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German Pages [232] Year 1969
Friedrich Wintzer Die Homiletik seit Schleiermacher
Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick
BAND 6
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der 'dialektischen Theologie' in Grundzügen von FRIEDRICH WINTZER
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. — © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969. — Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das B U C H oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert Sc Co., Göttingen
Vorwort Die hier vorgelegte Untersuchung wurde im Januar 1968 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Habilitationsschrift für das Fachgebiet der Praktischen Theologie angenommen; sie erscheint in kaum veränderter Gestalt. Mein Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die in entgegenkommender Weise die Veröffentlichung dieser Arbeit unterstützt hat, sowie Herrn Prof. D. Martin Fischer und Herrn D. Robert Frick, die sie in die Reihe der Arbeiten zur Pastoraltheologie aufgenommen haben. Insbesondere danke ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. D.Dr. Martin Doerne, der mir in den letzten Jahren vielfältige Anregungen gegeben und den Fortgang dieser Arbeit bis zur Drucklegung mit Anteilnahme und Interesse begleitet hat. Werleshausen/Nordhessen, am 1. November 1968 Friedrich Wintzer
Inhalt Vorwort Einleitung
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A. Die Homiletik im 19. Jahrhundert seit Schleiermadier 1. Schleiermadiers gottesdienstliche Integration der Predigt im Zusammenhang mit der Theorie der Darstellung a) Schleiermachers Aufgabenbestimmung der Homiletik im Zusammenhang mit seinem Wissenschaftsbegriii der Praktischen Theologie b) Schleiermachers Predigtdefinition 2. Die grundlegenden systematischen Darstellungen der Homiletik neben und seit Schleiermacher a) Alexander Schweizers systematische Darstellung der Homiletik b) C. I. Nitzschs Erneuerung des Verständnisses der Predigt als Dienst am Wort c) Der Entwurf der Homiletik von Ph. K. Marheineke . . . . d) Die konfessionell-lutherische Variante der Kultuspredigt bei Theodosius Harnadk: Predigt als sacrificium und sacramentum 3. Die in den Kultus integrierte Predigt und die Aporien ihrer einseitig zugespitzten Theorie a) Die Predigt als Erbauung und Äußerung kirchlichen Lebens (Gustav Baur) b) Kultuspredigt als Textpredigt (F. L. Steinmeyer) c) Die doktrinale Engführung des Begriffs Kultuspredigt und ihre Aporien (H. Bassermann) d) Die kritische Unterscheidung von Predigt und Kultus (M. Rieger, J.Smend) e) Erbauung als Zweck und Funktion der sogenannten Kultuspredigt 4. Das Verständnis der Predigt als Wort Gottes a) Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes aa) Predigt als Wort Gottes (Claus Harms) 7
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22 31 37 41
47 47 51 57 62 66
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bb) Die kirchliche Predigt als Rechtfertigungspredigt (Chr. G.Fidker) cc) Predigt als 'Reproduktion' des Wortes Gottes (H. Cremer) b) Die gottesdienstliche Predigt als Missionspredigt aa) Homiletik als Halieutik (G. A. F. Sickel) bb) Homiletik als Keryktik (R.Stier) cc) Homiletik als Martyretik (Th. Christlieb) c) Exkurs: Die Bedeutung der Begriffe κήρυγμα und ομιλία in der homiletischen Debatte des 19. Jahrhunderts
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5. Darstellungen der Homiletik mit besonderem Profil a) Die unmittelbar der Praxis dienende Homiletik Chr. Palmers . b) Die Theorie der textgebundenen Gemeindepredigt bei P. Kleinen
93 97
6. Nachtrag: Letzte Darstellungen der Homiletik in enger Verbindung mit der Rhetorik a) Vororientierung b) Homiletik als Theorie der geistlichen Beredsamkeit (Hch. Aug. Schott) c) Die Beredsamkeit eine Tugend (F.Theremin)
106 109
d) Die Homiletik als 'species' der Rhetorik (Alexandre Vinet) .
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.
Zusammenfassung
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B. Die Neuansätze in der Homiletik zwischen 1890 und 1920 1. Das Verlangen nach einer Predigtreform a) Allgemeine Charakteristika der neuen Predigtweise . . . . b) Der Zusammenhang der sogenannten modernen Predigt mit der kirchlichen und religiösen Situation
119 123
2. Theologische Horizonte und Perspektiven a) Die Neuansätze in der Homiletik und die zeitgenössische Theologie b) Albrecht Ritsehl und seine Schule
128 133
3. Die Forderung nach spezieller Predigt a) Die Notwendigkeit der Zweiheit von speziellen und allgemeinen 'Predigtgegenständen' nach Paul Drews b) Die Einzelpredigt und der Text c) Dorf- und Stadtpredigt d) Soziale Predigt 8
137 141 145 149
4. D e r Wille z u r K o m m u n i k a t i o n mit dem H ö r e r a) Das Problem der zeitgemäßen Predigt b) Die Funktion der Psychologie in der Predigt c) Die Forderung nach volkstümlicher Predigt
154 160 163
5. Die Predigt als persönliches Zeugnis a) Die persönliche Verantwortung des Predigers b) O. Baumgartens Unterscheidung von biblischen Lehrbegriffen und christlichen Erlebnissen
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6. Friedrich Niebergalls P r o g r a m m der modernen Predigt a) Predigt als Gemeindeerziehung und Hilfe zur Lebensbewältigung (Motive und Quietive) b) „Die moderne Predigt" nach der Darstellung von 1929 . . .
171 176
Zusammenfassung
165
179
C. Die Neubesinnung auf A u f t r a g u n d A u f g a b e der P r e d i g t in der f r ü h e n 'dialektischen Theologie' 1. K a r l Barths Predigtverständnis im Z u s a m m e n h a n g m i t der Theologie des Wortes Gottes a) Not und Verheißung der christlichen Verkündigung . . . . b) Der Sinn der Dialektik in der Theologie c) Menschenwort und Gotteswort in der christlichen Predigt . . d) Die Predigt als dritte Gestalt des Wortes Gottes
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2. Die Bekräftigung oder A b w a n d l u n g des Barthschen Ansatzes durch Thurneysen, Gogarten u n d B u l t m a n n a) Die prinzipielle Homiletik Thurneysens b) Thurneysens Kritik an Fezers Predigtbegriff c) Gogartens Begriff der 'wirklichen' Predigt d) Bultmanns These: 'Reden von Gott' heißt 'Reden von uns' . .
197 201 203 205
3. D i e Predigtlehre v o n W . Trillhaas a) Predigtauffassung und Methodik b) Themen der speziellen Homiletik
207 211
Zusammenfassung
213
Literaturverzeichnis
217
Abkürzungen
227
Personenregister
228 9
Einleitung Die Frage nach dem Verständnis und den verschiedenen Vollzugsformen der christlichen Predigt ist jeder Generation neu gestellt, weil die Predigt in besonderem Maße an dem Gespräch zwischen Kirche und Welt sowie an dem Fortgang theologischer Arbeit teilhat. Die Aufgabe der Predigttheorie besteht darum in der Erörterung der jeweiligen Probleme und Verfahrensweisen der kirchlichen Verkündigung. Die theologischen Grundfragen als auch allgemeine und spezielle Predigtsituationen sowie der Status zeitgenössischer Predigt sind dabei in gleicher Weise zu bedenken. Diese aktuellen Fragestellungen der Homiletik 1 heben das Interesse an der Geschichte der Predigttheorie niemals auf. Die Kenntnis der Neuansätze und Wandlungen innerhalb der Predigtlehre der Neuzeit erweist sich vielmehr für eine kritische Lagebestimmung heutiger Homiletik als unentbehrlich. Sie kann vor Vereinfachungen schützen und die zukunftsweisenden Tendenzen sowie die unerledigten Aufgaben bisheriger Predigttheorie deutlich werden lassen. Die vorliegende Untersuchung ist aus dem Interesse an der sogenannten Reformhomiletik um 1900 und ihrem Verhältnis zu dem Neuansatz in der Predigtlehre nach dem 1. Weltkrieg hervorgegangen. Im Verlauf der Arbeit erwies es sich jedoch als notwendig, die Rückfrage bis zu Schleiermacher hin auszudehnen, da die Homiletik erstmals seit Schleiermacher, Schweizer, C. I. Nitzsch und Th. Harnadk, wenn audi nicht ohne Unterbrechungen, einen betont wissenschaftlichen und theologischen Charakter hat. Die Predigtlehre wurde in jener Zeit aus der captivitas rhetorica, in die sie weithin geraten war, befreit. Das Problem homiletischer Theorie, und damit das Theorie-Praxis-Problem überhaupt, wurde selbst zu einem Gegenstand der Homiletik. Schweizer hat die prinzipielle und spezielle (materiale und formale) Homiletik als die Hauptperspektiven der Predigtlehre beschrieben und damit in allgemeinster Form die Fragen1
Der Begriff stammt aus dem graecisierenden Gelehrtenlatein des 17.Jh.s. Er wird zunächst adjektivisch, nadi seiner Eindeutsdiung (18. Jh.) hauptsächlich substantivisch gebraucht. Vgl. den Cursus homileticus von Wilhelm Leyser (f 1649), die Methodologia homiletica (1672) von Sebastian Goebel, das Compendium theologiae homileticae (1677) von Baier und das Compendium homileticum (1699) von Crumbholz.
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komplexe herausgestellt, die jeder theologisch-wissenschaftlichen Homiletik zugrunde liegen2. Die vorliegende Untersuchung will in Grundzügen die Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Homiletik seit jener ersten betont wissenschaftlichen Epoche darstellen und damit den spannungsreichen geschichtlichen Hintergrund heutiger Homiletik aufzeigen. Sie befaßt sich also in erster Linie mit der Geschichte der PredigtiAeone, für die im übrigen erst wenige Einzeldarstellungen vorliegen. Die Geschichte der Predigt wird aus methodischen Gründen nur in bescheidenem Maße explizit herangezogen. Die Arbeit handelt in einem ersten Kapitel von der Homiletik im 19. Jahrhundert seit Schleiermacher. Ein zweites Kapitel hat die Neuansätze innerhalb der Predigt und Predigtlehre zwischen ca. 1890 und 1920 zum Gegenstand, die partiell zum Schaden der Predigt allzu schnell in Vergessenheit geraten sind. Ein drittes, abschließendes Kapitel beschäftigt sich mit der Neubesinnung auf den Auftrag der Predigt während der Anfänge der 'dialektischen Theologie'. Das besondere Interesse gilt Barths frühen, elementaren und zum Teil einseitigen Fragen und Erwägungen zur Predigt, sowie der Predigtlehre von W. Trillhaas, in der Erkenntnisse der theologischen Neubesinnung mit unveralteten Fragestellungen der vorangegangenen Homiletik verbunden wurden. Die Predigt ist seit ca. 1920 ein zentrales Thema gegenwärtiger Theologie, ja sie gilt als „die methodische Perspektive der christlichen Theologie durchweg"8. Trotz dieser starken Thematisierung der Verkündigung fehlt es jedoch weitgehend an Kenntnis der vorangehenden Predigttheorie, in der Aufgabe und Vollzug der Predigt unter recht verschiedenen Voraussetzungen durchdacht worden sind. Durch das Bewußtsein der Distanz zu der Theologie des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte sowohl der Predigt als audi der Predigtlehre jener Zeit in eine eigenartige Vergessenheit geraten. Heute, da die Homiletik aufs ganze gesehen an einem Übermaß von Prinzipiendiskussion leidet und darum ihr Doppelthema „Die Predigt und die Predigten" wieder intensiver in den Blick nehmen muß, ist wohl auch die Zeit gekommen, sich über die Predigttheorie seit Schleiermacher einen Uberblick zu verschaffen und sich sine ira et studio ihre Erkenntnisse sowie ihre Irrwege oder zeitbedingten Antworten zu vergegenwärtigen. Insofern möchte die vorliegende, primär historische Untersuchung einen Beitrag zur Orientierung für die zeitgenössische Homiletik leisten und damit zu der heutigen Predigtlehre hinführen, der die Aufgabe einer theologisch verantworteten und zugleich wirklichkeitsnahen Predigt gestellt ist. 2
W. Trillhaas hat 1932 vorgeschlagen, 'homiletische Forschung' und 'praktische Homiletik' zu unterscheiden. Vgl. „Was bedeutet homiletische Forschung?" ZZ 10, 1932, (S. 532—540) S.540. 8 M. Doerne, Art. „Homiletik". RGG 3 , Bd. 3, 1959, Sp. 440.
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Α. Die Homiletik im 19. Jahrhundert seit Schleiermacher 1. Schleiermachers gottesdienstliche Integration der Predigt im Zusammenhang mit der Theorie der Darstellung a) Schleiermachers Aufgabenbestimmung der Homiletik im Zusammenhang mit seinem Wissenschaftsbegriff der Praktischen Theologie In der Geschichte der Homiletik bedeutet der Name Schleiermacher eine Zäsur. Die Predigtlehre des 19. Jahrhunderts stellt sich in mehrfacher Hinsicht als Fortsetzung und Weiterführung, aber auch als Korrektur oder Fehlinterpretation von Schleiermachers homiletischer Konzeption dar. Schleiermachers Grundanschauungen haben in den Predigtlehren, in denen sie nicht übernommen wurden, zumindest als Fragestellungen weitergewirkt und Methode und Ausführung der Homiletik direkt oder indirekt bestimmt. Die Geschichte der wissenschaftlichen Homiletik im 19. Jahrhundert ist in weiten Bereichen eine Wirkungsgeschichte von Gedanken Schleiermachers1. Methodologisch und theologisch beginnt mit Schleiermacher in der Homiletik ein Neues. Eine der Fragen, die Schleiermacher zum Gegenstand eingehender Reflexion erhoben hat, ist die nach Zweck und Aufgabe der Homiletik selbst als einem Spezialgebiet der Praktischen Theologie. Mit einer zuvor nicht erreichten Stringenz hat Schleiermacher der Praktischen Theologie und damit auch der Homiletik eine festumrissene Funktion innerhalb der theologischen Wissenschaft zugewiesen. Die Voraussetzungen dafür schuf das Organisationsprinzip seines Systems der theologischen Wissenschaft, das in der Kurzen Darstellung ausführlich erläutert ist. Die Theologie wird von Schleiermacher in der bekannten Definition der Kurzen Darstellung insgesamt als eine „positive Wissenschaft" aufgefaßt und der Begriff dahingehend erläutert, diese sei „ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob 1 Eine ausführliche Darstellung der Homiletik Schleiermachers ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht beabsichtigt. Sie beschränkt sidi auf die Grundzüge. Verwiesen sei auf die Untersuchung von W. Trillhaas, Sdileiermachers Predigt und das homiletische Problem, 1933. — Alle Zitate werden in dieser Arbeit nach heutiger Rechtschreibung wiedergegeben.
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sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind" 2 . Diese „praktische Aufgabe" ist für Schleiermacher die Kirchenleitung, die gleicherweise das wissenschaftliche, aber auch das kirchliche Interesse voraussetzt. Er versteht sie in einem umfassenden und weiten Sinne. Zu ihrem Zwecke unterteilt sich die theologische Wissenschaft in die philosophische, historische und praktische Theologie. Die durch das Organisationsprinzip der Kirchenleitung 3 bedingte volle Integration der Praktischen Theologie in das System der theologischen Wissenschaft hat ihr wissenschaftliches Ansehen begründet bzw. gefestigt. An der Aufgabenstellung der Praktischen Theologie ist freilich von Schleiermacher gegenüber vorhergehenden Entwürfen nicht viel geändert worden. Die Praktische Theologie wurde zwar unter das Dach der theologischen Wissenschaft aufgenommen; jedoch sieht audi Schleiermacher in ihr eine 'technische' Disziplin, denn sie soll „nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern, indem sie dies voraussetzt, hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrensweise bei der Erledigung der unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben" 4 . Der philosophischen und historischen Theologie, zu der Schleiermacher audi die Dogmatik und die theologische Ethik rechnet, sind die Grundsatzfragen zugewiesen 5 . Die Praktische Theologie hat es mit der Klassifikation der Aufgaben und der Verfahrensweise zu tun. Es ist darum mehrfach gefragt worden, ob die allein unmittelbar auf das Handeln der Kirche bezogene Aufgabenstellung der Praktischen Theologie im Sinne einer Verfahrenstheorie die Einordnung dieser Disziplin 2 Kurze Darstellung, 2., umgearbeitete Ausgabe, 1830, § 1 Anm. Ähnlich Praktische Theologie, in: Schleiermachers sämmtliche Werke, Abt. I, 13, 1850, S. 8: „ D a s ist der Charakter des Positiven, daß wissenschaftliche Elemente, die in der Behandlung nidit zusammengehören, zusammengestellt werden in Beziehung auf eine gewisse Praxis." Als positive Wissenschaften, die dem Bedürfnis dienen, »eine unentbehrlidie Praxis durch Theorie, durch Tradition von Kenntnissen sicher zu fundieren", bezeichnet SAIeiermadier die Theologie, die Jurisprudenz und die Medizin. Vgl. die Schrift: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, 1808. S. auch Praktische Theologie, S. 7 f. Vgl. zum Ganzen H . J . Birkner, Schleiermadiers Christliche Sittenlehre, 1964, S. 50 ff. — Während der Drucklegung dieser Arbeit erschien der Aufsatz von Martin Doerne, Theologie und Kirchenregiment. Eine Studie zu Schleiermachers praktischer Theologie. N Z S T h 10, 1968, S. 360—386.
' Ein kritisches Referat über das Prinzip der Kurzen Darstellung, verbunden mit einer kurzen Wirkungsgeschichte, gibt A. Ediert, Einführung in die Prinzipien und Methoden der ev. Theologie, 1909, S. 23 ff. 4 Kurze Darstellung, § 60. 5 Schleiermacher zählt die dogmatische Theologie zu der historischen Theologie, weil er in ihr keine spekulative Disziplin sieht. Sie ist „die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirdiengesellsdiaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre". Der christliche Glaube, 2. Aufl., § 11,5.
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in die wissenschaftliche (Universitäts-)Theologie zu begründen vermöge®. Noch wichtiger als diese Frage ist in unserem Zusammenhang das Problem, ob diese enzyklopädisch ermittelte starre Aufgabenteilung innerhalb der theologischen Wissenschaft überhaupt praktizierbar sei. Denn Sdileiermadier setzt für die Arbeit der Praktischen Theologie voraus, daβ die „philosophische und historische Theologie klar und im richtigen Maße angeeignet sind"1. Seine Enzyklopädie hat einen streng teleologischen Charakter. Die Praktische Theologie baut auf den Ergebnissen und Axiomen der anderen Disziplinen auf. Hinsichtlich der Grundsatzfragen ist sie vor allem an die Ergebnisse der „historischen" und „philosophischen" Theologie gewiesen. Der Duktus der Kurzen Darstellung schließt ein Wechselgespräch der Praktischen Theologie mit den beiden anderen großen Disziplinen aus. Es scheint so, als ob es von der Praktischen Theologie her keine Anstöße geben könne, die für die Lösung der für die Praktische Theologie unmittelbar bedeutsamen Grundsatzfragen in der Dogmatik bzw. Glaubenslehre relevant wären. Die Praktische Theologie ist bei Schleiermacher in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis versetzt. Um es am Beispiel der Homiletik zu exemplifizieren, so sind bei Schleiermacher die theologischen Grundsatzfragen der Predigt der 'systematischen' (bzw. historischen) Theologie zugewiesen. Die Homiletik, als eine technische Disziplin, hat diese nicht ausführlich zu erörtern, sondern vorauszusetzen bzw. anzueignen. Die Theorie der religiösen Rede in Schleiermachers Praktischer Theologie ist dafür ein Anschauungsbeispiel. Ein Grenzstreit der Disziplinen war auf diese Weise ausgeschlossen. Es ist aber einsichtig, daß diese streng enzyklopädische Aufteilung der Aufgaben im Blick auf die Praktische Theologie einem gewaltsamen Verwaltungsakt gleichkommt. Sie impliziert die Gefahr, daß beispielsweise die Homiletik zu einer in prinzipieller Hinsicht ungenügend durchdachten Verfahrenstheorie herabsinkt, auch wenn das pragmatische Element in Schleiermachers Kurzer Darstellung keine Abwertung verdient. Besonders problematisch wird diese Abgrenzung, wenn die theologischen Grundsatzfragen, auf die sich die Praktische Theologie bzw. die Homiletik bezieht, kontrovers sind und nicht ohne weiteres als „Lehnsätze" aufgenommen werden können. In diesem Falle stellt sich heraus, daß eine bloße Rezeption der von der 'systematischen' Theologie erhobenen und die Praktische Theologie unmittelbar betreffenden Grundsätze ein abstraktes Postulat ist. ' „Entweder die praktische Theologie ist nicht Theologie — dann hat sie aufzuhören — oder sie ist es — dann aber hat sie an den theologischen Grundfragen Anteil zu nehmen." Trillhaas, a.a.O., Vorwort S. IV. 7 Kurze Darstellung, § 260 Anm.
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Bei Schleiermacher selbst sind die Probleme, die sich aus seiner Auffassung der Praktischen Theologie als einer 'technischen' Disziplin ergeben, durch die von ihm repräsentierte Personalunion von 'systematischer' und Praktischer Theologie teilweise verdeckt. Grundsätzlich bedarf Schleiermachers Aufgabenbestimmung der Praktischen Theologie und damit der Homiletik aber einer Korrektur, die für die Homiletik — zumindest im Ansatz — Alexander Schweizer vollzogen hat. Innerhalb des Gesamtwerkes von Schleiermacher finden die Grundsatzfragen der Predigt freilich mehrfache Erörterung. Neben den verhältnismäßig kurzen Passagen in der „Theorie der religiösen Rede" in der von J.Frerichs 1850 (aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen) herausgegebenen Praktischen Theologie sind vor allem die Ausführungen in der Christlichen Sitte (WS 1822/23. 1843) innerhalb der Theorie des Gottesdienstes und in der Glaubenslehre (1821/22) zu nennen. Die 1. und 4. der Reden von 1799 sind für das Verständnis von Schleiermachers Predigtanschauung ebenfalls von Bedeutung, wenn auch ihre eigentümliche Terminologie ein Element der Unbestimmtheit enthält und das genaue Verstehen erschwert. In den zeitlich späteren Darlegungen über den Gottesdienst und die Predigt ist Schleiermachers eigene Terminologie in sich fest gefügt. Methodologisch ist es in der Folge besonders bedeutsam gewesen, daß Schleiermacher die Homiletik als eine Kunsttheorie verstanden hat. Für die Teildisziplinen der Praktischen Theologie gilt allgemein der Satz: „Alle Vorschriften der Praktischen Theologie können nur allgemeine Ausdrücke sein, in denen die Art und Weise ihrer Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt ist, d. h. sie sind Kunstregeln im engeren Sinne des Wortes." 8 Der theoretische Charakter der Praktischen Theologie steht für Schleiermacher fest. Die praktisch-theologische Kunsttheorie kann kein „mechanisches" Handeln initiieren, sondern sie setzt, wie „die Vorschriften der höheren Künste", ein Talent voraus, „wodurch das rechte (jeweils) gefunden werden muß" e . Die homiletischen Verfahrensregeln haben darum stärker eine kritisdi-fördernde als unmittelbar anleitende Funktion 10 . Das Allgemeingültige ist im besonderen Gegenstand der homiletischen Theorie. Das individuelle Moment findet in ihr seine grundsätzliche Anerkennung. Aber es kann nicht Aufgabe einer homiletischen Theorie sein, jenes in extenso zu demonstrieren. Die homiletische Theorie kann das schöpferische Element einer Predigt nicht theoretisierend manipulieren. Sie stellt Grundsätze auf, deren Anwendung in die Verantwortung des Predigers gestellt ist. — 8 10
Ebd. § 265. " Ebd. Anm. Vgl. Praktische Theologie, S. 202.
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Schleiermacher hat seine eigene „Kunstlehre" der Predigt in der „Theorie der religiösen Rede" innerhalb der Theorie des Kirchendienstes entfaltet. Die Predigt zählt dort neben Liturgie, Gesang und Gebet zu den Bestandteilen des Kultus, der unter den Aufgaben des Kirchendienstes die erste Stelle einnimmt 11 . b) Scbleiermacbers
Predigtdefinition
Eine nocii bedeutendere Nachwirkung als die programmatische Definition der Predigtlehre als Theorie 12 hat freilich jener Faktor der Homiletik Schleiermachers gehabt, den Schleiermacher der Homiletik als praktisch-theologischer Teildisziplin vorenthalten und primär an die 'dogmatische' Theologie delegieren wollte: die Definition und Ausführung des Predigtbegriffs 13 . Schleiermacher hat die Predigt grundsätzlich als ein Element des Gottesdienstes aufgefaßt und wie den Kultus überhaupt ohne Bezugnahme auf tradierte kirchliche Formeln als darstellendes Handeln beschrieben14. Nach der bekannten, sehr formalen Definition aus der Kurzen Darstellung 15 ist die Predigt als Bestandteil des Kultus „Mitteilung des zum Gedanken gewordenen frommen Selbstbewußtseins". In der analogen Formel der Praktischen Theologie liegt eine gewisse Präzisierung vor. Hier wird der „Zweck des Kultus" als „die darstellende Mitteilung des stärker erregten religiösen Bewußtseins" definiert18. Der gottesdienstliche bzw. kultische Zentralbegriff der Darstellung, der ähnlich von J . Chr. Gaß verwandt wurde 17 , hat hinsichtlich der PreVgl. audi Kurze Darstellung, § 277 ff. Sie ist in Sdileiermachers eigener Homiletik, soweit die Theorie der religiösen Rede innerhalb der Prakt. Theologie dafür angesehen werden kann, allerdings nicht konsequent durchgeführt. 1 3 Die Glaubenslehre handelt von der Predigt als „Dienst am göttlichen Wort" innerhalb des Abschnittes „Von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung" (§ 133—135). Die Christliche Sitte erörtert die Predigt im Zusammenhang mit der Theorie des Gottesdienstes. 1 4 Sdileiermachers Reden, in denen viele Motive in einer vortheologischen Aussageform bereits anklingen, werden hier nicht ausführlich herangezogen. Vgl. Trillhaas, a.a.O. S. 6—9. 15 § 2 8 0 . 1 6 Praktische Theologie, S. 75. 17 Die Auffassung des Kultus als darstellendes Handeln findet sich der Sache nach bereits in der vierten der Reden Schleiermachers über die Religion. Programmatisch ist sie vor allem von Gaß in die Theorie des Kultus eingeführt worden. Gaß sieht die Aufgabe der Kirche darin, durch den Kultus „das höhere Leben nach bestimmten Gesetzen zu bilden und darzustellen". Über den christlichen Cultus, 1815, S. 69. In „Beziehung auf Gott" sei dieser „reine Darstellung", hinsichtlich der Gemeinschaft der Christen sei er „religiöse Selbstoffenbarung zur gegenseitigen Förderung des höheren Lebens durch die Verbreitung des christlichen Prinzips" (97). Gaß hält ausdrücklidi daran fest, daß die Darstellung in der Belehrung ein Komplement haben 11 li
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digt zunächst eine kritische Abzielung. In ihm will die Abgrenzung gegenüber einem Verständnis der Predigt als Lehrpredigt im orthodoxkirchlichen, aber auch rationalistischen Sinne mitgehört sein18. Die Belehrung ist bei Schleiermacher ganz der Erbauung untergeordnet19, weil der Glaube einerseits nicht demonstrierbar ist, und weil andererseits mit der Predigt eine Wirkung beabsichtigt ist, die von dem Gefühl auf den Willen geht20. In ihrem Zentrum ist die Predigt für Schleiermacher Darstellung 'inneren Lebens'. Nicht die Darlegung von Sachverhalten, sondern die Sprachwerdung eines religiösen Seinszustandes ist ihre eigentliche Aufgabe. Das Innerliche wird in ihr äußerlich. Als christliche Predigt ist sie die Mitteilung der persönlich erfahrenen Lebensgemeinschaft mit Christus. Das durch Christus gestiftete neue Gesamtleben, das die Kirche durchdringt, findet in ihr eine Selbstdarstellung mit erneuernder und anregender Kraft. Nicht Gott und seine Eigenschaften — um es an einem Beispiel zu verdeutlichen — sind Gegenstand der Predigt, sondern die Liebe und das Vertrauen zu Gott finden in ihr eine Darstellung. Die Bewußtseinszustände des christlichen Lebens werden durch die Predigt der Gemeinde vorgestellt und vermittelt. Die Erlösung bedeutet von diesen theologischen Prämissen her die Aufnahme in die Kräftigkeit des Gottesbewußtseins Jesu. Diese Theorie der Darstellung basiert offenkundig auf der religiösen Ungleichheit der Gemeinde bzw. dem „klerikalischen Gegensatz", der in dem Gegenüber von Prediger und Gemeinde manifest ist. In den Kategorien der Spontaneität und Rezeptivität beschrieb auch bereits der junge Sdileiermacher die gottesdienstliche Zusammenkunft der Gemeinde. Es gehört also grundsätzlich zum Wesen der Darstellung des religiösen Selbstbewußtseins, daß sie gemeinschaftsbezogen ist. Zwar hebt Sdileiermacher ausdrücklich hervor, daß sie keinen bestimmten Zweck verfolge21, und unterscheidet sie von dem reinigenden und verbreitenden Handeln. Aber diese Unterscheidung grenzt die darstellende Predigt in erster Linie gegenüber bewußt missionarischen Tendenzen ab. Eine erbauende, d. h. kräftigende, stärkende, tröstende Wirkung, die freilich nicht manipuliert und angestrebt werden kann, schreibt Sdileiermacher der darstellenden Predigt zu. müsse, und er ordnet diese innerhalb des Kultus der Predigt zu. Freilich sieht audi er das „eigentliche Wesen der Predigt in der Erbauung" (121), zu der jedoch das darstellende und reinigende Handeln gehören (123). 18 Allerdings hebt auch Gaß hervor, daß die Kirche „keine Schule für die Erwachsenen" sein solle (26). 19 Vgl. A.Schweizer, Schleiermadiers Wirksamkeit als Prediger, 1834, S. 64. 20 Vgl. Praktische Theologie, S. 59. 21 In der Charakterisierung als „künstlerisch-darstellende" Predigt wird das Moment der Leichtigkeit besonders hervorgehoben. 18
Das eigentliche Charakteristikum der darstellenden Predigt ist darum darin zu sehen, daß sie Gemeindepredigt im Sinne der theologischen Voraussetzungen Schleiermacliers ist. Sie ist von Schleiermacher ihrem Wesen nach als ομιλία im ursprünglichen Sinne des Wortes aufgefaßt und rückt insofern in die Nähe des im Neuen Testament bezeugten mutuum colloqium (vgl. l.Kor. 14). Alexander Schweizer hat die treffende Formel für Schleiermachers Predigtpraxis gefunden: „Er wollte als zu Brüdern sprechen, deren christliches Bewußtsein er entwickele, nicht erst gründe; er wollte es in ihnen nachweisen, aufzeigen, läutern, befestigen, nicht als etwas Neues in sie hineintragen."22 Es ist ein Grunddatum von Schleiermachers Predigt, daß er die Hörer als Christen anredet. Grundsätzlich ist die im Gottesdienst versammelte Gemeinde im Besitz der christlichen Wahrheit und Religion zu denken, audi wenn der Status der einzelnen Gemeindeglieder dem nicht oder nur mit Einschränkung entsprechen sollte. Die kategoriale Unterscheidung zwischen der Gemeindepredigt und der Missionspredigt darf insofern nicht übersteigert werden. Schleiermacher selbst urteilte in dem bekannten Vorwort zu der 1. Sammlung seiner Predigten: „Vielleicht kommt auch die Sache dadurch wieder zu Stande, daß man sie voraussetzt." Die Begründung ist eher pragmatisch als grundsätzlich. „Sollen unsere religiösen Zusammenkünfte eine Missionsanstalt sein, um die Menschen erst zu Christen zu machen: so müßten wir ohnedies ganz anders zu Werke gehen. Soll aber von ihrem Verhältnis zum Christentum gar nicht die Rede sein: so sehe ich nicht ein, warum vom Christentum die Rede ist . . . wenigstens gibt es nichts Verderblicheres für unsere religiösen Vorträge, als das Schwanken zwischen jenen beiden Ansichten, ob wir als zu Christen reden sollen oder als zu Nichtchristen."23 Auch die Christliche Sitte zeigt, daß der Gegensatz zwischen der darstellenden und missionarischen Predigt nicht völlig starr ist24. Die Predigt wird in ihr primär als darstellendes Handeln beschrieben; sekundär habe sie aber eine belehrend-verbreitende und erweckend-reinigende Funktion 25 . Eine dominierende Rolle wird allerdings dem erwecklichen Moment in der Gemeindepredigt von Schleiermacher grundsätzlich nicht 22 Schweizer, a.a.O. S. 13. — Der o. Grundsatz Schleiermachers ist i. ü. auch von lutherischen Theologen rezipiert worden. Ζ. B. bezeichnet G. v. Zezsdiwitz unter ausdrücklicher Berufung auf das o. Zitat den „brüderlichen Austausch als das Wesen der Kultuspredigt". Handbuch der theologischen Wissenschaften, 4.Bd., 2. Aufl. 1885, S. 152. 23 Predigten, 1. Bd., Neue Ausgabe, 1843, S. 7. Vgl. auch M.Sdiian, Die „Kultuspredigt" nach Schleiermacher, in: Stromata. Hrsg. von Gg. Bertram, 1930, S. 137—147. 24 A.Schweizer urteilt, Schleiermacher habe nur „fließende" Gegensätze gekannt. A.a.O. S. X I I . 25 H . J . Birkner, a.a.O. S. 121 mit Bezug auf Christliche Sitte, S. 157 und andere Stellen.
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zugestanden. Einen missionarischen Auftrag hat die gottesdienstliche Gemeindepredigt nicht. Diese Grundentscheidung spiegelt im übrigen nur die theologische Prämisse, daß die institutionelle Gemeindepredigt ein integraler Faktor des Gemeindekultus sei. Zwischen der Predigt und dem Gemeindekultus besteht für Schleiermacher ein organischer Zusammenhang. Die darstellende Predigt ist aber nicht nur gemeindebezogen, sondern Schleiermacher sieht in ihr auch eine Funktion der Gemeinde: die Gemeinde findet in dem Prediger gleichsam ihr Medium. Grundsätzlich ist es das geläuterte Glaubensbewußtsein der Gemeinde, das sich in dem Prediger ausspricht und für die Predigt konstitutiv ist. Die spezifische Prägung der Predigt auf Grund der Individualität des Predigers ändert daran nichts. Damit stellt sich die Frage nach den Kriterien christlichen Glaubensbewußtseins; denn kann dem christlichen Glaubensbewußtsein der Einzelgemeinde eine normative Funktion zugeschrieben werden? Die Frage ist zu verneinen, soweit es sich hier nur um das empirisch vorhandene Glaubensbewußtsein einer Gemeinde handelt. Schleiermacher setzt vielmehr eine Läuterung dieses Glaubensbewußtseins voraus. Es gilt hier die gleiche Einschränkung, die Schleiermacher in bezug auf die Christlichkeit der als Christen angeredeten Predigthörer macht. Die Gemeinde erbaut sich an dem, was ihr christliches Glaubensbewußtsein eigentlich grundsätzlich bestimmen sollte. Der Prediger ist nicht nur Repräsentant der Gemeinde, sondern auch Organ der Kirche, weil die Gesamtkirche Trägerin und Bewahrerin der im Inbegriff der kirchlichen Lehre enthaltenen Glaubensvorstellungen ist2®. Die vor allem historisch aufgewiesene Lehre der Kirche ist theoretisch auch für die Predigt verpflichtend. Allerdings behauptet Schleiermacher nur in einer sehr dialektischen Weise ihre Verbindlichkeit. Schleiermacher entschärft zudem das Problem. Er interpretiert die ursprünglich — beispielsweise in der altprotestantischen Dogmatik — kognitiv verstandene Lehre als anzueignende Glaubensvorstellungen, so daß ihr Nachvollzug selbst zum entscheidenden Glaubenskriterium wird. In der Predigtpraxis erhält die Einzelpredigt ihre gemeinkirchliche Ausrichtung durch die Bindung an das „göttliche Wort der Schrift"27. Die bekannte Deskription aus der Praktischen Theologie stellt diese als ein dialogisches Verfahren dar, als einen „Dialog (des Predigers) mit seiner Schriftstelle, die er fragt und die ihm antwortet, und mit seiner Gemeinde"28. Die Predigt ist bei diesem 'dialogischen Verfahren' eine Synthese von Textgehalt, sogenanntem Gemeindebedürfnis und religiö24
Vgl. Kurze Darstellung, § 281; in den Reden stellte Sdileiermadier den Sachverhalt noch anders dar. 27 Der christliche Glaube, 2. Aufl., § 133. ie Praktische Theologie, S. 248.
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sem Bewußtsein des Predigers. Schleiermachers eigene Predigten zeichnen sich darum zumindest formal durch eine relativ enge Textbindung aus 2 ·. Die Textauslegung gesdiieht allerdings unter dem Vorzeichen seiner Theologie, die u. a. zu der Bevorzugung johanneischer Texte führte. In der Dreiheit von Textgehalt, sogenanntem Gemeindebedürfnis und religiösem Bewußtsein des Predigers sind aber auch Möglichkeiten der Vereinseitigung keimhaft angelegt. Die Homiletik der sogenannten 'modernen Predigt' um die Jahrhundertwende bietet dafür zahlreiche Belege. Einerseits bestimmt in einem Sektor der Predigt seit Schleiermacher die christliche Persönlichkeit mit ihrem aus verschiedensten Quellen gespeisten 'Gottesbewußtsein' und 'Erleben' in steigendem Maße Inhalt und Eigenart der Predigt 80 . Das Leben und speziell das christliche Leben als Vollendung des natürlichen wird zu einem Hauptthema der Predigt. Andererseits nimmt Schleiermacher in der ausdrücklichen Anerkennung des sogenannten Gemeindebedürfnisses ein Motiv der Aufklärungspredigt auf. Für ein zunehmendes Interesse beispielsweise an der psychologischen Beobachtung ist hier ein erster Schritt getan81. Es ist schließlich evident, daß Schleiermachers Predigtanschauung und damit indirekt auch die ihr entsprechenden Gestaltungsprinzipien der Predigt im Rahmen seiner Gesamttheologie verankert sind. Eine ausführliche Untersuchung könnte diese Beziehungen im einzelnen aufzeigen. Auf einige wesentliche theologische Prämissen soll jedoch audi hier kurz verwiesen werden. Schleiermacher hat, nicht ohne ein sekundär apologetisches Interesse82, in der Religion bzw. der Religiosität ein allgemein menschliches Phänomen gesehen. Sie gehört in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen konstitutiv zu den Lebenskräften und -formen der Menschheit. In dem Gefühl der Abhängigkeit oder der menschlichen Begrenztheit und Unfreiheit findet die Gottes- und Transzendenzbezogenheit der Menschen ihren Ausdruck88. Das Christentum als geschichtlich begründete Religion stellt sich diesem Denken als die vollendete Religion dar. Als Erlösungsreligion 28 „Er ist der große Kronzeuge für die Textgebundenheit der Predigt, und hat doch gleichzeitig den Text bis zum Motto entleeren können." Trillhaas, a.a.O. S. 138. 30 Vgl. Sdileiermadiers Überlegungen über den Gedankenkeim der Predigt. Z.B. Praktische Theologie, S. 270, 272. 31 Sdileiermadiers formale Homiletik kann in dieser Arbeit wegen der gebotenen Kürze nicht dargestellt werden. Es sei jedoch darauf verwiesen, daß seine Anschauung der Redekunst durch Plato beeinflußt ist. Näheres darüber bei Joh. Bauer, Sdileiermadier als patriotischer Prediger, 1908, S. 290 ff. Bauer erinnert u. a. an Piatos Begriff der Redekunst als ψυχαγωγία διά λόγων. 32 S. die Reden. ss Die Debatte über die Transzendenzbezogenheit des Menschen im Verständnis Schleiermachers ist i. ü. noch nicht abgeschlossen. Vgl. dazu die Literaturangaben in RGG», Art. „Sdileiermadier", Bd. 5, Sp. 1434 f.
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bildet es gleidisam den Gipfel aller Religion. Jesus Christus ist als Erlöser der Begründer einer Gemeinschaft, in der sein Geist die Herzen regiert. Diese Gemeinschaft ist die Kirche, die durch Schleiermacher zu einem Hauptthema der Theologie erhoben wurde und einen Angelpunkt seiner Theologie bildet34. Schleiermacher versteht die Kirche nicht als Heilsanstalt. Sie hat vielmehr einen genossenschaftlichen bzw. bruderschaftlichen Charakter und will die in dem Erlöser und Urbild Jesus Christus erschienene 'Idee' der Kirche realisieren. Schleiermachers Theologie hat also ein Gefälle zu der geschichtlichen bzw. gegenwärtigen Gestalt der Kirche. Das zeigt sich audi darin, daß Schleiermacher in der Darstellung des christlichen Bewußtseins, nämlich in der Darstellung eines — defizient — 'Vorhandenen' die Grundaufgabe der Gemeindepredigt erblickt. Die Aufgabe der 'Läuterung' dieses christlichen Bewußtseins entsteht erst an seinem Vorhandensein. Ein Grundzug der Theologie Schleiermachers ist schließlich von besonderem Gewicht. Er besteht in der Annahme einer letzthin geschlossenen und endgültigen Welt. Das Neue, Gottes Heil und Erlösung, ist in Jesus Christus bereits voll und ganz erschienen. Die Erwartung einer noch ausstehenden Weltvollendung oder Verwandlung des Menschen ist in Schleiermachers Theologie eliminiert35. Die Eschatologie und damit der Aspekt einer grundsätzlichen, zukunftsgeriditeten Offenheit und Verheißungsbezogenheit der Welt bzw. des Lebens ist in der Predigt Schleiermachers an die Seite gerückt. Aus diesem Grunde liegt der Akzent von Schleiermachers Predigt mit der Kraft der Einseitigkeit auf der Gegenwart. Denn die Gegenwart ist die Zeit, in der der Geist Jesu Christi herrschen will. Durch ihn wird das Heute zu dem Heute Gottes. Denken und Handeln sind durch die Maximen bestimmt, daß es „aus der Gegenwart heraus zu handeln" gelte36. Selten ist die Predigt mit soldier Bestimmtheit auf die Gegenwart ausgerichtet worden. Eine Predigt, die beispielsweise das gegenwärtige mitmensdilidie Verhalten des Christen besonders thematisiert, hat zumindest den starken Gegenwartsbezug mit Schleiermachers Predigt gemeinsam. 2. Die grundlegenden a) Alexander
systematischen Darstellungen und seit Schleiermacher
Schweizers
systematische
der Homiletik
Darstellung
der
neben
Homiletik
Schleiermadier sdirieb, wie gezeigt wurde, der Praktischen Theologie im Rahmen seiner enzyklopädischen Darstellung der wissenschaftlichen 94
Vgl. dazu T.Rendtorff, Kirche und Theologie, 1966, S. 115—167. Eine Ausnahme bildet vielleicht die Grabrede auf Nathanael. Predigten Bd. 4, S. 883. 38 Schweizer, a.a.O. S. 45. 95
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Theologie grundsätzlich den Charakter einer wissenschaftlich-theologischen Disziplin zu. Allerdings delegierte er die theologischen Grundsatzfragen, audi soweit sie unmittelbar in die Praktische Theologie hineinspielen, an die 'historisdie' bzw. 'philosophische' Theologie. Diese starre Unterscheidung erwies sich als der neuralgische Punkt von Schleiermachers Enzyklopädie. Denn ihr zufolge ist die Praktische Theologie letzthin doch nur eine 'technische' Disziplin, die die entsprechenden 'Kunstregeln' für die Praxis liefert. Als Theorie im strengen Sinne des Wortes hat freilich Sdileiermacher selbst die Homiletik nicht dargestellt. Diese Aufgabe hat erst Alexander Schweizer in Angriff genommen. Gegenüber den vorhergehenden, primär praktisch-homiletischen Anweisungen stellt seine Predigtlehre ein Novum dar, denn sie kann als erste systematisch angelegte und streng als Theorie durchgeführte Homiletik gelten. Allerdings sprengt Schweizer zugleich den praktisch-theologischen Theoriebegriff Schleiermachers, indem er auch die theologischen Grundlagen seines eigenen Predigtverständnisses breit darstellt. Schweizers Homiletik bildet ein selbständiges, allseits abgesichertes Ganzes. Sie ist als ein System entworfen und ausgeführt worden. Das Problem der wissenschaftlichen Homiletik ist hier gesehen worden und das Risiko, daß diese Homiletik weniger eine allgemeinverständliche Predigtlehre als eine Darstellung für Theoretiker der Predigt werde, bewußt eingegangen worden. Bereits die äußere Ardiitektonik von Schweizers Homiletik ist in verschiedener Hinsicht signifikant. In der Einleitung entwirft Schweizer, von der Kirchenleitung ausgehend1, die Theorie des Kirchendienstes, deren erster Teil die Theorie des Kultus umfaßt. Auf diese enzyklopädischen Prolegomena folgt die eigentliche Homiletik als „Theorie des Kultus nach der freien Seite". Die ersten beiden Kapitel der prinzipiellen Homiletik Schweizers befassen sich analog mit dem „Homiletischen als Kultus" und dem „homiletischen Begriff im Unterschied vom liturgischen"2. Die theologische Abhängigkeit von Sdileiermadier ist auf Grund der gottesdienstlichen Integration der Predigt evident. Audi Schweizer geht bei der Konzipierung seines Kultusbegriffs von dem Glauben der Gemeinde aus. Der Kultus ist feierliche Darstellung des Erlösungsglaubens der Gemeinde3, sein geschichtlicher Ursprung ist die „Erlösung in Chri1 Im Unterschied zu Sdileiermadier, der in der 2. Aufl. der Kurzen Darstellung den Kirdiendienst vor dem Kirdienregiment behandelt. 2 Vgl. Homiletik, S. VIII. — Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf Schweizers Homiletik. 3 Er hat einen geschichtlichen Ursprung, nämlich die „Erlösung in Christus und die Idee der Gottmenschheit ineinander" (69).
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stus und die Idee der Gottmenschheit ineinander" 4. Allerdings ist der Begriff der Darstellung bei Schweizer recht spannungsreich. Schweizer differenziert und untersdieidet als die beiden Elemente der Darstellung die Liturgie (Altardienst) und die Predigt. Der Altardienst hat „überwiegend den Glauben als seienden", der „Kanzeldienst den Glauben als werdenden" darzustellen (88)5. In Schweizers Definition des Gottesdienstes sind bereits die Weichen für den Predigtbegriff gestellt. „Da die Kirche immer auch im Werden begriffen ist, so muß sie sicli auch als werdende im Kultus darstellen. Dieser bleibt darum nicht bloß Selbstzweck, sondern bestimmt sich zugleich zu einem Mittel für die Förderung der Kirche, zu einem darstellenden Handeln, welches sidi zum wirksamen Handeln aufschließt" (86). In der eigentlichen Homiletik entfaltet Schweizer sodann den bereits kurz skizzierten Predigtbegriff e . Ihr liegt als Aufriß die Dreiteilung in „prinzipielle", „materielle" und „formelle" Homiletik zugrunde7. Dieser äußere Aufbau ist seither in vielen Predigtlehren, bisweilen modifiziert, verwandt worden 8 . Schweizer hat durch diese Dreiteilung kein neues Element an die Homiletik herangetragen, aber er hat diese drei Hauptbereiche der Homiletik als erster bewußt und konsequent herausgestellt9. Eine besondere Aufwertung wurde dabei der prinzipiellen Homiletik zuteil. Neben die Darlegung der Materie der Predigt und ihrer sprachlichen und rednerischen Gestalt trat durch sie ein eigenes, Rechenschaft legendes Kapitel über Aufgabe und Wesen der Predigt und der Homiletik. In vorsystematischer Weise finden sich Ansätze zu einer prinzipiellen Homiletik auch in älteren Predigtlehren. Sie wurden meist in der Form einer Einleitung dargeboten oder waren innerhalb der Gesamt4
Schweizer geht i. ü. auch bei der Bestimmung des Kultus-Begriffs den Weg von dem allgemeinen zum speziellen Begriff. Kultus ist demnach „feierliche Darstellung der gemeinsamen Frömmigkeit" (51); denn „gemeinsam Gottesdienst üben können nur die, welche einen gemeinsamen Glauben sdion haben, sich zu ihm halten, so ungleich derselbe nadi Klarheit und Kräftigkeit unter ihnen verteilt sein mag" (52). 5 Schweizer zitiert J.Hch.Heidegger: ecclesia semper reformari debet (142). • Schweizers einkreisendes und ableitendes Verfahren bedingt einige Wiederholungen. Zu dem typisdi vermittlungstheologisdien Ansatz, der den Hintergrund von Schweizers Systematisierungs- und Ordnungskunst bildet, vgl. F.Wintzer, Homiletik als System? Bedeutung und Eigenart der Homiletik von Alexander Schweizer. EvTh 25, 1965, S. 604 und 606 ff. — Einige Gedanken des vorliegenden Abschnittes sind schon in jener Studie vorgetragen worden. 7 S. 102—405. 8 Vgl. u.a. A.Krauß, Lehrbuch der Homiletik, 1883; P.Kleinert, Homiletik, 1907; E. Chr. Adielis, Lehrbuch der Prakt. Theologie, 2. Bd., 3. Aufl. 1911, S. 79—277. W.Trillhaas hat in seiner Predigtlehre diesen Aufriß ebenfalls übernommen (l.Aufl. 1935, 5. Aufl. 1964). Allerdings fügt er noch ein Kapitel Pastorale Homiletik hinzu. • Daß es ähnliche Aufrisse bereits gab, zeigt u. a. die Homiletik von Rehkopf (1774). 1. Von der Homiletik überhaupt; 2. Von der Wahl der Materie; 3. Von der Disposition; 4. Von der Ausarbeitung und dem Vortrag.
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darstellung verstreut. Schweizers Verselbständigung der prinzipiellen Homiletik ist demgegenüber ein Dokument für den Versuch systematisdikritischer Klärung der homiletischen Grundsatzfragen, deren alles methodische Handeln dringend bedarf. Hervorzuheben ist schließlich, daß die prinzipielle Homiletik bei Schweizer nicht auf ein rein theologisches Grundsatzreferat über Wesen und Aufgabe der Predigt beschränkt ist. Die materiale und formale Homiletik bilden ihr gegenüber kein additum. Vielmehr hat die prinzipielle Homiletik eine übergreifende Aufgabe. Da sie den Predigtbegriff von allen Seiten beleuchten soll, bereitet sie ansatzweise die materiale und formale Homiletik bereits vor. Beide kommen bei Schweizer schon in der prinzipiellen Homiletik in den Blick und stehen zugleich als spezielle Homiletik der prinzipiellen gegenüber 10 . Die prinzipielle Homiletik stellt insofern eine Art Prolegomena der Predigtlehre überhaupt dar. Zugespitzt könnte man von einer Zweiteilung der Homiletik Schweizers reden, insofern als die materiale und formale Homiletik als spezielle Homiletik die prinzipielle Homiletik ergänzen und unter zwei besonderen Gesichtspunkten ausführen. Zudem erklärt es sich nicht erst zuletzt aus diesem engen Zusammenhang mit der prinzipiellen Homiletik, daß die materiale und formale Homiletik bei Schweizer nicht auf eine praktische Predigtanweisung, sondern eine kritisch auf die Praxis bezogene Theorie hinauslaufen 11 . Alleiniger Gegenstand der prinzipiellen Homiletik ist in Widerspiegelung der theologischen Prämissen Schweizers die gottesdienstliche Gemeindepredigt bzw. die Kultuspredigt. Von den drei Lebensäußerungen der Gemeinde, dem Kultischen, Pastoralen und Halieutischen 12 hat das kultische Element in ihr das stärkste Gewicht. Diese drei Lebensäußerungen der Kirche sind allerdings nicht einseitig an die entsprechenden geordneten Tätigkeiten des Pfarrers gebunden. Sie lassen sich nicht grundsätzlich trennen. Zwar bildet das kultisch-darstellende Moment das grundlegende Element des aus Liturgie und Predigt bestehenden Gemeindegottesdienstes. Aber Schweizer versteht nicht undifferenziert und einseitig die Predigt als Ausdruck der kultischen Darstellung des Gemeindeglaubens. Er unterscheidet, wie bereits dargestellt wurde, den werdenden und gewordenen Glauben. Die „reine Idee des Kultus" könne nur im „himmlischen Jerusalem verwirklicht gedacht werden als Kultus lauter und vollkommen schon geheiligter Christen" (156). 10
In der prinzipiellen Homiletik „wird die spezielle d. h. materielle und formelle Homiletik vorbereitet und begründet. Jedenfalls (ist) sie geeignet, die wesentlichen Erörterungen auf geordnete Weise hervorzurufen", S. 116. 11 Allerdings befruchten sidi Praxis und Theorie gleidizeitig, und eine Theorie, die sidi nicht auf eine bestimmte Praxis stützen kann, hat doketisdien Charakter. Vgl. S. 285.
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Das Ordnungsgefüge in Schweizers Homiletik darf darum nicht überbewertet werden. Schweizers entschlossene Subsumierung der institutionellen sonntäglichen Predigt unter den Kultus besagt, — ähnlich wie bei Schleiermacher —, daß sie „von der Wurzel her" Gemeindepredigt ist, die gemeinsamen, aber subjektiv verschieden ausgeprägten Glauben voraussetzt bzw. die Gemeinde auf diesen hin anredet. Missionspredigt ist die sonntägliche Gemeindepredigt per definitionem nicht. Aber auch in Schweizers Begriff der normalen Sonntagspredigt ist eingeschlossen, daß sich „das Homiletische . . . von der kultischen Wurzel aus durch das Pastorale zum Halieutischen" erweitert (122). So gibt es drei Arten der Predigt, die sich darin unterscheiden, ob das „darstellende", „zumutende" oder „erw eckliche" Element dominiert13. Das kultisch-darstellende Element bildet also die Basis von Schweizers Predigtauffassung. Den Vollbegriff der Predigt gewinnt Schweizer jedoch nicht nur von dem kultisdidarstellenden Element her 14 . Daß die Predigt nach Schweizer bewußt eine Wirkung intendieren soll, ergibt sich schließlich auch aus den Erörterungen über die Predigt „in der Bestimmtheit des Oratorischen" (IX). Die Rede als solche impliziert für Schweizer immer einen Zweck. Die Predigt zielt als Rede auf die Erbauung der Hörer ab. Die Aufgabe der Homiletik besteht deshalb prinzipiell auch darin, Grundsätze für den angemessenen Gebrauch der rhetorischen Mittel aufzustellen. Der Begriff der kultischen Darstellung ist also bei Schweizer eine Formel, die abbreviaturhaft eine grundsätzliche Definition der Predigt liefert. Sie spitzt einseitig zu und bedarf darum unbedingt der näheren Erläuterung. — Zur Erhellung von Schweizers Predigtanschauung kann schließlich eine Anamnese ihrer theologischen Voraussetzungen beitragen. Bekannt ist Schweizers vermittlungstheologischer Standpunkt. Seine irenisch ausgerichtete Theologie ist nach der von ihm selbst geprägten sprichwörtlichen Redewendung 'nach rechts und links' abgesichert15. Zeitgenössi12 Das Kultische bezeichnet die gottesdienstliche Darstellung des Glaubens (Liturgie und Predigt), das Pastorale hat die Aufgaben der Seelsorge zum Inhalt, und das Halieutisdie bezieht sich auf das missionarische Element der Verkündigung der Kirche. 13 „Der volle und entwickelte homiletische Vortrag, d. h. die Predigt, wird also von einem dargelegten Gebiete des Gemeinglaubens als von der eigentlich kultischen Wurzel aus zur anwendenden Paränese, die wesentlich den pastoralen Charakter hat, und zur halieutisdien Erweckung fortschreiten" S. 130. 14 Vgl. audi die Zusammenfassung von § 70: „Der volle Begriff des Homiletischen, d. h. die Predigt umfaßt alle drei Momente, so daß jedes Aufgeben des einen oder anderen eine Einseitigkeit wird." S. VIII. — Die 'zumutende' und 'erweckliche' Funktion von Schweizers Predigtbegriff wurde besonders ausführlich dargestellt, da sie von Bassermann und anderen nidit gesehen wurde. 15 „Lieber zu tolerant sein als zu exklusiv und ängstlich." S. 116.
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sches Glaubensbewußtsein und reformatorisches Christentum werden von Schweizer durch das Axiom geschichtlicher Entwicklung versöhnt16. In diesem Zusammenhang zeigen sich bei Schweizer allgemeine Berührungspunkte mit der idealistischen Theologie. Schweizer relativiert die geschichtlich gewordenen theologischen Bekenntnisformeln durch den Rückgriff auf die Idee des Christentums bzw. das „ewig sich selbst gleiche Wesen des Christentums", wie es in der biblischen „Urgestalt" hervorleuchtet (148). Im Christentum vermittelt sich das Absolute, es wird „Tatsache", wobei „Tatsache" und „Idee" in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. „Das Christentum selbst ist die Bewegung aus der Geschichte in die Idee und aus dieser in jene" (222). Das Christentum gründet sich zwar auf die geschichtliche Offenbarung in Christus. Aber es bedarf einer subjektiven Aneignung, damit es Kraft und Leben und Bewußtsein in der Kirche werde17. Insofern muß die Homiletik auf das persönliche Zeugnis des Predigers verweisen. Das Wort Gottes soll gepredigt werden, „wie es die individuelle Persönlichkeit erfüllt, Christus, wie er lebendige Gestalt in der Person gewinnt und in die persönliche Individualität sich ausprägt" (139). Ein subjektives Moment kommt hier ins Spiel. Die individuelle Ergriffenheit von der Kraft des Wortes Gottes wird zu einer Voraussetzung rechter Predigt18. Diesem „subjektiven" Element in Schweizers Predigtanschauung steht allerdings ein „objektives" gegenüber. Es kommt besonders in der materiellen Homiletik zum Ausdruck. Die Darstellung des Glaubensbewußtseins erfährt ihr zufolge immer eine „Reinigung" und „Läuterung" durch Liturgie und Schrift. Nicht zuletzt aus diesem Grunde insistiert Schweizer auf der Textgebundenheit der Einzelpredigt. Der Prediger, der davon mitteilt, wie er von dem Gotteswort betroffen ist, bleibt Diener des göttlichen Worts19. Er soll „Christum und das Gottesreich predigen", nicht das, „wonach den Zuhörern die Ohren jucken", sondern „das, was die Welt richtet und das Gottesreich erbaut" (173). Theologie und Frömmigkeit stehen für Schweizer in einem Korrespondenzverhältnis20. Der Glaube ist bei Schweizer nicht auf der Insel der bloßen Innerlichkeit eingeschlossen 21. Schweizer will auf der einen Seite die Externität des Wortes Gottes wahren 22 . Aber er legt andererseits allen Nachdruck auf die gegen18
Vgl. Wintzer, a.a.O. S. 607. Vgl. S. 182 f. Mit reformatorischen Kategorien könnte man sagen, daß Sdiweizer neben dem 'extra nos' das 'in nobis' besonders betont. 18 Die Terminologie Schweizers ist i. ü. partiell recht unbestimmt. Manche Aussagen bleiben in der Schwebe. Die vermittelnde Synthese erweist sich öfters als Hindernis für die Genauigkeit. 19 Vgl. S. 172. 20 Vgl. S. 213. 81 Vgl. dazu bes. § 122 über die Osterpredigt, S. 232 ff. " Vgl. S. 182. 17
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wärtige Lebenskraft des Wortes, auf die gegenseitige Durchdringung von christianum und humanuni. Das „Absolute" kann sich mit dem Endlichen vermitteln, auch wenn es nur in Gebrochenheit auf Erden wahrnehmbar wird. So beherrscht die Akzentuierung der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit des Glaubens Schweizers Predigtanschauung. Sie stellt hohe Ansprüche an den Prediger, sie kann der Predigt aber auch eine starke Uberzeugungskraft verleihen. Schweizer ist auch hierin ein Schüler Sdileiermadiers. Die materiale Homiletik ist also bei der Nachfrage nach Schweizers Predigtanschauung immer mit zu bedenken. Ihre spezielle Aufgabe besteht allerdings darin, den 'homiletischen Stoff' zu beschreiben. In ihr werden die Ausführungen über den Inhalt der Predigt konkretisiert. Unter dem Motto, aller 'christliche Stoff' werde nur, sofern er erbaut, ein homiletischer28, sichtet Schweizer die Quellen für den Inhalt der Predigt, die hauptsächlich in der Schrift und der kirchlichen Tradition gegeben sind (§ 93—113). Primärer Ordnungsfaktor ist das Kirchenjahr. Der theologische Gehalt der kirchlichen Feste wird von Schweizer in extenso dargestellt. Diese homiletischen Erläuterungen bilden gleichsam eine homiletisch ausgerichtete Dogmatik in nuce, bei der die Christologie bzw. der Erlösungsglaube im Vordergrund steht. Daneben behandelt Schweizer die Predigt an den allgemeinen Festtagen (Jahreswechsel, Erntedanktag etc.) und den besonderen kirchlichen Festen (Bußtag, Reformationsfest, Kirchweihe etc.). Auch die Kasualien sind in ihrer Vielfalt Thema der Homiletik. Sie sind nicht auf die sogenannten Amtshandlungen (Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung, Ordination) beschränkt. Die „eigentlichen Kasualien" sind nach Schweizers Definition überhaupt die „ungewöhnlichen Ereignisse". Sie haben „ihren Ort teils im Gemeindeleben und im Verhältnis des Geistlichen zur Gemeinde, teils im Staats- und Naturleben" (257). Ihr Kennzeichen besteht geradezu darin, daß ihre „systematische Rubrizierung . . . nicht durchführbar ist" (258). Schweizer zählt hierzu u. a. Antritts- und Abschiedspredigten, die Predigten anläßlich von Krieg und Frieden und bei Naturkatastrophen, also vor allem bei den nicht alltäglichen Anlässen des kirchlichen und politischen Lebens. Ein letztes Kapitel der materialen Homiletik befaßt sich mit der „Bestimmtheit des Stoffes für die einzelne Predigt". Textwahl und Abgrenzung der Predigttexte kommen hier zur Sprache. Daneben legt Schweizer großen Wert auf die individuelle Abzielung der Predigtaussage 24 . Die Grundsätze, die Schweizer hier aufstellt, verraten eine intensive geZusammenfassung von § 102, S. X . „Die Predigt soll einem bestimmten Lebensmoment, der so nie wiederkehrt, angehören, sie soll durch ihn individualisiert sein." S. 261. 25
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danklidie Durchdringung der homiletischen Praxis mit außergewöhnlicher Wachsamkeit gegenüber ihren möglichen Mängeln. — Die anschließende formale Homiletik stellt ausführlich die Aufbaugesetze sowie die Sprach- und Gestaltungsprobleme der Predigt dar. Soweit sie dem „homiletischen Stoff" angemessen sind, führt Schweizer in die Kunstregeln der Rhetorik ein. Die Gestalt- und Formprobleme der sonntäglichen Gemeindepredigt erscheinen von eigener Wichtigkeit. Oberster Grundsatz ist, daß die Predigtmaterie die „homiletische Form" selbst erzeugt (281). Der Methode von Schweizers Homiletik mit ihren vielen Rück- und Zwischenverweisen entspricht es, daß u. a. eine der Hauptfragen, wieweit das biblische Wort Gottes und die Person des Predigers für die Predigt bestimmend seien, auch innerhalb der formalen Homiletik erörtert wird. Schweizer wiederholt den Satz, daß sich der Prediger „nicht über das Wort Gottes setzen, es mehren, mindern, ändern" dürfe (283). Aber er vertritt daneben mit Nachdruck die Forderung, daß der Prediger seinen eigenen Predigtstil haben solle. Er soll dem Wort Gottes „dienen . . . mit seinen Gaben und Fähigkeiten" (283), seiner Lebenserfahrung und seinem theologischen Verstehen. Die Predigt soll ein sidi auch in ihrem Stil ausdrückendes individuelles Moment enthalten. Denn das Wort Gottes bzw. die Materie der Predigt soll mit ihren „erbauenden Wirkungen" den Prediger so ergreifen, daß er „damit die Gemeinde ergreifen will und kann" (286). Das BetrofFensein und Ergriffensein des Predigers nennt Schweizer den Predigtkeim (286). Dieser Predigtkeim impliziert immer schon ein Ziel, einen sogenannten Zweck der Predigt 25 . Der Zweck der Predigt prägt wiederum die oratorisdie Form der Predigt und ist für ihre verschiedenen Gattungen von konstitutiver Bedeutung (350). Explicatio und applicatio des 'Stoffes' sind also für Schweizer untrennbar verbunden. Die Predigt „muß immer explicatio und applicatio oder usus zugleidi sein" (287). Eine herausragende Bedeutung kommt bei Schweizer in diesem Zusammenhang der Unterscheidung und Zuordnung von Kausal- und Finalthema zu. „Das wahre Thema ist . . . eine Verknüpfung des Stoffes mit dem Zweck der Predigt, d. h. das Kausal- und Finalthema ineinander", obwohl „gewöhnlich nur das stoffliche Thema" angekündigt wird (314). Das hermeneutische Sdiema von explicatio und applicatio findet in dieser Zweischichtigkeit des Themas gleichsam eine homiletische Ausformung. Das Finalthema repräsentiert den Zweck der Predigt 28 . Die Predigt unterscheidet sich durch es von einer bloßen Abhandlung mit Erklärung und Beweisführung, für die ein Kausalthema hinreichend ist. 25 „Des Predigers allgemeiner Zweck ist immer die Erlösung und Heiligung der Zuhörer in Christo, aber jedesmal wird sich dieser Zweck näher bestimmen." S. 287. 2 ® Das Finalthema zielt besonders auf den Willen und das Gemüt.
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In der Einzelausführung seiner formalen Homiletik folgt Schweizer dem allgemeinen Schema von Disposition, Elocutio (stilistische Ausführung) und Aktion (Lehre vom Vortrag). Er verarbeitet die Kunstregeln der klassischen Rhetorik 27 wie auch die Anweisungen der homiletischen Literatur in ausgiebigem Maße. Schweizers Anweisungen über die Disposition zielen besonders auf das „oratorische Ganze" (312) der Predigt, auf ihre Einheit und teleologische Struktur 28 . Die logizistischen Dispositionskünste werden ausdrücklich abgewiesen, die Wichtigkeit des logischen und rednerischen Elements der Predigt wird jedoch ausführlich dargelegt29. In diesem Zusammenhang kommt audi die Korrespondenz von Text und Thema zur Sprache. Schweizer fordert, daß das Thema textgemäß sein müsse (318). Allerdings erwartet er von der normalen Predigt eine bestimmte Akzentuierung der Textaussage in Unterscheidung von der Homilie30. Die Ausführungen über die elocutio schließen sich partiell an die klassische Rhetorik an. Schweizer möchte für die elocutio der Predigt die rhetorischen Regeln fruchtbar machen. Die ausführliche Darstellung der elementaren Regeln und Gesetze der Rede ändert freilich nichts daran, daß Schweizers Homiletik ein Dokument für das Bemühen war, die Predigt aus der captivitas rhetorica zu befreien. Hinsichtlich der Grundverfassung bleibt Schweizers Predigtlehre das Beispiel einer genuin theologischen Konzeption der Homiletik. Es ist das unbestrittene Verdienst Alexander Schweizers, in seiner Homiletik der evangelisch-protestantischen Kirche die Haupt- und Einzelprobleme der Homiletik vollständig und — von seinem Standpunkt aus — mit abgewogenem Urteil dargestellt zu haben. Die wichtigsten Aspekte dieser Homiletik wurden in dem obigen Durchblick kurz beleuchtet. Auf die große, audi historische Sachkenntnis in der Behandlung der Einzelfragen kann hier nur hingewiesen werden. Sie ist für den Leser evident. Es bleibt allerdings zu fragen, ob die konsequent systematische Darstellungsform der Homiletik angemessen sei; oder anders, ob der Preis der Abstraktion, der für diese Darstellungsart zu zahlen ist, nicht zu hoch sei81. Denn Schweizers Homiletik ist, wie schon angedeutet, keine Predigtanleitung im bis dahin üblichen Sinne. Sie stellt primär Grundsätze und 27
Zahlreich sind die Verweise auf die diesbezüglichen Abschnitte bei Schott. Einleitung, Sdiluß und Partition der Predigt werden im einzelnen auf ihre Aufgabe hin untersucht. 29 Vgl. S. 325 ff. Die logische Reihenfolge sei durch Koordination, die oratorische durch Fortschreiten zum Ziel charakterisiert, S. 330. 30 Die Predigt soll textgemäß sein und dennoch ein vom Text unterschiedenes Thema haben, S. 319 f. 31 Erst recht ist diese Frage dann hinsichtlich der Darstellungen der Homiletik innerhalb der großen Systeme der Prakt. Theologie zu stellen (Harnack, v. Zezschwitz u. a.). 28
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Verfahrensregeln auf, durch die die Predigtpraxis gefördert und korrigiert werden soll. Sie setzt bei ihren Lesern das Vermögen voraus, die Predigtprobleme theoretisch zu durdidenken. Das Anschauungsfeld der Praxis ist in ihr vorausgesetzt, und nur in Verbindung mit ihm kann diese Homiletik wirklich Früchte tragen. Schweizer tut gleichsam einen Schritt von der Praxis in die Theorie und reflektiert die Predigtprobleme grundsätzlich. Die Anwendung der Theorie in der Praxis ist eine Aufgabe für den Prediger, die ein hohes Maß an theoretischem und produktivem Denken erfordert. Die Darstellungsform dieser Homiletik bedingt also einen relativ großen äußeren Abstand zur Praxis. Als Möglichkeit zeichnet sich darum hier der Weg einer zweigleisigen Homiletik ab: eine theoretisch-systematische Darstellungsform und daneben eine unmittelbare Predigtanleitung. Schweizer hat dies gesehen, ja sogar angestrebt. Er meint, daß die „Kollegien fruchtbarer werden, wenn mehr Zeit für praktische Übungen gewonnen und die Theorie in Form von Repetitorien durchgearbeitet wird" (III). Sodann empfiehlt er als Ergänzung zu seiner Homiletik die leicht eingängige Homiletik von Palmer. „Dort wird näher die unmittelbare Leitung der Praxis bezweckt, hier die wissenschaftliche Organisation der Theorie selbst: insofern können beide Werke einander ergänzen" (IV). Es ist offensichtlich, daß Schweizers Homiletik hinsichtlich ihrer Einzelausführung nicht als Normaltyp einer Homiletik gelten kann. Sie ist, sieht man jene Zweigleisigkeit nicht als ideal an, zu abstrakt und ohne die Beigabe hinreichenden Anschauungsmaterials geschrieben. Dennoch wird ihr innerhalb der Geschichte der Homiletik immer ein besonderer Rang zukommen; denn die systematische Durchdringung der homiletischen Probleme und deren ordnende Integration ist in ihr in seltener Weise gelungen. b) C.I.Nitzschs am Wort
Erneuerung
des Verständnisses
der Predigt
als
Dienst
Im selben Jahr wie Schweizers Homiletik erschien auch diejenige von Carl Immanuel Nitzsch im 2. Bande seiner Praktischen Theologie, der ersten großen Gesamtdarstellung dieser jungen wissenschaftlichen Disziplin überhaupt. Nitzsch handelt die Homiletik als Kunstlehre ab. Das Problem der wissenschaftlichen Darstellung der Homiletik steht auch bei ihm besonders zur Debatte. Von mindestens gleichem Gewicht ist jedoch seine partielle Korrektur von Schleiermachers theologischer Grundlegung der Predigt. Allein schon terminologisch knüpft Nitzsch an die Predigtlehre der altprotestantischen Tradition an. Der Leitbegriff der Predigt heißt bei ihm nicht Darstellung, sondern Dienst am Wort Gottes (Ministerium verbi). Die Predigt wird in Verbindung mit dem kirchlichen Unterricht und darum primär unter dem Gesichtspunkt der Lehre, nicht 31
der Feier beschrieben. Homiletik und Katedietik bilden für Nitzsch eine Einheit: die Didaktik 32 . Die Definition der Predigt als Dienst am Wort bedarf der näheren Explikation. Nitzsch selbst betont die inhaltliche Dialektik dieses Predigtbegriifs. Dem Hören ordnet er korrelativ das 'Feiern' zu. „Der Glaube der Kirdie soll nicht aufhören, was er innegeworden ist, zu äußern, und wiederum, der Glaube kann nicht aufhören aus demselben Worte sich zu nähren, welches ihn erwecket hat" (11,47). Es gibt einerseits eine Kontinuität des Glaubens und darum die Möglichkeit seiner Darstellung. Andererseits hebt Nitzsch hervor, daß der Glaube immer auch noch. im Werden ist. Das begründende Wort kommt nie zu einem Ende. Nitzsch fragt: „Warum (sollen wir) die Gemeinde, wie sie ist, nicht auch unterscheiden von der, welche werden soll?" (11,55). Wer von der Predigt handelt, stößt nach Nitzsch unumgänglich auf eine dialektische Zweiheit, die in der Doppelheit einer objektiven und subjektiven Bestimmung der Predigt begründet ist83. Weil aber der Glaube (und die Gesinnung) aus dem begründenden Worte kommt und auch weiterhin von ihm lebt, geht Nitzsch bei der Formulierung seines Predigtbegriffs nicht von der Darstellung aus. Unter dem theologischen Gesichtspunkt nennt Nitzsch die objektive Bestimmung zuerst. Der entfaltete Leitsatz über den „Begriff und Zweck der Predigt", von dem Nitzschs genauere Erörterung der Predigtdefinition ausgeht, ist viergliedrig. Die Predigt ist demnach „die fortgesetzte Verkündigung des Evangeliums zur Erbauung der Gemeinde des Herrn, eine Verkündigung des durch heilige Schrifttexte vermittelten Wortes Gottes, welches mit lebendiger Beziehung auf gegenwärtige Zustände und durch berufene Zeugen geschiehet" u. Diese vier Hauptcharakteristika der Predigt seien kurz erläutert: Erstens: Die Frage, ob die sonntägliche Predigt nur reine Gemeindepredigt oder auch missionarisdie Predigt sei, wird von Nitzsch nicht im Sinne einer Alternative beantwortet. Nitzsch geht davon aus, daß die „Erbauung der Gemeinde sich stets von neuem durch das Zeugnis der ss Der Begriff der Lehre wird von Nitzsch allerdings in einem sehr weiten Sinne verstanden. Er sei, dem neutestamentlidien Sprachgebrauch zufolge, „keineswegs zu eng, um mit der unterrichtenden Rede die das Selbstbewußtsein in der Totalität des Lebens darstellenden und ergänzenden Vorträge zu vereinigen". Praktische Theologie II, S. 2. — Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Praktische Theologie von Nitzsch. 38 Vgl. II, S. 48—54. 84 II, S. 47. — Die einleitende Abgrenzung lautet: „Die Predigt ist zwar öffentliche Handlung, nämlich öffentliche Rede an eine feiernde Versammlung, deren Gemeinleben dadurch gepflegt werden soll, näher, religiöse Rede, redende Darstellung des religiösen Gemeinbewußtseins, welches seine Nahrung und Vervollkommnung sucht: aber mit dem allen wird ihre Eigentümlichkeit noch nicht bezeichnet. Die Predigt geht aus dem Grunde des kirchlichen Lebens hervor und auf den Endzweck desselben hin."
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Wahrheit (begründet), welches sie empfängt und fortsetzt" (I,213) 85 . Das göttliche Wort als „Einheit von Verheißung und Gebot" (11,48) ergeht auch an die Gemeinde immer wieder aufs neue. Der eine objektive Pol in der dialektischen Entfaltung von Nitzschs Predigtbegriff ist die unaufgebbare „Bestimmung, Christum zu verkündigen", „den Weg und Willen Gottes in Christo der Welt zu bezeugen" (II, 49)36 und zu dem erlösenden, heilbringenden und in den Dienst Christi stellenden Glauben zu führen. Die „Tatsachen des Reiches Christi" sind der „wesentliche Redegrund" der Predigt (11,49). Die Gemeinde empfängt das Wort der Wahrheit, das sie verkündet. Es ist nicht ihr Wort, audi wenn es durch sie gepredigt und tradiert wird. Aber weil das Wort der Wahrheit der Gemeinde anvertraut ist und in ihr wirkt, gibt es auch einen darstellenden Vollzug ihres „Glaubens in brüderlicher Liebe, ihrer Liebe im Glauben" 87 . Nitzsch ordnet diese Faktoren in der Entfaltung seines Predigtbegriffs nebeneinander; sie sind aber in Wirklichkeit dialektisch verbunden. Der objektive Ansatz und das von Schleiermacher übernommene Interesse, die gegenwärtige Wirklichkeit des Glaubens aufzuzeigen, korrespondieren bei Nitzsch untrennbar. Zweitens: Ihre materiale Explikation findet die Bestimmung der Predigt als fortgesetzte Verkündigung darin, daß sie „Auslegung heiligen Schriftinhaltes" sei. Das Offenbarungswort wird durch die Schrift überliefert, auch wenn es nicht mit ihr unterschiedslos identisch ist. Schrift und Wort Gottes bilden eine unlösbare Einheit und sind doch „verhältnismäßig verschieden", weil das Göttliche und das Menschliche sich in der Schrift durchdringen (II, 50). Im übrigen ist für Nitzsch die Predigt nicht nur Schriftauslegung im Sinne reiner explicatio. Die Predigt unterliegt der biblischen Sachbindung, aber nicht der Bindung an den Buchstaben des Textes. Sie ist zugleich eine „Glaubenstat", insofern in ihr der Glaube der Gemeinde und des Predigers zur Sprache kommt. Als solche ist sie „Verkündigung des Wortes Gottes aus Glauben zum Glauben" (11,50). Zwischen der Schrift und der Gemeinde steht der Prediger als Ausleger und Zeuge der verkündeten Wahrheit. Die Predigt ist ein Akt der Vermittlung; Menschliches und Göttliches kommen in ihr zusammen und sollen durch sie konfrontiert und vereint werden. Das Zeugnis des Predigers rückt darum in die Nähe des schriftlich tradierten Zeugnisses der ersten Zeugen. — 35 Die Gemeindepredigt bereitet nach Nitzsch zur Kommunion vor, die Missionspredigt auf die Taufe; II, S. 48. " Nitzsch unterscheidet i.ü. hinsichtlich der „theoretischen Richtung der Predigt" ein evangelistisdies, prophetisches und didaskalisches Element; II, S. 58. 37 Zur Charakterisierung der 'Feier' vgl. I, S. 218.
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Drittens: Eine Homiletik des Brückenschlages könnte man Nitzschs Homiletik nennen. Das zeigt sich nun besonders an den beiden subjektiven Faktoren seines Predigtbegriffs, von denen der erste auf die gegenwärtigen „erkennbaren inneren und äußeren Zustände der zuhörenden Gemeinde" bezogen ist (11,51). „Das Seligwerden in des Herrn Gemeinschaft" als „Endzweck der Predigt" geschieht nur durch eine „Veränderung und Erneuerung des Selbstbewußtseins der Menschen" (11,51). Um diese Erneuerung des menschlichen Sinns zu fördern, ist dem Prediger der Dialog mit dem Hörer aufgegeben. Die Predigt soll an Erfahrung, Vorstellung und Empfindung der Hörer anknüpfen, denn die Predigt will den Menschen, da sich Gott selbst herabgelassen hat, in dem Seinigen aufsuchen. N u r dann kann sie wirken: heilend, aber auch zur Buße rufend; „denn wirkt (das Wort) nicht kritisch, so wirkt es das seinige nicht" (11,51). Die psychologischen Hilfen sind daher ein integraler Bestandteil der Predigt. Wer zur Gerechtigkeit und Seligkeit führen will, muß diese begehrenswert machen, die Erkenntnis fördern und den Willen beeinflussen38. Nitzschs nüchterne Beobachtung der psychologischen Bedingungen einer gezielten Predigt verbindet sich mit einer positiven Wertung der Redekunst überhaupt. Er erblickt ihre Aufgabe, wie auch Theremin, darin, daß sie Gesinnungen weckt. Nitzsch postuliert sogar, es gebe „keine wesentliche Regel der antiken Rhetorik, welche nicht aus den Propheten und Aposteln zu erläutern wäre" (II, 35). Eine spezifisch christliche Rhetorik gibt es für ihn nicht. Viertens: Gegenstand besonderer Betrachtung ist in Nitzschs Predigtdefinition schließlich die Zeugenfunktion des Predigers. Sie verdeutlicht zugleich seinen GlaubensbegrifF. Der Zeuge ist für Nitzsch mit der glaubenden, überzeugten Persönlichkeit identisch. Des Zeugen Berufung beruht nicht nur auf einem kirchlichen Akt, sondern setzt auch die persönliche Uberzeugung von der Wahrheit des christlichen Glaubens voraus. Glaube und Gesinnung korrespondieren miteinander. Die Gesinnung ist bei Nitzsch ein Auslegungsbegriff für den Glauben. Persönliches Christentum ist neben der Schrift ein Quellgrund der Predigt. Nitzsch denkt dabei nicht an ein absolutes Ideal christlichen Lebens; denn „die Persönlichkeit nimmt sich aus dem Werden, dem Suchen und Kämpfen der Gemeinde nicht heraus" (11,54). Es genügt die tiefgegründete persönliche Uberzeugung, das Faktum „menschlichen Dienstes" (11,53) für Gott, auf dessen Ebene auch die Predigt liegt. 38 „Es kommt also darauf an, den homiletischen Endzweck (nämlich die „priesterliche Vermittlung des geistlichen Lebens") psychologisch zu entwickeln, und diese Entwicklung hat sich wesentlich an eine Wechselwirkung der Erkenntnis und des Willens und doch an den Zweck der Erkenntnis zuerst zu halten. Einbildungskraft und Gefühl haben nur die Würde der Vermittlung." II, S. 57.
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In der weiteren Entfaltung seiner Homiletik geht Nitzsch ähnlich wie Schweizer vor. Den Erwägungen über Begriff und Zweck, Ziel und Aufgabe der Predigt folgen gedrängte Ausführungen über den Inhalt der Predigt. Ihnen schließt sich in vier Teilen (Entwurf, Ausführung, Sprache, Vortrag) eine verhältnismäßig breit angelegte formale Homiletik an. Die Ausführungen über den Inhalt der Predigt bzw. über die „homiletische Findung, nicht Erfindung" (II, 70) sind im Grunde eine Entfaltung des Wesensbegriffs der Predigt, wie ihn Nitzsch zu Beginn seiner Homiletik dargelegt hat. Jedoch erläutert Nitzsch in diesem Zusammenhange nun auch die Differenz zwisdien dem „wesentlichen Gehalte" und der Gesamtausführung der Predigt, die eine Summe von allgemeinen Sachbeziehungen impliziert. Nitzsch urteilt, daß es „zwisdien dem wesentlichen Gehalte der Predigt Christi und jenem allgemeineren, natürlichen, vernünftigen, menschlichen eine Fülle von Beziehungen (gibt), vermöge welcher sich der letztere als der mittelbare, dienstbare Stoff unentbehrlich macht". „Der homiletische Inhalt (läßt) im ganzen unendliche Erweiterung zu, ohne seine Bestimmtheit aufzugeben" (11,71). Grundsätzlich hat die Gemeindepredigt, in lockerer oder enger Verbindung mit ihrem Wesenskern, eine Fülle allgemeiner Themen zu ihrem Gegenstand. Nur wenige Themen sind generell auszuklammern, so ζ. B. diejenigen des politischen Parteienstreites. Die Korrelation zwisdien ethischen und dogmatischen Themen wird von Nitzsdi besonders hervorgehoben. Nitzsch ist überhaupt auf Ausgleich und Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Auffassungen in der Predigtlehre bedadit. Bei grundsätzlichem Festhalten an der Sitte der Textpredigt stellt er beispielsweise die Argumente für die 'synthetische' und die 'analytische' Predigt gegenüber. Nitzsch läßt sich auch hier auf keine sdiematisdie Alternative ein und fordert nur, daß der „Grundgedanke der Predigt mit dem Grundgedanken des Textes" übereinstimme (II, 101). Der Gehorsam „gegen den zu erforschenden Willen des Textes" (11,103) wird von Nitzsch eingeschärft. Aber der Text allein erzeugt noch keine Predigt, denn die Predigt schöpft immer aus „Schrift und Leben" (11,95). Die formale Homiletik Nitzschs bewegt sich primär in den Bahnen der formalhomiletischen Tradition, angefangen bei den Fragen der Thematisierung, die sich in der „Sprachlehre" (II, 125) und in den Problemen des Vortrags fortsetzen. Aufs Ganze gesehen verweilt Nitzsch bei diesen Fragen relativ lange. — In ihrer Gesamtheit stellt Nitzschs Homiletik das Paradigma einer Kunstlehre dar. Dieses Verständnis der Homiletik stammt zwar von Schleiermacher. Es ist aber erst durch Nitzsch vollends in die homiletische Theorie eingedrungen. Nitzsdis Begriff der Kunstlehre sei darum hier absdiließend dargelegt. 35
Die Kunstlehre der Homiletik hat in der „zweckmäßigen Verfahrensweise" der kirchlichen Predigt ihr Objekt. Sie unterscheidet sich von einer reinen Wesenslehre, aber auch von einer Regelsammlung. Die prinzipielle Definition der Predigt ist bei Nitzsch in die Kunstlehre eingeschlossen, insofern als die sachgemäße Entfaltung der materialen und formalen Homiletik ohne sie nicht möglich ist 89 . Die Homiletik ist als Kunstlehre also auch mit einer Wesenslehre verbunden; sie auf die Wesenslehre der Predigt zu beschränken hieße freilich, die Homiletik in eine lange Einleitung ihrer selbst zu transformieren. Als Theorie zur Praxis stellt die Kunstlehre Grundsätze auf, von denen her die Predigtpraxis gefördert, kritisch korrigiert oder auch neu gestaltet werden kann. Ins Detail gehende, genaue Ausführungsbestimmungen zu formulieren kann nicht ihre eigentliche Aufgabe sein, denn das Moment des Individuellen und Unwägbaren läßt sich nicht in Regeln einfangen. Die Homiletik kann Beispiele geben, aber sie darf nicht zu einem Regelkodex werden. So ist die Kunstlehre immer auf die Predigtpraxis bezogen. Sie begründet diese nicht erst40. Sie bedarf der Predigtvorbilder, auf die sie in Zustimmung und Kritik verweisen kann. Der Bezug auf die tatsächliche Predigtpraxis ist unabdingbare Voraussetzung für eine gute Kunsttheorie der Predigt; und es mag ein Hauptunterschied zwischen der Homiletik des 19. Jahrhunderts und der heutigen Homiletik sein, daß die erste in weitem Maße das Anschauungsfeld der zeitgenössischen Predigten nutzte 41 . Das obige Verständnis der Homiletik spiegelt im übrigen nur die Grundsätze von NitzschsPraktischer Theologie überhaupt wieder. Nitzsch sieht in dem kirchlichen Leben das übergreifende Thema, das alle Einzelthemen in sich vereinigt. Es kommt in dreifacher Hinsicht bei ihm zur Sprache. Zunächst ist der „urbildliche", grundchristliche Begriff des kirchlichen Lebens Gegenstand der Praktischen Theologie. An zweiter Stelle folgt die Deskription des kirchlichen Lebens im jetzigen Zeitpunkt seiner „protestantischen Entwicklung". In einer kritisch vermittelnden *· „ D a ß die Kunstregel aus der Idee eines Tuns abgeleitet werde, gehört selbst mit zur Kunsttheorie." I, S. 32. — „Zuerst hat man den Begriff der Predigt aufzufassen, wie ihn die heilige Schrift und das kirchliche Leben spenden, und daraus den Zwede, die allgemeine homiletisdie Aufgabe zu entwickeln." II, S. 45. 4 0 „Die Homiletik als Kunstlehre will den Predigerberuf nicht erzeugen, wohl aber für die Bildung der Berufenen ein wichtiges Moment hergeben." II, S. 38. 4 1 „Zwar wächst die Theorie erst aus der Mannigfaltigkeit der wirksamsten Vorbilder heraus, aber sie beleuchtet audi prophetisch den Weg der Praxis, der noch nicht betreten wurde, und hilft sowohl über knechtische Nachahmung als über willkürliche Abweichung von der Sitte hinweg." II, S. 44. — In bezug auf Nitzschs Homiletik ist freilich einschränkend zu sagen, daß seine Hinweise auf die Predigtpraxis nodi zahlreicher sein könnten.
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Aufnahme des „urbildlichen" und „historischen" bzw. zeitgenössischen Begriffs ist sodann die Darstellung der „leitenden Gedanken für alle zu erfüllenden Aufgaben" das opus proprium der Praktischen Theologie. Der Weg Nitzschs verläuft also von dem Prinzipiellen und Allgemeinen zu dem Besonderen und Konkreten. Hinsiditlidh des kirchlichen Lebens bedeutet dies, daß es „auf den theologischen Begriff von der Kirdie zuerst und am meisten" ankommt (1,126). Die Prolegomena der Praktischen Theologie erhalten damit ein besonderes Gewicht. Auf der Einleitung ruht ein Hauptakzent, denn Nitzsch urteilt, daß „der historische und dogmatische Begriff der christlichen Kirdie nicht Inhalt, sondern Voraussetzung und eine Quelle der Praktischen Theologie" sei. Der eigentliche Gegenstand der Praktischen Theologie ist „das sich selbst Begründen, Auswirken, Vermitteln im Dasein, das kirchliche Leben und Verfahren oder Handeln" (1,129). Die Gemeinde ist in der Sicht Nitzschs selbst das „aktuose Subjekt" 42 . Sie sorgt für ihre stetig weitergehende Begründung und wirkt ihre „Selbsterbauung". Sie übt die Tätigkeiten aus, aus denen das kirchliche Leben besteht. Nitzsch zählt hierzu die Lehre (Predigt und Unterricht) 43 , die Feier, die Seelsorge, die Zucht, die Haushaltung und das ordnende Handeln der Kirche. Wie weit diese Homiletik in der Form der Kunstlehre für die Praxis dienlich sein kann, hängt freilich bei Nitzsch ähnlich wie bei Schweizer von dem wissenschaftlichen Geist ihrer Leser ab; denn die in ihr aufgestellten Grundsätze setzen voraus, daß sie in der Praxis produktiv verarbeitet oder in ihrer kritischen Funktion fruchtbar gemacht werden. Der betont wissenschaftlich-grundsätzliche Charakter von Nitzsdis Homiletik ist darum ihr Vorzug und ihre Grenze zugleich. c) Der Entwurf der Homiletik von
Ph.K.Marbeineke
Im Anschluß an die Darstellung der homiletischen Systeme von Schweizer und Nitzsch sind zwei Veröffentlichungen nachzutragen, die zwar eine chronologische Priorität besitzen, jedoch von geringerem Gewicht sind. Sie stammen von Schleiermachers Berliner Fachkollegen Philipp Konrad Marheineke, der seit 1820 auch Prediger an der Dreifaltigkeitskirche war. Es handelt sich um die 1811 veröffentlichte, nicht sehr bedeutende Frühschrift „Grundlegung der Homiletik, in einigen Vorlesun4 2 Vgl. I, S. 110. — Nitzsch geht also im Unterschied zu Schleiermacher und Schweizer nicht von dem 'klerikalisdien Gegensatz' Pfarrer—Gemeinde aus. 4 3 Prinzipielle Erwägungen über die Predigt finden sich bereits in dem Abschnitt „Die Idee des kirchlichen Lebens oder der urbildliche Begriff" (vgl. bes. § 41). Nitzsdi nimmt deren Ergebnis in den grundlegenden Partien seiner Homiletik (Von der Lehre oder dem Dienste am W o r t ) auf.
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gen über den wahren Charakter eines protestantischen Geistlichen" und um den 1837 erschienenen „Entwurf der practischen Theologie". Dieser Entwurf steht hier hauptsächlich zur Debatte. Auf die zeitgenössische Predigt hat Marheineke kaum eingewirkt. Seine eigenen Predigten trugen ihm das Urteil „ preten tiöser Affectation und bombastischer Phraseologie" ein44. Als Verfasser eines homiletischen Entwurfs auf der Grundlage einer von Hegel beeinflußten Theologie hat sich Marheineke jedoch in der Geschichte der Homiletik einen Platz erobert. Die Homiletik in dem „Entwurf der practischen Theologie" zeichnet sich durch außergewöhnliche begriffliche Durchdringung der Materie aus. Marheinekes Bemühungen um den wissenschaftlichen Begriff der Predigt haben darum bei den Zeitgenossen besondere Beachtung gefunden. Anders als Schleiermacher hat Marheineke jedoch keine homiletische Schule begründet. Marheineke hat mit Nachdruck die Wissensdiaftlichkeit der gesamten Praktischen Theologie gefordert. Sie schlägt sich für ihn u. a. in einer konsequenten systematischen Darstellungsform nieder. Marheinekes „Entwurf der practischen Theologie" ist ein extremes Beispiel für das Eindringen der System-Scholastik auch in die Praktische Theologie der Zeit. Palmer hat nicht ohne Grund Marheinekes Darstellung spöttisch als ein „Schnarrwerk seiner Kategorien" charakterisiert45. Die Theoretisierung der Praktischen Theologie bzw. der Homiletik ist bei Marheineke teilweise bis zur Abstraktion gesteigert. Das Interesse, allen Faktoren ihren Ort innerhalb des vielfächrigen Systems anzuweisen und die Materie der Praktischen Theologie in knapper, partiell formelhafter Begrifflichkeit darzustellen, zeigt sich überall. Der Weg von der durch die Idee beherrschten Theorie zu der Praxis mit ihren zahlreichen und unwägsamen Einzelfaktoren ist von Marheinekes „Entwurf der practischen Theologie" aus recht weit. In der Grundlegung der Homiletik von 1811 ist die begriffliche Durchdringung freilich noch wenig gelungen. Sie ist apologetisch ausgerichtet und ermangelt der theologischen Präzision. Marheineke stellt in ihr die Idee der Religion und die Idee des Priestertums in Auseinandersetzung mit dem Rationalismus dar. Die rein praktischen Predigten lehnt er ab, denn die Predigt soll „das Herz der Menschen vom Zeitlichen und Vergänglichen" losreißen46. Der Glaube wird als ein „Einswerden mit Gott" beschrieben47. Die Erkenntnis und Anbetung Gottes werden zu den zentralen Themen der Theologie und damit auch der Predigt und des Got44
RE, 3. Aufl., Bd. 12, 1903, S. 305. Zitiert bei W.Birnbaum, Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth, 1963, S. 45. 46 Grundlegung der Homiletik, S. 40. « Ebd. S. 72. 45
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tesdienstes erklärt. Sodann wertet Marheineke in der Grundlegung der Homiletik von 1811 wieder den Begriff des Priesters auf. Es ist priesterliche Aufgabe, die „Lebensgegensätze zu vermitteln". Die Priester vollziehen gleichsam „das Erlösungswerk Christi an der Welt". — Während die Grundlegung der Homiletik zum Teil recht aphoristisch und, wie gesagt, auch verschwommen in der Darstellung ist, ist die Theoretisierung und die begriffliche Durchdringung in dem „Entwurf der practischen Theologie" von 1837 fast zum Selbstzweck geworden. Theologisch stellt der Entwurf ein Dokument der spekulativen Theologie bzw. des Rechtshegelianismus dar. Marheineke geht von der Voraussetzung aus, daß Denken und Glauben miteinander versöhnt werden können. Der menschliche Geist kann an dem göttlichen Geist, der allein das wahre Erkenntnisprinzip ist, teilhaben. Die Teilhabe ist möglich geworden durch die Offenbarung des göttlichen Logos in Jesus Christus. Der Satz von der möglichen Einheit des göttlichen und menschlichen Geistes erweist sich als die theologische Grundlage von Marheinekes Homiletik und speziell seiner Bestimmung der Predigt als Wort Gottes. Allerdings leitet auch Marheineke den Begriff der Predigt zunächst — ähnlich wie Schleiermacher — aus dem Begriff des Gottesdienstes ab. „Nur aus dem allgemeinen Begriff von (Gottesdienst) kann, was eine Predigt ist, richtig erkannt werden. Die Gemeinde, zum Gottesdienst versammelt, bleibt in allen Bewegungen ihrer Andacht zunächst bei sich, geht gedanken- und empfindungsvoll mit sich selbst um; aber ebensosehr setzt sie auch ihre Tätigkeit sich gegenüber, und es wird so durch den Hervorgang des Geistlichen ihr ihre innere Bewegung und Andacht objektiv" (§ 338). Die gottesdienstliche Integration der Predigt erweist sich jedoch bei näherem Zusehen als ein überwiegend formales und äußeres Kriterium. Marheineke schränkt sogleich ein und erläutert, daß die gottesdienstlich versammelte Gemeinde nur ein konstitutiver Faktor für den Predigtbegriff sei. „Vorzutragen" hat der Prediger letzthin das Wort Gottes, und die Predigt ist eine „Vermittelung zwischen dem Wort Gottes und der Gemeinde" (§ 339). Begrifflich knüpft Marheineke an die reformatorische Predigtanschauung an. „Was in der Gemeinde verkündigt wird, ist nicht Menschenwort nur, sondern Gotteswort, und darin redet Gott selbst den Menschen an." 4 8 Die Zweieinheit von Gotteswort und Menschenwort wird von Marheineke prononciert vertreten; ja, man könnte die Repristination der Aussage, daß die Predigt Wort Gottes sei, geradezu als das Hauptcharakteristikum der homiletischen Ausführungen Marheinekes bezeichnen. Jedoch besagt Marheinekes Satz, daß die Predigt „an sich" Wort 4 8 § 332. Vgl. auch § 3 4 0 : „Das W o r t Gottes, dessen Verkündigung die Predigt ist, kann an sich von dem, dessen W o r t es ist, nicht verschieden sein."
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Gottes sei, nicht dasselbe, was die Reformatoren mit diesem Satz aussagen wollten. Denn für Marheineke ist es die Einheit des menschlichen Geistes mit dem geoffenbarten göttlichen Geist, die der Predigt diese Dignität verschafft. Das Denken und Reden kann Ausdruck göttlichen Geistes sein. Wenn der Prediger den Sohn, der der „göttliche Logos" ist, verkündet, predigt er Gottes Wort (§ 348), und dieses Wort schafft Erleuchtung, Heiligung und Beseligung (§ 344). Es ist nicht verwunderlich, daß Marheineke in Verbindung mit dieser Identitätstheologie bzw. -philosophic audi einen göttlichen Ursprung der Sprache behauptet (§ 331). Die Synthese von Philosophie und Theologie ist offenbar. Sie wird nicht zuletzt durch eine Sprachregelung erreicht. Die Begriffe der Tradition werden von Marheineke aufgenommen, aber in einem anderen Sinne verstanden. Nicht das Heilshandeln Gottes, sondern die Erkenntnis des Ewigen und Absoluten, das in Jesus Christus offenbar geworden ist, und an dem der Mensdi partizipieren kann, ist der hauptsächliche Ausgangspunkt seiner Theologie49. Marheinekes Begriffe sind daher auf ihren Gehalt hin zu befragen, den sie im Zusammenhang seines Systems besitzen. So liegt in Marheinekes homiletischen Ausführungen der Hauptakzent schließlich nicht allein auf der Theologie der Predigt, sondern die Prinzipienfragen der Theologie stehen in ihnen selbst zur Debatte. Speziell das Problem der Gotteserkenntnis sei von hödister Relevanz für die Predigt. „Ohne (Erkenntnis) kommt die christliche Wahrheit nicht zu ihrer lebendigen Wirksamkeit. Ist die ewige Wahrheit erkenntnislos, so ist sie auch sprach-, macht- und wirkungslos. Der Grundsatz der neueren Theologie, daß Gott nicht im wahrhaften und eigentlidien Sinne zu erkennen sei', hat der christlichen Beredsamkeit die Wurzel ausgerissen" ($ 333). Es wird in Marheinekes „Entwurf der practischen Theologie" also eine hochgespannte Auffassung von der Predigt vorgetragen, weil dem menschlichen Geist das Vermögen zugeschrieben wird, das Ewige und Absolute zu denken und auszusagen. Die theologische Problematik beherrscht hier alles. Eine Beurteilung von Marheinekes homiletischer Konzeption müßte darum in eine Auseinandersetzung mit seiner von Hegel beeinflußten Theologie eintreten, denn die Homiletik stellt sich bei Marheineke primär als ein Problem der Theologie dar. Es wäre dann auch die Frage zu stellen, ob die von Marheineke propagierte 'spekulative' Predigt in Einfachheit und Verständlichkeit das Wort sagen kann, das die Herzen nicht leer läßt. Es ist beachtenswert, daß Marheineke auf die zeitgenössische Predigt keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt hat. Dieses Faktum mag 4 ' Vgl. die Darstellungen der Theologie Marheinekes: Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 3. Aufl. 1960, S. 442—449; Emanuel Hirsch, Gesdiidite der neueren protestantischen Theologie, Bd. 5, S. 366—372.
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eine zu starke Intellektualisierung der Predigt, wie sie Marheineke verstanden wissen wollte, signalisieren. — Neben den theologischen Fragen sind auch die gängigen Probleme der zeitgenössischen Homiletik bei Marheineke angeschnitten. Predigtfaktoren wie das 'Bedürfnis der Gemeinde', die 'Individualität des Predigers' und die 'Popularität der Predigt' finden in dem „Entwurf der practischen Theologie" ihre Berücksichtigung und partiell eine lexikographisch kurze und präzise Erläuterung. Das Wort Gottes, die subjektive Überzeugung des Predigers und die Rücksicht auf die Gemeinde werden als die drei Faktoren der Predigtausführung beschrieben. Manche Begriffsbestimmungen sind meisterhaft. Doch impliziert der Begriff bei Marheineke nicht immer eine genügende Vorstellung. Das Problem der Theorie meldet sich bei Marheineke mit beunruhigender Dringlichkeit an, denn seine Homiletik führt die Problematik einer zur Abstraktion tendierenden Homiletik besonders deutlidi vor Augen. d) Die konfessionell-lutherische Variante der Kultuspredigt sius Harnack: Predigt als sacrificium und sacramentum
bei Theodo-
Es wurde einleitend dargelegt, daß Sdileiermachers homiletische Konzeption die Homiletik des 19. Jahrhunderts direkt und indirekt weitgehend beeinflußt hat. Diese These läßt sich letztlich auch an der Predigttheorie von Theodosius Harnack erhärten, obwohl diese auf dem Boden einer bekenntnisgebundenen lutherischen Theologie gewachsen ist 50 . Deutlich ist der indirekte Einfluß Schleiermachers in Harnacks Magisterschrift „Die Idee der Predigt, entwickelt aus dem Wesen des protestantischen Cultus" (1844) zu erkennen. C.I.Nitzsdi, bei dem Harnack eine Zeitlang hörte, wird hier eine Vermittlerrolle gespielt haben. In der ausgeführten Homiletik, die 1878 im 2. Band der „Praktischen Theologie" erschien81, ist Harnacks Auseinandersetzung und Berührung mit Schleiermadiers homiletischer Konzeption dagegen durdi die Entschiedenheit, mit der Harnack seinen eigenen Standpunkt darlegt, partiell verdeckt. Diese Homiletik gehört zu den profiliertesten Predigtlehren jener Zeit. Im Detail zeichnet sie sidi durch einen nüchternen Blick aus, der mit viel Predigerweisheit verbunden ist. Eine auffällige Berührung mit Schleiermadiers homiletischer Konzeption liegt in der konsequenten Verfahrensweise vor, mit der Harnack 5 0 Auf eine ausführliche Darstellung der Homiletik von G. von Zezschwitz wird in dieser Studie verzichtet, da v. Zezsdiwitz in den theologischen Grundfragen weitgehend mit Th.Harnack übereinstimmt; i. ü. sei auf die Bemerkungen am Schluß dieses Abschnittes verwiesen. 5 1 Praktische Theologie II, S. 1—288. — Die Praktische Theologie wird im Text mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, die Magisterschrift über „Die Idee der Predigt . . n u r mit Seitenangabe zitiert.
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1844 die Idee der Predigt „aus dem Wesen des protestantischen Cultus" ableitet 52 . Die kultische Integration der Predigt ist auch bei Harnack 'Formalprinzip' der Homiletik. Die Predigt wird von ihm als „Rede zu solchen, die in dem Glauben an Christo verbunden sind", bestimmt (II, 4). Die Homiletik hat die GewiezWepredigt zu ihrem Gegenstand. Schleiermachers kultisches 'Materialprinzip' der Selbstdarstellung erfährt jedoch eine Korrektur. Zwar beschreibt auch Harnack in der Schrift von 1844 die Predigt als „eine Manifestation des christlich-kirchlichen Lebens" (10). Die Gemeinde stellt in dem Gottesdienst ihren Glauben dar. Ihr Lebensprinzip findet gleichsam eine äußere Bezeugung. Aber Harnadk nimmt dieses Element der Selbstdarstellung in seinen Gottesdienst- und Predigtbegriff auf, um es zugleich zu korrigieren, indem er eine subjektive und objektive Seite 53 des Kultus unterscheidet54. Harnack kann darum sagen, daß der Glaube sich einerseits in Gebet, Lied und Wort äußert, aber andererseits sich auch immer in seinen (objektiven) Grund, nämlich Jesus Christus, vertieft 55 . Die (subjektive) Darstellung des Glaubens ist auf ein Vorgegebenes bezogen. Der Glaube stellt dar und emp5 2 Vgl. auch II, S. 3: „Die Homiletik ist also umschlossen von der Theorie des Kultus und durch dieselbe ganz und gar bedingt." 5 3 Vgl. S. 13. 5 4 Die theologischen Kategorien des 'Subjektiven' und 'Objektiven' bzw. der 'Subjektivität' und 'Objektivität' finden sich u. a. auch bei Ph. Marheineke und C. I. Nitzsch. Nitzsch unterscheidet eine 'objektive' und 'subjektive' Bestimmung der Predigt (Praktische Theologie II, S. 51 ff.). Marheineke differenziert zwischen der 'objektiven Erkenntnis' (§ 333) bzw. dem 'objektiven Wahrheitsgehalt' (§ 334) und der 'subjektiven Uberzeugung'. — Der Bedeutungsgehalt dieser Kategorien ist nicht von vornherein festgelegt. Sie werden einerseits korrelativ, andererseits antithetisch gebraucht. Gelegentlich kann auch eine der beiden Kategorien besonders betont werden. Hinzu kommt, daß sie nicht a priori theologische Kategorien sind, sondern vor allem in der philosophischen Erkenntnistheorie ihren Ort haben. Vgl. ζ. B. die Erkenntnistheorie Fichtes im Zusammenhang mit der These der Identität des Denkens und des Gedachten, aber audi Hegels Begriff des 'objektiven Geistes'. Hier können sie zu Wechselbegriffen des Absoluten und des Relativen werden.
Die Kategorie des Subjektiven und des Objektiven meinen in der Theologie des 19. Jahrhunderts zunächst die objektive Gotteserkenntnis und ihre subjektive Ausprägung. Sodann werden sie bei der Unterscheidung des objektiven Heilsgutes und des subjektiven persönlichen Heilsglaubens verwandt. Unter 'objektiver Religion' kann in diesem Zusammenhang audi der vorgegebene, in Lehrformeln gefaßte Glaube verstanden werden. Der Begriff der 'subjektiven Religion' bezeichnet die eigene, persönliche Frömmigkeit. Vgl. F. Α. B. Nitzsch, Lehrbuch der evangelischen Dogmatik, 2. Aufl. 1896, S. 105. — In der kirchlichen Gebrauchstheologie des 19.Jh.s wurden die beiden Kategorien des 'Objektiven' und 'Subjektiven' partiell aufgenommen, um die fides quae und die fides qua zu unterscheiden. Diese Spezialbedeutung ist zunächst theologisch neutral; es konnten sich mit ihr aber audi Wertgegensätze verbinden. Im Zusammenhang mit dem Problem der Glaubenserkenntnis sind die beiden Kategorien dann bei Ritsdil Gegenstand kritischer Erörterung geworden. 55
Vgl. S. 16 f.
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fängt, und der Gottesdienst ist sowohl ein „Dienst, damit wir Gott dienen", wie ein „Dienst, damit Gott uns dienet" 58 . Die philosophisch vorgeprägten Kategorien des Subjektiven und Objektiven reichen freilich Harnack letzthin nicht aus. So verdeutlicht und ersetzt er sie durch die Kategorien des Sakrifiziellen und Sakramentalen 57 . Innerhalb des Gottesdienstes stellt der Gebetsdienst das sakrifizielle, der Wortdienst vorherrschend das sakramentale Element dar. Als Rechtfertigungspredigt ist die Predigt eine „große, allgemeine Absolution" (43). Predigt und Sakrament kommen auf eine Ebene zu liegen. Die reformatorische Konzentration auf die Rechtfertigungspredigt ist von Harnack auf diese Weise erneuert worden 58 . Die Lehre von der Rechtfertigung sei das „Herz jeder wahren Predigt" (42). Als schriftgemäßes Wort von der Versöhnung, als Heilswort, ist die Predigt Gottes Wort. Der Predigtbegriff Harnacks ist aufs ganze gesehen zweischichtig. „Nach der objektiven Seite i s t . . . die Predigt Verkündigung des Wortes Gottes, nach der subjektiven ist sie Darlegung des Lebens der Kirche" (55 f.). Eine Deskription der Predigtanschauung Harnacks ist darum nicht ohne dialektische und synthetische Aussageformen möglich. Das reformatorische Erbe ist von Harnack extensiv rezipiert worden; daneben war aber für ihn Schleiermachers Prinzip der Darstellung ein Anstoß, die Predigt als gemeinsame Verständigung über das Leben des Christen zu begreifen. Zwei Wirklichkeiten berühren sich also für Harnack in der Predigt. Die Verkündigung von der Versöhnung in Christus bildet als Heilszusage den einen Brennpunkt der Predigt. Der andere Brennpunkt besteht darin, daß diese Botschaft in je verschiedenen menschlichen Situationen gesagt, gehört und bezeugt wird. Dem einen Worte der Versöhnung steht die Mannigfaltigkeit und individuelle Ausprägung menschlichen Lebens und Glaubens gegenüber59. Die Predigt hat „zwar immer nur das göttliche Wort in seiner Wahrheit zu verkündigen, aber so, daß sie es mit der Wirklichkeit des Lebens in der gegebenen Gemeine vermittele" (11,164). Das 'Objekt' des Glaubens, die Versöhnung in Christus, ist als Offenbarung Gottes von allem menschlichen Handeln grundsätzlich untersdiie5 8 Th.Harnadc zitiert hier Stip, Beleuchtung der Gesangbuchbesserung, 1842, S. 5 9 ; vgl. S. 17, Anm. 15. 5 7 Im Ansdiluß an C A X I I . 5 8 „Das Wort Gottes ist aber nichts anderes denn Zeugnis von Christo, Verkündigung der um Christi willen Sünden vergebenden, Gerechtigkeit und Leben schenkenden Gnade Gottes. Das ist die Seele, der Kern und der Mittelpunkt jeder Predigt." II, S. 160. — Harnack urteilt allerdings nüchtern: „Freilich ist unserer Zeit gar sehr das Bewußtsein der Sünde und Schuld geschwunden, woraus nur folgt, daß die Predigt die Pflicht hat, es zu wecken." Ebd. 5 9 Vgl. auch II, S. 1 3 : Die Predigt ist einerseits „Gnadenmittel", andererseits ist sie „zugleidi der freieste, weil persönliche Akt im Kultus".
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den. Dem Rechtfertigungsglauben der Gemeinde schreibt Harnack jedoch eine das menschliche Leben in seiner Gesamtheit durchdringende Kraft zu, wie audi das Dogmatische und Ethische nicht zu trennen sind 90 . Daraus resultiert Harnacks Unterscheidung von „unmittelbarem und mittelbarem Predigtstoff" (II, 167 ff.). Beide Arten sind in der Predigt vermischt. Dem „unmittelbaren Predigtstoff", der von der Versöhnung und Rechtfertigung handelt, kommt in der christlichen Predigt eine dominierende Rolle zu, während der „mittelbare Predigtstoff" als „Nebenstoff" und „Hilfsstoff" dient. E r stammt aus dem „allgemeinen religiösen und menschlichen Gebiet (Familie, Schule, Staat, Geschichte)" und „aus dem der Natur und der Naturseite des menschlichen Daseins" (11,173). Harnack unterscheidet also einen inneren, zentralen und einen weitgespannten, wechselnden Inhalt der Predigt. Sie kristallisieren sich um das Wort Gottes bzw. um das Leben der Gemeinde. Diese beiden Faktoren bilden zusammen mit der 'Persönlichkeit des Predigers' für Harnack die Hauptelemente der Predigtlehre, ähnlich wie in den anderen homiletischen Lehrbüchern der Zeit®1. Jedoch ist der zweite Faktor bei Harnack in besonderem Maße kirchlich geprägt. Die Darstellung christlichen Lebens soll bekenntnishaft sein; die „christliche Gemeinde s o l l . . . sich als eine solche darstellen, welche den wesentlichen Inhalt (des Schriftwortes) sich bereits im Glauben angeeignet hat" 6 2 . Die Predigt ist eine Ausdrucksform der 'Heilsgemeinschaft'6S, deren Bekenntnis den sakrifiziellen Charakter der Predigt konstituiert. Doch vermeidet Harnack durchgehend jede Verengung des Predigtbegriffs. Die Predigt habe zuletzt immer fortzuschreiten zu den verschiedenen Lebensbereichen. „Die Predigt soll das wirkliche Leben erfassen, an demselben die Bewährung durch das göttliche Wort positiv oder negativ vollziehen, und so dasselbe beleuchten, es läuternd, verklärend, strafend" (11,215). Auf eine kurze Formel läßt sich deshalb Harnacks Predigtbegriff im Grunde nicht bringen. E r ist vielschichtig und differenziert und letztlich durch eine theologische Synthese geprägt®4. Das kommt schließlich auch in Harnacks Ausführungen über den dritten Predigtfaktor, der von der Individualität und Persönlichkeit des ·» Vgl. S. 172. 6 1 Ähnlich bezeichnet Harnack in der Liturgik das Wort Gottes bzw. die den kirchlichen Gemeindeglauben so wie die Individualität des Predigers als die faktoren der Predigt. Handbuch der theologischen Wissenschaften, 4. Bd., 1885, S. 377. « Ebd. «» Vgl. I, S. 215. 6 4 Vgl. die ausführliche Predigtdefinition S. 70. — Theologisch bedeutsam Urteil Harnacks: „Das Wort Gottes und der Geist Christi verschmähen an Punkte die menschliche Vermittlung." II, S. 7.
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Schrift, Haupt2. Aufl.
ist das keinem
Predigers handelt, zum Ausdruds. Harnack schließt sich in diesem Punkt der communis opinio der Zeit an und fordert, daß das Wort Gottes und der Glaube der Kirche so verkündigt werde, wie es „lebendige Gestalt in einer persönlichen Individualität gewonnen hat" (11,222). Von dem Prediger wird ausdrücklich erwartet, daß er in der Predigt seine individuelle Begabung entfalte 65 . Im Hintergrund steht auch hier ein theologisch-synthetisches Denken. Die „Gnadengabe und die Naturgabe" der Rede sollen „koinzidieren" (70). Die Predigt ist eine „Lebenstat" (70), bei der die menschlichen Gaben und Fähigkeiten in den Dienst am Wort Gottes treten. Dieser theologischen Grundhaltung entsprechen schließlich auch Harnacks ausführliche Darlegungen über den Redecharakter der Predigt, die von dem Problem des Sadiverhältnisses zwischen Kultus und Rede ausgehen. In dem zweiten Abschnitt des entfaltenden Teiles seiner Homiletik handelt Harnack ausführlich von der Predigt als „Redeakt". Harnack legt den Unterschied zwischen der Predigt und der allgemeinen Beredsamkeit dar, die in der Predigt niemals Selbstzweck sein kann, sondern nur „Mittel zur Darstellung" (85). Die rhetorischen Elemente der Predigt sind dem „Zweck" der Predigt untergeordnet. Der Inhalt ist wichtiger als die Form und wirkt auf diese ein, aber die Form und die rednerische Gestaltung der Predigt sind darum kein untergeordnetes Thema der Homiletik. Obwohl die „Kraft . . . in der Sache liegt" (33), ist doch eine sachgemäße Darstellung der Formprobleme nötig. Al. Schweizers Postulat, daß der Stoff sich seine 'oratorische' Form schaffen müsse, hat bei Harnack eine Erneuerung erfahren ββ . Um dem Grundsatz der Korrelation von Inhalt und Form gerecht zu werden, beschreibt Harnack in einer material-formalen Homiletik den Weg vom Text zur Predigt unter der Perspektive der Gemeinde und des inneren Lebens des Predigers als einen jeweils individuellen „Lebensakt, der seine Gesdiichte hat" ®7. Harnack geht also nicht von der Deskription von Predigtformen aus, sondern er schildert den Entstehungs- und Werdeprozeß einer Predigt. Der Meditation kommt bei ihm eine besondere Rolle zu. Die fortschreitende oratorische Formung der Predigtmaterie wird stufenweise von ihm erläutert, und innerhalb dieses Rahmens werden die Aufbau- und Formprobleme der Predigt abgehandelt 68 . „Ferner muß jeder seine Eigentümlichkeit zu erkennen suchen.* II, S. 227. " Vgl. II, S. 231—288. — Über die zeitgenössischen Abhandlungen über die Redeform der Predigt urteilt Harnack: „Trotz des bedeutenden Fortschritts hat es nodi immer nicht recht gelingen wollen, die Form der Predigt aus ihrer Natur selbst zu gewinnen, weil man in richtiger Opposition gegen die Verflüchtigung und Verflachung der Homiletik in Rhetorik nicht genug gewürdigt hat, daß die Predigt dennoch Rede und als solche den Redegesetzen unterstellt ist." II, S . l l . " II, S. 251, audi 249. 85
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Ihrer Methode und ihrer Zielsetzung nach ist auch Harnacks Homiletik eine Kunsttheorie. Sie antwortet auf die Frage: „Wie soll man predigen?" Die Praxis stellt demgegenüber den einzelnen Prediger vor die Frage: „Wie soll ich dieser, so und so beschaffenen Gemeinde predigen?"69 Die Aufgabe einer Homiletik wird von Harnack in Übereinstimmung mit Schweizer und Nitzsch in ihrer regulativen Funktion gesehen. Harnacks Homiletik ist eng in sein Gesamtsystem der Praktischen Theologie verwoben. Das theologische Prinzip sieht er, ähnlich wie Nitzsch, in der Selbsterbauung der Kirche70. Er entfaltet es in den Theorien des Kultus, der Predigt und der pastoralen Gemeindeleitung. Audi Harnack gibt also den prinzipiellen Erwägungen ein besonderes Gewicht71. Sie repräsentieren in erster Linie das normative Element seiner Praktischen Theologie. Im Mittelpunkt von Harnacks Praktischer Theologie stehen jedoch die Kunsttheorien, die für den kirchlichen 'Praktiker' die Maßstäbe und Grundlagen liefern sollen. Sie sind verhältnismäßig direkt auf das Leben, und vor allem auf das Leben der Kirche, bezogen. Im Gegensatz zu Marheineke hat Harnack den Irrweg der Abstraktion vermieden. Anders verhält es sich bei Gerhard von Zezschwitz, der in dem System der Praktischen Theologie (1876/78) den theoretischen Charakter auf der Basis eines doktrinalen philosophischen Wissenschaftsbegriffes bedenklich übersteigert hat. G. von Zezschwitz läßt auf die Prinzipienlehre, die von der „fortgehenden Selbstverwirklichung der Kirche in der Welt" (5) handelt, das eigentliche System in Gestalt einer Wesens- und Naturlehre folgen und scheidet die Kunstlehren der Katechetik und Homiletik als angewandten zweiten Teil der Wesens- und Naturlehre aus dem System aus (10)12. Die allgemeinen Grundfragen der Katechetik und Homiletik werden zwar in seiner Wesens- und Naturlehre erörtert, die Kunstlehre soll jedoch die selbständige Ergänzung des Systems bilden. 68 Harnacks Homiletik gewinnt dadurch an Anschaulichkeit und Konkretion. Was er über die Form der Predigt sagt, unterscheidet sich jedoch faktisch nicht von der kirchlichen Predigttradition. 69 II, S. 8, Harnack fährt fort: „Hier handelt sichs um die individuelle, persönliche Homiletik, die keiner dem andern geben kann, die sich jeder selbst erarbeiten muß, indem er die allgemeine Homiletik studiert." 70 Harnack unterscheidet die Selbsterbauung als Heilsgemeinde in der Welt: Kultus und Seelsorge; die Selbsterbauung als Heilsanstalt für die Welt: Mission und Katechetik; die Selbsterbauung als irdisch organisierter Verband: Kirdienregiment. — Zu dem Begriif der Erbauung vgl. H . Wittram, Die Kirche bei Th. Harnack, 1963, S. 106 ff. 71 Sehr fundiert sind audi die historischen Abschnitte in Harnades Praktischer Theologie. n Sie handelt von der Keryktik, dem Katechumenat, dem Kultus der Kommuniongemeinde, der Poimenik und von der Kybernetik.
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G. v. Zezschwitz hat diesen Standpunkt besonders gegenüber Harnack vertreten 73 . Seine Darstellung der Homiletik in dem „Handbuch der theologischen Wissenschaften" (18852) bedeutet allerdings eine Einschränkung dieser These. Sie stellt eine kurzgefaßte Kunstlehre und insofern eine Ergänzung und ein partielles Korrektiv des Systems dar. 3. Die in den Kultus integrierte Predigt und die Aporien ihrer einseitig zugespitzten Theorie Die Subsumierung der Predigt unter den Kultus ist seit Schleiermacher innerhalb der Homiletik in hohem Maße usus geworden. Das zeigt unter anderem auch das Aufkommen des Etiketts Kultuspredigt (Kultpredigt, kultische Predigt) ungefähr im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bei Schleiermacher und Schweizer findet sich diese Bezeichnung noch nicht. Der Gebraudi dieses Begriffs, der der Gelehrtensprache angehört, ist vielschichtig. Er ist nicht bloß ein Ausdruck der Anschauung, die normale Predigt sei gottesdienstliche Predigt bzw. Gemeindepredigt. Im allgemeinen kirchlichen Bewußtsein ist der Begriff Kultuspredigt progressiv zum Symbol für einen zur Weiherede und Feieransprache degenerierten Predigttyp geworden. Dieser Irrbegriff hat jedodi in den bedeutenden Predigtlehren der Zeitgenossen und Schüler Sdileiermadiers keinen unmittelbaren Anlaß. Mehr als andere Begriffe bedarf darum die Vorstellung von der kultischen Predigt bzw. der sogenannten Kultuspredigt der Interpretation und der Klärung. Der verschiedene Bedeutungsgehalt dieses Begriffs und seiner Vorformen wird darum in den folgenden Abschnitten an einigen Beispielen aufgezeigt, und es wird den Wurzeln seiner progressiven Fehlauslegung nachgespürt werden. Nur die unparteiische Darstellung einiger Modifikationen der sogenannten Kultuspredigt kann die Basis für eine Darlegung dessen, was gottesdienstlidie Predigt — und zugleich Kultus und Erbauung — in den Predigtlehren des 19. Jahrhunderts ursprünglich meinen, bilden. a) Die Predigt als Erbauung und Äußerung kirchlichen Lebens (Gustav Baur) Neben den Darstellungen der Homiletik von Carl Immanuel Nitzsch und Alexander Schweizer erschienen gleichfalls im Jahre 1848 die„Grundzüge der Homiletik" von Gustav Baur. Vor allem Schleiermacher verpflichtet, sucht Baur Einseitigkeiten zu vermeiden. Seine Homiletik ist auch unmittelbarer der Praxis zugewandt als die Darstellungen von Nitzsch und Schweizer1. Dafür ist sie ihnen in bezug auf Wissensdiaftlichkeit und Originalität unterlegen. Sie spiegelt weithin die allgemeinen 73
Vgl. Handbuch der theologischen Wissenschaften, 4. Bd., 2. Aufl. 1885, S. 36 f.
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Tendenzen und Strömungen innerhalb der zeitgenössischen Homiletik wider und hat darum den Vorzug, mutatis mutandis als eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Predigtlehren gelten zu können. Die Predigtdefinition Baurs geht von dem Grundsatz aus, daß die Predigt die „einen Teil des christlichen Kultus bildende freie Rede des Geistlichen" (1) bzw. ein „wesentliches Moment des öffentlichen Gottesdienstes" (69) 2 sei. Die Homiletik wird als eine Theorie der gottesdienstlichen Gemeindepredigt aufgefaßt. Gottesdienst und Gemeindepredigt bilden eine Einheit. Baur sieht diese darin, daß sie beide eine „notwendige Äußerung des kirchlichen Lebens" darstellen 3 . In dem Gottesdienst kommt die Gemeinschaft der Christen zusammen (72). Die in dem Gottesdienst geschehende Predigt ist darum eine Funktion der Gemeinde. Die Predigtaufgabe wird von dieser an einen einzelnen auftragsweise delegiert, damit er das fromme Selbstbewußtsein der einzelnen Gemeindeglieder „mitteile zu gegenseitiger Teilnahme" 4 . Wie bei Schweizer und Schleiermacher liegt audi bei Baur der Ton auf dem gegenwärtigen Leben. Das jenseitige und zukünftige Element christlichen Glaubens ist zurückgedrängt. Die Gemeinde schaut von dem Glauben, den sie hat, nach dem Ausstehenden aus. Eine Vollendung, nichts radikal Neues erwartet sie. Sie freut sich ihres jetzigen Glaubens. Zum Leben und erst dann zum Sterben will der christliche Glaube, wie ihn Baur versteht, helfen. Ein Grundaxiom der zeitgenössischen Predigt meldet sich hier zu Wort: der Glaube muß 'erfahrbar' sein und darf sich der Beschreibung mit allgemeinen Kategorien nicht entziehen. So spricht Baur von den „höchsten Angelegenheiten des Lebens überhaupt", von dem „innersten geistigen Leben des Mensdien" oder auch von der „christlichen Uberzeugung" Auf eine einzige Formel lassen sich Baurs Versuche, das Glaubensbewußtsein bzw. das christliche Leben zu beschreiben, nicht bringen. Auch die Begriffe des Selbstbewußtseins, des inneren Lebens und der Erfahrung machen den Eindruck von Versuchen, das Glaubensbewußtsein, das besonders in den geordneten Lebensäußerungen der Kirche eine Darstellung findet, unter dem Aspekt des Erlebbaren und Aussagbaren begrifflich zu fassen. Letzthin bleiben diese Begriffe bei Baur in einer eigentümlichen Schwebe. Man merkt, daß sie verschiedene Quellpunkte haben. Nur eines haben sie gemeinsam. Sie verweisen primär auf 1 Baur meint, seine Homiletik nehme zwischen „der von Schweizer und der von Palmer eine gewisse mittlere Stellung" ein. S. VI. — Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die „Grundzüge der Homiletik". 1 Baur gebraucht fast durchgehend den Begriff des Gottesdienstes. Der Begriff des Kultus tritt bei ihm zurück. s Vgl. u. a. S. 3. 1 Vgl. S. 71 f. 8 Vgl. S. 217 und 227.
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das Gebiet der Seelenkunde, der Psychologie des Glaubens6. Jedoch möchte Baur den Glauben nicht auf eine seelische Provinz beschränken. Er sieht ihn mit dem Fühlen, Denken, Wollen und Tun des Menschen verbunden 7 . Die Predigt, so urteilt Baur auf Grund der geschilderten Prämissen, möge aus der christlichen Überzeugung und dem inneren Leben hervorgehen. Sie soll beides in Worte fassen8, aussprechen, damit der Glaube der Gemeinde vergegenwärtigt und zugleich gefördert und gereinigt werde. Aussprechen bedeutet in diesem Zusammenhang nidit einfach belehren oder deklamieren, sondern 'mit-teilen'. Wenn der Prediger das Glaubensbewußtsein der Gemeinde ausspricht, so teilt er eine Lebenshaltung mit, in der die einen bereits die ihre erkennen, während sie den anderen erst übermittelt werden soll. Die Predigt will „durch den klaren und warmen Ausdruck lebendiger innerer Erfahrung gleiche Erfahrungen bei den Hörern wecken" (223). Zur Predigt gehören für Baur darum auch das Ansprechen der Affekte und die eigene 'Begeisterung' des Predigers als eine Äußerung des Selbstbetroffenseins. Die Predigtpraxis des 19. Jahrhunderts hat dann allerdings auch der Sentimentalität der Zeit ihren Tribut entrichtet. Will man von einem 'Hauptzweck' der Predigt reden, so besteht dieser für Baur in der Erbauung (84). Damit gibt Baur die communis opinio der Zeit wieder. Belehrung und Bekehrung sieht er nur als Teilaspekte der Predigt an, die der Läuterung und Reinigung des christlichen Glaubens dienen sollen. Das missionarische und didaktische Element kommt für Baur im Einklang mit der zeitgenössischen Homiletik als 'Hauptzweck' der Predigt nicht in Frage. Der Begriff der Erbauung umschließt vielmehr das darstellende und fördernde Element der Predigt 9 und ist zugleich auf das christliche Leben in seiner Ganzheit bezogen. Erbauung der Gemeinde geschieht in der „Gründung des ganzen Fühlens, Denkens, Wollens und Tuns des Menschen auf den bereits gelegten Grund seines christlichen Glaubens" (85). β Vgl. S. 229. Der Begriff des „inneren" oder „innersten", audi des „christlichen Lebens" hat bei Baur — vielleicht nicht nur aus Gründen mangelnder Präzision — einige nebulose Züge. 7 Vgl. S. 86. 8 »Das vollständigste Zeugnis und der klarste Ausdruck des inneren Lebens des Menschen aber ist das freie individuelle Wort." S. 11. • „Der Prediger darf sich also nicht darauf beschränken, den faktisch vorhandenen Glauben der Gemeinde auszusprechen und mit ihr des gemeinschaftlichen Glaubens sich zu freuen, sondern er hat in den Hörern auch das betrübende Gefühl, daß sie nodi nicht sind wie sie sein sollten und damit Bußfertigkeit zu erwecken, er hat durch den lebendigen, warmen Ausdruck des christlichen Glaubensgehaltes und durch den Nachweis, wie sehr das Leben nodi hinter ihm zurückbleibt, dahin zu wirken, daß dieses durdi den christlichen Glauben immer mehr geläutert und geheiligt werde." S. 85.
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Den „christlichen Gehalt" (2) der Predigt möchte Baur u. a. durch den biblischen Text sichern. Er erblickt für die Einzelpredigt in ihm die „biblische Norm" (108), mit deren Hilfe das Glaubensbewußtsein der Gemeinde geläutert werden soll. Exegese und Dogmatik 10 sollen sich bei der Vorbereitung der Predigt, wie Baur fortfährt, ergänzen. Den sichersten Schutz vor dem „Positivismus" und den „Gemeinplätzen der sogenannten Vernunftreligion" sieht er in der Verbindung von Exegese und Dogmatik (234)". Schließlich räumt auch Baur dem Bezug auf die „Eigentümlichkeit der bestimmten Gemeinde" (196) und der „Bestimmtheit (der Predigt) durch die Individualität des Predigers" (202) in seiner Predigtdefinition einen Platz ein. Die Verhältnisse der Gemeinde spielen für Baur eine so wichtige Rolle, daß eine gute Predigt seiner Meinung nach jeweils nur vor einer bestimmten Gemeinde gehalten werden könne. Baur möchte die Fassungskraft der Gemeinde und ihren „religiösen Zustand" berücksichtigt sehen; daneben soll der Prediger auf „ihre natürliche und soziale Gliederung und ihre bürgerliche Stellung im Ganzen" als auch auf ihr „Bestimmtwerden durch den Einfluß der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung" achten (197). Die Summe seiner Predigttheorie zieht Baur selber. Die Predigt ist für ihn der Ausdruck „des christlichen Bewußtseins der Gemeinde", der „in dem freien, vor der versammelten Gemeinde gesprochenen Worte des Geistlichen gegeben" ist. Das christliche Bewußtsein der Gemeinde ist bei einer guten Predigt „durch die individuelle Überzeugung des Redenden hindurchgegangen, auf die biblische Norm zurückgeführt und zu den verschiedenen (anderen) Lebensäußerungen der Gemeinde in Beziehung gesetzt" (72 f.). Es ist offensichtlich, daß hier Schleiermachers elementare Predigttheorie, die Predigt entstehe aus der Dreiheit von Textgehalt, sogenanntem Gemeindebedürfnis und religiösem Bewußtsein des Predigers, im Hintergrund steht. Baurs Homiletik ist — wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Predigtlehren — durch die Rezeption Schleiermacherscher Grundgedanken besonders geprägt. Sie sind von Baur allerdings zum Teil vereinfacht oder der kirchlichen Lehre assimiliert worden. Freilich erschweren verschiedene Unbestimmtheiten die genaue theologische Ortsbestimmung dieser Homiletik12. Manche Formeln und Begriffe Schleiermachers, die Baur verwendet, scheinen zudem schon in den theologischen Jargon der Zeit eingegangen zu sein. 10
Vgl. S. 234. Die exegetischen Studien zeigen nach Baur im Neuen Testament selbst schon „verschiedene Auffassungsweisen der gemeinsamen Wahrheit" auf und tragen so dazu bei, den Prediger vor Einseitigkeit zu bewahren. Ebd. 11 Zu fragen wäre u. a., was Baur unter dem „christlichen Prinzip" versteht. 11
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Hinter dem Begriff des Gottesdienstes, in den die Predigt integriert ist, steht bei Baur eine Theorie der Gemeinschaft13. Der Gemeindegedanke wird durch sie wesentlich gestützt und gefüllt. Theologisch folgt daraus, zugespitzt gesagt, daß es die Gemeinde im Gottesdienst auch mit sich selber und nicht nur mit Gott zu tun hat. Die Gemeinde freut sich im Gottesdienst ihres Glaubens. Der Predigttheorie Baurs liegt alles daran, die gegenwärtige und lebensdurchdringende Kraft des Glaubens (fides qua creditur) in den Mittelpunkt zu stellen und die Predigt zu einer Lebensäußerung dieses kirchlichen Glaubens werden zu lassen. Es ist aber zu fragen, ob nicht hier, wo alles auf die innere Erfahrung ankommt14, dem Gottesbegriff, wenn auch ungewollt, der tiefste Ernst genommen wird. Baur sieht in der „inneren Erfahrung" in einer zu naiven Selbstverständichkeit ein Phänomen diristlichen Glaubens. Sodann erhebt sich die Frage, ob hier nicht eine bestimmte psychologische Disposition des Menschen zur Vorbedingung für den Glauben gemacht werde. Auch tritt in der 'Begeisterung' des gläubigen Selbstbewußtseins das Wissen zurück, daß die Gemeinde noch unter dem Gerichtswort Gottes steht. Das Grundmotiv dieser Homiletik, nämlich das Drängen auf den Lebensbezug der Predigt, ist sicher positiv zu bewerten. Die Einzelausführungen fordern jedoch nicht erst heute eine Sachkritik heraus, die bei den wenig präzisen Begriffen und Formulierungen einsetzen müßte. b) Kultuspredigt
als Textpredigt
(F. L. Steinmeyer)
Sehr eigenständig hat Franz Ludwig Steinmeyer den Begriff der Kultuspredigt entfaltet 15 . Steinmeyer setzt bei dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt von Schleiermachers kultischer Integration der Predigt ein und erklärt den Gegensatz zur Missions- und Heidenpredigt zum Charakteristikum der Kultuspredigt. Der Begriff der Kultuspredigt ist bei Steinmeyer ein Synonym für die Gemeindepredigt. So bedarf es in der 13 Geistesgeschichtlich gesehen hat diese Theorie bzw. Idee Wurzeln in der Romantik; doch wäre es verfehlt, sie direkt von daher abzuleiten. Soweit Schleiermacher in dieser Hinsicht der Gewährsmann Baurs ist, darf der Einfluß der Brüdergemeinde nicht unterschätzt werden. 14 Baur möchte das religiöse Gebiet von dem theologischen, das dem Denken und Lehren zugeordnet ist, unterscheiden. Zu dem religiösen Gebiet gehören nur „solche Seiten, welche Gegenstand einer inneren Erfahrung werden können", S. 227. ls Homiletik. Hrsg. von M. Reyländer, 1901. Der Begriff Kultuspredigt findet sich programmatisch auf S. 3. — Im wesentlichen hat diese Homiletik wohl bereits ca. 1865 in der vorliegenden Form existiert. Vgl. J.Bauer, Steinmeyers Bedeutung für die Predigt der Gegenwart, MkPr 3, 1903, S. 413. Die Edition Reyländers läßt in wissenschaftlicher Hinsicht manche Wünsche offen. Reyländer gibt ζ. B. nicht einmal Rechenschaft über die Manuskripte, die er für die Veröffentlichung benutzt hat. Steinmeyer (1811—1900) war seit 1858 Professor in Berlin, anfangs audi für Neues Testament, später nur für Praktische Theologie. — Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Homiletik Steinmeyers.
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homiletischen Theorie zusammen mit der Besinnung über die Kultuspredigt einer Überlegung über die „Aufgabe und das Wesen sowohl der sich zum sonntäglichen Gottesdienst versammelnden Gemeinde als auch des Gottesdienstes selbst" (284). Kultuspredigt ist also ihrer hauptsächlichen Bestimmung nach Predigt an die sich zum Gottesdienst versammelnde Gemeinde. Steinmeyer stimmt in den lautstarken Chor mit ein, daß Förderung, nicht Erweckung die eigentliche Aufgabe der Predigt sei16. Er will die Gemeinde auf ihr Christsein, auf die empfangene Taufe (6) hin ansprechen. Nicht als einer Versammlung von Heiden, sondern als einer Gemeinschaft von Christen, als Kirche, die immer wieder der 'Reinigung', 'Erfrischung' und 'Verjüngung' bedarf, will Steinmeyer der Gemeinde das Wort verkündigen. Der für die Homiletik als praktischtheologischer Einzeldisziplin konstitutive Lehrsatz aus dem System der praktischen Theologie lautet darum, daß „die Predigt derjenige Teil des christlichen Gottesdienstes (sei), welcher die Andacht der Gemeinde zu ihrer spezifischen Höhe erheben soll" (2)17. Die besondere Eigenart von Steinmeyers Homiletik besteht nun darin, daß er von der gottesdienstlichen Gemeindepredigt fordert, sie müsse im exklusiven Sinne Texipredigt sein. Auf dieser explizierenden Bestimmung der Kultuspredigt ruht bei ihm das hauptsächliche Gewicht. Die Bewußtseins-Homiletik wird von ihm, wie Bassermann urteilt, „durch die Haupttüre feierlich hinausgeworfen"18. Mit Entschiedenheit erkennt Steinmeyer nur die „Offenbarung Gottes in seinem Wort" (21) als Grundlage der Einzelpredigt an. „Die Substanz der Predigt darf weder dem individuellen christlichen Bewußtsein der Gemeinde, noch auch endlich der theologischen Wissenschaft entnommen werden" (33). Der Prediger kann die Gemeinde auf ihr christliches Bewußtsein hin ansprechen, aber dies darf nach Steinmeyer nicht Grundlage der Predigt sein. Das christliche Bewußtsein könne niemals als Norm für die Predigt gelten, und das Christentum des Predigers bleibe immer ein mangelhaftes und unvollkommenes1®. Auch in der Apologetik sieht Steinmeyer keine Aufgabe der Kultuspredigt (229). Der Predigt ist es aufgegeben, die großen Taten 16
Vgl. S. 8 und 284. Audi die Andacht als solche hat für Steinmeyer nur eine Quelle, nämlich die „Offenbarung Gottes in seinem Worte". Sie ist nicht mit einem bloßen 'Andächtigsein' zu verwechseln. Steinmeyer versteht unter Andacht nicht dasselbe wie später J. Smend und seine Freunde. 18 ThR 1902, S. 478. Bassermann sieht die Bewußtseins-Homiletik jedoch „durch ein Hintertürchen" wieder eintreten. Hinsichtlich der Gesamtkonzeption von Steinmeyers Homiletik urteilt Bassermann von seinem entgegengesetzten Standpunkt aus, diese sei „50 Jahre zu spät erschienen". Ebd. S. 481. 111 Vgl. S. 36. Dazu Apg. 2, 37. Im übrigen ist Steinmeyers ganze Sprache sehr „biblisch". — An anderer Stelle fordert Steinmeyer, der Prediger solle den Hörern nidit „aus der Seele" sprechen, sondern sein Wort solle ihnen „durch das Herz gehen" (39). 17
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Gottes zu verkündigen. Sie muß darum „gewisse Voraussetzungen machen, die über jeden Beweis erhaben sind" (230). Im Mittelpunkt dieser Homiletik steht die Frage, was der Prediger predigen solle. Die Frage: Wem predigen wir?, ist zweitrangig. „Was (der Prediger) sagen solle, das ist die Not, die ihn drückt" (22)20. So eindeutig wie diese Frage ist bei Steinmeyer auch die Antwort: zu predigen ist das Heilswort der Bibel. Es allein soll der Mittelpunkt, oder wie Steinmeyer sagt, die Substanz der Predigt bilden. Daraus erklärt sich Steinmeyers uneingeschränkte Forderung nach Textpredigt. Die Predigt soll den „Inhalt des Textes als eine Wahrheit zur Gottseligkeit" (95) verkünden. Den großen Theoretiker dieser biblischen Textpredigt hat Steinmeyer in Andreas Hyperius gesehen21. Zur Erläuterung und Verdeutlichung der Aufgabe der Predigt hat Steinmeyer die antithetische Formel geprägt: „Der Prediger hat nicht über den Text sondern den Text zu predigen" (89). Die Predigt ist folglich eine Ausführung des Textes. Die letzte Konsequenz dieser Auffassung wäre, daß ein Prediger, der dem Text völlig gerecht geworden ist, nicht mehrere Male über denselben Text predigen dürfe. Steinmeyer hat diese Konsequenz bejaht, jedoch für ein im allgemeinen unerreichbares Ideal gehalten, da die „wesentliche Wahrheit" des Textes nicht immer schon bei seiner ersten Behandlung gefunden werde (147). Sei sie aber gefunden, so solle der Prediger nicht noch einmal über den Text predigen. Steinmeyer unterstellt, daß der Prediger dann den Text nach Belieben „anders wenden, anders anwenden" werde. Der Text sei „viel zu hoch, als daß der Prediger etwas aus ihm, mit ihm machen dürfte. Es sind die allerarmseligsten Naturen, die sich dieser Geschicklichkeit rühmen" (147). Es ist offensichtlich, daß Steinmeyer zwischen biblischer Sach- und Textbindung nicht unterscheidet. Hierin besteht der Mangel seiner Homiletik, denn die viva vox evangelii ist niemals nur an den Buchstaben des Textes gebunden22. Freilich hat Steinmeyer bei dieser engen Bindung der Predigt an den Text auch ein homiletisches Interesse. Die differenzierte und spezielle Predigt sieht er gerade durch die enge Textbindung der Predigt ermöglicht2S. Dies hat andererseits zur Folge, daß das Kriterium 20
Die sachliche Nähe Barths zu Steinmeyer ist sehr deutlich. Barth beruft sich freilich nidit auf ihn. Vgl. Homiletik. Vervielfältigte Nachschrift der Übungen in der Predigtvorbereitung, WS 1932 — SS 1933. 21 Steinmeyer hat die Werke von Andreas Hyperius für seine Zeit neu entdeckt. Vgl. Die Topik im Dienste der Predigt, 1874, S. 12—24. 22 Hinter Steinmeyers Auffassung steht modifiziert u. a. noch das Inspirationsdogma, obwohl Steinmeyer einschränkend zugibt, daß „selbst in den kanonischen Büchern . . . nicht alles Gotteswort" sei (60). 23 Loefflers These, daß jede Predigt um ihrer speziellen Aussage willen eine Gelegenheitspredigt sein müsse, die einen bestimmten casus zum Gegenstand habe, lehnt Steinmeyer ab (65). Nicht durch die quaestio de casu, sondern durch das sorgsame
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eines homiletisch dienlichen Textes darin besteht, daß er eine „spezielle Heilswahrheit" enthält (98). Denn im Unterschied zu der Missionspredigt, die von allgemeinen Themen und Texten ausgeht, ist der Kultusbzw. der Gemeindepredigt die Predigt über spezielle Texte und Textwahrheiten aufgegeben. Es ist die Aufgabe der homiletischen Auslegung (118), die Texte nach ihrer speziellen Wahrheit zu befragen, und Steinmeyer unterscheidet diese ausdrücklich von der grammatisch-historischen Auslegung24. Die „homiletische Auslegung beginnt erst, wo jene aufhört und setzt in ihre Resultate ein" (93). So wird die Substanz der Predigt mittels der homiletischen Auslegung gewonnen, die dadurch eine Schlüsselstellung auf dem Wege vom Text zur Predigt erhält. Anhand zahlreicher Beispiele hat Steinmeyer kurz gezeigt, wie er sich die differenzierte, nach dem idion des Textes fragende Textauslegung vorstellt, indem er die Akzente, die Aussageformen und Aussagemittel verschiedener Texte dargestellt hat 25 . Die Situationsbezogenheit der Texte, ihr Zeugnis von der Mannigfaltigkeit christlichen Glaubens und Lebens steht für ihn besonders im Vordergrund. Dem korrespondiert, daß Steinmeyer die dogmatische Predigt ablehnt. Sie erscheint ihm starr und nicht unmittelbar dem Leben zugewandt. Wissenschaft und Predigt will er scharf unterscheiden. Die erste versuche, die christliche Wahrheit als Ganzes systematisch darzustellen; sie müsse um dieser Gesamtorientierung willen aber einseitig und starr werden. Denn „das göttliche Wort (sei) viel zu reich, als daß es sich in die Fesseln eines Systems bannen ließe" (49). »Wer unmittelbar in die Dogmatik greift, der beraubt die Predigt ihrer unmittelbar wirksamen Macht, der verfällt dem Ubelstand, den jede dogmatische Predigt mit sich bringt, es ist die ihr anhaftende Starrheit" (50). Demgegenüber sieht Steinmeyer in der Vielfalt der Texte und ihren mannigfachen Zugangswegen zum Menschen die Quelle vollmächtiger Predigt. Nidit die Theologie, sondern die Religion2® ist für Steinmeyer Achtcn auf das idion des Textes will er die Forderung nadi spezieller Predigt erfüllt sehen. 24 Vgl. S. 90. — Zugleich sei es freilich „Sache des Predigers, in dem Speziellen das Allgemeine und in dem Allgemeinen das Spezielle aufzufinden" (63). M Vgl. S. 121. Steinmeyer unterscheidet „erstens eine umsichtige und sinnende Prüfung des Textes, zweitens die fromme Hingabe an denselben, drittens die tiefe Versenkung in ihn". — Steinmeyers eigene Predigten, z . B . die „Zeugnisse von der Herrlichkeit Jesu Christi" (1847), arbeiten das idion des Textabsdinittes heraus, verdeutlichen es jedoch mit gesamtbiblischen Bezügen. 26 Steinmeyer beruft sich auf Spalding und nimmt dessen Äußerung, daß „nicht Theologie, sondern Religion" zu predigen sei, auf. Steinmeyer sieht in Theologie und Religion zwei verschiedene Äußerungen christlichen Glaubens, wobei er in der Religion den Lebensbezug und die Lebensprobe, in der Theologie die denkerische Bewältigung des christlichen Glaubens an erster Stelle sieht. Die o. Antithese ist ein Spitzensatz und ein Zeichen für Steinmeyers Vorliebe für antithetische Formeln. 54
das Gebiet der Predigt; denn ihr Zweck ist die Erbauung (26), die mannigfaltige Förderung der Christen. Die Belehrung kann nach Steinmeyers Urteil niemals das Hauptelement der Predigt bilden. Neben der dogmatischen Predigt trifft Steinmeyers Verdikt dann freilich auch die moralische Predigt, die von dem Rationalismus gepflegt worden war. — Im einzelnen hat die homiletische Theorie durch Steinmeyer die verschiedensten Impulse bekommen. Unbewältigt ist in seiner Homiletik allerdings das Problem der differenzierten Zuordnung von 'Substanz' und ' I n h a l t ' der Kultuspredigt (31). D a die Substanz aus dem biblischen Text gewonnen wird, hat sie für ihn den Rang göttlichen Wortes. Sie enthält die Heilswahrheit in vielfältiger Gestalt der Betrachtung, der Perspektiven und der Zuwendung zum Menschen. Aber sie ist doch nur „eine einige". Der Inhalt ist demgegenüber immer ein mannigfaltiger, und er hat nicht, wie die Substanz, das Ansehen göttlichen Wortes. Alles kann die Predigt in ihren Bereich ziehen und zu ihrem Inhalt machen. Nichts ist von der Kultuspredigt ausgeschlossen, weder die Politik, noch die Pädagogik, weder die Landwirtschaft, noch die Geschichte 27 . Steinmeyer stellt es als ein Faktum hin, daß der Inhalt der Kultuspredigt alle Gebiete menschlichen Lebens umfassen kann. Dies erscheint ihm so selbstverständlich, daß er es nicht näher begründet. Aber auch die Frage, inwiefern der Inhalt aus der Substanz der Predigt hervorgeht oder sich mit dieser berührt, wird von ihm nicht genügend beantwortet. Darum aber bleibt bei Steinmeyer die Forderung, daß die gottesdienstliche Predigt „sich über das ganze Gebiet des Lebens, des Einzellebens wie des Gesamtlebens verbreiten" müsse (31), letztlich ein Postulat. Steinmeyer schränkt diese Forderung zudem selber ein, indem er erklärt, daß der Inhalt nur „ein Mittel" und darum „an sich mehr oder weniger gleichgültig" sei (31). So dürfen einige Sätze in Steinmeyers Homiletik nicht darüber hinwegtäuschen, daß es Steinmeyer selbst hauptsächlich auf die Substanz und damit auf den Text ankommt. Die Predigt von Sünde und Gnade steht bei ihm im Vordergrund. Die allgemeinen Lebensfragen und Lebensprobleme der Zuhörer bleiben in Steinmeyers eigener Predigtpraxis am Rand 2 8 . D a s Christentum ist für Steinmeyer primär Erlösungsglaube. Die Heilswahrheit muß nicht unbedingt im Zusammenhang mit einem umfassenderen Predigtinhalt gepredigt werden. Vgl. S. 32. Joh. Bauer sieht Stärke und Schwäche von Steinmeyers Predigten in der Art ihrer Textbindung. Steinmeyer vermeide es, „auf Interessen und Bewegungen der Christen einzugehen, die jenseits der Sdiriftmeditation liegen". Steinmeyer predige nidit aktuell und seine Predigten seien „zeitlos — soweit sich das von Predigten sagen läßt". MkPr 3, 1903, S. 451. S7
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Für die Meditation gibt Steinmeyer die Anweisung, daß die gegenwärtige 'Situation' hinter der damaligen, in der die Texte niedergeschrieben wurden, zunächst zurückzutreten habe. Einer der Ratschläge Steinmeyers zur Gedankenfindung lautet, der „meditierende Prediger (solle) sich ganz in die Situation versetzen, welche der Text beschreibt, sich ganz eigentlich in den Kreis derer mischen, an welche das Wort unmittelbar ergangen ist" (143). Einerseits habe das Wort, das in die damalige Situation hinein geschrieben wurde, in einer vergleichbaren jetzigen eine unmittelbare Gültigkeit. Andererseits könne es dem Prediger mit „Phantasie" (148) gelingen, die historische Verfremdungszone zu durchschreiten. Der Prediger soll darum im allgemeinen nicht unmittelbar aus der 'jetzigen Situation' heraus nach dem helfenden und heilenden Wort der Schrift fragen. Der 'casus' werde sonst zu hoch bewertet. Es kommt für Steinmeyer immer erst alles auf das Eindringen in das Schriftwort an, das selber seinen Weg zu den Hörern finden will29. Zu der Eigenart dieser Homiletik, in der sidi homiletische Erfahrung und homiletische Weisheit mit festen dogmatischen Prämissen mischen, gehört es, daß Steinmeyer die Homilie nicht als sachgemäßen Predigttyp gelten läßt. Er steht ihr ähnlich kritisch gegenüber wie Claus Harms. Steinmeyer hebt mehrmals hervor, daß die Predigt „mehr ist als bloße Rede" (12). Aber diese theologische Feststellung hat ihn nicht gehindert, über den Redecharakter der Predigt besonders nachzudenken. Ein längerer Abschnitt seiner Homiletik handelt von dem Organismus der Predigt. Steinmeyer stellt die Aufbau- und Redegesetze der Predigt ausführlich dar, wobei sich seine große Kenntnis der klassischen Rhetorik als fruchtbar erweist. Wie Al. Schweizer und Th. Harnack vertritt er die Ansicht, daß sich der Stoff „unmittelbar die Form" schaffen müsse (25). Der Organismus der Predigt ergibt sidi aus dem Text bzw. der Substanz der Predigt; zu ihm gehört — ob es genannt wird oder nicht — auch ein Thema. Steinmeyer hält mit vielen anderen Theoretikern der Predigt das Thema für das Kriterium, das über die Einheit der Predigt entscheidet30. Er fordert allerdings, daß das am Schluß der Einleitung genannte Thema und die Disposition nicht schon die Predigt materiell vorwegnehmen sollen. Steinmeyer ist mit Schleiermacher und im Gegensatz zur Reinhardschen Schule der Meinung, daß ein in der Predigt genanntes Thema um so zweckmäßiger sei, je weniger darin der ganze Inhalt der Predigt 2 ® Der Begriff der 'Situation' wird hier von Steinmeyer übernommen. Er bedürfte einer genaueren Reflexion. — Audi die Frage nadi der Wirksamkeit der Predigt wird von Steinmeyer wenig beaditet. Er stellt vereinfachend alles der „immanenten Macht des Wortes Gottes" anheim, vgl. S. 213. 30 Die Disposition soll sich formal aus dem Thema, material aus dem Text bzw. der Substanz der Predigt ergeben. — Über die Materie der Predigt und die Invention hinsichtlich der Einzelpredigt handelt Steinmeyer ausführlich in „Die Topik im Dienste der Predigt".
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vorweggenommen ist31. Die Formulierung von Thema und Disposition der Predigt soll speziell sein, jedoch noch nichts über die Ausführung der Predigt aussagen. Das unbestreitbare Verdienst dieser Homiletik besteht darin, daß sie dem Problem der biblisdien Textpredigt innerhalb des Gemeindegottesdienstes konsequent nachgegangen ist. Der Erkenntnis, daß die textgebundene Predigt im allgemeinen speziell sein müsse, und daß biblische Textbindung der Predigt und rednerische Gestaltung sich nicht ausschließen, sondern zusammengehören, hätte nach Steinmeyer eigentlich niemand mehr ausweichen dürfen. c) Die doktrinelle Engführung des Begriffs Kultuspredigt und ihre Aporien (H. Bassermann) In der Generation der theologischen Enkel Schleiermachers hat in erster Linie Heinrich Bassermann das praktisch-theologische Erbe des neuen protestantischen Kirchenvaters zu bewahren und seine Gedanken fortzubilden versucht. Das Dokument dieses Versuchs bildet Bassermanns „Handbuch der geistlichen Beredsamkeit" (1885), zusammen mit einer Reihe von Aufsätzen, von denen die beiden Abhandlungen „Einige homiletische Probleme mit besonderer Beziehung auf sein ,Handbudi der geistlidien Beredsamkeit'" (1888) und „Zweck und Wirkung der evangelischen Kultuspredigt" (1894)32 besonders zu nennen sind. Das Selbstbewußtsein der jungen akademischen Disziplin Praktische Theologie ist in Bassermanns Werk deutlich spürbar. Ein Beweis dafür ist, daß das Problem des wissenschaftlichen Erkennens und der wissenschaftlichen Darstellung unverhältnismäßig breit erörtert wird 38 . Bereits der Titel des „Handbuchs der geistlichen Beredsamkeit" zeigt eine Eigentümlichkeit an. Schleiermacher hatte auf Grund der gottesdienstlichen Integration der Predigt der Homiletik einen theologischen Ausgangspunkt gegeben. Bassermann dagegen knüpft an die Methode älterer Predigtlehre an, die die Homiletik als eine species der Rhetorik begriff 34 . Bei näherem Zusehen ist dieses Urteil jedoch zu modifizieren. Bassermann möchte, wie er später schreibt, das „Handbuch der geist31
Vgl. bes. S. 161 und 169. Die Abhandlung von 1888 findet sich in der ZprTh 10, 1888, S. 97—131. Die letztgenannte Abhandlung ist abgedruckt in den „Beiträgen zur praktischen Theologie", 1909, S. 205—223. — Die Seitenzahlen im Text beziehen sidi auf das „Handbuch der geistlidien Beredsamkeit". 33 Bassermann sieht das Charakteristikum wissenschaftlichen Erkennens darin, daß es sich auf den organischen Zusammenhang der Dinge untereinander richte und die Prinzipiendiskussion mit der geschichtlichen Nachfrage verbinde (S. 6 ff.). 34 Bassermann handelt I. von der Beredsamkeit, II. von dem Kultus und III. von der geistlichen Beredsamkeit. 32
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liehen Beredsamkeit" nicht als normale Homiletik verstanden wissen35. Er meint, daß neben einer Homiletik auch eine „Rhetorik für Geistliche", die das Schwergewicht auf das oratorische Element und das „Psychologische, Mensdiliche" lege 86 , eine Berechtigung habe. Die Notwendigkeit dieser Zweigleisigkeit leuchtet aber trotz der Selbstapologie Bassermanns nicht ein37. In der Einzelausführung unterscheidet sich Bassermanns „Handbuch der geistlichen Beredsamkeit" freilich nur wenig von einer theologisch gleich orientierten Homiletik. Mit einem Kunstgriff legt Bassermann sogar Kultus und Rede auf dasselbe Prinzip fest. Er sieht auf Grund einer petitio prineipii in der Kunst der Beredsamkeit allgemein ein darstellendes Handeln und in der Belehrung nur einen abgeleiteten Zweck (95). Bassermann versteht die Darstellung sodann puristisch als völlig zweckfreies Handeln, und er gibt damit in doktrinaler Engführung dem Begriff der Kultuspredigt einen einseitigen Sinngehalt. Es scheint fast so, als ob die postulierte Reinheit eines Prinzips die Wissenschaftlichkeit der Predigtlehre sichern solle. Was aber versteht Bassermann unter dem Objekt der Darstellung? Auf eine kurze Formel gebracht ist es das Bewußtsein, daß der „Mensch (sich) abhängig fühlt von und hingezogen zu einer unendlichen Macht" (135). Es geht um die „Empfindung (des Frommen) von seinem religiösen Besitze, von seiner Abhängigkeit von Gott, von seiner Beziehung zu ihm und Gemeinschaft mit ihm" (145). Der Fromme wird „das Seiende und Geschehende nur als von Gott gewirkt, das Seinsollende und Aufgegebene nur als von Gott gewollt" (337) verstehen. So gibt es für Bassermann nur ein Fundament des christlichen Gottesdienstes, nämlich die Gottesgemeinschaft. Das theurgische Verständnis des Gottesdienstes lehnt Bassermann in gleicher Weise ab wie das missionarische Verständnis der Gemeindepredigt. Die Magna Charta der Gottesanschauung und Gottesdienstlehre sieht Bassermann in Joh.4,24 3 8 . Die elementaren Formen des Kultus erblickt er in Lied und Gebet. Sie sind für ihn der „aus dem inneren Antrieb des Sohnesgeistes quillende Ausdruck des Herzens" 39 . Entsprechend heißt es 8 5 ZprTh 10, 1888, S. 98. Im „Handbuch der geistlichen Beredsamkeit" liest man es freilich etwas anders (S. 4). »· ZprTh 10, 1888, S. 99. 8 7 D a s Buch fand unter der Pfarrerschaft nur sehr geringen Absatz. ®8 Vgl. Handbuch, S. 126. — Bassermanns Verständnis dieses Schriftzitats als innnere geistige Gemeinschaft des Menschen mit Gott berührt sich mit allgemeinen Vorstellungen des deutschen Idealismus. 39 ZprTh 4, 1882, S. 12. Bassermann bezieht sich auf G a l . 4 , 6 . — An anderer Stelle heißt es: „Beten kann und wird nur, wer sich (Gott) so nahe fühlt, mit ihm in so lebendiger, tatsächlicher Beziehung steht, wie mit einem lieben Menschen, dem er sich gegenüber befindet und den er deswegen anzureden sich getrieben fühlt. N u r aus dieser überall auf der unmittelbaren Empfindung beruhenden Wechselbeziehung von Idi und
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an anderer Stelle über den Kultus, daß wir durch „ihn mit Gott in Verkehr gebradit, intensiver als sonst in seine Nähe versetzt und seines Lebens teilhaftig werden" 40 . Von dieser Erfahrung, daß „Gott gegenwärtig" ist, soll auch die Predigt ausgehen. Auf diesem darstellenden Element beruht ihre Wesensverwandtschaft mit dem Gebet. Der Grundcharakter der Predigt „ist in demjenigen zu sehen, was man mystisch nennt", insofern Mystik „die innigste Vereinigung Gottes und des Menschen auf dem Wege der unmittelbaren Empfindung Gottes erstrebt" (238). Dieser PredigtbegrifF Bassermanns stimmt mit demjenigen Schleiermachers nicht voll überein. Während Schleiermacher drei Faktoren einander zuordnete und die Predigt als einen Dialog beschrieb, den der Prediger in seiner Individualität und im Blick auf die Gemeinde mit dem Schriftwort führen solle, stellt Bassermanns Predigttheorie die Frömmigkeit des Predigers einseitig in den Vordergrund. Schleiermachers sehr formale und der Erläuterung bedürftige Formel, die Predigt sei Darstellung des frommen Bewußtseins, wird von Bassermann erstaunlich vereinfacht. Das Resultat dieser Verkürzung zeigt sich bündig in Bassermanns Forderung, der Prediger möge „für Eines" sorgen: „daß alle Sonntage etwas da sei von frommen Empfindungen."41 Es gehört zu den Konsequenzen dieser zentral auf der Frömmigkeit basierenden Predigtanschauung, daß in Bassermanns „Handbuch der geistlichen Beredsamkeit" und seinen homiletischen Aufsätzen das subjektiv-psychologische Element der Predigt Gegenstand breiter Erörterung ist. Bassermann möchte zwar der Gefahr des Subjektivismus entgehen und schreibt dem „objektiven Frömmigkeitsbesitz" (360 ff.) eine normative Funktion zu. Aber anders als in Th. Harnacks Unterscheidung der sakramentalen und sakrifiziellen Seite des Kultus handelt es sich bei dem „objektiven Frömmigkeitsbesitz" nicht um etwas gegenüber der subjektiven Frömmigkeit qualifiziert Andersartiges, sondern um das Kirchlich-Allgemeingültige. Der Akzent liegt bei Bassermann auf der „subjektiv-menschlichen Fassung für die objektiv-göttliche Wahrheit" (363). In seiner Monographie über „Richard Rothe als praktischer Theologe" rühmt er darum besonders diejenigen Partien von Rothes Predigten, die der „Schilderung von Seelenzuständen und -Vorgängen, insbeDu erwächst die Anrede, das Gespräch. Was aber von dem einfachsten, notwendigsten und deswegen allgemeinsten Kultuselemente nachweisbar ist, wird auf das sich überall gleichbleibende Wesen des Kultus überhaupt wohl ebenfalls Anwendung finden." Handbuch, S. 136. ZprTh 10, 1888, S. 108. 41 ZprTh 4, 1882, S.21.
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sondere der Darstellung des religiös-psychologischen Innenlebens gewidmet sind" 42 . Als ein repräsentatives Beispiel für das von Bassermann angestrebte Predigtideal können seine Erwägungen über „Die homiletische Behandlung des Wiederkunftsgedankens"43 gelten. Bassermann versteht dieParusie als einen „immanent-geschichtlichen Prozeß" 4 4 . E r befragt darum die Anschauungen der Urgemeinde auf ihren religiösen Gehalt, auf die Hoffnung, die sich in ihnen ausdrückt. Bassermann erblickt den religiösen Kern des Parusiegedankens in der „ganz zuversichtlichen Hoffnung eines unmittelbar sich vollziehenden Triumphes Christi und seiner Sache über die Welt und seine Gegner in ihr". Die christliche Hoffnung besteht in dem Glauben, daß Christus immer noch komme, weil wir ihn „bei weitem nicht ganz gegenwärtig unter uns" haben 45 . Sie ist gleichsam ein christliches Existenzial, das der Prediger differenziert und erfahrungsbezogen darstellen soll 46 . Wir wenden uns nun noch einmal Bassermanns ursprünglicher Absage an die finale Bestimmung der Gemeindepredigt zu. Bassermann hat diesen verengten Predigtbegriff später modifiziert. Das Resultat stellen seine Überlegungen über „Zweck und Wirkung der Kultuspredigt" dar 4 7 . Bassermann gibt in ihnen zu, daß eine Predigttheorie, die von jeglichem Zweck der Predigt absehen möchte, auf einer doktrinalen und wirklichkeitsfremden Engführung des Begriffs der Darstellung beruht. Die Apo4 2 Richard Rothe als praktischer Theologe, 1899, S. 67. — Bassermann beruft sich u. a. auf das Selbstzeugnis Rothes in seiner Bonner Absdiiedspredigt, wo er aussprach, „wie er aufgetreten ist als ein einfältig-demütiger Bote des Zeugnisses Gottes von Tatsachen, die sich dem Mensdien innerlich als wahr und heilsdiaffend erweisen, nicht von Schullehren, die der Vergänglichkeit ausgesetzt sind, — daß er nichts habe predigen wollen als Christum, den Gekreuzigten und Auferstandenen, nicht eine Lehre über ihn oder über seinen Tod — und daß er es getan habe in Schwachheit und Furcht, nicht vor den Gegensätzen, mit denen bei ihm selbst das von Zweifeln niemals berührte Evangelium zu kämpfen hat, sondern vor dem Zurückbleiben des Wortes hinter dem, was es ausdrücken soll, hinter der vollendeten Klarheit, mit der ihm das heilige Bild Jesu in der eigenen Seele stand, hinter der felsenfesten Gewißheit, daß in ihm allein Heil sei." Ebd. S. 68.
1901. I n : Beiträge zur praktischen Theologie, S. 153ff. Ebd. S. 165. Hier zeigt sich der Einfluß Richard Rothes. 4 5 Ebd. 4 6 Vgl. ebd. S. 164 f. 4 7 So lautet der Titel der schon erwähnten Abhandlung von 1894. Von einer Wirkung der Kultuspredigt handelt zwar audi das Handbuch. Doch geschieht es dort in scharfer Abgrenzung von jedem Zweck. — Zu der sogenannten modernen Predigt um die Jahrhundertwende hatte Bassermann ein gebrochenes Verhältnis. Zu ihren Theoretikern ist er nur bedingt zu zählen, u. z. insoweit, als die Predigtlehre jener Zeit das psychologische Moment thematisierte. Vgl. die zahlreichen Rezensionen Bassermanns in der von ihm mit herausgegebenen Theologischen Rundschau. S. bes. Homiletische Fragen. ThR 8, 1905, S. 321—334, und Grundfragen der Homiletik. T h R 11, 1908, S. 81—92 u. 113—122. 43 44
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rien dieser Predigtanschauung wurden in den späteren Jahren seiner Lehrtätigkeit auch von ihm eingesehen. Worin besteht aber dann der Zweck der Gemeindepredigt? Bassermann Schloß sich nach seiner homiletischen Sinnesänderung der verbreitetsten Anschauung an und wurde zugleich ihr Vorkämpfer: Zweck der Predigt ist die Erbauung. Bassermann versteht darunter die „Belebung, Hebung, Stärkung des die christliche Gemeinde konstituierenden und zusammenhaltenden christlich religiösen Bewußtseins" 48 . Ohne eine „doppelzweckige Predigt" installieren zu wollen, erhebt Bassermann damit die Erweckung und Bekehrung zu einem „Nebenzweck" der Gemeindepredigt. Trotz der Auflockerung seiner Predigtanschauung hält Bassermann jedoch aus Gründen der Nüchternheit und des Realismus an einer relativen Einseitigkeit des Predigtbegriffs fest. Die Gemeindepredigt wäre überfordert, wenn sie das, was Katechese und Seelsorge versäumt haben, nachholen müsse. „Mit Träumen und Reden von großen Erfolgen unserer Predigt ist nichts getan" 4 e . Bassermann sieht die Schäden im kirchlichen Leben 50 . Die Erweckung und Bekehrung ist nach seiner Meinung jedoch nicht eine zentrale Aufgabe des Gemeindegottesdienstes, sondern der Inneren Mission. Auch der Forderung Emil Sulzes, die „Erfindungspredigten" durch Katechismuspredigten zu ersetzen, steht Bassermann ablehnend gegenüber 51 . Er sieht das „Erhebende" des Gottesdienstes darunter leiden und die Kirche zur Schulstube werden 52 . Die Belehrung ordnet er darum primär dem kirchlichen Volksunterricht zu. Schließlich steht Bassermann auch der programmatischen sozialen Predigt skeptisch gegenüber 53 . Bassermanns Veröffentlichungen über den Predigtbegriff bilden gleichsam einen Knotenpunkt in der Geschichte der Homiletik 5 4 . Zu diesem Urteil berechtigt einmal Bassermanns einseitige Interpretation von Ebd. S. 207. » Ebd. S. 223. 5 0 „Gibt es doch so viel, was wir heute in unserem kirchlichen Leben erreichen möchten, so viel Schäden, welche geheilt sein müßten, so viel Unvollkommenheiten, welche wir beseitigen, so viel schreiende Mißstände, denen wir entgegentreten sollten." Ebd. S. 207. 5 1 Sülze sah einen Hauptsdiaden der Kirche in der Unwissenheit des Volkes in religiösen Dingen. Statt der „Erfindungspredigten", der „Splitter-, Zufalls- und Einfallspredigten", forderte er Predigten, die systematisch in Lehre und Bekenntnis der Kirche sowie in die Geschichte des kirchlichen Lebens einführen. Die evangelische Gemeinde, 1891, bes. S. 59—76 und 246—253. 5 2 Beiträge, S. 211. M Ebd. S. 213 ff. 5 4 Es hätte den Rahmen dieser kurzen Studie gesprengt, wenn auch Bassermanns ausführliche formale Homiletik erörtert worden wäre. Sie bleibt im Rahmen des Konventionellen. Wichtiger sind freilich Bassermanns Beiträge zur Bibelauslegung, die auf einer guten Kenntnis der zeitgenössischen Bibelwissenschaft beruhen. Bassermann sieht in der historisch-kritischen Forschung den Zugangsweg zu den „wirklich biblisch-religiösen Standpunkten". Ebd. S. 170. 48 4
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Schleiermachers Konzeption der darstellenden Predigt. Indem Bassermann anfangs von der Abstraktion des reinen Begriffs der Darstellung ausging, verlor seine Theorie den Bezug zu der tatsächlichen Gemeindepredigt, die sich gegen eine abstrakte und verengte Definition immer sperren wird. Die Aporien der schematisierten Theorie der darstellenden Predigt werden bei Bassermann deutlidi sichtbar. Zum anderen hat Bassermann die (modifizierte) Theorie der darstellenden Predigt in einer Zeit vertreten, in der die fortschreitende Entkirchlichung des Volkes bereits eine Neubesinnung über Aufgabe und Gestalt der Gemeindepredigt hervorgerufen hatte. Bassermann hat jedoch weiter an seiner Theorie der darstellenden Predigt in der modifizierten Form festgehalten, weil er, wie gezeigt wurde, dem „persönlichen Zeugnis", der Darstellung „wirklich religiösen Gefühls" bzw. der „Macht der subjektiven Wahrheit" 55 die größte Wirkung zuschrieb. Sodann entsprach nur die darstellende Predigt seinem Verständnis des Kultus. Die naheliegende Frage, ob nicht vielleicht auch das Verständnis des Gottesdienstes einer Revision bedürfe, hat Bassermann jedoch nicht gestellt. Seine theologischen Prämissen ließen dies nicht zu. Bei aller Anerkennung der Ernsthaftigkeit von Bassermanns homiletischer Arbeit wird man darum sagen müssen, daß Bassermann, der mutig viele Lanzen für den kritischen Geist innerhalb der Theologie gebrochen hat, in dieser Beziehung nicht kritisch genug war. d) Die kritische Unterscheidung von Predigt und Kultus (M. Rieger, J. Smend) Ein Einspruch gegen das Kultusverständnis, wie es Bassermann vertrat, wurde von der zeitgenössischen praktischen Theologie zunächst nur vereinzelt erhoben. Dafür nahm die Diskussion eine eigenartige Wende und führte zu einer kritischen Unterscheidung von Predigt und Kultus. Die Motive, die zu dieser Auflockerung oder latenten Verhärtung des homiletischen Dogmas von der kultischen Integration der Predigt führten, waren versdiieden. Hier sollen zunächst zwei einst stark beachtete Aufsätze besprochen werden, die in der damaligen Praxis eine Abwertung von Predigt und eigentlichem Kultus erblickten. Der eine Aufsatz stammt von Max Rieger und ist „Uber die Mängel der jetzigen Predigtweise" betitelt6®. Riegers Erwägungen über die zeitgenössische Predigt gipfeln in der Forderung, daß die feierliche und inhaltlich domestizierte „liturgische" Predigt durch „praktische Predigten" 5 5 Ebd. S. 220. — D a s Beispiel für diese Theorie bietet u. a. Bassermanns kleine Sammlung akademisdier Predigten „ G o t t " , 1906. M Erschienen 1874. Der Aufsatz geht auf einen Vortrag Riegers zurück, den er vor einer Pfarrerversammlung hielt. Die Seitenangaben im Text beziehen sidi auf diese Sdirift.
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ersetzt werden müsse. Er wünscht, daß die Predigt „aus dem Vollen der Andacht auf den schmutzigen Boden der Wirklichkeit" herabsteige (34 f.). Sie soll, wie Rieger in Antithese zu der kultischen Predigtdoktrin formuliert, „wirken" und „die Sünde in ihren vor Augen liegenden Erscheinungen im Leben verfolgen" (23.34). Der Prediger soll nicht nur erbauen, sondern auch „lehren" und „strafen" (39). Riegers Kritik richtet sich gegen den einseitigen und verengten, durch das Axiom der Feierlichkeit87 geprägten Begriff der „liturgischen Predigt". Er argumentiert von der Praxis her und sieht in der „liturgischen Predigt" einen Grund für den „Rückgang des Christentums" im Volk (5). Rieger fordert darum die 'Entliturgisierung' der Predigt 58 . Diese Gedanken über eine notwendige Reform der Predigt sind nicht völlig neu gewesen, und Riegers Argumente sind bald darauf von anderen viel differenzierter vorgetragen worden. Trotzdem kommt dem Aufsatz Riegers eine gewisse Originalität zu. Sie ist in den gleichzeitig vorgetragenen Überlegungen über das Verhältnis zwischen Liturgie und Gottesdienst begründet. Rieger hebt nicht nur den Unterschied zwischen Liturgie und Predigt hervor, sondern er sieht auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der captivitas liturgica der Predigt und der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen. Es schwingt wohl ein Unterton liturgischer Romantik mit, wenn Rieger urteilt, die Predigt selber sei „liturgisch geworden, weil unserer Kirche die Liturgie abhanden gekommen ist" M . Freilich bleibt es unklar, wie Rieger sich im einzelnen die evangelische Gottesdienstform der Zukunft vorstellt. Daneben fehlt es auch seinen Reformvorschlägen zur Predigt an Präzision. Als kritische Anfrage eines Außenseiters an die Homiletik und Liturgik sollte diese Abhandlung jedoch nicht in Vergessenheit geraten. — Ähnliche Gedanken über die Predigt, jedoch von dem Standpunkt des engagierten Liturgen aus, hat Julius Smend in seinem Aufsatz „ZurFrage der Kultusrede" (1902)eo vorgetragen. Auch er konstatiert eine Krise der gottesdienstlichen Predigt und stellt eine doppelte Diagnose. Auf der einen Seite mangele es der zeitgenössischen Predigt an Aktualität und 57 „Was konnte man alles hören, als vor Jahren einmal ein junger Geistlicher die Kanzel unserer Hofkirche durch Erwähnung der 'abermals mißratenen Kartoffeln' entweihte." S. 37. 58 Die historischen Partien sind nicht immer stichhaltig und die Urteile des Verfassers oft pauschal und zugespitzt. Doch hat das letzte wohl das Interesse für diesen Aufsatz gefördert. M S. 22. — Tendenziös ist Riegers Urteil über die Gottesdienstordnung der Reformationszeit. „An der leergewordenen Stelle der Messe blähte sich die Predigt als Hauptbestandteil des Gottesdienstes auf." S. 11. Erschienen in den Theologischen Abhandlungen für Holtzmann, 1902, S. 211— 241. Daneben ist Smends Abhandlung „Die Predigt als gottesdienstliche Rede" von Wichtigkeit. In: Der evangelische Gottesdienst, 1904, S. 19ff.
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praktisch-konkreter Ausführung, so daß sie „ohne Anziehungskraft" s e i " . Andererseits habe die Predigt als Lehrrede und Bekehrungsinstrument den Kultus verdorben. Smends in sich widersprüchliches Urteil lautet darum: „Der Kultus hat die Rede ruiniert und die Rede hat den Kultus ruiniert." 62 Es scheint so, als ob Smend sich in der Rolle desjenigen sieht, dem es zugefallen sei, den Bankrott der gottesdienstlichen Integration der Predigt, die seit Schleiermacher und Schweizer die Homiletik des 19. Jahrhunderts beherrscht hatte, endgültig anzumelden. Die Schäden der Predigt führt er auf ihre Verbindung mit dem Gottesdienst zurück. Die Geschichte der gottesdienstlichen Predigt ist für sein in dieser Hinsicht wenig differenziertes Urteil eine Geschichte des Abfalls 6 3 . Die Wunschträume und Gravamina der zeitgenössischen Homiletik werden von ihm in die Predigtgeschichte zurückprojiziert. „So wurde die Predigt, früher ein Erde und Himmel umfassendes, alle Bildungselemente der Zeit in sich fassendes, das Innenleben großer und größter Individualitäten offenbarendes Geisteszeugnis, zu einem Stück Liturgie, gottesdienstlicher Handlung, und damit hörte ihre Daseinsberechtigung auf." 8 4 Smends Bemerkungen über die Fesselung der zeitgenössischen Predigt durch ihre kultische Anpassung enthalten zweifellos zutreffende Beobachtungen. Hinsichtlich der Kritik an den zeitgenössischen Predigten stimmte darum auch Schian in einer Rezension zu. Er forderte ebenfalls „Predigten, die sich frei entfalten können" e 5 . Es fragt sich aber, ob das Zerrbild einer nur stereotyp auf Erbaulichkeit und nicht auf die Vielfalt der menschlichen Lebensbezüge ausgerichteten Predigt in der gottesdienstlichen Integration der Predigt an sich seine hauptsächliche Ursache hatte ββ . Alexander Schweizer kennt beiEbd. S. 216—219. Ebd. S. 221. " Smend zählt Luther zu seinen Kronzeugen. „Es ist bekannt, wie Luther und seine Mitarbeiter das 'Wort' zu Ehren gebracht und in den Mittelpunkt des Gottesdienstes zurückgeführt haben. Die Predigt bildete das H e r z der Deutschen Messe. Aber wie wenig Luther selbst diese Verbindung für das endgültig Richtige gehalten hat, ist an mehr als einem Orte von ihm ausgesprochen worden." Ebd. S. 223. 6 4 Ebd. S. 226. » 5 ChW 17, 1903, Sp. 342. ·* Vgl. auch Smends Äußerung, daß „Predigt und Gottesdienst durchgängig recht unverträgliche Hausgenossen gewesen sind, die einander das Leben schwer, ja hin und wieder unmöglich gemacht haben". Ebd. S. 220. — Zu einem ähnlichen Urteil, wenn auch von anderen Voraussetzungen her, kam i. ü. schon Lorenz von Mosheim. „Wenn wir die Sache genau untersuchen, so ist die Predigt eigentlich kein Stück des Gottesdienstes." (Zit. bei A. Krauß, Homiletik 1883, S. 7) Mosheim führt utilitaristische Gründe für die Verbindung von Predigt und Kultus an und urteilt, daß die Menschen in dem Kultus zur Aufnahme belehrender Predigt am besten disponiert seien. Die Verbindung der Predigt mit dem Kultus ist für ihn eine Frage der Zweckmäßigkeit. 61 M
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spielsweise diesen verengten Begriff der Predigt nicht, obwohl er die gottesdienstliche Integration der Predigt systematisch begründet hat. Diese Diskrepanz erklärt sich daher, daß Smends Fragestellung bereits eine Voraussetzung enthält. Sie impliziert ein Verständnis von Gottesdienst, das von demjenigen der protestantischen Tradition und auch von demjenigen Schweizers abweicht. Darum stellt es das eigentliche Problem von Smends homiletischen Anschauungen dar. Die Kultuspredigt wird von Smend nämlich nicht bloß im allgemeinen Sinne als Gemeindepredigt verstanden. Ihr Charakter ist für ihn ganz von dem als Feier aufgefaßten Kultus her bestimmt. Smends eigene Erwägungen über die Kultusrede sind innerhalb der Geschichte der Homiletik ein Dokument für die Ablösung der darstellenden Gemeindepredigt durch die kultische Feierrede. Diese Entwicklung, die gerade auch in Bassermann einen Wortführer hat, ist durch verschiedene Faktoren gekennzeichnet. Bei Smend, der zusammen mit Spitta einer der Führer der damaligen liturgischen Bewegung war, gehen die Impulse besonders von der Reflexion über die Wesensgesetze der Kultusfeier aus87. Im selben Maß, wie das reformatorische Verständnis des evangelischen Gottesdienstes durch die aufkommende Kultusseligkeit verdrängt wurde, verfälschte sich immer mehr das Verständnis von evangelischer gottesdienstlicher Predigt. Smend widersprach sich selbst, indem er einerseits mit dem sich formierenden Chor der Predigtkritiker eine aktuelle, praktisch-konkrete Predigt forderte, aber andererseits aus seinen liturgischen Prämissen heraus diese Predigtform als einen Fremdkörper innerhalb des als Kultusfeier verstandenen Gottesdienstes ansehen mußte. Das homiletische Problem wurde darum für ihn zu einer Frage der institutionellen Regelung. Weil er seine Kultusdoktrin nicht mit der Forderung nach praktisch-konkreter Predigt in Übereinstimmung bringen kann, zerfällt für ihn der Gottesdienst in drei Typen. An erster Stelle nennt Smend predigtlose Gottesdienste, in denen das Gebet vorwaltet. Den zweiten Typ sollen die Gottesdienste mit den betrachtenden und in beschränktem Maße aktuellen Predigten bilden. Als dritte Möglichkeit nennt Smend schließlich den Predigtgottesdienst, in dem „Gebet und Betrachtung aufeinander angelegt und eingestimmt sind" e8 . Nur die beiden letztgenannten Gottesdienstformen stellen also Predigtgottesdienste dar. Das Mitregiment der Liturgik will Smend bei beiden Predigttypen gesichert wissen, weil die theoretische und stimmungsmäßige Einheit des Gottesdienstes für ihn unaufgebbar ist. 67 Die Predigt konnte im Kultus „nur geduldet werden, wenn sie sich unter Preisgabe ihrer Sonderart den übrigen Bestandteilen der Kirchenfeier assimilierte. Opferakt und Lehrakt, Unterredung mit Gott und Unterhandeln mit den Menschen, gemeinsame Aktion und individueller Erguß — wie sollte daraus ein harmonisches Ganzes werden?" Ebd. S. 226. « Ebd. S. 234.
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Es ist nicht zu übersehen, daß in Smends Erwägungen über die Predigt ein kritischer Ton hinsichtlich der „Vorherrschaft, ja Alleinherrschaft der Kanzelrede im evangelischen Gottesdienst" 69 mitschwingt. Rein äußerlich wollte Smend die Predigt auf ein kürzeres Zeitmaß beschränken. Gleichzeitig wertet er das kontemplative Element des Gottesdienstes auf, das in der evangelischen Kirche oft zu stark verdrängt worden ist. Der Psychologisierung des Gottesdienstes wurden freilich die Tore weit geöffnet. Was ist aber der Grundgedanke dieses übersteigerten und verabsolutierten Kultusbegriffs, der sich repräsentativ bei Smend findet? Smend hat u. a. die Formel gebraucht, der Gottesdienst sei Darstellung des Heils 70 . Die Empfindungen der Bruderliebe und Gotteskindschaft sollen gegenseitig „im Wechselverkehr" zwischen den gleichgesinnten Gemeindegliedern mitgeteilt werden. Die Predigt, die in diesen Rahmen allein paßt, ist das „Zwiegespräch der beati possidentes" 71 . Es hat darum öfters den Anschein, als ob Smend von dem himmlischen Jerusalem und nicht von dem Gottesdienst dieser Weltzeit redet. Die theologischen Richtigkeiten und Irrungen der Kultusfrömmigkeit kommen bei ihm klar zum Vorschein72. Der Preis, den Smend für das Idealbild der Kultusgemeinschaft zahlte, war zu hoch; denn er bestand in der Verklärung der Wirklichkeit christlichen Lebens. Weil in Smends Gottesdienstlehre die Kultusfeier im Mittelpunkt steht, ist letztlich alle Kritik an der herrschenden Predigtweise von vornherein entschärft gewesen. Die normale Gemeindepredigt hat für Smend auf Grund seiner liturgischen Prämissen ihren Ort zu stark im Zentrum und nicht auch an den Grenzen der Gemeinde. So bleibt schließlich nur Smends Forderung, die Monotonien aus der Predigt zu verbannen, uneingeschränkt bestehen. e) Erbauung als Zweck und Funktion der sogenannten
Kultuspredigt
In seiner Untersuchung „Über den Begriff der 'Erbauung'" stellte Bassermann 1882 fest: „daß der Kultus Erbauung zu seinem Zweck habe, ist so sehr Gemeinplatz geworden, daß man es eigentlich gar nicht mehr niederschreiben darf." 7 3 Mit der gleichen Selbstverständlichkeit hat eine größere Zahl von Theoretikern der Predigt auch den Zweck und die Funktion der sogenannten Kultuspredigt in der Erbauung gesehen. Diese Gleichung hat den scheinbaren Vorzug der Einfachheit und Klarheit. Der evangelische Gottesdienst, S. 28. Ebd. S. 25. 7 1 Ebd. S. 24. 7 2 Die Predigt fußt auf der Voraussetzung, „daß das, was der Prediger darreicht, allen gehört und allen gemeinsam ist, von allen anerkannt und als Heil ergriffen wird". Ebd. S. 23. 7 3 ZprTh 4, S. 7. 69
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Aber sie besagt wenig und läßt sich ζ. B. auf Schleiermachers und Schweizers Predigtverständnis kaum anwenden74. In ihr kommen ein vielschichtiger und ein unscharfer, überstrapazierter Begriff zusammen. Wer die Kultuspredigt mit wenig Mühe und ohne die Anstrengung historischer Redlichkeit pauschal als eine gleiche Zerfallserscheinung wie die zur Erbaulichkeit entartete Erbauung abtun möchte, könnte es sich anhand jener Gleichung sehr leicht machen. Ein undifferenziertes, negatives Urteil über die sogenannte Kultuspredigt wäre jedoch genau so unsinnig wie ein generelles Verdikt über die Predigt des 19. Jahrhunderts. Denn die Kultuspredigt des 19. Jahrhunderts wird ja ζ. B. durch die Predigten F. L. Steinmeyers, Hch. Hoffmanns und R. Kögels repräsentiert. Die Vokabeln sagen hier wenig. Die von ihnen gemeinte Sache stellt sich für die historische Nachfrage recht komplex dar. Die Katastrophe der Vokabeln75, von der auch zu reden ist, ist nicht eo ipso mit einer Katastrophe ihres ursprünglichen Bedeutungsgehaltes identisch. Wie aber sah die ursprüngliche homiletische Konzeption der kultischen Predigt des 19. Jahrhunderts aus? Die Grundlagen der sogenannten kultischen Predigt hat zweifellos Schleiermacher geschaffen, indem er das 'religiöse Handeln' zum Prinzip des Gottesdienstes und der Predigt erhob. Die Predigt ist nach Schleiermachers bekannter Definition Darstellung des gläubigen Gemeindebewußtseins in seiner Läuterung durch die Heilige Schrift und das Gesamtbewußtsein der Kirche. Das Faktum, daß — seit ungefähr dem 2. Jahrhundert — die Predigt ihren regulären Hauptort im Gottesdienst der Gemeinde hat, wurde von Schleiermacher akzentuiert. Schleiermacher schließt sich in dieser Hinsicht der Tradition an. Neu ist bei ihm nur die Art, in der er den gottesdienstlichen und gemeindlichen Charakter der Predigt begründet und interpretiert, nämlich die Unterordnung der Gemeindepredigt unter die Kategorie 'Darstellung', die dann auch J. Chr. Gaß gebraucht hat. Die Predigt ist ein freier und persönlicher Ausdruck der Frömmigkeit; und diese hat für Schleiermacher ihre 'Grundstimmung' in dem Bewußtsein der Erlösung durch Jesus Christus und dem Bewußtsein der Gotteskindschaft7β. Der gemeindliche Charakter der Predigt kommt für Schleiermacher dadurch zustande, daß die Frömmigkeit einen 'Drang' zur Mitteilung hat, und zwar zur wechselseitigen Mitteilung an Gleichgesinnte. Die kultische Predigt unterscheidet sich darin von der Heiden- und Missionspredigt. 7 4 Mit einem gänzlidi undifferenzierten Begriff der 'Kultpredigt' arbeitet G. Hilbert, Wider die Herrschaft der Kultpredigt! (1924). Die historischen Partien dieser Schrift sind ein Beispiel für polemische Vereinfachung. 7 5 Vgl. Martin Doerne, Art. „Erbauung", in: RGG», Bd. 2, Sp. 539. 7 6 Vgl. A. Schweizer, Homiletik, S. 6 3 : „Darum ist das Christentum Evangelium, frohe Botschaft, und als Grundstimmung wird in dem Kultus die dankbar freudige, zuversichtliche Kindlidikeit vorherrschen."
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Kultische Predigt und Gemeindepredigt sind in dieser Hinsicht Wechselbegriffe. Darum beschreibt Steinmeyer die Kultuspredigt allgemein als Predigt an die „sich zum sonntäglichen Gottesdienst versammelnde Gemeinde" Jede Deskription der kultischen Predigt muß bei diesem Sachverhalt einsetzen. Die Differenzierungen des Begriffs gewinnen erst auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Wesensbestimmung ihre Konturen 78. Alexander Schweizers Verdienst ist es, auf die Spannungsweite und Komplexität der in den Kultus integrierten Predigt hingewiesen zu haben. Er schließt sich, wie dargestellt wurde, Schleiermachers gottesdienstlicher Integration der Predigt an, zeigt jedodi zugleich die Elastizität dieser Einordnung auf. Die beiden anderen Lebensäußerungen der Kirche, nämlich das seelsorgerliche (pastorale) und missionarische (halieutische) Handeln der Kirdie, nimmt Schweizer in seine Deskription der Predigt mit hinein. Die gottesdienstliche Gemeindepredigt ist für ihn „von der Wurzel her", aber niemals ausschließlich „ k u l t i s c h " . Bassermann und Smend können sich darum bei ihren Vereinseitigungen nicht auf Schweizer berufen. Der Begriff der in den Kultus integrierten Predigt ist im 19. Jahrhundert sodann theologisch verschieden bestimmt worden. Neben Schleiermacher und seinen Schülern verstanden beispielsweise ebenfalls die lutherischen Theologen Th.Harnack und v. Zezschwitz die Predigt als einen „Kultusakt", und es wurde bereits gezeigt, wie Th.Harnack durch die Unterscheidung einer sakramentalen und sakrifiziellen Seite des Kultus das Schleiermachersche Gottesdienstverständnis sprengte und der Predigt, speziell der Rechtfertigungspredigt, einen „objektiven" Charakter zusprach. So verbinden sich bei Harnack Schleiermachersche Vorstellun77
Homiletik, S. 284. Kultus und Gottesdienst sind i. ü. in der Homiletik des 19. Jh.s weitgehend auswechselbare Begriffe. Vgl. Sdileiermacher, Praktische Theologie, S. 68. Allerdings ist der Begriff des Kultus zu einem terminus technicus für die theologische Eigenart v o n Schleiermachers Gottesdienstauffassung geworden. Anregend gewirkt hat die Schrift v o n J . C h r . G a ß , Über den christlichen Cultus, 1815. Vgl. auch K . W . V e t t e r , D i e Lehre v o m christlichen Cultus, 1839. — Für Alexander Schweizer sind „weder Gottesdienst noch Gottesverehrung dem Begriff (Kultus) völlig entsprechende Bezeichnungen: wider die erstere ist zu erinnern, daß Gott kein Wesen ist, das eines Dienstes bedarf . . . ; wider die letztere, daß die Verehrung etwas Innerliches ist und das für den Kultus notwendige Äußerlichwerden nicht bestimmt genug ausdrückt. Beide Ausdrücke einander ergänzend mögen den Begriff bestimmen." Homiletik, S. 42. — Th. Harnack sieht in dem Begriff des Gottesdienstes den allgemeinen Begriff (Lebensgottesdienst); der Begriff des Kultus ist für ihn der spezielle Begriff. (Kultus als geordneter Gottesdienst). Vgl. Th.Harnack, Praktische Theologie I, S. 2 3 5 f f . — Zu Beginn dieses Jahrhunderts wird der Begriff Kultus progressiv der Religionsgeschichte überlassen, vgl. M. Schian, Grundriß der praktischen Theologie, 1922, S. 98. 78
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gen mit der neueinsetzenden Rezeption der Wort-Gottes-Theologie Luthers78. Die sogenannte Kultuspredigt ist im 19. Jahrhundert freilich auch ganz anders weiterentwickelt worden. Das Resultat bildet das rein kultischdarstellende Verständnis der Predigt, mit dem sich dann der Begriff der Kultuspredigt in erster Linie verbunden hat. H. Cremers radikale Gegenthese, nichts sei „weniger Aufgabe der Predigt als die Darstellung des Gemeindebewußtseins"80, bezieht sich auf diese Predigtanschauung. Einer ihrer Hauptwortführer war H. Bassermann. Die Komplexität des Begriffs der Kultuspredigt ist von ihm, wie gezeigt wurde, stark eingeschränkt worden. Das Prinzip der „künstlerischen Darstellung" beherrscht in seiner Predigtlehre das Feld. Obwohl Bassermann an der Textpredigt festhält, öffnet er dem Subjektivismus und der Psychologisierung weit die Tore. Die genuin theologischen Elemente der Predigtdefinition werden bei ihm von der Reflexion über das fromme Bewußtsein und die entsprechenden Darstellungsmittel der Predigt überlagert. Von diesem Typus der Kultuspredigt führt ein direkter Weg zu der religionspsychologisch begründeten Predigt. Man kann darum sagen, daß Schleiermachers und Schweizers Verständnis der Gemeindepredigt durch ein Spektrum von Predigtbegriffen modifiziert bzw. korrigiert worden ist, aus denen sich die beiden beschriebenen Richtungen herausheben. Allerdings ist das psychologisierende Verständnis der Kultuspredigt immer mehr in den Vordergrund getreten und hat den Begriff zunehmend geprägt. Der legitime und genuine kultische bzw. liturgische Charakter der Predigt ist in dem Irrbegriff der Kultuspredigt — aufs ganze gesehen — an den Rand gedrängt. Er besagt, daß die Predigt in der vor Gott versammelten Gemeinde geschieht zum Lobe Gottes, zum gegenseitigen Trost und zur gegenseitigen Ermahnung, als Lehre und Bekenntnis. Um den Begriff der Kultuspredigt zu konkretisieren, muß nun der Begriff herangezogen werden, mit dem die Homiletik des ^.Jahrhunderts weitgehend den Zweck und die Aufgabe der Predigt bezeichnete: die Erbauung. Dieser Begriff bot sich für die Homiletik des 19. Jahrhunderts als Zweckbestimmung der Predigt darum an, weil er angeblich weder die Lehre noch die Ethik zu seinem besonderen Gegenstand hat. Der Begriff wird im 19. Jahrhundert weitgehend polar bestimmt. Er hat einen gemeindlichen (kirchlichen) und einen personalen Aspekt. Die Predigt will einerseits den einzelnen erbauen, weil es ein Kollektiv Gemeinde nicht gibt. Die Erbauung ist von der Homiletik des 19. Jahrhunderts mit Nachdruck als Förderung persönlichen Christentums bzw. 79 80
Vgl. audi die Homiletik Steinmeyers. Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krise, 1877, S. 17.
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Christseins beschrieben worden 81 . Zugleich sieht die Homiletik jener Zeit in dem einzelnen Christen durchweg ein Glied der Gemeinde bzw. der Kirche. Die Polarität von persönlichem Christentum einerseits und Gliedschaft in der Gemeinde (Kirche) andererseits ist darum in den meisten der bereits besprochenen Homiletiken Gegenstand der Erörterung. Erbauung geschieht demzufolge in der Gemeinde, ja sie vollzieht sich als 'Selbsterbauung' der Gemeinde. Weniger einmütig ist die Homiletik des 19. Jahrhunderts in der Frage nach der Doppelschichtigkeit der Erbauung als 'darstellendes' und 'wirksames Handeln' gewesen. In dieser Streitfrage stand zur Debatte, ob die Erbauung nur durch Aussprechen und 'Empfindung' des Gottesverhältnisses geschehe, oder ob sie auch den Mitchristen fördern, ja letzthin seinen Willen beeinflussen solle. Das Problem der Erbauung und das Problem der kultischen Predigt fallen hier zusammen, und es läßt sich beobachten, wie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die grundsätzliche Erörterung der Predigt zunehmend auf die Definition der Erbauung konzentriert hat. Der Begriff der Erbauung82 ist durdi den Pietismus (Spener, Großgebauer) zum programmatischen theologischen Begriff erhoben worden. Seine Bedeutungsgeschichte spiegelt dies deutlich wider. Das Element des Gefühlvollen und Erlebnishaften hat in jenen pietistischen Ursprüngen eine Hauptwurzel. Daneben hat der Begriff durch die pietistisdie Seelenpflege und persönliche Selbsterbauung stark individualistische Züge erhalten. Es wäre jedoch verfehlt, den individualistischen und sentimentalen Gebrauch des Begriffs allein aus dem Pietismus ableiten zu wollen. Das ist einmal darum falsch, weil beispielsweise Spener den neutestamentlichen Vollsinn des Wortes zur Geltung bringen wollte. Zum anderen sind für die Bedeutungsgeschichte des Begriffs noch weitere Faktoren zu berücksichtigen. So sieht M.Doerne in den „Wurzeln der Sentimentalität und des reflektierten Persönlichkeitsbewußtseins" auch die Wurzeln des Irrbegriffs der Erbauung83. Die Frage, ab wann der Irrbegriff der Erbauung zu datieren ist, stößt auf einen komplexen Befund. Der Irrbegriff läßt sich bereits im 18. Jahrhundert vielfach aufweisen. Dem sentimentalen MißVerständnis der Er81
Vgl. besonders die Homiletik von C. I.Nitzsdi. Nitzsch meint, es würde „die erbauliche Wirksamkeit der Kirche im Ganzen und in demselben Grade, als es stattfände, zurückgehen und ersterben, wenn der betende, bekennende, feiernde, lehrende Glaube den persönlichen, dessen einsame Andacht, dessen einsames Gebet, kurz die subjektive Wahrheit, das Innere des Äußeren nicht mehr zur Voraussetzung hätte". Praktische Theologie I, S. 207. 82 Hauptsächliche Belegstellen im Neuen Testament sind l.Kor. 14,12.26; 2.Kor. 12,19; Rom. 14,19 u. 15,2; l.Thess.5,11; 1.Kor.8,1; l.Petr.2,5; Luther übersetzt οικοδομή, οίκοδομέω meistens mit 'Besserung' bzw. 'bessern'. 83 RGG 3 , Bd. 2, Sp. 539.
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bauung ist auch durch die Frömmigkeit des Rationalismus Vorschub geleistet worden. Es läßt sich jedoch wegen der Kompliziertheit der Quellenlage schwer ausmachen, in welchem Ausmaß der Irrbegriff der Erbauung im 18. Jahrhundert schon verbreitet war. Auch im 19. Jahrhundert ist die Bedeutung des Begriffs nicht einheitlich. Von der Homiletik ist der Begriff partiell in seinem ursprünglichen neutestamentlichen Sinn oder in einem diesem angenäherten Verständnis gebraucht worden. Die Theorie der Predigt hat den Begriff zu retten versucht, obwohl sein Fehlverständnis schon weitverbreitet war. Steinmeyers Äußerung hat paradigmatischen Charakter. „Der Begriff der Erbauung, wie ihn die gewöhnliche Volksmeinung versteht, ist kein anderer, als daß dieselbe in der Hervorbringung der Affekte bestehe; die Zuhörer wollen gerührt sein. Wir (aber) dürfen uns durch den üblen Klang, welchen diese Banalphrase gegenwärtig für die ernsteren Gemüter hat, nicht gegen den Begriff überhaupt einnehmen lassen." 84 Steinmeyer macht also einen Unterschied zwischen dem populären und wissenschaftlichen Verständnis des Begriffs der Erbauung. Er steht damit innerhalb der homiletischen Theorie des 19. Jahrhunderts nicht allein. Was aber verstand die damalige Predigtlehre präzis unter dem Begriff der Erbauung? In Schleiermachers Predigtlehre steht der Begriff — im Vergleich zu späteren Entwürfen der Homiletik — nicht beherrschend im Vordergrund 85 . Dennoch verbindet Schleiermacher mit ihm ein Hauptanliegen seiner Theologie. Der Begriff bringt — nach heutigem Sprachgebrauch — den Existenzbezug des Glaubens zur Geltung. In diesem Sinne ist die Forderung Sdileiermachers zu verstehen, daß „jedes Element des Kultus, um kein opus operatum zu sein, erbaulidi sein" muß 8e . Zugleich meldet sich bei Schleiermadier in dem Begriff der Erbauung das Problem der Subjektivität und Individualität des Glaubens an 87 , freilich nicht losgelöst von „dem Fundament des christlichen Glaubens" 88 . SchleierHomiletik, S. 210. Der Begriff ist i. ü. von Joh. Lor. von Mosheim in die 'neuere' Sdiulhomiletik eingeführt worden. In der „Anweisung erbaulich zu predigen" (1763) definiert er die Predigt als „eine Rede zur Erbauung aus der heiligen Schrift. Erbauung ist die Besserung zu Gott im Glauben, die hauptsächlich den Verstand und Willen selbst, demnächst auch die Empfindungskraft betrifft" (Zit. nach: Anweisung erbaulich zu predigen. In einem fruchtbaren Auszug, zum Theil in genauere Ordnung gebracht, hin und wieder berichtigt und ergänzet von D . G e o r g e Joachim Mark. Bützow und Wismar, 1773, S . 5 ) . — Die Verwendung des Begriffs in der protestantischen Sdiulhomiletik ist freilich noch älteren Datums. Vgl. die Bemerkung von J . Guilel. Bajerus: „Alias ad iudicandum finem intermedium theologiae homileticae frequens occurit nomen aedificationis." Compendium theologiae homileticae, 1677, § 22. Zit. bei Caspari, Art. „Erbauung", RE 3 , Bd. 8, S. 300. 84
85
ββ 87 88
Praktische Theologie, S. 616. „Was einen erbaut, kann er nur selbst bestimmen." Ebd. S. 617. Ebd. S. 620.
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madiers allgemeine Definition ist allerdings sehr summarisch. Sie beschreibt die Erbauung als „erhöhte religiöse Stimmung, religiöse Erregung des Gemüts" 89 . Diese Formel hat in der Folgezeit das gefühlvolle und stimmungsvolle Fehlverständnis des Begriffs gefördert. Sie kann, für sich genommen, in diesem naiven Sinne verstanden werden. Der Fehler solcher Interpretation liegt jedoch in der Isolierung der Formel von ihrem Kontext bzw. der Gesamttheologie Schleiermadiers. Die nähere Erläuterung von Schleiermadiers Begriff der Erbauung kann darum nicht von der Frage getrennt werden, was Schleiermacher inhaltlich unter dem religiösen Bewußtsein und seinen Korrelatbegriffen verstanden hat 9 0 . Wer Genealogien sucht, muß gerade hier prüfen, ob er es sich nicht zu leicht macht 91 . Mit einiger Selbstverständlichkeit gebraucht audi Ph. Κ. Marheineke den Begriff der Erbauung. E r benutzt ihn, um den Zweck des Gottesdienstes und der Predigt zu beschreiben92. Der Begriff bezeichnet bei Marheineke allgemein das Ziel, zu dem das Wort Gottes bei der Gemeinde gelangen soll. Eine detaillierte Begriffsbestimmung liegt freilich audi bei Marheineke nicht vor. Ähnlich unreflektiert wird der Begriff von J . Chr. Gaß gebraucht 93 , während G.Baur die Spannungsweite des Begriffs hervorhebt 94 . Ebd. S. 619. In dieser Studie kann freilich auf die Streitfragen heutiger Schleiermacher-Interpretation nidit eingegangen werden. 9 1 An einigen Stellen bringt i. ü. auch Schleiermacher die Erbauung mit dem Zwedc der Predigt in direkte Verbindung; vgl. Praktische Theologie, S. 216: „Der Zweck, zu dem (die religiöse Rede) aufgestellt wird, ist kein anderer als das religiöse Bewußtsein der Anwesenden zu beleben . . . Daß nun hier die Belehrung allerdings auch ein Moment bildet, ist natürlich nidit zu leugnen, aber nur ein untergeordnetes. Die Hauptsache bleibt immer die Belebung des religiösen Bewußtseins, die Erbauung." — Der Begriff der Erbauung wird auch von anderen zeitgenössischen Theoretikern der Predigt verwandt, ζ. B. von Hch. Aug. Schott. F. Theremin sieht es gleichfalls als allgemeines „Streben" der Predigt an, „Erbauung zu bewirken". Vorrede zur 2. Aufl. von „Die Beredsamkeit eine Tugend", 1836, Bibliothek theologischer Klassiker Bd. 10, 1888, S. 37. 89 90
9 2 Marheineke schreibt der Predigt „zum Zwecke der Erbauung" die Vermittlungsrolle zwischen Wort Gottes und Gemeinde zu. „Es können daher die Bestimmungen der Erbaulidikeit der Predigt in gleicherweise hervorgehen nur aus demjenigen, was das Wort Gottes und die Gemeinde ist, diese, wie sie das Bedürfnis von jenem, jenes, wie es die Befriedigung dieses Bedürfnisses in sich hat; das dritte aber ist die Vermittelung oder die Predigt selbst." Entwurf der practischen Theologie, § 339. 9 8 Über den christlichen Cultus, 1815, S. 121 ff. Vgl. auch A.Schweizer, Homiletik, S. 150 f. 9 4 Bei G. Baur ist der Begriff Symbol für die Vermittlung von christlichem Glauben und christlichem Leben. „Wird der Begriff der Erbauung richtig gefaßt und sie als eigentlicher Zweck der Predigt festgehalten, so ist damit auch zugleich die Frage beantwortet, ob Dogma oder Moral gepredigt werden solle. Es erledigt sich nämlich diese Frage dahin, daß weder Dogma für sich, nodi Moral für sich zu predigen ist, daß
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Ausführlicher kommt der Begriff der Erbauung bei C.I.Nitzsdi zur Sprache. Nitzsch setzt sich gegenüber dem zunehmenden Mißverständnis der Erbauung zur Wehr. Er kommt — schon vor Steinmeyer — zu dem Ergebnis, daß „der gewöhnliche Gedanke der Erbauung die Sache (kaum erreicht und noch) viel weniger erschöpft"95. Nitzsch räumt zwar ein, daß der christliche Glaube auch das Gefühl bestimmen müsse86. Den Wesenskern der Erbauung sieht er aber in den christlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Erbauung ist „unstreitig Gesinnung, Liebe, die aus dem Glauben kommt, welcher Hoffnung hegt und das Salz der Buße bei sich führt" 97 . Th.Harnack hat die Unterscheidung eines praktischen und theoretischen Zwecks der Erbauung eingeführt. Der theoretische Zweck der Erbauung hat die Erklärung, die Lehre und den Beweis zur Aufgabe. Der praktische Zweck zielt auf die Realisierung christlichen Glaubens, wie sie beispielsweise durch die Gesinnung angezeigt wird. „Denn das Wort Gottes will nicht etwas von uns, sondern uns selbst, darum unsere Gesinnung, und zwar die des Glaubens." ®8 In der Folgezeit ist der Vollbegriff der Erbauung, wie er sich beiNitzsdi und Harnadk findet, allerdings nicht festgehalten worden. H. Bassermann hat die Bedeutungsveränderung und die sie begleitende Verschwommenheit des Begriffs 1882 untersucht". Der zeitgenössische Irrbegriff und „die landläufige Identifikation von Erbauung und Kultuszweck" wurden von ihm mit dem neutestamentlichen Sinngehalt von οικοδομή konfrontiert 100 . Bassermann erkannte richtig, daß der neutestamentliche, paulinische Gedanke der Erbauung primär den Aufbau der Gemeinde zum Gegenstand hat. Die Differenz zwischen dem individualistischen und passiven Verständnis der Erbauung und dem neutestamentlidien Urbegriff ist in Bassermanns Abhandlung überzeugend dargestellt. Bassermann kommt zu dem Ergebnis, daß Erbauen im Neuen Testament eine Tätigkeit bezeichne, durch welche „die Gemeinschaft, (die) auf der Person Jesu Christi vielmehr in jeder Predigt christlidier Glaube und christliches Leben in ihrer innigsten Beziehung zu einander berücksichtiget werden und ihren Ausdruck finden müssen." Homiletik, S. 86. ®5 Praktische Theologie I, S. 205. — Audi in der Predigtliteratur findet sich die Abwehr gegen das Mißverständnis der Erbauung. So heißt es beispielsweise in einer Predigt von Claus Harms aus dem Jahre 1834: „Ich habe verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, daß ihr nicht Rührung und Erbauung für einerlei halten möditet." Abgedruckt in: Des Christen Glauben und Leben, 1869, S. 241. · · Ebd. S. 205 f. — Vgl. auch Palmer, Homiletik, S. 23. Palmer hebt die Freude als Kennzeichen der Erbauung besonders hervor. " Ebd. Bd. 2, S. 56. 88 Praktische Theologie II, S. 234. M Über den Begriff „Erbauung": ZprTh 4, 1882, S. 1—22. — S. audi A.Krauß, Homiletik, 1889, und H . Hering, Lehre von der Predigt, 1905. m Ebd. S. 16.
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r u h t . . . , gestärkt, gehoben, in ihrem Wachstum gefördert wird" 1 0 1 . Alle Lebensäußerungen der Kirche sind in dieses H a n d e l n einbezogen. „Das ganze Gebiet des wirksamen Handelns, sei es verbreitend oder reinigend, muß, soweit es sich auf dem Boden der εκκλησία bewegt und diese als Ziel im Auge hat, unter den Gesichtspunkt der οικοδομή gestellt werden." 1 0 2 O b w o h l Bassermann die Differenz zwischen dem neutestamentlichen und zeitgenössischen Verständnis der Erbauung erkennt, zieht er selbst daraus allerdings n u r bedingt die Konsequenzen. Die kritische Analyse w i r k t sich auf Bassermanns Konstruktion des Begriffs der Kultuspredigt n u r gebrochen aus. Bassermann spielt den personalen N e b e n aspekt im neutestamentlichen Sprachgebrauch hoch. D e r Gedanke, d a ß die kirchliche Gemeinschaft zusammengefügt werde, wenn einzelne ihren Glauben im Gottesdienst darstellen, bildet einen Pfeiler seiner Theorie der Kultuspredigt. D e r aufgerissene Graben zwischen dem neutestamentlichen Begriff von οικοδομή und dem zeitgenössischen Verständnis der Erbauung w i r d auf diese Weise wieder verkleinert. Zu diesem Kunstgriff gesellt sich bei Bassermann eine psychologisierende Interpretation der persönlichen Erbauung. Erbauung ist nicht ohne f r o m m e Empfindung; u n d der Christ will nadi Bassermann seine „eigenen Empfindungen" darstellen 1 0 3 . Die Grenze zwischen 'Innigkeit' u n d Sentimentalität 1 0 4 ist in der Praxis d a n n oft fließend gewesen. Die Konsequenzen aus der Differenz zwischen dem neutestamentlichen und dem zeitgenössischen Verständnis der Erbauung h a t schließlich Friedrich Niebergall gezogen 105 , indem er dem neutestamentlichen u n d dem „heutigen" Begriff einen vermittelnden „Normalbegriff" hinzufügte. Niebergall verneint, d a ß man „zur einfachen Strenge des biblischen Begriffs zurückkehren" müsse 108 . Die Erregung u n d Pflege des religiösen Gefühlslebens w i r d von Niebergall ausdrücklich in den Begriff aufgenommen, u n d er zählt dazu besonders die Freude. W o das Vertrauen gestärkt, der Sinn gereinigt u n d die Liebe vertieft wird, geschieht Erbauung 1 0 7 . 101 Ebd. S. 6. Bassermann fährt fort: „Diese selbst bleibt stets das Hauptobjekt, der einzelne also kann es nur werden, sofern er durdi die Erbauung ihr eingefügt, in ihr befestigt, mit ihr inniger verbunden -wird." Die metaphorische Bedeutung der οικοδομή des einzelnen ist also in dem ekklesiologischen Primärsinn von οικοδομή eingesdilossen. — Vgl. zu diesen Gedanken Phil. Vielhauer, Oikodome, 1940, bes. S. 172. 102 Bassermann, a.a.O. S. 17. 103 Ebd. S. 18. 104 Vgl. den 3. Teil der o. genannten Abhandlung (Resultate), S. 15—22. 105 Art. „Erbauung", in: RGG 1 , Bd. 2, 1910, Sp. 428—433, und RGG 2 , Bd. 2, 1928, Sp. 211—214. 106 RGG 2 , Bd. 2, Sp. 213. Freilich legt auch Niebergall einen besonderen Ton auf die sittlich-religiöse Förderung. 107 Ebd. Sp. 214.
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F. Niebergalls eigener Predigtbegriff hat zwar noch ganz andere Horizonte als nur die Erbauung. Soweit um die Jahrhundertwende die Erbauung als Zweck und Funktion der Kultuspredigt angesehen wurde, zeigt jedoch F. Niebergalls Deskription des Erbauungsbegriffs die Nähe der Kultuspredigt zu einer stimmungsvollen Feierrede gut an. Es hat insofern nicht nur einen Irrbegriff der Erbauung, sondern auch einen Irrbegriff der Kultuspredigt 108 gegeben. Zwischen beiden kam es zu einer negativen Korrespondenz. Um so mehr gilt es, über der Katastrophe dieser Vokabeln nicht ihren ursprünglichen Sinngehalt zu vergessen109, der darin kulminiert, daß der Prediger seine Hörer als mündige Christen anreden solle. 4. Das Verständnis der Predigt als Wort Gottes a) Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes In den vorangehenden Abschnitten wurde der Einfluß Schleiermachers auf die Homiletik des 19. Jahrhunderts dargestellt, und es wurde zugleich an Beispielen gezeigt, in welcher Weise der Ansatz Schleiermachers modifiziert oder auch korrigiert werden konnte 1 . Ohne die Erörterung solcher Ansätze und Entwürfe der Homiletik, die in expliziter und impliziter Auseinandersetzung mit Schleiermachers oder dem allgemeinen kultischen Verständnis der Predigt ausgeführt wurden, wäre diese Bestandsaufnahme unvollständig. Hatte Schleiermacher die Predigt als brüderliche Rede innerhalb einer christlichen Gemeindeversammlung verstanden, für die das Bild Christi den Inbegriff geistiger Menschenbestimmung darstellt, so ist bei den im folgenden genannten homiletischen Abhandlungen das Wort Gottes ein zentraler Begriff. Dieser Begriff ist verschieden gefüllt gewesen, zumal er audi außerhalb der theologischen Wissenschaft verwandt wurde. In der Sprache des Volkes wurde er weitgehend als Interpretationsformel für die Predigt selbst gebraucht. Daran hat auch die rationalistische Periode wenig geändert, obwohl die Formalisierung des Begriffs in ihr vorangetrieben wurde. In den hier zu nennenden Abhandlungen liegt eine prägnante Fassung des Begriffs vor, bei der sich zwei Wege besonders abzeichnen 2 . 108 Wie sehr sich jedoch auch hier abwertende Pausdialurteile verbieten, zeigt der Vortrag von J.Bauer „Die Kultuspredigt", in: Grundfragen des evangelischen Kultus, hrsg. von C.Horn, 1928, S.80—94. 109 Der Begriff der Kultuspredigt ist immer ersetzbar, ζ. B. durch den der Gemeindepredigt oder der gottesdienstlidien Predigt. Der biblische Begriff der Erbauung ist nicht gänzlich aufgebbar. K.Barth hat seinen Sinngehalt in der Kirchlichen Dogmatik § 6 7 eindrücklich dargestellt. 1 Vgl. die Predigtlehren von Nitzsch und Harnack. 2 Hingewiesen sei auch auf den Sprachgebrauch der Erweckungsbewegung und des Biblizismus.
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Der eine Weg ist der dogmatische. Dieses Verständnis des Wortes Gottes findet sich paradigmatisdi bei H. Cremer, für den das Wort Gottes primär Versöhnungswort ist. Sein Begriff des Wortes Gottes erhielt die inhaltliche Fassung aus der Soteriologie und ist darum lehrmäßig eingrenzbar. Anders verhält es sich mit der zweiten Fassung des Begriffs, die man die pneumatologische nennen könnte. Dieser Begriff des Wortes Gottes widerstrebt der scholastischen Theoretisierung. Er findet sich in einer eigentümlichen Fassung u. a. bei Claus Harms 3 . aa) Predigt als Wort Gottes (Claus Harms) Claus Harms hat zwar keine ausgeführte Predigtlehre hinterlassen, aber er hat wie nur wenige auf die Predigt im 19. Jahrhundert eingewirkt. Seine Gedanken über die Predigt sind aus der Praxis des Predigtamtes erwachsen und finden sich in zahlreichen Schriften und Predigtbänden. Daneben hat Harms in dem bekannten Aufsatz „Mit Zungen!! lieben Brüder, mit Zungen!" (1833) und in dem ersten Buch der Pastoraltheologie seine Ansicht über das prinzipielle Problem der Predigt ausführlicher dargestellt. Faßt man alle Äußerungen zusammen, so ergibt sich durchaus ein konturiertes Bild 4 . Harms' Predigtanschauung zeugt von einer außergewöhnlichen Lebendigkeit und Substanzdichte theologischen Denkens. Sie ist nicht von Spannungen frei und zeigt damit den bewegten theologischen Werdegang des schleswig-holsteinischen Predigers und Kieler Propstes an. Schleiermachers Reden über die Religion hatten den Studenten Harms so ergriffen, daß er sich von der herrschenden rationalistischen Theologie trennte. Sie bildeten für ihn den „Stoß zu einer ewigen Bewegung", die schließlich zu einem Rückgriff auf die reformatorische Theologie führte. Harms' Predigtverständnis ist darum polemisch gegen die Predigtanschauung der Aufklärung und des Rationalismus gerichtet, obwohl er in einer Reihe von homiletischen Einzelfragen mit ihr übereinstimmt. Später lockerte sich auch sein Verhältnis zu Schleiermacher. Die hier auftretenden Differenzen sind jedoch niemals ein ausdrückliches Thema von Harms' homiletischen Äußerungen gewesen. Wie Schleiermacher hat Harms den gemeindlichen Charakter der sonntäglichen Predigt betont. Anders als Schleiermacher hat Harms aber den Spitzensatz vertreten, daß die Predigt ein gegenwärtiges Wort Gottes sei bzw. sein solle. In der Pastoraltheologie schreibt Harms: „Wir wissen alle, wohl, nur zu wohl, wieviel Menschenwerk sich an (der Predigt) finde, doch mögen Sie bereits etwas davon bei sich erfahren haben, oder doch nicht, . . . ich ' Bei Michael Baumgarten findet sich eine enthusiastische Variante des Begriffs. Vgl. D. Rössler, Zwischen Rationalismus und Erweckung. Zur Predigtlehre bei Claus Harms. ZKG 1962, S. 62—73; F.Wintzer, Claus Harms. Predigt und Theologie, 1965, bes. S. 89—100. 4
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sage mit vielen anderen Predigern: für lauter Menschenwerk, für nichts als Menschenwerk lassen wir unsere Predigten nimmermehr ansehen. Wir sind bei unserer Ordination unter den Einfluß eines Höheren, des heiligen Geistes gestellt; wir arbeiten an unserer Predigt und halten sie unter eignem und andrer Gebet, daß der Geist uns darin beistehe; wir erfahren zu Zeiten, wiefern überhaupt auf das Zeugnis von innern Erfahrungen etwas gegeben werden kann, daß wir angefaßt werden von einer Hand, die keines Menschen ist, und Gedanken bekommen samt ihrem Ausdruck, die nicht gewachsen sind weder in dem Garten unserer eignen Invention noch auf dem Felde der homiletischen oder irgendeiner Literatur, und solches geschieht als mit Befehl, dies sollst du predigen, in Überwältigung und Erfüllung unseres Geistes, unter dem Certificat einer guten Herkunft, das in der Reinigung und Gotteinigung des Herzens besteht, welche dann geschieht, ist darnach die Predigt für lauter Menschenwerk anzusehen? kommt sie darnach ganz von Menschen her?" 5 In der Vorrede zu der Predigtsammlung „Die Bergrede des Herrn" (1841) hat Harms diese Gedanken weiter ausgeführt: „Es ist auch nicht sowohl darum uns zu tun, daß wir etwas Neues zu hören bekommen, den Rat unserer Seligkeit haben wir ganz, es ist vielmehr das Bedürfnis dieses, daß uns, Firnes oder Frisches einerlei, geboten werde als von Gott an uns kommend, womit wir gelehret, wir gestraft, wir gestärkt und getröstet werden. Ja, das alles steht in der Bibel und ist uns nicht unbekannt, aber es muß uns noch anderswoher und direkter kommen. Zum Gichtbrüdiigen spricht Jesus: Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben, — dasselbe muß Jesus mir, mir sagen oder sagen lassen . . . Diesem hadi hätten wir in der Predigt ein zur Stunde ausgehendes Wort Gottes? Gewiß. Wir nehmen ja ein göttlich eingesetztes Predigtamt an . . . der Prediger selbst hörts in sich hinein, daß er sein eigenes Wort nicht, sondern ein ihm gegebenes rede, nicht seines Herzens Gesicht rede, Jer. 23, sondern daß er des Herrn Mund sei . . . Grund dessen haben wir in der Predigt ein zur Stunde ausgehendes wirkliches Gotteswort. In deinen, in Arndt's, in Marheinekes Predigten hör ich fragen . . . Ach, wir sprechen von jemandes Predigten nicht, sondern von der Predigt ihres Ortes, da sie gehalten wird in der gottesdienstlichen Versammlung und von dem Prediger selbst, der sie hält, wenn mit ihm wie mit ihr es wohl bestellet ist. Was wird eigentlich eingewendet? . . . ein Pathos, das untrüglich andeutet, von Herzen komme das Wort nimmermehr; ein Vortrag soldier Sachen, die nirgendshin, auf die Kanzel aber gar nicht gehören; solche Sachen, die offenbar mit dem geschriebenen Wort Gottes in Widerspruch stehen und strafen den heiligen Geist Lügen: das sind Einwendungen, die unsern Satz wirklich wenden? . . . wenn so gepredigt wird, als5
Pastoraltheologie, Buch II, 1837 2 , S. 152 f.
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dann ist der Text und sind die etwa angezogenen Bibelsprüche das einzige Wort Gottes, und selbst möchte wohl durch ein solches Verfahren Gott aus seinem eigenen Wort, das vorkommt, herausgepredigt werden. Allein, von einem solchen Predigen sprechen wir ja n i c h t . . . " Die beiden Zitate zeigen, daß Harms' Erwägungen über den Charakter der Predigt als Wort Gottes Spitzensätze bilden. Theologische Aussage und Frage liegen dicht beieinander, und Harms konfrontiert die theologische Aussage dauernd mit der empirischen Wirklichkeit. Das ist schon dadurch bedingt, daß Harms primär nach der gegenwärtigen Gestalt des Wortes Gottes fragt. Harms' Erwägungen kreisen um die Frage, wie und inwiefern die Gemeinde ein „neues, lebendiges Wort" in der Predigt zu hören bekommt neben dem „alten" Wort der Schrift; und es liegt für Harms in dem Charakter des gegenwärtigen Wortes Gottes begründet, daß es sich nur schwer theoretisch fassen, aber persönlich 'erfahren' und 'erleben' läßt. Doch ist das Wort Gottes nach Harms letzthin unverfügbar. Alle Rede über es muß darum von dem Moment der Erwartung bestimmt sein. Harms hat aus der Unverfügbarkeit des Wortes Gottes aber kein Prinzip gemacht, so daß jede Rede darüber problematisch würde. Vielmehr hat er versucht, die Gegenwärtigkeit des Wortes Gottes einkreisend zu beschreiben. In dem Aufsatz „Mit Zungen!!" nennt Harms sieben Kennzeichen®. Drei davon hebt Harms audi sonst besonders hervor. Ein erstes mögliches Kriterium bildet die persönliche Betroffenheit des Predigers, der selbst die „reinigende, stärkende, tröstende Kraft (der) Gedanken" erfahren müsse7. Ein weiteres Kennzeichen ist der personale Charakter solcher Predigt, da das Wort Gottes auf den einzelnen Hörer zielt. An dritter Stelle nennt Harms ein Sachkriterium. Die Predigt, für die das Prädikat Wort Gottes zutrifft, besitzt eine Substanzidentität mit der heiligen Schrift, auch wenn sich die Einzelpredigt für Harms nicht mechanisch aus dem Text ergibt. Prinzipiell stellt die hier beschriebene Predigt für Harms eine Wirkung des Geistes dar. Doch schränkt Harms sofort ein. „Jetzt sollte ich allerdings eine formgerechte und verstand-(hand)feste Definition geben von dem, was der influxus spiritus sancti sei. Aber auch der Versuch, es zu tun, würde dartun, daß ich selber keinen Verstand davon hätte, denn es ist dieser influxus ein factum, eine Erlebung, kenntlich und verständlich allein, wann er als ein factum erscheint und von jemandem selbst erlebt wird. Dessen wir mehreres kennen, ζ. B. die Liebe." 8 Harms ordnet, wie das Beispiel der Liebe verdeutlicht, den influxus spiritus sancti dem persönlichen Erfahrungsbereich zu und beschreibt ihn • Ausgewählte Schriften und Predigten. Hrsg. v. P. Meinhold, 1955, Bd. 2, S. 395. 7 Ebd. 8 Ebd. 78
in Analogie zu anderen Erfahrungsstrukturen menschlichen Lebens. Zugleich besitzt sein Geistbegriff universalistische Züge. Der dritte Artikel wird bei Harms nicht von dem zweiten verschlungen. Der heilige Geist ist, wie Harms beispielsweise in Predigten ausführt, ein Geist der Wahrheit, ein Geist der Uberwindung, ein Geist des Rates, aber auch der Erkenntnis. Den Ausgangspunkt für die Geisttheologie von Harms bildete die romantische Geistphilosophie, wie sie sidi u. a. in den Schriften von Novalis und auch in den Reden Schleiermachers bezeugt. Obwohl Harms sich bald von dem romantischen Geistverständnis abgewandt hat, hat er noch 1833 in dem Aufsatz „Mit Zungen!!" für die behauptete Dignität der Predigt als Wort Gottes ein Zitat von Novalis herangezogen und die Predigt als „ein Bruchstück der Bibel, und zwar des kanonischen Teils der Bibel, (als) eine Inspirationswirkung" beschrieben9. Der ursprüngliche Sinn des Zitats ist in jenem Zusammenhang freilich in Richtung auf eine reformatorisch eingestimmte Theologie verschoben. Obwohl Harms für das Wort Gottes verschiedene 'Kriterien' zu nennen weiß, bleibt für ihn zuletzt ein unverrechenbarer Rest; denn Gotteswort und Menschenwort bilden eine Paradoxeinheit. „Wer uns aber bloß mit Gemütlichkeit, Herzlichkeit käme oder mit Anschaulichkeit, Lebhaftigkeit, Feuer oder mit Originalität, Genialität, und wenn er käme selbst mit Salbung, darin bestünd' es, was wir das Reden mit Zungen nenneten — zu dem würden wir sagen müssen: Freund, wir bedauern, daß für dich unsere Beschreibung unklar geblieben ist, denn was du uns sagst, das kann allerdings haften an unserer Idee, allein sie selbst ist es nicht, du sprichst von Farben, wir aber von Lidit." 10 — Harms hat mit seinen Gedanken über die gegenwärtige Gestalt des Wortes Gottes der Theologie seiner Zeit eine Frage gestellt, die in ihr weitgehend verschüttet war. So unkonventionell wie die Form war auch der Inhalt seiner Äußerungen. Die Erwägungen, die Harms über die Predigt des Wortes Gottes angestellt hat, sind nicht völlig mit der reformatorischen Anschauung von der viva vox evangelii identisch gewesen. Sie entsprangen einer elementaren Besinnung auf das Wesen der Predigt, wobei Harms schon wegen der mangelhaften zeitgenössischen Kenntnis der reformatorischen Theologie nicht einfach repristinatorisch verfahren konnte. Harms wollte das Axiom einer in sich geschlossenen Welt nicht gelten lassen und hielt darum an der Uberzeugung von einer die Empirie überschreitenden Wirklichkeit der Predigt fest. Seine Erwägungen sind als solche gehört11, aber zunächst kaum weiter theologisch durchdacht » Ebd. S. 394. Ebd. S. 396. 11 Vgl. ζ. B. Aug. Tholuck, Vorwort zur zweiten Sammlung der Predigten. Werke, 2. Bd., Predigten, 1. Teil, 5. Aufl. 1863, bes. S . X V . 10
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worden. Es bleibt aber Harms' Verdienst, dieses Problem erneut angemeldet zu haben12. bb) Die kirchliche Predigt als Rechtfertigungspredigt (Chr. G. Ficker) Um die Jahrhundertmitte hat Christoph Gotthilf Ficker, Pfarrer in Michelwitz bei Pegau, von dem Standpunkt des sich formierenden und verfestigenden lutherischen Konfessionalismus aus das prinzipielle Problem der Predigt dargestellt. Im Unterschied zu den fast gleichzeitig erschienenen Predigtlehren von Schweizer und Baur und programmatischer als Nitzsch faßt Ficker die Predigt als Wort Gottes auf. Das kultisdie Verständnis der Predigt ist in seiner Homiletik an die Seite gedrängt. Dafür kommen in ihr — in allgemeiner Form — Elemente der altprotestantischen Tradition stärker zu Wort. Ficker fordert, daß „jede Predigt ein Zeugnis von Christo" sein müsse13, und sieht in der Homiletik „eine Anweisung, das aus der Schrift zu schöpfende und nach der Schrift zu normierende Gotteswort so zu predigen, daß dadurch das Heil der Kirche überhaupt und das der anvertrauten Seelen in einer örtlichen Gemeinde insonderheit befördert werde" 14 . Die Predigt wird von ihm primär als Rechtfertigungspredigt definiert. Das Heil der Seelen und nicht der Glaubensbesitz der Gemeinde ist ihr hauptsächlicher Gegenstand. Mit diesem Predigtbegriff steht Ficker unter den Predigern seiner Zeit nicht allein15. Er gehört aber zu den wenigen, die ihn in einer homiletischen Theorie ausgeführt haben. Von mindestens gleichem Interesse wie Fickers grundsätzliches Verständnis der Predigt ist deshalb die Art und Weise, wie Ficker die Dignität der Predigt als Wort Gottes begründet. Ficker zählt in erster Linie drei Faktoren auf. Neben der Text- und Schriftgemäßheit fordert er die Bekenntnisgebundenheit der Predigt und legt schließlich einen besonderen Akzent auf ihre „kirchenbildende" Kraft. Ficker möchte die Predigt aus der „Substanz des . . . Schriftwortes"18 erwachsen sehen. Die Predigt soll sich eng an den Text anschließen oder zumindest „in dem Geiste" des Textes geschehen17. Auf Grund dieser Prämissen hält Ficker die in freier Bindung an den Text erfolgende 12 Die hier erörterten Probleme bilden i. ü. nur eine bestimmte Einzelperspektive von Harms' Predigtlehre. Auf die Darstellung seiner Gesamthomiletik, die zentral das Problem einer wirklidien Volkspredigt zum Gegenstand hat, muß hier verzichtet werden. 18 Grundlinien der evangelischen Homiletik. Leipzig 1845—47. S. 5. 14 Ebd. S. 12. 15 Sie wurde vor allem in dem weiteren und engeren Bereich der Predigt des konfessionellen Luthertums und der Erweckung vertreten. Als Beispiel der von ihm gemeinten Predigt nennt Ficker u. a. die Christologisdien Predigten von Claus Harms, S. 26, Α. 1. " Ebd. S. 75. 17 Ebd. S. 82.
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Themapredigt nur dann für berechtigt, wenn „besondere Ereignisse" in der Predigt behandelt werden müssen18. Die Normalform der Predigt ist für ihn die „textuale" bzw. die „ textual thematische" Predigt. „Das Thema, zugleich gedacht mit seinen Teilen, welche doch nur das Thema einesteils entwickeln, andernteils begrenzen, (soll) nur der Reflex des Textes selbst sein, und es darf sich in der Predigt nichts finden, was nicht entweder κατά το ρητόν im Texte steht oder wenigstens κατά την διάνοιαν aus demselben praktisch entwickelt werden könnte19. Die Forderung der Textgemäßheit der Predigt wird von Ficker eng mit dem Postulat der Bekenntnisgemäßheit verbunden. Die beiden Forderungen sind für ihn fast identisch20. Ficker bevorzugt die epistolischen Texte und versteht sie, wie auch die Evangelientexte, nach dem Vorbild der altprotestantischen Orthodoxie als Uberlieferung von christlichen Wahrheiten. In erster Linie sieht er in ihnen eine Proklamation und ein Glaubenszeugnis der „Grundtatsachen des Christentums"21, deren Summe in dem Bekenntnis gegeben sei. In der Entschlossenheit, mit der Ficker die „konstituierenden Tatsachen der evangelischen Geschichte"22 18
Ebd. S. 104. Ebd. S. 69. Der Unterschied zwischen der „textualen" und der „textual-thematischen" Predigt ist für Ficker gering. Die erste entspricht der reinen Homilie, die zweite entnimmt dem Text den Hauptgedanken, führt ihn aber in enger gedanklicher Verbindung mit dem Text aus. 20 Vgl. ebd. S. 197. — Eine Variante zu Fickers Postulat der Bekenntnisgebundenheit der Predigt bildet die Forderung J. H . Franz Beyers, die Predigt solle inhaltlich der apostolischen Predigt, wie sie u. a. in den Reden der Apostelgeschichte überliefert werde, entsprechen. Beyer stellt in seiner Homiletik „das Wesen der christlichen Predigt nach Norm und Urbild der apostolischen Predigt unter besonderer Berücksichtigung der Hauptrichtungen der neueren Theologie" langatmig dar (Gotha 1861). Die Predigt ist für ihn „als das Wort von der Versöhnung das Wort Gottes" (S. 99). Die Bevorzugung der „apostolischen Predigt" ergibt sich bei Beyer daraus, daß diese das Kerygma von dem Erlösungstod Jesu Christi, die „Heilsgeschichte" bzw. die „positiven Wahrheiten" zu ihrem hauptsächlichen Gegenstand habe. Sie stelle „vor die große Entscheidungsfrage:τί ποιήαομεν" (S. 375) und bilde das „homiletische Gewissen" des Predigers. „Christlich predigen" heißt für Beyer „apostolisch predigen". Allerdings sieht auch er, daß damit nicht eine „tote Nachahmung" gemeint sein kann (S. 55). Den Unterschied zwischen der zeitgenössischen Gemeindepredigt und den „apostolischen Reden" artikuliert er jedoch nicht näher. Er wird von Beyer zudem dadurch nivelliert, daß er ganz allgemein bereits der apostolischen Predigt einen „kultischen" Charakter zuschreibt (S. 52). Beyers Versuch, die zeitgenössische Predigt an dem apostolischen Urbild auszurichten, verdeckt die Probleme. Seine Abhandlung macht i. ü. auf weite Strecken — wohl wider ihren Willen — den Eindruck einer Theorie der Erweckungspredigt. — Einen engen Zusammenhang der Predigt mit der apostolischen Verkündigung behauptet auch W.Löhe. Vgl. Drei Bücher von der Kirche, 1845, S.20. !! " Grundlinien der Homiletik, S. 196. Ebd. S. 197. 19
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zur Geltung bringt, spiegelt sich nodi die Auseinandersetzung mit der vorangehenden Periode rationalistischer Predigt wider. Die Art und Weise, in der sich Ficker immer wieder auf die Offenbarungsgeschidite' bezieht, verrät aber auch, daß Ficker in der Gefahr steht, das Evangelium unmittelbar mit der Schrift und zugleich mit einer „Theologie der Tatsachen" zu identifizieren. Der Primat des Evangeliums vor aller Schrift ist von ihm nicht erkannt. Als drittes Kriterium der Wort-Gottes-Predigt nennt Ficker ihre „kirchenbildende" Kraft 2 8 . Er verknüpft die reformatorische Erkenntnis von der Gründung der Kirche im Wort mit Erwägungen über die empirische Kirche. Die enge Korrelation von unsichtbarer und sichtbarer Kirche versteht Ficker so, „daß die ideale oder die innere Kirche die empirische oder die äußere immer mehr" durchdringen müsse24. Ficker hat damit ein besonderes Anliegen der zeitgenössischen konfessionell-lutherischen Theologie in seine Homiletik aufgenommen. Theologisch ist Fickers Homiletik ein Dokument der Repristination. Sie stellt den Versuch dar, innerhalb der zeitgenössischen Homiletik die Kategorie des Wortes Gottes wieder kräftig zur Sprache zu bringen. Die Kräfte der Beharrung und der Bewahrung kommen in ihr zu Wort. Ficker wollte in seiner Zeit dazu beitragen, daß der Reichtum der biblischen Texte wieder mehr erschlossen wurde. Die Ausführungen über den Charakter der Predigt als Wort Gottes lassen jedoch die Vereinfachungen erkennen, die der erstarrenden konfessionell-lutherischen Theologie der Zeit zugrunde liegen. Von der Lebendigkeit und Unruhe, die sich in Harms' Behandlung dieser Frage zeigt, ist bei Ficker wenig zu spüren. Ficker hat zwar das Problem des Wortes Gottes in der Homiletik mit Nachdruck zur Sprache bringen wollen. Es fehlte ihm dazu aber die Unabhängigkeit und die theologische Kraft. cc) Predigt als 'Reproduktion' des Wortes Gottes (H. Cremer) Ficker hat keinen nachhaltigen Einfluß auf die Schulhomiletik ausgeübt. Sein Anliegen ist jedoch — meistens unabhängig von ihm — auch von anderen vertreten worden und hat 30 Jahre später eine programmatische Darstellung in einem Aufsatz des Greifswalder Theologen Hermann Cremer gefunden. In polemischer Zuspitzung gegenüber der auf Ebd. S. 199 f., vgl. S. 383. Ebd. S. 199. — Das stürmische Drängen der Aufklärungshomiletik nach „Gemeindegemäßheit" der Predigt lehnt Ficker mit dem Bedenken ab, es könne dadurch die „Lehre" entstellt werden (vgl. S. 381). E r stellt dem das aus dem seelsorgerlichen Umgang des Predigers mit der Gemeinde erwachsende Eingehen auf die geistigen und äußeren Verhältnisse der Gemeinde gegenüber; vgl. S. 383 f. 25 24
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dem „Gemeindebewußtsein" gründenden Predigt hat Cremer die Predigt als „stetige Reproduktion des Wortes Gottes und des Bekenntnisses der Kirche" definiert25. Die prinzipielle Problematik beherrscht bei Cremer alles. Seine Predigtdefinition läßt keine Alternativen zu. „Was nicht Wort Gottes ist, ist keine Predigt, mag sie als Stilübung oder rednerische Leistung noch so hoch stehen. Predigt ist verkündigtes Wort Gottes, Heilsbotschaft auf Befehl und Vollmacht Gottes."20 Das Predigtverständnis ist bei Cremer direkt aus der Dogmatik abgeleitet. Seine Ausführungen haben ein allgemeines 'Idealbild' der Predigt zum Gegenstand und sind vor allem durch drei Faktoren gekennzeichnet. Erstens: Die Predigt als Wort Gottes ist Heilswort. Sie ist „Mitteilung der Heilsbotschaft" und „Verkündigung des Heilsratschlusses Gottes"27. Das Heilswort ist und wird als „gepredigtes, verkündigtes W o r t . . . das lebendige Wort" 28 . Die soteriologische Gesamtausrichtung und Konzentration der Theologie ist nach Cremer auch für die Einzelpredigt normativ. Die Sachgemäßheit theologischer Aussage entscheidet darüber, ob die Predigt Wort Gottes ist. Zweitens: Die Gemeindepredigt, wie Cremer sie versteht, berührt sich „mit der Missionspredigt und also mit der apostolischen Predigt"2®. Cremer geht von dem Gegensatz zwischen Missions- und Gemeindepredigt aus und sieht in dem apostolischen κηρνσσειν, das nicht an bereits bestehende Gemeinden ergangen ist, sondern diese erst begründen wollte80, das Urbild der Predigt. Er ebnet aber diesen Gegensatz zugleich ein, weil der ihm korrespondierende Gegensatz zwischen Welt und Gottesvolk ein „innerkirchlicher" geworden sei. Ohne eine differenzierte Bestimmung des Begriffs Wort Gottes zu geben81, vertritt Cremer nachdrücklich die Ansicht, daß auch die Gemeinde immer noch der grundlegenden Missionspredigt bedarf. Die Gemeindepredigt wird „stets etwas von grundlegendem Charakter an sich tragen" 82 , weil die Gemeinde sich immer „unterhalb ihres Prin25
Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt in der gegenwärtigen Krisis, 1877, S. 5. Cremer versteht hier das Bekenntnis nidit singularisch, sondern als 'Kollektivbegriff'. — In Greifswald hat Cremer regelmäßig homiletische Seminare gehalten. Seine eigene Predigtweise läßt sich an der Predigtsammlung „Das Wort vom Kreuze" (1891) und an dem posthum erschienenen Predigtband „Christus ist mein Leben" (1906) studieren. 2 * Die Aufgabe und Bedeutung der Predigt . . . , S. 10. 28 « Ebd. Ebd. S. 9. 29 30 Ebd. S. 16. Ebd. S . l l . st Das Wort Gottes ist ja nicht nur Heilswort, sondern auch Wort der Weisung, der Ermahnung, des Trostes und der Verheißung. 82 Ebd. S. 16. 83
zipes befindet" und „zum mindesten eine Differenz zwischen ihrer Wirklichkeit und ihrer Idee besteht, welche die stets erneuerte Bezeugung und Vergegenwärtigung des Heilswortes notwendig macht"83. Drittens: Als Heilswort ist die Predigt eine „Gottesbotschaft". Sie verkündet den „Gemeinglauben der Christenheit, welcher nicht immer der Glaube der Gemeinde ist" 34 . Der Charakter der Predigt als Heilswort ist für Cremer mit ihrem kirchlichen und bekenntnisgebundenen Charakter identisch. Die Frage nach der Dignität der Einzelpredigt als Wort Gottes entscheidet sich für Cremer wesentlich an ihrer Bekenntnisgemäßheit. Ähnlich wie Ficker schreibt Cremer der Predigt die Aufgabe zu, „in der Erscheinung der Gemeinde das Wesen der Kirche zu pflegen"35. Die genannten Richtsätze bezeichnen nach Cremer die sachgemäße Predigt. Sie binden die Predigt eng an das biblische Zeugnis. Anders als Ficker unterscheidet Cremer aber Evangelium und Schrift. Die Kirche hat zwar das Evangelium nur durch die Schrift, doch ist es mit dieser nicht identisch. Gebunden im strengen Sinne ist die Predigt nur an das Evangelium. Wo dies verkündet wird, ist sie Wort Gottes. „Wir predigen zuviel über das Wort Gottes, — wir müssen das Wort Gottes predigen, nicht über die Evangelien, sondern das Evangelium. Reproduktion des Wortes Gottes soll unsere Predigt sein."38 — Die Predigt bildet für Cremer das Ziel und das Zentrum der theologischen Arbeit. Das hat, wie die obigen Ausführungen zeigen, zur Folge, daß Cremers eigentliches Interesse dem Ur- und Idealbild der Predigt und nicht ihren vielen Gestaltwerdungen zugewandt ist. Der theologische und kirchliche Tagesstreit der damaligen Zeit, an dem Cremer intensiv beteiligt war, hat die Engführung seines Predigtbegriffs wohl mit veranlaßt. Primär ist sie aber eine theologisdie Entscheidung. Die an Cremers Predigtbegriff ausgerichtete Predigt steht darum in der Gefahr mangelnder Konkretion. Die Freiheit und Souveränität des Evangeliums, sich in das Leben des Alltags hinein zu entäußern, kommt in Cremers Erwägungen über die Predigt zu kurz. Höchst reserviert sind seine Ausführungen über den Gegenwartsbezug der Predigt 37 . Cremer sah die Schwächen eines Predigtbegriffs, der in erster Linie an dem Glaubensbewußtsein der Gemeinde orientiert ist. Er stellte ihm den neutestamentlichen Urbegriff der kerygmatischen Predigt gegenüber. Die Einzelprobleme der regelmäßigen Gemeindepredigt in einer mehr oder weniger christlichen Gemeinde schob er darüber zur Seite. Allerdings hat Cremer die zeitgenössische homiletische Theorie nicht auf einen anderen Kurs bringen können. 33 35 37
Ebd. S. 19. " Ebd. S. 18. 38 Ebd. S. 31. Ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 37 und 49.
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b) Die gottesdienstliche Predigt als Missionspredigt In einigen Predigtlehren des 19. Jahrhunderts wird die missionarische Aufgabe der Predigt stark herausgestellt. Dies ist vor allem beiderKeryktik von R. Stier und bei der als Martyretik näher bezeichneten Homiletik von Th. Christlieb der Fall. Daneben gehört mit Einschränkungen der Grundriß der christlichen Halieutik von G.A.F.Sickel in diese Reihe. Der Begriff der Homiletik ist in diesen Predigtlehren u. a. deshalb ersetzt, weil, wie vor allem Stier sagt, das zugrunde liegende Wort δμιλία38 zu einseitig auf die — brüderliche — Gemeindepredigt konzentriert ist. Die missionarische Predigt ist auch ein Anliegen J. H. Wicherns gewesen. Wichern sah in der evangelischen Kirche seiner Zeit eine „Missionskirche"39 und hoffte, daß „das Volk durchs Evangelium in neuer Weise und Kraft" 'erneuet' werde 40 . Die Kirche solle wirkliche Volkskirche werden. Verkündigung und Liebesarbeit sind nach Wichern in gleicher Weise eine Aufgabe der inneren Mission. „Alles, was die evangelische Kirche ist, und alles, was in ihr Ewiges und Wahres geworden, hat in dem Worte Gottes und in ihm allein seinen Grund und Halt . . . ; in Verkündigung dieses Wortes durch lebendige geistbegabte Personen hat sie ihre Mission. In dem Geiste dieses Wortes besitzt sie die Fülle der Kraft, alles neu zu gestalten. Sollten in unseren Tagen die Entfremdeten wieder gesucht und gefunden werden, es kann an erster Stelle immer nur durch dieses Wort und die geisterfüllten Bringer desselben geschehen."41 Die Gemeindepredigt muß nach Wichern stärker Bußpredigt werden. Zugleich fordert er eine häufigere Darstellung des „Lebens Christi". Er versteht darunter eine „lebensvolle Vorführung der Person Christi und ihrer Gesdiichte . . . , die wir nicht verwechselt sehen möchten mit Predigten über das Leben Christi". „Muß nicht derjenige, welcher die Person Christi . . . in ihrer Herrlichkeit erkannt hat, selbst zu einer Lebensquelle und zu einem unüberwindlichen Zeugen der in Christo erlebten Wahrheit Gottes auch für die der Kirche Entfremdeten werden?" 42 Wichern hat sein Programm missionarischer Predigt auch mit praktischen Ratschlägen verbunden. Er schlägt die Einsetzung von Laienpredigern 48 und die Erprobung neuer Verkündigungsformen, die nicht 38 Im Sinne von „Versammlung, geselliger Verkehr, vertrautes Gespräch". Th. Christlieb, Homiletik, hrsg. v. Haarbeck, 1893, S. 1. 39 So in der Diskussion über R.Kögels Vortrag „Die Unwissenheit in christlichen Dingen in ihrer Bedeutung für die Irreligiosität der Gegenwart" (1862). S. Gesammelte Schriften. Hrsg. v. F.Mahling, Bd. 3, 1902, S. 1077. 40 Vgl. die Rede auf dem Wittenberger Kirdientag von 1848. J.H.Widiern, Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. K.Janssen, Bd. 1, 1956, S. 112. 41 Die Aufgabe der evangelischen Kirdie, die ihr entfremdeten Angehörigen wiederzugewinnen (1869), a.a.O. S. 232. 42 Ebd. S. 233. 43 Vgl. ebd. S. 236—241.
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an den Kirchenraum gebunden sind, vor 4 4 . Mit diesen Forderungen stand Wichern allerdings ziemlich allein. Aber auch seine Gedanken über die missionarische Struktur der sonntäglichen Predigt sind von der zeitgenössischen Homiletik kaum zur Kenntnis genommen worden. Auf die zeitgenössische Predigt haben sie jedoch manchen Einfluß ausgeübt. — aa) Homiletik als Halieutik (G. A. F. Sickel) Am wenigsten programmatisch, eher bildlich ist der Begriff der Halieutik gemeint. Der Diaconus Gustav Adolf Friedrich Sickel aus Schwanebeck wollte in dem Grundriß der christlichen Halieutik (1829) „eine auf Psychologie und Bibel gegründete Anweisung" geben, „durch Predigten die Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen". Sickel wendet das Bildwort vom Fischfang in einer ans Skurrile grenzenden Art auf die Predigt an. H a t der Prediger für ihn doch um der Idee des Gottesreiches willen den Auftrag, zu „fischen, um die gewonnenen Fische aus dem trüben Behälter der Weltansicht, der so oft durch unruhige Wetterfische aufgeregt wird, in den hellen, klaren Fischteich des Gottesreiches zu versetzen" 4 5 . Die Befürchtung, daß Sickel anschließend mit vielen fachlichen Details den homiletischen Fischfang schildert, erweist sich jedoch als unbegründet. In der Einzelausführung seiner Predigtlehre begibt sich Sickel hauptsächlich auf ein anderes Sprachgebiet, nämlich auf das ärztliche. Die Halieutik lehrt nach Sickel 1. wie die Menschen zu erleuchten, 2. wie sie zu beruhigen und 3. wie sie zu heiligen sind 48 . Eine ihrer Aufgaben ist darum die Beschreibung von „Pathologie" und „christlicher Therapie" des menschlichen Vorstellungsvermögens, des Gefühls und des sogenannten Begehrungsvermögens. Sieht man von den Wunderlichkeiten der Halieutik Sickels einmal ab und wendet sich ihren Einzeldarlegungen zu, so ergibt sich trotz allem ein recht interessantes Bild. Denn die Halieutik Sickels ist im Grunde eine aus dem kirchlichen Tagesstreit erwachsene Gebrauchshomiletik. Sie stellt das Problem der Volkspredigt eloquent dar. Den Hintergrund bildet dabei eine unkomplizierte Vermittlungstheologie, in der kirchlicher Glaube und 'gesunder Menschenverstand' schön zusammengebracht werden. Anders als der Rationalismus fordert Sickel, daß der Prediger Gottes Wort predigen solle. Die Verbannung der dogmatischen „Spitzfindigkeiten" von der Kanzel möchte er jedoch beibehalten. Der Katechismus Sickels umfaßt den Glauben an einen himmlischen Vater, an die Gött4 4 Vgl. ebd. S. 2 3 4 — 2 3 6 . In der Rede auf dem Wittenberger Kirchentag forderte Wichern: „Wir müssen Straßenprediger haben, vornehmlich in großen Städten. Die Straßenecken müssen Kanzeln werden, und das Evangelium wird wieder zum Volke dringen." A.a.O. S. 122. 4 5 Sickel, Grundriß der christlichen Halieutik, 1829, S. V I I I . 4 8 Ebd. S. 34 .
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lichkeit Jesu und an die Wirksamkeit eines höheren heiligen Geistes47. „Man denke sidi doch nur einmal die Offenbarung hinweg, man lasse das Christentum nichts sein als ein menschliches Institut, und man wird sich nidits Widersinnigeres denken können, als wenn ein unbärtiger Jüngling . . . vor ehrwürdigen Männern und Greisen dasteht und sie ex propriis lehren will, wie sie leben sollen. Das Volk fühlt dies, und eben deshalb fordert es, daß wir nicht uns selbst, nicht menschliche Weisheit, sondern Gottes Wort predigen."48 Obwohl Sidkel gegen die Theologie der Aufklärung und des Rationalismus streitet, macht er sich verschiedene Forderungen der Aufklärungshomiletik zu eigen. Gründliche Menschenkenntnis ist für ihn eine unaufgebbare Voraussetzung aller Predigt. Der Vermittler dieses Gedankens ist wohl F.V.Reinhard gewesen49. Sodann kennt Sidkel eine Epagogik. Er versteht darunter die Überlegungen, wie „bei den Zuhörern Interesse für die Predigt zu erregen" sei. Eng damit verbunden sind für Sickel die Forderungen nach Abwechslung in der Predigtform und Einfachheit in der Predigtausführung. Ein besonderes Gewicht legt Sickel auf den spürbaren Situationsbezug der Einzelpredigt50. Er hängt für ihn mit dem dialogischen Grundzug aller Predigt zusammen. Der Prediger hat nach Sickel sein Ziel erreicht, wenn der Hörer sagen kann: „Es war für mich gepredigt."51 Bereits diese wenigen Hinweise zeigen, daß das Material von Sickels Halieutik aus verschiedenen Steinbrüchen stammt. Sickels Predigtlehre markiert ein Übergangsstadium der Homiletik. Einerseits wirkt in ihr die Aufklärungshomiletik spürbar nach. Andererseits macht sich in ihr die theologische und kirchliche Neuorientierung der Zeit bemerkbar. Sickels Predigtlehre steht zwischen Aufklärung und kirchlicher Restauration. In diesem Zusammenhang ist auch Sickels verhaltene Akzentuierung des halieutischen Elements der Predigt zu sehen. 47
48 Vgl. ebd. S. 104 f. Ebd. S. 99. „Das menschliche Herz muß der Prediger kennen; mit den Bewegungen, Neigungen und Kunstgriffen desselben muß er vertraut sein; die mannigfachen Gemütsarten und Charaktere der Menschen muß er erforscht haben." F. V. Reinhard, zit. nach Sickel, ebd. S . I X . so Jede Predigt müsse eine Kasualrede sein; vgl. ebd. S. 108. Audi hier ist F . V . Reinhard Sickels Gewährsmann. 51 Ebd. S. 109. „Der Prediger also, der sich nicht sagen kann, daß er durch seine Predigten jemandes Kummer gestillt, Herzen gestärkt, sinnliche Lust gemildert, Demut und Gottseligkeit verbreitet habe, dessen Rede nur die Denkkraft beschäftigt und nicht die beglückenden Wahrheiten der christlichen Religion in ihrem mächtigen Einflüsse auf den Zustand des Menschen darstellt, oder der allein durch abstrakte Materie auf den Willen seiner Zuhörer wirken will, hat so wenig die Natur des Menschen als den hohen Sinn und die Bedeutung des Christentums erkannt, das die Mühseligen und Beladenen erquicken soll." Ebd. S. 205. 49
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bb) Homiletik als Keryktik (R. Stier) Mit ungleich stärkerer Vehemenz als Sickel, ja geradezu in extremer Einseitigkeit hat Rudolf Stier die missionarische Aufgabe der Gemeindepredigt hervorgehoben. Sein „Kurzer Grundriß einer biblischen Keryktik, oder einer Anweisung, durch das Wort Gottes sich zur Predigtkunst zu bilden" (1830) steht in ausdrücklichem Widerspruch zu Schleiermachers Theorie der Gemeindepredigt. Stier, ehemals Lehrer an der Basler Missionsanstalt, geht von der prinzipiellen Einheit von Heidenmissions- und Gemeindepredigt aus und erörtert beide zusammen in der eben genannten Keryktik. Die Gemeindepredigt hat für Stier in gleicher Weise einen proklamatorischen Charakter wie die Missionspredigt. Der Prediger soll stets verkündigen, lehren'und bezeugen62. Es ist „nicht genug, mit einer neueren Lehre die Predigt nur als Darstellung des Gemeinglaubens zu begreifen; sie soll wirklich Erneuerungs-, d. h. Erzeugungsund Förderungsmittel für denselben sein"58. Die Einheit von Gemeinde- und Missionspredigt ergibt sich für Stier aus einer Verbindung von dualistischer Anthropologie und Wiedergeburtstheologie. Stier sieht in dem „natürlichen" Menschen den Hauptadressaten der Predigt. Der „geistliche" Mensch hat im Grunde keine Predigt nötig! Die Predigt als Kerygma richtet sich nach Stier an den noch widerstrebenden natürlichen Menschen, um auch ihn zum Glaubensgehorsam zu erwecken54. Grund und Inhalt der Predigt ist für Stier die sogenannte Kerygmatik, die „Bibellehre" im Sinne einer nach systematischen Gesichtspunkten darzustellenden Bibeltheologie. Ihr Gliederungsschema besteht in dem Heilsratschluß und dem Erziehungsplan Gottes. Die Bibel selbst ist der gegebene „Codex der Kerygmatik" 55 . Sie lehrt im einzelnen, wie „der natürliche Mensch in heilsamer Mischung und Abwechslung von Gesetz und Evangelium anzugreifen" sei5®. Auf Grund seiner bibeltheologischen Prämissen weist Stier, wie ca. 30 Jahre später auch Steinmeyer, der Einzelpredigt nur die Aufgabe der „Textausführung" zu57. Nach Stier ist sogar nicht nur die Substanz, sondern ebenso die Gedankenstruktur des Textes für die Predigt maßgebend. Reinhards Dispositionstechnik lehnt Stier ausdrücklich ab. Nur für den Ausnahmefall gesteht er dem Prediger eine relative Freiheit vom Text zu, und auch dann soll der Prediger an die „kerygmatische Sinntiefe" des biblischen Wortes gebunden bleiben. 52
Stier, Kurzer Grundriß einer biblisdien Keryktik, 1830, S. 4. Ebd. S. 184, Anm.; vgl. S. 199. 54 65 Ebd. S. 3. Ebd. S. 38. 5 57 « Ebd. S. 46. Ebd. S. 93. 58
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Eine Konsequenz dieser strengen Textbindung und eine Folge des fast ängstlichen Bemühens um sorgsame Auslegung des Textes ist die mit bilderstürmerischem Eifer vollzogene Abkehr von der 'weltlichen' Rhetorik. Auch hier ist Stier nicht um eine Sprachschöpfung verlegen. Er fordert, daß statt der Rhetorik die geistige Laletik auf den Kanzeln angewandt werden solle. Die Laletik soll die Grundworte der Bibel übernehmen58 und auf einer Stilanalyse der Bibel gründen. Es ist offensichtlich, daß Stier mit dieser Forderung das Problem des Ubersetzens und Verstehens biblischer Texte gewaltsam vereinfacht. Stier will ein Grundmotiv reformatorischer Theologie zur Geltung bringen, nämlich daß die Gemeinde aus dem Worte Gottes lebt. Dieser Ansatz wäre die Stärke seines kurzen Grundrisses einer biblisdien Keryktik, wenn jener Kernsatz reformatorischer Theologie nicht in ein starres Auslegungsprinzip verkehrt würde. So aber ist Stier dem alten Problem des Verhältnisses von Geist und Buchstabe nicht gewachsen und gerät auf den Abweg eines exegetischen 'Materialismus'. Die Aporien Stiers zeigen in besonderem Maße, daß das Problem der Verkündigung des Wortes Gottes nicht von der Frage nach einer freieren, pneumatologisdien Begründung der Predigt zu lösen ist, ohne die es auch keine Theologie des Gottesdienstes gibt. Theologische Halbwahrheiten und Wunderlichkeiten sind in Stiers Keryktik eigentümlich vermischt. Das gilt audi für Stiers Begriff der Verkündigung, der ein eigenartiges Produkt seiner Erwedtungs- und Missionstheologie bildet. Man könnte Stiers Predigtanschauung auf die Formel bringen, daß auch in der Gemeindepredigt die Mission immer weitergehe. Der Fehler von Stiers Predigtanschauung liegt darin, daß Stier auf Grund einer petitio principii die Unterschiede zwischen der Missions- und Gemeindepredigt gewaltsam verdrängt hat. Das Pendel ist bei1 Stier extrem nach der anderen Seite ausgeschlagen. Eine mündige Gemeinde scheint es für Stier letzthin nicht zu geben. cc) Homiletik als Martyretik (Th. Christlieb) Stier fand mit seinen radikalen Thesen im Bereich der akademischen Homiletik so gut wie keine Zustimmung. Sein Begriff der Keryktik konnte sidi so wenig durchsetzen wie Sickels Neuprägung 'Halieutik' δβ . Man stimmte Stier höchstens in der Form zu, daß das missionarische Element auch in der Gemeindepredigt vertreten sein müsse. Aber diese An58
Ebd. S. 190. G. v. Zezsdiwitz hat den Begriff in sein genommen. Christlieb schränkt die Bedeutung ein und gebraucht diese Bezeichnung synonym Handbuch der theologischen Wissenschaften, W.Otto, Praktische Theologie, Bd. 1, 1869. 59
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System der Praktischen Theologie aufdes Begriffs auf die „Missionskeryktik" mit „Evangelistik". Vgl. audi Plath in: Bd. 4, 2. Aufl., 1885, S. 41—91; und
sieht wurde eo ipso von der Mehrzahl der praktischen Theologen geteilt80, wenn auch die Meinungen darüber unterschiedlich, waren, in welchem Maße die Gemeindepredigt eine missionarische Aufgabe habe. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist dieses Problem angesichts der Entfremdung des Arbeiterstandes von der Kirche besonders aktuell geworden. Wichern hat sich seit 1848 mehrfach zu ihm geäußert. In der Predigtlehre befaßte sich u. a. Theodor Christlieb mit dieser Frage und billigte den Gedanken Stiers einen Wahrheitskern zu. Christlieb urteilte in seiner Homiletik (1893), daß „in den heutigen Zeiten des Abfalls vom Glauben, wo es, wie früher Heidenchristen, so nun viele Christenheiden" gebe, „auch innerhalb der 'Gemeinde' die Missionsaufgabe oft neu" entstehe und „sich nicht nur in die seelsorgerliche, sondern auch in die homiletische Aufgabe" eindränge61. Christlieb bemüht sich allerdings im Unterschied zu Stier um eine Differentialdefinition von Gemeinde- und Missionspredigt und weist ausdrücklich auf ihren Unterschied hin. Die missionarische Zielsetzung der Gemeindepredigt soll eigens unter dem Begriff der Evangelistik abgehandelt werden62. Christliebs Predigtbegriff ist vielschichtig. Die Predigt wird in ihm als die Tätigkeit definiert, „im Namen Gottes den göttlichen Willen und Ratschluß, näher das Heil in Christo öffentlich (zu) bezeugen zum Zweck der Verherrlichung des göttlichen Namens, der Förderung des göttlichen Reiches und damit der Beseligung des Menschen"63. Christlieb unterscheidet dabei das grundlegende κηρνσσειν, das die Heilsbotschaft näher explizierende εναγγελίζεσϋαι und das darlegende und erörternde δώάσκειν. Zuletzt sucht auch Christlieb nach einer zusammenfassenden Bezeichnung und findet sie in dem Begriff μαρτυρεΐν. Doch dieser Begriff stellt ebenfalls eine Verkürzung dar. Die betonte Hervorhebung des persönlichen und zeugnishaften Moments ist bei Christlieb ein Hinweis auf seine theologische Position. Beispielsweise über den Gegenstand der Gemeindepredigt sagt der Begriff nichts aus. So zeigt auch Christliebs Begriff der Martyretik die Vergeblichkeit aller Versuche an, die Gemeindepredigt auf einen einzigen, speziellen Begriff bewußt und in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber anderen Begriffen festzulegen. c) Exkurs: Die Bedeutung der Begriffe κήρυγμα und ομιλία in der homiletischen Debatte des 19. Jahrhunderts. Die unterschiedliche Definition und Verhältnisbestimmung von Missions- und Gemeindepredigt ist in der Homiletik des 19. Jahrhunderts 60
Vgl. Sdiweizers paradigmatisdie Unterscheidung des kultisdien, des pastoralen und des halieutisdien Elements der Gemeindepredigt. 61 Christlieb, Homiletik. Hrsg. v. Haarbeck, 1893, S. 8 f. 82 63 Ebd. S. 4. Ebd. S. 68.
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eng mit dem Verständnis der Begriffe κήρυγμα und ομιλία verbunden 64 . Der Begriff κήρυγμα bezeichnet hier vor allem die fundamentale, kirchengründende Predigt. Der Begriff ομιλία und seine Korrelatbegriffe stehen für die Predigt an die „mündigen Christen". Schweizer sah, im Anschluß an Sdileiermadier, in dem „Homiletischen, im Unterschiede von dem nach Außen gehenden κήρυγμα ..., (einen) Ausdruck schon vorhandenen gemeinsamen Glaubens einer christlichen Versammlung"® 5 . A . K r a u ß stellte den Unterschied noch stärker heraus. „Das Christentum anerkennt gar kein anderes direktes Mittel, um die Menschen für sich zu gewinnen, als das Wort, die Verkündigung der Wahrheit, das κήρυγμα von Christo, und wo es am strengsten und am geistigsten gefaßt wird, da ist der Mittelpunkt des Gottesdienstes wiederum das Wort, das Zeugnis des lebendigen Glaubens, die Äußerung de? sich über sich selbst aussprechenden Geistes in der ομιλία, d. h. in der P r e d i g t . . . Scharf und bestimmt sondern sich die beiden Begriffe ομιλία und κήρυγμα, und ebenso scharf und bestimmt trennt sich die κατήχησις von der ομιλία. Denn die Katechese und das Kerygma verdanken ihr Dasein der als Heilsanstalt sich betätigenden Heilsgemeinschaft; die Homilie dagegen ist die gottesdienstliche Predigt in der ihres Wesens als Heilsgemeinschaft bewußten Kirche." 66 Programmatisch wurde der Begriff κήρυγμα in der Homiletik zuerst von R. Stier verwandt. Stier versteht unter κήρυγμα den Verkündigungsinhalt der Predigt 67 , und κηρύσσειν im Sinne von „Gottes Wort an die Menschen im Namen Gottes reden" 8 8 bildet f ü r ihn den Urbegriff der Predigt. Stier setzt dabei voraus, daß die Missionspredigt und die Gemeindepredigt eine Einheit bilden. Soweit in der Predigtlehre des 19. Jahrhunderts der Begriff κήρυγμα mit grundsätzlicher Betonung gebraucht wurde, ist jedoch diese Gleichsetzung meistens abgelehnt und durch eine differenzierende Verhältnisbestimmung ersetzt worden. Wie A. Schweizer und A. Krauß hebt ζ. B. auch G. Baur den Unterschied zwischen Missions- und Gemeindepredigt hervor und versteht unter „κήρυγμα im eigentlichen Sinne des Wortes" nur die kirchengründende 64
Der Begriff χήρνγμα hat partiell eine programmatische Bedeutung. Der Begriff
δμιλία (όμιλεϊν) wurde abwechselnd mit διδάσκειν und διαλέγεβ&αι gebraucht. Über den Begriff δμιλία handelt E. Adielis, Die Homilie. MPTh VI, 1910, S. 158—162. 85 Homiletik, S. 120. «« Lehrbuch der Homiletik, 1883, S. 8 f. 67 Vgl. a.a.O. S. 26 f. S. audi Beyer, a.a.O. S. 56. Über den Gebrauch des Begriffs Kerygma im theologischen Schrifttum seit Semler vgl. G. Ebeling, Theologie und Verkündigung, 1963®, S. 109ff. Ebeling weist darauf hin, daß z.B. auch M.Kahler den Begriff für die kirchengründende Predigt verwendet; ebd. S. l l l f . «8 A.a.O. S. 2.
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Predigt bzw. die Missionspredigt M . Ähnlich äußern sich v. Zezschwitz, Steinmeyer und Bassermann 7 0 . In erster Linie bezeichnet der Begriff κήρυγμα in der Homiletik des 19. Jahrhunderts darum die zur Glaubensentscheidung rufende Heilsbotschaft, das Offenbarungswort'. Das κήρυγμα verkündet, diesem Verständnis zufolge, eine heilsgeschichtliche Wirklichkeit und macht ihren Anspruch an den Menschen geltend. Der Begriff kann darum geradezu als Synonym für die „innere" und „äußere" Missionspredigt und die Erweckungspredigt gebraucht werden. Verkündigungsinhalt und Verkündigungsakt werden dabei in gleicher Weise betont. Strittig war bei dieser Verwendung des Begriffs, inwiefern und in welchem Maße auch die sonntägliche, geordnete Predigt κήρυγμα sei 7 1 . Die homiletische Theorie ging im allgemeinen davon aus, daß sich die Gemeindepredigt an getaufte und unterrichtete Christen wende, und darum nidit immerzu die Hauptartikel des Glaubens darzulegen habe. Das Wesen der Gemeindepredigt wurde hauptsächlich in der gemeinsamen Besinnung über den Glauben und in der Verständigung über die Fragen, Formen und Kennzeichen vor Gott verantworteten Lebens gesehen. Κήρυγμα in dem dargelegten spezifischen Sinne des Wortes konnte die Gemeindepredigt auf Grund dieser Prämissen nicht sein. Audi ist die Anschauung, daß die Predigt in einem bestimmten Sinne Gottes Wort sei, nicht generell mit der Forderung verbunden worden, daß die Gemeindepredigt einen kerygmatischen Charakter haben solle. So fragt ζ. Β. H . Cremer: „Ist nicht audi, was wir unter Predigt verstehen, etwas anderes als das apostolische κηρύσσειν ? Letzteres ist jede Verkündigung des Heilsratsdilusses Gottes in Christo an jedem O r t und in jeder Zeit, «· Homiletik, S. 23. „Die Heilige Schrift selbst kennt und betont die Differenz einer zweifachen Predigt, der Missionspredigt und der Kultuspredigt. Zwar daß sie für beide Weisen konsequent verschiedene Ausdrücke gebrauche, für die eine κηρύσσειν oder ε&αγγελίζεσ&αι, für die andere όμιλεΐν oder διαλέγεσΰαι kann nicht genügend bewiesen werden. Die sachliche Distinktion ist trotzdem ohne alle Frage vorhanden." Steinmeyer, Homiletik, S. 3. Vgl. v. Zezschwitz, Homiletik. Handbuch der theologischen Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 4, S. 148, und H . Bassermann, Beiträge zur praktischen Theologie, S. 207 und 255. 70
7 1 Cremer bestimmt den Begriff κηρύσσειν u. a. aus seiner Differenz zu dem Begriff