Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher: Teil 1 Das Jahrhundert von Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg [6., photomechan. Aufl. Reprint 2019] 9783111550022, 9783111180786


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German Pages 166 [172] Year 1934

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Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher: Teil 1 Das Jahrhundert von Schleiermacher bis nach dem Weltkrieg [6., photomechan. Aufl. Reprint 2019]
 9783111550022, 9783111180786

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Ferdinand Uattenbusch

Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher

Vie deutsche evangelische Theologie seit Zchleierinacher von

Ardinand Uattenbusch Professor an der Lutheruniversität Halle

Zwei Teile

Erster Teil

Das Jahrhundert von Lchleiermacher bis nach dem Weltkrieg

6. photomechanische Auflage

1934 Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vorbehalten Copyright 1926 by Alfred Töpelmann

3n dankbarem Gedenken an

Martin Rähler meinen herzlich verehrten Lehrer späteren Kollegen und gütigen Freund

Vorwort zur fünften Auflage Der ehemalige Vortrag ist in dieser neuen Auflage seiner voll­

ständigen Umarbeitung zu einer Knappen Geschichte der „Theologie seit Schleiermacher" auf rund zehn Logen gestiegen. So will ich wenigstens kein großes Vorwort noch hinzufügen. Mir liegt nur daran, wie ich

schon das vorige Mal (ich unterzeichnete damals das Vorwort mit

„Pfingsten 1924") hervorhob, selbst darauf hinzuweisen, daß ich „im wesentlichen nur dem Gange der systematischen Theologie" gefolgt

bin. Nur auf diesem Spezialgebiete darf ich mich als Fachmann ansehen. Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß ich meinte, in den Fragen der Dogmatik und Ethik oder der Religionsphilosophie irgend­

wie ein maßgebendes Urteil zu haben. „Maßgebend" ist die Sache selbst, und auch, wer sich in bezug auf sie als „Fachmann" vorstellen

darf, soll sich gegenwärtig halten, daß er eben seinen persönlichen Sehwinkel hat und daß der bei jedem begrenzt ist. vollends in bezug

auf eine „Geschichte", die man großenteils selbst mitdurchlebt hat, inner­ lich natürlich gebunden durch seine subjektive Art, seine Eigenentwick­

lung, seine Erlebnisse an und mit vielen, die man nun versucht als

„Historiker" zu charakterisieren —, hat man sich zu bescheiden bei der

Hoffnung, nicht allzuvielen Einseitigkeiten in der Auffassung und Un­

zulänglichkeiten in der Beurteilung verfallen zu sein. (Eines darf ich versichern: ich habe danach gestrebt, unparteiisch zu sein, meinen 3uund Abneigungen in möglichster Gewissenhaftigkeit Zügel anzulegen.

Auch habe ich mich gehütet, den Ton eines Rezensenten anzuschlagen.

Nur daß ich, als ein Historiker, der von „Fach" doch vielmehr „Syste­ matiker" gewesen ist, hat sein „sollen" (dem Amte nach) und „wollen"

(der Neigung nach), mir das Recht zugeschrieben habe, die Leistungen

die in der Theologie seit Schleiermacher zutage getreten, durchgehends auch sachlich zu beurteilen. 3um Schlüsse, im letzten, sechsten Ab­

schnitt, gebe ich dann in diesem Sinne noch einen Überblick über die Lage der evangelischen Theologie in der Gegenwart, wie sie mir als

Ergebnis des Jahrhunderts seit Schleiermacher im Zusammenhang mit der theologischen Gesamttradition sich darstellt.

Vorwort

VIII

Ich habe die neuesten Strebungen in unserer Theologie diesmal genauer noch als das letzte Mal (geschrieben war die vorige Auflage

im Sommer 1923) zu kennzeichnen versucht. Ich bin hoffnungsvoll.

Mir scheint, daß die Zeit nahe sei, wo man sich endlich darauf be­

sinnen wird, Luther mal mit vollem Ernste auf sich wirken zu lassen. Leider haben wir ja noch immer keine irgendwie ausreichende Volldar­

stellung der Theologie Luthers.

Das beste Werk der Vergangenheit

darüber ist das von Theodosius harnack. Nur daß es noch ganz auf der Walch'schen Ausgabe der Werke Luthers ruht und doch auch

in der Sache (bei wirklicher Tiefe) zu eng eingestellt ist. holl's Einzel­

forschungen sind glänzend, aber doch eben nur solche und zum Teil

immerhin

auch

mannigfach

bestreitbar.

Ich

sehe die

Entwicklung

unserer Theologie bei Barth und seinem Kreise durchgedrungen bis zu Calvin. Der große Genfer ist der beste Schüler, den Luther bisher

gefunden hat. Aber ganz hat auch er Luther nicht verstanden. So ist es doch nur erst die vorletzte Station zur, so Gott will, Vollerneuerung von Luthers Grunderkenntnissen über da; Evangelium, nach welchem wir „Evangelischen" uns zu nennen wagen. Noch zweierlei. Man wird sich überzeugen, daß ich die Geschichte

wirklich bis in den Sommer 1926 verfolgt habe. Da habe ich manchen Namen genannt, der wohl bald auch wieder vergessen sein wird,- ich

habe nur gemeint, im „Moment" komme er mit in Betracht. Eben

dann muß ich mir ja vorhalten, daß ich doch nicht alle Namen „no­

tiert" habe und daß gewiß mancher der „Jüngsten" meint zu Unrecht übergangen zu sein. Ich darf da wieder versichern, daß nur mein Wissen, nicht mein „guter Wille" versagt hat. Sodann erlaube ich mir von meinen eigenen Arbeiten hier zwei zu nennen, die manche meiner

„Urteile" vielleicht rechtfertigen. So vorab den Aufsatz „Gott erleben und an Gott glauben", Zeitschr. f. Theologie u. Kirche 1923, S. 75—167.

Daneben den, wie ich hoffe, noch in diesem Jahre in den „Theol. Studien

u. Kritiken" (Jahrg. 98/99) erscheinenden, wohl etwa; umfänglicheren, mit dem Titel „Das Unbedingte und der Unbegreifbare" (ist 1927 auch

in Sonderausgabe erschienen). Beide Aufsätze entwickeln die Ideen, die

ich über das wesen der „Religion" und den christlichen Gedanken von „Gott" als Systematiker mir gebildet habe.

Halle, an meinem 75. Geburtstage,

3. Dktober 1926.

$. Nattenbusch

Vorwort

zur sechsten Auflage was ich in der vorigen Auflage, 1926, im Vorwort sagte, gilt mir noch heute, so bringe ich es auch einfach mit zum Abdruck in der jetzigen.

vielleicht wird mir jemand zum Vorwurfe machen, daß ich diesmal mehr noch als das vorige Mal das, was ich als „Historiker" vorführe,

zugleich als „Kritiker" beurteile, wenn auch nicht wie ein „Rezensent",

nur als ein solcher, der zur Sache mitspricht. Ja, da bitte ich berück­ sichtigen zu wollen, daß ich über Leistungen berichte, die Stück für Stück -er lebendigen Gegenwart angehören. Ich kam mir beim Schreiben wie einer vor, der mitten im Gedränge stehe, nicht umhin könne, sich in die Reden mit einzumischen, die er höre. Also es ist mein persönliches In­ teresse an der Sach e, das da hervorbricht; ich brachte es nicht fertig, nur „zuzuhören" und „weiterzugeben". Als ich 1926 im letzten Abschnitt

mich in der damaligen Gegenwart umsah, waren es wesentlich noch lang­ ausgezogene Linien, die ich in unserer Wissenschaft erblickte. Gerade in den Jahren seither, sind die alten „langen" Linien stark geknickt,

zum Teil abgebrochen. Ich meine vor allem zu sehen, daß die Theo­ logie endlich wieder begonnen hat, sich darauf zu besinnen, daß sie nicht

bloß ein Gebiet der Philologie, der allgemeinen Geschichtswissenschaft, eines Sinnens wie die Philosophie sei, sondern eine konkrete praktische

Aufgabe zu erfüllen habe, nämlich der Kirche in ihrem Leben nach Wesen und Bedürfnis zu helfen. Die Theologie hat zweifellos in Exegese und Geschichtsforschung vorab einfach festzustellen, was da in „Texten" nach Art der betreffenden Sprachen und der in ihrer „Zeit" und „Umgebung" geistig gewor­

denen, naturhaft stehenden Personen mitgeteilt und gefordert werde. Aber das ist nicht alles. Der Exeget muß es sich auch zur Aufgabe machen,

herauszuarbeiten, was die Christenheit, die Kirche jeder Zeit, da für sich selbst immer neu von Gott erfahre. Der Kirchen- und Dogmen­ historiker muß anleiten, zu unterscheiden, was Gnaden- was Gerichts­

zeiten für die Kirche waren, wo sie gedankenhaft das Wort Gottes

Vorwort zur 6. Auflage

X

auch bei gutem willen unzulänglich zu „Dogmen" prägte, oder aber

dauernd sich bestätigende „Lehre" von Gott, echtes Verständnis

Christi gewann. Der Systematiker mutz als Dogmatiker und (Ethiker darauf achten, wo neue Probleme austauchen, und ob er da bei dem, was auch an der Bibel „zeithaft" war, ist, bleibt, unmittelbar anknüpfen könne, oder aber andere Intuitionen für sie miteinführen müsse, um dahin vorzudringen, wo er in ihr die ewige „evangelische" Drien-

tierung finde.

wir stehen in einem Lutherjahre, dem 450. Geburtsjahre des Reformators, der immer noch nicht ganz begriffen ist. (Es ist Karl

Barths Verdienst, den Gedanken vom „Worte Gottes", ihm als einer stets aktuellen „Ansprache" Gottes an die Menschen, zumal die

„Christen" (die Menschen, die sich so „nennen" oder solche zu sein meinen, „hoffen"), wieder lebendig gemacht zu haben. Seine eigene „Theologie" versagt weithin. (Er ist in der Sache je länger je mehr

bloßer Erneuerer der calvinistischen (Orthodoxie geworden. Aber auch so ist er und bleibt er für uns ein Mahner, auf die Reformation

endlich voll zu achten. — wie in einem Lutherjahre stehen wir vor einem Schleiermacherjahre: Der große Theolog, der in Halle zuerst

ordentlicher Professor und Universitätsprediger war, starb am 12. Februar 1834. (Er soll nicht in Undank vergeffen werden, weil seine Methode

unzulänglich war. Ruch er hat gewußt und betont, daß die Theologie eine wiffenschaft mit praktischer Rufgabe für die Rirche ist. (Es war 1926 noch relativ leicht, Entwicklung und Stand der Theologie gewiffermaßen aus einer Vogelperspektive zu überschauen. Augen« blickllich kann man nur im Gedränge sich „umschauen" und versuchen,

dazu zu helfen, daß das durcheinanderwogende, mehr gefühlsmäßig, als

schon gedanklich sieghafte neue Fragen und Fordern auf die rechte Bahn komme. Gott walt's! Halle, am Reformationstage 1933.

z. rrattenbusch

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Seite

I. Die letzte Entwicklung vor Schleiermacher...................................... Aufklärung, Rationalismus. Kant, Goethe. Idealismus, Ro­ mantik.

1—19

II. Schleiermacherr Theologie....................................................................... 20—34 vergleich seiner Weltanschauung mit derjenigen Kants und Goethes. Seine wissenschaftliche Arbeit, wodurch er haupt­ sächlich wirksam geworden. in. von Schleiermacher zu Ritschl...............................................................54—65 Verhältnis von Schleiermacher und Hegel. Die Erweckung. D. Fr. Strauß. Die drei theologischen Schulen der nächsten Zeit. Das Neue an Albrecht Ritschl.

IV. Die Schule Rttschls und die religionsgeschichtliche Schule . . . Fortsetzung und Umbildung der drei älteren Schulen neben derjenigen Ritschls. Allgemeine neue Faktoren. Die Ejaupt* ritschlianer, Herrmann. Neuer Schleiermacherianismus, Troeltsch.

65-100

V. Die retztzeit 100-131 Die Zungritschlianer. Andere Stimmungen: Wiederbelebung des Idealismus. Drei Hauptrichtungen der Nachkriegszeit: Line neue Spekulation, Heim, Tillich; neue soziologische Ethik; neuer viblizismus, Barth und Genossen.

VI. Beurteilender Rückblick und versuch einer Wegmessung .... 131—156 Der Grundfehler der bisherigen evangelischen Theologie. Nötig die volle Ablösung von der patristisch-scholastischen Überlieferung der theologischen Probleme. Herausarbeitung der Ligenart der Gottesidee des Evangeliums im Unterschiede von derjenigen der griechischen Philosophie. Abwendung gerade auch von Schleier­ macher erforderlich, endlich entschlossene Hinkehr zu Luther.

wer wie ich stark fünfzig Jahre inmitten der theologischen Be­ wegung seiner Rirche gestanden hat, darf sich gedrängt fühlen, in hi­ storischer Rückschau und ruhiger Umschau in der Gegenwart vor denen,

die nun die Träger seiner Wissenschaft sind, gewissermaßen das Fazit der Zeit zu ziehen, die er durchlebte. So biete ich im folgenden den versuch, in einer nicht allzu Knappen Skizze die Entwicklung vorzu­ führen, die eingeleitet wurde durch Friedrich Schleiermacher, der mit Recht auch seinen großen Namen behielt, und in deren Mitte etwa der Theologe auftrat, Albrecht Ritschl, den ich im Titel der ersten Form dieser Schrift (des Vortrags „von Schleiermacher zu Ritsch!" 1892, 21893, "1903) wie einen Brückenpfeiler zu weiterem, „Neuem"

erscheinen ließ. Ich wage es noch nicht, in ähnlicher weise einen Theo­ logen der Gegenwart jetzt im Titel an die Stelle von Ritschl zu rücken. So sehr ich wünschte, das zu können, und so sehr ich Hoffnungen hege; ich sehe noch zu viel Nebelschwaden. Indes ich möchte keinen Raum damit verschwenden, daß ich es ausführte, warum ich zurückhalte, viel­ mehr will ich alsbald in medias res eintreten. Mein Thema bedarf vielerlei Besinnung. Denn die Theologie des 19. Jahrhunderts, und zu­ mal der letzten Dezennien, ist recht verwickelt; sie pflügte ein Neues und ist — zu ihrem Schaden — sich nie ganz klar geworden, wie abhängig sie blieb von einem Erbe, das sie vorfand. So seye ich zwar bei der wende des 18. zum 19. Jahrhundert ein, lege aber doch zum Verständnis desien, was da emporkam, zunächst dar, wie die geistige Gesamtsttuation damals beschaffen war.

I. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stellt in der Ge­ schichte der protestantischen Theologie Deutschlands ohne Zweifel einen tiefen Einschnitt dar. Schleiermachers „Reden über die Religion" (1799) waren ein wetterleuchten. Ich will über den Begriff einer Epoche oder Luther sehen einen Bruch, wir jetzt das

nur einer Phase nicht erst Worte verlieren. Selbst bei wir ja, je länger je mehr, daß seine Ideenwelt nicht nur sondern auch eine Fortsetzung bedeutete. Vie Zeit, die Mittelalter nennen, ging mit seinem Ruftreten als Refor-

llattenbulch, Vie deutsche evangelische Theologie. 6. Ausl.

1

2

Grundsinn des Protestantismus

mator der Kirche zu Ende. Wir erkennen immer deutlicher, daß bzw. wiefern das Mittelalter eine historische Einheit war; es erscheint als solche, sofern die Kirche als römische der maßgebende Faktor, der geistig tragende Grund des Gesamtlebens der abendländischen Völker geworden war. Das Christentum in seiner katholischen Gestalt hatte sich als der Zusammenhalt und eine eigentümliche, wundersam reiche

Kraft der Formung für die Massen erwiesen. Die Großen und die Kleinen, die Einsamen und die vielen, die Machthaber und die Lasten­ träger, die geistig Reichen und die geistig Armen, sie alle waren letzt­ lich verbunden in einem „Glauben", einer Art von Einstellung auf das höchste, auf „Gott". Noch immer, wie in der „Antike", war „Rom", jetzt als der Papst, der Reif um das weite Gebinde aller Strebungen der Völker, ihrer Kräfte, ihrer Schwächen. Luther hat diesen Reif gesprengt. Nicht die Kirche, aber Rom, nicht den katho­ lischen Glauben, aber die Ansprüche des Papstes in bezug auf ihn, hat er abgelehnt. Der Gedanke, daß es um die Kirche, ihr Wesen, ihren Beruf, gehe, ist ja positiv auch bei ihm der letzte, tiefste, der eigentlich treibende. Er rückte nur an die Stelle, wo der Papst stand, stehen zu dürfen, ja zu müssen meinte, darum stehen bleiben wollte, bas Evangelium. Auch der Papst dachte nicht daran, hatte nicht etwa die Absicht, dieses zu beseitigen. Luther glaubte aber zu sehen, daß er es tatsächlich beseitige, daß er mit oder ohne Absicht „das" Hinder­ nis darstelle für das Verständnis und die Wirksamkeit des Evangeliums, dessen was „die Kirche" vertreten, zur Geltung in der Menschheit bringen wolle. So wurde sein Kampfruf: das Evangelium (das Wort Gottes, Christus) allein! Sein Kampfruf galt ihm als der

Kampfruf der Kirche, soweit diese sich selbst, als Hüterin des Evan­ geliums, verstehe. Unter der übergeordneten (wenn auch verschieden

ausgeführten) Idee der Kirche blieben Evangelische und Katholiken, die Neu- und die Altgläubigen, religiös verbunden, setzte sich auch das „Mittelalter" noch fort. Will man als Historiker die Reformation yrürdigen, so muß man davon ausgehen, daß Luther wirklich nur Reformator, nicht Revolutionär sein wollte. In einem relativen Sinne war er ja auch das letztere. Und insofern hat er Epoche gemacht. Dennoch kann man auch fragen, ob selbst er nicht bloß eine neue Phase eingeleitet habe, haben wir als seine Nachfahren, als „Pro­ testanten", als evangelische Christen und Theologen, seither etwa in vollerem Sinne eine Epoche, den Durchbruch einer „Neuzeit" spezifischen Stiles erlebt? Die Antwort auf diese Frage wird davon abhängen, ob und wie­ weit der Historiker eine Fortwirkung der Kirchenidee unter „uns" ich beschränke mich bei meinen momentanen Erwägungen auf Deutsch-

Evangelium und Vernunft. Beginn der Aufklärung

z

land, den deutschen Protestantismus - zu behaupten habe. Vie theo­ logische Fragestellung hat ihren besonderen Maßstab. Wir haben nicht unmittelbar den gleichen, wie der „allgemeine" Historiker. Der letztere achtet überall auf die „Kultur", ihre vielerlei Formen und Bildungen. Der Maßstab des Theologen, auch als Historiker, ist der der „Kirche", will sagen (für uns, die Protestanten) der des Evangeliums als eines

besonderen „Interesses", einer eigenartigen geistigen Kraftquelle, eines ideellen Wertspeichers singulärer Natur für Strebungen und Schöpfungen der Menschen, Bindungen und Scheidungen in der Geschichte. Für den „Welthistoriker" ist der Maßstab die Idee überhaupt möglicher see­ lischer Leistungen, individueller und sozialer Schöpfungen des Menschen­ geistes als solchen, der Vernunft. Der Kirchen- und der Kultur­ historiker berühren sich natürlich auf Schritt und Tritt, wäre es auch nur, daß sie sich umschichtig auszutauschen haben in der Beachtung der Wechselwirkungen, welche Kirche (bzw. Evangelium) und Kultur (bzw. Vernunft) in den Völkern, die doch nun einmal vom Mittelalter her in all ihrem „Menschenhaften" von der Kirche und deren Ideen über das Menschenhafte, in Anspruch oder sage ich: in 3ucht genommen sind, aufeinander ausgeübt haben. Vie Frage, um die es sich für mich in dieser Schrift handelt, ist, ob etwa nach Luther, in der ge­ schichtlichen Fortentwicklung des Protestantismus Kirche und Kultur, Evangelium und Vernunft begonnen hätten, widereinander gleich­ gültig zu werden, oder aber vielleicht in umgekehrtes inneres Verhältnis zu treten. Das letztere würde heißen: ob ein Moment ge­ kommen sei, wo mindestens der Kirche, der Theologie die Führung entglitten sei und die Kultur, die Philosophie sie übernommen habe. Und das kann wirklich geschehen zu sein scheinen seit dem Emporsteigen der „Aufklärung". Langsamen Schritts erschien diese neue Form des geistigen Lebens, zuerst in England (Baco vonverulam; gest. 1626) und Frankreich (Lartestus; gest. 1650). Das 17. Jahrhundert ist in der Oberschicht der Intelligenz dort schon weithin aufklärerisch. Als­ bald erhebt sich dabei doch die Frage, ob da alles nach der „Not­ wendigkeit" geschehen sei, ob nicht herüber und hinüber Mißverständnisie, falsche Begehrlichkeiten, auch falsche Nachgiebigkeiten im Spiele gewesen seien. Ein Pierre Bayle (gest. 1706) hofft noch mit der alten Idee von „doppelter Wahrheit" (der Offenbarung, der Vernunft)

im Grundsatz ein friedlich-schiedliches Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie erreichen zu können. Er kam nicht weit damit, seine Art von Skeptizismus war, wie sein Positivismus, zu unklar, teils verftüht, teils schon überholt. Die Scheidungen und Bindungen gingen ihre eigenen Wege mit wechselnden Stimmungen weiter, für den Historiker handelt es sich natürlich um das Matz der Tatsächlichkeit des Austin» 1*

4

Literatur zum Neuprotestantismus

andertretens der zweierlei Wissenschaft, den Umfang der herüber und hinüber in Unspruch genommenen herrschaftsrechte und geleisteten Füg­ samkeit, zumal die Art der konkreten Neugestaltungen, die wir treffen. Ich habe nicht der Entwicklung der Philosophie, sondern nur der Theologie nachzugehen, insonderheit der deutschen, und mich, so rasch es gehen mag, zu Schleiermacher heranzuarbeiten. Denn ich habe dem Thema nach nur diejenige theologische Periode (bei uns)

zu überschauen und zu bewerten, die mit diesem Manne eingesetzt hat und, wie ich meine, gerade in der Gegenwart wieder zu dem versuche einer „Überschau" auffordert. Ich habe wiederholt versucht, mir in umfassender weise Rechenschaft zu geben über die geistige Gesamtentwicklung des Protestantismus, insonderheit auch des 19. Jahrhunderts (die des 20., bis hierher, ziehe ich im weiteren erst heran), vgl. schon meinen Artikel „Protestantismus" in PRC.3 XVI (1905; ergänzt: XXIV, 1913), sodann „Reformation und Aufklärung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart" (nur ausführliche Thesen, Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 16. Bb., 1906, S. 506-510); „v. Protest. Kirche", in „Deutschland als Weltmacht" (ein Sammelwerk, herausgeg. vom „Kaiser-Wilhelm-Dank", Verlag „Kameradschaft", Berlin o. I. [1910]; dieses Werk ist fast völlig unbeachtet geblieben, obwohl es durchaus wissenschaftlichen Charakter hat); „Luther u. d. deutsche Gegenwart" (in „Das neue Deutschland", herausgeg. von A. Grabowsky, 6. Jahrg., 1917/18, heft 3). - Aus der reichen Literatur nenne ich als zu­ sammenfassende Werke: w. Gaß, Gesch. d. prorest. Dogmatik, 4. Bb. 1867 (reicht nur bis Schleiermacher inkl.); M. A. Länderer, Neueste vogmengeschichte, von Sentier bis auf die Gegenwart (d. i. bis zirka 1870), 1880; (D. Pf lei« derer, V. Entwicklung d. Protest. Theol. in Deutsch!, seit Kant usw., 1891; Franz h. R. vonFrank, Geschichte u. Kritik d. neueren Theol., bes. d. systemat., seit Schleiermacher, 1894; Gust. Frank, Gesch. d. prot. Theol., 4. Bb., D. Theol. des 19. Jahrh, (bis zirka 1870!), 1905; wilh. Herrmann, Christi. Protest. Dogmatik (in „Kultur d. Gegenwart", herausgeg. von hinneberg Teil I, Hbt. IV, 2. Hälfte, [1906] *1909). von L. Troeltsch, vgl. Art. „Aufklärung", „Deis­ mus" und „Idealismus, deutscher"; PRL. 3 1 1897, IV 1898, VIII 1900; auch „Neunzehntes Jahrhundert", XXIV 1913; sodann „Protest. Christent. u. Kirche in der Neuzeit" (hinneberg a. a. D. 1. Hälfte; 1909), zum Teil auch „Vie Sozial­ lehren der christl. Kirchen u. Gruppen", 3. Kap., v. protestantism. („Gesammelte Schriften" I, 1912). - weiter hebe ich hervor: D. Kirn, Art. „Rationalismus und Supranaturalismus" PRL. 3 XVI, 1905; R. Seeberg, D. Kirche Deutsch­ lands im neunzehnten Jahrh., 81910. R. h. Grützmacher, Alt- u. Neuprotestantismus, 1920 (man beachte die vorangeschickten LinzelUntersuchungen in der „Neuen kirchl. Zeitschr.", 1915 bis 1918); w. Elert, v. Kampf um d. Christentum. Geschichte d. Beziehungen zwischen d. Lhristent. in Deutsch!, u. d. allgem. Denken seit Schleiermacher und Hegel, 1921; w. Lü1gert,v. Religion d. Idealismus und ihr Ende; drei Bände (der erste und der zweite erschienen zugleich 1923, der dritte 1925). G. wehrung, v. Haupttypen theol. Denkens in d. neueren Theologie, Zeitschr. f. syst. Theol. 1924; h. L. Weber, Das Geisteserbe der Gegenwart und die Theologie, 1925. - vielfach lehrreich: K. h o l l: Die Bedeutung der großen Kriege f. d. relig. u. kirchl. Leben d. deutschen Protest., 1917, u. K. filier, Vas Luthervolk. Ein Gang durch die Gesch. seiner Frömmigkeit, 1917 (vgl. zu beiden m. Aufsatz „Zur Geschichte d.

Wesen der Aufklärung.

Wiedereinsetzen der Renaissance.

5

Frömmigk. in d. evang. Kirche Deutschlands", preuß. Kirchenzeitg., XIV, 1918, Hr. 17-20). Wertvoll und wichtig kann werden das Werk „Die Religions­ wissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen" (herausgeg. von Erich Stange); erst zwei Bände 1925 u. 1926. Er sind in der Gegenwart nur ältere (zum Teil die ältesten) INünner, die wir bisher hören. Natürlich sind die Personal­ artikel der PRE. (Hauck), die prinzipiell nur verstorbene betreffen, von oft reichem Belang. - Als ausländische Werke nenne ich: E). Dubois, De Kant ä Ritschi, 1925, und (mir unbekannt geblieben); (E. (L 1H o o r e, An outline of the history of Christian thought since Kant, 1912.

Die kürzeste oder auch umfassendste Bezeichnung des Wesens der Aufklärung, des Besonderen, das sich in ihr darstellt, ist Ablehnung aller Bevormundung des Menschen als Geistwesen. In der Auf­ klärung regte und entfaltete sich die Zuversicht des Menschen, Kräfte in sich zu tragen, deren er bisher nicht bewutzt gewesen, deshalb bis­ her in Abhängigkeiten verstrickt geblieben zu sein, die nicht zu Recht bestünden, die seiner unwürdig seien. Der „Aufklärer" hegt ein Gefühl

von eigentümlicher Hoheit, d. i. Selbstherrlichkeit, in sich. (Er entwindet sich aller Autorität, zunächst noch gar nicht äußerlich (den Staat, und doch auch die Kirche, „will" man lange mindestens als Form des Ge­ meinlebens „ehren"), aber innerlich, in der Sphäre des „Glaubens", der Überzeugungen, des geistigen „Schaffens", hier will man die Freiheit haben, die Ligenkraft zu zeigen. Daß wir vieles beim Typus jener Zeit jetzt nachträglich wie Wichtigtuerei empfinden, beruht darauf, daß wir auf dem Wege, den das Geschlecht des 17. Jahrhunderts eröffnet hat (das Bahn „brechen" ist und bleibt in der Geschichte eine Großtat), so viel weiter vorgeschritten sind. Der Erwachsene hat es leicht, Kinder, ja auch sich selbst im Rückblick, zu belächeln. Begonnen hat die Aufklärung oder die Neuzeit in Gestalt neuer Wissenschaft,

das will sagen: in annoch einseitiger Bewertung des Denkens. Das „verstehenwollen", dies doch nicht bloß im Sinne eines sich selbst ge­ nügenden „Erkennens", „Deutens", sondern zugleich im Sinne eines praktischen Sichumsehens, Zurechtfindens, womöglich eines sicheren Berechnens, brach in weiten Kreisen wie ein elementares Bedürfnis her­ vor. Man kann als Historiker nicht verkennen, daß die durch die Reformation zurückgedrängte, ja abgebrochene Renaissance mit dem 17. Jahrhundert wieder einsetzt, diesmal doch in höherem, bewußterem Matze als Bemühen um eine Weltanschauung und um seelische Weltbeherrschung. Darin wirkt es mit, daß die Reformation im eminenten Sinne treibende Gedanken, d. h. Lehren betroffen hatte, die die Geister in bezug auf ihr tiefstes Lebensgefühl aufzustürmen geeignet waren, wenngleich der „Protestantismus", je länger je mehr und je äußerlicher, nur Autorität wider Autorität gesetzt hatte. Nicht so sehr ein künstlerisches verlangen und vermögen, also nicht so sehr ästhetische

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Lrasmianischer Neuhumanirmur.

Das protestantisch« daran

Stimmung und Kraft trägt die Aufklärung, als ein szientifisches und praktisches Bedürfen und Begehren. So ist es innerhalb der neuer­

blühenden Renaissance der germanische Humanismus, der Geist des noch nicht feige und altersschlaff gewordenen (Erasmus, der wieder hervortritt, diesmal ernsthafter, entschlossener, tapferer als damals, wo er der Reformation begegnete. Der jetzt beginnende aufklärende Hu­ manismus entspringt einer eigentümlichen Selbstempfindung der Menschen von dem, was „human" sei. Das Spezifische, das Auszeichnende am Menschen war — dem Ausdrucke nach wußte man das ja längst, seit der Antike — die Vernunft. Aber noch kannte man diese nur als ratio, verstand. 3m besonderen Sinne neu ist in der Aufklärung die Zuversicht, mit dem eigenen verstände alles ergründen, durchschauen, „begreifen" zu Können, dann aber auch zu sollen. Das Bewußtsein um ein „Sollen", d. i. ein eigentümliches geheimes Pflichtgefühl ge­

ist charakteristisch, gibt der Sie „war" fern von der Ruhmsucht der vorreformatorischen Renaissance. 3n den germanischen Ländern (England, Deutschland) ist das sicher eine Frucht des Pro­ testantismus. (3n Frankreich, das den Protestantismus ausstieß, bleibt oder erzeugt sich neu das verlangen nach „gloire“ und „Pre­ stige": Die aufklärerischen „Denker" dort verfallen leichter als an­ derswo der Eitelkeit. Man vergegenwärtige sich Männer, wie Vol­ taire und Rousseau.) Es ist nicht zu übersehen, daß zwischen der ersten und dieser „neuen" Renaissance ein Kulturfaktor aufgekommen war, der gerade dem Gedanken vom „humanen", was der Mensch sei und bedeute, ein anderes Gepräge gab, als solches in der Zeit der „alten" Renaisiance noch bestand. Das im Mittelalter und auch in ihr noch gültige Weltbild war dahingesunken, ein umgekehrt orientiertes hatte sich durchgesetzt, die geozentrische Kosmologie des Aristoteles war durch die heliozentrische des Kopernikus (gest. 1543; Kepler, gest. 1630, Ga­ genüber der empfundenen Personkraft, „Aufklärung" ihr Maß von Hoheit.

lilei, gest. 1642) verdrängt. Sofern das, mit Kant zu reden, eine „Revolution der Denkart" begründet hat, wirkte es sich erst spät

ganz aus, sehr viel früher beeinflußte es die Phantasie und von ihr aus die Stimmung. Die Erde wurde klein und unansehnlich im welt­ ganzen, die Verbindungslinien von Himmel und Erde gewannen anderen Charakter, „unten" und „oben" verlor seinen Sinn. Ls wurde schwer, sich die Menschheit, die Menschengeschichte als das Zentrum alles „3nterefies" des Weltgetriebes vorzustellen. „Der Mensch" trat zurück hinter „der Natur". Ein Luther hatte sinnend und anbetend, Gottes Macht preisend, stille davorgestanden, daß Himmel und Sterne und Wolken nicht niederstürzten auf die Erde; im 17. Jahrhundert begann

neues Weltbild.

Naturgesetz und Wunder

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man, die Weltordnung anders zu empfinden, bei ihr nicht mehr an lauter Einzelakte, täglich neue willensentschliehungen und Spezialdekrete Gottes zu denken. Bis in die Intimitäten des Vorsehungsglaubens wirkte das (Paul Gerhardt, gest. 1676 [„Befiehl du deine Wege"! lebt noch in der „alten" Intuition, Joachim Neander, gest. 1680 („Lobe den Herren"! schon in der neuen (wenn auch wie ein „Anfänger"!). Man begann im Denken überall auf „Naturgesetze" zu reflektieren, wenn ich mich so ausdrücke, so mutz ich ja wohl betonen, datz ich nicht übersehe, wie die antiken Denker freilich auch schon Naturgesetze ge­ kannt hatten (wenigstens in abstracto, in „prinzipieller" Statuierung [als Postulate der ja bereits reich entwickelten Mathematik!). Das Mittelalter war da von der höhe der Antike abgeglitten, und die Re­ formation hatte das Mittelalter „philosophisch" nicht überboten, die Renaissance auch nur in Ansätzen. In der Aufklärung steigt zum Teil versunkenes, in concreto doch auch sehr „neues" Denken empor. Auch das religiöse Denken beginnt nun die Naturgesetze zu berücksichtigen. Die Theologen entdecken wie einen früher so nicht bekannten neuen Begriff den des Wunders als eines gedanklichen Ärgernisses, eines „Anstotzes" int Naturgeschehen. Sie empfinden fortan viele biblische Erzählungen wie bezweifelbare Tatsachen: Der orthodoxen Ronfessionsdogmatik nach gar kein „Thema", verfällt die Idee der miracula jetzt (zuerst in England) der Apologetik. Praktisch wichtig war das Zurücktreten vielen Aberglaubens. Die Astrologie hatte ihren geistigen Nährboden verloren. Freilich hielt sich der hexenwahn. (Seit dem Ausgange des 17. Jahrhunderts im Grunde doch nur noch als juristische Rückständigkeit, vielfach blotz territo­ rialer Art!) Der „klein" gewordene Mensch begann sich in sich selbst zu konzen­ trieren. Das ist das eigentlich Neue des aufklärerischen Neuhumanis­ mus. Der Mensch verlernt es sich naiv auszuleben, er wird sich zum Geheimnis, einem Rätsel, körperlich und seelisch, das ihn zuletzt ge­ rade sich wichtig macht. So sucht er sich bewutzt zu werden, worin wohl sein Wesen bestehe, was ihm als spezifische Art innewohne und bleibe. Und da eben tritt die Vernunft in das Bewuhtsein von sich als unvergleichliche Kraft! (Man mag auch hier daran denken, datz die „hohe" Antike das schon vorangenommen: das ävOpwnog perpov Twv nävTwv, im Menschen der vou$, wurde nur wieder „ent­ deckt".) Noch empfand man die Vernunft als „eingestiftet", aber nun auch wie anvertraut. Natürlich setzte die Aufklärung sich nicht von heute auf morgen durch. In Deutschland später und langsamer (stotzweise erst um 1750), als in Frankreich und zumal England (bald dem klassischen Lande des

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Die Doppelwissenschaft der Aufklärung

Latitudinarismus, d. i. trivialwerdender Aufklärung).

Man steht,

daß die deutsche Aufklärungswissenschaft, der Rationalismus, in höherem Matze sich besinnendes Pflichtgefühl hinter sich oder unter sich hatte. Ein „Moralismus", wenn auch wundersam abstrakter, wenig inhaltvoller Krt lag ihm im Blute. Das von Luther geweckte herbe Gefühl von Verantwortlichkeit eines jeden vor sich selbst wirkte darin fort. Der „aufklärende" neue „Humanismus" war zum wagen be­ reit und „kämpfte" für sein Recht mit rücksichtsloser, auch opferbereiter Entschlossenheit. Es war noch nicht ungefährlich, der Rirche und ihrer Autorität zu trotzen, im Protestantismus so wenig als im Ratholizismus. Das Auseinandertreten zweier wissenschaftlichen Strömungen, einer spe­ kulativen, und einer empiristischen, ergab sich wie von selbst und als­ bald (Descartes; Bacon). Dieser Doppelung entspricht es, datz der Klotzen Begriffsbearbeitung an der Hand, sei es der Deduktion, sei es vielmehr der Induktion (Spinoza, Leibniz; hobbes, Locke), sich die nüchterne Sammlung von Beobachtungen über die Tatsachen, die Dinge und Vorgänge in der Welt, die „Naturwistenschaft" zur Seite stellte. Das Mittelglied beider Arten von Wissenschaft war die Mathe­ matik, die im 17. Jahrhundert wieder in eine ihrer Grotzzeiten ein­ trat. So entstand zugleich mit neuer letzter Seindeutung (Metaphysik)

eine neue, die rechnende Physik. Die großen Systeme der Philo­ sophen fanden eine Ergänzung an demjenigen Newtons. Die „moderne" Weltanschauung begann ihren Siegeszug. Das Universum trat nicht nur vor den geistigen Blick, sondern erschien „konstruier­ bar". Das Unendliche gewann den Eharakter des von der Vernunft Bezwingbaren, Beherrschbaren. — Neben der Naturwissenschaft ist ja die Geschichtswissenschaft der Zeit nicht zu übersehen; sie ent­ springt auch dem Intereste am „Beobachten", des Ronkret-Menschlichen. Aber sie bleibt noch in den Rinderschuhen stehen und ist sehr viel klein­ licher als die Naturwistenschaft (bloße, ziellose Polyhistorie; als Theorie sich verlierend in „Pragmatismus", Auflösung alles Geschehens in Kon« tingentien, letztlich Zufälligkeiten momentaner, meist bloß personaler Art)1). ’) Die spekulative und die empiristische Philosophie waren beide gleich sehr „Rationalismus", nur daß jene das Denkvermögen sich rein Iogi» zistisch vergegenwärtigte und dementsprechend auswertete, letztere es durch die Sinne und ihre Wahrnehmungen, oder auch von der Historie (den „Individuen") her, unterbaute. Erstere Richtung ist eine Fortsetzung des mittelalterlichen Realismus (Intuitionismus), letztere des Nominalismus (Feminismus). Jene endete als Rationalismus im engeren Sinne, letztere als ein Materialismus, ober aber Psychologismus, die doch beide ihren Eharakter daran haben, daß auch sie nur auf wissen und „Erklären" zielen. (Line gemeinsame Frucht beider Richtungen ist der Skeptizismus Humes.) Zwar hat der Materialismus, der wesentlich auf Frankreich beschränkt blieb, auf Technik gedrängt, aber vor-

Fortwirkung des konkret-kirchlichen Gottesgedankens

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2. (Es ist fast auffallend, datz sich die Zeit nicht noch ganz anders in geistigem Hochgefühl verlor, als es der Fall gewesen. Die Philosophen, die Naturforscher übten bewundernswerte Disziplin an sich selbst. Noch verloren sie sich nicht in geistiger Berauschung, noch wußten sie, datz nicht wirklich „alles" vom Menschengeiste erfaßt werde (selbst Spinoza behielt es im Auge, datz das Unendliche auch „unendliche" Attribute habe: „wir" kennen nur zwei, das Denken und die Ausdehnung!). Die religiöse Stimmung und selbst die Gedankengestalt, welche die Kirche hegte, behaupteten sich, und nicht bloß in einem Winkel des Be­ wußtseins. Der Gottesgedanke verlor seine konkret-kirchlichen Merkmale für die Wissenschaft. Aber so sehr auch das „Denken" ihn in sich „aufklärte", selbst wenn Spinoza ihn dem der Natur gleichsetzte (und damit den „Pantheismus" - das Wort wurde für seine Philo­ sophie erst geprägt - erneuerte), er blieb wie ein Sonnenschein, wie trotz allem das Leuchten aus einer Überwelt in der Naturwelt. Religionsspötter, eigentliche Atheisten, erzeugte nur Frankreich (de Lamettrie, „L’homme machine“, 1748). (Es wurde wichtig, datz die Kirche seit alters, in apologetischem Interesse (das doch nicht nur nach „autzen" Betätigung fand, sondern „in" der Kirche, in der Theo­ logie nicht minder stark war), ein Matz rechter Gotteserkenntnis als „vernunfthaft", dem Menschengeschlechte als solchem in Adam von Gott selbst eingestiftet, in diesem Sinn ihm „von Natur" eignend anerkannt hatte. Galt der Kirche die Gotteserkenntnis, welche die Menschen im Paradies besessen, seit dem Sündenfall immerhin als verdunkelt, ver­ armt, für den einzelnen (durch den Teufel) bedroht, so doch das Dasein „Lines" Gottes als für und durch die verbliebene Ver­ nunft gesichert, für etwas, das jedem „beweisbar" sei, wenn er denn zweifele, aber denk fähig sei! Wie daraufhin der Glaube an „Schöpfung" und „Vorsehung" fast als ein selbstverständlicher sich behauptete, so kaum minder der an „Unsterblichkeit der Seele" (in diesem Sinne der erst eine solche, die eigentlich nur anschauliche Exempel für die Leistungs­ fähigkeit stofflicher Gebilde (automatisch sich bewegende Figuren, tanzende, fressende „Tiere", auch „Sprecher" u. dergl.), damit „Beweise" für seine Grund­ ide e schaffen sollte. Noch war und blieb alles auf Theorie, d. h. lehrhaft, eingestellt. (Huts) die Pädagogik, der der Individualismus bzw. Pspchologismus Interesse zuführte: Rousseau, gest. 1778; anders doch der von seinen Ideen mit­ befruchtete, jedoch immer mehr der Aufklärung entwachsende deutsche Schweizer Pestalozzi, gest. 1827). (Erft das 19. Jahrhundert entwickelte die eigentlich technische Kultur, brachte die Großerfindungen, die arbeitenden Ma­ schinen, die neuen Verkehrsmittel, usw. Jetzt erst kam die Periode wertvoller, kraftschaffender Naturforschung, einer neuen Medizin, auch neuer see­ lischer Lebenskunde. Und auch echte Geschichtswissenschaft, das Verständ­ nis für „historische Persönlichkeiten", die führenden Geister, das Achten auf weite Zusammenhänge, das Fragen nach dem Sinn der Geschichte.

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Drei ewige Wahrheiten.

Weltfreudigkeit.

Der Deismus

an ein „Jenseits" nicht nur für Gott, sondern ganz ebenso für den Menschen - als Hoffnung), und zumal auch der Gedanke der „Tugend" als einer notwendigen Anforderung eines jeden an sich selbst. 3n dieser bekannten, nur uns trivial anmutenden Dreiheit von „ewigen Wahrheiten" sah die Aufklärung die unerschütterbare „natürliche Reli­ gion", auf die auch die Kirche sich je länger je mehr zurückzog. Für sie trat die Theologie (ihrerseits die Bibel, die Lehre Jesu und der Apostel, mit geltendmachend und die natürliche Religion auch von da aus als „Wahrheit" verherrlichend) ohne Skrupel und Wanken ein. vatz es ihr damit sehr ernst war, zeigte sich in dem Streite um die „wolfenbütteler Fragmente", die aufregend wirkten, ja es vielen (vor­ erst) noch zum Bewußtsein brachten, daß die Bibel doch ein Plus habe

und eben dafür Gffenbarungswert beanspruche. Vie praktische Form der natürlichen Religion und der ihr entsprechenden „Kirchlichkeit" war

auf der einen Seite eine zeitweilig schier grenzenlose Weltfreudig­ keit (die sich an „allem", auch dem kleinsten Lebewesen, der all­ täglichsten Naturerscheinung entzündete (sog. physikotheologie!], dann freilich durch das Erdbeben von Lissabon im herzen getroffen fühlte),

aus der anderen ein uns oft „philiströs" vorkommender Tugendstnn, Tugendstolz („Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab" — wenn doch in der Gegenwart noch solche Biederkeit als „selbstverständlich" gefordert und betätigt würde!), der sich als Glaube an eine „ewige Vervollkommnung", einen „stetigen Fortschritt" des Menschengeschlechts, zu starker Strebenswilligkeit auswirkte. Vie Natur, das „Weltall", von Gott her, in seiner „überall" zutage tretenden „wohlordnung", seiner zu immer neuem Preis auffordernden „Erhabenheit" und Schöne, ewig „fertig" (Gott selbst nur befriedeter „Betrachter" seines wohlgelungenen Werks: Deismus!); in dem Uni­ versum der Mensch, die „Menschheit", zum „Guten" von einer Stufe zur anderen emporsteigend, darin unendlicher „Glückseligkeit" entgegen­ gehend, also von ewigen Idealen erfüllt: in diesem Zwiefachen gipfelte die Ideenwelt der Aufklärung, wie edel die aufklärerische Frömmig­ keit sein konnte, zeigt Gellert (gest. 1769); gleich p. Gerhardts Liedern sind die seinen (bei charakteristischen Schwächen jauch Gerhardts haben sie in ihrer Weise)) ein Schatz der Kirche. Es kann nicht verwundern, daß die Aufklärung in hohem Maß Interkonfessionalismus und Internationalismus hervorrief. In ersterer Beziehung stellt sie den Höhepunkt dar jener Reaktion gegen den gewalttätigen, dazu von den Staaten, vielmehr von den Dynastien, politisch mißbrauchten Konfessionalismus (dem der dreißigjährige Krieg entsprungen war), die ja letztlich eine seelische Ermüdung bedeutete. Der Internationalismus ist nicht solche, sondern die spezifische Lebendigkeit, die aus der natura-

toeitenempfinbung. Rationalismus vulgärer Art

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listisch-idealen Weitenempfindung hervorging, welche dem neuen „Weltbilde" entsprach. „Die" Natur, „die" Menschheit, das waren

zwei konzentrische Kreise, die so religiös wie moralisch in Aufstufung und Abstufung die Stimmung umspannten und beherrschten. (Es ist für die rationalistische, deistische Theologie ein Verhäng­ nis gewesen, daß ihr kein wissenschaftlich bedeutender Vertreter er­ stand. Nirgends (auch nicht etwa in England) tritt uns ein Denker von

geistigem Rang in ihr entgegen. Man kann fragen, wie wohl ein solcher ihr ein Gepräge von Grötze hätte geben sollen. 3n der Tat, in dem Matze, als dieser Theologie der „verstand" das Ganze des Geistes, der „Vernunft" zu sein schien, besatz sie ein zwar kritisch schneidiges, doch aber für ihre Sache, das Evangelium, ohne Zweifel unzulängliches Instrument etwaiger Tiefenforschung. So wurde der Deismus fast mit Notwendigkeit die Religion derjenigen Klasse der Kirchenglieder, für die der „gesunde Menschenverstand" bei ihrem be­ grenzten Horizont wirklich wie die höchste Norm alles Deutens und Glaubens sich darstellen mag, der Klasse des „guten Bürgers", des sog. Mittelstands. Die darunterstehende Schicht kam für „Denken" überhaupt noch nicht in Betracht. Die geistige G der schicht empfand den Deismus bald als arm; sie hat sich in dieser Zeit der Kirche und der Theologie entfremdet. Um so mehr sank der Deismus zu der­ jenigen Flachheit herunter, den sein Spätname „Rationalismus vulgaris“

vergegenwärtigt. Ruch ein Friedrich Schiller hat ihn nur mit Gedichten, die zwar starken, aber allzuviel rhetorischen, d. h. mit phrasenhaftigkeit belasteten Schwung haben, zu vertreten vermocht. (Ich denke an seine „Worte des Glaubens“; sein Gedicht „Hoffnung", zumal seinen verzückten Sang „Rn die Freude"), wie weit er dem Deismus

treu geblieben, ist dabei noch eine Frage für sich. Gb die evangelische Kirche und Theologie sich der Aufklärung in der Werdezeit hätte in den weg werfen müssen? 3n Deutschland war das die Zeit von Leibniz (gest. 1716). Aber dieser begegnete ihr sehr freundlich, und durfte sie nicht vollends meinen, sich der Philosophie freudig ergeben zu sollen, wie sie in der Schule Thrift. Wolffs (gest. 1754) gepflegt wurde, welche die „Dogmen" vorerst noch selbst rationalisierte, dadurch im einzelnen freilich denaturierte, doch aber letztlich noch eine Art von Supranaturalismus zurücklietz? hatte sie denn überhaupt geistige

Waffen, sich ihrer nachhaltig zu erwehren? wir treffen, wenn wir den Siegeszug der Aufklärung oder Philo­ sophie ins Auge faffen, zum Teil auf jenes geheimnisvolle Gesetz des seelischen Lebens, das gewiffermahen die „Generationen" voneinander so ablöst, datz von bestimmtem Moment ab mit oder in einem neuen Geschlechte ein neuer Geist erwacht und hier allmächtig wird. Es ist

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Auswirkung des Melanchthonismus

da, als ob plötzlich „alle", d. h. die „Jugend" dieses Augenblicks, anders organisiert sei als die „alternde", seit einer gewissen Zeit sich gesichert erschienene Generation. Vie auf Verabredung, wohl nach dunkelem psychi­ schem Erbgesetze, verläßt eine neue Schicht von Geistern die „Väter", ihr selbst unbewußt weithin den „Großvätern" (man presse das Wort nicht!) sich wieder zuwendend, deren Ideen und Werk wiederaufgreifend und frei­ lich doch nicht etwa wiederholend, sondern zugleich „anders" auffassend, neuwendend. Indes mit dieser Beobachtung kann man höchstens „biologisch" das oft so erstaunlich plötzliche Schwinden einer Richtung und Vordringen einer anderen, fast umgekehrten, sich verständlich machen, wertvoller ist es, daß man beachte, wie bei größerem Überblick klar wird, daß starke inhaltsvolle, „geniale" Programme nur langsam zu tatsächlicher Verwirklichung kommen, daß in der Regel vorerst bloß dieses oder jenes Stück, eine „Seite" davon begriffen wird, vielleicht hat der Bahnbrecher ein besonderes Schlagwort gehabt, und die es aufgegriffen, haben vielleicht nicht mal ihm volles Verständnis entgegen­ gebracht. Luthers Werk steht in der Geschichte deutlich unter diesem Zeichen. Ich folge nur der Linie, auf der man seinen Namen festhielt. Innerhalb ihrer setzte sich (das weiß zur Zeit jeder) Melanchthons Auffassung, d. h. eine sehr

erhebliche Verengung der Intuition, die Luther leitete, zunächst durch. Das Maßgebende daran ist die Deutung der „Rirche" als einer „Schule des Glaubens", also einer Lehranstatt. Mochten auch die „Lehrbücher" mannigfach gerade Melanchthons Lehren beiseiteschieben, die Grundtendenz der neuen Rirche blieb doch vorerst von ihm beherrscht. Diese Grundtendenz behauptete sich auch angesichts der Aufklärung, ja sie kam dem Geiste der Aufklärung, ihrem Grund­ interesse, ihrem Leben und weben in „ Gedanken",Theorien,Sy st emen, Ronstruktionen direkt entgegen. Die lutherische Rirche war von Melanchthon auf die Bahn geführt, wo der „Glaube" im Grunde (wie­ der) das „Fürwahrhalten" einer bestimmten Summe von „Glaubens­ lehren" geworden. Gewiß, das Moment des „vertrauens" (zu Gott)

ging nicht einfach verloren, aber als Schlußpunkt, letzter Effekt des Glaubens war es nur noch sehr undeutlich psychologisch in all den Bibel Wahrheiten verankert, die die Dogmatik in der Serie der „loci“ mehr äußerlich geordnet als innerlich geeint hatte. Die predigt war intellektualistische Erörterung geworden und geblieben; die „Laien"

wußten kaum anders, als daß die Rirche „Doktrinen" vertrete und als „Rechtgläubigkeit" die Zustimmung zu allerhand wunderbaren, dunkeln, gewiß großartigen, aber auch schwierigen theoretischen Be­ hauptungen ansehe. Die Orthodoxie konnte nicht umhin, den Fehde­ handschuh aufzuheben, den in der Aufklärung der „verstand" ihr hin­ warf, also auf dem Felde des „Denkens", des logischen Operierens,

Orthodoxie und Pietismus

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ihre Waffen mit denen des Gegners zu meffen. Gerade da hatte sie stumpfe Waffen. Daß der Gegner in Hinsicht der „natürlichen" Ge­ danken über Gott, die zwiefache Welt, den Menschen und seine Be­ stimmung ihr überwiegend so willig zur Seite trat, diese ihre „Voraus­ setzungen" rundum anerkannte, nicht ihre „Grundlage", nur den Gberbau beanstandete (längere Zeit sogar nur „intellektualisierte", apo­ logetisch zermürbte), verwirrte sie vollends und schwächte sie.

Ließ sie sich erst auf Diskussion über die Bibel als „übernatür­ liche", rundum von Gott aufgerichtete Autorität, schlechthin inspiriertes „Gotteswort" mit der Aufklärung ein, stieg sie mit ihr in die Arena des verstandesmäßigen Fragens, Zweifelns, Beweisens, so waren ihre Argumente rasch erschöpft und zerstört. Sie machte schließlich freilich aus der Not nur zu sehr eine Tugend und „akkommodierte" sich dem „Geiste der Zeit", auch wo keinerlei Hot sie zwang. Ich denke an das Eingehen der schwachselig gewordenen Orthodoxie auch auf denUti lit arismus, zu dem der sie quasi stützende Wolffianismus sich in der Moral gestaltete. Immerhin darf man gewisse bekannte Anekdoten über die predigt nicht zu hoch veranschlagen. (Es handelt sich da, genauer zu­ gesehen, um Geschmacklosigkeiten dieses oder jenes Dorfpfarrers in der selbst dekadent gewordenen Aufklärung; recht erwogen, gehört es zu den Vorzügen des 18. Jahrhunderts, daß konkrete Fragen des Familien-, Gemeinde-, Volkslebens so reichlich auf der Ranzel in „mora­ lische" Überlegung gezogen wurden. Der Pietismus hielt den Sieg der von England herüberdringenden Aufklärung für ein Menschenalter in Deutschland auf. Er schuf die eigentlich zum Glauben an die Bibel, als (vrakelsammlung gehörige Mannigfaltigkeit religiös-sittlicher Praxis. Aber er verlor sich in velleitäten, Liebhabereien und Übertreibungen. So diskreditierte er an seinem Teile zuletzt nur auch die alte Glaubensart. Selbst die edelste Form der orthodoxen Frömmigkeit, das „Rindesvertrauen" zu dem Vater im Himmel, bot keine Schutzwehr gegen die Aufklärung und ihre Reduktion des L eh rbestandes (der „Dogmen") der Rirche. Im Gegen­ teil: gerade da konnte die Aufklärung als Schmeichlerin erscheinen, von dem „Vater über dem Sternenzelt" wußte auch sie zu reden. Nur von einem Punkte aus hätte die Orthodoxie sich ihr mit Erfolg ent­ gegenstemmen können, vom alten echt Lutherschen Sünderbewußtsein aus. In thesi hatte sie ja alles im Evangelium, in der Bibel darum gruppiert. Aber freilich es auch sehr zur Phrase werden lasten. Und vom Pietismus war es durch Verschrobenheiten vollends diskreditiert worden. Auch die große ideale Eh r i st us liebe und Himmels Hoffnung (mehr als Unsterblichkeits- und Vervollkommnungsglaube!), die die reli­

giös großen Orthodoxen, ein Paul Gerhardt u. a., gehegt hatten, war

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Die natürliche Religion

vom Pietismus nur zu sehr ins Phantastische verzerrt worden. Was den Pietismus stark gemacht hatte und sein Vorzug war, seine Gefühlslebhaftigkeit, übernahm die Aufklärung in gewissem Matze, sie setzte es nur um in Sentimentalität. In Gefühlen zu schwelgen, sich zu „begeistern", war die Aufklärung sehr bereit. „Gerührt" zu sein von Gottes „Güte", erschien auch ihr als „Tugend". Aber sie war in dieser Rührung auch rasch geneigt, an Gottes Nachsicht, sein Erbarmen mit der „Schwäche", zu glauben, hier war das Geschlecht, das um 1750

den Pietismus abstietz, recht ein Beispiel für jeweiligen elementaren Stimmungswechsel. §ut Bekehrung, gar „Butzkampf", hatte es nur noch das milde Lächeln dessen, der zur „Klarheit", Reinheit der „Gedanken" über Gott gekommen sei. hier noch einiges Genauere zur sog. natürlichen Religion. Eine überaus wichtige Aufgabe wird es sein, ihr einmal im vollen Maße durch die Geschichte zu folgen. Warum gerade „natürliche", nicht etwa „vernünftige" Religion? Zuletzt heißt die entsprechende Weltanschauung bei uns doch „Ratio­ nalismus". Ist das Zufall? Oder irgendwie mit der Zeit gewechselte Stimmung? Schon der Ausdruck birgt eine kleine Frage. Seit wann sprechen die Theologen von „religio" statt „theologia" naturalis? (Es ist ja charakteristisch, daß die Orthodoxie (bei uns in Deutschland) die „Theologie" als „Habitus" und zwar „practicus", d. i. ad aeternam salutem perducens, dachte; es spiegelt sich darin, was ihr Religion war. Mir scheint, daß die Engländer voran­ gegangen sind mit dem Terminus religio naturalis (zuerst bei Bury? fvgl. Latitudinarius orthodoxus I, 1697; Lechler, Gesch. d. engl. Deismus, S. 146, Anm. 3]) bzw. religion „ot nature" (so Tindal; Lechler, 5.527: die Unter­ scheidung von „natürlicher" Religion und „Natur"religion ist erst mit wachsender Kenntnis der „Religionen" aufgekommen). Die „Enzyklopädisten" sprechen von religion „naturelle" als bekanntem Wechselausdruck für „Deismus" (die Unterscheidung des letzteren wieder vom „Theismus" geht auf Kant zu­ rück). Die Aufklärung (im engeren Sinne, die Periode des Rationalismus) laßt die natürliche Religion zur geistigen Großmacht werden. Durch sie wird diese die stolze Siegerin über ihre starke, bis dahin so gefährliche Rivalin, die Orthodoxie. Don letzterer war sie - schon in der alten, ja ältesten Kirche, vollends im Mittelalter, in der Scholastik - auf katholischer Seite so gut wie dann „auch" auf protestantischer, neben sich geduldet worden als ancilla. Aber die Magd hatte sich unvermerkt (unter dem Zureden der Philosophie) sehr herrisch fühlen gelernt und schob nun die domina beiseite. Die Vorstellung von „einer" natürlichen Religion vor, neben und im Christentum setzte sich um in die von „der" natürlichen Religion als einziger wahrer Religion, d. h. sie zeigte Im 18. Iahrhundert, welch kritische Potenz sie sei. Mit der Gewißheit ihrer „Natürlich­ keit", unmittelbaren Verständlichkeit, trat sie der „Künstlichkeit", Gemachtheit, auf Autorität, wenn nicht gar Brutalität gestützten bloßen „Ansprüchlichkeit" des Dogmas entgegen. Gegen den Gedanken der Offenbarung wandte sie sich nicht: sie selbst wollte „Offenbarung" sein, nämlich die Uroffenbarung. Die katholische und evangelische Kirche hatten sie nur wie ein letztes Nach­ leuchten solcher gelten lassen. Sie wollte jetzt dafür gelten, bas volle Weiterleuchten derselben zu sein (Tindal: ihm ist jTitel einer Schrift von 1730, ins Deutsche übersetzt 1741s Christianity as old as the Creation.

Idealismus und Romantik.

Hont und Goethe

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„or" the Gospel a republ i catio n of the religion of n atu re). So wurde die natürliche Religion zu einer revolutionären Kraft im geistigen Leben der Christenheit. Nicht nur im kirchlichen Leben derselben, sondern auch ja viel gefährlicher noch für das staatliche. Ihren Hintergrund hatte sie an der Gleichung natura und ratio communis (oder sana). Vie ratio com­ munis schloß ein die religio naturalis, beide dann die „lex" naturalis, und diese wieder leitete zum „jus" naturale. C§ gehört nicht zu meiner Rufgabe, den Ideen vom „Naturrechte" hier nachzugehen. Die „Aufklärung" hat nicht nur in der Theologie und Philosophie vermeinte Götzen gestürzt, sondern ganz besonders auch in der Staatslehre Die englische und französische Staats» Umwälzung, das Aufkommen der Demokratie, gehört zu ihren Früchten. - Die bei weitem besten, eingehendsten Forschungen über die Geschichte und Bedeutung der Idee von der „Natur" oder „Natürlichkeit" in Dingen des Soziallebenr bieten die Werke von G. v. Gierke: Johannes Althusius u. d. Entwicklung der naturrechtl. Staatstheorien, 1880, 81913; D. Staats» und Korporationslehre des Altertums u. des INittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, 1881; D. Staats» u. Korporationslehre d. Neuzeit (Entwicklung des Naturrechts bis in den Beginn d. 19. Jahrhunderts) 1913 (die beiden letzteren großen Werke sind der 3. und 4. Band von „D. deutsche Genossenschaftsrecht"). Unter den Theo­ logen hat Troeltsch genauer und gelehrter als irgendein anderer den Ideen nachgespürt, um die es hier geht. Auch er, meine ich, doch noch keineswegs erschöpfend (bei Gierke hätte er noch manches lernen können. Darüber hinaus bei C. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1. Bö.: Das Naturrecht der Gegenwart, 1892). Indes, ich betrachte nicht etwa mich als Spezialkenner hier; ich sehe nur allerhand, was noch der Durch­ forschung harrt; ein wichtiges Moment werde ich später noch Herausstellen.

5. Che wir uns zu Schleiermacher wenden können, und um seine geschichtliche Stellung in ihrem Zusammenhang mit, und Unterschiede von,

ja auch Gegensatze zu seinen Zeitgenossen voll zu erkennen, müssen wir doch noch zwei Strömungen und wenigstens zwei Männer uns vorführen, beide natürlich im weitesten Sinne erfaßt, in Vergegenwärtigung dessen,

was sie in ihrer Tiefe, in ihrem eigentlich charakteristischen Streben an die Zeit, die Ausgänge des 18. Jahrhunderts herantrugen.

Ich denke

an die von späteren Vertretern ihrer Tendenzen einerseits als Idealis­

mus, andererseits als Romantik bezeichneten geistigen Bewegungen oder Arten von Weltanschauung, deren Schöpfer Kant (1724—1804)

und Goethe (1749-1832) sind.

Diese beiden Größten in (richtiger:

im Eingänge zu) einer Zeit vieler Großen darf ich ja nur kurz wür­

digen. 3u denen, die in der Bahn Vorwärtsschritten, welche jene brachen,

hat auch Schleiermacher gehört. Geistern,

die das

Sie selbst zählen zu den vulkanischen

ganze Leben mehr

als

einer Generation in Be­

wegung bringen, ein Erdbeben für es erregen, nur, daß sie nicht einen

bloßen Trümmerhaufen hinterlassen, vielmehr einen neuen Boden voll frischer und starker Triebkräfte.

sind

Kant und Goethe, zumal der erstere,

nicht ohne die Aufklärung zu verstehen und machen ihr in dem

engeren Sinne, wie man von ihr zu sprechen pflegt, doch ein Ende.

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Wesensmerkmale des Kantianismus

Zunächst mag man von Kant sagen, daß in ihm die Aufklärung gipfele, will sagen, daß bas Eigentümliche, Epochenhafte an ihr bei ihm erst zu vollem Selbstbewußtsein und „ganzer", letzter Folgerichtig­ keit sich durchringe. Ist es das Wesen der Aufklärung, die Vernunft auf den Thron zu erheben, diese für alles zum Maßstabe zu machen, nur anzuerkennen, was sich verstehen, herleiten, mit „klaren" Gründen „behaupten" lasse, so war ihre Grenze, soweit sie sich selbst als Ratio­

nalismus hinstellte, daß sie die Vernunft, die ratio, nicht erst unter die gleiche Kritik stellte, wie den überlieferten Bestand an Gedanken und „Wahrheiten". Nicht als ob die Philosophen, die „Denker" der Aufklärung, den Begriff der Wahrheit gar nicht untersucht hätten. Leibniz entwickelte, was ja sehr folgenreich wurde, den altbekannten Unterschied der Idee des necessarium und contingens in neuer weise zur Idee der zweierlei Art vorl Wahrheiten, der vöritös de raison und der vöritös de fait (die „Welt" trat dabei unter die Idee der letzteren, und gerade das gab dem rationalistischen Gottesglauben sein Pathos!). Auch das wurde ernstlich untersucht, wie „Erkenntnis" überhaupt zu­ wege komme, und wenigstens hume warf auch die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Mittel und Tragkraft der Formen, in denen sich das Denken vollziehe, nachdrücklich auf, er (wenn man es so nennen will) so tapfer, daß er vor keiner Konsequenz zurückscheute und ruhig die Gewinnbarkeit „allgemeingültiger", sicherer Erkenntnisse, die Nach­ weisbarkeit von Gesetzen im Weltleben, im „Sem", nicht nur überhaupt in Zweifel zog, vielmehr leugnete. Vieser Skeptizismus fand bei den deutschen Aufklärern keinen Boden. Konnte er als „Lebens­ weisheit" nur in agnostischem Pragmatismus ausmünden, so war aber

die den deutschen Philosophen und Theologen eignende Zuversicht zu „angeborenen", von der „Natur" (Gott) der „Seele" oder Vernunft, eingestifteten Ideen, oder „Überzeugungen", im Grunde auf alten Ge­ meinplätzen gebaut, die von tieferen Geistern nichr mehr gewertet, ja auch nur beachtet wurden. Kant war es, der in schärfster Er­ fassung der Problematik des Gedankens der Vernunft selbst der Philosophie erst ihre volle Freudigkeit schuf, indem er damit endete, ihr eine neue, bisher nicht geahnte, höchste Kraft und Aufgabe der Vernunft zu zeigen. Goethe hatte neben ihm (in gewissem Maße der Erbe Lessings, der seinerseits der beste Erbe des Leibnizschen Geistes war) die Be­ deutung, den „Gegebenheiten" des Seins (der Mannigfaltigkeit der Natur­ gebilde und dem Reichtum des Personlebens!) erschlossener zu sein und daran Freude zu wecken, denn er ist es gewesen, der die innere Herrlichkeit, will sagen die unübersehbare „Fülle der Gesichte", die das „Universum" dem Geiste zeige, zum Bewußtsein brachte. Dabei ergänzten die beiden größten, nächst Luther, die das deutsche Volk geboren hat, sich auch

Kant als Höhepunkt der Aufklärung

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in der Weise, daß sie gewissermaßen die beiden Grundpfeiler, auf denen psychisch das Menschentum als solches ruht, in ihrer individuellen Geistes­ art verkörperten. Kant stellte den Typus der Vernunft als produk­ tiver, Goethe den derselben als rezeptiver Funktion vor die Zeit­ genossen hin, und sie fanden damit ja freilich bis heute nicht das volle Verständnis. In Kant erreichte die Aufklärung im engeren Sinne in­ sofern ihren Höhepunkt, als er einmal ihre beiden „Schulen", die logi-

zistische, intellektualistisch konstruierende und die empiristische, sensualistisch sich imprägnierende, dann deskribierende, schematisierende Art von „Wissen­ schaft", die sie gepflegt hatte, zusammenzufassen wußte in der Art, wie er die Vernunft „kritisierte". (Er ließ beiden Methoden ihr Recht, die eine auf die Form, die andere auf den Inhalt des Denkens ver­ weisend, beiden die Grenzen ihrer Anwendbarkeit bei dem Trachten nach „Wissen", einem Erkennen, das Denkzwang in sich enthalte, vor Augen rückend. Aber er leistete noch ein Mehreres. Das andere, größere noch als die kritische Sichtung der Crkenntnismöglichkeiten dem „Gegebenen" gegenüber, war, daß er ans Licht stellte, wie die „Vernunft", der Geist in spezifischem Sinne Spontaneität, Schaffenskraft besitze. (Es ist seine Lehre von den apriorischen Funktionen der Vernunft, die deren leben­ dige „Gewalt" bei ihren Grundleistungen (ihren Leistungen in trans­ subjektiver, „transzendentaler" Wesenheit) zeigte, ihr damit recht eigent­

lich Freiheit, „Autonomie", Souveränität zuschreibend. In der „Kritik der reinen Vernunft" zeigte er, wie die Vernunft als Denkvermögen, verteilend und gestaltend (in „Anschauungen", „Begriffen", Ideen"), die Empfindungen oder Eindrücke „machthabend" verarbeite, die von den Sinnen als ein Thaos ausgenommen werden. In der „Kritik der Urteilskraft" erweitert er noch das Gebiet der Probleme, die sich da auftun. Vas eigentlich Neue und Bedeutsamste - man sage ruhig zunächst auch: das Fragwürdigste, Unbegreiflichste, Gefährlichste ist dabei die Idee, die er gewiffermaßen offenbart, daß die Welt, das Universum, für den Menschen „sei", was er selbst, in ihm „die Vernunft" wie ein Kunstprodukt „baue", so erst zur Entstehung bringe. Stieg die „Aufklärung" von dem Augenblick an in der Geistes­ geschichte empor, wo die Vernunft sich von der Autorität emanzipierte, so erreichte sie in Kant den Zenith, sofern dieser der Vernunft die Kraft, und das hieß mit der Zähigkeit so Recht wie Pflicht vindizierte, alles zu beanstanden, höchstens als „Problem" anzuerkennen, was nicht als ihr Produkt sich legitimiere, und andererseits alles von sich aus ins Leben zu rufen, zum „Dasein" zu bringen, wozu sie in sich die Schöpfermöglichkeit entdecke. Was Kant die transzendentale Freiheit

nennt, ist das tiefste letzte Geheimnis der Vernunft, wie diese sich ihm darstellte. In der Lehre von ihr dokumentiert sich am hellsten sein Rattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie. 6. flufl.

2

18

Dorther Deisterart verglichen mit Kants

Idealismus, von dem — in Unterscheidung von Rationalismus - die philosophische Epoche, die er inaugurierte, den Namen bekommen hat. Vie Fichte und Hegel haben in ihrer Weise (ob glücklich oder nicht, steht hier nicht zur Frage) von vollends rückhaltloser „Objekti­ vierung" der Vernunft (oder schaffenden „Freiheit", oder „Idee") aus ihr Totalsystem zu bilden gesucht. Kant selbst hat sich wesentlich in der Sphäre der „praktischen Vernunft" gehalten, sich genügen lassen an der Herausarbeitung des „Sittengesetzes" zu seiner Paradoxie als das „Gesetz" der „Freiheit" (d. h. als Widerspiel zu Zwang und Belieben), als eine „Notwendigkeit" für den „sich verwirklichenden" Geist, die „sich selbst begreifende" Vernunft in ihrer Schöpferhaftigkeit. Goethe ist neben Kant, in derselben Großartigkeit, Selbstgewiß­ heit, Entdeckersicherheit derjenige, der überall nur „staunen" zu sollen und zu Können meinte. Nicht als ob Kant in der Titanenhaftigkeit seines Freiheitsgefühls als Vernunftwesen das Staunen nicht begriffen, mit Willen sich abgewöhnt hätte. Man braucht sich nur an die Feier­ lichkeit seiner Worte vom gestirnten Himmel „über" dem Menschen und vom Sittengesetz „in" ihm zu erinnern, um zu wissen, wie sehr er der Ehrfurcht zugänglich war. Aber Goethe empfindet tiefer als er das ewige (Quellen im Sein. Sucht Kant, daß ich so sage, mit einem Quos ego! alle Empfindungen und Regungen zu beherrschen, der Vernunft „untertan" zu machen, wobei doch die Vernunft selbst ihm die Größe ist, vor der er sich beugt, der jeder individuelle Geist ver­ pflichtet ist, so ladet Goethe gewiflermaßen alle Empfindungen, alle „möglichen" Eindrücke zu Gaste bei sich ein, er ist sicher, daß ihm immer neue ungeahnte Gaben aus der „Natur", dem „Leben", dem Univer­ sum zuströmen, wenn er sich nur „offen"hält für alles darin. Goethe ist der Gegner alles bloßen Rationalismus (Kant der Übersteigeret). Er ist (mit, in gewissem Maße durch Herder!) der Ehorage geworden unter den Gefühlsvirtuosen, die schließlich auf den Namen „Roman­ tiker" getauft wurden. In „Sturm und Drang" gingen er und die Seinen hinweg über alles, was bloß verständig, und das hieß ihnen: bloß konventionell, der „Menge" gehörig, nur sie in ihrer Armseligkeit regelnd heißen könne. Ruch sie redeten von Freiheit, aber wesent­ lich anders als Kant, nämlich wie von einem „Rechte" der „Indivi­ duen". Die Betonung der unbedingten Individualisation alles „Lebens" im Universum zeigt vollends bei den Romantikern die von Kant abgewendete Stimmung. Sie schufen nicht erst die Idee des Organismus (diese war für Kant nicht minder wichtig!), aber sie verwerteten sie und den zu ihr gehörigen Begriff der Entwicklung metaphysisch und historisch. Ja, sie eigentlich erst (vorab Herder) „entdeckten" Wesen und Bedeutung des „werdens", oder der

Verschiedenheit der Empfindung des Universums

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Geschichte wie eines Stromes des Lebens. Auch ihnen war es ver­ ständlich, daß „Vernunft" das Merkmal des Menschentums sei. Und

doch mieden sie gern das Wort, redeten lieber vom „Geiste", als doch noch mehr als bloße Vernunft. Nur daß ein Goethe freilich überall Klarheit suchte, verworrene Gefühle nicht wollte, und das „All" gerade in seiner Fülle wie eine lichte Sphäre empfand. Kant steht mit seiner Art von Gestaltung der Weltidee, seinem inneren Weltbilde (trotz seiner „Kritik der Urteilskraft"!) noch zu New­ ton, d. h. auf dem Boden der mechanischen (mathematisch-schematischen) Vergegenwärtigung des Universums, erst Goethe ist (sicher angeregt auch durch antike Denker) bahnbrechend für eine dynamische Naturbe­ trachtung. Durch seine ästhetische Bewertung der „Idee" des Organis­ mus, ihre Anwendung auf die Kunst, hat Kant auch dieser vorge­ arbeitet, aber es blieb bei ihm noch bei der abstrakten Formulierung, wo Goethe die Intuition, die immer rege Phantasie einsetzte. Erst für den Dichter wurde das „All" wirklich zu einem Born von Ge­ stalten, zu einem Gesamtorganismus des „Lebens" als solchen, zum Duell unerschöpflicher Neuformungen in notwendiger, gliedhafter vezogenheit aufeinander und innerer Harmonie. Kant ist und bleibt Theoretiker. (Es ist immer wieder zu erkennen, daß Kant zur Religion kein eigentlich lebendiges Verhältnis fand. So vielerlei feine, ja tiefe Einzel­ bemerkungen sein Werk über die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" enthält, dies Werk ist doch das am meisten alt„rationalistische", das aus seiner „kritischen" Periode stammt. Es war Goethes Kreis (im weiteren Sinne), der Boden der Romantik, wo

in bezug auf die Religion und dadurch in bezug auf die Theologie zuerst ein Neues gepflügt wurde. Ich komme damit zu Schleiermacher?) *) Es gehört nicht zu meinem Thema, das 18. Jahrhundert, sei es auch nur im Umriß, vollständig zu charakterisieren, wie ich den Pietismus nur berührt — seine Führer gar nicht genannt, geschweige in ihren Besonder­ heiten gekennzeichnet - habe, so lasse ich den sog. Supranaturalismus vollends aus. Auch das lasse ich auf sich beruhen, seit wann man spezifisch von „Rationalismus" wie einer gewissen Neuheit neben der bisher als „Neologie" bezeichneten Richtung sprach. (Es handelt sich um mehr oder weniger „Konsequenz" bei den von der Aufklärung irgendwie alle innerlich er­ faßten Männern, in specie bei den Theologen. Auch die Supranaturalisten sind Aufklärer. Ich meine, es sei für das Verständnis der Theologie des 19. Jahrhunderts belanglos, den „Schulen" des 18. und was sie an „Aus­ läufern" noch fast in Schleiermachers ganzer Zeit, ja bis zur Mitte des neuen Jahrhunderts behalten haben, aufzuachten, wiefern auch weiterhin noch einzelne Personen als solche ihrem etwaigen Biographen einen Zusammenhang mit diesem oder jenem Rationalisten oder aber Supranaturalisten zeigen, ist von geringem Interesse. Knapp und gut ist der S. 4 bei der Literatur genannte Artikel von Kirn.

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Schleiermacher mit Villen Theolog.

Verhältnis zu Kant

11. Wenn man sich klar wirb, wozu ich im vorstehenden in der Kürze den versuch gemacht, wie eigentlich verwickelt die geistige Welt war, in der Schleiermacher (geb. 1768 in Breslau, gest. 1834 in Berlin) heranreifte und innerhalb deren er sich zu orientieren hatte, so sieht man erst, welch eine bedeutsame Kraft er war, daß er wirklich mit unter die Großen unserer Geschichte gehört. (Es ist schwer, die Theo­ logie, auf die er stieß, die er als „Fachwissenschaft" in Halle kennen­

lernte, ohne Vorurteil zu würdigen. Als Gelehrsamkeit war sie durch­ aus unverächtlich. (3n Halle wirkte noch Semler [gest. 1791], um den Schleiermacher sich allerdings auch kaum kümmerte). Als Prinzipienwisien-

schaft und Systematik kam sie, insonderheit bei den Fachberühmtheiten, nicht über Kompromisse zwischen dem Alten und Neuen, dem überlieferten Dogma und dem von ihr ausdrücklich zugestandenen herrenrechte der Ver­ nunft hinaus, sie nahm von allen Bewegungen in der Philosophie Notiz, hatte aber nicht das Glück, unter ihren Vertretern etwa einen er­ scheinen zu sehen, der Kant voll verstanden hätte. Man übersehe die Pietät nicht, die neben geistiger Kraftlosigkeit in den systematischen Werken (etwa eines S. 3- Baumgarten oder Semler und Nie­ meyer, um nur Hallenser zu nennen) sich ausdrückt! vielleicht, daß

sie vollends lähmte (Semler wurde mit Bewußtsein Relativist). So war um die Wende zum 19. Jahrhundert wenig Interesse für die Theologie als solche vorhanden. Was unter den jungen Theologen der Generation Schleiermachers an „Köpfen" sich gefunden, war fast ohne weiteres zur Philosophie übergegangen (man braucht ja nur die Namen Fichte, Schelling, Hegel zu nennen). (Er allein hielt bei der Theologie aus,

wurde Pfarrer, öffnete sich bewußt und in höchstem Fleiß der Philo­ sophie und blieb doch ohne inneres Schwanken in freiem Willen, mit „Lust" Theolog *). A. Schleiermacher hat sich ernstlich mit Kant beschäftigt, aber freilich gerade von ihm am wenigsten sich zu eigen gemacht. Immerhin hat ihm Kant den Dienst getan, ihm die Möglichkeit zu zeigen, als Theolog ein Neues zu pflügen in Abwendung von der bisherigen Grundvorstellung von der Religion. Ihm erschloß sich im Zusammen­ hang mit seinen romantischen Freunden in Berlin, wenn auch nicht „durch" sie (im Gegenteil an ihrem Mangel und vielleicht kraft seiner Pietät gegen das, was sie bloß als Armut ansahen), die Erkenntnis,

*) Man wolle ihn nicht. Aber er wie die Fichte (geb. war die Flucht vor

mich nicht auf Herder verweisen. Natürlich übersehe ich wurde 1744 geboren und starb 1803, war also doch nicht, 1762) usw., Schleiermachers Iugendgenosse; in seiner Zeit der Theologie noch keineswegs an der Tagesordnung.

Stellung in der Romantik.

(Db Pantheist

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daß Religion nicht Sache des Denkens sei, sondern des Gefühls, eines „unmittelbaren Anschauens", „des Sinns", wie er gern sagt. Ich kann ja nicht darauf eingehen, wie Schleiermachers neuer Eindruck von Gott - denn darum handelt es sich - im einzelnen gestaltet war, ich kann nur mit breitem pinsel malen. Die Hauptsache dabei ist, daß ihm die Ideen von Gott und dem „AU", dem Universum zusammen­ traten, und daß ihm Christus als Urbild reinen, nie getrübten Gottesgefühls, dadurch immer wieder wirksamer „Vermittler" echter Frömmigkeit vor der Seele stand. Ulan kann es nicht verkennen, dah in den „Reden über die Religion" weite Strecken pantheistischen Geist, eine Stimmung atmen, für die Gott und RU nicht nur zusammentreten, sondern auch zusammenflietzen. Und doch ist es falsch, sich in ihnen Schleier­ macher theoretisch als Pantheisten vorzustellen. Rllbeherrschend in den Reden ist der Wille, die Religion überhaupt von jeder „Theorie", jeder Rrt von formuliertem Gedanken, nicht nur von jedem „Dogma", nein von jeder Mitwirkung auch des freiesten Intellekts fernzuhalten. Ruch „Rtheisten" könnten Religion haben, sei. theoretische Gottes­ leugner, solche, denen Gott als Begriff nichts „sei", nicht gelte: Religion sei nur „Gefühl", „unmittelbares" Innewerden, „Rnschauen" des „Universums". Rls konkrete Lebensfülle sei dieses in seinem Inhalte, seiner Kraft als Einheit, als geschlossener, unzerstörbarer Wert, dem gegenwärtig, in dieser Weise, als ein bestehendes Eigenwesen, „das" Ewige, dem klar und gewiß, der ihm eben mit „Religion", das ist im „Gefühl" sich öffne. Schleiermacher denkt gar nicht daran, etwa mit den Rtheisten oder Pantheisten Gott und die Welt in dem Gedanken des Universums theoretisch zu oereinerleien. Das Universum ist ihm nur der (Drt, der alles auffängt, in dem alles als „Wirkung" lebt, was Gott in sich „hat", so in sich hat, daß er sich selbst in der Welt barlebt. Er „ist" nicht die Welt und doch für niemand (man wird in Schleier­ machers Sinn vielleicht sagen dürfen, auch für sich selbst nicht!) vor­ handen als, wie er im Universum erscheint, uns Menschen (vielleicht mutz man sagen: sich selbst) zum Bewußtsein kommt. Die Rus* drücke Universum („das Rll") und Gott wechseln in Schleiermachers Sprache, wenn er vom Gegenstand und Quell der Religion redet. Das Bedeutsame ist, daß ihm das erstere Wort wie das erscheint, welches die (Orientierung zu leiten habe, wenn man sich über­ haupt „objektiv" klarmachen wolle, was Religion „enthalte",- es steht bei ihm an der Stelle, wo die Dogmatik von (Offenbarung spricht. Darin liegt, daß ihm in den „Reden" Gott nicht als Person vor der Seele steht. Aber das schließt in seinem Sinne nicht aus, daß er vom „Individuum" doch wie ein irgendwie ihm vergleichbares Sonderwesen empfunden werde, nur kein um riss en es. Schleiermacher

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(Orientierung über Gott am Universum

wird noch beirrt durch die Idee de§ Unendlichen: da§ ist der Ein­ druck Spinozas auf ihn. (Er neutralisiert ihn durch die Abwehr alles „Denkens" über Gott in der „Religion", die sich begreife. In der Sache steht es für ihn so: das Universum „ist" nicht Gott, aber sein lebendiges Bild, ganz und gar der Widerschein, der Ab­ glanz seines Wesens, als immer neu gezeugt von ihm sein eigener Antitypus, sein „alter“ ego wie Leib und Seele. All sein Sein legt Gott in das Universum. Für Zchleiermacher hat in diesem Sinne die „Schöpfung" Ewigkeit, ohne daß ihm darum Gott überhaupt kein „an sich" hätte oder haben „könnte". Vie Gewißheit, daß Gott „im" Universum zu finden ist, dem Menschen hier geistig Zweifel frei erreichbar wird, gründet sich für Schleiermacher nicht in irgend­ welcher logischen Funktion, sondern in „unmittelbarem" Erleben, meiner Art von Sensation. Vas geistige Auge „sieht" Gott, wo es sich dem Universum zuwendet, für die Intuition ist „er" dort „überall" gegen­ wärtig, an jedem Gebilde deutlich erlebbar, wer da meint, Gott und Welt „gedanklich" nicht unterscheiden zu dürfen, mag es lassen: ist er dessen inne, was das Individuum am Universum hat, so hat er „prak­ tisch", worum es geht. Das Universum, Gott „in ihm", bewältigt den „Sinn". Der Geist kann letztlich nicht umhin, sich zuzugestehen, daß er da etwas Spezifisches „gemerkt", innerlich vernommen habe, daß solches auf ihn eingedrungen, sich ihm „offenbart" und als Unge­ ahntes erschlossen, d. i. zu Bewußtsein (bewußtem „Gefühl") ge-

bracht habe. Zwischen jedem Individuum und dem Universum besteht ein ge­ heimnisvoller Zusammenhang, wie Gott im Universum, lebt dieses „im" Individuum. Gott, Universum, Individuum sind nicht „identisch", aber „unlöslich"! Der Fromme „fühlt" das, hat das im Blick: er läßt sich nicht beirren in der Gewißheit, dabei von „Wahrheit" durchdrungen zu sein, wo immer jemand zu „Gefühl" erwacht, seiner selbst als Ligenexistenz lebendig innewird im All, da „hat" er, indem er „sich" hat, auch Gott. Und ist doch nicht etwa selbst Gott! Sondern nur seiner „voll". wenn der Rlensch fähig ist, das Auf quell en seiner individuellen Existenz aus dem Urgrund alles Seins zu belauschen, und soweit als ihm das beschieden ist, hat er Religion. Schleiermachers Abstand vom Rationalismus, auch von Kant, sein Zusammenstehen mit Goethe, mit der Romantik, ist klar. Und es ist seine wissenschaftliche Be­ deutung, mit dem orthodoxen, aufklärerischen, Kantischen Religionsbe­ griff als solchem gebrochen zu haben. Goethe hat keinen neuen „Be­ griff" der „Religion" erstrebt. Gb die Philosophen und gar die Theologen den Gott, den er - sachlich nicht anders als Schleiermacher

Deutung der Religion.

Unterschied von Kant

23

— im „Innern" der „Natur" und seines „Busens" in ehrfürchtigen Schauern, in Bangen und Wonne verspürte, anerkannten, war ihm nicht wichtig. Gerade das war Schleiermacher wichtig! So hat er für die Theologie einen neuen Grund gelegt, wir müssen noch einen Augen­ blick dabei verweilen, um dessen Eigenart und Tragfähigkeit zu prüfen. Lin vergleich mit Kant führt am kürzesten zum Ziel. Daß Kant den Gedanken von Gott nicht als Resultat metaphysischer Spekulation, nicht als den eines intellektuell gesicherten Sonderwesens gelten läßt, daß er ihn aus der Sphäre der „reinen" (sei. theoretischen) Vernunft heraus­

nimmt und in die der „praktischen" verweist als eines der „Postulate",

die sie letztlich erhebt, beseitigt nicht das Moment eben der Gedanken­ tz aftigkeit der persönlichen Beziehung auf Gott. Vieser und der Mensch stehen sich bei Kant „gegenüber" wie zweierlei wille, der Mensch so „frei" wie Gott, nur doch mit dem Bewußtsein, durch das gleiche „Ge­ setz", das Sittengesetz, mit ihm innerlich verbunden (richtig ver­ standen, wie er, dadurch als die Formel für ihrer beider Wesen auch „gebunden"!) zu sein. Kant wollte nicht Deist, sondern „Theist"

sein, d. h. auch er wollte Gott gedacht wissen als in lebendigem, innerem Rapport stehend mit dem Menschen als einzelnem. Viesen Rapport sah er gegeben im Gewissen als individueller Form der praktischen Ver­ nunft. Aber nun ging er doch alsbald über, wie der „Deist", zu der Vor­ stellung eines „äußerlichen" Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Gott ist eigentlich nur der Bürge dafür, daß das Sittengesetz sein Recht erhält, insonderheit neben und über dem Naturgesetz. Alles religiöse Leben hat ethisch-rationales Gepräge und bewegt sich ohne eigentlich persönliche oder gemüt- und herzmäßige Note wie zwischen Untergebenem und „machthabendem" zuverlässigen Vorgesetzten. Diese Äußerlichkeit, Kahlheit, des praktisch nur in der Reinheit und Zuversichtlichkeit des Pflichtbewußtseins „empfundenen" Verhältnisses zwischen der Seele und Gott hat Schleiermacher abgestoßen. Er seinerseits ist in der religiösen Empfindung, im „Akte" der Religion durch und durch Mystiker. Gewiß fühlte auch Kant sich „geborgen" durch Gott, Schleiermacher fühlte sich am herzen Gottes, wie ein Kind im Mutterschoß, geborgen „in" Gott. Das war der elementare Stimmungswechsel von auch der feinsten, höchsten aufklärerischen Fröm­ migkeit zur romantischen. Ihn als solchen zu einer Theorie ge­ staltet zu haben, ist Schleiermachers eigentliche Leistung. In welchem Maße dieser mit seinen jugendlich selbstgewissen „Reden" das Richtige getroffen, ist eine Frage für sich. Die nachfolgende Entwicklung hat es erst klargemacht, was alles in Schleiermachers Konzeption lag, und auch ihre Grenzen gezeigt, hier lege ich vorerst nur den Finger auf zweierlei, a) $ür Kant ist es die Grenze, daß

24 nach ihm tion des Geschichte hand das

Religion als (Erlebnis.

Bedeutung der Individuen

die Religion sich selbst empfinden muß als eine Produk­ Menschengeistes, und das ist sie doch nach dem Zeugnis der nicht. Rlle echte, gar die wahre Religion (wenn ich kurzer­ Christentum als solche hinzustellen mir gestatten darf) weiß

sich als gewirkt, nicht durch Entschluß des Willens, „Postulat" der Vernunft von feiten des Menschen autonom begründet, sondern durch Erlebnis ((Offenbarung), das an sich rein „tatsächlicher" Rrt ist,

Heteronom erzeugt, von Gott je nachdem erzwungen oder „geschenkt". Der homo religiosus „muß", wohl oder übel, seinen Gott als über ihn gekommen, anerkennen. Dafür hat Schleiermacher in seiner Zeit als erster wieder Vollverständnis. Ganz abhanden gekommen war solche Erkenntnis ja nicht. Bei sinnigen Aufklärern, einem Gellert (der ja noch stark orthodoxen Einschuß hat), aber überhaupt denen, die „ge­ rührt" waren, wenn sie Gottes „walten", seine „Hand" in der „Natur" sahen, auch bei Kant, dem die Vernunft letztlich das Selbsterlebnis für den Menschengeist (das „Erlebnis" eines Könnens und Sollens in transzendentaler Kraft) bedeutet, schwingt sie mit. Aber Schleiermacher betont sie. b) Kant bleibt noch innerhalb der aufklärerischen „Welt­ anschauung" stehen, wie sie spezifisch gesetzmäßig, will sagen letztlich schablonenhaft sich gestaltet hatte. Ruch für Kant ist die Welt ein „ge­ gliedertes" Ganzes, aber ein „Bau". Rrchitektonische Phantasie belebt ihm das Welt-„Bild". Rls der ewige sittliche Wille, die postu­ lierte persönliche Hypostase des Sittengesetzes, ist ihm Gott zwar zu­ gänglich, in der Welt, für den Menschen, aber nur punktuell (im Gewissen), keineswegs in „allem": als Natur ist die Welt für ihn nur

umspannt von Gott, als „Wille". Das hat erhebliche Bedeutung für die Selbstanschauung des Menschen von sich als der bestimmten Person, im Grunde erscheint er sich da nur als Exemplar einer Gattung, wie etwas Zufälliges, etwas Ersetzbares, wie ein „Baustein": jeder hat Platz, bedeutet auch etwas, aber keiner würde als eben „er" vermißt, wenn er nicht da wäre. Für Kant ist das Individuum noch nicht belangreich. Er redet sehr bewußt von „Spezifikation" (in der „Kritik der Urteilskraft") als Merkmal alles Lebendigen und macht praktisch doch nur erst als Ästhetiker (Kunstdeuter!) von dieser seiner theoretischen Erkenntnis Gebrauch. Rlles Erscheinende hat bei ihm im großen noch zahlen- oder linienhaften Lharakter, nicht was der oder das einzelne im „Besonderen" hat und ist, steht ihm (für gewöhnlich)

geistig vor Rügen, sondern was ein jedes mit „in die Reihe" stellt. Die Rbstraktion regiert noch sein Denken. Richt das konkrete, son­ dern das bloß numerierte (letztlich stets gleichförmige) Subjekt tritt ihm praktisch vor die Seele, wenn er des Individuums gedenkt. Er kennt außer dem Gesetz eigentlich nur den Linzelfall, die privat-

Andere Weltempfindung bei Schleiermacher als bei Kant

25

person, die sich der Regel einzuordnen hat. Dem gegenüber ist Schleiermacher von anderer Phantasie erfüllt. „Künstlerisch", ästhetisch ist der Aufklärer nicht minder eingestellt als er, aber selbst Kant sah nur Umrisse, Größen- und Drdnungsverhältnisse, ein „Gefüge", auch wo er die Idee der immanenten Einheit, des „Organismus", theore­ tisch verwendete, und wiewohl er (anders als der Durchschnittsaufklärer, der bloße Rationalist) im „Begriff" den Mechanismus und den Orga­ nismus bewußt differenzierte. Schleiermacher, der „Romantiker", apper-

zipierte wie ein Musiker, oder aber ein Poet, ein Lyriker; wo er „sah", war es überall, wie der Plastiker sieht. Ihm besteht das Universum aus lauter „besonderen", unendlich variabeln, in ihrer Varietät für das „Ganze" notwendigen, seinen „Reichtum", seine Unerschöpflichkeit erst zeigenden, offenbarenden, daher im Werte unersetzlichen Cinzelbildungen; überall erscheinen vor seinem inneren Auge konkrete, nicht bloß „unzählige", sondern auch „unvergleichliche" Individuen, jedes für sich „das Ganze" darstellend, eine unergründliche Ineinsfassung aller Kräfte des Universums, der Urkraft Gottes in ihm. Schleiermacher ist im Unterschiede von Kant — aber vergleichbar mit Goethe — wie jeder echte Romantiker, selbst Künstler und Denker als solcher. Daß er das Bedürfnis hat, in Gedanken zu erfassen, in Theorien, ja in ein System zu bringen, was er eigentlich schauend, fühlend wie ein Künstler (es ist nicht Zufall, daß Schleiermacher auch Plato-Übersetzer ist!) am Universum, im eigenen Innern, in sich als Individuum (Monologen!) „erlebt", stellt ihn in die Geschichte der Wissenschaft. Aber er zahlt seiner künstlerischen Individualität den Tribut darin, daß er Kants Freiheitsidee nicht begreift, Kants Idee des Sittlichen nicht erreicht, das Ethische und Ästhetische nicht deutlich unterscheidet, das Weltgetriebe im Tiefsten nur wie ein ewiges, unendlich sinnvolles Spiel, eine Art von Musikwerk, eine grandiose Fuge empfindet, während Kant ein transzendentes Ideal in sich trägt und in einem Glauben in die Unendlichkeit projiziert. Bei Schleiermacher ist alles, modern geredet, „immanent" empfunden. Man kann streiten,

wer „faustischer" war, Goethe oder Kaut; sie hatten beide stets das Unendliche, Ewige im Blick; dieser im Fernblick auf den Hellen, un­ verrückbaren Zielpunkt, den Weg wie eine gerade Straße vor sich, jener im Nahblick, als frohes Leuchten über allem, im Gedränge der Zeit­ lichkeit und über den zahllosen Biegungen des Wegs der „Wirklichkeit".

Schleiermacher steht hinter beiden zurück. Aber doch nur wie ein Aristoteles hinter Plato! Er wird der Beobachter, der Problem­ sammler, der Schöpfer neuer „Disziplinen", ein Organisator der

Eindrücke vom All zum System von Gedanken. Ihm erschließt sich auch die Geschichte in ihren großen Bildungen, ihren Gemeinschaften,

26

Schleiermachers Musikalismus.

die $ülle der Kultur formen!

Seine Art von Schauen

Denn ihm ist der innere, seelische Reich­

tum der historischen „Menschheit" anders anschaulich, gegen­

ständlicher als Kant; da hat er teil an dem, was der allgemeine

Fortschritt über Kant wurde, den die Romantik anbahnte (und den doch selbst Goethe noch nicht so mit vollzog)*).

B. Ich kann es nicht für meine Aufgabe ansehen, von Schleiermachers Einzel werken schildernd zu reden.

Der geistesstarke Mann hat ja stetig

fast das ganze Gebiet der Theologie bearbeitet (nur zum Alten Testa­ ment hat er kein inneres Verhältnis gefunden).

Und er war nicht nur

Theolog im weitesten beruflichen Sinn, so Gemeindepfarrer wie Hoch­ schullehrer, sondern auch Philosoph, forschend, unterrichtend, schriftstellernd,

in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin so

tätig wie auf

dem

*) Goethe ist als Dichter kaum, weniger jedenfalls als Schiller, für spezifisch „historische" Gestalten interessiert, andererseits schafft gerade er, als Lyriker und Dramatiker, in Seelenerfassung ja die ergreifendsten „Individual"Bilber menschlichen Wesens. AIs „Theoretiker" - man sage: als Philo­ soph-ist er jedenfalls der Geschichte nicht so zugewandt, wie Schleier­ macher, ant wenigsten den Groß formen derselben; vielleicht ist Schleiermacher von Herder (den er an Klarheit des Denkens überbietet, in der Sache zum Teil doch nicht erreicht) mitbestimmt. — (Es wird einmal ein Thema für sich sein müssen, wie die Wissenschaft, die Philosophie, die Theologie, von der konkreten Art psychischen Empfindens einer „Zeit", oder des sich eben durch­ setzenden, bestimmend werdenden Genius beeinflußt wird und ihr lebendiges Gepräge empfängt, wenn man weiß, in welchem Maße Schleiermacher Mu­ siker (Sänger, bis in das Alter ausübendes Mitglied der Berliner Singakademie) war, so kann einem nicht entgehen, wie „musikalisch" seine Empfindung des Universums ist: es ist ihm voll von Klang und Sang. Dies doch freilich so, daß ihm die „schauende" Phantasie keineswegs mangelte. Ich will nicht streiten, welcher „Sinn" seine Art des „vergegenwärtigens" vorab leitet, ob inneres Schauen oder hören. Aber das ist klar: wo er „sah", war es mit anderen Augen als Kant, ja vielleicht auch Goethe, er „erschaut" im All nicht Umrisse (nicht „Linien", wie ein Architekt), nicht Farben (wie der Maler), sondern lebendige Gestalten (wie der Plastiker). Und er fühlt („hört"!) schlagenden puls in jedem Gebilde. Darin tritt der Musiker in ihm ins Mittel. Gott ist ihm das klopfende herz des Universums, von ihm ist der Rhythmus des Ganzen. Schleiermacher „fühlt" die Welt wie eine ihn umdrängende Menge gleich „gestimmter" Geistwesen. Nirgends tote, „stumme" Materie, in allem letzte seelische „Harmonie", eine Art von Reigen der unendlichen „Individuen", war in der alten Renaissance der Farbensinn der stärkste, in der Aufklärung der Liniensinn, so in der Romantik der Tonsinn. Für den Mann der Wissenschaft bedeutet ausgeprägtes musikalisches Empfinden leicht die Gefahr der „Ver­ schwommenheit" im Denken. Schleiermacher hat Kant zu eifrig studiert, um nicht als Denker „Klarheit" zu erstreben, hat er sie allseitig als Systematiker erreicht? (Den Musikalismus der Monologen hat Fr. M. Schiele [{. S. VI seiner Einleitung zur kritischen Ausgabe derselben] zuerst bemerkt; nach ihm sind selbst die Interpunktionen dort „viel mehr Vortragszeichen, ja musikalische Akzente, als Satztrenner". Ich meine, die Diktion sei nicht allein musikalisch in den Monologen!).

Seine Vielseitigkeit.

Innere Unsicherheit gegenüber der Philosophie

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Katheder der Universität, immer bereit eine Spezialfrage zu behandeln, ober auch ganze Komplexe. Auch in der Philosophie hat er die Studenten in fast alle „Fächer" eingeführt. Seine Vorlesungen darüber sind wesent­ lich vollständig nach seinem Tode herausgegeben. Vie sachlich bedeut­ samste unter ihnen ist ihm selbst offenbar die Dialektik gewesen, wie seine „Papiere" ergeben, die immer neuen „Entwürfe", ist er zu kei­

nem definitiven Abschluß gelangt. (Es hat fast etwas Schmerzliches, wie unsicher Schleiermacher über das letzte Verhältnis von „Wissen" und „Religion" bleibt. (Er selbst „leidet" darunter freilich kaum. In den „Reden" war er zuversichtlicher aufgetreten, als er war - nicht damals im Augenblick, aber bei eigenem weiteren „Denken". Als Theolog konnte er nicht umhin, auch die Glaubenslehre, die theoretischen Behauptungen, zu denen die Religion (nicht die „entstehende", die „entstandene") führe, sich und anderen vorzuhalten. Und da kommen für ihn doch die Konflikte zur Geltung, über die er in den Reden noch lächelte. Immer wieder, bis an sein Ende, tauchen Sätze auf, die (mindestens objektiv, will sagen: für das „Erkennen") die „Wahrheit" der religiösen Gedanken, die der „Theolog" vertritt, zweifelhaft machen, die religiöse Weise, Gott zu ersoffen, seiner wie eines „anderen" als die „Welt" inne zu werden, als unzulänglich erscheinen taffen. Die

Identität von Gott und Welt, also der Pantheismus, tritt stets von neuem als eigentliche „Lösung" der Rätsel hervor, die das Denken, das reflektierende Bewußtsein, am Sein, an dem scheinbar unausgleich­ baren und, wie er meint, doch notwendigerweise zu überwindenden Gegensatze von „Idealem" und „Realem", Geist und Natur empfindet. Aber ebenso lesen wir immer wieder Sätze, die die Religion, ihre Art Gottes fühlend inne zu werden, als doch eine sichere, ja die „wahre" gegenüber dem auf Ineinssetzung von Gott und Welt drängenden Denken hinstellen. Die „Zettel", die alle Arten von „versuchen", Momentformu­ lierungen, Probelösungen fixieren, zeigen, wie unbedingt ehrlich Schleier­ macher vor sich selbst ist, sich keine Schwierigkeit seines Eintretens für die Religion, als Theolog eine „Glaubenslehre" vorzutragen und zu verfechten, verbirgt. Ihn beängstigt die Idee des „Absoluten", deren der Philosoph nicht entraten kann und die doch den Theologen, wenig­ stens den christlichen, bloß immer beirrt, solange sie rein logizistisch-metaphysisch gefaßt wird. (Es ist letztlich nur um so beachtenswerter, daß Schleiermacher in der von ihm selbst zum Druck gebrachten, in der zweiten Auflage (1830) „abschließend" ausgestalteten Glaubenslehre sich ausdrücklich dawider wehrt, Pantheist „geschimpft" zu werden (§ 8, Zusatz 2; vgl. schon 1. stuft 1821, § 15, 5). Kommt er in seinen „dialektischen" Gedankengängen immer neu auf einen Punkt, wo er sich eine Abrundung, einen Abschluß des wissens nur in der Idee

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hauptmomente an Schleiermachers Theologie

des „All-Einen" zuzugestehen vermag, so zeigen seine Zettel auch immer wieder Ansätze zur Rechtfertigung der Betrachtung der (christlichen) Religion als letzter Wahrheitsvergewisserung von (Bott und seinem Unterschiede von der Welt Schleiermacher kommt aus dem Zwiespalt des Philosophen und Theologen in einer Person, wie er als Mann der Wissenschaft, als „Denker", zu sein das Bedürfnis hatte, deshalb nie ganz heraus, weil er auf der Fährte von Kant zwar zu dem Mute kam, die Religion in sich selbst aus dem Gebiete des Denkens heraus­ zustellen, auf dem des Denkens aber nicht gleichzeitig zwischen den tran­ szendentalen Sphären (theoretische, praktische, ästhetische Vernunft),

wie jener, zu differenzieren. Der „Kritiker" Kant fand in Schleier­ machers Geistesart - sie war eine „spekulative" - keinen Widerhall über die psychische Sphäre der Religion hinaus. (Es ist im Grunde auffallend, daß Schleiermacher Pantheist nicht sein „wollte". Die Konzeption vom Wesen der Religion, die ihm entstand, gewährt in der Tat keinen durchschlagenden Gesichtspunkt wider den Pantheismus. Sie „verträgt" sich mit ihm, wie Schleiermacher selbst bemerkt und aus­ spricht, sie „verlangt" ihn nur nicht. Was es war, das Schleiermacher vor ihm warnte, so lockend er ihm oft als Theorie oder als letzter Schluß des „Wissens" erschien, darf hier auf sich beruhen; es wird mit seiner religiösen Erziehung zusammenhängend.

Als Theolog ist Schleiermacher wirksam geworden durch wesentlich folgende Momente: 1. Die hinreißende, daß ich so sage, überspringende Wärme, mit der er für die Religion stritt, ihr Recht, ihren wert, ihre das Leben mit „ewigem" Sinn erfüllende Bedeutung dartat. Vie „Reden" über die Religion sind ja wirkliche, große rhetorische Leistungen, sie ergreifen und fesseln. Das Wort „Gefühl" brauchte für das Wesen der Religion nur ausgesprochen zu werden, um weithin zu überzeugen. Daß die Religion, wenn überhaupt, dann intim praktischen wert habe, konnte *) Man hat Grund, bei Schleiermachers „Lehre" von der Religion zwischen der Idee von Gott zu unterscheiden, die ihm erst als „Romantiker" aufleuchtete, und der, die er (vom Clternhause und den Herrnhutern her) mitbrachte: jene inkliniert zum Pantheismus (in den „Reden" ist Schleiermacher zufrieden, wenn er die „Verächter" der Religion wenigstens für den Pantheismus ge­ winnen könnte); er vermag es selbst für seine Person, sich dabei, angesichts der vermeinten „Forderungen" der Philosophie, zu beruhigen, aber er kehrt doch stets zu den „christlichen" Gedanken zurück. Die letzteren haben für ihn aber auch stark phantasiehafte Art. Das ist das tertium comparationis zwischen seinem „anerzogenen" Christentum und seiner Romantik! Letztere hätte ihn be­ wegen können, auf „irrationale" Momente in der Weltanschauung entschei­ dender zu reflektieren, als er es wagt. Man stößt da auf etwas von Tragik bei ihm. Der Philosoph und Theolog in ihm fanden sich nicht.

Das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl

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unter Evangelischen, zumal in Deutschland, kaum Und in Schleiermachers Schilderung gewinnt ein höchster reinster Geistigkeit unwillkürlich die Herzen. Glaubenslehre das Stichwort „schlechthiniges gefühl" für die Wesensart der Religion prägte, so

einer ab lehn en. Wonnegefühl von Wenn er in der Abhängigkeits­ traf er mit dieser Besonderung seiner Entdeckung in Hinsicht ihrer vollends, wenn auch gewiß nicht „Alles" (wie er sich vorstellte), so doch sehr Richtiges, bis dahin nicht Bemerktes (vielleicht das Tiefste an ihrer allgemein-psychischen Selbstempfindung). Daß die Religion von ihm eigentümlich isoliert wurde im Geistesleben, erschien vorerst als unwesentlich dem gegenüber, daß sie so deutlich verselbständigt wurde. Vie Theologie gewann durch ihn wieder ein Ligengebiet.

In bestimmten Beziehungen muß man bei Schleiermacher differen­ zieren. Liest man die „Reden" (insonderheit die fünfte!), so hat man den Eindruck, daß er Unsagbares schildern wolle. (Es gelingt ihm durchaus nicht ganz, Klarzumachen, was ihm als „Erlebnis" vor­ schwebe. Das ist die Uehrseite zu der Begeisterung der Reden, daß sie kaum gestattet, in wissenschaftlich-methodischer Form das Ganze der Ronzeption, die Schleiermacher vertritt, gleichmäßig klarzumachen. Der „Redner" (Prediger) muß an sein „Publikum" (seine Augenblicks­ gemeinde) denken, darf meinen, sich daran genügen laffen zu „sollen",

es für die Hauptsache (und das ist ad hoc für Schleiermacher sein neuer Eindruck von der Religion als Geisteshaltung, innere „Zuständlichkeit") zu gewinnen. (Es ist kaum ungewollt, daß in den Fragen der „Bezogenheit" der Religion ein Schimmer von Mehrdeutigkeit (in etwaigen „Begriffen") über allem schwebt. Schleiermacher ringt letztlich da noch mit sich selbst und „redet" auch zu „sich", vielleicht täte es uns den besseren Dienst, wenn er das Gemüt (statt des „Gefühls", des „Sinns", des „Anschauens") als das Organ hinstellte, das man haben und benutzen müffe, wenn man auch nur — verstehen, geschweige zum Besitz gewinnen wolle, was dem Wesen nach Religion sei. „Gemüt" war ja der Wissenschaft seiner Zeit weithin mehr ein Rätselausdruck, als „Gefühl". Daß Schleiermacher nur gelegentlich „auch" auf ihn sich führen läßt, hängt doch wohl mit einem bestimmten Momente seiner persönlichen inneren Empfindung „Gott" gegenüber zusammen. (Vst meint man, Schleiermacher müsse „Ewigkeit" sagen, wo er „All" oder (gewöhnlich) „Universum" sagt. Daß er letztere beiden Ausdrücke bevorzugt, verrät (wie zumal auch die oft beliebte Ersetzung des Aus­ drucks „Gefühl" durch Anschauen beweist!) vielleicht eine innere Ein­ stellung auf eine Raumempfindung (d.h. nicht eine Zeitempfindung, wie das Wort „Ewigkeit" sie erzeugt; man bemerke übrigens, daß Schleiermacher gern auch den ganz neutralen Ausdruck „Sinn"

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Das Geschichtsmoment in Schleiermachers Theologie

braucht, wenn er das „(Organ" der Religion bezeichnen will). Die „Schauer der Ewigkeit" empfinden wir im Gemüt. Die „Schauer des Ms" empfindet ein evangelischer Christ überhaupt nicht so oft, gar so tief und lebendig als die der „Ewigkeit". Daß Schleiermacher dem „pan"theismus gegenüber seiner selbst nicht ganz sicher ist, entspringt aus seiner inneren Vergegenwärtigung der „Welt" als „unübersehbare" Fülle, als Unbegrenztheit. (Das ist musikalische Empfindung.)

3n der „Glaubenslehre" hat er seine Idee von den „Reden" etwas abweichend erfaßt und insofern glücklich rationalisiert, als „Ab­ hängigkeit" ein Gefühl ist, das wir, „schlechthin" am inneren

Menschen verspürt und auf „Gott" bezogen, gerade der Zeit entgegen­ stellen. Die Vorstellungen von Christus, dem Gottesreiche usw. (alle spezifisch christlichen religiösen Ideen) sind, soweit metaphysisch, thetischantithetisch, „zeithaft" (nicht „raumhaft") orientiert, d. h. auf „Ewigkeit" gerichtet. (Es ist weder zufällig, noch gar etwa zu beklagen, daß Schleier­ macher in der Theologie vor allem durch die Formel der Glaubens­ lehre gewirkt hat: sie entspricht dauerndem „Kreatur "gefüf)l und ver­ trägt positiven „Glauben" an Unvergänglichkeit. 2. Für unsere Wissenschaft ist es dann ferner besonders wichtig geworden, daß Schleiermacher Blick hatte und immer mehr gewann für die Unterschiede der Religion in der Geschichte. (Er gehört mit in die Reihe der Begründer des modernen „Geschichtssinns". Dies ja frei­ lich so, daß ihn einesteils der alte Pragmatismus noch beirrt (in der Einzeldeutung von Erscheinungen noch oft beeinflußt!), andernteils die

metaphysische Spekulation zu unbeweisbaren Konstruktionen lockt. Ge­ lehrt war Schleiermacher als Historiker über bestimmte Gebiete der Ideengeschichte hinaus nicht. Aber er schuf gewifle Richtwege der „Betrachtung" in der Geschichte und gab feste Blickpunkte für Wertabstufung in der Flucht der Erscheinungen. Zunächst ist zu betonen, daß Schleiermacher - darin auch von Goethe, in relativer Weise, in der wiflenschaftlichen Akzentuierung unter­ schieden - wenn er vom „All" redet, nicht so sehr die Natur, die

(Objekte, vor Augen hat als die Geister, die Subjekte. Das ist auch in den „Reden" unverkennbar. Ihn erfüllt das Interesse an den Men­ schen und ihren Gemeinschaften (d. h. im „Füreinander"). Als „Individuen" hat er die Personen im Sinn. Und solchen, seiner

Gemeinde, will er verständlich machen, was sie sich gegenseitig bedeuten, welche Reichtümer jedes Individuum birgt, weil es vom „Universum" aus, das in jedem solchen „eigenartig" konzentriert ist, betrachtet werden muß. Der „Redner" findet ja gar kein Ende, seinen Hörern die Pflicht einzuschärfen, richtiger gesagt, die Lust zu wecken, daß sie jeder sich selbst, aber auch die „andern" nur recht „anschauen", nämlich

Individuen und Gemeinschaften.

Die Monologen.

Sozialethik.

zi

als Ausprägungen des Universums in Cinzelgestalten, jede von unend­ lichem Gehalt, alle bei wechselseitiger Erschließung zu rechter „Gemein­ schaft" von unveräußerlichem Wette füreinander. Die Monologen sind vollends erfüllt von solcher Melodie, die insonderheit der Idee der „Liebe" bei Schleiermacher ihr Gepräge gibt. Und von der meta­ physischen Intuition der Individuen und ihrer „Geselltheit" im Univer­ sum her gewinnt er die Grundlage für eine Neugestaltung der Ethik. Sein qualitativer ethischer Maßstab ist, bei unverkennbar hohem Ernste im Gegenschlag zu dem aufklärerischen utilitaristischen, in der Tiefe freilich nur erst ästhetisch. Das zeigt auch die Vorlesung über „Die christliche Sitte" deutlich. Die Zerlegung des „handelns" in „wirksames" (dieses als „reinigendes" und „verbreitendes") und „dar­

stellendes" hat schon solches Gepräge, zumal aber das was überall als inneres Ziel, oder „Ideal", heraustritt. Unverkennbar, wenngleich nicht ausdrücklich so formuliert, ist für Schleiermacher Schau des Schonen (harmonischen, Ausgeglichenen), das „Morgentor" zu „der Erkennt­ nis Land" im Sittlichen. Gelten die Monologen der Deutung des Wesens und Zieles, des Berufs der eigenen Person, ihrer doch nur als eines Typus, so ist Schleiermacher, wie kein Theolog vor ihm, interessiert für alle Probleme des Gemeinlebens. Seine „Intuition" zeigt ihm auch die historischen Groß­ formationen als „Individuen", als lauter Ligengestalten, die metaphysisch-geistig nicht anders „Ausprägungen" des Universums in Cinzelbildungen sind als die „personalen" Individuen, die ihr konkretes Gepräge nach (Dtt und Zeit erst empfangen im Zusammenhang mit den Gemeinschaften (der „Nation", der „Kirche" usw.), in die sie geboren sind oder zu denen sie mit innerer Notwendigkeit, „unwiderstehlich" sich „hingezogen" fühlen. Nirgends ist Schleiermacher als Philosoph und Theolog so in der eigentlichen letzten Empfindung völlig mit sich einig, als in seinen Gedanken über das Sittliche. Lr überbietet bewußterweise die herkömmliche bloße Individualethik (ohne sie zu vernachlässigen) und ist der Bahnbrecher zusammenhängender allseitiger Sozialethik (natür­

lich in allem Konkreten noch von dem, was er als historische Umgebung im eigenen „Leben" kennenlernte, abhängig, begrenzt). Ihm ist die Kultur in allen Formen sittliches Problem,- sehr charakteristisch, wie ernst er es mit dem Wesen des Verkehrs im nächsten persönlichen Sinne (Geselligkeit, Freundschaft) immer genommen hat, und wie vollständig er (man beachte seine Sondervorlesungen über die Lehrte vom Staat, von der Schule ^Pädagogik!, von der Kirche j„prakt. Theologie"!!) die

großen Gemeinschaften, ja letztlich die allumfassende des „Gottesreichs" ins Auge faßte, von seiner religiösen Intuition des Universums aus ersteht ihm die Intuition der Geschichte als Boden des Geistes; sie

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Die Idee der Mikrokosmen und ihre Gefährlichkeit

zeigt ihm die „Organisation" der Menschheit in Individuen und übereinander in Stufen sich erhebenden, auf jeder in neuer Weise sich erweiternden, jede für sich wieder ein „Individuum" darstellenden Kollektivbildungen. Der Mensch und alle menschlichen Gemein­ schaften sind Mikrokosmen, Abbilder, dynamische Konzentrationen, unerschöpfliche Vesonderungen des Kosmos als solchen, seiner immanenten Einigkeit, die in ewigem Neuen sich auswirkt. (Es beeinträchtigt Schleiermachers Größe nicht, daß Goethe ihm die Grundintuition vom All-Leben vorweggenommen. Venn er erst bewältigt sie, kauft sie aus als theoretischer Lthiker (Goethe leistete Analoges als Naturforscher!). Im Einzelnen kann man da ja auch Deutungen (Ideale) finden, die nur seiner psychischen Ligenform angepatzt sind (etwa in der Lehre von der „Geselligkeit").

Nicht zu übersehen ist, daß Schleiermachers Ethik dem Einzelnen als Individuum ein Wertgefühl zubilligt, das gefährlich ist. Vie Idee von jedem solchen als Mikrokosmus mag verglichen werden der biblischen vom Menschen als „Ebenbild" Gottes. Sie erreicht doch deren Hinausführung im Neuen Testament auf den Gedanken von den „Kindern Gottes" nicht, der in keiner Weise „naturhast", sondern rein gemüthaft-willenhaft ist. Vie Kindschaft der Christen besteht in Gehorsam, vertrauen und Demut Gott „wie" einem „Vater" gegen­

über; sie hat Schuldbewutztsein im Hintergrund und Dank für Ver­ gebung im Vordergrund. Schleiermachers (wie Goethes) Idee weckt zuviel Freude des Menschen an seiner Gegebenheit als Hoheit; sie auferlegt dem Individuum nur die „Pflicht", sich als eben „es" treu auszuleben, „allen Gewalten zum Trotz" sich zu „erhalten", das

schlechthinige Abhängigkeitsgefühl schützt nicht vor l u st Hafter Selbst­ bespiegelung. Schleiermachers Maßstab für das „Gute" und das „höchste Gut" ist zu sehr am „Schönen" gewonnen, um dem Selbst­ genuß in Selbstgefälligkeit zu wehren. So zeigt seine Art von seelischer „Zufriedenheit" immerhin Verwandtschaft mit dem aufkläre­ rischen „Optimismus". Freilich in dessen vornehmster Form (etwa wie in Schillers „Die Künstler": wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige stehst du an des Jahrhunderts Neige in edler stolzer Männlichkeit usw.).

3. 3u den grundlegenden Lrkenntniflen Schleiermachers in Hinsicht der Theologie gehört jedoch noch sein Verständnis für Christus als geschichtlich tragenden Grund einer „Gemeinde". Ist in den „Reden"

selbst der Eindruck der Abhängigkeit des spezifisch christlichen „Bewußt­ seins" von ihm noch vag, noch wesentlich bloß erinnerungsmäßig (offenbar von der Stimmung her, die ihn in der Herrnhutischen Ge­ meinde umfangen hatte), so ist es doch bedeutsam, daß er ihn über-

Person Christi bei Schleiermacher

Haupt als „Vermittler"

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des religiösen Gefühls und einer „positiven"

Weise des Universums als Manifestation „Gottes" innezuwerden, bewertet. Der rationalistischen Empfindung Christus gegenüber, der bloßen Bewunderung für ihn als „Vorbild", leuchtendes Muster jeder „Tugend", ist er entwachsen. Durch Novalis (gest. 1801) dürfte er im weiteren angeregt sein. (Dessen Christussehnsucht blieb ihm doch fremd.) In der „Glaubenslehre" (2§94,2) bietet Schleiermacher schließlich

den charakteristischen Begriff für Christus als „der einzige ursprüngliche Drt" der Entstehung, einmal überhaupt eines vollkommen klaren Gefühls für das Sem Gottes „in" der Welt, dann aber auch der ethischen, historisch „aktiven" Art desselben. Einerseits würdigt er ihn als „Erlöser" des „frommen" Bewußtseins von der Übermacht des „sinnlichen" Bewußtseins, andererseits als Urheber der spezifisch „teleologischen" Frömmigkeit. Durch beides gibt er der systematischen Theologie, vorab der Dogmatik, ein deutlich umschriebenes, in der Sache geschichtlich orientiertes (Eigengebiet. Das war derjenige Dienst, der der Theologie getan werden mußte, wenn sie nicht zu einem bloßen, kleinen Zweige der Philosophie werden sollte. Sn Schleiermachers „Denken", in der Art der Formulierung dessen, was Christus „bedeute", treffen wir auf des geistig so reichen Mannes

Anteil an dem aufsteigenden Historismus in der Wissenschaft. (Es ist hervorzuheben, daß ihm Jesus Christus nicht etwa ein „Symbol" dar­ stellt, sondern eine wirkliche, geschichtliche Person in spezifischer religi­ öser Hoheit „ist". Er meint in ihm „jemand" vor sich zu haben, dem Gott stets und ganz im Gefühl gegenwärtig war, und der eben darin von unvergleichlicher, unerschöpflicher Kraft den Menschen, seiner „Gemeinde" gegenüber bleibe. Christus sei in keinem Sinn ein „Ergebnis" der Menschheit, vielmehr ein „Wunder", d. h. ein völlig neuer Anfang. Das ist historischer Eindruck von ihm! Und wenn Schleiermacher die seelische Sonderart Jesu als die „ethisch"-aktive (eine unbeirrbare Einstellung auf wirken, „Schaffen" sei. des „Gottesreichs") erfaßt, so ist das vollends der Geschichte abgelauscht. Die „Idee" von der Religion hat Schleiermacher freilich in keiner Weise aus dieser ge­ wonnen, ja auch nur an ihr geklärt. Denn wenn er „das religiöse Bewußtsein" wie einen völlig eindeutigen, überall in seinem „Wesen" gleichartigen Faktor des menschlichen Seelenleben hinstellt, dazu es so schildert, daß man erkennen soll, wie es der sich recht besinnenden Seele als ein elementar in ihr „bestehendes" Gefühl sich darstelle (das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl „ruht" in jeder Seele, es regt sich vorerst in verworrenen Formen [als Fetischismus, bzw. Polytheismus),

arbeitet sich empor zum Monotheismus, bleibt freilich schwankend, ge­ trübt, „erlösungsbedürftig"), so ist Schleiermacher ja in der Vorstellung Uarlen dusch, Die deutsche evangelische Theologie. 6. Hufl.

3

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Bewertung der Kirche.

Grenze des Geschichtsinteresses

von der „natürlichen Religion" mit einem Fuße hängengeblieben.

Aber

indem er auch mit Bezug auf die Religion Gebrauch machte von seiner Idee der „Individualität" der Seelen und der Gemeinschaften, über­ höhte er immerhin die rationalistische Vorstellung so, daß eine Grund­ lage gewonnen wurde für eine nicht bloß autoritativ äußerlich gestalt­ bare „christliche Glaubenslehre", sondern für eine solche in voller seelischer Freiheit, nämlich im schlichten Achten auf die „Erfahrungen", die der einzelne gemacht habe oder die er etwa machen könne in der ge­ schichtlichen religiösen Gemeinde, der „Kirche", der er entstamme oder die es ihm im Leben antue. Für Schleiermacher bedeutet der „ge­ schichtliche Lhristus" ein sich fortsetzendes, von einer Generation zur anderen durch „Einbeziehung" sich vermittelndes Erlebnis der Kirchen­ glieder, dessen der Theolog sich in Vollbesinnung zu lehrhafter Schilderung seines Inhalts bemächtigt. Es ist Schleiermachers persön­ liche wissenschaftliche Größe, daß er mit Virtuosität, mit unbeirrbarer, nie ermüdender Umschau den Inhalt des (seines) von Lhristus bestimmten,

eigentümlich geformten, gemeindemäßigen „schlechthinigen Abhängig­ keitsgefühls" zum System zu gestalten gewußt hat. Und noch eins: Schleiermacher griff mit Bewußtsein nach Möglichkeit zu überlieferten Ausdrücken, alten technischen Begriffen der Theologie, um in ihnen klarzumachen, worum es sich für den „Lhristen", den evan­ gelischen frommen, handele, was ihm Religion sei, seine Religion alles „sage". Das wurde von sehr weittragender Bedeutung. Auch insofern, als er die schillernde (dem Pietismus entlehnte?) Bezeichnung

Christi als „Erlöser" aufgriff, hätte Schleiermacher von Luther genauere Kenntnis gehabt, als es der Fall war (Luther kennt einen „Versöhner"),

so möchte er da stutzig geworden sein. Zugegeben, daß sachlich zu Schleiermachers eigener Frömmigkeit paßt.

„Erlöser"

III. Ich spanne in Gedanken sogleich den Bogen von Schleiermacher zu Ritschl'). x) Man wolle mein Thema gelten lassen, wie ich es mir gestellt habe. Was ich im weiteren biete, ist keine Gesamtgeschichte der Theologie des letzten Jahrhunderts. Ich habe auch nicht beabsichtigt, die ganze letzte Zeit „vor" Schleiermacher zu beleuchten. Was Männer wie Lessing, Hamann,Herder, I a c o b i, vom Auslande her Rousseau (L a v a t e r) bedeutet haben, tritt für mich zurück. (Herder ist der hauptvermittler eines Einflusses der Ideen Rousseaus, sdes Mannes der „Befreiung" der Individuen von dem Zwange der Ge­ sellschaft!, aus die begabte deutsche Jugend, Goethe usw.) In gewissem Maße ist Schleiermacher mit Herder spezifisch verwandt. Aber es gehört doch zu seinen Schranken, daß er für dessen Geschichtsidee nur im allgemeinen er-

von Schleiermacher zu Ritschl

35

A. Man mag fragen, welcher Zeitabschnitt damit gemeint sei, der zwischen

Schleiermachers

„Reden"

und

werk in erster Ruflage (Bb. I 1870,

Ritschls

dogmatischem

II u. III 1874),

Haupt­

oder aber der,

welcher zwischen Schleiermachers Glaubenslehre (in ihrem Abschluß, d. h. in der zweiten Ausarbeitung, Ritschls

1830) bzw. seinem Tode (1834) und

„Geschichte des Pietismus"

seinem Tode (1889) liegt.

(I 1880, II 1884, III 1886) bzw.

Vie Frage ist für Schleiermacher bedeutsamer

als für Ritschl, denn durch die „Reden" hat jener zum Teil anders gewirkt

als durch die Glaubenslehre, während Ritschl einheitlich gewirkt hat.

Die „Reden" waren am wenigsten auf Theologen eingestellt.

Man

schlossen gewesen. Das Eigentümlichste an Herder, diesem innerlich ruhelosen, nie sich völlig klärenden, nie zu „Glück"gefühl kommenden „Theologen", ist sein lebendiger, vielseitiger Geschichtssinn. (Seine „Ideen zur Geschichte der Menschheit" spiegeln nicht den ganzen Reichtum seiner Einsichten.) Schleier­ machers Geschichtsinteresse haftet „prinzipiell" an jedem „Individuum", in concreto nur an bestimmten Personen (vielleicht daß man sagen muß, nur erst an Christus), daneben an Ideen, Büchern IGeschichte der Philosophie! und Organisationen, kaum an „Geschehnissen", gar an dem wechsel und Zusammenhang im historischen werden. (Für die „Entwicklung", den stetigen Fortschritt, daß ich so sage: die Methode der Vernunft in diesem „Werden", hat erst Hegel ein Auge!). Freilich hat Schleiermacher Vorlesungen über die Üirchengeschichte gehalten, aber merkwürdig dürftige: von Luther hat er erschreckend wenig gewußt. Am Menschen, bzw. an der Menschheit sieht er eigentlich nur die Probleme der (geistigen) G e st a l 1, ihrer wesens „Veranschaulichung" für den eigenen „Sinn" und den „der andern". Auch am „Universum" (Gott)! Das ist das ästhetische Moment in seinem wesen. Ich werde in späterem Zusammenhang das weiter verfolgen, vorerst sind andere Momente an ihm wichtiger, will sagen: was zunächst von Schleiermacher aus zur Wirkung kam, steht in Gegensätzen, für die das „ästhetische" Moment noch im Schatten blieb. Dieses spielte als solches noch keine Rolle klarer Art für das Bewußt­ sein der Zeit. Es war ungemein einflußreich, aber noch eigentümlich unerkannt im „Unterscheiden", eben dadurch auf die Dauer verhängnisvoll! vergleicht man Schleiermacher mit Rousseau, so sieht man, daß er Kultur interessiert ist. Er ist keinesfalls im engeren Sinn ein Mann des „Ratursinns", gar praktisch des Sehnens nach Einsamkeit! In den „Reden" ist das „All" ihm eine „Galerie religiöser Anschauungen", aber er denkt nicht an Naturszenerien. Oder daran nur nebenher. Cr denkt (wie ich beim Vergleich mit Goethe berührte) eigent­ lich nur an die höchsten „Bildungen", die in menschlichenIndividuen und Gemeinschaften. Das „All" ist ihm ein Geschichtsganzes! Aber jedes „Ganze" denkt oder empfindet er ästhetisch! Die theologia naturalis des 18. Jahrhunderts wirkt darum in latenter Weise in ihm, wie übrigens noch heute in bestimmtem Maße, daß ich so sage, „unbeschrieen" fort. Die Aufklärung sah den Menschen in seiner Naturhastigkeit, einfach seiner seelischen „Gegebenheit". Und so auch sah Schleiermacher ihn! Cr nur in der Überhöhung des Problems von ihm ins „Metaphysische", in der Proji­ zierung aufs „Unendliche". Leibniz' Idee der Monade reift bei ihm als erstem Theologen zu der vom Individuum, der immer „anders" kompo­ nierten Monade.

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Schleiermachers Doppelwirkung

beachtet das durchweg nicht in dem Matze, wie der Historiker mutzte! Es ist nicht der ganze Schleiermacher darin zum Ausdruck gekommen. Der „Prediger" Schleiermacher, der um dieselbe Zeit sich auch bekannt zu machen versuchte, zeigt das. 5ln ihm gemessen war der „Redner"

seinem Publikum gegenüber mannigfach zu entgegenkommend, allzu einladend (wenn nicht im Augenblick auch sich selbst rhetorisch „be­ rauschend"). Die „Gebildeten", zu denen Schleiermacher im Geiste sprach, die er sich als „Verächter" der Religion dachte oder als solche kannte, waren die Romantiker, die Philosophen neuen Stiles, die Sucher einer neuen Weltanschauung. Schleiermacher empfand sich dabei als Theolog, will sagen: einer der freudig in dem Berufe steht, für die Religion zu werben. Ruch „unter der Ranzel". Ruch da sich selbst treu und doch, wie er wohl dachte: pflichtmähig, in den „Grenzen" des

Freundeskreises. So „redet" er wie ein Philosoph, um zu zeigen, daß die Philosophie nicht das letzte Wort in der Religion habe, die Religion vielmehr ein herrlicher Besitz der „Seele" für sich sei. Und er war auch ebenso sehr Philosoph wie Theolog. Gewirkt hat er, wenn nicht sogleich, so auf die Dauer in beiderlei Eigenschaft. Er war eben letzlich „Religions" Philosoph, der erste, der eine philosophisch gedachte, grundlegend neue Theorie über die Religion im Gegensatz zur über­ lieferten, bzw. derjenigen der Rufklärung so gut wie der Orthodoxie, wagte. Rls Theolog, Darsteller des „christlichen Glaubens (der christ­ lichen Sitte) nach den Grundsätzen der evangelischen Kird)e", blieb er seiner philosophischen Theorie als psychologischer Beobachter und Deuter der Religion nach der formalen Seite (wenn auch in einer ge­ wissen Verkürzung, vielleicht einer verdeutlichenden Zuspitzung) treu. 3n

welchem Matze das, was er als Inhalt der christlich-religiösen Psyche in der Glaubenslehre herausstellen zu können oder müssen meinte, in Übereinstimmung ist oder sich sachlich verträgt mit dem, was nach den Reden der religiösen Selbstempfindung gegenwärtig ist, nach seiner Schilderung in ihnen der Seele a§ Erleben das ,Gefühl", den „Sinn" erregt, aktmätzig von ihr ausgenommen ist, das ist eine Frage, die nicht ganz einfach zu beantworten ist. Ich weih natürlich, über wieviel Streit unter den Schleiermacherforschern ich mich kurzerhand Hinweg­ setzen muh. Ruch als theologischer Systematiker hat Schleiermacher teils durch die Reden, deren allgemeine These, teils (mehr) durch die Glaubens­ lehre, beren konkrete Christlichkeit (Rirchlichkeit), gewirkt. Rber seine Ideen sind natürlich später in den Röpfen anderer die mannig­

faltigsten Verbindungen eingegangen, wer die Entwicklung von Schleier­ macher zu Ritschl allseitig geschichtlich darlegen will, mutz daher noch mehr als einen der Zeitgenossen Schleiermachers, die auch für ihn selber

Konkurrenten zu Schleiermacher

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durch „Anregungen" thetisch und antithetisch Bedeutung gehabt, mit ins Auge fassen. Ich denke dabei unter den Theologen an de Ivette (gest. 18491): er wurzelte in Fries (gest. 1843), was doch mehr eine Nebennüance als einen Gegensatz zu Schleiermachers Religionsidee be­ deutet. Unter den Philosophen denke ich außer an Hegel, von dem ich noch rede, an Fichte und Schelling. Natürlich fragt es sich auch, wie weit Theologen und Philosophen erheblich früherer Zeit fort- oder wieder gewirkt haben (bei Philosophen erinnere man sich an Spinoza, aber auch an Leibniz und Shaftesbury). Ganz absehen darf man

von herb art (gest. 1841), was nicht heißt, daß er für den Theologen nichts bedeuten „könne". (Dasselbe ist von Schopenhauer fgest. 1860] zu sagen.) In dem Verhältnis von Ritschl zu Schleiermacher erkenne

ich das allmähliche vorantreten Schleiermachers vor den „Konkur­ renten", die er fand, so doch, daß Ritschl dann auf entscheidendem Punkte ihn, der auch sein Kleister gewesen, sachlich überbot. was die größten Philosophen, die auf Kant folgten, gemeinsam charakterisiert und woraufhin man die Periode, in der sie sich aus­ wirken, im spezifischen Sinne als die des „Idealismus" bezeichnet, ist die Sicherheit, mit der sie die „Vernunft" schlechthin als Schöpferkraft bewerten. In die besonderen Vorstellungen, die die einzelnen sich da bilden, vor den anderen darin erfolgreich, eine weile fast zur Allein­ herrschaft in der Philosophie sich emporschwingend Hegel (gest. 1831), genauer einzugehen, erachte ich nicht für meine Aufgabe. In Betracht kommt für mich nur, wiefern diese Philosophen sich mit Schleiermacher freundlich oder gegnerisch getroffen haben, und wiefern ihre Weltanschau­ ung diejenige Situation mit herbeigeführt hat, in der Ritschl zu wür­ digen ist, auch ob sie „darüber hinaus" von Belang geblieben oder gar erst zu Belang gekommen. Man erkennt das, wenn man sie neben Schleier­ macher mit Kant vergleicht, wir stoßen da gewissermaßen auf GegenJ) d e wette war unzweifelhaft ein Mann von Belang, er hat allzu sehr im Schatten Schleiermachers gestanden. Sein Berliner (Erlebnis (Absetzung durch Friedrich Wilhelm 111.) hat ihn innerlich gebrochen. Basel war ihm ein freundliches, aber geistig zu enges Asyl, wer wie ich das Geschichtsbild der Theologie des 19. Jahrhunderts nur im Umriß (wenn auch „schraffiert") zeichnet, muß ihn wohl beiseite lassen. Und darf doch bezeugen, daß die Theologie mehr von ihm hätte haben „können", als sie gehabt hat. vgl. über ihn den Artikel, schon in PR(E2 (Herzog), dann wieder in 8 (Hauck) XXI (1908), von G. Frank (gest. 1904; die „Geschichte d. prot. Theologie" dieses wiener Theo­ logen, in 4 Bänden 1862 -1905, die sehr gelehrt ist und möglichst überall die (Duellen selbst sprechen läßt [f. schon oben S. 4], sei hier als ganze in Ehren genannt!). Ich habe den Artikel von Frank (bei Hauck) zunächst über* arbeitet, dann in dem zweiten Nachtragsband, XXIV, (1913) S. 646—650, erweitert.

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Schleiermacher und die Identitätsphilosophen

pole; denn während Schleiermacher in der Religion durch das Uni­ versum hindurch „Gott" objektiv als ein Gegenüber oder ein „Anderes" zu sich selbst „fühlt", von dem er, mit allem, das Sein hat, „schlechthin abhängig" ist, —Gott nicht ein „Gegebenes", d. h. nicht gegenständlich „faßbar", nicht isolierbar für das Innewerden, dennoch als das „Wo­ her" des Spezifischen am „schlechthinigen" Abhängigkeitsgefühl „unterscheidbar", vom Universum als „bloß" erst „Welt" nie ganz dargestellt, auch in der Idee nie erschöpft —, so gestalten die Philo­ sophen ein Identitätssqstem aller Seins, Kraft dessen der Mensch sich als bewußte Vernunft der „Idee" nach wie selbst „Gott für ihn" in jedem „Moment" der Welt erfassen mag, ja soll. Für Schleiermacher ist Gott eine zweite Wesenheit im oder am Universum, die freilich „konstatierbar" nur im Gefühl ist, als solche für den Intellekt gewiß ein „Problem" bedeutet, aber letztlich vielleicht ein unlösbares, hoffnungs­ loses, für die Idealisten ist er die Vernunft selbst in ihrer Tiefe als „Produktivität", die sich in lebendigem Fungieren auch begreift, sonach dem Denken das hoffnungsreichste Problem. Kant steht da in der Mitte, indem er weder ein schlechthiniges Abhängigkeits- noch auch Freiheitsgefühl kennt, für beides dem Menschen vielmehr eine Grenze innerhalb seiner Vernunft zeigt. Der Lmpfindungswelt gegenüber ist ihm der Mensch als Vernunftwesen zwar unbezwingbar, aber doch nur gestaltend, der transzendenten Welt gegenüber als eben solches her­ vorbringend, „mit"schaffend, aber nicht (wie Gott) gestaltend. Man kann für Schleiermacher wie (Fichte, Schelling) Hegel vielleicht den gleichen Ausgangspunkt in Kant konstatieren, nämlich in deffen Unter­ scheidung von individueller Vernunft (individuellem Bewußtsein) und Vernunft (oder Bewußtsein) „überhaupt". Das führt in die Frage nach dem Wesen deffen, was für Kant das „Ding an sich" war auf der einen Seite und das (die verschiedenen) „Apriori der Vernunft" auf der anderen Seite. Da darf ich hier abbrechen. Rur das ist doch noch hervorzuheben, daß mindestens Hegel der „Vernunft" eigentümlich ein­ seitig den Charakter des „Denkens" zuschreibt. Die objektive Vernunft, die im Menschen sich ihrer selbst subjektiv „bewußt" wird (dabei frei» sich in keinem solchen als einzelnen „ganz" bei sich selbst ist), gilt ihm für die unerschöpfbare Kraft des in „Ideen" sich hypostasierenden, „realisierenden" Erdenkens. Gewiß, das „Denken" ist ihm nicht bloß eine Sache des „Verstandes", er kennt über diesem die Fähigkeit der „Spekulation", des geistigen „Erschauens", aber auch das gehört doch in die Sphäre des „Intellekts", wenn nicht mehr die des bloßen Erklärens, so doch „nur" des verstehens. Darin bleibt Hegel dem Rationalismus tributär. Für Kants Unterscheidung von Sphären der Vernunft hat er im Grunde kein Verständnis. Die „Vernunft" ist ihm

Verhältnis zu Hegel

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der Logos. Vas bedeutet, wie in der antiken Philosophie, datz die ästhetische Kraft der Vereinheitlichung eine Rolle spielt für seine Auf­ fassung der Vernunft. Aber die „Idee" bleibt ihm letztlich das sich erdenkende Denken, das in allem „Realen" sich „erkennt", d. i. wiederfindet (und daran genügt). — Was das individuell Charakteristische an Fichte (gest. 1814), gar an dem komplizierten Schelling (gest. 1854) ist, kann hier auf sich beruhen; beide haben ja auch auf bestimmte Theologen gewirkt und da werde ich das berühren *).

Cs ist bekannt, daß Schleiermacher sich speziell mit Hegel als Gegner empfand, wie auch umgekehrt, Datz ihre beiderseitige Spezialtheorie von der Religion sich nicht deckte, ist, wie mir scheint, fast das Belang­ loseste. In den ersten Auflagen dieser Schrift habe ich das freilich als Historiker in bezug auf die Wirkungen, die sie übten, zu hoch ein­ geschätzt, d. h. diese Wirkungen zu sehr als gleichartige bewertet. Hegel versteht die „Religion" als eine Vergegenwärtigung Gottes in unzu­ länglicher Form. Gefühl ist sie ihm nicht, das wäre ihm eine Vor­ stellung von ihr, die sie fast in die untermenschliche Geistessphäre, die­ jenige noch halb tierisch er „Verworrenheit", verweisen würde. Aber sie lebt noch blotz in „Vorstellungen", in Unterscheidungen, phantasiehaften Hypostasierungen. Die Philosophie, die „Spekulation" über­ bietet sie und gewinnt die Wahrheit von Gott und vom Verhältnis des Menschen zu ihm, nämlich von der Einheit beider in „der" Idee. Der Mensch (das „Individuum" je nach dem Matze oder der Stufe seines Anteils an der „Menschheit") als bewutztes Vernunftwesen, als diejenige „Kreatur", die sich selbst denkend verstehen kann und das „All" in seiner Wesenheit „begreift", ist die (bisher) höchste Art der Selbstrealisierung der „Idee" oder des „Absoluten" in „Einzelnem".

Rein als Denker war Schleiermacher, wie seine Dialektik zeigt, letztlich sehr hilflos und unsicher wider eine Spekulation wie diejenige Hegels. Aber in der spezifischen Selbst em pfin düng, demgemäh in der Stim­ mung als „Religiöser", war er ein anderer. In Form von Erleben ist für Schleiermacher die Religion blotze 3 u st ä n d l i ch k e i t, fast könnte man sagen: eine Art von Instinkt für „Gott" in allem. Das Be­ dürfnis, sich über sie „inhaltlich", in einer Theorie, klar zu werden, hat der homo religiosus als solcher nicht. Für ihn gilt Fausts Antx) Auch Baader (gest. 1841) ist in gewissen Beziehungen von Belang, jedoch mir zu wenig vertraut, als datz ich das Maß kurz feststellen könnte, in wel­ chem er in der Entwicklung der Theologie gewirkt hat; er hat wie Schelling, Jacob Böhme (gest. 1624) und dessen „theosophische" Naturspekulation zu spätem Einfluß gelangen lassen. Soweit ich sehe, ist Baader in der Gottesidee ein Vertreter des Panentheismus (ohne diesen Titel zu formen, der als solcher von K. Krause [gest. 1832] stammt), vgl. über ihn Lütgert (oben Z. 4 Anm.), 3. Bd., „höhe und Niedergang des Idealismus", S. 167 ff.

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Hegel Träger des Pantheismus, Schleiermacher des Theismus

wort auf Gretchens Frage, wie er zu Gott stehe. Das Bedürfnis an „Begriffe" hat nur der etwaige Denker in ihm, erwacht erst dem

Theologen. Als Fachmann dieser Art gibt Schleiermacher ja auch in den Reden, vollends in der Glaubenslehre sich in Begriffen Rechen­ schaft über den „Zustand" des Frommen (vorab über eben den „Be­ griff" von Frömmigkeit oder Religion). (Er sondert in sich die Art des Theologen, sich als Denker zu orientieren, und die Art, wie er sich „bloß" als Denker, d. h. als Philosoph einzustellen habe. (Es gehört zu seiner Personart, seiner Individualität, daß ihn die Doppel­ heit der Weise, ein „Lehrsystem" über das „Sein" zu gewinnen, soweit wir sehen, nie innerlich beschwert, nicht „gequält" hat. Als Theolog fragt er nur (im Prinzip!) den homo religiosus in sich, als Philosoph den homo cogitans. Daß er sich letztlich nie davon abdrängen ließ, die Religion wider dar Denken, im Denken die Theologie wider die Philosophie als verschiedene Sphären zu wahren (zweifellos dabei überzeugt, daß sie sub specie aeterni sich decken, ob der Mensch es verstehe oder nicht), dazu die (Entschlossenheit, der Religion im Notfall

die Palme zu reichen, das hat Schleiermacher zu einem Retter rechter Theologie gemacht und ihm im Sinne gebührenden Danks seine Sonder­ stellung in der Theologie gesichert. Der Hegelianismus wurde der Mutterboden des Pantheismus in der Theologie des 19. Jahrhunderts, der Schleiermacherianismus wurde ein Träger des Theismus, selbst in pietistischer, ja kirchlichkonfesstonalistischer Gestalt. Auch vom Hegelianismus her haben sich freilich gewisse Linien in letzterer Richtung angebahnt, nur nicht von der Religionstheorie des Meisters, sondern von seiner Geschichts­ konstruktion aus. Und was dessen „Religionstheorie" betrifft, so meint er, daß die Philosophie auf ihrer höhe dasjenige, was die Religion praktisch bedeute, auch, ja nur in mächtigerer Weise der Seele ge­ währe. Hegel glaubte gerade als Philosoph der „Frömmigkeit" eine Bahn zu brechen, diese in Reinheit zu erwecken, wieder ist da zu sagen, daß er und Schleiermacher sich, trotz ihrer Gegensätze, ja nicht lediglich ausschlossen. So sind ihre „Schüler" sich manchmal begegnet. Selbst der Person Christi gegenüber haben sie Kraft ihres Gegensatzes zu der vulgären Aufklärung geistige Berührung. Hegels Christologie ist letztlich getragen von seiner Theorie über die „großen Männer" als die Wendepunkte der Geschichte, die geheimnisvoll originalen Bahn­ brecher der historischen Epochen. Freilich ist ihm Christus im Dogma, als der „Gottmensch", wie ihn die Kirche sich vergegenwärtigt, nur das (bleibende) „Symbol" des wahren Verständnisses für die Einheit von Gottheit und Menschheit in der „Idee". selbst tiefe, lebendige Mystik anschließen.

Aber auch daran kann sich Und Mystiker, nicht „mehr",

Die drei Schulen nach Schleiermacher

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ist auch Schleiermacher. Immerhin gilt, daß er als solcher alles stärker in sich als „Person", d. h. das Frommsein wie eine „Begegnung" mit Gott (im Gefühl), nicht als „Linswerden" (gar (Eins„fein"!) mit

ihm, empfand. Seine Zweifel an der Unsterblichkeit der „Individuen" sind gedankliche Unsicherheit und im psychologischen Sinn Ausdruck seiner romantischen Wonne angesichts des „Unendlichen". Auch im Bannkreise der Mystik war er, kritisch gegen „seinen" Eigenwert als Individuum, der evangelische Theolog. Schleiermacher gegenüber liegt Hegels Bedeutung für die Religion, zumal aber die evangelische Theologie, darin, daß er der Gefahr entgegengewirkt hat, die in der Vorstellung von der Religion als „bloß" einer „Provinz im Gemüt" liegt. Diese Provinz ähnelte bei „Schleiermacherianern" oft allzusehr einem deut­ schen Kleinstaat von ehemals mit seiner idyllischen Selbstgenügsamkeit und Souveränitätsseligkeit. Hegel zeigte der Theologie, daß sie als Wissenschaft in Fühlung mit der Wissenschaft „überhaupt" bleiben müsse, um Beachtung fordern zu können. B. Ich habe in den früheren Auflagen die Theologie in der Fort­ bewegung „von Schleiermacher zu Ritschl" dargestellt als dreifach „schul­ mäßig" gegliedert und meine, das sei richtig. Ich habe ja auch nicht etwa ein eigenartiges Schema herausgebildet gehabt. „Neu" in ge­ wissem Maße ist höchstens, daß ich meine, es seien wirklich nur drei Gruppen unter den Theologen zu erkennen, die „nach Schleiermacher" bis, rund gerechnet, 1870 auftraten. Sie einheitlich unter dem Ge­ danken etwa einer „romantischen" oder aber einer „idealistischen" Zeit der Theologie zusammenzufassen, trage ich Bedenken. Dafür sind sie unter sich doch zu verschieden. Alle hängen sie mit dem Geiste der Romantik und des Idealismus (diese beiden Begriffe sind ja nur rela­ tiv unterschiedliche!) zusammen, und gehen doch nicht gerade „friedlich" nebeneinander her. Der hegelsche vreitakt in der Bewegung der „Idee", zumal in der Art, wie sich „Neues" in der Geschichte durchsetzt und aus lebt, scheint sich an ihnen zu bewahrheiten. Aber man kommt doch als Historiker mit einem „Schlagworte", sei es selbst einem doppel­ seitigen, nicht aus. Oder sollte der Historiker zur Zeit, gar der von dem Theologen- und Philosophengetriebe der Jahrzehnte nach Schleier­ macher und Hegel noch direkt oder indirekt mitberührte, an ihm irgend­ wie noch aktiv mitbeteiligte, nur „vor Bäumen den Wald" nicht recht

sehen können? In jeder der drei Schulen sehe ich Schleiermachers Parole wirksam, jedoch in recht verschiedenem Maße und im einzelnen von verschiedenen Momenten aus. Die drei Schulen nenne ich in der kürze, ohne die landläufig gewordenen Ausdrücke auf die Gold­

wage zu legen, die liberale, konfessionelle und Vermittlungs­ theologie.

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Vas Gemeinsame der drei Schulen

Schleiermachers „Parole", seine schlichteste Grundformel, ist die von der Religion als Gefühl, oder, was nach seiner eigenen Definition dasselbe sein soll, als einem „unmittelbaren Bewußtsein". Sieht man die Negation darin an, die Ablehnung alles bloß Intellek­ tuellen, bloß „Lehrmäßigen", darin eingeschlossen alles bloß äußer­ lich herantretenden Autoritativen, eines im Sinne nur des „Gelten­ lassens", des Fürwahrhaltens geübten „Glaubens", so erkennt man immer wieder, daß alle genannten drei Schulen dem gleichen Lehrer folgen. Und das gibt ihnen gegenüber der alten Orthodoxie und dem alten „Liberalismus", dem Rationalismus, gegenüber dem rein auto­ ritativen Ronfessionalismus und der intellektualisierten „natür­ lichen Religion", ein gemeinsames Gepräge von Modernität. Alle drei Schulen wollen und können der Innerlichkeit der Religion, speziell des evangelischen Christentums, gerecht werden. „Überzeugungen" hatten die alten Orthodoxen und Aufklärer in festestem Maße. Darin hat kein „moderner" Theolog treuer seinen Mann gestanden. Aber ob liberal oder konfessionell oder „Vermittlungstheologe", alle theologischen Führer des 19. Jahrhunderts verlangen prinzipiell etwas wie ein Gott­ erleb en, ein bewußtes Ligenverhältnis zu Gott, seelenhafte Indi­ vidualität der persönlichen Einstellung auf ihn. Nicht erst auf der höhe, sondern schon im Zustandekommen dessen, was wirklich „Religion"

heißen dürfe, meinen alle Schulen nach Schleiermacher, sei ein selb st eigenes, als unausweichbar empfundenes, über die Seele gekommenes „Innewerden" (ich suche nach einem die Spezialtheorien noch offen­ lassenden Ausdrucke) Gottes das Charakteristische, das wesenhafte. Im Grunde meinen sie alle, daß die Religion stets, wo sie echt sei, auf dem Lindrucke empfangener „Offenbarung" ruhe; ihr Streit beginnt erst bei der Reflexion, was objektiv als Offenbarung gelten „dürfe", wie solche als geschichtliche „gegebene" und immer neue, „fortgehende", zu denken sei, in welcher weise der Gottesbegriff sich für den Frommen gestalte, will keine der Schulen gestatten, daß der „Fromme" sich wie ein Theoretiker (ein „Fürwahrhalter", sei es auch mit Über­ zeugung, ein „Wissenschaftler") empfinde, so auch keine, daß er sich an Beobachten kirchlicher Sitte genügen laffe. Der evangelische Christ der Periode vor Schleiermacher war, wenn zu „Lebendigkeit" seines

„Glaubens" erwacht, der vertrauende Gefolgsmann Gottes (Christi). Man denke an p. Gerhardt und Gellert. Das willenhafte Moment, das Orthodoxie und Aufklärung letztlich auslösen wollten, trat unter der Wirkung Schleiermachers (vollends auch Hegels)

unverkennbar zurück. Darin lag die Gefahr der „Gefühligkeit" (bloßen üsthetifierung, Spekulation, Schwärmerei). Aber vorerst war es doch ein Segen, daß das Gefühl, das „Erlebnis" (selbst die Neigung

Fortdauernder Rationalismus.

Erweckung

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zur Überbauung des Gottes-„Gedankens" durch die Phantasie) betont

vorantrat. Die Romantik und der Identitätsidealismus waren an sich begrenzte Bewegungen. (Eine bestimmte Schicht der „Gebildeten" erscheint als ihr Träger. Vie Dichter (Künstler) und Denker (Philosophen) schufen sie. Die Theologen blieben vorerst meist Aufklärer. In ihren Kreisen wirkte der Kantianismus zugunsten des Rationalismus. Als letzter aka­ demischer Vertreter desselben ist h. C. G. Paulus in Heidelberg, gest. 1851, zu nennen. Schleiermacher hat sich nicht rasch durchgesetzt, ja auf lange hinaus überhaupt nur in elementarster Form, mit seinen allgemeinsten Thesen und, in unbestimmter Fassung, mit seiner Methode. Selbst das langsamer als man nach dem ersten starken Eindruck der „Reden" bis

in theologische Kreise hinein denken mochte. Zunächst wirkten Schel­ ling und bald vollends Hegel viel stärker als er gerade auch auf Theologen, vorab zu nennen wären I. M. Daub (gest. 1856) und PH. K. Marheineke (gest. 1846), beide über Schelling sich zu Hegel hinaus entwickelnd (ersterer nach einem Vorstadium als Kantianer) und im Sinne seiner Religions- und Geschichtsphilosophie das kirchliche Dogma denaturierend, (der Absicht nach restaurierend). Im Rückblick hat der Historiker doch kaum Anlatz, bei ihnen zu verweilen. Denn Erfolg war ihnen nicht beschieden. Immerhin hat vaub der religionsgeschichtlichen Forschung, Marheineke der Konfessionskunde [„Symbolik") die Bahn brechen geholfen. Rach den Befreiungskriegen kam es in der sogenannten Erweckung zum Wiederdurchbruch des Pietismus. Cs ist kaum sicher festzustellen, wie weit dieser latent sich erhalten hatte. Das Bürgertum war fast völlig vom Rationalismus gewonnen gewesen (steht, soweit es religiös interessiert ist, im Grunde auch heute noch zu ihm, zur „Sekte" wurde der Rationalismus seit 1841 in der „Gemeinschaft der Lichtfreunde" lfortbestehend in der Gegenwart als „Bund freireligiöser Gemeinden", der jetzt wesentlich dem naturalistischen Monismus verfallen ist]). Cs fragt sich, ob Adel und Bauerntum, sowie vereinzelte Pfarrer im stillen in grötzerem Umfange in der Stimmung des Pietismus geblieben waren. Schleiermacher ist ja selbst von ihr (in der Herrnhutischen Form) be­ rührt worden. Und ganz ohne Zusammenhang mit der „Erweckung" ist in dem Geschlechte von wissenschaftlichen Theologen, das seit etwa 1820 in den Vordergrund zu treten begann, fast keiner gewesen. (Es sind verschiedene Momente, die an dem neuen Pietismus zu beachten sind, wesentlich vier. 1. Ganz im allgemeinen seine Herkunft aus dem Volkserleben der Zeit. Das bedeutet nicht, datz er „populär" gewesen

oder auch nur geworden sei. Aber er wurzelte zunächst in der als persönliche Gotteshilfe empfundenen Befreiung vom Joche Na-

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Die vier Merkmale der Erweckung

poleons und der französischen Fremdherrschaft. Insoweit die Erweckung einen nationalen Einschlag hatte, wurde 1817 die große Feier der Reformation, des von Gott uns Deutschen geschenkten Luther, für sie bedeutsam und gab ihr, in freilich nicht eben schnellem Wachstum, den Anstoß zur Entwicklung von neuem lutherischen Ronfessionalismus. 2. wie von selbst ergänzte sich der Gedanke von dem in der Geschichte „erlebten" Gotte vielfach in neuem Verhältnis der Seelen zu Ehristu §, nämlich als dem lebendig „gegenwärtigen". Da hatte die Romantik, ihre geschäftige Phantasie, ihre Freude an den Seelengeheimnissen bis hin zum Okkulten (I. Rerner), ihren Anteil. Novalis mag als Höhentypus dessen gelten, was die „Erweckung" an neugestimmter Ehristurempfindung, „Liebe" zu, verlangender Herzen nach ihm („nur" ihm) mit sich brachte. Rian suchte und fand in Christus den „Freund im Himmel", den persönlich interessierten Helfer der Seele im „Weltgetümmel", mit dem man „Hand in Hand" wandern könne, der Ewigkeit entgegen. In der empfundenen „Gemeinschaft"

mit ihm entwandt man sich der kahlen Viesseitigkeitsstimmung des Ra­ tionalismus, seiner Freude an der Welt als „Welt"", die im Gegensatz zu seinem Optimismus wieder zum „Jammertal"", mindestens zur „Fremde"" wurde. Auf diesem Punkte hatte der „Idealismus"", auch Schleiermacher, dem Rationalismus nicht viel entgegengestellt, von der Christusmystik her kam es: 3. zu vertieftem Sündengefühl. In edelstem Typus tritt uns dieses Moment an einem Manne wie Tholuck entgegen. Man wird schwerlich irgendwo bei ihm den Eindruck von Phrase haben, wenn er von der Schwere der Sünde und Schuld, im Blicke auf sie dann von Jesus als dem „Heiland"" redet. In der „Glaubenslehre" zeigt Schleiermacher offenen Blick dafür, daß das „christliche"" Bewußtsein sich um die Pole „Sünde"" und „Gnade"" bewegt. Aber wer Luther kennt, sieht an dem „evangelischen"" Gedanken von der „Rechtfertigung"" wohl am deutlichsten die Schranke des Romantikers: für „Schuld"'hatte Schleiermacher nicht viel Verständnis, sie relativiert sich ihm zur Unzu­ länglichkeit. So wird ihm Christus zum „Erlöser"" von der natürlichen „Unlust"" des Gottesgefühls. Den „Erweckten", wie Luther, war Christus der Versöhner, der Erlöser vom „Zorne"" Gottes. Dafür hatte Schleier­ macher (von Hegel nicht zu reden; bei Schelling trifft man Tieferes!) keine rechte Verständnismöglichkeit. Seine „Als-Db""betrachtung der Sünde als Schuld zeigt die eigentliche Schwäche seiner Grundkonzeption von der Religion und „Gott"", von Luther wußten auch die Erweckten vorerst wenig, wie die Verworrenheit ihres Gnadengefühl§ zeigt. Aber dem „Luthertum"" tat sich auch hier in spezifischer Weise die Bahn auf. 4. Insonderheit zu betonen als Merkmal der Erweckung ist noch der Biblizismus. Auch er war lange so verworren wie möglich.

Strauß' Leben Jesu als Krise

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Ablehnung besonders der rationalistischen Erklärung der Wunder. Neu­ belebung des Jnspirationsglaubens. Ein Supranaturalismus nach Ge­ schmacksliebhaberei, ohne Sinn für Geschichte und Natur. IHctn versteht Schleiermachers Sorge, daß der Glaube dieser Kreise das Christentum wohl gar der „Barbarei“ überliefern werde und die „Wissenschaft" dem

Unglauben überlasse. Dennoch bedeutete der neugeartete Biblizismus — ohne die Bibel wollte auch die wissenschaftliche Theologie, diejenige Schleiermachers, de Weite's usw. nicht schaffen! — einen großen Fort­ schritt; er ließ wieder Probleme religiöser Art ahnen, wo selbst Schleier­ macher voreilig „fertig" zu sein meinte. Noch immer hat es sich als Gesundbrunnen für die Theologie erwiesen, wenn sie „biblisch" zu sein als ein Ideal sich vorhielt/) Genau ein Menschenalter nach Schleiermachers Reden über die Religion erschien (1835/36) dasjenige Werk, das die „schulmätzige" Gruppierung der Theologie in der breiten IHitte des Jahrhunderts zur Folge hatte, D. Fr. Strauß' „Leben Jesu". An ihm schieden sich die Geister Ich habe nicht die Absicht, die drei Schulen einzeln genau zu schildern, gar ihre Spezialarbeiten zu verfolgen. „Bibelinteresse", um mich so auszudrücken, bezeigen sie alle. Aber die eine mehr von histo­ rischem oder philosophischem Gesichtspunkte aus, die andere von direktem religiösen oder kirchlichen, die dritte der Absicht nach von jedem „wissenschaftlich" gültigen aus. Gerade die letztere, die „Vermittlungs­ theologie", wurde die wissenschaftlich lahmste. Alle drei Schulen begeg­ neten sich in dem Bedürfnis spekulativer Konstruktionen, sei es als Unterbau, sei es als Überbau dessen, was sie als „christlichen Glauben" erkannten und anerkannten. Vie verschiedensten Modifikationen bietet jede Gruppe, Übergänge zwischen den Gruppen zeigen sich viele. Un­ gebührlich aufgebauschter Streit fehlt in der Wissenschaft nie. (Leider!) Im historischen Rückblick auf die Zeit jener drei Schulen geziemt es sich jeder zuzugestehen, daß sie an dem pectus quod theologum facit ihr Teil hatte. In geistigem Ringen hat keine die anderen Übermacht! Keine auch das aufzuarbeiten die Fähigkeit gehabt, was Schleiermacher als Erbe hinterlassen hatte. Durch V. Fr. Strauß wurde es offenbar, was praktisch und in der letzten theoretischen Formel Schleiermacher *) 3ur Geschichte der „Erweckung" fehlt es nicht an Literatur und ist doch noch vieles zu sagen, weil sie wesentlich p ersongeschichie ist, nicht „Lehr"geschichte. Ich verweise nur aus: L. Tie sm er) er, V. Erweckungsbewegung in Deutschland während des 19. Jahrhunderts, 4 Bde, 1901 — 1912 (sehr stoff­ reich ; nimmt die einzelnen landeslnrchlichen Gebiete je für sich). Besonders: W. Lütgert, 2. Bö , „Idealismus und Erweckungsbeweguny im Kampf und im Bund", 1923. Neuestens (umfassender als der Titel vermuten läßt) Karl Müller- Tübingen, Die religiöse Erweckung in Württemberg am Anfang des 19. Jahrhunderts, 1925.

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Unterschied von Strauß und Schleiermacher in der Schätzung Christi

und Hegel schied, An ihm kam es weitesten Kreisen zum Bewußtsein, daß es gelte, in der Theologie sich über das Verhältnis zur historischen Person Jesu, welches dem Gegenwartschristen, letztlich der evangelischen „Kirche" zustehe, Rechenschaft zu geben. In seiner „Schlutzabhandlung"

hat Strauß ja selbst in rechtschaffenster Absicht das dargelegt, gerade auch darauf hingewiesen, wo Schleiermacher „irre". Dieser habe „das Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich zu machen". Ihm sei der

historische Jesus der bleibende persönliche (Quellpunkt alles zur Klar­ heit über sich gelangenden Gottesbewußtseins. In der Tat bedeutet ihm dieser das unüberbietbare, nirgends getrübte „Urbild" des „schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls", also die nie versagende, keinem From­ men entbehrliche, immer neue Anregungskraft „reiner" Gottesinnewerdung. (Übergangen wird von Strauß, daß Christus für Schleier­ macher „historisch" zumal auch als derjenige, der die Ligen art des Christentums als Religion bestimmt — dessen „Art" als „teleologische", aktive Frömmigkeit, im Unterschiede von der „ästhetischen", passiven, die den Muhammedanismus, die mit ihm auf der gleichen „Stufe" stehende andere Art von Monotheismus, kennzeichnet — in Betracht kommt; es ist aber richtig, daß Schleiermacher offenbar jnämlich ohne das eigens auszusprechen) die „Größe" Christi Muhammed gegenüber darin sieht, daß „nur er" in der Geschichte „ganz" Gottes voll gewesen!) Für Strauß ist es eine elementare historische Erkenntnis, daß der „Anfangspunkt" einer Entwicklung nicht schon „das Größte" in der „Reihe" sein könne. Er hat Schleiermachers Ausdruck „Urbild" nicht ganz verstanden: durch ihn soll nicht sowohl dem Christen die zeitliche Priorität, als zeitlos die (Qualität des „Bildes" Christi im Bewußtsein erhalten werden (Christus sei höher zu bewerten als „bloß" ein „vor"bild, im relativen Sinn könne der Christ viele „vor" und „über" sich sehen, die alle ihrerseits letztlich an Christus zu „bemessen" seien). Strauß kennt keinen Ruhepunkt in der Geschichte, nur die Linie (Schleiermacher „auch" den Kreis!). Strauß lehrt, die Wahrheit sei, daß an Jesus sich die „Idee" von „Gott" sowohl als vom „Menschen" als einheitliche entzündet habe, wobei die Philosophie (Hegel) gezeigt habe, daß es sich nicht um ein einzelnes

Individuum als „Gottmenschen", einen „menschgewordenen" Gott handeln könne, sondern nur darum, daß „die Menschheit", als Gattung und Kraft der in ihrer Geschichte sich in Endlichkeiten vollziehenden Selbst­ verwirklichung „des Geistes" als „des Unendlichen", mit Gott „iden­ tisch" sei. was Strauß ausführt, entspricht Hegels Grundbegriffen, wird aber dessen Stimmung der Person Jesu gegenüber nicht gerecht. AIs

vetailforscher hatte Strauß ein konkretes Bild von Jesus gewonnen, das ihm nach Ablösung der „Mythen" in den Evangelien, die er auf-

3bentitätsiöcalismus und IHatcrialismus

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gedeckt, immerhin eine verehrungswürdige Persönlichkeit übrigließ, aber eben nichts anderes, als was der Rationalismus auch bejaht hatte (er sagt das selbst). Dabei kommt es wie ein Zufall heraus, daß Jesus die „Idee" ausgelöst hat, die die Philosophie von Gott und der Menschheit „braucht". Hegel selbst, als Philosoph „die Geschichte", wie Straufc, nicht bloß erphantasierend, an ihrer konkreten Art, ihren Wirk­ lichkeiten jedoch, anders als dieser, nur als Dialektiker interessiert, das „Einzelne" nie rein pragmatisch-kritisch, sondern überall sofort spekulativ-kombinatorisch bewertend, war Kraft der Intuition von „Personen" in der Geschichte, die vor anderen „Geistes"-Träger

seien, Jesu je länger je mehr wie in Andacht erschlossen, so daß er ihn als den Umschwung der Zeiten erschaute. Man hat in dem sieben­ undzwanzigjährigen Strauß zu seiner Zeit den Anfänger verkannt. Es ist wahrscheinlich, daß er anders sich entwickelt hätte, als der Fall ge­ wesen, wenn man ihm ruhiger begegnet wäre, ihm zumal sein theolo­ gisches Amt in Zürich gegönnt hätte. Seiner geistigen Struktur nach durchaus nicht Philosoph, sondern „Historiker" (dazu Ästhet), war er „Hegelianer" ohne volles Bewußtsein seiner „Wahl" (der „Alte und der neue Glaube", 1872, enthüllt das ja vollends). In seiner Verbitterung zum rabiaten Feinde, wenn nicht Lhristi, so doch des Christentums ge­ worden, bedeutet er, da seine Ablehnung lange keine wissenschaftliche Überwindung zur Seite hatte, nicht nur ein Ärgernis, sondern fast mehr noch einen Vorwurf für die Geschichte der Theologie. (Cr starb 1874.)

Jede der drei Schulen hat ebenbürtige Männer als Vertreter ge­ habt. Die unleidliche Verquickung der wissenschaftlichen und religiösen kirchlichen Strebungen mit politischen und sozialen hat die liberale Theologie mehr getroffen als die andern Schulformen. Gelitten unter ihr haben auch diejenigen, die durch sie „gefördert" wurden (ihr moralisches

Ansehen, ihr geistiger Erfolg wäre ohne sie größer und dauernder ge­ worden). Der theologische Liberalismus ist in mehr als einem tüchtigen Vertreter nur einfach niedergehalten. Die Katastrophe, nicht schlecht­ hin des „Idealismus", aber des „Identitätssystems", speziell des Hegelianismus und seiner Mystik, war der (begrifflich sehr wohl „motivierbare") Umschlag in Religionslosigkeit und theoretischen Materialismus (Ludw. Feuerbach, gest. 1872: der alte Strauß

meinte auch, daß metaphysisch dem Materialismus nichts entgegenstehe, es sei ästhetischer Geschmack, ob man mit dem Meister Hegel „idea­ listischer" Monist und das heiße Pantheist, oder mit dem Schüler Feuerbach „materialistischer" Monist und das heiße Atheist sei, in der Sache handele es sich nur um zwei Seiten der einen Intuition).

Der größte Harne in der „liberalen Theologie" ist Ferd. Christian Baur, das Haupt der sogenannten Tübinger Schule. (Er konnte in

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Liberale Theologie.

Tübinger Schule

Ruhe sich ganz als der Historiker, der er war, entfalten, was er über die Idee von der Geschichte als grohem zusammenhängenden Vernunft­ prozeh, der sich in allen Sphären, „also" auch der religiösen, kirchlichen, auswirkt in Setzung, Entgegensetzung, Überwindung („Aufhebung") der Gegensätze (Parteien, Formulierungen usw.) in einer Zusammenbiegung, die eine neue „höhere" Setzung bedeutet mit alsbald gleichem Schicksal, wie die vorangegangene — was Baur darüber hinaus von Hegel sich angeeignet, ist ziemlich gleichgültig. Seine G e s a m t Konstruktion der stets „fortschreitenden" vogmengeschichte (Kirchengeschichte) nach den drei

Phasen jeder grötzeren oder auch kleineren Periode ist nicht allgemeiner zu Einfluß gekommen; nur einzelne Theologen sind da seine „Schüler" gewesen. Über Baurs überraschende Deutung der Urgeschichte des Christentums gemäh dieser Schablone hat heilsame, große Erregung geschaffen und der Kritik des Neuen Testaments Neuboden gewährt. Kraft ihrer versank der alles „natürlich" erklärende, im Grunde apolo­ getische Eifer der Aufklärung, der ja im Kleinen mit verstand und Fleiß, besonders in literarischen Fragen, auch Frucht getragen hatte. (Daß der Pragmatismus doch auch geistvoller Auffassung der Kirchen­ geschichte zugänglich war, beweist C. A. Hase!) Der konsequenteste Hege­ lianer in der systematischen Theologie war A. E. Biedermann in Zürich (gest. 1885). Seine „Christliche Dogmatik" 1869 (2 1884/85) zeigt in der Sorgfalt biblischer und dogmenhistorischer Fundierung und in der inneren Friedhaftigkeit eigener Stellungnahme, wie „positiv" Hegels religions­ philosophische Grundidee - empfunden werden konnte. Für Biedermann „ist" Gott nicht „Person", aber das religiöse Verhältnis nennt er ein „persönliches", die „reale Wechselbeziehung zweier real unterschiedener, wenn auch nicht existentiell geschiedener Subjekte ideellen Seins". AIs „Philosoph" hätte Schleiermacher sich ebenso ausdrücken können. Nur daß er als „Theolog" einen Hintergrund seines religiösen Gefühles sah, der ihm gestattete, in der „Glaubenslehre" die konkreten religiösen „Vorstellungen" der „evangelischen Kirche", wenn auch vielfach zaghaft oder in Fehldeutung, als objektiv letzt gültig zu betrachten, was bei Schleiermacher sachgemäß herauskommt, die Fortleitung der historischen evangelisch-religiösen Begriffe wenigstens als berechtigter „Probleme" (die er ja freilich im einzelnen sich zurechtlegt von dem aus, was ihm sein individuelles frommes Bewußtsein ermöglicht, die aber von diesem aus doch für ihn dauernden Bestand hatten), eben das tritt bei Biedermann immer unter einen Zweifel. Man fragt bei ihm unwill­ kürlich immer wieder bei den Linzeldogmen, die er behandelt, ob ihm die Geschichte nicht zeigen sollte, daß sie doch keine „Probleme" mehr seien. Denn mit Hegel kennt er (anders als Schleie macher) zwei „Schichten" (nicht bloß zwei „Arten") der Vergegenwärtigung Gottes

konfessionelle Theologie.

Erlanger Schule

49

ober ber Erfassung bes „Absoluten" (bzw. be§ „Unendlichen"), bie

ber „Vorstellung" unb bie des „Begriffs", jene nur bis zu bestimmtem

Grabe von vorläufigem wert, bann „aufgehoben".

kennt

noch manches

Schleiermacher

„vielleicht", wo vor Biebermann bas

„Nicht­

weiter" sich auftut, weil ihm ber Begriff bie letzte „Seinsart" befinitiv enthüllt.

Manches im zweiten,

„positiven" Teile seiner Dogmatik

tritt wie Pietät heraus, was für Schleiermacher im „christlichen Glauben nach benGrunbsätzen ber evangelischen Kirche", als auch „seinem" Glauben,

wisienschaftliche Nötigung ist.

Ich meine, es sei um so mehr zu be­

achten, batz er boch wie Schleiermacher mit offenbarer innerer Nötigung bei ber Theologie blieb,

wer sich mit Biebermann ernstlich beschäftigt,

kann gar nicht umhin, ben hauch echter christlicher Frömmigkeit an

seiner Persönlichkeit zu spürens.

Vie konfessionelle Theologie hat als „Erlanger Schule"

ihr eigentümlichstes Gepräge gewonnen. Sie herrschte auch an ben Fakultäten in Leipzig unb Rostock (Dorpat). Ihre wissenschaftlich gröhten Vertreter waren v. h o f m a n n (gest. 1877), harleß (gest. 1879),v.3ezschwitz (gest. 1886), Th. harnack (1889). Daneben stanben, alle burchaus

auch namhaft, Höfling (gest. 1853),Thomasius (gest. 1875), F. Frank (gest. 1894, schon ber Schüler ber Älteren2),

was Rahnis (gest. 1888),

*) Ich verweise gern einmal auf eine Spezialschrift: Th. (vbenwald, A. C. Biedermann in ber neueren Theologie, 1924. - (Ein eigenartiger Denker, der wohl hier zu nennen ist, war Thr. herm. Weiße (Philosoph in Leipzig, gest. 1866), der (Fechner gleich) an der christlichen Religion warmpersönlich teilnehmend, neben einer ganzen Reihe kleinerer, so theologischer wie philosophischer Schriften (Monographien: „Idee der Gottheit", „Theodizee", „Unsterblichkeit des menschlichen Individuums", „Auferstehung", „Die evan­ gelische Geschichte, kritisch und philosophisch bearbeitet", „Reden über die Zukunft der evangelischen Kirche"), eine dreibändige „Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Thristentums", 1855 — 62, schrieb. Er „war" Hegelianer, arbeitete aber die Ideen des willens und vor allem des Gemüts in den „Idealismus" mit hinein. Er hat auffallenderweise beinahe keinen Einfluß geübt, verdient aber, nicht vergessen zu werden. (Auch Zechner, weiße's Kollege in Leipzig, (gest. 1887), der Begründer der „Psychophysik", dadurch einer neuen Methode der Psychologie, soll von uns Theologen wert gehalten werden: sein Gottes­ glaube stellt sich dar als ein Panentheismus, der doch zu sehr „psychophysisch" gedacht ist, als daß er den Pantheismus wirklich „metaphysisch" überböte. Aber Zechners Stimmung ist - evangelisch!) 9) Ich ordne, wie man sieht, nach dem Todes jähre. Auf das Verhältnis der einzelnen zueinander und ihren verschiedenen Anteil an der „Begründung" des neuen (vorab des bayrischen) Konfessionalismus, bzw. der Erlanger „Schule", gehe ich nicht ein; für alle war die „Erweckung" das vurchgangsstadium; T h o m a s i u s, geb. 1802, fand an Schleiermacher (mit Hegel zusammen) in Berlin, harleß, geb 1806, an Tholuck in Halle den „Erreger" seines „neuen Lebens", d. h. den Wegweiser zur Erfassung dessen, was die lutherische Kirche als Heilserfahrung des Christen „bekenne". Nattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie.

6. stuft

4

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Drei Hauptmerkmale der Erlanger Schule

Kl.v.Dettingen (gest 1905),garLuthardt (gest 1903) und der beim

Übertritt zum „Evangelium" bloß das „Gesetz" ins „Dogma" für sich transponierende Judenchrist F. K. Philippi (gest. 1882), als lutherische Theologie vertraten, hat neben der Leistung der Erlanger keinen wissen­ schaftlichen Belang, so praktisch einflußreich es geworden. Das Werk v. Dettingens über „Moralstatistik" (1868; 2 74; 8 82), war gewisser-

maßen dogmatisch immun. Unfraglich ist Hofmann im besonderen als ein selbständiger und tiefer Denker anzuerkennen; sein Name wird ein Leuchten behalten. Dreierlei meine ich, sei das Eharakteristische der Gesamtgruppe der Erlanger: 1. Ihr aufeinander abgestimmter Biblizismus und Ronfessionalismus. Sie lesen die Bibel (mindestens von bestimmtem Momente ihrer persönlichen Entwicklung an) als „Lutheraner" durch die Brille der „Bekenntnisse", aber doch so, daß ihnen in den Bekenntnissen das Luthermäßige und dementsprechend das wirklich „Biblische" darin er­ schlossen ist. Zweierlei insonderheit haben sie auf dieser Spur sich zu eigen gemacht: den genuinen Rechtfertigungs-(Gnaden-) Gedanken

der Reformation, d. i. des Apostels Paulus, und die ethische Geistes­ freiheit, die Sicherheit der Intuition des wahrhaft Sittlichen, die da­ mit unlöslich verknüpft ist. Man hat Grund, speziell Hofmann und Frank (daneben einen Mann wie har le ß) als echt lutherische Ethik er

zu rühmen. Als solche begegnen sie sich mit Schleiermacher in der ruhigen Erschloflenheit für das kulturelle Leben, freilich ohne die Größe und Schranke Schleiermachers auf diesem Gebiete mit Bewußt­ sein zu erfassen. Die Drganisationsideen stehen bei ihnen deutlich zurück. Die Personalethik und ihre Maßstäbe für das natürliche, „bürgerliche" Leben - dieses doch gemeint als erfüllt von geistigen Interessen - ist für sie der Rahmen. 2. Sie sind vielleicht die vollsten Erben Schleiermachers in der Methode. Das gilt sowohl in der Richtung, daß sie wie dieser auf einheitliche Verarbeitung des Ganzen ihrer Einsichten hinausgehen, auf ein „System", als in der, daß sie wie er die religiöse Selbstbeobachtung zum Ausgangspunkt der Sacherfaflung machen. Hofmann betrachtet es als selbstverständlich, daß „ich der Christ mir dem Theologen" in der Glaubenslehre der „eigenste Stoff" bin, und Franks dreigliederiges „System" (der christlichen „Gewißheit", „Wahrheit", „Sittlichkeit", jedes etwas schablonenhaft zu zwei Bänden) gründet sich auf der gleichen

Idee. Ihr Schlagwort ist nicht sowohl unbestimmt das „fromme Ge­ fühl" (oder „Bewußtsein"), als vielmehr die „Wiedergeburtserfahrung"; die Drientierung an ihrer Gewordenheit, an dem, was sie dauernd „erleben", ist sonach terminologisch sehr anders gemeint als bei Schleier­ macher, wird jedoch (besonders von Frank) in der Hinausführung auf

Verhältnis der Erlanger zu Schleiermacher in der systematischen Methodik

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ihre „Voraussetzungen" nicht minder „metaphysisch" zugespitzt. (Es stammt an sich von Schleiermacher, wenn die Erlanger sich selbst als „Christen" alsbald vergegenwärtigen als Glied ihrer „Kirche". 3m Titel seiner Glaubenslehre hat Schleiermacher ja schon ausgesprochen, daß er für seine theologische Selbstdeutung, die zugleich Selbst­ kontrolle auf seinen „wirklichen" Charakter als ein Christ sein will — das ist bei ihm, wie bei den Erlangern selbstverständlich, wenn es auch nicht eigens ausgesprochen ist -, nicht anders zu Werke gehe. Er erfaßte sich dabei nur nicht sokonkret hi st arisch evangelisch wie Hofmann und Frank, die als Christen sich spezifisch lutherisch „bestimmt" fühlen und denken. (Man hat gelegentlich gemeint, daß ihm doch seine konkrethistorische Art als evangelisch-reformierter Christ in dem Werke abzumerken sei, das beruhe auf sich.) Hofmann hat die Besonderheit, richtiger gesagt den Vorzug, als „Lutheraner" vor allem schärfer die Berechtigung dieser seiner konfessionellen Ge­

gebenheit an der Bibel zu kontrollieren. Frank ist neben ihm seinem Forschungsinteresse nach Zymboliker und ist a limine Apologet der „lutherischen Symbole"; sein Werk über die „Theologie der Konkordienformel" (4 Bände!) imponiert durch seine Gelehrsamkeit, ist aber wunder­ sam advokatisch. Der Wille zum „System" bei ihm (dem auch ohne

Frage gute Kraft zur Seite steht; Hofmann hatte ihn ebenso in voller Bewußtheit und nicht minderer Fähigkeit), ist ein feines Stück des Schleiermacherschen Vermächtnisses. Seit diesem Künstlertheologen, diesem virtuosen der Einfühlung und Sneinsschau, ist der evangelischen deutschen Theologie das Bedürfnis an Überwindung des Charakters der Dogmatik als Sammlung bloßer loci eingestiftet. Die Theologie vor Schleiermacher kannte nur erst Linzelthemata, die sie „ordnete" nebeneinander und untereinander; sie schuf bestenfalls einen Turm von Glaubenslehren, Stockwerken mit eschatologischer Spitze. Sie suchte auch zu „begreifen", aber entweder in philosophischer (scholastischer) „Erläuterung", oder in irgendeiner Motivierung der „Reihenfolge". Schleiermacher lehrte den Blick auf ein „Ganzes", einen (Organismus von Gedanken einzustellen und den Linheitssinn des „vielen" zu suchen. Die (Orthodoxie hatte nur eine Summe von (Orakeln in der Bibel vor sich, die Aufklärung eine „Reihe" von schlichten, „einleuchtenden" Vernunftsätzen, Schleiermacher den Totaleindruck des „Universums" als einer ewigen „Harmonie" in „Gott". Durch ihn gewann die Theologie im systematischen Sinn den Charakter der „christlichen Weltanschauung", innerlich zusammen­ hängender Dogmatik und Ethik („Glaubens"- und ,,Sitten"lehre), im einzelnen innerlich erforderter, einer um des andern willen notwendiger Sätze. Daran haben die „Erlanger" ihr Teil. Ls soll hier nicht untersucht werden, ob oder wieweit „der Christ" Aussicht 4*

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Hofmanns Lehre vom Schriftganzen

hat, von seinem „frommen Bewußtsein", seiner wirklichen ober nur ver­ meinten „Erfahrung" her wirklich ein „System" theologischer Erkenntnis zu gewinnen, vielleicht ist er empirisch gerade religiös sittlich nicht „geschlossen", in seinem „Leben" mit Gott gar nicht einheitlich orientiert,

also der Gefahr ausgesetzt, von sich aus sich ein „System" von Dogmatik und Ethik bloß zusammenzuphantasieren. Hofmann denkt an das „Schriftganze" als Bürge für die erfahrene Wiedergeburt des Ehriften und diese als ihrerseits praktisch das Lin und Alles, um das es gehe. Es ist seine folgenreichste, fruchtbarste Idee, wie er „die Schrift" unter eine neue Fassung des Gedankens der „Offenbarung" stellt, die Theorie von

der Inspiration der Bibel vertieft - auf einem Begriff der „Weis­ sagung" erbaut, der von der orthodoxen Deutung derselben als bloß äußerlicher „vorhersagung" und der rationalistischen als persönlich-zu­ fälliger „Vorherahnung" gleich sehr sich entfernt, - und dadurch der Bibel als von Gott gehütetem Ganzen von literarischen Dokumenten seiner „Taten", deren heil schaffenden, sein Ziel der ganzen Menschheits­ geschichte sichernden Bedeutung, ihren absoluten Sondercharakter wahrt. Hofmann schuf damit in methodischer Weise Mittel zur Korrektur von Einbildungen des Christen über sich. L§ ist auch zu sagen, daß Hofmann da als ein Lutheraner im Geiste Luthers er­ scheint, nur daß er die volle Tragweite seiner „Methode" nicht erkannte,

sie nicht mit der Methode Schleiermachers klar auseinanderwirrte; Frank vermochte es erst recht nicht. 3. Daß in der Kirchlichkeit der Erlanger sich viel ungeprüfter orthodoxer Traditionalismus, im letzten Grunde der Geist Melanchthons in seinem Unterschiede von demjenigen Luthers erneuerte, erkennt man an ihrer Haltung gegenüber dem altkirchlichen Dogma und, wie mich dünkt, der gegenüber der Philosophie oder Spekulation, von letzterer aus ist man in gewissem Maße auch zu Goldadern ge­ führt worden. Es war Thomasius, der — seinerseits doch wohl eingetreten in Kliefoths, des bedeutendsten Mecklenburger Theologen der Zeit (vomprediger in Schwerin, gest. 1895), Auffassung, sie voll aus­

führend und zu einer Art „Sieg" bringend - vom hegelschen Geschichts­ begriff her die Dogmengeschichte als „Selbstexplikation" zwar nicht „der Idee", aber des „kirchlichen Bewußtseins" deutete und von daher der lutherischen Orthodoxie den Schimmer und Schein schuf, der gewähr­ leistete Höhepunkt aller christlichen Lehrentwicklung zu sein. Das ist, auf die Sache geblickt, katholische Stimmung der „Kirche" gegenüber

und hat doch insofern wissenschaftlichen Belang, als damit die vogmengeschichte der geistlos pragmatischen Auffassung der in ihr ent­ standenen „Lehren" entrückt wurde. Wer die hegelsche Geschichtsphilosophie würdigen kann, wird ihre Bedeutung für das Cmporsteigen des frucht-

Idee der Heilsgeschichte.

Einfluß von Hegel und Schelling

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baren Begriffs der „Entwicklung" nicht verkennen. Will man die von Thomasius in Gesamtdarstellung vertretene Idee (sie „gehört" als

These zweifellos zuerst Kliefoth: „Einleitung in die Dogmen­ geschichte", 1839) wie eine „Hypothese" behandeln, so darf sie sehr „anregend" heißen. In bezug auf bk (Offenbarung, bzw. die Bibel,

erfaßte Hofmann den wesentlich anderen Gedanken von einer spezifischen „Heilsgeschichte", die innerhalb der allgemeinen Geschichte einen Zu­ sammenhang göttlichen wirkens bedeute und in Personen und Stiftungen offenbar mache, wo und wie Gott sein Reich unter den Menschen baue. (Es ist die Idee Schellings von der Geschichte als einer Art von Dichtung Gottes zur Enthüllung seiner selbst in einem Ablauf von sich steigernden Schöpfungen, die Hofmann auf den Inhalt und Charakter der Bibel anwendet. In „Weissagung" und „Erfüllung", gewissermaßen immer weiter sich ausdehnenden, sich überhöhenden kon­ zentrischen Kreisen mit immer deutlicher, verständlicher werdendem, immer größeren Reichtum, gewaltigere Schöpferkraft verratendem Einheits­ gehalt verlaufe die (Offenbarung Gottes so, daß das Alte Testament Israel, seine führenden Männer, sein Gesetz, seine Theokratie im Schatten­ bild voraus darstelle, ahnen lasse, was Jesus, das Evangelium, die Urgemeinde, die „Kirche Christi" zur Wahrheit mache, so doch, daß im Neuen Testamente und in dem, was der Kirche „eingestiftet" worden, alles wieder von neuem ein „Gleichnis", eine Vorausandeutung nur des eigentlichen „Endes", der kommenden, letzten Wirklichkeit sei. Dabei mag auf sich beruhen, daß Hofmann die Natur in phantastischen Ideen mit einbezog in das, was ihm doch Leben des Geistes be­ deutete. (Es gelang ihm als erstem, — nur die altreformierten Föderal­ theologen, Coccejus und seine Schule, waren in gewissem Maße ihm vorangegangen; (der Professor der reformierten Theologie in Erlangen [1824—45] Joh. Chr. Krafft war der Mittelsmann für Hofmann)-

den Gedanken von der (Offenbarung so als Cxeget durch den ganzen Bibelstoff durchzuführen, daß er dessen konkrete Art als Geschichts­ bericht für das Problem mit in Betracht nahm. Dieses heranziehen war bleibender Gewinn für die Theologie*). *) von den Bedeutung des reformierten Krafft für bas Erblühen der sog. Erlanger Theologie ist viel, vielleicht zuviel, die Rede. AIs „Theologe" — in der Wissenschaft - ist Krafft höchstens im ersten Gedanken a n st o ß für Hofmann von Belang gewesen; seine eigentliche Bedeutung war, daß er in eindrücklicher weise Pietist war und die Gemüter der jungen Theologen in Erlangen „er­ weckte". Für die sich dann entwickelnde lutherisch-theologische „Schule" ist ein ganz anderer Mann der Ideen„mittler" gewesen, er so, daß er gerade auch dem lutherischen Konfessionalismus die Bahn brach, das war der Pfarrer und Lehrer der Religion am Gymnasium in Ansbach, TheodorLehmus )gest. 1837). Dafür sehe man G. Thomasius' Werk „Das Wiedererwachen des

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Die Vermittlungstheologie

Vie dritte „Schule" in der Zeit, die ich schildere, die der „Ver­ mittlungstheologen" (will man einen Ortsnamen für sie haben, so mag man sie neben der Tübinger und Erlanger am ehesten die „Hallesche Schule" nennen dürfen), blühte mehr oder weniger an allen theologischen Fakultäten Altpreußens, oder der unierten „preußischen Landeskirche". Konkurrenz hatte sie hier nur an Strömungen rein „biblizistischer" Art, wie sie etwa in Berlin von dem gelehrten, aber

eigentlich nur vom altorthodoxen Inspirationsbegriff erfüllten und theo­ logisch bestimmten Hengstenberg (gest. 1869)1) vertreten war. Sie wurzelte (wie auch Hengstenberg) in ihren maßgebenden Führern L. Z. evang. Lebens in d. luth. Kirche Bayerns", 1867. Aber Thomasius hat nicht beachtet, vielleicht für irrelevant erachtet (was es doch nicht ist!), daß Lehmus in Schelling (dessen „Methode des akad. Studiums" Zuerst 1803, dann 1813 u. 1831 in unveränderten Auflagen, ein Beweis für ihren Einfluß auf die Geister!J) wurzelte. Das hat Karl Müller (in der S. 45, Anm., genannten Schrift) erst gezeigt (§.32 ff.). — In der, wie soll man sagen: Unbefangenheit oder Unvorsichtigkeit? - mit der alle „Erlanger" sich der philosophischen Spekulation wie einer willkommenen Ergänzung, „Ausgestaltung", ihrer religiösen „biblischen" Gedanken hingeben (jeder etwas anders), entfernen sie sich von Schleiermacher. (Sie bewähren dabei, in der Umbildung der Schellingschen bzw. zum Teil auch Baaderschen Konzeptionen, Eigengeist; „Schüler" für seine Spezialitäten naturphilosophischer Art hat Hofmann doch kaum gefunden.) — Lehmus (Thomasius' Schwiegervater und von ihm theologisch sehr gewertet, philosophisch, ohne klares Bewußtsein darum, zum Teil als Lehrer m i t ausgenommen), muß ein eigentümlich bedeutender Mann gewesen sein, recht ein Typus der geistig erregten, von den „idealistischen" Systemen in einer Fülle von „Problemen" hin- und hergetriebenen Zeit. Er bleibt Schellingianer, geht aber auch auf Hegel ein; Daub (dessen „Zudar Ischariot") ergreift ihn; auch G. h.von Schubert, der (Erlanger, später) Münchener (von Baader abhängige) „christliche" Uaturphilosoph (gest. 1860), sowie L. G. v on Raumer (in Erlangen, gest. 1865, sein Geistesverwandter) wirken auf ihn. Wie es scheint auch h. Steffens (gest. 1845). (Nur Schleiermacher scheint kaum in seinen Gesichtskreis eingetreten zu sein.) Auch Biblizist wurde Lehmus auf Schellings Spur (ob Hofmann als solcher von ihm beeinflußt gewesen?). Cr verdient wohl sicher, mal monographisch behandelt zu werden. - Um es nicht ungesagt zu lassen: auch Höfling führt auf Schelling zurück. *) Diese ältere biblizistische Richtung übergehe ich hier. Denn sie hat systematisch so gut wie nichts geschaffen, ihr Charakter ist abstrakter Supra­ naturalismus in unbestimmter, geschmacksmäßig - eklektischer Anlehnung an das orthodoxe „Dogma". Hengstenbergs „Christologie des Alten Testaments" (3 Bde) repristinierte rundum die altkirchliche Vorstellung von der Prophetie und ihrer Erfüllung (Hofmann stigmatisierte die Idee von ersterer bei ihm als die der Mantik oder „Wahrsagung"). Wie der einflußreiche Mann kirchenpolitisch gewirkt hat, gehört nicht hierher. Er, der geborene Reformierte, wollte als Lutheraner (im „bekenntnismäßigen Sinne") gelten (freilich „in der Union"). Der geistig Bedeutendste unter seinen Anhängern war Adolf Wuttke (gest. 1870, in Halle), der als Religionshistoriker und auch Lthiker immerhin von Be­ lang war.

Eintreten für die Union.

Schätzung Melanchthonr

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Nitzsch (gest. 1868), A.THoluck (gest 1877), JuLIKüIler (gest. 1878), M.A.Landerer (gest. 1878), 3-A.Dorner (gest. 1884), teils unmittelbar, teils auf Grund der allgemeinen von da ausgegangenen Rnregungen, in der „Erweckung". Aber sie wollte den Pietismus, dessen Ruhmverkünder sie wurde und blieb, sowie den Biblizismus verbinden mit der „Wissen­ schaft", was ihr in erster Linie bedeutete, daß es gelte sowohl mit der historischen Kritik der Bibel, als mit Schleiermacher und der „Spe­ kulation" Fühlung zu behalten. 3n letzterer Beziehung war sie über­ wiegend apologetisch eingestellt. Das verrat — den (Erlangern und deren spezifischer pierophorie gegenüber — eine gewisse unsichere Stimmung: sie empfand die Philosophie „auch" als gefährlich, glauben­ zermürbend. Ihr Leitwort war die „rechte Vermittlung", und sie betrachtete sich als die dem Frieden in den Kämpfen der Seit dienende Gruppe. Sie sah in der Förderung der Union (wie Schleiermacher) eine Pflicht gegen das Evangelium,- 3ul. Müller konnte vom „göttlichen Recht" der (preußischen) Union reden (wobei freilich zu be­ achten ist, wie energisch er den „Consensus" der beiden evangelischen deutschen Kirchen ausdrücklich im „Bekenntnis" hervorhob!). Die Gruppe traute sich volles Verständnis zu für das, was die „Konfessionellen" zu Recht verträten, das geschichtlich Gewordene am Protestantismus, und was die „Liberalen" zu Recht verföchten, die innere Freiheit allen bloßen Formeln gegenüber, sowie die Pflicht der rationalen Prüfung und einer dem Geiste der Neuzeit entsprechenden Fortbildung des Über­ lieferten. Wissenschaftliche Bedeutung haben unter ihren Leistungen in erster Linie 3ul. Müllers „Christi. Lehre von der Sünde" (1844, 61867) und Dorners „Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi" (1845 ff.); letztere trotz ihrer Schabionisierung nach dem Hegeischen Geschichts­ schema! Man darf die Vermittlungstheologen die modernen Philippisten nennen. Melanchthon, der „milde" Gelehrte, der Luther und Swingli zu „verstehen" vermocht, dem der Gedanke, daß der eine Geist mancherlei Gaben spende, vorangeleuchtet habe, war unverkennbar ihr „Liebling" unter den Reformatoren. Das Wort vom „Sohne des Waffenschmieds", der das Erz, das der „Bergmannssohn" gefördert, erst zum „Schwerte" rechter Art geschliffen habe, stammt als geflügeltes aus ihrem Kreise (Nitzsch). Daß doch unter ihnen der Bahnbrecher neuerer Lutherforschung 3- Köftlin (gest. 1902) erstand, darf der Historiker buchen als Zeichen ihres Willens, sich nicht etwa zu verblenden. Freilich, ein lebendiges Verständnis für Luthers Daimonion brachte der gewissenhafte Gelehrte nicht auf! Der Name „Vermittlungstheologie" stammt aus dem Programm der „Theologischen Studien und Kritiken", das einer (nicht gerade der bedeutendsten Vertreter, aber) der Erstlinge der Gruppe, F. Lücke (in Göttingen, gest. 1855), verfaßte (1827). Die angesehene Zeitschrift blieb

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Verhältnis zu Schleiermacher

das Grgan der „Schule", solange diese Bestand hatte, vielfach war die Vermittlung, wie sie geübt wurde, bloß eine Abstumpfung der Ideen, bzw. eine Art von „(Ermäßigung" der Arbeitsergebnisse der Schulen „rechts" und „links". Doch ist zu betonen, daß wider den (hegelschen, Straußschen) Pantheismus unerbittlich Kampf geführt wurde (I. Müller, Nean der). Mit den lutherischen Konfessionellen weithin in bezug auf die konkreten Überlieferungen der Orthodoxie religiös einig, — man haderte „unversöhnlich" eigentlich nur über das Abendmahl und etwa überhaupt die Sakramentsidee —, brachen die Theologen der „Mittelpartei" besonders bei den altkirchlichen Dogmen, wie sie

überzeugt waren von der Bibel aus, die Spitzen ab und suchten dann, um der „Wissenschaft" zu genügen, vorstellbar oder denkbar zu machen, was ihnen „biblisch" dünkte. 3n der Spekulation über das trini­ tarische oder christologische Dogma berührten ihre Theorien sich mannigfach mit Ideen der Konfessionellen. Die Kenosis schien beiden Gruppen meist „die" Lösung des christologischen „Problems" (Thomasius, Frank; L i e b n e r sgest. l 871 s, G e tz [gest 1891]). Dörner „streitet" kaum um was

anderes, als um s i e, fast hilflos wider sie. was die Einzelnen sonst etwa „philosophisch" vertraten, trug ein Gepräge von Zufälligkeit je nach dem subjektiven Geschmack des „Forschers". Am ehesten gilt ein höheres von Dörner und Iul. Müller, sie waren echte, wirkliche Gelehrte, sinnende,

ernste Denker, und doch letztlich Eklektiker. Die Methode der Ver­ mittlungstheologen in der Glaubenslehre ging bei Schleiermacher zu Lehen. Nach ihrer Überzeugung waren sie dessen wahre Erben. In der Tat haben sie ihn „geliebt", wie außer ihm nur Melanchthon, daß gerade sie ihn begriffen, ja auch nur, daß sie ihn ernstlich studiert hätten, kann man schwerlich zugeben. 3n einem Punkte überboten sie Schleiermacher: in der Art, wie sie die Person Thristi sich religiös verdeutlichten. Schleiermacher schuf sich, soweit er mehr als eine Formel erstrebte, ein anschauliches „Bild" zu bieten auch als Aufgabe an­ erkannte, eine romantische Phantasiegestalt (sein posthum ediertes „Leben Jesu" ist des Zeuge), die den Liberalen (in hegelscher Terminologie) zum sog. „idealen Thristus" wurde. Die Konfessionellen sahen letztlich nur den dogmatischen Thristus. Die Vermittlungstheologen nahmen es ernst mit dem geschichtlichen Thristus nach den „(Quellen". Daß ihr ehr­ licher Wille, diesen zu erfassen und religiös zu würdigen, im Resultat sehr unzulänglich blieb, verringert die Bedeutung ihrer „Absicht" nicht, hier haben sie der Zukunft vorgearbeitet. (Typisch sind das „Leben Jesu" von Beyschlag sgest. 1900] und Bernh. weiß sgest. 1917]). Schwer ganz richtig zu bestimmen ist die wissenschaftliche Art des Mannes, den Schleiermacher in relativ jungen Jahren (seiner allerersten

Twesten,

Berliner Zeit,

flieg. Schweizer.

Rothe.

Gaß

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1810/11) zum Schüler, später Freund gewann und der

sein Nachfolger aus dem Berliner Lehrstuhl wurde, fl. Twesten (gest. 1876). (Er vereinigt die verschiedenen wissenschaftlichen Elemente,

die man bei Schleiermacher trifft, auch seinerseits. Aber er war nicht so wie dieser „Romantiker" in den letzten Intuitionen, neigte stärker

zum bewutzt konfessionellen Rirchentum, war freilich durchaus Mann der Union, auch „vermittlungstheolog", brach aber sein großan-

gelegtes Werk „Vorlesungen über die Dogmatik der evang.-luth. Rirche" in II, 1 (1837) mit der „Gotteslehre" ab und enthielt sich fortan der literarischen Mitbeteiligung an der wissenschaftlichen Theo­

logie. — Der wirklich treueste Schüler Schleiermachers in der Methode und in der Formulierung der „Glaubenslehren" war Alexander Schweizer in Zürich (gest. 1888). (Er machte vor anderen Ernst damit, das kirchlich-religiöse „Bewutztsein" der „Gegenwart" zu er­

fassen; den kirchlichen Parteien in Deutschland entrückt, wie Schleier­ macher überzeugt, daß lutherische und reformierte Frömmigkeit nur spielartlichen Unterschied bedeuteten, und sich „ergänzten", war er doch besonders bemüht, dem reformierten Typus zu besserer Wür­ digung zu verhelfen, von ihm stammt das scharfe Wort, daß „einst die Väter ihren Glauben bekannt" hätten, jetzt vielfach die Theo­ logen die Bekenntnisse jener zu „glauben" sich „abmühten"; es gelte, der gegenwärtigen evangelischen Christenheit den ihrer Entwicklungs­ stufe entsprechenden „wirklich glaubbaren Glauben" aufzuzeigen. -

Sicher die wissenschaftlich bedeutendste Gestalt unter den Vermittlungs­ theologen ist Richard Rothe (in Heidelberg, gest. 1867) gewesen. In der Dogmatik (die nach seinen „heften" herauszugeben, Unberufene ihm einen schlechten Dienst erwiesen) folgt er methodisch durchaus Schleiermachers Spur, aber in feinem eigenen System, dem großen Werke „Theologische Ethik" zeigt er unfraglich, zumal in der Weise wie er Fichte, Hegel, Schelling zugleich verwertet, höhere Selbständig­ keit und größere Gestaltungskraft, als irgendeiner der systematischen Theologen seiner Zeit. Man darf ihn nicht nur nach seiner (zum Teil — hinsichtlich des Teufels - geradezu in Phantastereien führenden) Spekulation über die „Materie" beurteilen; der große Reichtum feinster ethischer Linzelreflexionen sichert ihm dauerndes wissenschaftliches An­ sehen. (Seine Idee vom wesen des Ethischen bleibt diejenige Schleier­ machers, zum mindesten in der Grundformel!). Und er hat zugleich

proben gegeben, daß er ungewöhnliche Gaben als Historiker in sich trug. — Als ein solcher („Geschichte der protestantischen Dogmatik",

4 Bände, „Geschichte der Ethik", 2 Bände, „Symbolik der griechischen Rirche") wird auch sein Nachfolger in Heidelberg, der zuvor in Gießen wirksame w. Gaß (gest. 1889), in Ehren bleiben. Gaß ist nur im weiteren

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Albrecht Ritschl.

Standort zur Beurteilung

Sinne als „Vermittlungstheologe" anzusprechen, er „wollte" einfach zu Schleiermacher haltens. C. Ich habe in den ersten Auflagen dieser Schrift gemeint, daß die ganze Seit der geschilderten drei „Schulen" nach Schleiermacher, wie dessen Theologie noch unter die Überschrift „Romantik" gestellt werden

müsse. Will oder darf man es als das Wesensmerkmal dieser halb künst­ lerischen, halb wissenschaftlichen Bewegung hinstellen, daß die Problematik des Innenlebens der Personen, als Individuen und Gemein­ schaften, ersaht wurde, so hat es ein Maß von Berechtigung, diese Gesamt­ bezeichnung festzuhalten. Auf der anderen Seite ist nicht zu verkennen, daß der Rationalismus zum Teil nur eine Verkleidung erlebt hatte. Das „Konstruieren" gerade auch der „Probleme" des Innenlebens, gar des Auhenlebens (der Geschichte), setzte sich noch überall fort. Der „Wille", das Leben zu belauschen, war stärker als die Kraft dazu. Die theologischen Probleme wurden noch allzu rasch in philosophische, metaphysische umgesetzt. Schleiermacher und die Erlanger sind gegen die Philosophie, jener neben, letztere schon in der Theologie, falsch „nachgiebig", zu sehr und darum unvorsichtig geneigt, persönlich auch an ihr sich zu „beteiligen". Bei der Betonung ihrer religiösen „Ge­ wißheit" handelt es sich gewissermaßen um einen „Punkt" in ihrer Seele, der von der Philosophie geschont werden müsse, „dann" könne man sich „auch ihr" erschließen. (Ein stat pro ratione voluntas deckt ihre Theologie in ihrem Prinzip. Und das hat die ratio in ihnen „herausgefordert", sich in der Peripherie zu tummeln. Man mutz

sich das vorhalten, um den richtigen Standort zur Beurteilung des Mannes zu finden, der zunächst einen neuen Abschnitt gemacht hat, und zu dem ich mich nun wende. Albrecht Ritschl (geb. 1822 in Berlin, gest. 1889 in Göttingen) hat der Theologie in erster Linie dadurch ein anderes Gepräge gegeben, als sie bis dahin auf Bahnen gewonnen, die doch Schleiermacher am stärksten bestimmt hatte, daß er dasjenige von Kant höher zu bewerten und richtiger zu verwerten vermochte, was Schleiermacher nicht voll begriffen hatte und darum nicht in voller Weise fruchtbar zu machen imstande gewesen war, die Abgrenzung der „reinen Vernunft". (Es ist, wie ich oben ja andeutete, der Konflikt, den Schleiermacher in sich *) vielleicht mehr als er verdient, ist vergessen K. Th. A. Lieb ner, der wie Twesten seine begonnene , Christ!. Dogmatik aus dem christolog. Prinzip dar­ gestellt" 1, 1849, man erkennt nicht weshalb, nicht zu Ende geführt hat. - In Deutschland sehr zu Ehren gekommen ist der (aus Flensburg gebürtige) dänische Bischof H. L. Martensen (gest. 1884). Wie A.Schweizer außerhalb der „nur" deutschen, durch die Union herausbeschworenen Streitigkeiten stehend, war er von der Art unserer „Vermittlungstheologen" (besonders bestimmt durch Schelling und zumal Jak. Böhme).

Ritschl im Verhältnis zu Kant und Schleiermacher

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selbst getragen und nicht überwunden hat, daß ihm Kant zwar rein religiös, nicht aber in gleichem Maße wissenschaftlich, „philosophisch" zum Befreier vom „alten Wesen", d. h. von der Orthodoxie (in seiner Zeit dem „Supranaturalismus") und dem Rationalismus (dem „Denken" als der höchsten, alles meisternden Geisteskraft) wurde. (Er ließ sich durch Kant überzeugen, daß das Denken keine Überwelt als Wirklichkeit aufzuweisen vermöge, ohne doch eine solche leugnen zu müssen, oder etwa ein geheimes Bedürfnis zu haben, sie zu leugnen. (Es ist seine wissenschaftliche Großtat, daß er es daraufhin wagte, vom „Gefühl" oder vom „Sinn" („unmittelbaren Bewußtsein", inneren „Anschauen") aus, die Wirklichkeit einer Überwelt Gottes, zu behaupten und in allseitiger, so umsichtiger wie eindringender Überlegung daran zu gehen, sie in» haltlich als solche sich klarzumachen. Über dann war es sein Ver­ hängnis als Romantiker, keinen tieferen praktischen Maßstab des Deu­ tens zu finden, als den ästhetischen. Sein durchaus berechtigtes Be­ dürfnis, von Gott, um an ihn als eine Wirklichkeit sui generis zu „glauben", mehr als bloß einen Begriff, Kantisch geredet: auch eine „Anschauung" zu besitzen (es ist schlechtweg ein Beweis von Klarheit

über den Anspruch, den er in der „Religion" erheben muffe, um sich ihr geistig als letzter Führerin anvertrauen zu dürfen, daß er immer das „Gefühl" einer Art inneren Schauens gleichsetzt!), sein Bedürfnis, sage ich, sich auch irgendwie an einem Bilde von Gott zu orientieren, ließ den Romantiker am „Universum" sich genügen, hier liegt die ele­

mentare, psychische Schranke Schleiermachers. Rur wer sie erkennt, kann seine Größe gerade innerhalb seiner Schranke würdigen. Schleiermachers Kraft ist durchaus die des „verstehens", d. h. eines Herrwerdens über die Eindrücke oder geistigen „Erfahrungen", die Innen er leb nisse, das sehr viel weitergreift als das bloße „Erklären". Das verstehen (Be­ greifen) umschließt mehr als das „herleiten" (Ableiten aus „Ursachen"), nämlich zugleich — und zwar gegebenenfalls ohne alle Möglichkeit der Erklärens — die Fähigkeit, sich auf das Erfaßte innerlich einzustellen, es seinem werte nach zu „bemessen", je nach den Umständen sich ihm anzugleichen. Schleiermacher meinte im Universum, in Gott (wie die Monologen zeigen) sich selbst „erfassen" zu sollen und zu können. Aber freilich er sah sich selbst, jedes „Individuum", nur in der ästhe­ tischen Idee des Mikrokosmos, als ein „Abbild", mehr als das, eine der Selb st Verwirklichungen des Makrokosmos, der als Universum darin „Gott" offenbart, daß er lauter „Seinesgleichen" in kreatür­ licher Form hervorbringt. Die Grenzlinie zum Pantheismus ist hier eine so scharfe, feine, daß Schleiermacher immer der Versuchung durch ihn ausgesetzt war. Auch der zur metaphysischen („dialektischen")

Spekulation.

Es ist ja unverkennbar, daß die christliche Idee von

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Ritschls Betonung des Sittlichen

der „Gottebenbildlichkeit" des Menschen in Schleiermachers Deutung des am Universum (in der „Religion") sich dem Menschen erschließenden

Verständnisses seines eigenen „Wesens" mitwirkt! Über als Romantiker bleibt er im Phantasieeindruck hängen. Cr klärt diesen in jeder Weise in sich selbst. Nur zu überbieten vermag er ihn nicht von demjenigen Gedanken der Überwelt aus, den das „Sittliche" ermöglicht. Kant

hatte für den Gedanken von diesem Verständnis, wenn auch nur für sein Formalmerkmal, das der „intelligiblen Freiheit". So konnte er innerhalb der „Vernunft" die Tragweite der Linzelfunktionen, die

Grenzen der ihnen erschlossenen Gebiete in voller Schärfe erfassen. Albrecht Ritschl hat sich von Schleiermacher bzw. Hegel weg zu Kants Scheidung der Sphären der „Vernunft" oder des „Geistes" (der sich dabei seiner Einheitlichkeit in der wechselseitigen Unter­ stützung der Sphären bewußt ist) zurückgefunden, weil er nicht mehr Romantiker, nicht mehr Ästhetiker, sondern Ethik er war. So gelang es ihm, der Theologie, als der Wissenschaft von der Religion, ihre Cigensphäre wirksamer zu sichern als Schleiermacher. Ritschls Betonung des Sittlichen tritt in all seinen Erwägungen so deutlich und scharf zutage, daß zunächst in der Generation von Theo­ logen, zu der er mit gehörte, derjenigen der Spätlinge der drei bespro­ chenen Schulen, der Eindruck entstehen konnte, er gebe Schleiermachers Errungenschaft in Hinsicht des Wesens der Religion als einer selb­ ständigen Funktion, einer „Provinz für sich" im Geistesleben des Men­ schen. wieder preis, mache die Religion zu einem Annex der Moral, etwa wie Kant zu einer Summe von „Postulaten" der praktischen Ver­ nunft. In Wirklichkeit hat er gerade in bezug auf die Religion Kant überboten, sich durchaus mit Bewußtsein freigemacht von derjenigen Schranke, in der Kant allein eine Aufgabe für die Theologie als Son­ derwissenschaft anerkennen zu können meinte. Cr ist mit Schleiermacher durchaus einig in dem Grundgedanken von einem Eigengebiet der Re­ ligion. Aber er kommt aus anderem Wege zu diesem Resultate wie Schleiermacher. Cr hat das nicht selbst so deutlich hervorgekehrt, wie es sachgemäß für ihn gewesen wäre, um richtig begriffen zu werden. Cs ist nicht ganz ohne eigene Schuld gewesen, wenn Ritschl es so schwer hatte, nicht nur sich durchzusetzen, nein, auch bloß verstanden zu werden, vielleicht auch war es sein Verhängnis, daß er in Form einer Mono­ graphie über ein dogmatisches Spezialthema, die „Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (3 Bde, 1870—74) dasjenige „Ganze", das er als ein „Neues" darzubieten hatte, vorführte. Schleiermacher hat als Schriftsteller größeres Geschick bewährt als Ritschl. Auch er hatte ja mit vielen Mißverständnissen unter seinen Zeitgenossen zu kämpfen. Dennoch war sein „Neues" in den Grundmomenten darum

Methodenwechsel leichter als Fortschritt der Sache zu erkennen gewesen, weil er, ich es so nenne: das Rahmenthema der Theologie, den danken überhaupt von der Religion, aufgriff und mit ihm unter Fachgenoffen hervortrat. Ja er war, soweit ich sehe, überhaupt erste, der „die Religion" als solche als ein Problem hinstellte,

61 daß Ge­ den der für

dieses gar in bewußter wissenschaftlicher Verselbständigung, großem Wurfe und wohlberechneter Runstform Interesse heischte, die Philo­ sophen nicht minder als die Theologen aufmerksam auf sich machend. Dann hat er später nicht versäumt, ein Gesamtsystem seiner religiösen Erkenntniffe, das Ganze der Dogmatik („den christlichen Glauben")

literarisch zu behandeln. Ritschl ging aus von dem Gedanken, der historisch der Ausgangspunkt des Protestantismus gewesen und den er für annoch durchaus nicht völlig begriffen, gar gewürdigt erkannte. Aber wenn man int dritten Bande, der systematischen Darstellung, die Disposition überblickt, kann man sich kaum wundern, daß er vorerst vielfach nicht begriffen wurde; er behandelt fast alle geläufigen Themata der Dogmatik, aber in zersplitterter Form; und er führt allzu unmittel­ bar in medias res, d. h. in eine „Definition" (der „Rechtfertigung"), die einen nur überrascht, wer ihm mit Achtsamkeit folgt, wird doch bald gefesselt und sieht eine Fülle von Perspektiven sich öffnen, die es ahnen, bei rückblickender Besinnung doch auch erkennen laffen, daß man einem

neuen Gesamtentwurf von Theologie, einer neuen theologischen Grundanschauung gegenüberstehe. Ritschl orientiert sich nicht wie Schleier­ macher an der subjektiven Erscheinung der Religion, sondern ihrer objektiven Bedingung, nicht an der Idee der „Frömmigkeit" als einer seelischen „Tatsache", sondern an der von „Gott" als einer „Gffen-

barung" und von dieser als Aufforderung zu einem Verhalten. Schleiermacher meint bei sich selbst und in kühner Einschau überhaupt bei „den Menschen", die Religion auftauchen zu sehen als ein ganz unverkennbares, überall vorhandenes Sondergefühl, ein für die Selbstbesinnung des Geistes gegebenes Moment von festem, stets gleichartigem Gepräge, Ritschl betrachtet sie als einen Anspruch, den der Mensch an sich zu stellen lernen „solle", nämlich wenn und wo ihm Gott begegnet. Schleiermacher glaubt, daß man von der Re­ ligion aus zu Gott komme, Ritschl umgekehrt: wobei freilich zu be­ tonen ist, daß Schleiermacher das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl nur als Erkenntnisgrund für Gott im Universum erachtet, Gott seinerseits als den Realgrund dieses „Gefühls" (Gott = öas „woher" desselben). Und Ritschl verkennt neben ihm nicht, daß Gott in seiner „Gffenbarung" dem Menschen zur „Wirklichkeit" nur werde in dem Maße, als dieser sich ihm erschließe, ihn bei sich im Geiste aufnehme, als ein Anderes zur Welt erkenne und anerkenne. Indem Schleiermacher die Reli-

62

Begriff des Ethischen bei Ritschl und Schleiermacher

gton letztlich wie ein psychisches Naturdatum ansieht, ein Gefühl, das in jedem Menschen schlummere und nur geweckt und über sich selbst aufgeklärt zu werden brauche, zahlt er dem Rationalismus noch einen Tribut, von dem Ritschl sich frei gemacht. Schleiermachers ästhetische innere Eindrucksgebundenheit, nämlich an das „Universum", seine damit gegebene labile Einstellung auf Pantheismus und Spekulation, bestand eben für Ritschl nicht. Ritschl nennt die Religion eine „Selbst­ beurteilung" des Menschen von dem Glauben an, d. i. dem ver­ trauen auf den ihm offenbar gewordenen Gott her. Der Begriff des „Glaubens" spielt für Schleiermacher trotz dem Titel seiner Dogmatik („Der christliche Glaube usw.": durch ihn ist die Benennung der Dog­ matik als „Glaubenslehre" in der Theologie geläufig geworden, wie die der Ethik als „Sittenlehre") in der Schilderuug des Wesens der Reli­ gion keine Rolle, von Schleiermacher hat Ritschl sich sagen lasten, daß die Religion, wie ein Verhältnis zu „Gott", so immer auch zur „Welt" enthalte. Aber die Welt, das Ganze an ihr und die vielen Existenzen, die sie befaßt (die Natur; die Dinge; die Individuen), stehen für ihn in anderer als der ästhetisch-metaphysischen Beleuchtung bei Schleiermacher, der ethischen. Um Ritschls Abweichung von Schleiermacher hier richtig zu er­ kennen, mutz man sich klarmachen, daß sie trotz gleicher Ausdrucks­ weise auseinandertreten. Auch Schleiermacher spricht vom Thristentum als der „ethischen" Religion, nämlich dem ethischen Monotheismus, dem auf dieser höchsten, der zur Rlarheit über sich selbst gelangten Stufe der Religion der Muhammedanismus gegenüberstehe als die „ästhetische" 5orm von Monotheismus. Er braucht für ästhetisch auch den Ausdruck „passiv" und rezeptiv, für ethisch „aktiv" und teleologisch. Im Muhammedanismus läßt der „Fromme" Gott nur einfach auf sich wirken und nimmt alles blotz als Wirkung in sich auf; im Christentum wird Gott empfunden als Antrieb, Lrwecker einer Freudigkeit zu „ge­ statten", das Leben zu formen. In der ästhetischen Religion wird Gott „gefühlt" als einfach sich selbst geltend machend, sich im Univer­ sum und Individuum unmittelbar auslebend; in der ethischen als die Menschen wie sein Grgan benutzend, durch sie hindurch sein Ziel, eine Gemeinschaft der Menschen in ihm oder mit ihm und untereinander erreichend. Schleiermacher kennt auch für den Christen keine Freiheit; er ist Determinist. Die „Aktivität", die der Christ übt, ist ihm eine Auswirkung Gottes in menschlich-seelischer Form, bloßer „Vermittlung" durch menschliches „willens"-Verhalten. Fragt man nach dem Inhalt des göttlichen Zielgedankens, so erscheint kein höherer als der der Ineinsbildung von „Idealem" und „Realem", Geist und Natur (Materie) und dadurch sich herausbildender Harmonie aller Verhältnisse. (Immer

Ritschlr Zusammenhang mit Schleiermacher. Überbietung dieses

tzz

wieder taucht die Idee von dem letzten Ziele als realem, vollendetem Linswerden des Idealen und Realen, Gottes und des Universums, ein Pantheismus, daß ich so sage, in eschatologischer $otm, auf). Schleiermacher sieht die „Teleologie" Gottes verankert in der Person Christi als dem Menschen, der schlechthin von ihm, seiner Kraft „erfüllt" gewesen sei und im „Wirken" aus seinem „Geiste" ihn als „die Liebe" offenbar und wirksam gemacht habe. Aber Liebe ist für

Schleiermacher letztlich nur die innere Harmonisierung der Geister, die Einstellung oder Abstimmung aller Individuen aufeinander in einer Einheit, worin das Universum sich spiegelt. Ritschl überbietet Schleiermachers Idee von Christus, indem er dessen geschichtlicher Er­ scheinung eine wesentlich andere Idee der Liebe oder von Gott als Liebe abgewinnt. Ihm ist Liebe das positive Widerspiel ber Selbstsucht, die frei gewollte „Aufnahme des Zweckes der anderen Person in den eigenen Personzweck", das Leben (nicht in formaler Anglei­ chung aller an den gleichen Typus sdie Idee des „Mikrokosmos"), sondern) in dem Kraft Ligenentschlusses gewonnenen Willen der Selbsteinsetzung für „die anderen", für „alle". Ritschl hat beim Gedanken der Liebe den sich opfernden Christus vor Augen! In diesem Christus gewinnt Gott es uns ab, daß wir uns der Liebe „er­ schließen". von seiner ethischen Grundintuition aus gewinnen alle konkreten „christlichen" Probleme, und damit die Theologie als System von Gedanken, ein anderes Gesicht bei Ritschl als bei Schleier­ macher. Ls ist durchaus wahrscheinlich, daß Ritschl das überragende Stichwort all seiner Gedankenbildungen: das „Reich Gottes", von Schleiermacher übernommen hat. Venn letzterer bietet ausdrücklich dieses biblische Wort als die Anschauung für den Begriff der gött­ lichen Teleologie. Auch die Auffassung des Christentums als der „ethischen Religion" wird dem Ausdrucke nach bei Ritschl von Schleiermacher her­ stammen. Gewiß auch hat er es diesem der Formel nach zu danken, daß ihm für das Verständnis des Christentums als Religion die p e r s o n Christi ins Zentrum trat. Ja noch ein Letztes wird Ritschl von Schleiermacher übernommen haben: seine Achtsamkeit auf die „Kirche", das heißt auf die Gemeinde Jesu Christi als die Trägerin oder Ver­ mittlerin aller Wirkungen Gottes auf den Einzelnen. Alles aber gewinnt, wie ich es oben ausdrückte, ein anderes Gesicht, weil ihm dem Inhalte nach das „Ethische" etwas anderes bedeutet, als Schleier­ macher. Venn dadurch erschloß sich ihm ein neues Verständnis für den Sinn, will sagen, die maßgebenden Kräfte der Geschichte. Ihm trat die Person Jesu Christi ganz anders als Schleiermacher entgegen in ihrer „urkundlichen" Gestalt. Ritschl war in viel weiterem Umfange ein Historiker als jener, sofern er nicht nur die Ideen („Lehren") in der

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Kitsch! als Historiker. Neues Verständnis für Christus

Geschichte verfolgte (so groß er gerade als Erforscher der Lehren, als „vogmenhistoriker" sich erwies), auch nicht nur die Institutionen beachtete (schon da überbot er Schleiermacher im Scharfblick für das Zeit- und Grtbedingte, den Fluß der „Entwicklung"), sondern vor allem die Führerpersönlichkeiten hier ganz konkret ins Auge faßte. Er gehört nicht etwa zu den Bahnbrechern „der" Geschichtswissenschaft, son­ dern ist in seiner Weise ein Schüler der Ranke, Dahlmann, Waitz usw., ein Rlitteilhaber an dem „historischen Sinn", der sich gerade in seiner Generation voll ausbildete, Gemeingut wurde; so steht er auf den Er­ trägnissen, die die Forschung überhaupt im 19. Jahrhundert einbrachte, zumal auf den Fortschritten ihrer „Methode". Aber er war es, der recht eigentlich den Bann brach, der von Hegel her als philosophisches Schema sich gerade auf die Rirchengeschichte gelagert hatte. 3m einzelnen sich mit vielen Forschern berührend, gewann er letztlich klarer als seine

Zeitgenossen, gar als Schleiermacher, den Zugang zum wirklichen, biblischen Christus, seinem spezifischen Berufe und seinem darin sich enthüllenden „wesen". Dabei trug ihn sein — wohl an Kant zuerst orientiertes, dann gerade auch ihn, durch den Blick eben auf Christus, überbietendes — Verständnis für das Sittliche. Indem er die Korrelation zwischen dem historischen Christus und dem, was das Wort „Liebe" besagen „will", bemerkte, trat er an das Tor der rechten Theologie! Ich denke nicht daran, Ritschl den Kranz einsamen Sachverständnifies zu winden, er ist in sehr deutlichen Schranken bei den Aufgaben der Theologie, wie er diese selbst durchgeführt missen wollte, zurückgeblieben. Und weithin hatten die Exegeten der Zeit (vor anderen Hofmann) ihm vorgearbeitet. Aber er hat den richtigen Aus­ gangspunkt der Theologie gezeigt — in gewifiem Sinne freilich nur wieder gezeigt. Ritschl quält sich in der Dogmatik nicht mit religiöser Selbstanalqse, auch nicht mit der Messung der Normalität seines kon­ fessionell-tatsächlichen Christenstandes. Er unternimmt nicht, für ein „Lehrganzes", das vorab erhoben worden aus dem kirchlichformierten Eigen erleben, dem an Wort und Sakrament etwa in der lutherischen „Konfession" gewonnenen frommen „Bewußtsein", nachträglich den „Schriftbeweis" zu erbringen. Sicher versteht ein Hofmann solches Verfahren praktisch als Selbst Prüfung des Theologen und, mit seiner Hilfe, der Konfession, zu der er „gehört". Aber dieses Verfahren ist nur zu sehr der Gefahr der Selbsttäuschung ausgesetzt. Es ist wirk­ lich die (Quelle unsäglich vieler bloßer religiöser Rechthaberei geworden. Ritschl geht umgekehrt aus vom Evangelium und von der Person Christi, indem er sich klarmacht, daß sie zu würdigen sei als Erschei­ nung Gottes in der Geschichte (Rechts, u. Versöhnung 111, § 48, „Vie ethische Beurteilung Christi nach seinem Berufe zieht seine reli-

Nitschls Gegner. NI. Kähler

65

giöse Anerkennung als (Dffenbarers Gottes nach sich"!). (Er zeigt damit die Norm des Glaubens und den weg zur „Religion" als der in der Seele erwachenden „Selbstbeurteilung" des Menschen, der diesen Gott als den Herrn über sich und die Welt erkennt. IV.

Seit Nitschls hinscheiden ist nun schon mehr als ein Menschenalter vergangen. Ich müßte ja blind sein, wenn ich nicht sähe, daß er keines­ wegs der Stern dieser Zeit gewesen ist. Seine eigentliche „Schule" fand er an jungen akademischen Theologen, die in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ins Lehramt traten. Sie alle haben im geschichtlichen Sinne ihre Zeit jetzt hinter sich, viele sind bereits da­

hingeschieden. (Es war eine Zeit großen Theologenmangels, als Nitschl mit seinem Hauptwerke auftrat. Vie „alten" Schulen waren in eine Art von Stagnation geraten. So konnte es einen Augenblick scheinen, als ob er sich ihnen gegenüber rasch durchsetzen werde. Aber es folgte vielmehr eine Zeit erbitterten Kampfes um ihn. (Es darf auf sich be­ ruhen, was darin auf allen Seiten an „Menschlichem, Allzumensch­ lichem" hervortrat. Nitschl wurde sehr viel mißverstanden. Aber man muß zugeben, daß er manchen bedeutsamen Gedanken nicht glücklich zum Ausdruck brachte. (Er war kein Meister des Varstellens! Und Lücken und Fehler gab’s auch (natürlich!) genug bei ihm. a) Die drei Schulen, deren Blütezeit Nitschl erlebt hatte — sein persönlicher Entwicklungsweg führte ihn durch die Hallesche und die Tübinger Theologie hindurch —, besaßen zum Teil lange noch über seinen Tod hinaus Vertreter. Am geringsten war der Nachwuchs der Ver­ mittlungstheologie. vielleicht dürfte ich am ehesten Martin Kähler (gest. 1912) nennen. Doch mag gerade er darauf aufmerksam machen,

daß man nicht gut tut, Etiketten, Schul namen allzu ernstlich als Weg­ weiser durch die Geschichte zu nehmen. Kähler wollte selbst nichts anderes sein als Vibeltheolog. (Er betonte oft und gern seinen Zu­ sammenhang mit dem Pietismus. Selbst nicht mehr durch die „Crweckungsbewegung" hindurchgegangen, war er doch durch Tholuck noch in lebendigen Zusammenhang mit ihr gekommen. Und er repräsentiert in sehr hoher Form den aus ihr hervorgewachsenen Pietismus kirch­ licher Prägung, wie er schlechtweg den „evangelischen", den unierten Protestantismus auszugestalten trachtete. An Kählers Theologie kann man (abgesehen von dem Momente, das naturgemäß mit dem Geschlechte von 1813 dahinging) alle oben (S. 43ff.) hervorgehobenen Merkmale der Erweckungstheologie aufzeigen, wenn Kähler in seinem Haupt­ werke (1883) die „Wissenschaft der christlichen Lehre", wie er schon im Titel ankündigt, „von dem evangelischen Grundartikel aus" darstellt, Xattenbusch, Vie deutsche evangelische Theologie. 6. 3ufL

5

66

historischer Jesus und biblischer Christus bei Kähler

so entwickelt er sein Verständnis des Christentums grundsätzlich von

dem Sonderpunkte aus, der bei Ritschl nicht systematisch-methodisch, son­ dern nur tatsächlich-literarisch den Zugang zu wesentlich seinem „Lehr­ ganzen" bildet. Beide Theologen bezeugen da gleicherweise, welches Problem oder welcher christliche Glaubensgedanke ihnen der bedeut­ samste, charakteristische sei. Aber bei Kähler trifft man dabei noch auf einen Rest der Art, wie Schleiermacher sich „orientierte"; auch in der Auffaffung der neutestamentlichen Schriften als „Glaubenszeugnis" der Apostel von „Christo". Denn es ist entweder eine triviale Beobachtung, die

er da betont, oder aber — und damit trifft man wirklich seine Auf­ fassung — der Gedanke, daß man nur von dem oder „einem" ge­ formten „frommen Bewußtsein", von einem irgendwie zum voraus „gegebenen", als „normativ" hinzunehmenden religiösen Zustande aus zu dem Gegenstände der Theologie vorzudringen vermöge. Lehrt er nicht wie Schleiermacher „den Frommen", sich selbst beobachten, nicht wie die Erlanger den „Christen", sich selbst als Glied „seiner" Konfession zu deuten, so doch „die biblischen Männer" schlicht hinzunehmen, wie sie „bezeugen", was sie von Jesu „geglaubt und erkannt" haben. Das

heißt: Kähler meint, es sei nur möglich, gleichsam im Spiegel von der „Offenbarung" Gottes in Christo Kenntnis zu gewinnen: das „Faktum", das „Ansich" der Person und der Tatsachen, die das biblische „Zeugnis" von Jesus in Deutung und Bewertung „den Menschen" kundmache, sei der Untersuchung entzogen; was die Apostel bezeugten, mit, von, an Jesus Christus „erlebt" zu haben, könne nur im „Glauben" ausgenom­ men werden, der sich dann freilich zum Nacherleben des von ihnen als Erleben von Gott verkündeten gestalte. 3m Zusammenhang mit dem „Zeugnis" der Evangelisten und Apostel läßt auch Kähler sich auf den Gedanken einer „Heilsgeschichte" als der Art, wie es zum Er­ scheinen Christi gekommen sei, führen, aber ohne sich auf Hofmanns nur zu oft an die alte Theorie von einem Geheimsinn der „Schriften" und die Forderung „allegorischer" Deutung derselben erinnernden Spe­ kulationen einzulaffen, vielmehr, wie Ritschl, die Person Christi zuletzt als das Ganze behandelnd. Bedeutsam an Kählers eigentümlicher Umständlichkeit ist das Auftauchen der Frage, in welchem Matze über­ haupt die „Geschichte" dem religiösen Glauben Grund gewährt, d. h. mit Gott „sicher" in Verbindung bringen könne. Diese Frage ist im weiteren verlaufe fast die fundamentale geworden. Und in diesem Zu­ sammenhang wird Kähler in der Geschichte der Theologie seinen Ruf behalten, denn hier war Ritschl noch, ich möchte sagen: harmlos. Der änigmatische Titel der Schrift Kählers, die das von ihm zuerst deutlich empfundene Problem behandelt („Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus", 1892 ^ursprünglich ein

Cremer und Schlatter. Greifswalder Theologie

67

„Dortrag"]), macht ein wirkliches Problem deutlich. Wenn Ritschl darauf „grundsätzlich" verzichtet, ein „Leben Jesu" herzustellen, so ist das sehr anders gemeint, als was Kähler zum Bewußtsein bringt: Ritschl denkt nur erst daran, daß für eine „Biographie" Jesu, ja auch nur für eine sichere chronologische oder psychologische Beleuchtung seiner öffentlichen Betätigung die (Quellen „nicht reichten". Eher ent­ spricht es Kählers Haltung und begegnet dem von ihm angeregten Zweifel an der „Historie", wenn Ritschl die „Gemeinde" zwischen „Jesus"

und dem Christen der Gegenwart einschaltet, sie für den Einzelnen von „uns" zu einer Art von Garanten macht, daß wir Jesus „recht" sehen und bewerten. Denn das ist bei Ritschl nicht bloßer Glaube an Kraft einer „großen" Tradition, sondern Auswertung einesteils Idee von dem zum „Christus" gehörigen „Leibe", andererseits Gedankens von dem Gotte, der bei „seinem" Werke bleibt. Neben Kähler sind in erster Linie h. Cremer (gest. 1903)

die der des

und

A. Schlatter als Bibeltheologen zu nennen. Wie jener, haben auch sie beide, die Däter der sog. Greifswalder Theologie, ursprünglich für ihr Bibelverständnis sich Joh. Tob. Beck (gest. 1878) vielfach zu Dank verpflichtet gewußt und sind dann doch eigene Wege gegangen. Don Beck, dem großen Seelenbeweger, als Theologen zu handeln, hat derjenige, der die Geschichte der Theologie in Entwicklungslinien darstellt, deshalb kaum Anlaß, weil er „Einspänner" war und blieb. Sein sog. „biblischer Realismus", religiös wesentlich von der Phan­ tasie getragen (aber von tiefstem sittlichen Ernst begleitet), hat höch­

stens in seinem Amtsnachfolger Rob. Kübel (gest. 1894) einen Nach­ hall gefunden. Beck war „wissenschaftlich" nur Altwürttemberger, der kongeniale Nachfahre eines I. A. Bengel (gest. 1752) bzw. Chr. $r. Getinger (gest. 1782), ohne Zusammenhang mit der Theologie seiner

eigenen Zeit. Cremer hat, darin Beck bewußt verlaflend, enger als Kähler, der ein Systematiker war und die „christliche Lehre" als Welt­ anschauung begriff, den Christus „für uns", seinen Tod am „Kreuz", wie eigentlich das Ein und Alles der „biblischen" Derkündigung be­ handelt. Er rüttelt dabei mächtig die Gewissen auf, ehe er den Christen gestattet „heilsfroh" in der „Gewißheit" der Dersöhnung zu sein. Darin ist er echtlutherischer „Prediger" gewesen, nicht anders als etwa auch Tholuck. Ein wissenschaftliches Derdienst Cremers ist die Entdeckung der „neutestamentlichen Gräzität", noch nicht der Be­ deutung der griechischen Zeitsprache (der Keine) für den literarischen Charakter des NTs, aber (was mindestens geradeso wichtig ist) der „biblischen" Jnhaltsbesonderung „alter" griechischer Worte, oft schon

allein der Bevorzugung eines bestimmten Worts vor seinen Synonyma. Cremer hat die Bedeutung der Septuaginta erkannt. (Sein „Wörter5*

68

Haupt, Zeine, Zchäder

buch" erschien zuerst 1867, noch sehr knapp- 1912—15 f)at 3- Kögel die 10. stufl. mit 1230 Seiten zu bieten gehabt!). - Schlatter verfügt neben Kähler über erheblich größere Gelehrsamkeit, gleicht diesem aber

im Interesse an der Vielheit der biblischen Probleme und bewährt dabei besonders als Ethiker (Originalität. In den erkenntnistheoretischen Fragen an Abgründen, nicht ohne philosophische Selbstbestinnung, doch wie hinspielend (er modernisiert sich für das „christliche Dogma" als Propädeutik die alte theologia naturalis), pflückt er fast bei jedem dogmatischen und ethischen Einzelproblem aus der Bibel reiche Sträuße. Niemand wird verkennen, daß er es versteht, die Bibel, Christus, zum Geschlechte der Gegenwart reden zu lassen. Lr müht sich und vermag es, wie kaum einer, den Geist der Bibel lebendig zu erfassen und darzutun, wieviel die Gemeinde Christi an ihrer Bibel

hat. Als Schweizer in Deutschland heimisch geworden, kann er den „reformierten" Typus in seiner Innerlichkeit, die doch zugleich Erschloflenheit ist für alles praktische (das Sozialleben wie das Individualleben!), besser verstehen und würdigen lehren, als uns Luthe­

ranern in Deutschland gemeinhin gegeben ist. — Zu denen, die schlichtweg „Bibeltheologen" heißen wollen, gehört doch auch C. Haupt (gest. 1910) und ferner p. Feine, so verschieden geartet sie im ver­ gleich miteinander erscheinen. Sie sind beide aber nicht, wie Kähler, Cremer, Schlatter, zugleich Systematiker, sondern „nur" Lxegeten. (Es wird richtig sein, an dieser Stelle auch Erich Schäder zu nennen. Er gehört trotz allem, was er auch gegen sie einzeln ein­ zuwenden hat, am nächsten mit den zunächst charakterisierten drei „Bibel­ theologen" zusammen, er ehrt Cremer und nicht minder dankbar Kähler und Schlatter als die größten Meister der Zeit, die ihm begegnet, jeder irgendwie im Unterschied von den beiden andern „groß" in seiner Art. Sein Werk „Theozentrische Theologie" (I, 1909 31925; II 1915) ist eine radikale Absage an die von Schleiermacher gezeigte hernach in so mancherlei Modifikationen bis zu Kähler hin (Zchäder meint, in einem Reste noch von Cremer) geübte Methode, die er als „anthropozentrische" bezeichnet. „Biblizist" will Schäder dabei nicht ohne weiteres sein. Auch die Bibel könne als Menschenzeugnis von Gott nicht für sich zum „Zentrum" der Theologie gemacht werden. Als solches darf nur Gott selbst vergegenwärtigt werden, wie er rein und unmittelbar von sich aus durch seinen „Geist" den Menschen ergreift, in ihm „Glauben" weckt. (Es ist eine glückliche Wendung, wenn Schäder davon redet, „Glaube" sei zunächst ein „Trauen", nicht

alsbald und ohne spezielle Ermunterung, eine Sonderkundgebung Gottes für den Sünder, vertrauen. Es gelte dem Geist „Gottes" und

seiner Selbstbezeugung an den Menschen zu trauen, wie immer sie geartet

Schabers Verhältnis zu Calvin und Luther

69

sein möge. Durch den Geist bezeugt Gott die „Bibel" als sein Wort, das über ihn zu hören sei. 3n dem Matze, als Schaber diesem Gedanken folgt, wird die Theologie für ihn als „theozentrische" doch praktisch „bibliozentrisch". Vies so, datz man sieht, er könnte sie nicht ebenso „christozentrisch" —- statt etwa pneumatozentrisch — nennen. Für Schäder steht in der Sache die „Majestät" („herrenhaftigkeit" schlechthin, „Heilig­ keit") Gottes

im Zentrum.

Ich

sehe in seiner Theologie in über­

raschender Weife ein Moment vom Geiste Calvins lebendig geworden. Für Calvin wie Schäder ist die „Offenbarung in Christo" umschlossen von einem Eindrücke, schroff ausgedrückt, der Zufälligkeit. Ich habe einmal den Unterschied zwischen Calvin und Luther so formuliert: jener lehre an Christus die „Liebe der Majestät" erkennen, dieser die „Majestät der Liebe". Für Calvin ist Gott „auch" Liebe, für Luther

„nur". Jener läßt Gott in Souveränität sich zur Liebe „entschlietzen", für diesen „ist" er Liebe. Calvin könnte sich Gott ohne Liebe „denken", Luther nicht. Und doch kennt Luther die unbedingte Majestät Gottes. Das heiht: was Liebe „ist", das erfährt der Mensch, gerade an Christus, als „unableitbar", in ihm nur sich bekun­ dend; sie ist „majestätisch" bis zur Unheimlichkeit (wo ein „Mensch"

bei sich nicht mehr von Liebe reden könnte und dürfte, „soll" der Glaube bei Gott noch ihrer gewitz sein — im Blicke auf Christus, der nicht etwa alle „Rätsel" an Gott für uns Menschen „löst", sie aber eben zu bloß „noch" nicht gelösten macht!). Schäder spricht von „soteriologischer Verdrehung" des Christozentrismus bei den Erlangern, den „Biblizisten", den Ritschlianern. (Es gibt ja wirklich eine solche. ®b sie bei den Gruppen, mit denen Schäder hadert, sich findet, ist eine Frage für sich. Die Mitzdeutbarkeit und viel geschehene Mißdeutung der „Heilskategorie" macht aber die Kategorie noch nicht an sich ver­

dächtig. Schäder entnimmt dem biblischen Kyriosprädikat für Christus, datz dieser nicht nur den Gott, der „Liebe" ist, repräsentiere, datz eben das „Verdrehung" sei, ihn nur soteriologisch zu verstehen. Christus denke sich selbst nicht „anthropozentrisch". Das bedeutet, datz freilich

Christus gar nicht die ganze „Wahrheit" von Gott anschaulich mache. Uber es ist doch gerade biblisch, datz Christus als „Herr" und seinem Wesen nach „Geist" uns das „Bild" gewährt von dem, was Geist und Herrentum an Gott „ist"! Das will heißen, daß die Gedanken vom Herrn, vom Geist, von der Liebe in (Eins zu fassen sind. Wo­ mit dann der Begriff der Liebe (Hgapc, nicht etwa (Eros) zum obersten Problem der Systematik wird! Schäder sieht das so wenig, wie die Dogmatiker überhaupt. Seine Polemik gegen die falsche Vertraulich­ keit gegen Gott, die unter uns Evangelischen — wahrlich nicht im Sinne Luthers — herrscht, ist durchaus dankenswert.

70

Fortsetzung der Lrlanger Theologie.

Ihmels

b) Ich kann es nicht versuchen wollen, allen. Spezialentwick-

lungen der Theologie seit Ritschl genauer nachzugehen, wie Schleiermachers Bedeutung sich nicht erschöpft in seiner Grundtheorie von der Religion und seiner darin begründeten Methode der systematischen theologischen Gedankengewinnung, so auch die Ritschls nicht in seinem Gegensatz zu ihr und in dem, was bei seiner Methode ihm schon „geglückt" ist. Ruch die Vertreter der „drei Schulen" und die zuletzt erwähnten Forscher haben als „Gelehrte" oder durch irgendeine Spezialidee noch „Zukunft". Und alle neueren Systematiker, in welcher „Schule" sie ihre „wurzeln" gehabt haben mögen, haben gewisse Annäherungen in der Methode vollzogen, wie Ritschl von Theologen, mit denen er heftig stritt, „gelernt" zu haben sich bewutzt war, so haben auch die

meisten Theologen, die wider ihn sich wandten, von ihm gelernt. Richt gerade seine Altersgenossen, auch nicht gerade alle jüngeren, als er auf­ trat, noch lernfähigen, aber doch viele in seiner Zeit und zumal hernach. Im einzelnen zu entwirren, wieweit Ritschl Einfluß geübt, verstanden oder mißverstanden, befolgt oder abgelehnt worden, wäre reizlos. Die „Lrlanger Theologie" hat sich in sehr beachtenswerten Vertretern erhalten und doch auch umgebildet. Ich nenne in erster Linie L. Ihmels und Reinh. Seeberg (des weiteren wäre der Schüler Luthardts, I Kunze, zumal als gelehrter Historiker, zu nennen), was Ihmels betrifft, so steht er den „Biblizisten", besonders Kähler, sehr nahe, von aller abstrakten, „philosophischen" Begründung der Ver­ trauenswürdigkeit der Lehre seiner, der lutherischen Konfession sieht er ab, auch von der Ausdeutung des „christlichen Ichs", des sich als „wiedergeboren" wissenden, dabei nur nachträglich auf „Wort und Sakrament", wie seine Kirche es an ihn herangebracht, sich besinnenden,

dadurch zur Bibel bzw. zu der Forderung theologischen Schriftbe­ weises gelangenden „Thristen", achtet vielmehr von vornherein auf das „Wort Gottes". Dieses wieder erfaßt er in seiner freien inneren

Lebendigkeit, wie es Gottes Geist dem Menschengeiste vermittelt und „Wahrheitsgewißheit" schafft. Erst in Nuancen (mehr doch der Art der Erörterung, der „Begründung", als der Resultate bei „Zaffung" des Glaubensinhalts!) zeigen sich relative Unterschiedlichkeiten zwischen dem Manne, der spezifisch lutherischer Konfessionstheolog zu sein die Freudigkeit in sich trägt, und den Männern, denen die Bibel und die Gewißheit, in der Schrift zu stehen, ein und alles ist. (Unter oder auf der Schrift will Ihmels unbedingt stehen, aber „im" Bekennt­ nis zu stehen, bleibt sein Pathos). Für Seeberg ist meine ich, stets zweierlei charakteristisch gewesen, seine energische Mitbeteiligung an der dogmenhistorischen Großforschung und sein Bedürfnis, zur „Gegenwart" zu reden, von ihm stammt die Losung „modernpositiv"

Heini). Seeberg.

Letzte vermittlungstheologen und Liberale

71

für die Theologie, als die die rechte sei. (Eine Zeitlang fand gerade diese Losung starkes Echo. Theodor Kaftan, Beth u. a. griffen sie, nicht alle in der gleichen Weise, auf. Seeberg ist der Meister unter ihnen geblieben. Er ist nicht nur einer der gelehrtesten Systema­ tiker der Gegenwart, sondern auch einer der umsichtigsten, weit­ blickendsten. Seine Kenntnis der altkirchlichen, mittelalterlichen, evan­ gelischen Lehrentwicklung ist gleichmäßig selbst erworbene, aus den (Quellen geschöpfte. Wenige Theologen, die da mit ihm konkurrieren! Und er steht mit seinem ganzen Empfinden mitten in der Zeit, die er mit „durchlebt". Man muß sagen: kaum einer auch, der in der Weite da mit ihm konkurriert. (Nutzer U. v. harnack!) Db er „nur", in eigentümlich hohem Stile, ein Mann seiner Generation sei, oder von ihr aus auch ein Führer des eben kommenden Geschlechts sein werde, darf ich nicht wie ein Prophet erwägen wollen. Seit ich in der vorigen Auflage seiner gedachte, ist ihm beschieden gewesen, sein eigentliches „System" in dem zweibändigen Werke „Thristliche Dogmatik" (1924 und 1925) darzulegen. (Es in Kürze mit „historischem" Blick zu kenn­

zeichnen, ist schwierig. Seeberg teilt mit den Vermittlungstheologen in hohem Maße das apologetische Bedürfnis. Das ist durchaus der gefährdeten Stellung des christlichen Glaubens in dem Geschlechte, schon der Zeit der alten „Vermittlung", vollends der Gegenwart entsprechend. Er hat zweierlei vor den älteren „Apologeten" voraus: er kennt die geistigen Geschichtsmächte viel genauer als sie, und er ist philosophisch besser geschult (die Entwicklung der „modernen" Philosophie hat er zu nutzen gewußt). 3n seiner Methode als „Dogmatiker" hat er auch eine

gewisse Gemeinsamkeit gerade mit einem 3- H. Dörner usw.: er faßt manches zusammen (in wohlgeglückter Vereinheitlichung), was zwischen den Schulen strittig war (bzw. ist). Letztlich „gehört" er doch zu den Erlangern; er will, auf die Sache geblickt, spezifischer „Lutheraner" sein. Schaut man nach Männern aus, die wohl gern noch Vermittlungs­ theologen heißen mögen, so meine ich als solche etwa Friedrich Nitz sch (gest. 1898) und L. Lemme (ein Schüler 3- 5l. Dorners) bezeichnen zu

dürfen. — Für die liberale Theologie kommen als Systematiker vor allem in Betracht R. R. Lipsius (gest. 1892) und (v. pfleiderer (gest. 1908). Neuestens auch h. Lüdemann („Grundlegung christlicher

Dogmatik", noch aus).

1924 Christi. Dogmatik!; Bd. ll, das „System" steht Der erstere ist unmittelbar an Schleiermacher orientiert,

die beiden letzteren mehr an Hegel. Steht Lipsius relativ Nlex. Schweizer am nächsten, so pfleiderer und zumal auch Lüdemann N. E. Biedermann. Nur eine genaue Zergliederung ihrer unzweifel­ haft teilweise bedeutsamen Werke könnte ihre Nuance deutlich machen. Lipsius zeigt Einschläge von Ehr. h. Weiße. Über Lüdemanns

72

Entwicklung der religiösen Christusproblems

konkrete dogmatische Gedanken ist vorerst nichts zu sagen. Lr setzt sich wider Kant für Schleiermacher schier unbedingt ein, versteht diesen in der Sache jedoch» wie wenn er zu Hegel gehöre. (Es scheint, daß auch er, wie Lipsius und pfleiderer, nicht Pantheist sein will. c) Eine erregende Frage sachlicher Art ist nach Ritschl, nicht

ohne ihn, aber doch auch nicht „durch" ihn, zu großer Bedeutung für die Theologie gelangt. Ich deutete oben an, daß Kähler der erste sei, dem es zum Problem geworden, nicht sowohl ob, als vielmehr wie der evangelische Glaube in der Geschichte, in Christus als geschichtlicher Erscheinung verankert sei. Ritschl war für das Problem noch kaum erschlossen gewesen. Er hatte als Theolog Zutrauen zu seiner „Forschung"

über den historischen Jesus, nämlich, daß sie ihm wirklich diesen zeige und an seinem Bilde das Recht der predigt Luthers von Christus deutlich werden lasse. Ritschl widersprach von der „geschichtlich fest­ stellbaren" Art Jesu Christi aus dem altkirchlichen „Dogma" von dieser Person. Nicht das „Prädikat" der „Gottheit" wehrte er darauf­ hin von dem Manne der Evangelien ab, wohl aber die Theorie, die als „Zweinaturenlehre" in der Kirche über ihn herausgebildet worden. Bei den „Erlangern" fand er Widerspruch in dieser Ablehnung. Sie glaubten letztlich gerade das „Dogma" von den zwei Naturen Christi aus ihrer „Erfahrung" herausspinnen zu können und projizierten es von da aus in die Geschichte, in die Evangelien. Die „Viblizisten" lasen es, wie jene, mit oder ohne Hilfe der sog. Kenosislehre, irgend­ wie, d. h. in allerhand Zurechtlegung, Verkürzung, psychologischer Klügelei aus den Evangelien heraus. Kähler tat einen kühnen Griff, indem er zugab, als „Historiker" nur einen bereits von einem Glauben gedeuteten, ja in gewissem Maße in ein „Dogma" eingekleideten Jesus Christus erreichen zu können, dann feststellte, daß durch die „predigt" von diesem „gedeuteten" Jesus die „Kirche" (die das Neue Testament, die „Bibel" erst schuf), in der Geschichte hervorgerufen sei, schließlich aber die eigentliche „Entscheidung" darüber, ob dieser Jesus Christus der apostolischen (irgendwie „gesamtbiblischen") „predigt" dauernd dem Glauben als ein wirklicher geschichtlicher Jemand gelten dürfe (als ein solcher überhaupt zu gelten habe), dem geheimen „Erleben" zuwies, das der Seele in der Erschließung für die „predigt" zuteil werde. Mit Kählers Schrift von 1892 (s. oben S. 66) war das „Problem"

doch mehr beiseitegerückt als erledigt. Die historische Forschung hat zwar seither einerseits Kählers Auffassung der Evangelien weithin be­ stätigt, immer mehr von dem Gesichtspunkte als richtigem Ge­ brauch zu machen gelernt, daß die Evangelien eine von bestimmt ge­ artetem „Glauben" oft selbst im Ausdruck beeinflußte Sammlung, „Aus­ wahl", von Erinnerungen an Taten, Leiden, Reden, Sprüche Jesu

Fortschritte der Forschung im Alten und Neuen Testament

bieten.

73

Aber sie hat durch ihre systematische „Kritik“ auch gerade klar wenn auch lückenhaft, von Nazareth in den dann von neuem die „Geschichte" an. Sie

werden lassen, daß viel „Urgestein" bleibe und, ein „historisch" zuverlässiges Bild des Mannes „Duellen" sichtbar werde. Und daran knüpft Frage nach dem Verhältnis von „Glaube" und

hat sich im wesentlichen zugespitzt auf den Streit darüber, ob der historische Jesus nur das „Vorbild" (Schleiermacherisch geredet „Urbild") des Christenglaubens sei oder aber sein „Grund", ob Christen nach der Art „wie" Christus zu Gott sich hielten, oder „auf ihn hin". 3m ersteren Falle wäre er „das religiöse Genie" oder etwa wie „der Propheten einer" (ein Gffenbarungs„empfänger"), im anderen eine un­ vergleichbare Person, „die" Offenbarung selbst, die „Erscheinung" Gottes

vor den Menschen, wobei wieder verschiedene Ausführungen möglich sind, je nachdem, ob das altkirchliche Dogma mit herangezogen wird und der Gedanke als ein metaphysischer gefaßt wird, oder unmittel­ bar und „bloß" als ein religiöser, als „Spekulation" über das histo­ rische Bild oder „Deutung" seines Gehalts — wie Ritschl es mißverstehbar ausdrückte: ein „Werturteil" darüber. Die Leben-Jesu-Forschung ist schließlich doch nur ein Zweig der

Geschichtsarbeit, die die Theologie gerade der letzten Periode auf sich genommen. Aus schüchternen oder gewalttätigen, noch methodisch wenig geklärten „Kritiken" an der Literatur der Bibel ist eine allseitig ent­

wickelte untersuchende, bauende, jedes Mittel heranziehende Gesamt­ bewertung des biblischen „Materials", lebendige Vergegenwärtigung der äußeren und inneren Verhältnisse in Israel und der Urchristenheit geworden. Ich nenne nur als lange fast unbestrittenen Führer (seiner­ seits auf den Schultern stehend der elsässischen TheologenNeuß lgest. 1891]

und dessen Schüler Graf [gest. 1869]) Wellhausen (gest. 1916); von seinen „Schülern" Stade (gest. 1906), Kautzsch (gest. 1910), R. Smend (gest. 1913), Cornill (gest. 1920), Budde, Duhm, Guthe, Nowack, von seinen Gegnern Dillmann (gest. 1894) und den „jetzt" erfolg­ reichen N. Kittel. Für die Anfänge der Christenheit genüge es, Forscher zu nennen wie Weizsäcker (gest. 1899), h. Holtzmann (gest. 1909), Schürer (gest. 1910), Joh. weiß (gest. 1914), Herrn, v. Soden

(gest. 1916), Spitta (gest. 1924); Baldensperger, ©. Holtzmann, Jülicher und (wahrlich nur dem Alphabet nach zuletzt) Zahn, von den beiden letzteren gilt, daß sie ganz ebenso „Patristiker" sind, wie „Exegeten", Spezialisten fürs Neue Testament?) — Zur fortschreitenden *) Gedacht sei hier auch C.p. Gregory ’s, des zum Deutschen gewordenen, im Weltkrieg 1918 für Deutschland gefallenen Amerikaners: 3n umfassendster Durchsuchung der Bibliotheken Europas und des Orients hat er K. Tischen­ dorfs (gest. 1873) Ausgabe des Neuen Testaments „erneut". Ebenbürtig auf

Kirchen- und dogmengeschichtliche Forschung

74

Erweiterung der Gesichtspunkte und Kenntnisse, die das Bibelstudium tragen, tritt hinzu der gewaltige Aufschwung, den die Erforschung der

ganzen Entfaltung des Christentums bis zur Gegenwart hin, der „Kirchengeschichte" in allen ihren Beziehungen, genommen hat.

Immer

hat der Protestantismus der Geschichte der Gesamtkirche und seiner selbst Aufmerksamkeit zugewendet.

Jede Periode hat da Gelehrte von klang­

voll gebliebenem Namen hervorgebracht, ich erinnere an Flacius; Lalixt; Gottfr. Arnold, die beiden Walch, £. Mosheim; G. I. Planck (gest. 1833), A. Neander (gest. 1850), L. Gieseler (gest. 1854), Hundeshagen

(gest. 1873); zuletzt H.Reuter (gest. 1889) und L. v. Hase (gest. 1890), die in ihrer grundverschiedenen Art zwei Typen (der kritischen, mög­ lichst „exakten" Tuellenerkundung und der vieles divinierenden,

möglichst „plastischen" Schilderung) dargestellt hatten.

Die Zeit nach

der Blüte auch der letztgenannten, zum Teil die ihrer Schüler, brachte

doch erst eine höhe der theologischen Geschichtsforschung.

In bezug

auf die vogmengeschichte, Verfassungsgeschichte, Konfessionskunde, über­ haupt die Lebensentwicklung der Kirche unter den Völkern und in Ver­

flechtung mit deren Schicksalen brauche ich ja bloß auf Forscher hin­ zuweisen wie vorab A. v. harnack — dessen Einwirkung auf alle Zweige der Theologie man sich nicht leicht zu groß vorstellt

und

Karl Müller (Tübingen: ich nenne ihn neben v. harnack zuerst, weil

er der einzige ist, der es noch möglich gemacht hat, die gesamte Kirchen­ geschichte bei größter Selbständigkeit der Quellenforschung in allen Perio­ den, gleichmäßig mit Bezug auf alle Gebiete, darzu st eilen); sodann

auf

so

hervorragende

Spezialisten

wie

Th. Brieger (gest. 1915),

H. Sohm (gest. 1917), A. Hauck (gest. 1918), k. holl (gest. 1926),

h. Böhmer, I. Ficker, F. Loofs, h. v. Schubert,

k. Seebergs

habe ich S. 7Of. schon gedacht. Alle diese Historiker sind mehr oder weniger wieder Führer geworden und ebenbürtige Genossen,

besitzen

in ihren „Schülern" vielfach

wir sind in der Geschichtserkenntnis sehr viel

weiter als in Ritschls Zeit, wobei ausdrücklich die mächtig anregende Kraft gerade auch seiner historischen Studien hervorzuheben ist?)

dem Gebiete der Handschriftenkunde war ihm nur h. v. Soden, der „andere" Textkritiker hier in neuerer Zeit, an sich der vielseitigere Forscher. *) Eine Zeitlang konnte cs scheinen, als ob unter der anregenden Kraft von kitschls historischen Spezialarbeiten, zumal seiner Art von bewußt „luthe­ rischer" und doch nicht bloß „bekenntnismäßiger" Haltung, die Erforschung der christlichen Kirch enbildungen („Konfessionen") auch einen besonderen Antrieb gewonnen habe. Die alte Art der bloßen „Symbolik" wurde als unzulänglich erkannt. Ich habe durch mein „Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde", Bö. 1 „Orthodoxe anatolische Kirche" 1892 versucht, da eine neue Art mitzu­ schaffen. Es hat ein gewisser Unstern darüber gewaltet. Auch Loofs, der sein Werk noch „Symbolik" nennt (Nebentitel: „Konfessionskunde") I, 1902 (Grient.

Entstehung der religionsgeschichtlichen Schule

75

d) Seit etwa 1890 besteht die besondere „Schule", die sich als die „religio ns geschichtliche" bezeichnet. Ms ihr „Gründer" giltP.A.de

Lagarde (gest. 1891), was doch nur in dem unbestimmten Sinne richtig ist, daß er vor andern es gerade als Theologenaufgabe be­

tonte,

christliche Religion

die

in vergleich zu bringen mit möglichst

allen anderen Religionen, ehe man sie bewerte, gar sie als die wahre, einzig wirkliche Führerin zu Gott, Hüterin „der" Offenbarung Gottes

gellen lasse.

Man mutz bei diesem wundersam anspruchsvollen Manne

unterscheiden, was er als echtester Fachgelehrter (Orientalist, Vibeltext-

kritiker lSeptuagintaforscherp leistete und als Prophetenhaft leidenschaft­ licher, ja

krankhaft

„Prediger".

selbstgewisser,

im Tone

oft Ärgernis

gebender

In letzterer Beziehung ist er nicht wissenschaftlich zu be­

werten, aber als Wecker von Stimmungen.

(Er versteht „die Religion"

als absolut „persönliche" Seelengemeinschaft mit „Gott", der ihm durch­ aus „Person", aber als solche identisch mit „dem Guten", ist. er freiem,

Bahn

ernstem

zu brechen.

neuer Romantik!

sittlichen

willen in Verbindung

Tin Spätling

der

alten

Die völlige Ungebundenheit,

individuelle Eigenwesenhaftigkeit des „Ichs",

„verbunden" wisse,

„einmalige lehnen.

oder das

aber

auch

eine

die

der Vorbote

weil immer neue sich

doch mit Gott

läßt ihn jedes „einmalige Geschehnis",

Erlösungstatsache",

So sucht

mit Mystik

Sonderschätzung

gar

Thristi

Und dabei will er doch weder Jesus als Person,

noch

eine

ab­

die

Rirche, am wenigsten einen sinnigen sakramentmätzigen Kultus gering­ halten. (Nur Luther verfolgt er fast mit Hatz)'). (Es entspricht der u. röm.-kalh. Kirche), ist nicht fertig geworden. T. Mirbt hat eine über­ aus vollständige Sammlung der „Duellen zur Geschichte des Papsttums u. d. rom. Katholizismus ' (4 1924) geboten. Aber es bedarf noch immer vieler Spezialuntersuchungen, ehe die Zeit für eine wirklich zureichende Gesamtdar­ stellung der Ausprägung der Christenheit zu verschiedenen „Kirchen und Sekten" reif sein wird. Die Juristen haben an ihrem Teile der Konfessionskunde sehr gedient. Ich nenne nur Aem. £. Richter (gest. 1864) und p. hinschius (gest. 1898). Noch eines Spezialforschers darf oder mutz ich gedenken, der eine Zierde unserer deutschen Theologie blieb, wenn er auch nach Norwegen über­ siedelte, des Bahnbrechers der Forschung über das altkirchliche Symbolwesen C. p. Caspari (gest. 1892). 9 Ich tue wohl recht, hier, d. h. neben Lagarde, auch Franz Overbeck (gest. 1905) zu nennen. (Er war, mehr noch als jener, ein Einspänner, persönlich von irgendwelcher Zeit an bewutzt völlig religionslos (die „Religion", zumal das Christentum, habe sich geschichtlich überlebt), gewann er Verachtung und Hatz für alle Theologie und blieb doch (1869-98) als Professor stets Theolog, nach Rücktritt von seinem Amte in Basel auch ferner noch als Forscher, näm­ lich als neutestamentlicher Exeget und Historiker bzw. Kirchenhistoriker tätig. Nach seinem Tode hat sein Schüler C. A. Bernsulli aus seinen Papieren noch mehrere Bücher herausgegeben. Für seine Persönlichkeit am charakteristischsten ist dar­ unter: „Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen

76

Zusammenarbeit d. Philologen u. Theologen im Alten u. Neuen Testament

allgemeinen Ausweitung des Geschichtsinteresses und der im Zeitalter

des „Weltverkehrs" fast selbstverständlichen Hinlenkung des Blickes auf die vielen Kulte und Religionslehren, zumal auch die verwickelten Tradi­ tionen derselben bei den „Völkern", daß die Religionsvergleichung

starkes Bedürfnis und fast ein Lieblingsthema der Wissenschaft wurde. Den Theologen schien sich der Horizont ungeahnt zu weiten, ganz prinzi­ piell für das Eindringen in das geheimnisvolle Einheitswesen „der"

Religion, speziell aber für die Auflichtung des Alten und Neuen Testa­ ments.

Es begann ein Zusammenarbeiten zumal der Philologen und

Theologen, wie es so noch nicht bestanden und das vielerlei Frucht getragen hat. Die Einflüsse aus der „Umwelt", unter denen Israel, „vielleicht" Jesus,

offenbar die Urgemeinde, gestanden, die Bedeutung Ägyptens, Aflurs, Persiens, ganz besonders des „Hellenismus", traten für die Theologen in den Gesichtskreis.

Um Forschernamen zu nennen, genügt es, unter

den Theologen für das Alte Testament etwa auf Graf Baudissin

(gest. 1926), und (mit neuen Fragstellungen literarhistorischer, formgeschichtlicher Art sDicht„kunst", Erzähl„kunst", Sagen„kunst" usw.) Schule

bildend:) h. Gunkel zu verweisen.

Für das Neue Testament kommen,

um zunächst mal nur solche zu nennen, die ihr Lebenswerk schon voll­

endet haben,

in Betracht:

G. heinrici (gest. 1915);

w. wrede

(gest. 1906), w. Bousset (gest. 1920), w. heitmüller (gest. 1926).

Unter

den

Philologen

sind

h. Usener

(der „Führer",

gest. 1905),

Theologie", 1919. wie er sich, ohne Zweifel in subjektiver Ehrlichkeit, vielleicht gar Gewissenhaftigkeit, damit abfand, Theolog wie er es nun mal geworden, zu bleiben, ist im Grunde gleichgültig. (Er war der letzte Schüler Ferd. Ehr. Baurs, nicht im Sinne spezifischen Anschlusses an die „Tübinger" Konstruktion der bib­ lischen bzw. urchristlichen Geschichte, aber als am ehesten noch vor Baur sich inneren wissenschaftlichen Respekt bewahrend. Ihm ist für Jesus die eschatologische predigt das Eharakteristische, ja einzige historisch wesentliche; dem ent­ sprechend das INönchtum die einzig legitime (natürlich doch auch „umge­ prägte") Frucht oder Fortsetzung seiner predigt. Mit Nietzsche eng befreundet, hat er doch auch an ihm durchaus Kritik geübt. Line Wirkung ins Große wird er kaum üben können. Dafür ist seine Arbeit zu sehr verzettelt. Am bedeutendsten scheint mir sein Aufsatz (in Sybels hist. Zeitschr. N. F. Bd. 12, 1882) „Vie Anfänge der patrist. Literatur" zu sein, speziell der darin aufgestellte Begriff von „christlicher Urliteratur" (nach ihm etwas anderes als „urchristliche Literatur"), nämlich als einer Literatur an sich nur für die christlichen „primitiven" (eine Literatur ohne jede „Kunst", eingestellt auf einen Kreis von Lesern, die gewissermaßen eine Eigensprache, und ein — bald abgestorbenes — Eigendenken übten). Im übrigen werden seine Linzeluntersuchungen fortwirken, wie andere solche Bücher und Aufsätze. Lin Großgemälde hat er eben nicht geschaffen; es hat ihm auch kaum in Gedanken je ernstlich angelegen, ein solches zu geben. „Das Christentum", sagt er im obengenannlen Buche, S. 271, „ist ein Ving, das in der Kirche eine Geschichte nur wider willen gehabt hat". So hat seine „Geschichte" ja auch kaum wirkliches Interesse.

Achtsamkeit auch auf die rabbinische Literatur

77

H. Dieterich (gest. 1908), p. Wendland (gest. 1916), (E. Norden, R. Reitzenstein und Cd. Schwartz hervorzuheben. Schwartz ist dabei ein glänzender Spezialist für die Lehr- und Konziliengeschichte während der christologischen Streitigkeiten geworden*). Natürlich machten x) Vie Philologen haben begonnen, bas Neue Testament und die christliche Literatur der Griechen und Hörnet in den Gesamtrahmen der Literaturgeschichte dieser Völker einzubeziehen. Ebenso die Historiker der Antike die Kirchengeschichte in den der politischen Geschichte der Seit. Natürlich haben die Theologen da zum Teil Anlaß gefunden, sich zu wehren. Denn die Philologen sind oft, nun, sagen wir: allzu laienhaft. Das wird sich, wenn die Theologen ernstlich beginnen, mit ihnen zusammenzuarbeiten — und das ist seit 1890 im Suge — Korrigieren. Auf Linzelleistungen kann ich nicht eingehen. Ich habe ja auch, wo ich von den Großbauten sprach, die auf alt- und neutestamentlichem (israe­ litischem, urchristlichem) Gebiete neuerdings erfolgreicher, sicherer, anschaulicher als je zuvor unternommen worden, nur wenige der Baumeister erwähnt. Sobald ich ins Spezielle gehen wollte, überschritte ich meine Grenzen. Sur Seit weiß jeder Bibelforscher, daß er bei seinem Thema nach Möglichkeit Rund­ schau in der „Umwelt" zu halten hat: die Spracheigentümlichkeiten, die Literatur­ formen, die Lehrprägungen, die Kultgestaltungen, alles hat, wie man jetzt weiß oder auf Schritt und Tritt entdeckt, seine Analogien, seine „allgemeinen" Susammenhänge. So wäre letztlich nur etwa der zu nennen, der sich spröde verhält gegen das Interesse an diesen, wichtig ist, daß man auch - endlich — be­ gonnen hat, der rabbinischen Literatur Achtsamkeit zu schenken: h. Strack (gest. 1922); Gust. Dalman; A. Schlatter, K. Vornhäuser, Gerh. Kittel; Fiebig. — (Es ist mir Historikerpflicht, hier auch eines Mannes zu gedenken, der zwar sehr wenig iiterarisch von sich gegeben hat, aber doch von großer Bedeutung für die Entstehung oder Entwicklung der „religions­ geschichtlichen Schule" (der Harne scheint von ihm zu stammen) gewesen ist, ich meine A. Eichhorn, wie ich oben auf die Bedeutung des verschollenen Lehmus für die „Erlanger" hinwies, so hier auf diejenige Eichhorns (vgl. h. Greßmann, Albert Eichhorn und die religionsgeschichtliche Schule, 1914). Eichhorn lebte zuletzt in geistiger Umnachtung (gest. 1926). Er war in Göttingen, Halle, Kiel von jungen Jahren an ein „Anreger" für fast alle die Männer, die seit etwa 1885 für eine Ausweitung des Blicks bei den Problemen des NTs eintraten. Selbst war er von Lagarde angeregt. Im Anfang handelte es sich noch weniger um vergleiche zwischen dem NT und der hellenistischen Umwelt, als um Befreiung des NTs von bloß literarischer Betrachtung, gar bloß solcher „Kritik" (Autorfragen u. dgl.). Das „religiöse" wollen und Leben, das „Geschehnis" und sein „Sinn" sollten in den Vordergrund treten. Das hat dann immer weiter geführt. In Eichhorn regte sich zuerst unter Mtschls „Schülern" der Widerspruch gegen ihn (wie es dann zu geschehen pflegt, unter Mißver­ ständnissen). Ritschl war nicht so „dogmatisch" als Cxeget, wie Eichhorn ihn empfand. Der wirklich „undogmatische", aber auch gedanklich „zuchtlose" (systematisch ungebildete) Lagarde hatte diesen zu sehr gefangen. Er war, nach dem Seugnis aller seiner Freunde und „Schüler", ein sprühend lebendiger Geist, voller „Einfälle" und mit echtem historischem (psychologischem usw.) Sinn be­ gabt. vousset, Gunkel, wrede (die sich zumal auch auf Wellhausen und harnack zurückführen) traten „neben" ihn, ihre eigenen Ideen ihm besonders gern zur Kritik „unterstellend". Früh hat man angefangen, über das Verhältnis von

78

Allgemeine Religionsgeschichte.

Cdv. Lehmann, H. Söderblom

die überreichen Ergebnisse, die schier unerschöpfliche Fülle von mindestens sich aufdrängenden neuen Problemen, dazu der gewiß oft noch zweifel­ hafte, im ganzen doch unverkennbare Nachweis von Zusammenhängen, die Frage nach der Bedeutung der „Geschichte" für den „Glauben"

vollends brennend. 3um Teil sind ja Zweifel aufgetaucht, ob Jesus überhaupt eine geschichtliche Person gewesen ist. Kein wirklich bedeutender Philolog oder Historiker wäre da doch zu nennen. Lin L d. Meyer hat sich fast überraschend konservativ den neutestamentlichen Duellen gegenüber gestellt. Überwiegend wuchs auch gerade bei den Vergleichungen der Eindruck einer Einzigartigkeit Jesu, der geistigen Größe des Paulus, überhaupt von der „Bibel" als einem weltgeschichtlichen „Schatze". Der Religionsvergleichung bzw. der eindringlichen Erforschung aller erreichbaren historischen Religionen, der primitiven so gut wie der Kulturreligionen wird je länger je mehr Studium zugewendet. Seit Fr. Lreuzers (gest. 1858) „Symbolik und Mythologie der alten Völker" (1807 ff.) war das Interesse geweckt. Aber der wirklichen Forscher waren doch erst wenige. (Man darf auch hier Ferd. Ehr. Baur nennen, der mit dem Werke „Symbolik und Mythologie oder [sic!] die Naturreligion des Altertums", 3 Bde, 1824/125 begann und von da auf das „manichäische Religionssystem" 1831 und die „christl. Gnosis" 1835, kam). So ist zunächst in Deutschland weniger geleistet worden als in anderen Ländern. Doch gehört der Deutsche Max Müller [gest. 1900; in Dxford, Indologe] zu den Bahnbrechern der echten Großforschung. Und in der deutschen Schweiz hat man relativ früh die „Religions­ geschichte" unter die regelmäßigen theologischen Kollegien ausgenommen (Joh. Georg Müller in Basel [gest. 1875], seit 1834; Bieder­ mann in Zürich seit 1866; v. Drelli [gest. 1912]). Sind Sprachforscher und Ethnologen bei uns lange die hauptträger der Forschung gewesen, die „Mythen" der Hauptgegenstand, so sind mit der Zeit auch die Theologen mannigfach mit herangetreten an die Arbeit und haben wesentlich geholfen, den Gesichtskreis der Forscher zu erweitern, wir

dürfen uns freuen, daß die Schweden Ldv. Lehmann undN. Söder blom in Deutschland theologische Lehrstühle innegehabt haben, von Holland her, wo die staatlichen Universitäten statt der „theologischen" einfach „religionsgeschichtliche" Fakultäten haben, ist uns durch Thantepie de la Saussaye (gest. 1920) das erste eigentliche „Lehrbuch der vergleichenden

Religionsgeschichte"

in deutscher Sprache bescheert

Theologie und Religionsgeschichte prinzipiell zu reflektieren. Lagarde wollte eigentlich die ganze Theologie in allgemeine „Religionswissenschaft" umwandeln. Eichhorn hat wohl dasselbe Ziel vor Augen. M. Reisch le (Theologie u. Religionsgeschichte, 1904), ebenso T. Llemen (D. religionsgesch. Methode in d. Theol. 1904) haben ernüchtert.

Religionsgeschichte, Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophi«

79

worden (1887); es ist, in immer weiter durchgeführter Spezialisierung von Theologen und Ethnologen, jetzt in 4. Auflage (zwei umfang­

reichen Bänden, 1925) herausgegeben, vonA.Bertholet undEdo.Leh-

Wie die beiden soeben ge­ nannten sind von der Theologie her in die Sonderforschung einge­ treten Gelehrte wie Beth, T. Tlemen, h. Haas, 3- W. Hauer, A. und $. Jeremias, h. W. Schomerus u. a. Der rein historischen Arbeit geht, wieder rund etwa seit 1890, ein Aufblühen, ja eine über­ raschend mannigfaltige Entwicklung der Keligionsphilosophie, auch der Geschichtsphilosophie, zur Seite. Noch haben sich beide Denk- oder Snteresserichtungen nicht so zusammengefunden, wie man vermuten möchte und wie für die Zukunft, früher oder später, zu er­ warten steht. Vie Geschichtsphilosophie, deren bedeutsamster Ver­ treter doch W. viltheq (gest. 1911) ist, hat zwar schon Fühlung ge­ mann zu einen Standard werk erhoben.

wonnen mit der Religions Philosophie, aber letztere noch nicht ebenso mit jener. Und jene wieder, ebenso wie die Religionsphilosophie, weiß die Religionsgeschichte in der Vielfältigkeit bzw. inneren Unter­ schiedlichkeit der Erscheinungen „der" Religion, die sie zeigt, noch nicht sicher anzufassen, empfindet das Problem dieser „Geschichte" noch nicht recht (man wird das auch trotz W. Wundt [gest 1920] sagen müssen), vilthey hat für die Philosophie, die letzte Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, nämlich Weltanschauung zu vermitteln, den Begriff des „Lebens" in Geltung zu setzen gesucht. 3rre ich nicht, so geht es auf ihn zurück, wenn im Denken der neuesten Zeit bei uns das Schlagwort (nicht mehr so sehr „Erfahrung", als) „Erleben", das Staunen vor, das haschen nach dem „Erlebnis" eine so große Rolle spielt. Seine Philo­ sophie des Lebens ist — im Unterschied von derjenigen des auch bei uns vielbeachteten Franzosen Bergson, dem die „Natur", das „All" im Vordergrund seines Interesses steht und Gegenstand des Belauschens, Einfühlens, Eindenkens ist - eine Philosophie des „Geistes", der Offenbarungen seiner Krt in spezifischen „Schöpfungen", in öer Kultur, viltheqs feinste Leistungen sind doch seine einzelnen Geschichtsanalqsen! Der Mann, der damit begann, ein „Leben Schleiermachers" zu schreiben hat ja natürlich auch die Religion beachtet, aber doch nur als „eine" der ihm geschichtlich entgegengetretenen Weisen, das „Leben" zu deuten und zu bewerten, was die einzelnen zahlreichen Philosophen von der Religion sagen und halten zu dürfen gemeint, habe ich hier nicht zu verfolgen. Es ist ein merkwürdiges Stimmengewirr; der Einzel­ stimme zu lauschen (einem Siebeck, Eucken, Cohen, Natorp,

Windelband, Simmel, h. Maier, Mehlis, h. Schwarz usw. zuzuhören), gewährt dem Theologen Gewinn und oft seelische Stärkung. Und doch bleibt der Eindruck, daß er - man verzeihe das Wort —

80

Die Ritschlianer.

W. Herrmann

Dilettanten, „Laien", über die Religion sprechen höre. Jeder folgt einem persönlichen Eindruck, von einer klaren, bewußten, gar von einer geprüften Methode ist kaum zu reden. Hm ehesten wird man letzteres Urteil einschränken dürfen, wo man Werken der Religions­ psychologie begegnet. Aber auch da stößt der Theologe noch allzu­ sehr auf Grenzen der Möglichkeit, sich zu verständigen, d. h. mit den Philosophen wissenschaftlich unmittelbar zusammen zu arbeiten.

Ich habe gemeint, diese Skizze der Zusammenhänge - nicht mit den allgemeinen Strömungen, Stimmungen, Ansprüchen der Zeit: da wäre ja noch vieles zu sagen, sondern — mit unmittelbar angrenzendem, fachwissenschaftlichem Forschen und Denken, in welchen die theologischen Systematiker seit (1885) 1890 zu arbeiten hatten, voranschicken zu sollen, ehe ich an das herantrete, was diese „Systematiker" geleistet haben, soweit sie entweder „Ritschlianer" waren oder sich spezifisch zur „religionsgeschichtlichen" Schule hielten. A. Unter den Theologen, die es sich nicht verhehlten, im Gegen­ teil ausdrücklich betonten, von Ritsch! entscheidende Eindrücke ausge­ nommen zu haben, diese doch durchaus selbständig verarbeiteten, ab­ klärten und an Problemen, die Ritschl selbst noch beiseite gelaßen, die weitere Probe bestehen ließen, hat Wilhelm Herrmann (gest. 1922) zuerst in starkem Maße die Blicke auf sich gezogen (durch sein Werk

„Die Religion in ihrem Verhältnis zum Welterkennen und zur Sitt­ lichkeit", 1879), und er hat unter ihnen als Systematiker und akade­ mischer Lehrer den angesehensten Namen gewonnen?) An Herrmanns x) Rach seinem Tode hat man gemeint, ihn als „ersten Akademiker", der Ritschl „Gefolgschaft gelobte", bezeichnen zu müssen. Ritschl habe bis dahin noch wenig Eindruck gemacht und sei von ihm erst „entdeckt". Seit 1875, wo Herrmann in Halle Privatdozent wurde, habe es eine „Ritschlsche Schule" ge­ geben. Dem muß ich aus eigenem Miterleben jener 5eit widersprechen. Ritschl war längst, seit der zweiten (erst „reifen") Ausgabe seiner „Entstehung der alt­ katholischen Kirche" (1857) ein hochangesehener, auch theologisch einflußreicher Mann, der anerkannt bedeutsamste Bekämpfer der „Tübinger Schule". Man er­ wartete von ihm auch als Systematiker irgendwie Überraschendes und fand das bestätigt, als seine „Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" erschien. Der erste, noch bloß „Geschichte" bietende Teil (1870) trat nicht sofort in seiner Bedeutsamkeit hervor. Um so mehr alsbald die beiden weiteren (1874 zu­ sammen erschienenen) Teile, die den „biblischen Stoff" und die „positive Ent­ wicklung" der Lehre gewährten. In Göttingen war Ritschl gerade auch als Systematiker von hellköpfigen jungen Theologen bereits „entdeckt". So von Max Besser, der seit 1871 in Halle dozierte, auf uns, Herrmann, Gott­ schick und mich, im freundschaftlichen Verkehr großen Eindruck machte und der geradezu für Ritschl warb. Ist ein Einzelner der „Gründer" der Ritschlschen Schule, so ist es Besser (gest. 1900). Dieser selbst hochbegabte Mann ist durch

Herrmanns Schätzung der Person Christi verglichen mit Ritschl's

gi

Theologie ist in der Tat das Charakteristische, daß er wie Ritschl Kants Vernunftkritik sich zu eigen macht, nicht minder wie er überall das

Sittliche im Rüge hat, schließlich die Person Jesu als die einheitliche Offenbarung Gottes bewertet. V Das Letztere muß bei einer Übersicht über Herrmanns reifge­ wordenes wiffenschaftliches Denken (wofür etwa sein Werk „Verkehr des Christen mit Gott", 1886, 51908, als der „Zeitpunkt" anzusehen

ist) vorangestellt werden.

Ruf diesem Punkte ist er am sichersten als

Systematiker von Ritschl bestimmt. Und er ist doch auch in bestimmtem Maße über ihn hinausgegangen. Denn Herrmann ist als Theolog in stärkerem oder bewußterem Rlatze auf das „Personhafte" an Christus aufmerksam gewesen, als Ritschl. Letzterer entnahm den Evangelien den Gedanken vom Gottesreich als ersten Leitgedanken der Besinnung des Theologen und gab damit seiner Darstellung der christlichen Lehre (seinem „Unterricht in der christlichen Religion", wie er - Calvins Titel für das Hauptwerk, das dieser geschaffen, verdeutschend - seine übersichtliche Darstellung des „Ganzen" nannte) eine „moralistisch" an­ mutende Note. Zur Bewertung der Person Christi gelangte er auf dem Wege über den Berufsgedanken, indem er seine Deutung ihrer Rrt als „Offenbarung" auf die Beachtung ihrer Stellung innerhalb des „Reiches Gottes" gründet. Christus habe den „Beruf", dieses Reich in der Ge­ schichte aufzurichten. Ritschl betont, daß dieses als „sittliche Gemein­ schaft" zu verstehende Reich seinen eigentlichen Mittelpunkt und halt an Gott selbst, dem Herrn der Welt habe, der in dieser Gemeinschaft sein Ziel sehe. So würdigt er Christus als den geschichtlichen Repräsen­ tanten, letzlich das Bild Gottes vor den Menschen, also religiös. Er sieht in Christus keineswegs bloß einen „Propheten", einen Ver­ künder der „Gedanken" oder des „Willens" Gottes, sondern den, der, sich selbst als Messias verstehend, in seinem Berufe Gott dar stellt, Gottes Kraft als eigene, als in ihm wirksame spürend, Gott als den Herrn der Welt zur Geltung bringt, dem „Weltzweck" Gottes die Ver­ wirklichung sichert. Ritschl nimmt ausdrücklich für die religiöse Ruf­ fassung Christi den Gedanken von der Ruferstehung und Erhöhung des­ selben hinzu. Dennoch bleibt etwas von „Unlebendigkeit" in seiner weise, den Gedanken von „Gott in Christo" klarzumachen, übrig. Und da überbietet ihn Herrmann, der direkter, wo er von der „Entstehung" Kränklichkeit gezwungen gewesen, die akademische Lehrtätigkeit früh aufzugeben, überhaupt der aktiven Mitbeteiligung an der Theologie (er war Systematiker,achtete schon spezifisch auf die „Religionsgeschichte", hat in Halle die erste Vor­ lesung darüber gehalten) sich zu entziehen. Ruch er ist verschollen, wie Lehmus und Eichhorn, und ist doch, wie sie, zweifellos für die Geschichte unserer Theologie von Bedeutung gewesen. Uattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie. 6. flufL

6

82

Herrmanns (vffenbarungsidee

oder dem entscheidenden „halte" (dem „Grunde") des Glaubens an „Gott" („der Religion") spricht, den einzelnen Menschen der Gegenwart auf „Jesus Christus" als der ihm eben heute vor das Auge trete, ver­

weist und ihn, in seinem Tasten nach der letzten „Wirklichkeit", un­ mittelbar „in" Christo Gott geistig zu erfassen anleitet, was bei Ritsch! den

Anstrich bloßer Reflexion über den geschichtlichen Christus, einer ab­ strakten Theorie in Hinsicht seiner haben kann, tritt bei Herrmann tvie eine Intuition auf, so sehr, daß man gewissermaßen von Lhristusmqstik bei ihm sprechen kann, hier ist bei Herrmann der Einfluß, den Tholuck (der Prediger!) auf ihn geübt, zu erkennen. Auch Ritschl blickt auf Christus in Ehrfurcht, war der Andacht vor ihm erschloßen, hatte aber doch Kaum ein anderes Verhältnis „des Christen" zu ihm im

Sinn, als das des Gemeindeglieds zum Gemeindehaupt: Herrmann empfand das Niederwerfende und Empor helfende, das „ganz Andere", wie man sich neuerdings ausdrückt, an der „Person" in ihm. — 2. Damit hängt es dann zusammen, daß Herrmann das Problem von „Glauben und Geschichte" anders empfindet als Ritschl. Nicht als ob er „kritischer" gewesen, als dieser (eher umgekehrt), aber er fühlt sich „ver­ antwortlicher" angesichts ihrer. Auch er zieht, wie Ritschl, wo er den einzelnen Gläubigen sich vergegenwärtigt, die „Gemeinde Christi'' (die Rirche) als dessen Hintergrund in Betracht, er betont oft, daß auch er wiße, der einzelne Christ sei in einer unmeßbaren Weise bedingt durch,

getragen von dem, was ihm durch die Erziehung in dem Geschichts­ ganzen der „Christenheit" vermittelt worden. Aber wenn Ritschl solche Gedanken entwickelt, kann er den Eindruck erwecken, als ob er sich bei der „predigt" der „Rirche" beruhige, nur so, daß er als Theolog die Probe mache, ob sie auch der „Lehre der Bibel" entspreche, und da scheidet sich Herrmann von ihm. Für Herrmann ist „die Bibel" nur „eine" (gewiß Pietät fordernde und doch völlig „frei" aufzunehmende)

Art, wie „christlicher Glaube" sich aus spricht.

Zuletzt tritt jeder als

nur er vor die Entscheidung zum Glauben oder Unglauben. Kein Theolog der Gegenwart fordert so streng, so unbedingt, wie er die „Wahrhaftig­ keit" eines jeden heraus, ehe oder wenn er sich zu Gott stelle. Seine

immer erneute Formel lautet dann aber dahin, daß der sittlich völlig ernste INensch von dem Eindrücke der Person Christi innerlich „be­ zwungen" werde und dadurch den Mut zum Glauben an Gott finde, wer ganz wahr gegen sich selbst sei und sich vor der Wirklichkeit, die ihm in Jesus aufleuchte, „beuge", der könne gar nicht umhin, diesen als „Offenbarung" des lebendigen Gottes zu erkennen. Herrmann ist darin zutiefst Kantianer, daß er „das Gute" wie eine unmittelbare Vernunftidee, ein Apriori aller echten Menschenhaftigkeit, empfindet. Als „freies" Wesen Kann der Mensch sich dem Sittengesetz versagen, muß

Das Pathos der Monotonie Herrmanns

83

er sich ihm, um ihm gerecht zu werden, erst willentlich erschließen und ergeben. Er Komme dabei, wenn er „wahrhaftig" sei, in die qualvollste Not mit sich selbst, seinem „natürlichen" Wesen, seiner Sinnlichkeit, seiner Selbstsucht. Aber gerade dann könne er dazu gelangen, es zu ver­ stehen und zu würdigen, was Jesus ihm als geschichtliche Person vor Augen rücke: das Gute als nicht bloß ein Ideal, nein, schlichte, unwidersprechliche Tatsächlichkeit. Er sehe da, daß „das Gute" die „Liebe" sei und als solche die unerschütterliche letzte Gewalt über alles, eine Zuflucht gerade in der höchsten Hot des „wahrhaften"

Menschen, der um sich selbst, sein hindurchdringen zur wahren Menschenhaftigkeit ringe. So werde ihm Jesus zur innerlich unmittelbar aufleuchtenden Selbstbezeugung „Gottes". Wer die Person Jesu in ihrer nicht mißzuverstehenden Wesenheit auf sich wirken lasse, gelange auf den Punkt, wo es ihm möglich, ja sittlich unausweichlich werde, Gott im Glauben zu erfassen, ihn als die letzte Wirklichkeit über

dem Weltganzen im Geiste zu sehen. - 5, Herrmann ist einer von den Denkern gewesen, die eigentlich nur ein Problem kennen und von einem einzigen großen Gedanken ein Leben lang persönlich zehren, und anderen Kunde zu geben als ihre Aufgabe, ihre Pflicht empfinden. Mit einer genial zu nennenden Fähigkeit, immer pathetisch zu sein, ohne je phrasen­ haft zu werden, hat er im Grunde immer nur davon geredet und ge­ schrieben, was Glaube „sei", wie er „entstehe", seine Echtheit bewähre und bewahre, frei bleibe und sich doch gebunden, getragen wisse von „Gott in Christo", sich auswirke Gott und Menschen (vor allem Gott)

gegenüber in Gehorsam und Zuversicht im Leben und Sterben. Vie letzte Form seiner Vorlesungen über „Dogmatik", die nach seinem Tode herausgegeben worden (1925), zeigt deutlich Herrmanns, man wolle den

Ausdruck nicht mißverstehen: monotone Art von Lehre; gerade in dieser Art, die doch nicht ermüdet, da sie wie Glockenklang ans herz, an den Willen herandringt, lag das Geheimnis der Macht über die Ge­ müter der Jugend, die er als Lehrer geübt. Jeder mußte ihn zuletzt verstehen und begreifen, um wie hohes es gehe. Daß das „innere Leben" des „geschichtlichen" Jesus als des Christus in unzweideutiger

Klarheit und in sich selbst verbürgter Wahrhaftigkeit unverrückbar dem gegeben sei, der es im NT beachten wolle, stand Herrmann so fest, daß er Zweifel daran einfach nicht für möglich gehalten hat. Alles historische Detail des „Lebens Jesu" übergab er der rücksichtslosen Forschung, persönlich wohl auch da sorglos, daß das „Wesentliche" sich durch die „Kritik" wohl vielleicht mal einen Augenblick verdecken lasse, nicht aber je als „Dichtung" (Mythus, Phantasie, „Dogma") entlarvt zu werden Gefahr lause. Ihm lag nur daran, den weg „zum" Glau­ ben zu zeigen, nämlich

darzutun, daß es nur den gebe, der über 6*

84

Gedanke vom Glauben und Gedanken des Glaubens bei Herrmann

Christus zu Gott führe. Der Glaube erzeuge dann vielerlei Gedanken über Gott, im Grunde in jedem Menschen, zumal auch in jedem Theo­ logen „andere", individuelle, die doch im wesentlichen sich träfen.

Herrmann war wissenschaftlich stärker an der Ethik als an der Dogmatik interessiert, das begreift man. Der Begriff der „Offenbarung"

stand ihm nur in Beziehung zu dem, was den Glauben begründe, zu dem geschichtlich „hervorgetretenen", seither in jeder Zeit und für jeden sittlichen Menschen gleich unmittelbar erkennbaren inneren Wesen Jesu, hat die Dogmatik die Gedanken „vom" Glauben und der Offen­ barung herausgearbeitet, so sind die Gedanken „des" Glaubens (sogar über Jesus selbst) zu sehr von der Individualität des dogmatisierenden Theologen, seiner religiösen Aufnahme- und Gestaltungsfähigkeit ab­ hängig, als daß Herrmann da nicht gefürchtet hätte, in Soliloquien zu verfallen. 3n der Cthik steht das anders. Da kommt ein Gesetz in Frage, das viele, alle, in „Anspruch" nimmt. 3m Glauben hat der

Mensch es nur mit Gott zu tun, ist er mit den anderen Gläubigen „einig", daß sie sich in ihm oder vor ihm begegnen und doch jeder alles mit „seinen" Augen sieht, in „seiner" Weise gedanklich formt. 3m sittlichen Leben gehören die Menschen zueinander, sind sie aufein­ ander angewiesen, bedürfen gemeinsamer Gedanken und „Belehrung". Alle die Gott gefunden haben (die „Kirche"), verweisen sich gegenseitig („belehren" so jeden, der Gott „sucht") auf Christus als immer (in Anfang, Mitte und Cnde) ihren „weg" und freuen sich der „Gemein­ samkeit" des Wegs.

Sem Verständnis des Glaubens ließ Herrmann

alle Religionsphilosophie, die spekulative Ausführung, gar Recht­ fertigung des Gottesglaubens sein wolle, belächeln, ja verspotten. Durch ihn wohl ist Ritschl erst zu der Erkenntnis gekommen, daß Theologie und „Metaphysik" zweierlei Ding sei, daß Gott nicht als „das Absolute" wissenschaftlich zu beschreiben sei. Für Herrmann ist Gottesgewißheit so sehr ein Akt persönlicher Hingebung an eine persönlich gewonnene, niemandem demonstrierbare „Offenbarung" von „Wirklichkeit", daß er überzeugt war, die Philosophie „müsse" die ganze Gottesfrage auf sich beruhen lassen. Den Gläubigen könne sie weder stärken, noch an­ fechten. Alle echte Religion wisse sich als unbeweisbar und unwider­ legbar, sie bedeute nie „Willkür", begreife sich aber als sittlichen Freiheitsakt, nämlich als innere Erschließung für ein „Erlebnis", das als

Einbildung zu beargwöhnen der Wahrheitssinn verwehre. 3n bezug auf die Religion wandte Herrmann sich von Kant ab. (Es handelt sich für ihn beim Gottesgedanken nicht um ein „Postulat" der „praktischen Vernunft", sondern um das Auf strahl en einer ungeahnten „Wirk­ lichkeit". Er hat neben Ritschl (und Kant als „Kritiker") stets Sch lei er­

wach er in höchsten Ehren gehalten.

Etwas von dem Seherhaften in

Gottesgewitzheit und Philosophie,

H. Schultz

85

dessen „Reben" ist auf ihn übergegangen. Wie Schleiermacher es sich nie nehmen ließ - auch durch seine Philosophie nicht —, daß das schlechthinige Rbhängigkeitsgefühl etwas wirkliches, das nicht die Welt sei, d. h. „Gott", bemerke, so Herrmann, daß der Glaube gewiß sei, nicht von einer Illusion befangen zu sein. Schleiermacher war es

wohl, der Herrmann vom Rutoritäts glauben befreite, ihm verständlich machte, daß kein Gläubiger von dem lebe, was „andere" erlebt haben, daß man nicht „nachglauben" dürfe oder auch nur könne, was Gläu­ bige glaubten, wohl aber sich von ihnen sagen lassen könne und solle, woraufhin sie „glaubten". Insoweit hat Herrmann als Dogmatiker

auch von Schleiermacher die Riethode der Selbstbesinnung ange­ nommen. Und doch war er nicht Schleiermacherianer. Denn ihm stand vor Rügen, daß nicht das Universum, seine Schönheit und Gestaltenfülle, sondern „nur" Jesus, seine sittlich beugende und aufrichtende Lieb es Hoheit den „Sinn" wecke für den tragenden Grund alles Seins, den wirklichen Gott. Diese Wendung verdankte er Ritschl. Eine ganze Reihe von Männern ist neben Herrmann zu nennen, die sich mehr oder weniger Ritschl verpflichtet fühlten und, zumal in den langen Jahren eines zum Teil höchst unerquicklichen Kampfes der „alten" Schulen wider ihn, es nicht ablehnten, als „Ritsch li an er"

bezeichnet zu werden. Der älteste unter ihnen, der am meisten das Recht gehabt hätte, nicht mit Ritschl zusammengefaßt zu werden, war Hermann Schultz (gest. 1903). Er ist im Grunde noch Schleier­ macherianer in der Weise, wie er, nachdrücklicher als auch Herrmann, die Selbstbesinnung des Glaubens als die Methode des theologischen Systematikers hinstellt. Mit Ritschl begegnete er sich in der betonten Konzentrierung der theologischen Probleme um die Person Christi. Er hat in seinem Hauptwerk, der „Lehre von derGottheit Christi" (1881), schon

titelmäßig angedeutet, daß ihm der „Glaube an Christus" das wesent­ liche der vollendeten Religion sei. Da liegt seine Differenz zu Schleier­ macher und dagegen seine spezifische Berührung mit Ritschl. Schleier­ macher fand in Christus nicht den objektiv en Grund für das schlecht­ hinige Rbhängigkeitsgefühl, sondern die deutlichste, packende Rusprägung desselben in seiner Klarheit und Fülle, dazu mit der speziellen Temperamentsnuance, die der von ihm gestifteten „Gemeinde" ihr historisches Sondergepräge (gegenüber dem Muhammedanismus) ge­ geben habe. Ruch seine „Glaubenslehre" ist christozentrisch, aber im Sinne der psychologisch-hi st arischen (Orientierung über das „Christen­ tum". Schultz, wie Ritschl und Herrmann, üben eine unmittelbar reli­ giöse Betrachtung Christi. Für Schleiermacher ist Christus nicht selbst Gegenstand des Glaubens, sondern das Urbild der Seelenbeschaffen­ heit eines Gläubigen. Ihm ist Christus „der" gotterfüllte Mensch,

86

Vie andern Ritschlianer

für Schultz, Ritschl, Herrmann, Gott wie er an „einem" Menschen die Darstellung seiner selbst hat. Mit Schleiermacher (man kann auch sagen: mit der Orthodoxie) begegnet sich Schultz dann doch wieder, indem er die „heils"offenbarung Gottes (gegenüber der „Sünde") löst von dem „allgemeinen" Gedanken der Bezeugtheit Gottes für den Glauben.

In­

sonderheit unterscheidet ihn das von Herrmann. Dabei empfand er stärker als Ritschl und auch Herrmann die Problematik an dem Jesus der „Geschichte". (Es erinnert an Kähler, wie scharf er in der Idee einen Doppelchristus unterscheidet. Er setzt den Fall, daß der „Histo­ riker" urteile, es lasse sich nicht mehr „feststellen", wer Jesus war, der „Gläubige" braucht dadurch nicht beirrt zu werden: auch der für das

Wissen verschollene Jesus wäre dem Glauben verbürgt als der Christus, dessen lebendige Wirklichkeit sich je und je in der predigt von ihm bewährt habe. (Der Unterschied zwischen Schultz und Kähler ist der, daß letzterer Jesus erst durch die Auferstehung „ganz" zum Christus im Sinne seiner Kraft geworden sein läßt, deshalb den „historischen Jesus" als noch „bloß" solchen vom „geschichtlichen Christus" des Glaubens abrückt, ersterer alles, was das „Werden" Jesu zum Christus betrifft, oder die Geschehnisse in seinem Leben, der reinen Historie zuschreibt und das „fertige" Total bild, das was er „bedeutet", als erhaben über die etwaigen Ansprüche einer „Biographie" ansieht). Im engeren Sinne als Ritschlianer gelten außer Herrmann, wesent­ lich - um die verstorbenen vorab zu nennen -: I. Gottschick (gest. 1907), p. Lobstein (gest. 1921), Julius Kaftan (gest. 1926), des

weiteren Th. Häring, h. h. Wendt; mich selbst habe ich ja auch hier zu nennen. Eine Spanne jünger waren (sind): M. Reisch le (gest.

1905, es ist ihm nicht beschieden gewesen, bis zur vollen Entfaltung seines Könnens zu wirken), p. Drews (gest. 1912, der gelehrteste und ideenhafteste unter den sog. praktischen Theologen seiner Zeit), S. Eck (gest. 1919); E. w. Mayer, (v. Ritschl, Fr. Traub. Auch (0. Kirn (gest. 1911), G. v. Schultheß-Rechberg (gest. 1916), daneben M. Schulze, K. Thieme, Eb. Vischer; bzw. um der wissenschaftlich hervorgetretenen Männer im geistlichen Amte nichtzuvergessen: w. Bornemann, E. Förster, herm. Scholz stehen Ritschl so nahe, daß sie hier zu nennen sind. Jeder dieser Theologen hat Eigenart und Sonderbeziehungen durch die Art seines persönlichen Entwicklungsgangs und seines Spezialinteresses. Die „ältesten" waren, ehe Ritschl sie „gewann", durch die Erlanger Schule oder die der Vermittlungstheologen (in Halle, Tübingen, Berlin) hindurchgegangen und hielten davon empfangene Ein­

drücke fest. Bemerkenswert ist, daß keiner ähnlich Beziehungen zu „liberalen" Theologen gehabt; das ist wohl nicht bloßer Zufall. Sicher darf man von einer „Ritschlschen (oder Göttinger) Schule" sprechen. Und

Die Ritschlsche Schule

87

doch ist der Ausdruck nicht so zu verstehen wie z. B. der analoge „Tübinger Schule". Bei letzterer war es die ganz spezifische These, die F. Chr.

Baur über das Urchristentum und seine Parteien aufgestellt hatte, welche die Grundlage bildete. (Eine solche (Einzelthese hat Ritschl nicht geboten, zutiefst (wissenschaftlich) vielmehr nur eine andere Methode, als die „drei Schulen" befolgt. (Et befreite in Einem von Schleier­ macher und Hegel, ohne doch „hinter" sie zurückzulenken und ohne zu verkennen, daß von beiden doch zu lernen „gewesen" und in bestimmten Beziehungen auch weiterhin zu lernen sei: die allerwenigsten jungen Theologen, die sich ihm anschlossen und die ich nannte, waren seine „Zuhörer" gewesen. (Es war im Beginn der siebziger Jahre eine Art hunger nach was „Anderem", als die drei Schulen gaben, entstanden. Und Ritschl gab - darin gleicht er Schleiermacher - „vielerlei", will sagen: er bot den Exegeten, den Dogmen- und Kirchenhistorikern, den Systematikern, den Praktikern, kurz in allen Fächern Anregungen zu einer Fülle von neuen Thematen. (Es ist doch kein Zufall, daß auch ein A. harnack sich gerade ihm erschloß und nie etwas dagegen einge­ wendet hat, ein „Ritschlianer" genannt zu werden, so sehr gerade er in seiner eigenen Weise (vergleichbar mit I. Wellhausen) ein Neues pflügte. Sein und übrigens doch auch Ritschls persönlicher Schüler ist F. Loofs. Indes es ist ja ziemlich gleichgültig, ob oder wieweit sich der einzelne erst durch „Vermittlung", etwa in Gießen oder Marburg (wo zuerst [feit 1878] „Ritschlianer" Lehrstühle einnahmen), zu Ritschl hin­ fand. Namen aus dem sich so erweiternden — natürlich auch sich teilenden - Kreis werden hernach zu nennen sein. EigentlicheNachtretet hat Ritschl nicht gehabt. Was diejenigen dauernd geeinigt hat, die man seine Schule nennen darf, ist vorab ihr Verständnis für den praktischen Charakter aller religiösen Gedanken. Um hier mal den Ausdruck zu brauchen, den Ritschl verwendete und der so viel Staub aufgewirbelt hat, so ist es die Erkenntnis, daß alle entscheidenden dog­ matischen Sätze „Werturteile" darstellten, die die „Ritschlianer" leitet. Gemeint ist der Ausdruck nicht als Gegensatz zu „Sei ns urteilen (Existentialsätzen), sondern zu bloßen W i s s e n § urteilen (uninteressierten Ge­ dankenbildungen). vielleicht hätte Ritschl sich h. Maiers Unterscheidung

von „kognitivem" und „emotionalem" Denken angeeignet, wenn Maiers Buch schon vorgelegen hätte. (So mag Maier vielmehr umgekehrt durch Ritschls lherrmanns] Art, die religiösen sethischenf Gedanken zu erfassen bzw. zu charakterisieren, beeinflußt sein). Zu den eindrucksvollsten Momenten in Ritschls „Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" gehörte die Erneuerung der Lehre Luthers von der „Freiheit eines Ehristenmenschen", seiner „Herrschaft über alle Dinge" im Sinne des

Paulus.

Ritschl setzte der Theologie, als der Lehre von Gott, da ihre

88

Stellung zur Metaphysik.

Harnacks vogmengeschichte

Grenze, wo Gedanken über (Bott auftauchten, die nicht in jenem von Luther hervorgehobenen Gewinne des Glaubens sich erproben lietzen. von dieser Idee aus kämpfte er wider die „Metaphysik in der Theo­ logie". Nicht alle Ritschlianer haben seine Ablehnung jeder Art von Metaphysik mitvertreten, (wobei hier auf sich beruhen mag, ob Nitschl,

nicht durch Herrmann nur zu einer Überschärfung seines Gedankens geführt worden, und ob nicht Herrmann Kants „philosophische" Be­ grenzung der „Vernunft", die ja in keiner Weise „religiös" begründet war, als Theolog überwertet hat). Alle Ritschlianer erstreben mit Ritschl die Ausschaltung jeder „bloßen" Spekulation über Gott und die Welt, das „Sein", aus der Theologie. Ihr „positiver" Gegensatz ist nicht so sehr Schleiermacher, als Hegel. Mit jenem teilen sie die Ver­

gegenwärtigung der Religion als einer geistigen Haltung sui generis, der das „Denken", das rationale Theoretisieren, im letzten „Grunde" nichts anhaben könne, von ihm scheiden sie sich durch die Ab­ lehnung der rein kognitiven Gedankenbildungen auch oder gerade auf der „höhe" der Zuversicht der „Religion", des Glaubens, zu sich selbst, von nicht geringer Bedeutung ist dabei, daß die Dogmengeschichte durch Ritschl schon und dann vollends im Großen durch A. harnack von dem in Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie geschaffenen Schimmer und Schein einer immanenten Selbstentfaltung und Selbstbe­ reinigung des ideenmäßigen Glaubensgehaltes entkleidet wurde. Die „Kirchenlehre" ist im Grunde zur Zeit allen Theologen weder mehr, wie einem Strauß oder Biedermann (pfleiderer), die „vorstellungsmätzige",

volkstümliche vorform der von der Philosophie schon geschaffenen, vollends weiterhin zu erhoffenden reinen, „begrifflichen" Ausgestaltung der Gottes­ idee, noch auch, wie einem Thomastus oder (nur nicht so „bekenntnis­ mäßig" fixiert, gar sozusagen skandiert) einem Dörner, die stufenweis gelungene, relativ endgültige Festlegung des Glaubensinhalts, vorab die altkirchlichen Lehrbildungen, die auf den Konzilien der römisch-byzan­ tinischen Zeit geschaffenen „Dogmen", haben auf allen Seiten Einbuße erfahren an dem Gemüts werte, den sie in Anspruch nehmen durften, solange nicht ihre Abhängigkeit von der antiken Philosophie, ihr Komp r o m i ß charakter auf dem Boden des Denkens der „alten Welt" er­ kannt war. Ein h. Schultz und R. Seeberg bemühen sich (und haben darin recht!) festzustellen, daß die absolute Paradoxie der ab­ schließenden „kirchlichen" Formulierung des Dogmas von der Dreieinig­ keit Gottes und Gottmenschheit Christi das Glaubensproblem von Gott und Christus als solches (Problem einer Einheit in unauflös­ licher Unterschiedenheit!) korrekt vor Augen rücke, in diesem Sinne für die Theologie ein unveräußerliches Erbe bedeute. Aber das heißt dann, gerade auch für die beiden genannten Denker, daß das Problem in der

Weitere typische Ritschlianer

89

evangelischen Theologie mit neuen Gedankenmitteln angefatzt werden müsse. (Es ist der durchschlagende (Erfolg der harnackschen Ana­ lyse der allkirchlichen Dogmenbildung, der in dieser geschehenen „Hellemsierung" des Evangeliums, daß die Erkenntnis einer Notwendigkeit die Begriffe des Glaubens anders zu bilden allgemein wird. Die Besonderheiten der einzelnen Ritschlianer vorzuführen, darf ich mir nicht gestatten. (Es wäre, meine ich, nicht das richtige Urteil, daß Herrmann im wissenschaftlichen Zinn Kurzweg der hervorragendste unter ihnek sei. Nicht als ob andere ihn überragten, aber in der „vorderen" Reihe der „Schule" stehen mehrere mit ihm (so jedenfalls

Th. Häring und Jul. Kosten); seine Auszeichnung vor den übrigen hatte er im Sinne der Lehrwirksamkeit wie ein Tholuck, Neander,

Beck, Cremer u. a. je in ihrem Kreise. Herrmann hat eine sehr deut­ liche Schranke vielen der anderen gegenüber an zweierlei, der Begrenzt­ heit seiner Probleme und dem Mangel von historischem Interesse, um nicht zu sagen: historischem Sinn. In seiner Weise ein großer Theolog, hat er seine Bedeutung an der klaren Schärfe und Tiefe, in der er die Probleme, die ihn fesseln, aufgegriffen. Selbst in seiner „Ethik" (1901 u. ö.), die er lehrbuchmätzig und als System dargestellt hat,

zeigt er überwiegendes Interesse für die grundlegenden, die „prinzi­ piellen" Fragen, das Wesen des „sittlichen Denkens", die „Entstehung''

des christlichen Lebens in „Wiedergeburt" und „Bekehrung". Die kon­ kreten Probleme der Gestaltung des christlichen Lebens in der Welt treten dahinter zurück, so fein auch da alles ist, was er sagt. Das hängt unverkennbar damit zusammen, daß er, anders als Ritschl, kein Historiker war. Nicht nur, daß er sich von historischen „Untersuchungen" fernhielt; so sorgfältig er seinen Luther „las", er sah sich nur wie im Gespräch mit ihm, notierte sich mächtige Ausführungen bei ihm, um sie geltend zu machen zur Bekräftigung, auch zur Abklärung der Gedanken, die er selbst verfolgte. Die „Entwicklung" seiner Probleme war ihm nicht wichtig. Das ist nicht ohne weiteres ein Dorwurf wider ihn, nur ein Hinweis auf eine gewisse (Enge seines wissenschaftlichen Horizonts, wieviel umfassender spannte sich z. B. Gottschick den seinen, in ge­ schichtlichen Forschungen wie den „Studien zur versohnungslehre des Mittelalters" (sechs Aufsätze), und besonders Otto Ritschl in seiner

„Dogmengeschichte des Protestantismus". In anderer Weise entwickelt I. Kaftan an oder vielmehr aus der Geschichte („Religionsgeschichte") seine Gedanken. Nicht minder befruchtet E. W. Mayer die Probleme der Theologie durch sie (die universale Geschichte des Ethos und der ethischen Lehren. Seine „Ethik", 1922, hat daran ihre charakteristische Sondernote). Gottschick, Häring, Kaftan, Wendt, neben Herr­

mann, die Vertreter der die „Schule" bildenden Generation in literari-

90

Kaftan.

Häring.

Wendt

scher Ausführung der (systematischen) Gesamtdisziplin, verwenden, anders

als jener, auf die Spezialprobleme der christlichen Weltanschauung keine geringere Mühe als auf die „prolegomena". Es handelt sich da

nicht um den Geschmack des einzelnen Theologen und die freie Wahl seiner Themata, die jeder Forscher hat, sondern um ein Notwendiges in der Sache. Herrmanns richtiger und mit vollem Rechte betonter Gedanke, daß der Glaube, einmal entstanden und seines wahren