollte sich der Pietismus als eine der stärksten Wurzelkräfte der neuen geistigen Tendenzen erweisen. Einer der Wesleys lernte um 1740 von den Einrichtungen der deutschen Brüdergemeine. Aber ihre Bewegung, obwohl von mächtiger Massenwirkung, sikkerte vielleicht doch nicht so tief, wie die des individualistischer gerichteten Pietismus in Deutschland, in die Rinnsale des inneren Lebens. Als starke Reaktion gegen den Aufklärungsgeist aber trug sie gewiß zum Wandel der geistigen Atmosphäre bei. Jedenfalls verband sich schon eine lautere Frömmigkeit mit neuem, originellem, j a schöpferischem Geschmacke in dem Buche des Ardiidiakons und Oxforder Professors Robert Lowth, De

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sacra poesi Hebraeorum. Es erschien 1753, um dieselbe Zeit, wo Horace Walpole seine neugotisdien Experimente begann, und setzte religiösen, wissenschaftlichen und ästhetischen Ernst neben seine Tändeleien. Es ist kaum nötig zu sagen, daß audi bei ihm das Neue inmitten zähe festgehaltener Konvention und Tradition erblühte. Den alten, das Wesen der Poesie versperrenden Leitsatz der Horazischen Poetik, aut prodesse volunt aut delectare poetae, verschärfte er gar noch in utilitarischer Richtung durch die Formel prodesse delectando. E r hatte auch selbst nach ihr zu dichten versucht und in seinem moralisierenden Poem Choice of Hercules (1747) gezeigt, daß ihm die eigene dichterische Kraft fehlte (Phelps, S. 72). Als rechtgläubiger Theologe glaubte er auch an der allegorisch-mystischen Deutung des Hohen Liedes festhalten zu müssen. Aber daß er überhaupt die dichterischen Formen und Gehalte, die im Alten Testamente überliefert waren, als ein großes, einheitliches, wundervolles und eigenartiges Phänomen auffaßte und diese Eigenart nun in liebevoller Einzeluntersuchung herausarbeitete, ging über alle bisherigen konventionellen Methoden der Bibelbehandlung weit hinaus. Zwei echt historische Fragen bewegten ihn da vor allem, die des Ursprungs der hebräischen Poesie und die ihrer Eigenart gegenüber anderen nationalen Poesien. Als offenbarungsgläubiger Theologe hatte er da zwar voran den göttlichen Ursprung dieser heiligen Poesie darzutun - sie sei, sagte er, nicht durdi menschliches Ingenium erdacht, sondern vom Himmel herabgefallen und habe von ihrem Ursprung an ihre volle Reife besessen. Aber daneben regte sich audi schon etwas wie von vergleichender entwicklungsgeschichtlicher und psychologischer Betrachtungsweise, wie sie Hume gleichzeitig übte. Um den Ursprung der Poesie überhaupt, der dunkel wie der des Nilstromes sei, aufzuhellen, warf er seinen Blick auf andere Völker und fand, daß überall die heilige Poesie mit ihren Hymnen und Gesängen der Beginn sei, zu dem dann alle spätere Poesie veluti ad germanam patriam zurückstrebe. Auf Uraniagen der Menschheit überhaupt, auf Religion und auf gewaltige seelische Erregungen und Erschütterungen führte er sie zurück (Poeseos origo ...ad religionem omnino videtur referenda... [Poe sis]... non aetatis alicujus aut gentis propria sed universi humani generis, vehementiorïbus humanae mentis affectibus necessario tribuenda est). W i r könnten uns audi, meinte

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er, Adam kaum vorstellen ohne irgendwelchen Gebrauch von Poesie. Wieder gewahren wir, wie schon bei Blackwell, nur nodi bestimmter und kühner, eine Vorstufe zu Hamanns und Herders Überzeugung, daß Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts sei1. Und ebenso sollte auf Herder dann audi die Weise tiefen Eindruck machen, wie Lowth die Eigenart, die propria indoles der hebräischen Poesie zu erfassen versuchte. Man müsse sich, meinte er, Blackwells Sehweise fortsetzend, ganz hineinversetzen in dieses Volk, in dem die Religion alles, Staat, Gesetze, Gerichte und tägliches Leben beherrscht habe. Man dürfe sich nicht mit Übersetzungen begnügen, sondern man müsse an die Quellen gehen, qui proprium etiam ac suum quendam saporem habent. Dann würde uns vieles, was uns dunkel und schmutzig erscheine, klar und großartig werden. Er sah in den Bildern der Sänger und Propheten das steinige Land Palästina mit seinen Gebirgsbächen vor sich, die durch die Schneeschmelze des Libanon jährlich aufgeschwellt wurden, bewohnt von einem Bauern- und Hirtenvolk mit Stammes- und Geschlechtsadel und durch Gesetze und und Religion streng geschieden von den Nachbarn. Erdverbundenheit und Schollenduft dieser Poesie brachte er prachtvoll heraus. Wer sich daran stoße, daß es zuweilen nach kleinen Leuten und Dünger rieche (oleant plebeculam et stercus), habe keinen Sinn für die Kraft dieser Bilder. Lowths Buch war vielleicht die geistig bedeutendste Leistung innerhalb der ganzen präromantischen Bewegung Englands. Sie hielt sich frei vom dilettierenden und flüchtig naschenden Geschmack. Ohne es unmittelbar zu wollen, trug sie dodi bei zur Loslösung der historischen Forschung von den Fesseln der Theo1

Zu den diesen Gedanken vertretenden englischen Studien über die Urpoesie der Völker, die für Herder wichtig geworden sind, gehört audi Brown, A Dissertation on the Rise, Union and Power, the Progressions, Separations and Corruptions of Poetry and Music 1763, die Esdienburg als »Betrachtungen über die Poesie und Musik« 1769 übersetzte. Sie geht aus von dem Zusammenhang von Poesie, Musik und Tanzkunst bei den nordamerikanisdien Naturvölkern und überträgt dann konstruktiv und pragmatistisch die doxt gemachten Beobachtungen auf andere Völker. Herder (Geist der hebräischen Poesie: Werke 12, 177) erkannte richtig den fruchtbaren Grundgedanken und die Schwächen seiner Ausführung durch Brown.

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logie, indem sie einen rein menschlichen und geschichtlichen Gehalt und Wert der Bibel zur Anschauung brachte. Sie bot echte Wissenschaft des Geistes und verlieh dieser neue Organe. Dasselbe kann man, nur in wenig geringerem Grade, von dem anmutigen Essay On the original genius and writings of Homer sagen, den Robert Wood 1769 als Manuskript f ü r Freunde drucken ließ und der dann nach seinem Tode (1771) erweitert 1775 wieder erschien. Hatte Lowth, wie es scheint, nur von der Studierstube aus den Geist des Orients erraten, so zeigte jetzt der reisende, klassisch gebildete Engländer, was die Reisen dieses Weltvolkes audi für die Entdeckung neuer geschichtlicher Werte bedeuten konnten. Er hatte in den Jahren 1743 und 1751 Griechenland und den nahen Orient mit Ägypten bereist mit dem Homer in der Hand und im Herzen und konnte nun noch viel beredter und überzeugender als Blackwell seinen überwältigenden und beglückenden Eindruck verkünden, daß man Homer bisher noch gar nicht richtig verstanden habe. Man müsse vielmehr den Ionian point of view einnehmen und diese besondere Natur des ionischen Himmels und der ionischen Erde und dazu die so wildgrausamen, listig verschlagenen und dodi so gastfreien Beduinen der arabischen Wüste mit ihren unter freiem Himmel rezitierenden Dichtern gesehen haben, um einen Begriff von der Welt zu bekommen, in der Homer wurzele und die er mit unvergleichlicher Treue und Wahrheit spiegele als faithful mirror of life. So wurde es seine Hauptthese, daß heroische, patriarchalische und heutige beduinische Sitten miteinander gut vergleichbar seien, da die Stabilität des Orients die Kulturstufe des primitiven Lebens (primeval life) konserviert habe. Wenn uns also manches an den Sitten der homerischen Menschen wie des heutigen Orients verletze, so seien das nicht kapriziöse Singularitäten einer besonderen Zeit oder Landschaft, sondern Wirkungen gemeinsamer Ursachen, wie Boden, Klima und Geist der Gesetze eines nodi unvollkommenen Zustandes der Gesellschaft. Da spielt also audi Montesquieus aufrüttelnder Einfluß hinein, obwohl ihm der besondere Erklärungsversuch Montesquieus für die Sitten des Orients als nicht lebensnah genug erschien. Man kann an ihm, verglichen mit Montesquieu, den spürbaren Fortschritt, den das historische Sehen jetzt in England machte, wohl wahrnehmen. Der Wille Montesquieus, fremdartige geschieht-

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lidie Phänomene kausal sich zurechtzulegen durch die Besonderheiten von Zeit, Ort, Klima usw., war auch der Wille Woods, aber die kühlere Analyse Montesquieus wich hier schon einem wärmeren Herzensanteil und einem gewissen Grade von innerlichem Einfühlungsvermögen in eine völlig anders geartete Vergangenheit. Diese Andersartigkeit, diese Abgründe zwischen den Zeiten und Kulturen mußte man vorerst einmal stark empfinden, um mit eigenem Herzen in das Herz der Vergangenheit einzudringen. Bisher war, von Vico, Blackwell und wenigen Andern abgesehen, Homer nach naturrechtlicher Denkweise als zeitlose klassische Erscheinung von didaktischem Werte behandelt worden. Wood spottete mit Recht über diejenigen, die in Homer ein vollkommenes System von Moral und Politik entdeckt und so wenig Aufmerksamkeit dem Charakter der Zeiten, für die er bestimmt war, geschenkt hätten. Auch Vico hatte schon erkannt, daß Homer nie und nimmer als Lehrbuch der Weisheit aufgefaßt werden dürfe. Und hier liegt in der Tat einmal die Möglichkeit vor, daß eine Kunde von Vicos Entdeckung zu dem englischen Homerforscher hinüberdrang. Denn wenige Jahre vor Woods Buch war in der Gazette littéraire de l'Europe die Vicosdhe A u f fassung von dem barbarischen Charakter und dem Fehlen einer »geheimen Weisheit« im homerischen Epos verbreitet worden 1 . An der vollen Einfühlung in Homer hinderte den Engländer das Überlegenheitsgefühl des Aufklärers, das in ihm noch redit lebendig war. Immer wieder betonte er, daß es ein unvollkommener Zustand der Gesellschaft sei, den Homer und der heutige Orient darstellten, wobei denn die üblichen bedauernden Worte über den Despotismus abfielen, unter dessen Drucke man nicht wage, »die natürlichen Rechte der Menschheit zu behaupten«. Als Perfektion, nicht als Entwicklung jeweilig individueller Kulturgestaltungen sah auch er den Prozeß an, der die Welt Homers und des Orients von der des zivilisierten Okzidents schied. Homers Fehler, meinte er also, fänden ihre Entschuldigung (apology for its faults) in den Frühzeiten, die man aber audi kennen müsse, um seine Schönheiten zu empfinden. 1

Β. Croce, Philosophie Vicos, S. 244. Doch hatten audi schon Bentley und Blackwell angefangen, die stoisdie Auffassung von Homer als dem Inbegriff alles Wissens zu bekämpfen. Finster, Homer in der Neuzeit, S. 355.

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Wir übergehen weitere Zeugnisse seines normativen, rationalistischen und klassizistisdien Denkens. Aber in seiner lebendigen Mischung mit unbekümmerter Freude und Geschmack an Gewächsen einer fremden Kultur erinnert es an eine spezifisch englische Mentalität, die noch heute zu beobachten ist. Der Engländer, so liberal, tolerant und interessiert er für fremde Volksart auch sein kann, ist es doch meist mit dem Vorbehalt seiner eigenen Superiorität und Lebensmaßstäbe. Goethe scherzte, daß er seinen Teekessel bis auf den Ätna mitzuschleppen pflege. Aber gerade auch Goethe hat die Woodsdie Homerdeutung in den Jahren von Sturm und Drang als Befreiung empfunden. Er besprach die deutsche Übersetzung, die 1773 in seiner Vaterstadt Frankfurt erschien - mag da vielleicht schon ein Zusammenhang mit ihm bestehen?1 —, in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen mit freudiger Zustimmung und bekundete noch im Alter in Dichtung und Wahrheit: »Wir sahen nun nicht mehr in jenen Gedichten (Homers) ein angespanntes und aufgedunsenes Heldenwesen, sondern die abgespiegelte Wahrheit einer uralten Gegenwart und suchten uns dieselbe möglichst heranzuziehen.« Audi Herder hat mit Dankbarkeit von Woods Leistung gesprochen, das naturhaft Wilde und Schöne bei Homer, das von dem »blinzenden Auge der Scholiasten und Klassiker« nicht gesehen wurde, offenbart zu haben (1777; Werke 9, 534, vgl. auch Unger, Hamann S. 302). Die beiden Grundbücher abendländischer Bildung, die Bibel und Homer, erhielten also durch Blackwell, Lowth und Wood einen neuen leuchtenden Sinn, den das naturrechtlich-zeitlose Denken bisher verdeckt hatte. Der Streit um den Vorrang Homers oder Vergils, der von den Kunstrichtern als Symbol eines noch größeren Kampfes geführt wurde, begann sich zugunsten Homers zu wenden. Der normativ-klassizistische Geschmack dauerte dabei zwar fort, aber wurde überall wenigstens vorüber1

In Dichtung und Wahrheit 3, 12 bemerkt er, daß eine Göttinger Rezension des anfangs sehr seltenen Originals seinen Freundeskreis auf Wood aufmerksam gemacht habe. Diese Rezension Heynes war in den Göttinger Anzeigen von 1770 Stüde 32 erschienen und wurde wieder abgedruckt am Eingang der Übersetzung von 1773. Die Anregung zur Obersetzung könnte danach vielleicht von Goethe ausgegangen sein. Die Übersetzung selbst rührt von dem Sohne des Hofrats Michaelis her (Unger, Hamann 301).

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gehend vergessen, wo neue Reize der Vergangenheit lockten. Ohne der eigenen Zeit und ihrem rationalistischen Geiste ganz untreu zu werden, freute man sidi an den Kontrastwirkungen des Irrationalen, von der Zivilisation noch nicht Geschwächten der Ur- und Frühzeiten der Menschheit und nun vor allem auch des eigenen Volkes mit seinen völkisdien Urbestandteilen. Mediävalismus, Primitivismus, Keltomanie, Germanomanie und Septentriomanie sind die Schlagworte, die man neuerdings für diese verschiedenen Liebhabereien, die seit der Mitte des Jahrhunderts in England aufkamen, geprägt hat. Zwei französische, uns schon bekannte Büdier haben da anregend und aufregend auf die Engländer gewirkt: Die Einführung in die fast unbekannte Wunderund Riesenwelt der Edda und des altnordischen Heldentums, die P. H. Mallets Introduction à l'histoire de Dannemarc 1755 gab (1770 von Percy übersetzt), und De la Curne Sainte Palayes Mémoires sur l'ancienne chevalerie. Wir greifen, indem wir im übrigen auf Phelps' und Beers' Darstellung und auf das Buch von Peardon, The transition in English historical writing (1933) verweisen, aus diesen Bestrebungen nur das Repräsentativste und was zugleich durch seine Einwirkung auf die deutsche Bewegung wichtig wurde, heraus. Beides gilt von des Bischofs Richard Hurd anonym veröffentlichten Letters on chivalry and romance, die 1762 erschienen und dann auf Hamann (vgl. Unger 910, 933) und auf Herder (Geschichtsphilosophie von 1774) stark gewirkt haben. Hurd war ein Freund von Thomas Gray, der einst als Reisegenosse Horace Walpoles um 1740 schon die gotische Kathedrale von Reims bewundert hatte. Sainte Palayes Werk hat ihm wesentliche Dienste getan1. Aber wie dieser von den Maßstäben der zeitlosen Aufklärungsvernunft nicht loskam, so auch in mancher Hinsicht sein Benutzer Hurd. Denn er schoß in seiner Begeisterung für alles Gotische und Romantische in der Poesie nun gleich über das Ziel hinaus und kehrte das normative klassizistische Kunstideal, das es zu bekämpfen galt, nur um, wenn er die gotischen Sitten und Fiktionen als besser geeignet für die Zwecke der Poesie, wie die klassischen erklärte. Aber sdion diese These läßt auch seinen 1

Es hat audi auf Robertsons günstige Beurteilung des Rittertums

(s. oben S. 239) eingewirkt.

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fruchtbarsten, an Blackwell, Lowth und Wood zugleich erinnernden Gedanken durdisdiimmern, daß ein enger Zusammenhang zwischen der besonderen Struktur und der besonderen Poesie einer Zeit bestünde, und daß auch in der sozialen und politischen Struktur einer Zeit notwendige Zusammenhänge von Ursache und Wirkung seien. Das wußten zwar audi Voltaire und Hume schon vom Mittelalter, aber nur in äußerlicher Weise und innerlich abgeneigt. Auch Hurd zeigte seinen Zusammenhang mit der Aufklärungshistorie noch in der etwas planen, beinahe mathematisch einfachen Art, wie er die Kette der Kausalitäten konstruierte. Aus der Zersplitterung Europas ergab sich nadi ihm die Feudalverfassung mit ihrem kriegerischen Geiste, aus ihr wiederum das Rittertum mit seinen Turnieren und Ehrbegriffen, die man aber nun nicht absurd und grillig finden dürfe, sondern als nützlich und zweckmäßig für jene Zeit ansehen müsse denn »die feudalen Prinzipien konnten in nichts anderem enden«. Der »Geist der Ritterschaft« war dann wohl ein Feuer, das bald in sich selbst verlosch, aber der Geist der Romanze, der durch ihn erzeugt wurde, brannte länger und bis zu polierteren Zeiten hin. U n d nun reihte er mit glücklichem Griffe Ariost, Tasso, Spenser und Milton, ja auch Shakespeare als Dichter gotischer Tradition aneinander und urteilte von Shakespeare, daß er größer sei, wenn er gotische, als wenn er klassische Sitten und Maschinerie anwende. Das Urteil mag noch heute Beifall erregen, wo die einfachen und primitiven Formeln wieder beliebt werden und der Sinn für die fruchtbaren Synthesen gotischen und klassischen Geistes - denn Renaissance und Gotik verschlingen sich j a in Shakespeare - schwächer geworden ist. Hurd als Kind des 18. Jahrhunderts war schon bescheidener und resignierter in seiner Apologie des Rittertums und gotischen Geschmacks. Denn er verband sein normatives Urteil, daß dieser f ü r die Poesie mehr leiste als der klassische, mit der entschlossenen Feststellung, daß er unwiderruflich verloren sei, daß man in diesem Zeitalter der Vernunft keinem Dichter raten dürfe, mit gotischen Fiktionen zu arbeiten, da diese nur so lange wirkten, als sie Wurzel hätten im Volksglauben. W i r haben, Schloß er, durch die Revolution des Geschmacks gewonnen ein gut Teil gesunden Sinnes (good sense), wir haben v e r l o r e n eine Welt von feiner Fabulierkunst (a world of fine fabling). Merkwürdiges Endergebnis seines Den-

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kens, so überaus gemäß einer Übergangszeit, wo Einsichten und Verkennungen sich so leicht verknitternd ineinander schieben. Eben jetzt hatte, und mit durch ihn, eine neue Revolution des Geschmacks begonnen, die doch aus noch lebensfähigen Wurzeln des Alten mit hervorging. U n d doch war audi seine W a r n u n g vor den bloßen Attrappen des gotischen Geschmacks, die vielleicht auf Horace Walpole zielte, historisch tief berechtigt. Genau betrachtet aber, war es wieder das Stück von Aufklärung in ihm, das ihm diese Warnung, den Boden des einmal gegebenen Zeitgeistes zu verlassen, eingab. Als bleibende Errungenschaft eines neuen und echt historisierenden Denkens aber wird folgender Satz von ihm gelten: »Wenn ein Architekt ein gotisches Gebäude nach griechischen Regeln prüft, wird er nichts als Unförmlichkeit finden. Aber die gotische Baukunst hat ihre eigenen Regeln, durch die, wenn es zur Prüfung kommt, ihr Wert (merit) ebenso sichtbar hervortritt, wie der der griechischen.« Man habe nicht zu fragen, welche von beiden den einfachsten und wahrsten Geschmack habe, sondern ob nicht Sinn und Plan in beiden sei, wenn sie nach den Gesetzen untersucht würden, auf denen sie beruhten. Er sagte inhaltlich damit dasselbe, was der junge Goethe zehn Jahre später am Straßburger Münster sich klar machte. Goethe war also nicht der erste, wie man gemeint hat, der das Eigengesetz und den Eigenwert der Gotik entdeckt hat. N u r brach seine Entdeckung aus der vulkanischen Tiefe eines neuen Weltgefühls hervor, die des Engländers aus dem gepflegten Gartenboden einer feinen Kultur. Noch einen aussichtsreichen Vorstoß unternahm Hurd, angeregt durch Sainte Palaye. Dieser, wiederum und vielleicht merkwürdigerweise angeregt durch ein hingeworfenes W o r t Friedrichs des Großen 1 , hatte ihn aufmerksam gemacht auf die Analogie, die zwischen den heroischen Zeiten Homers und denen der irrenden Ritterschaft bestand. Hurd meinte, daß die gemeinsame U r sache in der staatlichen Zersplitterung des alten Griechenlands wie des feudalen Europas läge. Die Ursache war etwas summa1 Sainte Palayes Mémoires schließen mit einem Zitat aus den Mém. pour servir à 1'hist, de la maison de Brandebourg: »On faisoit dans ces siècles grossiers le même cas de l'adresse du corps, que l'on en fit du temps de Homère* usw. Vgl. für das (unbedeutend veränderte) Zitat den Wortlaut in Œuvres de Fr éd. le Grand {éd. Preuss) 1,12.

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risch festgestellt, und das Vergleichen verschiedener Kulturen übten auch schon die Aufklärer - Humes Religionsgeschidite beruhte darauf, und Hume verglich sogar auch schon germanisches und altgriediisdies Strafrecht miteinander (The History of England [1762] 1,157). Bei Hurd, der damit den modernen typologischen Bestrebungen vorausgrifif, diente es aber schon zu einem tieferen Verstehen des Individuellen auch inmitten des Typischen. Er durchbrach an dieser Stelle die ihm selbst sonst anhaftende pragmatistische Gewohnheit, aus Vordergrundsursachen große Wirkungen abzuleiten, und erklärte, daß es noch etwas Wirkendes gäbe, was allen Gewöhnungen und Regierungsformen vorausginge und unabhängig von ihnen sei. Und das sei der different humour and genius of the East and West und zeige sich bei der Vergleidiung griechischer und abendländischer Ritterzeit in der verschiedenen Stellung der Frau bei den Griechen und im christlichen Zeitalter. Auf diese hatte auch schon Mallet hingewiesen. Es ist aber nun bemerkenswert, wie schlicht und natürlich der gesunde Sinn eines geschmackvollen Engländers die von den Aufklärern längst benutzte Lehre vom Geiste der Zeiten und Völker zu der umfassenden Konzeption steigerte, daß auch die großen geschichtlichen Kulturen hinter allen gewöhnlichen Kausalitäten noch ein letztes formendes Gesamtferment besäßen. Hurds Leistung war, verglichen mit Lowths gewichtiger Forschung, ein glücklich und geistvoll hingeworfener Essay. Weder er selbst, noch die englischen Geschichtsschreiber, die seit 1765 der Humesdien Unterschätzung des Mittelalters entgegentraten (O'Conor, Lyttelton, Gilbert Stuart, Pinkerton u. a., vgl. über sie Peardon), brachten die Kraft auf, die neu gewonnenen Neigungen und Grundsätze in großem Stile auf das geschichtliche Leben anzuwenden. Auch Thomas Warton, der als Dichter nebst seinem Bruder Josef mit am bewußtesten die neuen Töne sentimentaler Romantik angeschlagen und schon vor Hurd in seinen Observations on the Faery Queen (1754) sich für das Rittertum eingesetzt hatte, vermochte in seiner großen History of English poetry (1774-1781), so bahnbrechend sie als erster Versuch dieser Art auch wirkte, über die Grundgedanken Hurds in der Würdigung der mittelalterlichen Kultur nicht hinauszukommen; er wandte sie sogar minder kühn und mit noch stärkeren aufklärerischen Residuen an als dieser. Kühn und zum Teil phantastisch

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waren nur seine Hypothesen über den Ursprung des gotisdiritterlidien Geistes, den er auf die Araber und, an Mallet anknüpfend, auf einst aus Asien unter Odin eingewanderte Goten zurückführte. Aber in langsamer und ruhiger Kontinuität sollte fortan in England, während gleichzeitig die Aufklärungshistorie weiterblühte und zum Positivismus hin sich entwickelte, audi der W e g zum Historismus, in vielen Überkreuzungen mit jener, weiter gegangen werden. Durchweg also hingen diese neuen zum Historismus führenden Gedanken mit dem Bedürfnis nach einer neuen, tiefer aus Gemüt und Phantasie schöpfenden Dichtung und Kunst zusammen. Es war ein Bedürfnis des abendländischen Geisteslebens überhaupt, denn es war stärker oder schwächer seit der Mitte des Jahrhunderts etwa in allen Ländern Europas spürbar. Aber England, begnadet durch den Besitz Shakespeares, hatte den Vortritt in der Forderung, daß der Dichter nicht nachahmen, sondern selbstschöpferisdi sein solle. Schon früh, zur Zeit Popes und Addisons und selbst von diesen Klassizisten zaghaft empfunden, regte sich dieser Gedanke, und der alte Dichter Young krönte sein eigenes Lebenswerk, als er 1759 sein Sendschreiben Conjectures on original composition in die Welt sandte (vgl. Brandls Aufsatz darüber im Jahrbuch der deutschen Shakespearegesellschaft Bd. 39, 1903). Dieser Ruf hat, auf Deutschland übertragen, wo sdion 1760 eine Übersetzung erschien, dort fast wie ein Sdirei gewirkt. Sein Kerngedanke, daß die Nachahmung die ganze Individualität der Seele vernichte und daß der originale Dichter etwas von der Natur der Pflanze habe, gab nicht nur der Sturm- und Dranggeneration hochwillkommene Ermunterung, sondern gehörte darüber hinaus zu den Samenkörnern des kommenden Historismus. Young selbst beschränkte sich auf die Aufgabe des Dichters, das Recht und die Möglichkeit genialer Entfaltung für dieGégenwart zu postulieren, aber warf auch einmal einen freundlich verstehenden Blick auf die mittelalterlichen Scholastiker, in deren eingesperrtem Geist doch viel eigentümlicher Tiefsinn sei. Nun aber ist es wieder bezeichnend für den Übergangscharakter seines Denkens, wie zeitlos er das Problem des Genies in der Geschichte behandelte. Das Genie sah er zu allen Zeiten vorhanden, den »Sonnenschein« einer bestimmten Zeit, der es begünstigte, behandelte er als etwas Zufälliges und Akzessorisches. Es kam ihm nur 17*

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auf den Mut an, die Fesseln der Nachahmung zu sprengen und die vorhandenen Genies zu befreien. Das sich selbst als zeitlos empfindende Genie aber wurde die Grundstimmung des jungen Goethe in Straßburg und die Ausgangsposition seiner weiteren Entwicklung. Sogar das nur scheinbar Echte oder Halbechte konnte jetzt, wofern es mit stärkster Empfindung geladen war, einschlagen und als Offenbarung wirken, sowohl in England, wie in Deutschland. Das galt von Macphersons wolkig aufregenden Ossianveröffentlichungen in den Jahren 1760 bis 1763 und in gewissem Umfange auch von Percys berühmter Balladensammlung, den Reliques of ancient English poetry, die 1765 erschienen. Er setzte eine Tradition des Balladensammelns fort, die bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückreicht, und hielt sich, wie die meisten seiner Vorgänger, für berechtigt, den alten Balladen, wie man gesagt hat, die Locken zu kämmen durch Modernisierungen und Einschübe. Denn man wagte sich selbst und dem Publikum nodi nicht das unfrisierte Altertum zuzumuten. Simplicity und sentiment sudite man in diesen alten Balladen (Shenstone im Briefwechsel Percy-Shenstone, hg. von Hecht, S. 6), und Percy wollte audi die Neugierde befriedigen, in welchen Stufen die Barbarei zur Zivilisation geworden sei. Das zeigt wieder das Zwielicht, in dem Aufklärung, Sentimentalismus und Mediävalismus hier ineinander schwankten. Percy war auch nicht nur nationalenglisch interessiert, sondern war auch darin ein dilettierender Vorläufer Herders, daß er alte Poesie der verschiedensten Völker des Erdballs sammelte, wobei dann audi der Modegeschmack des 18. Jahrhunderts für China wieder befriedigt wurde. Die gewaltige, ihm selbst unerwartete Wirkung seiner Balladensammlung aber zeigte, daß die präromantische Bewegung in England jetzt auf ihrem Höhepunkte war. Ihr fehlte die revolutionäre Leidenschaft, die weltanschauliche Durdischüttelung und Vertiefung, die sie dann im deutschen Sturm und Drang erhielt. Aber der Vortritt Englands in das Neuland geschichtlicher Bewertungen der Vergangenheit darf niemals vergessen werden.

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II. F E R G U S O N

Wohl war es nun eine Schwäche der englischen Präromantik, daß sie aus dem Banne des Aufklärungsdenkens innerlich nie ganz loskam. Aber die Beziehungen zwischen englischer Aufklärung und englischer Präromantik beschränkten sich doch nicht bloß auf ein unorganisches Nebeneinander von Gedanken der einen und der anderen Sphäre innerhalb derselben Brust, wie wir es bisher bei den Präromantikern gewahr wurden und wie dann umgekehrt audi bei Gibbon und Robertson ein paar leichte, aber rasch vorüberhuschende Lichter präromantischer Herkunft erschienen. Wir müssen jetzt noch einmal an Hume und an die Möglichkeiten zurückdenken, die sein kühner Empirismus und Skeptizismus dem historischen Denken für den Fall eröffnete, daß es von stärkeren Kräften seelischer Empfindung, als er sie spielen ließ, getragen wurde. Er hatte landläufige Illusionen des Rationalismus zerstört und die Macht des Instinktes und der irrationalen Triebe der Seele überhaupt aufgedeckt - und sie doch nicht voll verstanden, weil er sich innerlich in kritisch-rationaler Distanz zu ihnen hielt. Wer diese Distanz überwand, konnte audi auf dem von Hume gebahnten Wege tiefer in das Herz des geschichtlichen Lebens eindringen. Und die präromantische Entdeckung bisher mißaditeter geschichtlicher Werte konnte dabei den partikularen Charakter, den sie als Ergebnis einer reinen Geschmacksbewegung gehabt hatte, verlieren und eingesdimolzen werden in ein neues allgemeines und lebensvolleres Geschichtsbild. Es waren also Synthesen Humesdier Ansätze und präromantisdier Ansätze möglich. Und sie sind bis zu gewissem Grade verwirklicht worden durch zwei Denker, die individuell sehr verschieden waren, auch in keiner engeren Beziehung zueinander standen, schließlich auch geschichtlich sehr verschieden gewirkt haben, der eine nur mit einem Wissenschaftserfolge, der andere mit einem Welterfolge - Adam Ferguson und Edmund Burke. In Ferguson (1723-1816), Professor der Moralphilosophie an der Universität Edinburgh, lernen wir zu Hume und Robertson den dritten der geistig führenden Schotten kennen, die mit ihrer ernsten Art das englische Geistesleben befruchteten und darüber hinaus für Europa und für unsere Probleme wichtig wurden. Er

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war audi der Freund eines anderen großen Schotten von mächtiger geschichtlicher Wirkimg, Adam Smith, dessen Gedankenwelt zwar auch Seiten hat, die unsere Fragen berühren, aber für unser Auswahlverfahren doch zu weit abliegt. Ferguson veröffentlichte seinen Essay on the history of civil society 1766. Schon 1768 erschien eine schlechte deutsche Übersetzung („Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft«, Leipzig 1768). Es war in seiner literarischen Form kein Meisterwerk von der Art der drei großen Aufklärungshistoriker Englands. Es litt an Weitschweifigkeit, manchen trivialen Breiten und ringender Schwerfälligkeit. Aber es rangen sich einige starke und fruchtbare Grundgedanken aus der mühseligen Darstellung empor. Man denkt an ihn gewöhnlich als einen der Beginner moderner soziologischer und positivistischer Versuche, die Entwicklung menschlicher Gesellschaftsformen von primitiver Stufe zu höherer Kultur empirisch und konstruktiv zugleich zu begreifen als Wirkung allgemeiner Gesetze. Das versuchte er wohl, folgte dabei nicht nur den Anregungen Montesquieus, sondern audi den Spuren Humes, indem er die Macht des Instinktes in der Entstehung der Gesellschaft betonte, und ging Robertson voran in der Verwertung des Materials über die amerikanischen Naturvölker, das er dann, von Lafitaus Vorgang stark beeinflußt, mit den taciteischen Nachrichten über die alten Germanen und mit antiken Nachrichten über das frühe Rom und Sparta auf einen Nenner brachte. Einen besonderen Sinn zeigte er für den Wandel der gesellschaftlichen Formen durch zunehmende soziale Differenzierung. Aber neben diesen mehr zum Positivismus hinführenden Forsdiungstendenzen vertrat er audi bedeutsame Gedanken, die nicht nur das taten, sondern audi in den Zusammenhang unseres Problems gehören. Von Humes Instinktlehre befruchtet, trat er dem landläufigen Pragmatismus, der aus bewußten Motiven der Menschen Entstehung und Wandel staatlicher Gebilde zu erklären liebte, energisch entgegen. Die Einrichtungen der Gesellschaft, sagte er, sind dunklen und entfernten Ursprungs und entstehen aus natürlichen Trieben, nicht aus den Spekulationen der Menschen. Wie im Finstern tappen die Menschen an Anstalten hinan, die nicht beabsichtigt sind, sondern Erfolg ihrer Tätigkeit sind. Und er erinnerte dabei an Cromwells Wort, daß der Mensch

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niemals höher steige, als wenn er nicht wisse, wohin er gehe. Man wird dabei inne, wie echt englisch empfunden audi dieses große Wort einst schon war. Die Lehre von der Entstehung des Staates durch Vertrag fiel danach audi für Ferguson ohne weiteres zu Boden. Roms und Spartas Verfassung, diese Lieblingsobjekte pragmatistisdier Staatsbetrachtung, beruhten für ihn nicht auf den Entwürfen einzelner Personen, sondern auf Situation und Genius des Volkes. Vico war einst einsam mit solchen Gedanken vorangegangen. Jetzt war schon das geistige Klima des Jahrhunderts so weit gewandelt, daß bald hier, bald dort, anscheinend doch ganz spontan, in seiner Richtung gedacht wurde. Mit frischer Unbefangenheit nahm Ferguson denn audi die präromantischen Anregungen auf, ließ sidi durch die Sprache der Wilden belehren, daß der Mensch von Natur ein Dichter sei, und erklärte, daß die prächtige Schönheit in den ungekünstelten Gesängen der Wilden durch keine kunstrichterliche Änderung verbessert werden könne. Er rührt auch an dasselbe Problem, das schon Hurd kurz vor ihm beschäftigt hatte, ob nämlich die moderne, auf Nachahmung der Klassiker beruhende Dichtung dadurch mehr gewonnen oder durch Preisgabe der angeborenen Denkungsart mehr verloren habe. Seine Antwort war nodi feiner und vorsichtiger, als die von Hurd gegebene, und könnte noch einem heutigen historischen Taktgefühl genügen. Er erklärte, daß man sie der Mutmaßung eines jeden überlassen müsse, daß aber ohne das Beispiel und Vorbild der Antike Gelehrsamkeit, Sitten und Staatskunst bei uns ganz anders beschaffen sein würden, als sie heute seien. Und wenn auch die römische wie die moderne Literatur nach dem griechischen Original schmecke, so würde man sicherlich weder damals wie heute aus dieser Quelle getrunken haben, wenn man sich nicht gleichzeitig auch bemüht hätte, eigene Quellen aus sich selbst heraus zu erschließen. Er bejahte damit schlecht und recht die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des antiken Elements in der modernen Kultur. Er bejahte aber audi mit derselben historischen Treffergabe die ebenso große entwidclungsgeschiditliche Bedeutung mittelalterlicher Lebensform und Sitte für die moderne Kultur. Denn der Grund zu dem, was heute als Kriegs- und Völkerrechte geachtet werde, läge zugleich mit den Empfindungen, die in den Märchen der irrenden Ritter und Liebesgeschichten sich ausdrücken, in den

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damaligen Gebräudien Europas. Möge der Ursprung dieser oft so luftig hohen und so lächerlidien Begriffe sein, wie er wolle, sie wirkten in unseren Sitten dauernd nach. Den Helden und den Heiligen sah er verbunden im mittelalterlichen Menschen, und indem er sich audi des antiken Einschlags dabei bewußt blieb, kam schon etwas von dem Dreiklang Germanentum, Christentum und Antike heraus, in dem das moderne Denken die Faktoren der abendländischen Kultur zusammenfaßt. Mit derselben überraschenden Unbefangenheit, frei von aufklärerischen wie von romantisierenden Vorurteilen, verglich er Anfangs- und Endpunkte der Entwicklung, Barbarei und moderne Zivilisation miteinander. Wir begreifen oft nicht, bemerkte er, wie man unter dem Elend barbarischer Zeiten leben konnte, und doch habe jedes Zeitalter sowohl seine Tröstungen wie seine Leiden. Den Sittenrichtern, die den Luxus der Moderne verdammten, hielt er entgegen, daß sie gerne nach der Richtschnur ihrer Zeit urteilten, und daß derjenige, der heute den Gebrauch der Kutsche verwerfe, in einer früheren Zeit vielleicht dasSdiuhetragen verworfen haben würde. Sei der Palast unnatürlich, so sei es die Hütte nicht weniger. Rousseau war radikal genug gewesen, eine solche Behauptung aufzustellen1. Aber Ferguson packte nun die Problematik der modernen Zivilisation an einem noch tieferen Punkte an, als dieser es vermocht hatte. Er erlebte eben in England die Anfänge der großen technisch-industriellen Umgestaltung, die vom Handwerk zur Maschine führte und durch die gesteigerte Arbeitsteilung der Arbeit des Einzelnen einen Teil ihres seelischen Inhalts raubte. Das durchschaute Ferguson, so klar ihm audi die Vervollkommnung der Technik selbst dabei vor Augen stand, und urteilte, daß die Arbeitsteilung in ihren äußersten Wirkungen die Bande der Gesellschaft zu zerreißen drohe, wo diese dann zuletzt nur aus Teilen bestehe, deren keiner durch den Geist mehr beseelt werde, der die Nationen leiten sollte. Und das ist nun vielleicht sein lebendigster geschichtlicher Gedanke, daß er - klarer, als dies gleichzeitig etwa Boulanger tat, in der seelischen Haltung der Menschen die entscheidenden Ursachen für Blüte und Verfall der Völker und Staaten erblickte 1 Le premier qui se fit des habits ou logement se donna en cela des dioses peu nécessaires etc. Discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes I.

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in dem was Machiavelli einst als virtù und Ranke später als moralische Energien zu verstehen suchten. Hier überstieg er wieder Aufklärung und Präromantik zugleich, verwarf den Eudämonismus des Privatlebens, von dem jene geleitet war, und begnügte sich nicht, wie diese, mit bloß ästhetischer oder sentimentaler Freude an neuen Werten der Vergangenheit. Seine Ausdrucksweise für das, was er als Grundgesetz der Geschichte und des Lebens empfand, mag nicht immer glücklich erscheinen. Aber er sah Staaten und Völker dann blühen, wenn ihre Menschen nicht nur seelische Lebendigkeit, sondern auch kräftigen politischen Gemeinsinn besaßen. Selbst in dem England seiner Zeit schien es ihm daran zu mangeln. Wir sind heute, meinte er, gewohnt, an das Individuum mit Mitleid, selten an den Staat mit Eifer zu denken. Eine Staatskunst aber, die nur an Ordnung und Sicherheit für Person und Eigentum denke, ohne auf den politischen Charakter der Menschen zu achten, nähre nur ihren Genuß- und Gewinntrieb und mache sie untüchtig für das gemeine Wesen. Man baut Mauern, sagt er einmal, und entkräftet die Gemüter derer, die sie verteidigen sollen. Von diesem Staatsethos aus, das ihn erfüllte, verlor nun auch der Krieg den Charakter des menschlichen Erblasters, den er für die Aufklärung hatte, und zeigte seine positive und schöpferische Seite. Er vereinigte die Abneigung gegen die großen und erobernden Staaten, die für die Aufklärung seit Shaftesbury und Montesquieu typisch wurde, mit der Befriedigung über die lebensweckenden Spannungen in einem System kleinerer Staaten. Für die Nationen, erklärte er, ist es ein Glück, daß sie, um mächtig und sicher zu sein, den Mut ihrer Einwohner erhalten müssen. Ihre Staatsverfassung müsse sowohl auf die Aussicht des Krieges nach außen, wie auf die Erhaltung des Friedens im Inneren zugeschnitten sein. Und ohne die Eifersucht der Nationen und die Praxis des Krieges würde selbst die bürgerliche Gesellschaft kaum eine Form gefunden haben. Solche Klänge wiesen schon in ein neues Zeitalter geschichtlichen Denkens, das dem Staate und den ihn tragenden seelischen Kräften die gebührende Stellung im geschichtlichen Leben gab, hinüber. Es fehlte Ferguson freilich an durchgreifender Kraft und Phantasie, um seinen bedeutsamen Ansätzen zu entwicklungsgeschichtlichem Denken und unbefangener Wertung ge-

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sdnchtlidier Erscheinungen die volle individualisierende Lebendigkeit zu geben. Das sollte sich erst redit zeigen, als er 1783 seine umfangreiche History of the progress and termination of the Roman republic (3 Bde.) veröffentlichte1. Wohl führte er hier seinen Grundgedanken, den Verfall der Republik aus dem Verfall der Staatsgesinnung zu begreifen, nicht bloß moralisierend, sondern auch mit Beachtung dynamischer Ursachen - wachsende Größe des Reichs (Montesquieu!) und soziale Umschichtung im Inneren - durch. Aber vor der Gestalt Casars zerbrachen seine Maßstäbe. Der Fall ist lehrreich für die Unfähigkeit des aufklärerischen Denkens, politische Sachkritik und Moralkritik in einer höheren Einheit zu verbinden, das Handeln des Einzelnen in das Schicksal des Ganzen organisch zu verweben. Es war ihm vollkommen klar, daß die Umbildung der Republik zur Monarchie von der Zeit gefordert wurde (was seasonable). Aber da er bei Cäsar nur das Motiv persönlicher Eitelkeit gewahren wollte, so urteilte er, daß er nicht berechtigt gewesen sei, den Umsturz mit der Unmöglichkeit der Erhaltung der Republik zu entschuldigen (3, 36 und 324). So bestätigt sidi an Ferguson die Beobachtung, daß die neuen Fermente historischen Denkens, die die präromantische Bewegung hervorbrachte, noch nicht stark genug waren, um die aufklärerische Geschichtsauffassung von Grund aus zu erneuern. In der Sphäre allgemeiner Geschichtsbetrachtung war es, wie sein Essay on the history of civil society zeigte, leichter, über die Konvention der Aufklärung hinauszukommen', als bei einem so konkreten weltgeschichtlichen Problem, wie der Leistung Cäsars. Echt englisch aber war es nun wieder, daß überhaupt nicht aus der Sphäre der Betrachtung und der Wissenschaft, sondern aus der Sphäre 1 Deutsche Übersetzung in 4 Bden 1785 (»Geschichte des Fortgangs und Untergangs der römischen Republik«), 1 Man kann es verstehen, daß sein Freund Hume mit dem Buche unzufrieden war und seine Unterdrückung anrief. Vgl. Leslie Stephen, Hist, of English thought in the 18. century (1876) 2, 214. Stephen geht an den uns als wichtig erscheinenden Gedanken des Budis ebenso vorüber, wie dies die Analyse bei Delvaille, Essai sur l'hist. de l'idée de Progrès (1910) S. 473ff. tut. Dagegen erkennt Trude Benz, die Anthropologie in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (1932), S. 83 richtig, daß Ferguson schon den Blick freilegt für die Individualität geschichtlicher Ereignisse.

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eines machtvollen öffentlichen Lebens heraus die wirksamste Förderung einer neuen geschichtlichen Denkweise kommen sollte. Neben Ferguson 1 lebte sein größerer Zeitgenosse Edmund Burke. Mitten aus dem Staatsleben selbst heraus sollte er Fergusons Hauptthese von der Bedeutung der Staatsgesinnung in der Geschichte bestätigen und mit schöpferischer Kraft und Leidenschaft derart vertiefen, daß sie zu europäischer Geltung kam und das geschichtliche Denken der Folgezeit dauernd befruchten konnte.

III. B U R K E

Man kann Edmund Burkes Wirken dem geistesgeschichtlichen Zusammenhange nach noch unmittelbarer als das Fergusons als Abzweigung der präromantisdien Bewegung auf das von ihr beiseite gelassene und unbefruchtet gebliebene Gebiet des Staates ansehen. In der Jugend seines Lebens (1729-1797), die durch Samuels (The early life, correspondence and writings of the Rt. Hon. Edmund Burke, 1923) neuerdings aufgehellt ist, treten neben den klassischen Bildungselementen romantische Züge, wie Lektüre von Ritterromanen, stimmungsvolle Freude an gotischer Architektur und efeubewachsenen Ruinen deutlich hervor. Seine Jugendschrift über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, die 1756 erschien, aber erheblich früher, vielleicht schon als Werk des Neunzehnjährigen entstanden ist (Samuels S. 137, 141, 213), sollte Lessings und Herders Aufmerksamkeit fesseln 2 und in der Geschichte der ästhetischen Theorien einen bedeutenden Rang gewinnen. Sie nahm schon durch ihren Grundgedanken teil an dem allgemeinen Umbruch, der in der ästhetischen Sphäre Englands und Deutschlands jetzt vor sich ging und, ganz parallel und verwandt dem von uns auf dem Gebiete des historischen Denkens verfolgten Umbruch, von den starren Normen des bisherigen Kunstgeschmadcs zu lebendigerer und beseelterer Kunst hinführte. Denn er meinte, daß man nicht von den 1 Über weitere, minder wirksam gewordene Parallelerscheinungen aus dem England des 18. Jahrhunderts (Butler 1726, Tucker 1781) vgl. Einaudi, Edm. Burke e l'indirizzo storico nelle science politiche (1930), S. 17 und 25 ff. * Vgl. darüber Frieda Braune, E. Burke in Deutsdiland (1917), S. 6ff.

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Werken der Kunst selber, sondern von den seelischen Regungen des Menschen ausgehen müsse, um ästhetische Gesetze zu finden. Das konnte auch Lehre nadi dem Herzen derer werden, die jetzt dem Homer, der Bibel und der romantisch-ritterlichen Dichtung eine neue Lebendigkeit abgewannen, indem sie diese Dichtungen aus dem besonderen seelischen Leben der Menschen ihrer Zeit zu verstehen lernten. Aber noch hatte keiner dieser Vorkämpfer eines ästhetisch und historisch individualisierenden Kunstverständnisses den Versuch gemacht, die neuen Prinzipien auf das zentrale Gebiet des geschichtlichen Lebens, den Staat, anzuwenden. Das war audi für die Kulturmenschen des 18. Jahrhunderts eine gemeinhin nicht sehr lockende und dringliche Aufgabe. Montesquieu hatte wohl schon eine Bahn gebrochen, aber mit noch unvollkommenen Erkenntnismitteln. Mosers Aufgabe wurde es dann in Deutschland, dem Staatsleben eine neue Seele einzuhauchen. In England hat dies, über Fergusons Ansätze hinauswachsend, Burke geleistet. Alle genannten Denker waren Bahnbrecher, nicht Vollender ihrer Aufgabe. Den günstigsten Boden für diese Aufgabe aber bot das damalige England, weil es dasjenige Staatswesen Europas war, das die stärkste Integration in sich bisher erfahren, das heißt am engsten und lebensvollsten die Interessen der Gesellschaft mit den Interessen und Institutionen des Staates verschmolzen hatte. Als Politiker, nicht als Historiker, hat Burke in den Jahren der Französischen Revolution seine Aufgabe gelöst. Aber als Historiker hat er begonnen. Sein Essay towards an abridgement of the English history entstand in denselben Jahren der mittleren fünfziger, in denen Hume an seinem großen Gesdiiditswerk noch arbeitete. Er blieb Fragment, brach mit dem Jahre 1216 ab und wurde auch erst posthum 1812 in der Sammlung seiner Werke der Welt zugänglich. Schon Lappenberg hat, als vor hundert Jahren in Deutschland die neue kritische Geschichtsforschung unter Rankes Vortritt aufblühte, mit Recht bedauert, daß dieserverheißungsvolle Ansatz BurkescherNationalgesdiiditsschreibung nicht vollendet wurde (Geschichte von England 1,1834, LXXIV). Denn er enthält, obwohl er nodi oft in pragmatistischen Motivierungen stedcenblieb, charakteristische Regungen eines neuen, über die Aufklärungshistorie Humes hinausführenden historischen Sinnes. Unwillkürlich verriet sich hier schon die

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innerste Natur Burkes in dem Fehlen aufklärerischer Zensuren für die barbarisdien Ignoranten des Mittelalters, in der religiösen Stimmung, mit der er das Wirken der Vorsehung in den Schicksalen der Völker spürte, in der Achtung vor den Leistungen der Religion auch in primitiven Zeiten, von den Druiden an bis zu der Kulturmission der mittelalterlichen Klöster und den Pilgerfahrten ins Heilige Land, in der Neigung zu einem milderen Verstehen mittelalterlicher Dinge und Menschen überhaupt. Am deutlichsten aber trat und noch stärker als bei Hume der Sinn hervor für alles Institutionelle der Vergangenheit als der Wurzeln der modernen Einrichtungen und für ihr langsames, oft unmerkliches Wachstum aus Roheit und Dunkel zu höheren Stufen. Hume wie Burke standen dabei unter Montesquieus mächtigem Einfluß. Burke rühmte ihn hier als den größten Genius, der unser Zeitalter erleuchtet habe. Und an zwei besonderen Problemen, die er sich stellte, kann man zumal das Vorbild der Montesquieuschen Methode, die »Generation« der Gesetze zu studieren, wahrnehmen. Der Fall Thomas Beckets veranlaßte ihn, einen Exkurs über die Geschichte der geistlichen Gewalt und der geistlichen Gerichtsbarkeit seit dem Ausgang der Antike einzuschieben. Und ferner dünkte ihm herrlich das Unternehmen, die ersten dunklen und dürftigen Quellen jener Jurisprudenz zu erforschen, die heute ganze Nationen bewässern, und wie sie, ursprünglich noch durch Aberglauben und Gewalt befleckt, durch die Länge der Zeit und günstige Umstände sich allmählich gereinigt habe. Wohl sprach daraus auch die aufklärerische Freude am improvement of the law. Aber historisch empfunden war es, daß er die beiden Hauptmängel der bisherigen Behandlung des englischen Rechts in den Meinungen sah, daß das englische Recht von undenklichem Alter her dasselbe geblieben sei, und daß es ohne fremde Einflüsse sich rein in sich bewahrt habe. In der Bekämpfung dieser Irrtümer würde er auch Hume auf seiner Seite gehabt haben. Aber schon in diesem Jugendwerke Burkes keimte eine tiefe Differenz mit Humeschem Denken, die er später sich dann zu vollem Bewußtsein bringen sollte. Hume war, trotz seiner naturalistischen Auffassung von der Entstehung und Weiterbildung des Staates, doch dem Naturrecht, das ja eigentlich Vernunftrecht war, verhaftet geblieben durch den Glauben, daß »die Ideen einer ursprünglichen Gleichheit in die

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Herzen aller Menschen eingegraben seien«. Er sagte es bei Gelegenheit des Aufstandes John Balls unter Richard II., eines ersten Levellers. Er wandte sich dabei wohl schaudernd ab von den Gelüsten einer bloßen populace (The History of England, 2, 245 und 248) - und fühlte sich zugleich doch als Rationalist machtlos, einen Naturanspruch auf Gleichheit zu leugnen. Das machte ihm später 1791 Burke, als er im Kampfe gegen die Menschenrechte der Französischen Revolution stand, zum Vorwurf (Thoughts on French affairs). Und befragt man nun sein historisches Jugendwerk danach, wie es zu den Ideen des Naturrechts stehe, so wird man zwar noch keine ausdrückliche Bekämpfung dieser Ideen, wohl aber eine stillschweigende Beiseiteschiebung und Ersetzimg durch historische Momente finden können. Sein eingeborener Geist tendierte schon hier von ihnen weg. Seine dritte Jugendschrift, die 1756 anonym erschienene Vindication of natural society, zeigte es erst recht. Es war eine Satire und als Satire nicht sonderlich gelungene Bekämpfung der zersetzenden Aufklärungsphilosophie Bolingbrokes. Hatte dieser mit den Waffen der Vernunft die positiven Religionen zu entwurzeln unternommen, so wollte Burke unter der Maske seines Stiles ihn jetzt ad absurdum führen und zeigen, wie man mit derselben flachsophistischen Methode auch den Wert eines geordneten Staatslebens für die Menschheit in Zweifel ziehen und den primitiven staatlosen Urzustand als Ideal empfehlen könne. Er wußte damals wahrscheinlich noch nichts davon, wie ernst gerade diese Umkehrung der Werte kurz vorher, 1750, von Rousseau gepredigt worden war 1 - von eben dem, dessen geistige Nachwirkung zu bekämpfen noch einmal seine höchste Lebensaufgabe werden sollte. Man sieht in eine höchst merkwürdige und doch begreiflidie Verschränkung kämpfender Geisteswelten hinein. Eigentlich kämpften beide, Rousseau wie Burke, gegen denselben Feind, denn auch Rousseau gab dem Aufklärungsgeist einen gewaltigen Stoß durch seine Kritik des modernen Zivilisationszustandes. Aber Rousseau, Gefühlsmensch und Rationalist zugleich, kämpfte mit rationalistischen Waffen und Denkmethoden und ist es niemals innegeworden, daß die von ihm so heiß 1

Vgl. Lennox, Edm. Burke und sein politisches Arbeitsfeld 1760 bis 1790 (1923), S. 20.

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ersehnte Welt reiner natürlicher Menschlichkeit durch diese W a f fen niemals erobert werden konnte. So kam es aber, daß Rousseau gleichsam nur die Außenseite einer feindlichen Position sah und berannte und den Feind, der ihm auch in der eigenen Brust saß, nicht gewahr wurde. Welthistorisch hat er trotzdem audi mit seinen eigenen Widersprüchen, aber eben auch widerspruchsvoll genug zu wirken vermocht. Burkes geistige Struktur war viel minder problematisch und f ü r psychologische Analytiker vielleicht minder interessant. Aber auch er hat welthistorisch mit ihr zu wirken vermocht, weil er, von einer einzigen, aber mächtigen Grundidee besessen, den Feind im Zentrum seiner Position aufzusuchen und zu entwaffnen vermochte. Dieser innerste Feind, den es zu schlagen galt, um das Leben tiefmensdilicher zu führen und geschichtliches Leben tiefer verstehen zu können, war der Geist des von der Aufklärung auf die Spitze getriebenen Naturrechts, das Messen der Dinge an einer sich zeitlos dünkenden Vernunft, die doch nur in den begrenzten Horizont einer Gegenwart gebannt war, den Intellekt überhob und die Tiefen der eigenen Seele verkannte. Als Burke 1765 die Vindication neu herausgab, lüftete er die Maske und nannte den Feind bei Namen. Mit derselben Methode, heißt es in der Vorrede, mit der Bolingbroke arbeitete, könnte man auch die Schöpfung selbst »nach u n s e r e n Ideen von Vernunft und Zweckmäßigkeit« kritisieren, wo sie dann als wenig besser denn Narrheit erschiene. Ein Air von Plausibilität begleite solche Raisonnements, die dodi nur aus dem abgedroschenen Zirkel gewöhnlicher Erfahrung stammten. Verwickelte Gegenstände aber erforderten eine peinliche und umfassende Ermessung und eine große Mannigfaltigkeit der Betrachtung. W i r müßten in die Tiefe gehen und nicht nur nach neuen Argumenten, sondern nach neuen Materialien für Argumente suchen. Wir müßten hinausgehen aus der Sphäre unserer gewöhnlichen Ideen, und wenn wir nicht mehr sicheren Weg dabei fänden, doch unserer Blindheit uns dabei bewußt bleiben. Hinauszugehen aus der Sphäre unserer gewöhnlichen Ideen, hieß ahnungsvoll neue Denkmittel fordern und an die Pforte eines neuen geistigen Zeitalters klopfen. Man könnte zwar einwenden, daß schon aus althergebrachtem theologisdi-diristlidien Denken her der Protest gegen den reinen Rationalismus und der

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Appell an Einsiditen, die aller Vernunft überlegen seien, erhoben werden konnten. Eine solche Kontinuität Burkes mit christlichem Denken und Empfinden soll audi nicht bestritten werden. Ebenso deutlich aber ist auch die schöpferische Weiterentwicklung einer anderen Kontinuität hier sichtbar - die des englischen Empirismus und Skeptizismus, wie ihn Hume zuletzt tief eingreifend vertreten hatte. Schon Hume hatte den Rationalismus zwar nicht überwunden, aber in bestimmte Schranken zurückgedrängt, hatte vor trügerischen Deduktionen unserer eigenen Vernunft gewarnt und den irrationalen Mächten der Seele zwar keine beherrschende Funktion in seinem eigenen Denken, aber eine ganz gewaltige Rolle in Leben und Geschichte zugewiesen. Wie oft erinnert Hume audi in seinen praktischen Tendenzen durch konservativen Realismus und Autoritätssinn schon anBurke. Mandies seiner Worte könnte audi von Burke gesprochen sein, so das Wort, daß, falls es Wahrheiten gäbe, die für den Staat verderblich seien, sie heilsamen Irrtümern weichen und in ewiges Schweigen versinken sollten (Enquiry concerning the principles of morals), oder das andere Wort, daß ein weiser Staatsverwalter Ehrfurcht vor den Dingen haben sollte, die das Zeichen des Alters tragen (Idea of a perfect commonwealth). Beide waren audi ganz einig in der Bewunderung des durch die Revolution von 1688 geschaffenen Verfassungszustandes und können als innerlich konservativ gestimmte Whigs gelten. Ob Burke neben Humes History audi seine übrigen Schriften gelesen hat, ist nicht sicher (vgl. Lennox S. 106). Es kommt darauf nicht viel an, denn die Gedanken Humes konnten audi durch die Luft, durch Gespräch und Verkehr sich verbreiten. Daß sie, soweit sie auf Staat und Geschichte gehen, geistesgesdiiditlidi eine unmittelbare Vorstufe zu Burke bedeuten, leidet keinen Zweifel. Hume war es, der die Starrheit staatstheoretischer Dogmen naturrechtlichen Ursprungs schon gelöst hatte durch seine psychologisch-historische Analyse gesellschaftlicher und staatlicher Hergänge und Umformungen, durch die Aufdeckung des »Instinktes«, der in ihnen wirkte. Und er hatte demnach auch den Sinn für das unmittelbar Praktische und Nützliche und durch die Erfahrung Bewährte im Staatsleben, der den Engländern ohnehin im Blute lag, gelehrt. Aber sein Empirismus war, obgleich er theoretisch sehr radikal sein konnte, doch der alte utili-

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tarisdie der Staatsmänner geblieben, der die Menschen von ihrer Oberflädie her und ihre Triebe und Leidensdiaften als einen medianisdi zu behandelnden Stoff nahm. Deshalb seine mechanische Formel vom Gleichgewicht zwischen authority und liberty. Tritt man vom Humeschen Bilde des Staatslebens und der es tragenden geschichtlichen Kräfte zu dem von Burke geschauten Bilde hinüber, so ist es, als ob genau dieselbe Landschaft, die eben im Morgengrauen kalt und nüchtern vor uns lag, in der warmen Morgensonne zu leuchten beginnt. Burkes Staatsanschauung entwickelte sich kerzengerade aus einer Wurzel von den Jugendgedanken her in den mannigfachen, seinen Ruhm schon begründenden Kämpfen des Parlaments zu der großartig gestalteten Form, die sie in dem Kampfe gegen die Französische Revolution, vor allem in den Reflections

on the Revolution

in France

von 1790 erhielten. Das Entscheidende war, daß er nicht mehr den Staat überhaupt und abstrakt, wie die Naturrechtler, auch nicht so empirisch, mechanisch und utilitarisch zugleich wie Hume anschaute, daß er wohl dessen Sinn für das konkrete Gefüge des englischen Staates von 1688 teilte, diesen konkreten lebendigen Staat aber nun nicht nur mit den Blicken des praktischen Politikers, sondern auch des liebenden Gemüts, des religiösen Bedürfnisses, der ahnenden Phantasie und nicht zuletzt einer tiefen, vergangenheitsgebundenen Pietät umfaßte. Das Nützliche am Staate, das auch er immer empfand, wurde nun zugleich zum Schönen und Guten, zum innerlich Beglückenden, das darum schön und beglückend war, weil es in den Jahrhunderten gewachsen war wie ein edler Baum als Werk der Natur und der in ihr waltenden göttlichen Vorsehung, nicht als Werk menschlicher Willkür und eingebildeter Vernunft. Der steilsten geschichtlichen Erhebung des naturrechtlichen Geistes gegenüber, wie sie jetzt in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und dem revolutionären Neubau Frankreichs zutage trat, erhob sich hier einer der alten, von der Geschichte geformten Staaten zur geistigen Gegenwehr, aber mit neuen geistigen Mitteln, die ihn in ein neues Licht eintauchten. Die lebensgefährliche Bedrohung durch die revolutionären Ideen, die schon in England selbst eindrangen, brachten ihn in seinem bedeutendsten Vertreter zum vollen Bewußtsein seiner selbst und der in ihm ruhenden Werte. Diese Werte, von Pietät und Phantasie jetzt 18

Meinecke, Historismus

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verschönt, bargen zugleich audi konkreteste Interessen bestimmter gesellschaftlicher Sdiichten, die sich im Besitz ihrer geschichtlich entstandenen Rechte behaupten wollten. Es war der Staat »der Heiligen und der Ritter«, der englischen Aristokratie und Hodikirche mit monarchischem Schlußgewölbe, den Burke mit flammendem Hasse gegen die egalitäre Demokratie verteidigte. Aber die Tiefe des Hasses war nur der Kraft der Liebe gemäß, die das Bedrohte umklammerte. Die Heiligen und die Ritter, die er verteidigte und ganz gewiß idealisierend und ihre oft argen Blößen deckend verteidigte, waren ihm eben Symbole eines im tiefsten heilig und ritterlich empfundenen Staatslebens. Will man alle seine Werturteile über Menschenleben, Staat und Geschichte auf einen einzigen Quellbegriff zusammendrängen, so hat man nur das Wort Weltfrömmigkeit dafür, fromme Hinnahme der Welt wie sie war, auch mit ihren Abgründen und Nachtseiten, in dem gläubigen Vertrauen auf letzte transzendente Harmonie und Sinngebung für die eigene pflichtgemäße Einordnung in dieses Leben. Weltfrömmigkeit hieß audi Liebe für diese Welt, wie sie natürlich gewachsen war, in die man hineingeboren war mit tausend Abhängigkeiten, um sie, wofern man nur mit verstehender Liebe auf sie blickte, nicht als Fesseln für die Freiheit der Persönlichkeit, sondern als Schutz und Dekkung für ihre natürlichen Blößen zu empfinden. Das war, wie Burke sich ausdrückte, »jene gegenseitige Abhängigkeit, die die Vorsehung für alle Menschen, je eines vom andern, angeordnet hat« (Thougths on French affairs 1791). Er warf es dabei Ludwig XVI. vor, daß er diese gegenseitige Abhängigkeit grob verkannt habe, als er sich von seiner natürlichen Stütze, dem Adel, losriß, um sich dem dritten Stande in die Arme zu werfen. Das moderne historische Urteil wird weniger diesen historisch vielleicht unvermeidbaren Entschluß selbst, als die Art, wie er durchgeführt wurde, kritisieren. Das zeigt, daß die konservative Weltfrömmigkeit Burkes nicht schlechthin und ausnahmslos geeignet war, gültige Urteile über den Wert entscheidender geschichtlicher Handlungen abzugeben. Aber sie war die Grundstimmung, deren der kommende Historismus bedurfte, um in der irrational gewachsenen geschichtlichen Welt dennoch eine Vernunft zu finden, die nicht mit der reinen Vernunft allein, sondern nur im Zusammenwirken aller seelischen Kräfte zu finden war.

Burke

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Shaftesbury, auf den wir eine der Wurzeln des Historismus zurückgeführt haben, hatte diese Weltfrömmigkeit schon besessen. In Goethe erreichte sie dann ihre tiefste und reichste Ausbildung, in Ranke ihre universalste Anwendung auf die geschichtliche Welt. Bei Shaftesbury wie bei Goethe flöß sie aus einer neuplatonisch genährten Weltanschauung, bei Burke aus einer positiven christlichen Religiosität. Herders weltfrömmiger Historismus entsprang christlichen und neuplatonisdien Quellen zugleich. Untrennbar vereinigt wirkten beide Quellen audi in Rankes Bildungsgesdiichte. In jedem dieser großen Bahnbrecher des neuen historischen Sinnes war eine eigene unvergleichliche individuelle Anlage eingebettet, geleitet, gefördert, aber auch hier und da beschränkt durch eine besondere geschichtliche Umwelt. Diese Umwelt war jeweilig nicht eine starr von außen gegebene, sondern eine auch von innen her vom Menschen mitgestaltete, wie ein Kleid, dessen Stoff von außen kam und dessen Form ihm auf den Leib zugeschnitten war. Mutual dependence, um mit Burke zu sprechen, also auch hier. Wie innerlich verschieden sahen und erlebten nicht Hume und Burke die äußerlich gesehen genau identische Welt des parlamentarisch-aristokratisch regierten Englands. Diese Betrachtungen führen zu der Aufgabe, genauer zu bestimmen, inwieweit Burke mit seiner Art von Weltfrömmigkeit und in seiner individuell erlebten Umwelt schon imstande war, geschichtliches Leben im Sinne des Historismus aufzufassen. Seine Weltfrömmigkeit entwurzelte das naturrechtliche Denken in der Tiefe, indem es höheren Mächten in der Geschichte den Primat gab über den bewußten vernünftigen Willen. Das tat wohl auch schon die alte theologisch-christliche Geschichtsauffassung, ohne sich deswegen vom naturrechtlichen Denken ganz loszulösen. Aber deshalb blieb ihre göttliche Leitung der Geschichte auch nur der Gott, der von außen stieß. Man kann auch manche der Burkeschen Worte über die Macht der Vorsehung in diesem Sinne wohl deuten - und doch ist eine andere Auffassung bei ihm schon im Anzüge, die bei seinem Mangel an begrifflicher Schärfe zwar schwer zu fassen ist, aber herausgefühlt werden kann. Kurz gesagt, der Immanenzgedanke, oder genauer gesagt, die Verbindung von Immanenz und Transzen-

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denz meldet sich bei ihm schon leise an 1 , ein Gefühl für göttliche, im Weltprozesse selbst von innen her sidi auswirkende Kräfte, für die innere Untrennbarkeit von Diesseits und Jenseits. Man spürt es aus der Art, wie er in den Reflections die Lehre von der Vertragsgrundlage des Staates behandelte. Er behielt sie, als Whig von Locke her beeinflußt, dem Buchstaben nach bei, aber gab ihr einen anderen Sinn, durdi den sie den naturrechtlichen Charakter verlor. Für ihn war der Vertrag, auf dem der einzelne Staat beruhte, nur, wie er sich ausdrückte, eine Klausel in dem großen Urvertrage ewiger Gemeinsdiaft, der niedere und höhere Naturen, sichtbare und unsichtbare Welt miteinander verknüpfe. Dieser mystisch-religiös aufgefaßte Urvertrag, diese sowohl immanente wie transzendente Urbindung alles geschichtlichen Lebens, nidit ein nach Locke von jeder neuen Generation modifizierbarer Gesellschaftsvertrag entschied für Burke über alle Fragen des Staatslebens - und konnte nicht anders entscheiden, als konservativ, fromm und gläubig immer das positive Redit, wie es durch die Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens gestaltet und - sein Lieblingswort - durch prescription bestätigt war, anzuerkennen. Man vergesse dabei audi niemals den praktischen Staatsmann in ihm, der in der Weihe des Rechtes durch prescription die beste geistige Bürgschaft für die Sicherheit des öffentlichen und privaten Lebens erblickte. Aus praktischem Instinkte, nidit aus Rückfall in das Naturrecht erkannte er audi für alleräußerste Fälle, wie es 1688 geschehen war, das Recht der Rebellion gegen Tyrannei und Vergewaltigung des Rechts an. Denn wie sollte dieses sonst wiederhergestellt werden? Nur keine Theorien daraus madien, nur nicht in diesen dunklen Abgrund zu lange hineinsehen, mahnte er. Es handle sidi in solchen Fällen nidit um Fragen des Staatsredits, sondern der Staatsklugheit. Diese Lehre berührte sidi nidit nur mit der von Hume vorgetragenen, sondern klang audi etwas an das altständische Widerstandsrecht an, aber wurzelte zugleich viel weiter und tiefer in geschichtlichem Leben überhaupt. Versuchen wir es wieder, mit einem Wort das Wesen seiner geschichtlichen Denkweise zu kennzeichnen. Es ist vitalisierter Traditionalismus, nodi nidit Historismus, was wir in ihr vor uns 1

B e m e r k t in dem f e i n e n Buche v o n C o b b a n , Edm. Burke and, the revolt against the 18. century (1929), S. 86.

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haben1, zugleich die höchste Stufe von Traditionalismus überhaupt. Höchste Stufe schon insofern, als hier der Traditionalismus nicht bloß naiv und unreflektiert wirkte, sondern seiner selbst bewußt wurde - was er nur werden konnte im Gegensdilag gegen die traditionsfrei sich dünkende Aufklärung. Sein Satz »Verehrung für das Altertum ist dem menschlichen Geiste kongenial« sprach zugleich ein Urphänomen menschlichen Seelenlebens aus; das wohl zurückgedrängt, aber immer wieder aufleben mußte. Höchste Stufe des Traditionalismus aber war es vor allem dadurch, daß es sidi ihm nicht nur um die treue Pflege geschichtlich überkommener und bewährter Einrichtungen, Sitten, Vorrechte usw. überhaupt, sondern um das innere seelische Leben handelte, das sie in einem einheitlichen Blutumlaufe durchflutet und sie dadurch zu ineinandergreifenden, miteinander verwachsenen Gliedern und Organen des staatlich-gesellschaftlidien Gesamtkörpers madit. Und dieses seelische Leben erschien ihm nicht mehr, wie bisher und noch bei Hume, als ein mechanisches Nebeneinander rationaler und irrationaler Springfedern, sondern als eine Einheit, in dem Gefühl und Gedanke, Bewußtes und Unbewußtes, Erbgut der Väter und eigenes Wollen ineinander übergehen und die »spitzfindigen Grübeleien der Vernunft« die Gefahr in sich tragen, die in der natürlichen Stimme des Gemüts verborgene Weisheit zu verkennen. Wisdom, without reflection and above it (Reflections) war die Quintessenz seiner Lehre von den aufbauenden Kräften der Geschichte und des Staates. Man sollte, lautet ein anderes Kennwort von ihm, Politik treiben nicht menschlicher Vernunft, sondern menschlicher Natur gemäß, von der die Vernunft nur ein Teil und keineswegs der größte Teil sei. Vergangenheit und Gegenwart aber wurden dadurch inniger, als es der gewöhnliche Traditionalismus vermochte, in Eins verschmolzen und auf die Zukunft hin gerichtet. Und das mächtige Gefühl schlug zugleich durch, daß eine wahrhaft lebendige Staatsund Nationalgemeinschaft weit über bloß politische Zwecke hinaus audi zur Kulturgemeinschaft werde. So kam er zu der berühmten Definition der »Gesellschaft«, die für das spezifisch englische Gefühl identisch war mit dem Staate: »Eine Partnerschaft 1

Das wird verkannt in der sonst sehr fördernden und feinen Schrift

von Mario Einaudi, Edm. Burke e l'indirizzo storico nelle scienze politidie (1930).

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in aller Wissenschaft, eine Partnerschaft in aller Kunst, eine Partnerschaft in jeder Tugend und in aller Vollendung. Da die Zwecke einer solchen Partnerschaft nicht in einigen Generationen erreicht werden können, so wird es eine Partnerschaft nicht nur zwischen denen, die leben, sondern auch denen, die tot sind, und denen, die nodi geboren werden sollen« (Reflections). Wir haben sie wörtlich übersetzt. In der Form, die ihr die Gentzsche Übersetzung von 1793 mit den Sprachmitteln der Goethezeit und noch etwas vergoldend gab, hat sie auf das romantische Deutschland tief gewirkt (vgl. mein Weltbürgertum und Nationalstaat 7 40). Vitalität, und zwar geschichtliche Vitalität besaß also der Burkesche Staat im höchsten Grade. Aber kamen auch, wie es im Historismus geschehen mußte, der Individualitäts- und Entwicklungsgedanke in ihm zum vollen Durchbruch? Wohl erscheint der englische commonwealth selbst als lebendige Ganzheit und Individualität, von inneren formenden Kräften in Jahrhunderten gestaltet. In der Geschichte des politischen Denkens wird dieser Durchbruch zu einer ganz neuen wirklichkeitsnäheren Art, den Staat anzuschauen, immer als schlechthin epochemachend gelten müssen. (So mit Recht betont von Cobban.) In einer Geschichte des historischen Denkens, wie wir sie hier versuchen, wird man an die Begrenztheit dieses Durchbruchs erinnern müssen. Burke war eine schöpferisch naive Natur, der die lebendige geschichtlich gewachsene Eigenart seines Staates aus praktischem Erleben und liebendem Gemüt heraus mehr unwillkürlich, als mit dem vergleichenden Auge dessen, der Individualität in der Geschichte überall weiß, sah. Denn er verabsolutierte das so gesehene Bild zum Kanon für moderne europäische Staaten überhaupt. Er gab in den Reflections den Franzosen den Rat, die englische Verfassung nachzuahmen. Er vergaß damit seine eigene Lehre, daß die Regierungsformen eines Landes seinen Umständen und Gewohnheiten gemäß sein sollten. Er fragte nicht, ob Frankreich noch fähig sei zur Wiederbelebung seiner geknickten altständischen Einrichtungen, ob der Geist des französischen Adels es noch vermöge, Ähnliches zu leisten wie der englische Adel. Er hat zwar seinen Ratschlag, die englische Verfassung von 1688 nachzuahmen, in den Schriften der folgenden Jahre nicht wiederholt. Aber das bedeutete keinen grundsätzlichen Wandel seines

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Denkens, sondern die praktische Einsidit in die Undurdiführbarkeit angesichts der gestiegenen revolutionären Hochflut, die nur nodi einen Kampf auf Tod und Leben für ihn übrig ließ. In dieser Grundfrage versagte sein individualisierendes Denken, weil es hingerissen wurde von der Aufgabe des Abwehrkampfes. Der Gegner erschien ihm als schlechthinnige Nacht, die eigene Sadie als das einzig mögliche Tageslicht. Der Gefahr einer dualistischen Zerreißung des geschichtlichen Lebens in Tagesund Nachtzeiten, der sowohl die Aufklärung wie die reine Romantik erlagen, ist audi er, ein Übergangsmensch, zwischen Aufklärung und Romantik, erlegen. Daß sein heller und blutvoller, intuitiv angelegter Geist bei anderen Gelegenheiten, wo er freier blicken konnte, individuelle geschichtliche Dinge glänzend erfassen konnte, wird man daneben nicht vergessen können. In seinem früheren Kampfe für eine staatsmännisdie Behandlung der nordamerikanischen Freiheitsbewegung hat er einmal die besonderen Freiheitsgedanken der Neuenglandkolonien, die aus dem radikalen protestantischen Sektengeist flössen, sdiarf abgehoben von dem Freiheitsstolze der südlicheren Pflanzerkolonien, der auf dem Standesbewußtsein einer sklavenhaltenden Aristokratie beruhte. »Burkes Analyse der bestimmenden Wesenszüge des amerikanischen Volkstums«, hat man gesagt (Lennox, S. 182), »ist eine erstaunliche Leistung. Seine Sätze enthalten schon beinahe alle Ergebnisse der späteren geschichtlichen Betrachtung dieser Fragen.« Die Stimmung des Kampfes gegen die Französisdie Revolution konnte audi den Sinn für gesdiiditlidie Entwicklung und Wandlung, den wir in seiner Jugendarbeit über die frühmittelalterliche Geschichte Englands sich regen sahen, wieder zurückdrängen. In den Reflections deckte er über die ganze Vergangenheit Englands einen reizenden Schleier, unter dem die Verfassung, der Stolz seines Landes und seines Herzens, zwar als ein durdi unzählige Lebensakte vergangener und lebender Menschen sich integrierendes, aber im wesentlichen seit Jahrhunderten fertiges Gebilde erschien. So sah er sie statisch und dynamisch zugleich. Wie denn auch seine Lieblingsbegriffe prescription und presumption, die er als verläßlidiste aller Rechtstitel in allem Leben rühmte, statische und dynamische Momente in sich vereinigten. Dachte er etwa an einen wesentlichen Wandel der Dinge in der

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Zukunft? Langsames Wachstum durch Anpassung an neue Umstände ließ er, wie für die Vergangenheit, so audi für die Zukunft recht wohl gelten, am liebsten so, daß es unmerklich vor sidb ging, war auch bereit, an Einzelnes bessernd die Hand zu legen, hielt aber ängstlich schützend diese Hand audi über das Ganze. Der Reform des englischen Wahlrechts hat er sich widersetzt. Hume, obgleich er vom Historismus innerlich viel weiter entfernt blieb als Burke, hatte dodi von seinem naturalistisdimedianisdien Entwicklungsgedanken aus den Wandel der Dinge stärker empfinden, skeptisch in die Zukunft sehen und von der vielleicht einmal kommenden »Euthanasie« der englischen Verfassung in den Armen der absoluten Monarchie sprechen können. »Solch eine Euthanasie für sie gibt es nicht!« rief Burke zornig. Es ist vielleicht sein letztes Wort. Denn es steht am Schlüsse in dem durch seinen Tod unvollendet gebliebenen 4. Briefe On a regicide peace (vgl. Meusel, E. Burke und die Franz. Revol. 1913, S. 49). Stolz und groß gedacht war es wohl. Es entsprang einem von der inneren Lebenskraft der englischen Verfassung ganz durchdrungenen, bis zum letzten Lebenshauche gläubigen, aber freilich audi gläubig absolutierenden Denken. Von einem solchen Denken aus konnte er audi dem, was von geschichtlichen Entwicklungskräften auf der feindlichen Seite sich regte, nicht gerecht werden. Nodi deutlicher als die schon angeführten Urteile über das für Frankreich Mögliche und Wünschenswerte zeigen es Worte aus den Reflections, die den Haß gegen den Geist von 1789 durch ein Stück von allgemeiner Geschichtsauffassung zu begründen versuchen: »Geschichte besteht zum größeren Teil aus dem Elend, das über die Welt gebracht ist durch Stolz, Ehrgeiz, Habsucht, Rache, Wollust, Aufruhr, Heuchelei, unbeherrschten Eifer und die ganze Reihe zügelloser Triebe... Diese Laster sind die Ursachen dieser Stürme. Religion, Moral, Gesetze, Vorrechte, Privilegien, Freiheiten, Menschenrechte sind die Vorwände1.« Er vermochte es also nicht, durch den Vordergrund des in Frankreich sidi vollziehenden Dramas hindurchzublicken, und verfiel der typischen Schwäche ungesdiiditlich-naiven Denkens, beim Gegner nur die unmorali1 Dieselbe Auffassung auch am Sdiluß des Appeal from the new to the old Whigs. Eadern semper causa, libido et avaritia et mutandarum rerum amor etc.

Burke

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sen Motive zu sehen. Die Dynamik geschichtlicher Stürme ist aber immer nodi etwas mehr als das bloße Spiel zerstörender Leidenschaften. Es ließen sich nodi weitere Züge seines geschichtlichen Denkens aufweisen, die vom Standpunkt des Historismus aus gesehen als Schlacken naturrechtlichen Charakters innerhalb eines mächtigen Schmelzprozesses erscheinen. Immer aber wird der Blick voran auf dem Golde haften, das aus ihm hervorgegangen ist. Die große politische Leidenschaft war es, die ihn über die Verkünder des neuen präromantischen Geschmackes in England emporhob. Daß er sich audi von diesen bis zuletzt unmittelbar befruchten ließ, zeigt die berühmt gewordene Apotheose des mittelalterlichen Rittergeistes in den Reflections (S. 113f.; bei Gentz 1,105 ff.), den er dem Jahrhundert der Sophisten, Ökonomisten und Rechenmeister entgegenhielt. Aber während die Präromantiker das Mittelalter als ein ästhetisches Schauspiel genossen, das mit der aufgeklärten Gegenwart nichts mehr zu tun habe, vollzog sich in ihm nodi viel kräftiger, als wir es bei Ferguson im Ansatz schon wahrzunehmen glaubten, der tiefere Lebensvorgang eines innerlichen Kontinuitätsgefühls, eines Einswerdens von Vergangenheit und Gegenwart. Sollte, so sagte er, dies gemischte System von Meinung und Gefühl, das in dem alten Rittertum seinen Ursprung hat, einmal ganz vertilgt werden, so würde, fürchte idi, der Verlust groß werden. Denn dieses hat seinen Charakter dem modernen Europa gegeben, durch das es sich von allen Staaten Asiens und möglicherweise audi den glänzendsten Zeiten der antiken Welt zu seinem Vorteil unterschieden hat. Stolze Unterwürfigkeit, würdevoller Gehorsam, Dienstbarkeit der Herzen, die auch in die Knechtschaft den Funken der Freiheit hauchte, Keuschheit der Ehre - das waren die aufbauenden seelischen Kräfte, die er im Rittertum, in sich selbst und in seinem idealisierten englischen Staate wirksam fühlte. Sie waren zwar nicht, wie es ihm schien, die einzigen, die dem abendländischen Staate seinen Charakter gegeben haben, aber sie waren allerdings unentbehrlich, um diesen hervorzubringen und zu erhalten. Allein schon im Ethos des modernen Offiziersberufs lebten sie fort. Und die innere Vitalisierung des Staates, die Burkes größter Beitrag zur Entwicklung des neuen historischen Sinnes war, wurzelte in diesen seinen ritterlichen Empfindungen.

ZWEITES BUCH

Die deutsche Bewegung

SIEBENTES

KAPITEL

Erste Blicke auf die deutsche Lessing und

Bewegung;

Windtelmann

Wir wenden uns der großen deutschen Bewegung zu, innerhalb deren nun auch der neue historische Sinn, den wir Historismus nennen, zu seiner ersten großen Ausbildung kommen sollte, derart, daß alle bisherigen Ansätze zu ihm, die wir im übrigen Europa fanden, aufgenommen, aber weit überboten wurden. Um das Entscheidende für diesen Hergang mit der nötigen Intensität zu zeigen, müssen wir uns in der Auswahl des Stoffes nunmehr beschränken. Wir wissen, daß es sich im Grunde um einen allgemein europäischen Wachstumshergang handelt, der nun in Deutschland zwar etwas später einsetzte, aber am raschesten in wunderartiger Entfaltung zur Reife gedieh. Wir haben, um diesen gemeineuropäischen Charakter zu beweisen, auch Geister zweiten Ranges aus Frankreich und England zu Worte kommen lassen, insbesondere solche, die die deutsche Bewegung mit befruchtet haben. Wir konzentrieren uns jetzt auf die eigentlichen Bahnbrecher des Historismus in Deutschland, deren Leistung zugleich alles zu ersetzen vermag, was von Talenten zweiten und dritten Ranges neben ihnen in derselben Richtung, aber nicht entfernt mit derselben schöpferischen Kraft gedacht und getan wurde. Es sproß ja ein Etwas von den neuen Gedanken an manchen Stellen. Ein Christ in Leipzig mit seinen neuen archäologischen Interessen und seiner neuen Machiavellideutung (Justi, Winckelmann l 1 , 345 ff., und Meinecke, Idee der Staatsräson, S.365, jetzt Werke, S.344), einChladenius in Erlangen mit seiner Lehre vom »Sehepunkt« des Historikers (R. Unger, Ges. Studien I, 98 ff.) erregen schon vor und um die Mitte des Jahrhunderts die Aufmerksamkeit. Baumgartens Ästhetik zeugt von Regungen, die dem neuen historischen Empfinden innerlich wenigstens verwandt sind. Wie dann der Aufstieg der neuen deutschen Dichtung seit Klopstock auch den Aufstieg eines neuen individuelleren Lebens-

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Siebentes Kapitel

gefühls bedeutete, wie dieses seelisch befruchtet wurde durdi den Pietismus und wie damit audi ein neuer, wenn audi nodi beengter Sinn für die Werte altdeutsdier Dichtung und Vergangenheit aufkam, ist allbekannt, und die Analogie zu der nur wenig früher einsetzenden englischen Präromantik liegt vor Augen. In einer stofflidi erschöpfenden Entstehungsgeschichte des deutschen Historismus, wie wir sie nicht beabsichtigen, müßten auch die bedeutenden kritischen Leistungen der Theologen und Philologen Semler, Michaelis und Heyne ebenso gewürdigt werden wie die Weiterbildungen des historischen Denkens, die in der zünftigen deutschen Geschichtsschreibung, zumal in der sogenannten Göttinger Sdiule der Gatterer, Sdilözer, Spittler und Heeren, bemerkt werden können1. Die Tradition deutscher Gelehrtengründlidikeit, belebt durch Montesquieu und die westeuropäische Aufklärungshistorie, nahm hier, anknüpfend an das große Unternehmen der englischen Weltgeschichte, eine Richtung auf das Universale, die ganze Mensdiheit Umfassende an, aber ergriff dabei, wie ihr englischer Vorgänger, mehr den Stoff als das 1 Die ältere Arbeit von Wesendondc, die Begründung der neueren deutschen Geschichtsschreibung durdi Gatterer und Sdilözer (1876), überschätzt bei weitem ihre Leistung und geht an Hauptfragen ahnungslos vorbei. Neuerdings viel Gutes, aber audi mit Überschätzung gemischt, über die Göttinger und über andere gleichzeitige Leistungen historischer und literarhistorischer Art bei v. Lempicki, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 1920, und bei Trude Benz, Die Anthropologie in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, 1932. Über »die Kirchengeschichtsschreibung, Grundzüge ihrer historischen Entwicklung«, hat W. Nigg 1934 einen dankenswerten Versuch geliefert; vgl. meine Besprechung in der Hist. Zeitsdir. 150, 315 ff. Sodann madie idi, einer Anregung von W. Gurlitt folgend, auf neuere Forschungen in der Musikgeschichte, die den Durdibruch des Historismus verfolgen, aufmerksam. Unter den Deutschen steht hier Forkels, von Herder und den Göttingern beeinflußte Allgemeine Geschichte der Musik (1788 und 1801) obenan. Über ihn Gurlitt, Zeitsdir. f. Musikwiss. 1, 574 ff., Trude Benz S. 146 ff. und Edelhof, J . N. Forkel, Freiburger Diss. 1932. Weitere Literatur: E. Hegar, Die Anfänge der neueren Musikgeschidbtssdireibung um 1770 bei Gerbert, Burney und Hawkins (Sammlung musikwiss. Abhandl. Bd. 7, 1932); H. Osthoff, Die Anfänge der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland (Acta musicologica 5, 1933); W. Gurlitt, F. J . Fétis und seine Rolle in der Geschichte der Musikwissensch. (Lüttidier Kongreßbericht der Internat. Ges. f. Musikwissenschaft 1930.)

Erste Blicke auf die deutsche Bewegung

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Innenleben der geschichtlichen Gebilde. Sachlichen Ernst und kritisdie Nüchternheit muß man ihrer Tätigkeit insgesamt nadirühmen, vor allem aber das eine, daß sie durch ihre Pflege der politischen Wissenschaften den Sinn für die Bedeutung des Staats in der Geschichte wecken konnten. Der Freiherr vom Stein und Rehberg sind ihre Hörer gewesen. Aber dieser Sinn blieb bei ihnen selbst in den Schranken des Utilitarismus und Moralismus. Wohl spiegelt die Geschichtsschreibung der vier Genannten, wenn man von einem zum anderen übergeht, auch die besonderen geistigen Wandlungen der zweiten Jahrhunderthälfte wieder, erreicht zuletzt in Heerens Leistung ein sehr achtbares Niveau und läßt das Emporkommen neuer geschichtlicher Bedürfnisse erkennen, aber doch nicht so ursprünglich und kraftvoll, daß es unsere Pflicht wäre, ihren Leistungen im einzelnen nachzugehen. Wir werden schließlich auch die Geschichtsschreibung Johannes v. Müllers beiseite lassen können. Es war keine Quelle mit eigenem Wasser, sondern, wenn das Bild erlaubt ist, ein Schwamm, der viel Flüssigkeit, das heißt viel Zeittendenzen in sich aufzunehmen und wieder von sich zu geben vermochte. Seine Mittelstellung zwischen Pragmatismus und Historismus und die Züge, die an Herders und selbst an Rankes religiös fundierten Historismus erinnern, hat die intensive Untersuchung von Requadt (Joh. v. Müller und der Frühhistorismus, 1929) liebevoll, auch ehrlich, aber doch nicht streng genug gegen seine Schwächen herausgebracht. Wir heben unsern Blick empor zu den Großen der deutschen Bewegung. Und wir gewahren dabei sehr bald, daß sie, von unserem Standort aus gesehen, in zwei Gruppen zerfallen, deren eine, im ganzen wenigstens gesehen, nur mittelbar, durch die Höhertreibung des deutschen Geisteslebens überhaupt, dem Historismus vorgearbeitet hat, während die andere ihn unmittelbar als frühen Historismus, mit mehr oder weniger Residuen der alten Denkweisen, ausgebildet hat. Die erste Gruppe bilden Lessing, Winckelmann, Schiller und Kant; die zweite Moser, Herder und Goethe. Jene kann summarisch, diese muß mit voller Hingebung und wachsendem Anteil von uns behandelt werden. Die summarische Behandlung der ersten Gruppe bedeutet wahrlich nicht, daß wir ihre geistige Leistung im ganzen herabdrücken wollen. Der Historismus ist kein alleinseligmachender Glaube,

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Siebentes Kapitel

der die nicht zu ihm Gehörenden in eine untere Klasse versetzt. Schillers Verhältnis zur geschichtlichen Welt hat audi, abseits vom Historismus, so tiefe und originelle Züge entwickelt, daß seine besondere Behandlung dem Verfasser als eine der lockendsten Aufgaben, die noch zu lösen wären, erscheinen möchte. Für die Leistung der zweiten Gruppe, die wir darzustellen haben, kommt er zwar als der große Freund Goethes, aber nicht primär als Geschichtsdenker in Betracht. Als solcher darf auch Kant mit seinem rationalistischen und progressistischen Geschichtsbegriff von uns übergangen werden, so gewaltig von der Tiefe her er auch das philosophische Denken umgestaltet und damit audi die spätere Weiterentwicklung des geschichtlichen Denkens beeinflußt hat. Über Lessing und namentlich über Winckelmann aber muß einiges gesagt werden, schon um bisher herrschende Meinungen über ihr besonderes Verdienst um die Anbahnung eines neuen geschichtlichen Denkens richtigzustellen. Das, was die beiden Gruppen innerlich trennt, wird bei Lessing sofort hervortreten. Es ist der Gegensatz einer mehr auf bestimmte Ideale zustrebenden Denkweise und einer solchen, die zwar audi verwandte Ideale vor Augen hat und darum oft mit jener zusammentrifft, aber zugleich aus schöpferischem Antrieb dem Geheimnis der Individualität in Leben und Geschichte auf die Spur kommt und so den Historismus eröffnet. Wir scheiden also die große deutsche Bewegung in eine mehr idealisierende und eine mehr individualisierende Richtung. Der ideale, nicht der individuelle Mensch, der »gute Mensdi«, gleichviel ob Christ, Jude oder Muselman, war der Weisheit letzter Sdiluß in Lessings Nathan. Die Porträtkunst hatte für ihn nur untergeordneten Wert, denn sie zeige wohl das Ideal eines gewissen Menschen, aber nicht das Ideal eines Menschen überhaupt (Justi, Winckelmann8 3, 212). Wohl wäre es verkehrt, ihm die Fähigkeit, Individuelles zu empfinden und zu gestalten, überhaupt abzusprechen. Tellheim und Minna sind Menschen von Fleisch und Blut, von innerer individueller Form. An Shakespeare hat er, trotz der rationalistischen Züge seines Urteils, die Gundolf gezeigt hat, doch die Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit stärkstens empfunden. »Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedrückt, welcher gleich der ganzen Welt zuruft: Ich bin Shakespeares! Und wehe der frem-

Lessing

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den Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!« (Dramaturgie, 73. Stück.) Im Nathan ließ er den Saladin sprechen: Ich habe nie verlangt, Daß allen Bäumen e i n e Rinde wachse. Aber eben dies Wort zeigt audi, wenn man es mit dem Sinn der Dichtung vergleicht, die Grenzen seines Individualitätsverständnisses. Denn es wirft nur einen freundlichen und duldsamen Blick auf die durch Umwelt und Erziehung hervorgerufenen Verschiedenheiten der Menschen, auf ihre äußere Rinde, auf die es nicht ankommt, wenn nur der innere Kern, der »gute Mensch« in ihr enthalten ist. Das ethische Grund- und Hauptmotiv dieser streitbaren und dodi innerlich unendlich zarten und liebesuchenden Natur lenkte auch alle seine Gedanken über die höchsten Werte in Leben und Geschichte. Da konnte denn die Montesquieusche Methode, die Verschiedenheiten der Staaten, ihrer Sitten, Sittenlehren und schließlich Religionen aus dem Klima abzuleiten, ihm trefflich dienen, mit diesen einmal gegebenen Verschiedenheiten sich so abzufinden, daß ein ihnen allen überlegenes Ideal reiner Menschlichkeit erreichbar blieb für diejenigen, »die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären« (Ernst und Falk). Es handelt sich nun freilich bei Lessing keineswegs nur um eine Spielart allgemeiner aufklärerischer Moral nach stoischer Tradition. Die besondere Leuchtkraft seines Ideals stammte aus einer inneren Lichtquelle, aus esoterischen Gedanken über das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch, die einen mystischen Charakter trugen und sein hier und da einmal enthülltes Geheimnis waren. Leisegang hat sie in ihrem geschlossenen Zusammenhange vor kurzem überzeugend nachgewiesen (Lessings Weltanschauung 1931). Der persönliche Gott und das All sind danach für Lessing dasselbe, und Gott entwickelt sich in und mit der Welt - ein Vorspiel der Identitätsphilosophie. Und dieser Entwicklungsgedanke, meint Leisegang, trenne ihn auch von Spinoza, zu dem sich Lessing einmal, wenn audi nur allgemein, in seinem berühmten Gespräch mit Jacobi bekannte. Schon Dilthey (Erlebnis und Dichtung, S. 129) hatte gemeint, daß Lessing durch seinen in der »Erziehung des Menschengeschlechts« von 1780 vertretenen Entwicklungsgedanken die große deutsche, zu 19 Meinedce, Historismus

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Hegel hinführende Bewegung wissenschaftlich vorbereitet habe. Zu Hegel vielleicht, aber nicht zu Goethe und Ranke konnte der Weg, den Lessing einschlug, führen. Denn es ist nicht der individualisierende Entwicklungsgedanke des Historismus, der in dem esoterischen Kern der »Erziehung des Menschengeschlechts« sich aussprach, sondern der durch ein normatives Ideal bestimmte Vervollkommnungsgedanke, wie ihn schon Leibniz vertreten und weithin, wenn auch in gröberen Formen, die Aufklärung jetzt vertrat. Leisegang hat den Einfluß von Fergusons Essay on the history

of civil society

von 1766 auf die Konzeption der » E r -

ziehung des Menschengeschlechts« nachgewiesen. Ferguson erlöste Lessing von seiner bisherigen Verzweiflung am Sinn der Geschichte. Aber nicht die zum Historismus führenden Elemente, die wir bei Ferguson fanden, wirkten dabei auf ihn ein, sondern der Fortschrittsgedanke, den er vertrat. Wohl sah nun Lessing mit seinem Glauben an die sich immer höher entwickelnde Gottwelt die Vollkommenheit nicht statisch, sondern, wie einst schon Leibniz, in einem unendlichen Prozesse wachsen. Aber die Stufen dieses Aufstiegs hatten für ihn keinen individuellen, sondern einen an normativen Wahrheiten gemessenen Charakter. Das zunächst sichtbare Ziel war und blieb für Lessing der ideale Mensch des Nathan, der das Gute um des Guten willen tuende Mensch. Wir können Dilthey nicht zugeben, daß in diesem Weltprozesse »zugleich das volle Recht der Individualität bewahrt« sei. Nur milde Schonung war es, was Lessing allen bunten Hüllen und äußeren Rinden des einen, was für ihn not tat, gewähren wollte. Er wußte noch nicht, daß Rinde und Kern in den individuellen Einheiten des Menschen und seiner Gebilde nicht so leicht zu trennen sind. So notwendig es nun aber auch ist, den Perfektionsgedanken der Aufklärung auch da, wo er die Vervollkommnung als Entwicklung vor sich gehen läßt, von dem individualisierenden Entwicklungsgedanken des Historismus genau zu scheiden, so bedarf es doch nur eines Blickes auf die Wirkung, die Lessing als Bahnbrecher eines neuen deutschen Geisteslebens geübt hat, um innezuwerden, daß unter dem Trennenden schon eine verborgene Gemeinsamkeit gelegen haben muß. Die mächtige Dynamik seines Geistes, die durch allen ihm noch anhaftenden Intellektualismus und Rationalismus hindurchbrach, verband ihn innerlich mit dem,

Winckelxnann

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was nadi ihm kam. Diese Dynamik sprach auch aus der »Erziehung des Menschengeschlechts«, indem hier unter der Außenseite eines göttlichen Erziehungsplanes gezeigt wurde, wie die Vernunft als Triebkraft, gleich der Pflanze, die ein Gemäuer allmählich sprengt, nach und nach sich durchsetze und wie auch die Umwege, die sie machen müsse, notwendig seien. Die Schrift wirkte ähnlich befruchtend als Entwurf einer universalen Religionsgeschichte wie das naturalistische Unternehmen Humes 1 . Und so gingen nun auch von Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums« 1764 Wirkungen tiefer Art für ein neues historisches Denken aus, obgleich Windtelmann, in allem Prinzipiellen, ganz wie Lessing noch jenseits, nicht diesseits der Grenze stand, die das normative Denken vom Historismus schied. Denn die Prinzipien des Denkens, so unzweideutig sie dem kritischen Blidke erscheinen mögen, haben es an sich, daß sie durch eine bestimmte individuelle aus seelischer Tiefe stammende Note eine unerwartete Wendung erhalten können, die in ein geistiges Neuland führt. Um diese Wendung zu verstehen, müssen wir zunächst eine weit verbreitete Meinung auf ihr richtiges Maß zurückführen. Bekundet sich, sagt man wohl, der neue historische Sinn bei Winckelmann nicht allein schon darin, daß er die Stilfolgen der Kunst und den Zusammenhang des Kunstlebens mit dem G e samtleben der Völker, vor allem mit ihren staatlichen Schicksalen entdeckte? Und hat er nicht dadurch sowohl die bisherige antiquarische wie die bisherige räsonierende Behandlung der Kunstwerke überwunden? Wohl sind dies große und unbestreitbare Leistungen. Aber man darf nicht übersehen, daß sie allein für sich genommen aus dem Rahmen der Aufklärungshistorie noch nicht heraustreten. Man muß es stark betonen, daß in ihr neben dem vorwaltenden Perfektionsgedanken auch das, was man die »Lebensaltertheorie« genannt hat, schon benutzt werden konnte, um den Ablauf menschlicher Dinge im großen zu verstehen 2 . 1 Fittbogen in seiner fördernden Schrift über die Religion Lessings (1923), der ihn S. 203 den »Vater der Religionsgesdiidite« nennt, vergißt, daß Hume darin vorangegangen war. Man kann audi an Lafitaus Versudi schon erinnern. 2 Richtig darüber Trude Benz, Die Anthropologie in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (1932), S. 101.

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Wachstum, Blüte und Verfall menschlicher Gebilde konnte - wir erinnern nur an Montesquieus und Gibbons Behandlung des Römerschicksals - auch ihr Thema schon sein. In Winckelmanns nodi ganz aufklärerisch gefärbtem Jugendaufsatz »Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte« von 1751 (Werke Bd. 12, 1829) hatte es eine Rolle in der Anwendung auf Reiche und Staaten gespielt. Auf dem Gebiete der Kunst hatte er, wie sein großer Biograph Justi (2. Aufl. 3, 7 8 ff.) gezeigt hat, als Vorläufer den französischen Kunstkenner Grafen Caylus, der als Grundlage der Kunst den Nationalgeschmack und den Wechsel dieses Nationalgeschmacks nach dem allgemeinen Gesetze des Wachstums vom Kinde zur Reife zu untersuchen begonnen hatte. Seine Kriterien waren vager, seine Werkzeuge schwächer als die Winckelmanns, aber die Grundsätze, die er i n seinem Recueil d'Antiquités

Egyptiennes,

Etrusques,

Grec-

ques et Romaines (I, 1761) aussprach, berühren sich schon mit denen Winckelmanns. Ferner waren die Kausalitäten, die nach Winckelmann das Kunstleben des einzelnen Volkes mit seinem Gesamtleben verknüpften und von ihm abhängig machten, dieselben, die auch schon bei Montesquieu und Voltaire ihre Rolle spielen: Klima, politische Verfassung, Nationalcharakter und Geist der Zeit. Die Montesquieusdie Neigung, kausale Uhrwerke aus ihnen zu konstruieren, färbte sogar auch auf Winckelmann etwas ab, etwa in der Art, wie er den Nationalcharakter schlechtweg auf Klima und Boden zurückzuführen wagte 1 oder in seiner Erörterung, weshalb die etrurische Kunst zwar etwas höher als bei den orientalischen Völkern, aber nicht so hoch wie die griechische Kunst gekommen sei. Denn jede einzelne Ursache wurde hier wie eine eindeutige und bestimmte Wirkungen hervorbringende Kraft behandelt. Ein kausaler Hauptgedanke Winckelmanns nun war, daß neben der Gunst des Himmels, die die Schönheit körperlicher Bildungen und damit richtigere Vorstellungen über das Schöne überhaupt hervorrufe, die politische Freiheit es sei, von der die 1

»Die Natur eines jeden Landes hat ihren Eingeborenen sowohl, als ihren neuen Ankömmlingen eine ihr eigene Gestalt und eine ähnliche Art zu denken gegeben.« Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke etc. (Werke 1, 125).

Windcelmann

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Kunst »gleichsam« das Leben erhalte und mit deren Verlust sie »notwendig« sinken und fallen müsse. Wir kennen diesen durch das ganze 18. Jahrhundert gehenden Gedanken von der belebenden Wirkung der Freiheit und der lähmenden Wirkung des Despotismus, der zu dem, nur hier und da (Hume!) einmal angezweifelten Gemeingut der Aufklärung gehörte. Shaftesbury hatte ihn einst aus echter, unmittelbar englischer Lebensempfindung in seiner Losung liberty and letters verkündet, während auf dem absolutistisch beherrschten Kontinente nicht selten nur ein theoretisch blasses und konventionelles Pathos dahinterstand. Die Echtheit des Winckelmannsdien Freiheitspathos soll nun zwar nicht bezweifelt werden. Man kann es begreifen als Nachwirkung der ungewöhnlich harten, in der altmärkischen Heimat verbrachten Jugendzeiten. Dennoch hätte dies sein auch aus eigenem Leid entsprungenes Freiheitspathos ihn nicht abgehalten, das geliebte Rom zu verlassen und einem Rufe Friedrichs des Großen nach Berlin im Jahre 1765 mit Freuden zu folgen, wenn dieser nur in der von ihm gewünschten Form an ihn ergangen wäre. In seiner Kunstgeschichte selbst konnte er nun wohl, eindrucksvoll genug für seine Zeitgenossen, den Verfall der großen griechischen Kunst in die Zeit der verlorenen Freiheit und der Diadochen setzen, - denn er kannte die großen Leistungen der hellenistischen Kunst nur ungenügend und würde sie mit seinem Maßstabe auch nicht haben würdigen können. Und doch mußte er feststellen, daß inmitten des allgemeinen Niedergangs der Kunst sie doch auf Sizilien gerade unter einem Agathokles und Hiero II. noch weiter zu blühen vermocht habe. Diese Tatsache, die ihn an der ausnahmslosen Geltung seiner These eigentlich schon etwas irre hätte machen können, brachte er mit kommentarloser Schlichtheit. Im Grunde hat er als völlig unpolitischer Mensch die politische Freiheit als Quelle erhabenen Denkens, wahren Ruhmes und großer Kunst rühmen können. Genügende Freiheit war es für seine naive Frohnatur 1 schon, daß er im Rom der Inquisition mit seinen befreundeten Kardinälen frei von der Leber weg über alles reden konnte und sich nur davor hüten mußte, auf öffentlichem Platze den Papst einen Antichrist zu 1 »Ich bin selten unfröhlidi«, schrieb er in seinem Todesjahre an Heyne (13. Januar 1768, Werke 11, 455).

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nennen (an Graf Bünau 12. Mai 1757, Werke 10,196). Mit alledem soll die begrenzte Geltung seiner Freiheitsthese für die Kunst von uns nidit bestritten werden. Sie erwudis ihm audi nicht nur aus seiner Begeisterung für die griechische Antike, sondern audi aus seinem kritischen Verhältnis zu der luxurierenden Kunst des Barode und des Rokoko. Es war ein feines und richtiges historisches Gefühl, wenn er in der Abwandlung der Kunst von Raffael und Michelangelo zu Bernini hinüber audi den Wandel der politischen Gesamtatmosphäre von der freieren Renaissance zu höfischer Gebundenheit hin wirkend spürte. Die Entdeckung der Stilfolgen in der alten Kunst, die ihm gelang, hing dabei audi ganz eng zusammen mit dem Widerwillen, den die Kunst von Barock und Rokoko, verglichen mit der Kunst der Hochrenaissance, in ihm erregte. Die Analogie dieses Geschmackswandels stand ihm nun überall auch bei seiner Untersuchung antiker Kunstwerke vor Augen und half ihm, sie in geschichtlichen Stufen zu gliedern. So wurde ihm das Mißvergnügen an der eigenen Zeit, der er politisch wie künstlerisdi die Größe absprach, zum Führer in die geschichtliche Welt und ihre Wandlungen. Der Blick auf das Zeitalter der Renaissance - für Winckelmann und sein Jahrhundert war es bekanntlich das »Zeitalter der Wiederherstellung der Künste und Wissenschaften« - führte ihn auch nodi zu einer weiteren Verfeinerung aufklärerischer Gesdiiditsgedanken. Wir kennen die Lehre vom Geist der Zeiten, die in der Aufklärungshistorie bisher ziemlich äußerlich gehandhabt worden war und leicht in eine Generalabrechnung über den Gehalt an Vernunft oder Unvernunft, die die einzelnen Zeiten zu haben schienen, auslief. Die Frage hiernach wurde für Winckelmann, als er seit 1755 sein Raupendasein in Deutschland mit dem Schmetterlingsdasein in Rom vertauschte, und sidi nun als ein »Spätkluger« fühlte, allmählich gleichgültiger; er wollte jetzt nur wissen, welchen Gehalt an Schönheitswerten jede Zeit hervorbringen könne. Nun bemerkte er, daß der Aufstieg der etrurischen Kunst von der ersten primitiven zur zweiten verbesserten Stufe wahrscheinlich gleichzeitig mit der Verbesserung der griechischen Kunst erfolgt sei. Da nun gedachte er der Renaissance. Ähnlich wie damals, führte er aus, fing es nicht in einem Lande allein an und breitete sich von da aus, sondern die ganze Natur

Wintkelmann

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der Menschenkinder schien damals in allen Ländern rege zu werden. »Es sdieint, daß sich damals audi über andere gesittete Völker ein allgemeiner Geist ergossen, welcher sonderlich in die Kunst gewirkt, dieselbe begeistert und belebt habe.« Hier spürt man mit einem Male ein Gefühl für schöpferische geistige Mächte im Leben der Völker, die übergreifend über das einzelne Volk wirken, die man als einen inneren Lebensvorgang wohl verstehen, aber nidit einfach ursächlich erklären mag. Solche und ähnliche Regungen eines neuen geschichtlichen Empfindens berechtigen trotzdem noch nicht, ihn zu den unmittelbaren Wegbahnern des Historismus zu zählen. Justi (3*, 105) hat das völlig zutreffende Wort gesprochen: »Die Gesinnung, die sein großes Werk beherrscht, ist eher eine antihistorische.« Seine Kunstgeschichte war eigentlich das Seitenstück zu einer dogmatisch gebundenen Kirchengeschichte, die an dem absoluten Wert des Christentums alles darum Gesdiehene mißt. Es gibt nur e i n e Schönheit, lehrte er, zeitlos gültig, weil in der Natur selbst angelegt und dort von ihr verwirklicht, wo die Gunst des Himmels, der politischen Freiheit und des Volkscharakters glücklich zusammentrafen, bei den Griechen zu den Zeiten des Phidias und Praxiteles. Alle übrige Kunstgeschichte anderer Völker diente ihm nur als Folie, um diese Wahrheit heller erglänzen zu lassen. Das Vergleichen verschiedener Kulturen, das Aufsuchen von Ähnlichkeiten, das kausale Erklären der Verschiedenheiten aus einfachen und eindeutigen Ursachen war innerhalb der Aufklärungshistorie, wie wir bemerkten, schon überall im Gange. Genauso wie diese zu ermitteln suchte, weshalb es hier zur Vernunft und dort zur Unvernunft gekommen sei, strengte sich Winckelmann an, kausal festzustellen, weshalb es nur in Griechenland (und allenfalls in der ihm nachahmenden Kunst Raffaels) zur hohen Schönheit gekommen sei und anderwärts nicht. Auch die Kausalitätenforschung und überhaupt fast alles das, was man als »geschichtlich« an seiner Betrachtungsweise anzusehen pflegt, war ihm nur Mittel zum Zwedc, nur Hilfswissenschaft, um den absoluten Wert der hohen griechischen Kunst zu erweisen. Das geht schon aus den ersten Sätzen seiner Vorrede klar hervor. »Ich will«, heißt es da, »keine bloße Erzählung der Zeitfolge und ihrer Veränderungen geben, »sondern idi nehme das Wort G e s c h i c h t e in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der

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griechischen Spradie hat, und meine Absicht ist, einen Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern«. Geschichte im weiteren Sinne war ihm also nur Kunde, Kenntnis, Wissenschaft von irgend etwas. Davon unterschied er nun wohl eine »Geschichte im engeren Verstände«, die er im zweiten Teile seines Werkes, und zwar nur für die Griechen gab. Die Überschrift lautete: »Nach den äußeren Umständen der Zeit unter den Griechen betrachtet«, und behandelt wurde in der Hauptsache der Einfluß der wechselnden politischen Schicksale auf die Kunst im Sinne seiner Freiheitsthese. Das innere Wesen und die inneren Wandlungen der griechischen Kunst selbst in den vier Stufen, die er unterschied (älterer Stil, hoher Stil, schöner Stil, Nachahmung und Sinken), wurden im ersten Teile dargestellt. Sie gehörten für ihn zum »Lehrgebäude«, zur Wesensschau darf man sagen, nidit zur »Geschichte im engeren Verstände«. Da sieht man die Grenze, die ihn vom Historismus trennt. Diesem wäre es unerträglich, innere Wandlungen und äußere Beeinflussungen zu trennen. Er würde sich bemühen, sie in einen einheitlichen Werdestrom zu verschmelzen. Er würde deshalb auch nur einen einzigen Begriff von Geschichte, nämlich den der Entwicklungsgeschichte kennen. Die für die Aufklärungshistorie charakteristische Inkohärenz zwischen den verschiedenen Faktoren der Entwicklung, die wir schon oft beobachtet haben, zeigt sich uns hier in einem klassischen Beispiele. Nur mit dem Unterschiede von anderen Beispielen, daß dort mehr die Unfähigkeit, hier mehr die Unlust des Verfassers die Inkohärenz bewirkte. Die griechische Kunst war ihm ein Heiligtum, das zunächst einmal von allen profanen Beziehungen freigelegt und rein für sidi betrachtet und verehrt werden mußte. »Es gibt«, sagte er, »nur e i n Schönes, wie es nur e i n Gutes gibt« (Justi 32, 167). Diese Normalschönheit ist eine genaue Analogie zur Normalvernunft der Aufklärung. Diese erschien uns als die höchste Steigerung der von der Antike her herrschenden naturrechtlichen Denkweise - so hoch, daß wir ihren nahen Zusammenbruch schon oft ahnten. Auch für Kunst und Dichtung hatte, seitdem man über sie nachzudenken begonnen hatte, immer ein normativer Geschmack geherrscht, und die Querelle des anciens et des modernes, die in Frankreich um die Jahrhundertwende geführt worden war, hatte sich nur darum

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gedreht, welche Norm, die der Alten oder die der Modernen, nun gelten solle. Winckelmann hat mit gewaltigem Rude der griechischen Schönheitsnonn einen Sieg erstritten. Es war einer der letzten und vielleicht der schönste Sieg des alten normativen und absolutierenden Geistes überhaupt. Und es war gerade dem reinsten und glühendsten Verehrer der griechischen Antike besdiieden, diesen Sieg, der auch einen Sieg antiker Denkweise noch bedeutete, zu erkämpfen. Machen wir die Schranken, die Winckelmann vom Historismus trennen, nodi deutlicher. Es kann weder vom Entwicklungsgedanken noch vom Individualitätsgedanken des Historismus bei ihm die Rede sein. Wohl hat die Entdeckung der Stilfolgen und das tiefe Eindringen in die Wandlungen der Kunst den stärksten Anstoß zu geben zu einer audi im historistisdien Sinne entwicklungsgeschichtlichen Behandlung der Kunst. Aber so epochemachend seine Methode audi wirkte, so blieb doch die Entwicklung, die er zeigte, genau wie Lessings Entwurf einer Religionsgeschichte, in den Schranken des Vervollkommnungsgedankens und unterschied sich von dessen aufklärerischen Formen dadurch, daß sie die einmal erreichte Vollkommenheit mit einer schon romantisch zu nennenden Sehnsucht in die Vergangenheit versetzte, als etwas eigentlich - trotz aller guten Ratschläge für lebende Künstler, sie nachzuahmen - unwiederbringlich Verlorenes. Er sah auf sie, wie es in dem ergreifenden Schlußwort seines Werkes heißt, »so wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hoffnung, ihn wiederzusehen, mit bethränten Augen verfolgt und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt«, Und erst recht springt der Gegensatz zum Historismus hervor in seiner Stellung zum Individuellen in der Kunst. Das Große und Mustergültige in der griechischen Kunst sah er gerade darin, daß sie nicht das Individuelle, sondern das Ideale suchte, als einen »zusammenschmelzenden Auszug« dessen, was sie an Schönheiten bei den einzelnen individuellen Menschen verstreut gefunden habe. Wir erinnern uns verwandter Lehre bei Shaftesbury. Erst in der Verfallszeit, meinte Winckelmann, wurde es, »der Künstler vornehmstes Werk, Köpfe und Brustbilder, oder was man Porträts nennt, zu machen«. Er sah ihren Wert »allein imFleiße«. Diese Gleichgültigkeit gegen die Porträtkunst, die er mit Lessing

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teilte, zeigte allein schon die geistesgeschichtliche Position der beiden großen Männer. Und dodi, trotz alledem, bleibt Winckelmanns Werk ein Markstein in der Vorgeschichte des Historismus. Diese späte und feinste Blüte des naturreditlidi-normativen Geistes enthielt Keime, die ihn innerlich überwanden und zu etwas Neuem führten. Die Dialektik historischer Entwicklung, die durch Steigerung und innerliches Schwellen einer bisher herrschenden Tendenz Neues entbinden kann, sollte sich auch hier bewähren. Die eigenste und hödiste Leistung Winckelmanns, wichtiger und fruchtbarer als alle seine Kausalbetrachtungen und sogar selbst seine Entdeckung der Stilfolgen, war die Hingabe der ganzen Seele an das geschichtliche Gebilde, das er erfassen wollte, das stete Mitschwingen aller seelischen Kräfte neben den verstandesmäßig-kritischen und den spezifisch künstlerisch-optischen Fähigkeiten. Sobald dieser kritische und optische Teil seiner Aufgabe erledigt war, schwebte er mit seiner Seele, mit dem, was er den »inneren Sinn« nannte, über dem Gebilde; und nun kam der Moment, wo das Sinnliche an ihm überging in ein Übersinnliches, Göttliches, wo der platonische Eros erwachte und das sinnliche Kunstwerk Offenbarung und Symbol des Göttlichen wurde. Das ist seine »Betrachtung der von Gott ausfließenden und zu Gott führenden Schönheit«, wo die »Figuren, welche die Menschheit in einer höheren Würdigkeit vorstellen, die Hüllen und Einkleidungen bloß denkender Geister und himmlischer Kräfte zu sein scheinen«. Sagen wir noch Eines, um ihn ganz verständlich zu machen. Die völlige Verschmelzung von Seelischem und Sinnlichem, die in ihm zum Erstaunen der Welt hervortrat, wurzelte ebenso tief im Sinnlichen, wie sie sich hoch erhob zum Übersinnlichen. Sein Kunstsinn und sein Lebensgefühl, das immer nach »heroischer Freundschaft« in der Weise der Alten strebte, wurden genährt durch seine besondere erotische, dem schönen Jünglingskörper zugewandte Anlage. Aber dieser sinnlich-übersinnliche Freier der Kunst konnte dann schließlich mit Piaton sagen: »Das Hödiste hat kein Bild.« Das für uns Entscheidende war, daß hier der Intellektualismus und Rationalismus in der Erfassung des Objektes, wie er den Kunstrichtern seiner Zeit ebenso nodi im Blute lag wie der Aufklärungshistorie, beinahe völlig zu Boden sank vor dem Aufstieg

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der Seele. »Die Schönheit ist eins von den großen Geheimnissen der Natur, deren Wirkung wir sehen und alle empfinden, von deren Wesen aber ein allgemeiner deutlicher Begriff unter die unerfundenen Wahrheiten gehört.« Auch Hume und Voltaire hatten wohl von inexplikablen Geheimnissen im geschichtlichen Leben gesprochen, aber aus Ratlosigkeit, aus Versagen ihrer Erkenntnismittel. Windselmann aber sprach von dem Geheimnis der Schönheit mit der Gewißheit, zwar nicht durch den Verstand, aber durch die Seele Zugang zu ihm zu gewinnen. Eindrücke, nicht Gründe sind es, sagte er, durch die der Schönheitsbegriff sich bildet. Erst redit nicht war er nach seiner Meinung aus Büchern zu lernen. Er war selber einer der Belesensten seiner Zeit, und die Bücherwut seiner harten Jugendzeit, wie sie Justi uns geschildert hat, macht einen fast beklemmenden Eindruck. Es gehörte eine geniale Triebkraft der Seele dazu, um den dicken Bücherstaub im entscheidenden Momente abzuschütteln und emporzufliegen in das platonische Ideenreich, in dem seine Schönheit weste. Er lebte damit vor, was dem modernen Gelehrten höchsten Stiles, der auch immer die Lasten einer alten Bildungsund Büdiertradition tragen muß, zu erleben möglich wird. Winckelmann wußte, daß es audi darin seine Griechen besser hatten als die Modernen. »Es war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nämlidi viel Bücher zu kennen.« Er lebte damit die seelische Einfühlung in das geschichtliche Gebilde vor, deren der kommende Historismus als seines eigentlichen Erkenntnismittels bedurfte. Seine Gleichgültigkeit gegen das Individuelle, weil sie aus seelischer Tiefe kam, hat es dann auch nicht verhindert, daß sein Werk auf die Dauer gerade den Sinn für das Individuelle hat wecken helfen. Jeáe Individualität ist eine Ganzheit und nur als solche verständlich. Winckelmann hat zwar noch nicht das Individuelle, wohl aber die Ganzheiten in der Kunst empfunden. Der »innere Sinn«, lehrte er in der Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst (1763), geht von einer Empfindung des Ganzen, nicht von Teilen auf das Ganze aus, was »ein grammatikalisches Gehirn« zeigen würde. Die Geschicklichkeit des Gebildes, das er liebend umfaßte, konnte ihm zwar im vollen Umfange noch nicht aufgehen, weil es für ihn eine übergeschichtliche Offenbarung war. Aber daß er es überhaupt schon als ein Gebilde, als eine

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Siebentes Kapitel

große zusammenhängende Einheit auffaßte, bahnte den Weg auch zu einer individualisierenden geschichtlichen Betrachtung. Das einfache Wort am Eingang des zweiten Teils, daß er eine Geschichte der Kunst und nicht der Künstler habe geben wollen, hatte durch seine Ablehnung des personalistischen Pragmatismus eine umwälzende Bedeutung. W i r rühmten früher einmal an Leibniz die Regung eines ähnlichen Gedankens (vgl. oben S.43f.). Die ungeheure Wirkung seines Werkes auf die Zeitgenossen zeigt, daß sie das Wehen eines neuen Geistes hier spürten. Die seelische Einfühlung in die griechische Kunst, die Winckelmann übte, war eine Tat des germanischen Geistes, zusammenhängend mit der schon weithin begonnenen Reaktion gegen den romanisch-französischen Regelgeist. Schon Ranke hat bemerkt, daß man »die Rückkehr zur Würdigung der alten Kunst selbst von dem nationalen Antagonismus gegen das aus den romanischen Nationen auf uns übergegangene akademische Tun und Treiben der Künstler herleiten kann« (Werke 51/52, 543, Nekrolog auf Böhmer 1868). Einen germanischen Zug trugen vielleicht audi die ersten Regungen seelischer Einfühlung in Homer und die Bibel, die wir bei den englischen Präromantikern gewahrten. Als gemeingermanisch darf man dabei wohl eine besondere Richtung auf Freiheit und Innerlichkeit und auf unbekümmerte, wenn nötig audi kämpferische Durchsetzung dieses Bedürfnisses gegen hindernde Satzungen ansehen. Eben in dieser Reibung vollbringt das germanische Wesen meist sein Bestes weil die Reibung dabei audi zur Wechselwirkung, zur wohltätigen Befruchtung durch den romanischen Formengeist führt. Winckelmann hat sich freilich nicht sowohl durch diesen, wie er zu seiner Zeit ihm entgegentrat, in der Tiefe befruchten lassen, sondern durch den antiken Geist, aus dem der romanische Geist hervorgegangen war. Goethe hat ja das antike und heidnische Element in Winckelmann aus innerer Wahlverwandtschaft unvergleichlich dargestellt. Und in der Kanonisierung der griechischen Schönheitsnormen gewahrten wir ebenfalls einen Sieg antiker Denkweise. Trotzdem blieb Windselmann audi da, wo er ganz als antiker Heide anmutet, ein Deutscher, wenn audi ein Deutscher von seltener Art, durch die unbekümmerte, beinahe naiv-kindlidie Zielstrebigkeit seines innersten Genius. Und ebenso bewahrte er, trotzdem er zur römischen Kirche übertreten

Windcelmann

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mußte, um nach Rom zu gelangen, ein Stüde von deutschem Protestantismus in sich. Er sang auch in Rom zu seiner Erbauung ein Morgenlied aus einem protestantischen Gesangbuch. Und trug nun nicht audi seine geistesgeschichtliche Großtat, die seelische Einfühlung in die griechische Kunst, einen Zug von deutschprotestantischer Innerlichkeit? Um aber die gleichzeitig damit verbundene Kanonisierung dieser Kunst und die Wirkung, die er dadurch ausübte, ganz zu verstehen, bedarf es noch einer weiteren Erwägung. Man kann vielleicht sagen, daß es auf dem Gebiete der Kunst am leichtesten war und am ersten möglich wurde, dies neue Vermögen seelischer Einfühlung zu üben, weil sie hier durch nichts gestört wurde, wenigstens nicht in der empfänglichen Seele. Jede andere historische Einfühlung bleibt dagegen vielleicht Stückwerk und kann das dem Betrachter Fremdartige nicht völlig durchdringen. Das sollte sich bei dem werdenen Historismus des 18. Jahrhunderts zumal in der Schwierigkeit zeigen, das Leben des Staates zu verstehen. Mit der vollkommenen seelischen Einfühlung in das vollkommene Kunstwerk, wie sie Winckelmann gelang, hing nun aber mit innerem Zwange auch sein Bedürfnis nach Verabsolutierung des Geliebten zusammen. Und wir werden hier inne, daß gerade von Winckelmanns Kanonisierung der hohen griechischen Kunst und Kultur der deutsche Neuhumanismus und Klassizismus ausging, als eine der stärksten Bildungsmächte bis tief hinein in das 19. Jahrhundert leuchtend und in seinen letzten Nachwirkungen noch heute spürbar. Goethe, Schiller, Hölderlin, Wilhelm v. Humboldt haben mit Winckelmanns Augen die »edle Einfalt und stille Größe« der griechischen Kunst gesehen, verehrt und geliebt und im griechischen Menschentum eine höchste Norm des Menschentums überhaupt verwirklicht geglaubt. Es ist nicht auszudrücken, welche Schwungkraft, innere Freudigkeit und Klarheit dieser Glaube ihnen gegeben hat. Er stellte unter allen Befruchtungen modernen Menschentums durch antikes Menschentum, die seit der Renaissance erfolgt sind, die innigste und tiefste dar. Er wurde integrierendes Element des Höchsten, was die Goethezeit hervorgebracht hat. Aber er stand in einem Widerspruch zu den Tendenzen des werdenden Historismus, die eben inmitten der Goethezeit nun auch sich entfalten sollten. Denn diese führten zur individualisierenden Betrachtung aller, auch

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der höchsten geschichtlichen Kulturgebilde, während der normative Klassizismus Windtelmanns gelehrt hatte, aus dem getrübten Reiche des Individuellen emporzusteigen in die reine Luft des Idealen - zu den Ideen Piatons, die ebenfalls sdion das Individuelle weit hinter sich gelassen hatten. Aber der Platoniker in Winckelmann erinnert uns an den, audi von ihm geliebten1 Platoniker Shaftesbury, auf den wir eine der Wurzeln des Historismus zurückgeführt haben, und der platonisdi-neuplatonische Einschlag im Gewebe des werdenden Historismus wird uns fortan nodi deutlicher vor Augen treten. So ist es das wunderbarste Schauspiel in der großen deutsdien Bewegung, wie nun die idealisierenden und die individualisierenden Wirkungen platonisch-neuplatonischen Weltgefühls nebeneinander hergehen und sidi in Goethe sogar eng miteinander verschmelzen. Widerspruch? Oder dodi Lebenseinheit von Gegensätzen? Wir stehen vor einem Geheimnis der Geistesgeschidite und behalten es im Sinne, wenn wir uns nun den unmittelbaren Wegbahnern des Historismus zuwenden. 1 Vgl. Justi ! 1, 211 und Vallentin, Winckelmann (1931), S. 165. Mit den vielfach übersteigernden Auffassungen Vallentins, der zur Sdiule Stefan Georges gehört, wollen wir uns hier nicht auseinandersetzen.

ACHTES

KAPITEL

Moser Voltaires, Montesquieus und Humes Leistung für das allgemeine geschichtliche Denken, wie verschieden sie auch war, hatte gemeinsam das eine festgestellt, daß die tatsächliche Macht des Irrationalen in der Geschichte ungeheuer war. Voltaire hatte es mit Seufzen getan, Montesquieu und Hume mit ruhiger Anerkennung und mit vollerem Verständnis für die überall evident hervortretende Mischung rationaler und irrationaler Gewalten. Daß aber diese Mischung nicht mechanisch, sondern nur durch individuelle Lebensvorgänge verständlich sei, war ihnen allen nicht aufgegangen. Interesse für die äußerlich erscheinende individuelle Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Lebens hatten sie dabei in hohem Maße, Voltaire aus aufklärerischer Neugierde für alles Menschliche, Montesquieu und Hume aus einer schon erwachenden Freude am Mannigfaltigen. Aber den Eigenwert des Individuellen konnten sie nodi nicht voll empfinden. Um seinen Eigenwert zu entdecken, mußte auch die Innenseite der individuellen Erscheinungen erschlossen werden. Das konnte nur durch eine Wandlung im Seelenleben selbst, durch ein neues Erleben geschehen. Die seelischen Kräfte mußten sich erweichen und verflüssigen und in einen ungezwungenen und vertrauensvolleren Konnex miteinander treten. Es kam alles darauf an, den harten und mechanischen Dualismus zwischen Vernunft und Verstand auf der einen, den Trieben, Neigungen und Leidenschaften auf der anderen Seite zu überwinden und die innere Einheit und Totalität des Menschen zu verstehen, zum mindesten aber die irrationalen Seelenkräfte überhaupt höher zu schätzen als bisher. Die Empfindung mußte neben dem Denken sich ihren Platz erobern, der Mensch sentimental werden inmitten des vernunftstolzen Rationalismus. Das geschah in natürlichem Gegenschlage. Jede Emanzipation wirkt über sich selbst hinaus und befreit auch in etwas diejenigen Kräfte, die bisher unter dem, was sich eman-

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Adites Kapitel

zipierte, gebunden lagen. Die autonom gewordene Vernunft, die das ganze Leben erobern und von allen bisherigen Bindungen befreien wollte, mobilisierte eben dadurch das Leben und weckte Kräfte in ihm, die nun neben die Vernunft traten. Das hing zusammen mit den seit der Jahrhundertwende zuerst in Europa einsetzenden Wandlungen im sozialen Leben, dem Aufstiege der bürgerlichen Klassen und der Entstehung eines neuen bürgerlichen Geistes. Wie nun neben dem zunächst immer noch weiter geltenden Bereiche der Vernunft und des naturreditlichen Denkens gleichsam neue Landschaften entdeckt wurden, in denen Gemüt, Empfindung und Phantasie blühten und neue individuelle Lebenswerte entdeckt wurden, haben wir an Shaftesbury und der englischen Präromantik gesehen. Auch Frankreich blieb nicht ganz tot, und lebensfrische Denker und Dichter, wie St. Evremond und Marivaux gab es schon vor Rousseau. Nie wird man den Anstoß vergessen dürfen, den der deutsche Geist von dieser ersten, in Westeuropa erfolgenden Auflockerung des harten vernunftrechtlichen Erdreichs erhielt. Man ging aber nun auch weiter in Deutschland und grub tiefer. Man hatte hier audi schon durch Leibniz eine eigenartig deutsche Philosophie erhalten, die trotz ihres mathematisierenden Charakters die Einheit und Harmonie des Weltalls mit der bewegten Mannigfaltigkeit individueller Inhalte vereinigen lehrte. Leibniz, Shaftesbury, St. Evremond, Marivaux und Montesquieu, schließlich audi Rousseau mit seiner Kritik der modernen rationalisierten Zivilisation und seiner heißen Sehnsucht nach voller natürlicher Menschlichkeit, sie alle haben mitgewirkt, um in Deutschland den Geist und die Gedanken des Mannes zu bilden, der in denselben Jahren nach dem Siebenjährigen Kriege wie Herder und als der ältere von beiden in seinen ersten Ansätzen sogar schon etwas früher begann, die geschichtliche Welt mit neuen Augen zu betrachten - Justus Moser. Man kann ihn darum nicht, wozu ein Wort von Dilthey verführen könnte, schlechtweg als »gewaltigen Autochthonen« ansehen. Jene westeuropäischen Einflüsse treten in seiner Bildungsgeschichte nach seinen eigenen Zeugnissen so klar hervor, daß sie aus ihr nicht weggedacht werden können. Aber eine gewaltige autodithone Wurzel war da, eine ganz originelle Ader brach sich durch alle Zeiteinflüsse schrittweise und stetig in ihm durch, und ein ganz besonderes und merkwürdiges Milieu half sie näh-

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ren. Individuelles, Lokales und Europäisches verschmolz sich in ihm zu jener Prachtersdieinung, die schon des jungen Goethe Entzücken erregte. Das Hodistifì Osnabrück, in dem der 1720 geborene Moser sein Leben bis zum Ende (1794) zubrachte, war ein Inbegriff jener Altertümlichkeiten des alten Reichs, die von den kleineren Territorien noch treuer konserviert wurden als von den größeren Staaten. Schicht auf Schicht einer tausendjährigen Geschichte konnte man hier ablesen. Altgermanisch berührte die Lebensführung, die Siedlungsweise ut fons ut nemus placuit, der Hausbau der Bauern. Moser hat die osnabrückische Bäuerin, wie sie nach uraltem Herkommen in der Mitte des Hauses sitzt und alles überschaut, unvergeßlidi geschildert. Darüber die späteren Schichten: Grundherrschaft und Leibeigentum, Domkapitel, Ritterschaft, Stadt und Bürgerschaft mit ihren autonomen Einrichtungen und darüber wieder ein zwiespältiges Gebilde von Landesherrschaft, das seine kuriose Form erst durch den Ausgang der konfessionellen Kämpfe erhalten hatte: ein katholischer und ein evangelischer Bischof, dieser aus dem Weifenhause, folgten seit 1648 immer alternierend aufeinander. Das jüngste soziale Gebilde, dem Moser selbst entstammte, eine tatsächliche, keine rechtliche, aber sehr wirksame Neubildung war das, was Bruno Krusdh das »gelehrte Patriziat« der Stadt Osnabrück genannt hat 1 . 1773 gab es hier 33 immatrikulierte Advokaten bei einer Bevölkerung von kaum 6000 Seelen. Aus ihnen gingen die Sekretäre, Syndici usw. der Ämter hervor, die mit Bürgerlichen besetzt wurden. Die Regierungsratsstellen waren dem Adel reserviert, aber der Schwerpunkt der Geschäfte verschob sich gerade zu Mosers Zeit und in erster Linie sogar durch sein Walten in die aus den Familien des gelehrten Patriziats besetzten Ämter. Sie sorgten vetterlich füreinander - dem jungen Moser flog die erste Sekretärsbestallung schon als Student 1741 auf den Tisch. Sie 1 J. Moser und die Osnabrücker Gesellschaft. Mitt. d. Ver. f. Gesch. etc. von Osnabrück 34 (1909). Zum Ganzen dieser geschichtlichen Umwelt vgl. die anziehende Arbeit von Ulrike Brünauer, J. Moser, 1933. Unser eigenes Kapitel, das vor ihrem Erscheinen niedergeschrieben wurde, berührt sich vielfach mit ihren Auffassungen. Weniger hat uns das Kapitel über Moser in G. A. Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik etc. (1928), befriedigt.

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Memedce, Historismus

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waren in sozialem Aufstiege und behaglicher Lebensführung, sie pflegten audi geistige Interessen. Man denkt etwas an Montesquieus Parlamentsaristokratie, obgleich es zu einer noblesse de robe in Deutschland nicht kam. Aber diese ganze Schicht von bürgerlichen Gelehrten- und Beamtenfamilien wurde der Träger der neuen deutschen Bildung und dahinter dann der erste Vertreter bürgerlicher Ansprüche an den Staat. Solche politischen Ansprüche waren in Mosers Zeit und Welt noch nicht oder kaum erwacht. Man konnte noch zufrieden sein mit der sichtlichen Hebung des Ansehens und von den Gegensätzen profitieren, die zwischen den überlagerten altaristokratischen Gewalten bestanden. Solcher Gegensätze gab es nicht weniger als drei, zwischen Landesherrschaft und Ständen, innerhalb der Stände zwischen Domkapitel und Ritterschaft und innerhalb der Landesherrschaft zwischen dem katholischen und evangelischen Prinzip, verschärft durch die Tendenz des Weifenhauses, das Stift Osnabrück ganz zu verweltlichen und sidi anzugliedern. Moser brachte es nun fertig, fast allen diesen Gewalten gleichzeitig zu dienen, Advocatus patriae, Syndikus der Rittersdiaft, Regierungsreferendar zu werden, unter diesem bescheidenen Titel die Regierung zu leiten, als gewöhnlicher Advokat aber daneben bald den Ständen, bald der Regierung zu helfen. Dies eigenartige Wirken konnte schon konservativ und relativistisch zugleich stimmen - auch opportunistisch. Sein Charakter im ganzen aber ging in diesen Biegungen und Vermittlungen und überhaupt in dem Dunstkreise dieses »gelehrten Patriziats« niemals auf. Er blieb zwar in ihm, man spürt ihn auch auf Schritt und Tritt, aber erwuchs über ihn hinaus durch einen echten inneren Idealismus, der das Alltägliche wohl immer herzhaft umfaßte, aber auch durchleuchtete und erwärmte. Der schöne, hochgewachsene Mann empfand sein Leben und die Welt heiter und tief zugleich, er diente ihr mit Ernst und Treue, nicht als peinlicher Moralist in allen Einzelheiten, aber als tiefsittliche Natur. Er genoß das Vertrauen seiner Herren und die Liebe seiner Mitbürger und begehrte nicht nach Höherem, als ihm zuteil geworden. Aber ein Höchstes war ihm zuteil geworden in der originellen Kraft, die geschichtliche Welt, in der er lebte, zum Bewußtsein ihrer selbst und zum Sprechen zu bringen. Wie entwickelte sich sein geschichtlicher Sinn?

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Moser

Sein Verhältnis zur Geschichte und seine Lebensführung stehen, wie man sofort ahnt, in engster Wechselwirkung. Stärker noch wirkte sein Leben auf seinen Gesdiichtssinn, als umgekehrt. Zugrunde lag diesem die Liebe zur heimatlichen Vergangenheit und ihren Resten, die Freude antiquarisch gerichteter Menschen an Reiz und Duft vergangener Dinge - ein menschlicher Urtrieb, der in den damit begabten Menschen wohl zu allen Zeiten ebenso elementar hervorzubrechen vermag wie der Trieb zum Zeichnen, zum Musizieren, zum Betrachten der Sterne. Advokaten, Richter, Lehrer, die etwas von Altertümern wußten, alte Rechtsverhältnisse untersuchten, alte Bücher und Handschriften sammelten, gab es auch vor ihm wie nach ihm in seiner Heimat und anderwärts. Er stammte aus einer Familie, die ihn gleichsam erblich damit belastete; er sollte nach dem Wunsche seines Vaters, des Osnabrücker Kanzleidirektors, mit einer gelehrten Dissertation e t w a de successione

foeminarum

in jeudis

praesertim

Osna-

brugensibus beginnen. Seine Osnabrückische Geschichte (1762 begonnen, 1768 ff. erschienen) und die vielen historischen Exkurse seiner »Patriotischen Phantasien«, die er zu Nutz und Frommen seiner Landsleute in den von ihm 1766 gegründeten und bis 1782 herausgegebenen Osnabrückisdien Intelligenzblättern veröffentlichte, sind zunächst nichts anderes als die Fortsetzung dieser bodenständigen landesgeschichtlichen Bemühungen. Er lehrte Tradition, weil er selbst Tradition war. Er liebte das Alte, wie ein Mann den Garten des Elternhauses liebt, in dem er als Kind gespielt hat. Traditionalismus aber ist noch nicht Historismus. Traditionalismus kann sich beschränken auf die recht hartnäckige Pflege und Behauptung eines die Existenz tragenden alten Bodens und jenseits dieses Bodens ganz naiv das naturund vernunftrechtliche Denken walten lassen. Historismus aber ergreift nach und nach das ganze Denken und Weltbild. Um Moser auf den Weg des Historismus zu führen, mußte seine Liebe zum Alten eine bewußte, prüfende, vergleichende, reflektierende Liebe werden. Das geschah durch die freundlich-feindliche Berührung mit den Geistern der Aufklärungszeit. Freundlich und aufweckend berührten sie ihn in seiner Jugendzeit1. Jenes merkwürdige Ensemble von Aufklärung und Senti1

Wertvolle Daten über seine Entwicklung bis 1762 gibt W. Pleister in den Mitteilungen des Vereins für Gesch. etc. Osnabrücks, Bd. 50.

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mentalität begann damals um die Mitte des Jahrhunderts die bürgerlichen Kreise Deutschlands flüssig zu machen. Moser hat als Göttinger Student und hinterdrein steif-pathetisch gereimt, die Franzosen St.Evremond und Marivaux, den Engländer Shaftesbury verschlungen, von Gottsched vorübergehend gelernt, von Haller, Hagedorn, Günther und vor allem Klopstock sidi ergreifen lassen - um dann schließlich in Shakespeare und Homer die großen Grundgewalten der Poesie zu finden, in denen die Natur nach seiner Meinung, allen Theoretikern überlegen, gezeigt hatte, was eigentlich Kunst sei — nämlich die der Natur selbst immanente Kunst. So sah er später es an. In seiner Jugend ließ er sich die Welt der Gemütskräfte und des Irrationalen von seinen Führern, wie das allenthalben noch geschah, durdi etwas vernünftelnde und eudämonistische Argumente erschließen, pries etwa die »glückliche Unwissenheit« als Erhalterin einer besten und vergnügten Weltordnung, zog den »süßen Irrtum« des Unsterblichkeitsglaubens einer Wahrheit, die ihn vernichten würde, vor (1745). Aber er bekam dadurch schon Waffen in die Hand, um audi die verachtete Barbarei der Vergangenheit zu rechtfertigen und zu idealisieren. In der Vorrede zu seinem Trauerspiele Arminius 1749 läßt er uns schon aufhorchen durch das Urteil: »Ich bin nicht der Meinung, daß unsere Vorfahren solche Klötze gewesen, als man sich gemeiniglich bei dem ersten Anblick des Tacitus einzubilden pflegt« (Werke 9,204). Sein Sinn für die individuelle Nuance regt sich bereits, wenn er von den »feinen Wölkungen« in den Handlungen seiner Helden spridit. Auch diese neue Wortbildung erregt Aufmerksamkeit. Man hat sehr schön beobachtet1, wie sich in der Entwicklung seiner Sprache die verschiedenen Elemente seiner Bildung präsentieren, wie sie zuerst nur äußerlich nebeneinander stehen, dann durch Kampf und Bündnis miteinander verschmelzen und so aus anscheinend unvereinbaren Antithesen schöpferische Synthesen hervorbringen. Er, dessen antiquarische Interessen schon sehr frühe bezeugt sind, schrieb dodi dabei noch lange ein glattes Hochdeutsch im Sinne Gottscheds, das wohl den Einfluß fran1 Laging, J . Mosers Prosa. Mitteilungen des Vereins für Gesch. etc. Osnabrücks 39 (1916).

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zösischer Erziehung, aber keinerlei Lokalfarbe verrät. Erst von der Osnabrückischen Geschichte an schlug der Mutterboden des Dialekts und das Streben nach Altertümlichkeit und »Erdgeschmack«1 durch. Der bewußte Kampf gegen den französischen Geist begann - aber dieser war unentbehrlich gewesen, um seinen eigenen Geist zu sdimeidigen und zum Bewußtsein seiner naturhaften Wurzeln zu bringen, und wirkte auch bis zu Ende nach in der rhetorischen und dramatischen Eindringlichkeit seines Stils. Das Alte war nun überwunden, aber auch »aufgehoben« im Neuen. Der Übergang vollzog sich viel langsamer als später der Goethes vom Leipziger Stil zum Straßburger Stil. Aber Mosers Entwicklung hatte, wenn wir von dem Unterschied der Begabungen absehen, auch härteres Erdreich zu durchstoßen. Als er 1756 seinen schon Jahre zuvor begonnenen Aufsatz über den »Wert wohlgewogener Neigungen und Leidenschaften« (9, 3 ff.) abschloß, schrieb er noch in der glänzenden und überladenen Manier, die er von Marivaux angenommen hatte. Audi inhaltlich stand dieser Aufsatz unter dem Einfluß der englischen und französischen Psychologie. Aber von ihr geleitet, stieß er in ein neues seelisches Gebiet, das er nun mehr und mehr erobern sollte, vor. Es geschah, wie es gar nicht anders sein konnte, von rationalistisch-sentimentaler Grundlage aus. Es war jetzt so redit die Neigung der Zeit, in weichen Empfindungen zu zerschmelzen, aber dabei das Spiel dieser Empfindungen klug zu beobachten. Da wurden die verschiedenen Seelenkräfte, Verstand, Neigung, Leidenschaft, Tugend, wie kleine und große Gewichte in die auf und nieder gehenden Schalen gelegt, aber mit der Endabsicht, die Shaftesburysche Lehre weiterzuführen, das Schwergewicht des bloßen Intellektes zu vermindern und »ein Vorurteil zu schwächen, welches die Tugend schlechterdings zu einer Frucht unseres Verstandes macht«. Denn auch edle Triebe und Neigungen führen uns schon auf den Weg der Tugend. Und er ging weiter und Schloß sich denen an, die von der Tugend im spezifisch moralischen Sinne die Tugend im allgemeinen Sinne, die nur die »Güte eines jeden Dinges« sei, unterschieden. Wobei dann etwa die Grausamkeit als notwendige Tugend des Tyrannen erscheine. 1

Dies Wort bei Moser 1, 87; von ihm hat es dann sein Schüler Rehberg (Schriften 4, 245).

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Er erneuerte damit j a tatsächlich audi den antiken Begriff der άρετή und den Renaissancebegriff der Madiiavellisdien virtù, nicht ganz, denn das moralische Urteil darüber, ob die Tugend zum Guten oder zum Bösen gebraudit würde, blieb deutlich in Kraft. Aber alles drängte in ihm wieder zur Vollkraft des ganzen Menschen. Er war auf den Einwand gefaßt, daß seine Ansicht das natürliche und das moralische Gefühl vermische. »Allein es findet sich unter diesen beiden eben die Verwandtschaft, welche sich zwischen Seele und Körper findet, welche beständig ineinander übergehen, ohne daß wir die Grenzen von beiden Seiten mit Farben untersdieiden können.« Damit stieg er schon hinab in dunklere Regionen, wo das Rätsel der seelisch-sinnlichen Einheit und Verwobenheit, das der gewöhnliche Rationalismus gern ignorierte, begann. Aber nun lag es seiner Art ganz fern, dieses Rätsel etwa analytisch oder spekulativ enträtseln zu wollen. Sondern in dem freudigen Vertrauen, daß alles in der Welt sich zur Vollkommenheit des Ganzen füge »und selbst die so weit voneinander entfernten Sphären unter sidi ihre Beziehung haben« - man wird sofort an Leibniz wie an Shaftesbury, auf die er beide in dieser Schrift sich berief, erinnert -, ergriff er einen Gedanken, der fortan immer wieder bei ihm anklingt, und den man einen Schlüssel zur Pforte des Historismus nennen kann. Es ginge, sagt er, »mit dem Gemische unserer Leidenschaft oftmals wie mit einer rührenden Musik, wovon wir die Schönheit des Ganzen empfinden, ohne die einzelnen Töne zu zählen«. Das war die erste Fassung seiner Lehre von den »Totaleindrücken«, von denen man sich leiten lassen müsse. Unter dem Vergrößerungsglase, so setzte er 1767 auseinander (1, 196), erscheine manches als rauh, fürchterlich und häßlich, was dem unbewaffneten Auge eine süße und liebliche Gestalt sei. »Gehört nicht ein guter Teil Grausamkeit ebensogut zur wahren Tapferkeit als Kienruß zur grauen Farbe? Muß nicht ein Strich von Geiz durch den Charakter des Haushalters gehen, um ihn sparsam zu machen? Ist nicht Falschheit zum Mißtrauen und Mißtrauen zur Vorsicht nötig?« Das Ganze kann schön und gut, die einzelnen Fäden, die es bilden, können sehr häßlich sein. Idi aber will midi, so klingt es heraus, an das Ganze halten und midi seiner freuen. Der heitere Optimismus, den die Aufklärung entwickeln, die hinzutretende

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Empfindsamkeit steigern und Goethe dann später großartig vertiefen und vollenden konnte, gehörte dazu, um die Ganzheiten der Dinge und schließlich audi der Welt freudig zu bejahen trotz der Kenntnis oder Ahnung dunkler und problematischer Untergründe und Teilfaktoren. Wer aber hatte bisher, wenn er von historischen und politischen Dingen handelte, grundsätzlich diese Methode der »Totaleindrücke« verwandt? Unbewußt und naiv war es wohl oft genug geschehen, aber auch inkonsequent, denn immer drängten sich dem Urteile die stabilen Begriffe der herkömmlichen naturrechtlichen Denkweise unter und zerstörten die Frische der Impression. Moser machte sich zunächst klar, daß man mit den überlieferten Begriffen an die Dinge des praktischen Lebens nicht herankomme. Der wissenschaftlich Unterrichtete, bemerkte er (4, 25), rechnet dabei mit lauter einzelnen und bestimmten Ideen und bringt Regeln heraus, die, wenn's zum Treffen kommt, nie gegen den »Totaleindruck« bestehen. Das Auge des Feldherrn aber, das die Stellung der Feinde tausendmal gesehen hat, summiert Totaleindrücke zu Totaleindrücken, es vergleicht unendliche Massen mit unendlichen Massen und bringt unendliche Resultate heraus. Das, meinte Moser, gelte fürs Handeln, fürs praktische Leben. Aber auch als historischer Forscher fand er durch »Totaleindrücke«, daß die Begriffe, mit denen man bisher die Vergangenheit bearbeitete, modern wie sie waren, nicht ohne weiteres auf die andersgearteten und in anderer Sprache ausgedrückten Verhältnisse der Vergangenheit paßten. Erinnern wir uns, daß schon Leibniz an dies Problem gerührt hatte (vgl. oben S. 41 f.). »Ich fühle alle Augenblicke«, schrieb er 1767 an Nicolai (10, 149). »daß das Kostüm der Worte und der damit verknüpften modernen Begriffe dem Geschichtsschreiber unendliche Mühe macht.« Welche Wandlungen habe zum Beispiel der Begriff der »Freiheit« durchgemacht, in der einen Periode das Recht der Bettler - liberi et pauperes als eine Gruppe - , in der folgenden ein Vorzug und schließlich ein Ehrentitel. Die Armut der Sprache empfand er so tief, wie sie nur eben ein sprachschöpferischer Mensch empfinden kann. Aber aus der Fülle des neuen Lebens heraus, das seit dem Erwachen der Dichtung in Deutschland war, schöpfte er den Trost, daß das Wort nicht das einzige sei, wodurch sich derMensdi dem Menschen vernehmbar machen könne. Der fähige

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Leser könne »sich zu dem Verfasser hinauf empfinden und aus dessen Seele alles herausholen, was darin zurückblieb«. Man müsse audi, wenn man eine Wahrheit gefunden zu haben glaube, tiefer und tiefer graben, zunächst annehmen, daß noch unzählige Falten und Seiten verborgen seien, und seine Seele so zu pressen, daß sie alles hergibt, was sie hergeben kann; sie muß verliebt und erhitzt werden gegen ihren großen Gegenstand (4, 5 ff.). Totaleindrücke also, gewonnen auf Grund unzähliger Erfahrungen und im Momente wirkend, - wie etwa der Weinhändler die Herkunft und den Jahrgang der Weine sofort schmeckt (4, 12), der Garnhändler die Garne der Familien, die es gesponnen haben, unterscheidet (2, 127) - , sind das eine Erkenntnismittel, stufenweises, intensives Einleben in den Gegenstand mit allen Kräften der Seele ist das andere Mittel, um großen Gegenständen nahezukommen. Man muß den Dingen, so drückte er es audi aus, »Tangenten« anlegen (4,13). Man kann etwa des Menschen Gesicht in einem Hui mit zehntausend, obgleich unerklärbaren Tangenten berühren, und es kommt darauf an, wieviel einer Tangenten hätte und ob solche richtig wären. Das sagte er zunächst wohl nur für Fragen des Geschmacks. Aber solche Tangenten legte er auch der Vergangenheit an, nur mit dem einen wichtigen Unterschiede, daß er hier nicht »in einem Hui« den Totaleindruck zu gewinnen hoffte, sondern durch langsames und geduldiges Einleben und Einfühlen in die Dinge. Nur eine innere Liebe zu den Dingen, eine Freude an der Vergangenheit konnte die Geduld erzeugen, die dies Verfahren erforderte. An einer antiquarischen Liebe zur Vergangenheit hatte es, wir wir sagten, audi vor ihm schon nicht gefehlt. Er aber nahm die entscheidende und epochemachende Verbindung dieser antiquarischen Liebe mit der neuen Liebe zu menschlichen Dingen vor, die aus dem gesteigerten seelischen Zusammenleben der Menschen, aus dem Aufstiege aller irrationalen Seelenkräfte entsprang und das Auge ersdhloß für die Totalität des Menschen und der Dinge. Diese Verbindung hatte noch kein anderer der großen Geschichtsschreiber der Aufklärung vorgenommen, auch Montesquieu nicht, den Moser verehrte, dem es gewiß nicht an antiquarischer Liebe und Versenkung in die Vergangenheit fehlte, dessen seelische Innerlichkeit aber meist im Banne des Rationalismus steckenblieb. Wohl aber sahen wir den Weg zu ihr hin in West-

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europa schon seit den fünfziger Jahren beschritten durth die englischen Präromantiker und den jungen Mallet. Ein anderer junger deutscher Geschichtsschreiber, wie Mosers früh verstorbener, audi von Herder gepriesener Freund Thomas Abbt, hatte wohl schon etwas von der neuen Innerlichkeit und Empfindungskraft, aber ihm mangelte dafür die feste Verbundenheit des Antiquars mit den Uberresten der Vergangenheit, das Quellenwissen, die Anschauung der Dinge, und darum unterlag seine Geschichtsschreibung dem generalisierenden Geiste der Aufklärung. Die Kritik, die Moser an diesen Mängeln übte, ist von allgemeinster Bedeutung und zeigt die Kluft zwischen der Aufklärungshistorie und der neuen Historie mit besonderer Helle (10,147, Brief an Nicolai 5. April 1767). »Ein Mann wie er mußte nicht nach Kopien arbeiten; er durfte und konnte wohl selbst die Originalien ansehen, und sein Auge würde ihm allezeit ein Mehreres entdeckt haben, als alle seine Vorgänger gesehen hatten. Es war überhaupt eine unüberlegte Arbeit, eine von anderen geschriebene Geschichte durch die Kunst des Stils und die Macht der Gedanken aufstutzen zu wollen. Ein solches Werk wird allezeit etwas Gedehntes behalten. B e i d e s m u ß aus e i n e r a u f m e r k s a m e n und l a n g e n B e t r a c h t u n g d e s O r i g i n a l s g l e i c h s a m e r z e u g t w e r d e n . « Gleichsam erzeugt werden - der ganze neue Vorgang im Geschichtescbreiben, aus zweckbewußt auf die Originale gerichteter Arbeit und unbewußt mitschaffender Seelenkraft zusammengesetzt, klingt hier an. Die neue Arbeitsweise erforderte, weil sie das Sehen vertiefen wollte, zunächst eine Begrenzung seiner Aufgaben. Zum Universalen emporzusteigen, durfte man sich erst für befugt halten, nachdem man am kleinsten Punkte die größte Kraft gesammelt hatte. Und auch vom kleinsten, aber tief erkannten Punkte der Geschichte aus kann man Universales erkennen. Die von Voltaire eingeführte universalhistorische Betrachtungsweise dagegen, die in Deutschland von Abbt und Iselin nachgeahmt wurde, gewann ihre vielgerühmte Großzügigkeit dodi nur durch eine schnellfertige Generalrevue über Völker und Zeiten, die alle geschichtlichen Einzelgebilde summarisch in Aufklärungsbegriffe packte. Moser hat dies Verfahren wunderhübsch verspottet. »Ich fragte Abbt«, erzählt er, »ob es ratsam sei, daß er sich seinen Lehn-

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stuhl 1 unter den Äpfelbaum im Paradiese setze und aus diesem Standpunkt die nach und nach keimenden Völker um sich herum entstehen sähe, mithin in der ersten Geschichte die Feder dem Auge in der Ordnung folgen lasse.« Ein anderer Rat, den Moser seinem Freunde Abbt gab, kann uns noch einen Schritt weiter in der Erkenntnis seines frühen Historismus führen. Er möchte, sagte er ihm, »Rom erst aufmerksam als ein Dorf betrachten und die Hypothese annehmen, daß aus Landbauern Bürger geworden wären; weil ihm dieses, nämlich daß sich Bauernrecht in Bürgerrecht verwandelt hätte, ungemeine Dienste tun würde. Und wirklidi, nichts macht die römische Geschichte wahrscheinlicher, als die Gradation, welche sich in der Ausartung ihrer ländlichen Begriffe findet.« Man sieht Niebuhr seinen Schatten vorauswerfen 2 , man sieht die Fähigkeit der Mösersdien Methode der größten Kraftsammlung im kleinsten Punkte, durch originäre Versenkung in eine Originalerscheinung der Geschichte Intuitionen in universale Erscheinungen zu gewinnen durch Analogievermutung, vielleicht zuerst nur »in einem Hui« erzeugte Intuitionen, die aber fruchtbar genug waren, um auch die »langsame und geduldige« Nachprüfung zu lohnen. Weiter aber: Verwandlung von Bauernrecht in Bürgerrecht, Umwandlung einer Institution, eines Rechtsverhältnisses in etwas ganz anderes und Neues - damit wurden wie mit einem Mosesstabe Dinge flüssig gemacht, die bis dahin starr dagelegen hatten. Bisher kannte man nur das Naturrecht, ein und dasselbe überall, ewig und unveränderlich, und das positive Recht, das wohl lokal sehr verschieden entwickelt war, dessen Vorgeschichte aber meist nur so weit interessierte, als sie seine Gültigkeit belegte, dessen Sein, nicht dessen Werden von Belang war. Audi wenn ein antiquarisches Interesse hinzukam und den Veränderungen einer Rechtsinstitution seine Aufmerksamkeit schenkte, war die ge1

Abbt hatte in der Vorrede zur »Geschichte des menschlichen Geschlechts« I (1766) vom Lehnstuhl gesprochen, in dem der denkende Leser sitzen möge. 2 Vgl. über Niebuhrs Verhältnis zu Moser die kurzen Bemerkungen Hempels, J. Mosers Wirkung auf seine Zeitgenossen, Mitteilungen des Vereins für Gesch. etc. Osnabrücks, Bd. 54 (1933), S. 33 und 53, wo audi weiteres dankenswertes Material für das frühe 19. Jahrhundert sich findet.

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Widerstandskraft durch den Umschwung im Kriegs- und Heerwesen seit Ludwig dem Frommen, durch das Aufkommen der Dienstmannschaften großer Herren, die dadurch das Machtmittel gewinnen, die Freien unfrei zu machen, den Reichsverband zu lockern und nach und nach den Territorialstaat zu begründen. »Die Leute werden glauben«, schrieb Moser 1778 an Nicolai (10, 174), »ich plaudere zuviel von Heerbann und Dienstmannschaft; und doch gibt mir dieses allein den mächtigen und für eine kleine Landesgeschichte nur gar zu mächtigen Faden. Ich kann mir aber nicht helfen, mit der moralischen Schnur ist es Kinderei in der Geschichte; und alle reißen ab, außer jenem nicht.« Die moralische Schnur, das war der Leitfaden der alten vernunftrechtlichen und pragmatischen Begriffe, an dem die Aufklärer die Geschichte behandelten. »Meine Abneigung gegen alle moralischen Betrachtungen«, schrieb Moser zwei Jahre später in der Vorrede zum zweiten Teil der Osnabrückischen Geschichte (7, VI), »ist unter der Arbeit gewachsen. Diese gehören in die Geschichte der Menschheit; und das soll die Geschichte eines Staats nicht sein. Hierin kommt alles lediglich auf die Politik an.« Es war Ironie, wenn er eine Menschheitsgeschichte mit dem Rechte zu Moralpauken konzedierte. Denn diese Art von Menschheitsgeschichte hatte, wie er des weiteren sagte, keine Kraft, weil sie die Träger der Geschichte nicht als Staatsgenossen, als Aktionärs - wir werden auf das Wort zurückzukommen haben - , sondern als Menschen behandle. »Nach meinem Wunsche sollte audi der Bauer die Geschichte nutzen und daraus sehen können, ob und wo ihm die politischen Einrichtungen Recht oder Unrecht tun.« Lassen wir das utilitarische Motiv seiner Geschichtsforschung, das hier anklingt, zunächst noch beiseite. Wesentlich aber ist, daß sich Moser hier von den Grundvoraussetzungen nicht nur der Aufklärungshistorie, sondern der Aufklärungsbewegung überhaupt bewußt abwendet. Nicht der allgemeine, der abstrahierte, zu allen Zeiten derselbe seiende Mensch, dessen Handlungen nach ebenso allgemeinen Vernunftmaßstäben beurteilt werden können, sondern der konkrete, geschichtlich bestimmte Mensch mit seinen besonderen Leiden und Freuden, die man als besondere verstehen muß, interessiert ihn. Dieses Schauspiel erst hat Kraft. Der erdgebundene Bauer wurde gegen den philosophierenden blassen Städter ausgespielt.

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lehrte deutsche Forschung über bloße Feststellung dieser Veränderungen und pragmatistische Vermutung ihrer Ursachen nicht hinausgekommen. D a hatte nun schon Montesquieu den ersten großen Sdiritt getan und die Aufmerksamkeit auf das wirkliche Werden, auf die Genesis der Gesetze, des positiven Rechts aus ursprünglich andersgeartetem Redite gelenkt. Er hatte es zwar auch zunächst getan aus praktischem, politischem Bedürfnis, um Dinge zu rechtfertigen, die er zwar liebte, der Zeitgeist aber anzweifelte. Aber über der Arbeit war in ihm auch schon ein neuer Sinn für den Reiz und Eigenwert dieses Werdeprozesses erwacht. Und an diesem Punkte erkennt man nun deutlicher als sonst den positiv fördernden Einfluß, den Montesquieu auf Moser ausgeübt hat. Genau wie Montesquieu ließ sich auch Moser durch praktisch-soziale Bedürfnisse auf den neuen Weg führen. Eben das Werden eines Rechtes aus ganz anderem Rechte heraus hatte Moser bemerkt, als er aus der Praxis der Verwaltung der Frage nachging, wie es denn mit dem Leibeigentum wirklich beschaffen sei, dessen Aufhebung der Zeitgeist zu fordern begann. Einstige öffentlich-rechtliche Institutionen hatten sich, wie er erkannte, dabei in privat-rechtliche umgewandelt, und privat-rechtliche Verhältnisse waren durch öffentlich-rechtliche Faktoren mitbestimmt und verändert worden. Wie das geschehen konnte? Moser stellte sich die neue Frage nach den d y n a m i s c h e n Ursachen dieses Wandels und kam so auf jene großartige Konstruktion der Osnabrückisdien Geschichte, die nicht mehr von den Bemühungen einzelner Ärzte um einen Körper, sondern von den Schicksalen dieses Körpers selbst erzählen wollte, von seiner ursprünglichen Verfassung, von den Einbrüchen in diese Verfassung, von den Umbiegungen und Verwitterungen, die »Natur und Not« bewirkten. Er entdeckte damit das wahre historische Objekt einer editen Staats- und Nationalgeschichte, den politisch geordneten Gesamtkörper des Volkes. Von Osnabrück handelte er, aber an das deutsche Staatsvolk dachte er und durfte in der Einleitung mit Stolz verraten, daß er durch die Behandlung des Einzelbeispiels, das erwählte, der deutschen Geschichte überhaupt eine »ganz neue Wendung« gäbe. So kam folgendes Bild heraus: Das Korpus der freien Landeigentümer der Urzeit, dessen Kriege durch den allgemeinen Heerbann geführt wurden, verliert seine Geschlossenheit und

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Das alles erfordert jetzt noch eine tiefere Würdigung. Wir gingen aus von den freundlichen Berührungen und Befruchtungen Mosers durch die Geister seiner Zeit, von der gesteigerten seelischen Aufnahmefähigkeit für die »Totaleindrücke«, diese Gewebe aus unzähligen rationalen und irrationalen Fäden, die dann zur Vergeistigung seines antiquarischen Triebes und zur Erkenntnis der großen dynamischen Kausalitäten führte. Aber auch feindliche Berührungen mit dem Zeitgeiste befruchten. Erst durch den Kampf kommen neue Ideen zum vollen Durchbruche. Wir deuteten schon an, was der praktische Umgang mit dem Leben für die Entwicklung von Mosers geschichtlichem Sinn bedeutete. Es war die stete Aufgabe des advocatus patriae mit allen seinen übrigen Obliegenheiten, an Dingen zu modeln, die aus der Vergangenheit stammten und mit den Bedürfnissen der Gegenwart abzugleichen waren, all den Fragen von Zehnten, Leibeigentum, Biesterfreien, Markgerechtigkeiten, Zunftprivilegien usw. Hier war es nun entscheidend für seine praktische und dadurch auch theoretische Einstellung, daß gerade jetzt eine Invasion von modernen, unhistorischen, sich absolut gerierenden Ideen und Tendenzen in die urgewachsene Welt dieser alten Institutionen erfolgte und daß er sich fragen mußte, ob dies zum Heile oder Unheile gereiche. Die Ideenwelten des aufgeklärten Despotismus und der französischen Aufklärungsphilosophie begehrten Einlaß audi in das territoriale Stilleben des norddeutschen Kleinstaates. Denn während im rein geistigen, vor allem dem literarisch-ästhetischen Leben schon ein neuer und reicherer Tag graute, traten in Staat und Gesellschaft die alten Vernunftund Naturrechtsprinzipien jetzt erst recht mit dem Anspruch auf volle Herrschaft hervor und forderten Reformen, sei es im Sinne einer allgemeinen, vernünftig verwalteten und domestizierten Untertanenschaft, sei es im Sinne eines allgemeinen, zeitlos und abstrakt gedachten Menschentums. Hinter den Tendenzen des aufgeklärten Despotismus stand dabei als reale Triebkraft die modern verstandene Staatsräson, hinter denen der Aufklärungsphilosophie das aufstrebende Bürgertum. Die ideale Triebkraft für beide Tendenzen war ein nicht sehr tiefer, aber meistens ehrlicher Eudämonismus. Menschenliebe und Mensdienbeglükkung war die erste Losung. Dahinter kam dann als zweite schon revolutionär angehauchte Forderung der Zeitphilosophie, in der

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Achtes Kapitel

sie sich zu trennen begann von den beschränkteren Bestrebungen des aufgeklärten Despotismus, der Anspruch auf angeborene Mensdienredite im Staate und auf ihre Wiederherstellung. Unhistorisch nennt man diese Ideen, weil sie über das geschichtlich Gewordene hinausstrebten und den real-geschichtlichen Menschen ignorierten. Aber sie hatten die geschichtliche Kraft, ihn schließlich ein gewaltiges Stüde fortzureißen und die Welt umzugestalten. Wer konnte das ahnen, als sie nach dem Erscheinen von Rousseaus Contrat social 1762 in Deutschland zuerst gehört wurden? Moser hat es dann nodi erlebt, daß sie in der Französischen Revolution zum Ausbruch kamen, und seine letzten Schriften dem Kampfe gegen sie gewidmet. Aber damals in den fruchtbaren Jahren nach dem Siebenjährigen Kriege kamen seine neuen Gedanken gerade dadurch zur Reife, daß er sidi mit ihren Vorstufen, den Tendenzen der aufgeklärten Verwaltungen und der philanthropischen Zeitmeinungen kämpfend auseinanderzusetzen hatte. Er stand diesen modischen Ideen innerlich nicht ganz so fern, wie es nach seinem Kampfeseifer scheinen mö