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German Pages 262 Year 2003
JÜRGEN F. SCHMIDT
Die Deregulierung der Versicherungsaufsicht und die Versicherungsvennittlung in Deutschland
Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nümberg durch die Professoren Dr. Wolfgang Blomeyer (t) und Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
Band 21
Die Deregulierung der Versicherungsaufsicht und die Versicherungsverrnittlung in Deutschland Von Jürgen F. Schrnidt
Duncker & Humblot . Berlin
Die Wirtschafts- und Sozial wissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
n2 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2003 Duncker &
ISSN 0947-2452 ISBN 3-428-10951-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Für meine Familie
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung fur gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. (lmmanuel Kant. Grundlegung zur A.fetaphysik der Sitten)
Vorwort Die Vollendung des europäischen Binnenmarkts für Versicherungen am 1. Juli 1994 hat wesentliche Änderungsprozesse in der deutschen Versicherungsaufsicht ausgelöst. Die vollständige Verwirklichung der Niederiassungsund Dienstleistungsfreiheit durch im wesentlichen drei Richtliniengenerationen hat zur Angleichung der nationalen Aufsichtssysteme geführt. Die Produktkontrolle in Form der behördlichen Vorabgenehrnigung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der Tarife als bisher wesentlicher Bestandteil der "materiellen" Aufsicht in Deutschland wurde dadurch abgebaut. Eine Vorabgenehmigung durch das Bundesaufsichtsamt findet nicht mehr statt. Durch den Wegfall der Bedingungsgenehrnigung und der Tarifaufsicht sind die Spielräume für unternehmerisches Handeln größer geworden. Die Unternehmen nutzen diese erweiterten Handlungsspielräume für unternehmensindividuelle Produkte. In dem Maße, in dem die Versicherungsunternehmen wegen der "Produktfreiheit" ohne behördliche Qualitätssicherung der Produkte am Markt auftreten können, wird es zunehmend schwieriger für den Versicherungskunden. die verschiedenen Angebote zu bewerten. Die Transparenz nimmt ab. Entsprechend wächst das Bedürfnis der Versicherungskunden nach Beratung und Informationen durch kompetente und seriöse Versicherungsvermittler. Die Ansicht, daß die berufliche Kompetenz der Versicherungsverrnittler bei der Kaufentscheidung nun ein gewichtigeres Element darstellt, hat die Europäische Kommission veraniaßt, den Mitgliedstaaten gesetzliche Regelungen zu empfehlen, welche die bisherige Produktvorab- durch eine Verrnittlerkontrolle ausgleichen könnten. In Deutschland besteht derzeit keine gesetzliche Grundlage für eine unmittelbare Vermittlerkontrolle oder Verrnittleraufsicht. Die von der Versicherungsbranche selbst eingeleiteten Initiativen, die Beratungsqualität der Versicherungsvermittler zu erhöhen und ein entsprechender Gesetzesantrag des Landes Niedersachsen wurden bisher aus arbeitsmarktpolitischen und verfassungsrechtlichen Bedenken nicht zur Umsetzung der Verrnittlerempfehlung in nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften genutzt. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die unmittelbaren Auswirkungen der Deregulierung auf das deutsche Versicherungsaufsichtsrecht, insbesondere durch den Wegfall der Präventivkontrolle der Versicherungsbedingungen, zu
Vorwort
10
identifizieren. Die europarechtlichen Vorgaben für die Anforderungen an eine Vermittlerkontrolle sollen präzisiert und existierende Problemkreise einer Umsetzung, insbesondere die verfassungsrechtliche Frage einer Berufszulassungsregelung für Versicherungsvermittler, inhaltlich näher bestimmt werden. Schließlich werden Voruberlegungen für weitere Schritte zur Umsetzung einer sachgerechten Vermittlerkontrolle angestellt und diese einem Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission gegenübergestellt. Die Arbeit wurde an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nümberg im Wintersemester 200 I als Dissertation angenommen. Mein erster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider. Er hat das Thema als Dissertation angenommen, die Arbeit wissenschaftlich begleitet, mit prägenden und wertvollen Anregungen gefördert und schließlich das Erstgutachten erstellt. Seine Bereitschaft zu wissenschaftlichen Gesprächen und Diskussionen sowie die Offenheit, das Verständnis und die persönliche Betreuung haben mich in hohem Maße unterstützt. Für das Zweitgutachten bedanke ich mich bei Professor Dr. Harald Hermann. Danken möchte ich allen Mitarbeitern des Lehrstuhls für die wissenschaftlichen und menschlichen Gespräche und die Kooperationsbereitschaft, insbesondere Frau Dr. Dagmar I. Siebold und Frau Else Hirschmann für die aufhellenden Worte und ihre Hilfsbereitschaft. Dank an die Herausgeber für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Besonderen Dank möchte ich an einen langjährigen Freund und beruflichen Wegbegleiter in der Versicherungswirtschaft, Herrn Bemd Hilpert, Versicherungsbetriebswirt (DVA), richten. Die reichhaltigen und praxisnahen Anregungen über seine Erfahrungen im Versicherungsvertrieb und die Gespräche leisteten eine wertvolle Hilfe. Ihm sowie Herrn Dr. Bemd Hümmer danke ich für die Durchsicht des Manuskripts und die technische Unterstützung zur Fertigstellung dieser Arbeit. Während der letzten Jahre war ich auf vielfältige menschliche Unterstützung und Zuspruch angewiesen. Hierfür danke ich ganz besonders meiner Lebenspartnerin Alexia Siegert, meinem Vater und meiner Familie. Daß meine Mutter die Fertigstellung meiner Arbeit nicht erleben durfte ist für mich eine schmerzliche Tatsache. Daruber hinaus danke ich einigen mir schon langjährig verbundenen Menschen, insbesondere Thomas und Petra Ulrich, für ihre aufrichtige und zuverlässige Freundschaft. Fürth, Mai 2002
Jürgen F. Schmidt
Inhaltsverzeichnis TeilA Die Versicherung und die Versicherungsaufsicht
§1
19
Grundlegendes zum Begriff der Versicherung ..... .......... ............ .. .... ............ 19 I.
Allgemeines ... ...................... .................................................. ...... .............. 19
II. Wissenschaftliche BegriffsbestimmWlgen der VersichefWlg ...... ................. 20
m. Der Begriff des VersichefWlgsgeschäfts ................. .. .. ................................ 22 §2
Die Versicherungsaufsicht. ............................................................................ 25 I.
Wesen der VersichefWlgsaufsicht... ........ ... ... ........ .................................... .. 25
II. Arten der Aufsichtssysteme .. ..... .. .. .......... ...................... .... ... ... .... ............ .. . 25 1. Publizitätssystem ............ .. ..................................................................... 26 2. Normativsystem .................. ........ ........................................... ................ 28 3. Das System der materiellen Staatsaufsicht ..... .. .... .. ............. .. .. .. ............. 29
§3
Grundlagen und Zweck der Versicherungs aufsicht.. .... ............................... 30 I.
System der deutschen VersichefWlgsaufsicht... .. .... .. .... ............. ........ .......... 30
II. Aufsichtskonzeptionen .... ... ... ... ... ........ ...... ... .... .... ..... .............. ........... ........ 32 I. Gefahrentheorie ........ .... .... .. ............. .. .. .. ................................................ 32 2. Schutztheorie ....................... ....................................... ........................... 34 3. Strukturtheorie .................. ... .. ...................... ......... ................................. 34 4. Ergebnis .. .......... ... ....... ........ .. .... ........... ... ...... ......... .. ... ... .... ...... ... .... ...... 36
Teil B Versicherungsaufsicht im Binnenmarkt
§4
37
Niederlassungsfreiheit ..... ..... ... .. .... .. .. ...... .............. .. .... ... .......... ... ..... ............. 37
12
§5
urunaltsverzeichrris
1.
Begriff und Fonnen der Niederlassungsfreiheit ....... ............. .. ...... '" ... ......... 37
n.
Ziel der Niederlassungsfreiheit .. ........ ..... .... ...... ...... .. .............. .................... 39
Dienstleistungsfreiheit ...... ... ...... ...... .................. .... ..................... .. .. ....... ... ..... 41 1.
Begriff und Fonnen der Dienstleistungsfreiheit .................... .... .... ..... ........ .41
n.
Ziel der Dienstleistungsfreiheit ..... .... ... ... .. ............ ...... ...... ... .... ...... ............ 44
§ 6 Die Erste Richtliniengeneration ....... ... ...... .............. ..... .... .. ........................... .46 §7
Das Weißbuch und die Einheitliche Europäische Akte ....... ................. ... ...... 51
§8
Das Versicherungsurteil des Europäischen Gerichtshofes .................. .. ....... 53 I.
Geltung und Umfang der Dienstleistungsfreiheit... ............................. ......... 55
n.
Abgrenzung der Dienstleistungsfreiheit zur Niederlassungsfreiheit... .......... 55 I. Ständige Präsenz ....... .... .. ... ........ ............. ... ......................... ................... 56 2. Kriterium der Ausrichtung .................................. .. ... ..... .......................... 57 3. Das ,,Kumulverbot" ....... ................... .... ... ... .. .......................................... 58
m.
Rechtfertigung von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit ............ ..... 59 I. Allgemeininteresse - Sonderstellung des Versicherungsmarktes ............. 59 2. Gleichwertige Vorschriften im Sitzland des Dienstleistungserbringers .... 60 3. Das Erfordernis einer Zulassung oder Niederlassung ...... ....... ... ....... ....... 61
IV. Ergebnis ......... .... ................................... ........ ............ ...... ............. .... .......... 62
§9
Die Zweite Richtliniengeneration .............. ............ ................ .. ...................... 63
§ 10 Die Dritte Richtliniengeneration ................................... ........ ............ ... ......... 69 I.
Grundsatz der Sitzlandaufsicht ... ... ................ .............. ..................... .......... 70
n.
Aufnahme der Versicherungstätigkeit ......... ... ...... ..... ... .... ...... .. ................... 71 1. Erlaubniserteilung zum Geschäftsbetrieb .. ..... ........ ..... ................ .. .. ... ..... 71 2. Errichtung einer Zweigniederlassung .... ...... ......... ... .......... .. .................... 73 3. Aufnahme des Dienstleistungsverkehrs ... .......... ....... ....... ...... .... .... .......... 75
m.
Laufende Aufsicht der Versicherungstätigkeit... .......................... .... ...... ...... 76 I . Sitzlandaufsicht ....................... .... ........... .... ............................................ 76 a) Finanzaufsicht .......... .. ......................... ........................... .... .. .. .... ... .... 77
Inhaltsverzeichnis
13
b) Übrige Aufsicht ................... .......................................... ................... 78 c) Infonnationspflichten und Auskunftsrechte ........ ........... .... .. ............... 81 d) Mißstandsaufsicht ............. .... .... ........................................................ 82 2. Tätigkeitslandaufsicht. ........................... ... ............................................. 90 IV. Abschaffung der präventiven Bedingungs- und Tarifgenehrnigung ... ........... 92 V. Mindestkoordinierung der versicherungstechnischen Rückstellungen ......... 95 VI. Ergebnis .......................... .. ......................... .......... ... .. ...... ... .... ................... 98
§ 11 Auswirkungen eines Europäischen Versicherungsmarktes ...... ... ................. 99 1.
Auswirkungen auf das System der deutschen Versicherungsaufsicht... ........ 99
Il. Die fehlende Hannonisierung des Versicherungsvertragsrechts ................ 101
m. Der Wegfall der präventiven Tarif- und Bedingungskontrolle ........... ........ 105 IV. Das Leitbild des Versicherungskunden .............................. ..................... . 112 Teil C
Europarechtliche Regelungen für die Versicherungsvermittler
117
§ 12 Die Vermittlerempfehlung und die Vermittlerrichtlinie .. .......... .... ............ 117
1.
Zweck und Ziel der Vennittlerempfehlung ......... ..... ................................. 117 I. Rolle der Versicherungsvennittler..................... .... ........... .... ................ 117 2. Konvergenz der Versicherungsvennittlungstätigkeit.. ....... ..... .... .. ....... .. 118 3. Ziele der Kommission mit der Vennittlerempfehlung ........................... 120
Il. Inhalt der Vennittlerempfehlung ..... ..... ............ ...... ............................ ...... 121 I. Geltungsbereich ......... ... .. .. ........................ ........................................... 121 2. Klare Trennung zwischen abhängigen und unabhängigen Vennittlern .. 125 3. Berufliche Kompetenz ............................ ... ............. ..... .................... .... 129 a) Anforderungen an Versicherungsvennittler ........... ... .. ............... ...... 129 b) Anforderungen an Versicherungsmakler.. .... .. .......... ...... ... .... .......... . 129 4. Registereintragung ............ ................... ................................................ 130 5. Strafbestimmungen ...... ........................ ..... .. ..... ....... .... .......... ............... 130
m.
Rechtscharakter der Vennittlerempfehlung .... ....... .... ... .... ....... ................. 131
IV. Bewertung der Vermittlerempfehlung ......... .......... .. ................................. 131
14
Inhaltsverzeichnis I. Aufsichtsbehörde .. ......... ... .. ..... ..... ........ ...... ...... ..... .. .... .... ........ ............. 131 2. Vennittlerverbände ............ ...... ............. ....... ...... ...... ......... ................... 132 3 . Versicherungswirtschaft ... .. ....... ... ........................................................ 133 a) BerufsausbildWlg zum Versicherungsfachmann................................ 133 b) Die Auskunftsstelle über den Versicherungsaußendienst (AVAD) .... 136 c) Zentrales Register für Versicherungsvennittler (ZVD) .. ....... .. ..... ... .. 138 d) Abschließende BewertWlg ...... .. .... ........ ....... .......... ... .................... ... 139 4. BWldesregierung .. ... ........................ .... ... .... .... ........ .... .... ... ... .... ............ 140
§ 13 Das Recht der Versicherungsvermittler ........................................... ........ ... 141 I.
Der Begriff des Versicherungsvennittlers ..... ..... ...... ........... ........... ....... .... 141
n.
Der Versicherungsvertreter Wld der Versicherungsagent.. .............. ........ ... 143 1. Gesetzliche Grundlagen ............................................................ ... ... ...... 143 2. Der gesetzliche Begriff "Versicherungsvertreter" ................... .. ............. 143 a) Das Kriterium der Selbständigkeit ... ...... .................. ...... ..... .. ...... .. ... 144 b) Die ständige BetrauWlg Wld der Gelegenheitsvennittler.. ...... .. ......... 146 3. Der haupt- Wld nebenberufliche VersicherWlgsvertreter.. ........... ...... .. ... 147 4. Der Ein- Wld Mehrftnnenvertreter .................................................... .... 148 5. Der VennittlWlgs- Wld der Abschlußagent .............. .. ............. .... ........... 150 6. Die RechtsstellWlg des VersicherWlgsvertreters (-agenten) ................... 155 7. Die HaftWlg der VersicherWlgsagenten...... ...... ...
.. ........ ...... ............ 156
a) Schadensersatzhafumg bei VerletzWlg von BeratWlgspflichten ......... 156 b) Gewohnheitsrechtliche VertrauenshaftWlg .................... .. ................. 160 c) Eigenhaftung des VersicherWlgsagenten .................................... .. .... 164 d) Ergebnis der Agentenhafumg flir BeratWlgspflichten .. .... .. .. ...... .. .... .. 165
rn. Der Versicherungsmakler .. ............. ..... ............ ..... .... .. ..... .. .. ....... .. ...... ...... 166 1. Rechtliche Grundlagen .......... ..... ........... ....... ..... .. .............. .. ....... .. ........ 166 2. Der BegriffVersicherungsmakler .......................... ........ ....................... 167 a) Das Fehlen der ständigen BetrauWlg ...... .................... .... .. .. .............. 168 b) Der Maklervertrag mit dem Versicherungsnehmer ........................... 170 c) Das Doppelrechtsverhältnis zum VersicherungsWlternehmen ........... 171
hihaltsverzeichrUs
15
3. Die Pflichten des Versicherungsmaklers .............................................. 173 4. Die Haftung des Versicherungsmaklers als "Sachwalter" ..................... 175 5. Funktion und Bedeutung des Versicherungsmaklers ............................. 180 IV. Geltende Zulassungsregelungen für Versicherungsvermittler.................... 181 V. Die Versicherungsaufsicht über Versicherungsvermittler ............ .. ........... 182 VI. Würdigung ................. ......................... ................................. .................... 185
§ 14 Gesetzliche Berufsregelungen und die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG .... 188 1.
n. m.
Die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 GG .................................. .. ................... 188 Verfassungsrechtlicher Berufsbegriff ....................................................... 188 Die Stufenlehre des Bundesverfassungsgerichts ....................................... 190 1. Die erste Stufe der Berufsausübung ..................................................... 192 2. Die zweite und dritte Stufe der Berufszulassungsregelungen ................ 193 a) Subjektive Zulassungsregelungen .................................................... 193 b) Objektive Zulassungsregelungen ..................................................... 194 3. Rechtfertigung von Berufsregelungen .................................................. 195 a) Legitimer Zweck - Gemeininteressen ............................................. 195 b) Legitimes Mittel- Verhältnismäßigkeit .......................................... 197
IV. Gesetzliche Berufsregelungen für die Versicherungsvermittlung .............. 199 l. Versicherungsvermittlung als Beruf.. ................................................... 199
2. Regelungen zum Beruf der Versicherungsvermittlung .......................... 200 a) Rechtfertigung von Regelungen zur Freiheit der Berufswahl ............ 201 b) Rechtfertigung von Berufswahlregelungen für Versicherungsvermittier ........................................................................................... 206 V. Ergebnis ............................................................................... .. ................. 212
§ 15 Zur Gestaltung der Berufsregelung für Versicherungsvermittler ............. 213 1.
Umfang einer gesetzlichen Berufsregelung ............................................... 214
II. Personenkreis .......................................................................................... 215
m.
Zulassungsvoraussetzungen ..................................................................... 216 1. Persönliche und fachliche Voraussetzungen ..... .. .. .. ....................... .. ..... 216
2. Registrierung ....................................................................................... 217
16
Inhaltsverzeiclmis a) Registrierungspflichtiger Personenkreis ....... .................................... 217 b) Registerfunktion, Registerfuhrung und Aufsicht über das Register ... 219 IV. Verhaltenspflichten der Versicherungsvermittler .. ........... ... .............. ........ 221
V. Ergebnis .. ....... .... ........ ............. ... ... ... ....... ........... .. .. ... ............. ... ..... ...... .... 225 VI. Der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Versicherungsverrnittlung ... ...... ...... .... .. ..... ......... ... ...... .. .. ....... 225 1. Begründung und Ziele des Richtlinienvorschlags ...... ........ ....... ..... ........ 225 2. Anwendungsbereich und Deftnitionen ..... ............... ....... ...... .... .... ......... 227 3. Eintragungspflicht für Versicherungsvermittler.. ........ ..... .. .......... ... .. ..... 228 4. Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit für Versicherungsvermittler .. ..... ...... ........ ....... .... ... ..... .... ..... ............ ...... .......... ....... .... ... .. . 229 5. Berufliche Anforderungen an Versicherungsverrnittler.. ..... ............ ..... .. 230 6. Informationspflichten... .... ......... ..... ... ....... ..... .......... .. .... .... ......... ...... ..... 233 7. Bewertung des Vorschlags ........ ......... .... .......... .... ......... .... .......... .......... 234
Zusammenfassung ..... ............... ..... ............................ .............. ... ........ .. ..... ........ ... . 236 Literaturverzeichnis ... .... ....... ... ...... .... ... ........... .. .. .. .... ... ...... .. ... ... ..... .. .. .......... ..... .. 246 Sachwortregister ............ ..... ...... ................. ............. ..... ................... .............. ........ 259
Abkürzungsverzeichnis AbI. Abs. a.F. Anm. Art. BAV BGB BGBI. BGH
BR BT Buchst. BVerfD BVerfDE BVerwG bzgl. bzw. ders. d.h. Dok. Drucks. EEA EG EGV endg. EU EuGH EuZW f.; (f1) Fn. FS gern. GG Hrsg. HS. i.d.F.
2 Schmidt
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz alte Fassung Anmedamg Artikel Bundesaufsichtsamt fUr das Versicherungswesen Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundesrat Bundestag Buchstabe Bundesverfassungsgericht Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht bezüglich beziehungsweise derselbe das heißt Dokumente Drucksache Einheitliche Europäische Al..1e Europäische Gemeinschaften Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften endgültig Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgende: fortfolgende Fußnote Festschrift gemäß Grundgesetz Herausgeber Halbsatz in der Fassung
18 i.V.m. m.w.N. NJW Nr. OLG RIW RL Rn. Rs. S. Slg. sog. St. Rspr.
VA
VAG VerBAV verb. RS. VersR VersRAI VersVerm vgl. VI(
Vorbem. VR WG VW z.B.
ZfV z.T. ZVersW
AbkiU2lu1gsverzeichrUs in Verbindung mit mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Oberlandesgericht Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtssache Seite Sammlung sogenannt ständige Rechtsprechung Vnterabsatz Versicherungsaufsichtsgesetz Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen verbundene Rechtssache Zeitschrift für Versicherungsrecht Zeitschrift für Versicherungsrecht Beilage Ausland Versicherungsvermittlung vergleiche Versicherungskaufmann Vorbemerkung Versicherungsrundschau Versicherungsvertragsgesetz Zeitschrift für Versicherungswirtschaft zum Beispiel Zeitschrift für das Versicherungswesen zum Teil Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft
Teil A
Die Versicherung und die Versicherungsaufsicht § 1 Grundlegendes zum Begriff der Versicherung I. Allgemeines Der Begriff der Versicherung findet im Versicherungsrecht Anwendung, ohne als solcher vorn Gesetz definiert zu sein!. Das deutsche Versicherungsvertragsgesetz (WG) "verzichtet auf eine Definition,,2. Das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) bestimmt als Rechtsfolge zwar die Aufsicht und nennt im Tatbestand Unternehmen, die bestimmte Geschäfte betreiben, nämlich Versicherungsgeschäfte3 . Das Gesetz enthält aber keine Definition des Versicherungsgeschäfts oder der Versicherung, was unter Versicherung im aufsichtsrechtlichen Sinne zu verstehen ist, wird auch auf europäischer Ebene in den Richtlinien nicht definiert4 . Mit dem Wort Versicherung wird ein Begriff in der Rechtssprache verwendet und die Begriffsbestimmung der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen, weshalb zahlreiche Deutungen und Begriffsbildungen vorgenommen wurden5 Für eine Zuordnung zum Versicherungsbegriff kön-
I Vgl. Mahr. W. Einfiihrung in die VersichefWlgswirtschaft, S. 68; Eich/er, H, VersichefWlgsrecht, S. 2; Schmidt. R .. Entwicklungen und ErfahfWlgen auf dem Gebiet der VersichefWlg, S. 406. 2 Vgl. Prö/ss. E.. VVG, § 1, Rn. 1; ders., VAG, § 1 VAG, Rn. 10. 3 Vgl. § 1 Abs. 1 VAG: "Der Aufsicht nach diesem Gesetz unterliegen Unternehmen, die den Betrieb von VersichefWlgsgeschäften zum Gegenstand haben und nicht Träger der SozialversichefWlg sind (Versicherungsunternehmen)". ~ Vgl. Prö/ss. E.. VAG, § 1 VAG, Rn. 2; Mal/er. H. Versicherungsbinnerunarkt, Rn. 36 u. 370; Miersch. G.. VersichefWlgsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 2; Das VersichefWlgsgeschäft wird sowohl in den europarechtlichen Vorgaben (vgl. § 6 dieser Arbeit) und im VAG im Anhang A zum VAG "unwissenschaftlich und empirisch" (Prö/ss. E.. VAG, § 1 VAG, Rn. 2) umschrieben; vgl. Roth, W-H, Allflnanz und der "europäische Paß" fur Finanzinstitute, in: GS für 1. G. Helm, S. 810 f. m.w.N. 5 Vgl. Prö/ss. E.. VAG, § 1 VAG, Rn. 2; Heilmann. W-R., Versicherungswissenschaft - Vergangenheit und Zukunft, ZfV 1993, S. 266; Zur Diskussion über den VersichefWlgsbegriff vgl. Wälder, J .. Über das Wesen der Versicherung, S. 1 ff.; Eich/er, H. VersichefWlgsrecht, S. 2 tT.; Mahr. W, Einfiihrung in die Versicherungswirtschaft,
20
Teil A: Die Versichenmg und die Versichenmgsaufsicht
nen einzelne Merkmale und Wesenszüge des Grundbegriffes der Versicherung dienen, wie sie anband einiger wesentlicher wissenschaftlicher Begriffsbestimmungen und der Rechtsprechung gekennzeichnet sind6
n. Wissenschaftliche Begriffsbestimmungen der Versicherung In der Versicherungswissenschaft kann zwischen einer wirtschaftswissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen allgemeinen Begriffsbestimmung unterschieden werden7 . Unter den wirtschaftswissenschaftlichen Begriffsbestimmungen nimmt AIfred Manes eine herausragende Stellung ein, seine Begriffsbestimmung wird sehr häufig verwendet und als die "klassische" bezeichnet8 . Als "zunächst weder technisch, noch juristisch, sondern vielmehr als wirtschaftliche Einrichtung,,9 definiert Alfred Manes Versicherung als "gegenseitige Deckung zufälligen schätzbaren Geldbedarfs zahlreicher gleichartig bedrohter Wirtschaften,,10 Dieser für sämtliche Versicherungsarten, Versicherungszweige und Versicherungsmethodenil gültige Begriff leitet sich aus der sog. Bedarfstheorie ab, nach der "die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen auf die Deckung des verschiedenartigsten Bedarfs gerichtet ist" und die Deckung eines zukünftigen. unsicheren Bedarfs Zweck der Versicherung ist12 Dieser BegriffsbeS. 66 ff.; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versichenmgsaufsichtsamts, S. 2 ff. 6 Die Frage nach dem Versichenmgsbegriff stellt sich sowohl unter dem Aspekt, ob ein Vertrag dem VVG unterliegt vgl. Priilss, E., VVG, § 1, Rn. 1 als auch unter dem Aspekt, daß ein Versichenmgsgeschäft i.S. des § 1 VAG ohne einen Begriff der Versicherung als primäres Tatbestandsmerkrnal nicht denkbar ist, zur Bedeutung des Begriffs Versicherung als Rechtsbegriff vgl. Schmidt, R. Versichenmgsaufsicht, in "Die Versichenmg" VWStW D m, S. 32; ders., EurOpäisches Versichenmgsaufsichtsrecht, Bd. 1, S. 16 m.w.N.; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versichenmgsaufsichtsamts, S. 2 m.w.N.; vgl. auch Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 36. 7 Vgl. Überblick bei Wtilder, 1., Über das Wesen der Versicherung, S. 24 mit einer Aufzählung der jeweiligen Vertreter; Mahr, W, Einführung in die Versicherungswirtschaft, S. 69; Eichler, H, Versicherungsrecht, S. 2 ff. S Vgl. Wtilder, J., Über das Wesen der Versicherung, S. 33; Famy, D., Produktionsund Kostentheorie der Versichenmg, S. 5; krit. Heilmann, W-R., Versicherungswissenschaft - Vergangenheit und Zukunft, ZfV 1993, S. 266. 9 Vgl. Malles, A., Versichenmgswesen, S. 10. 10 Vgl. Manes, A., Versichenmgswesen, S. 2. 11 Vgl. Manes, A., Versichenmgswesen, S. 8. 12 Vgl. Manes, A., Versicherungswesen, S. 1 ff. u. S. 41; Zur Bedarfstheorie und der Kritik im Zusammenhang mit der Begriffsbestimmung der Versicherung vgl. Mahr, W, Einführung in die Versicherungswirtschaft, S. 70; Eichler, H, Versiche-
§ I Grundlegendes zum Begriff der Versicherung
21
stiriunung wird zugestanden. daß sie kurz und einprägsam sei, aber auch der Ergänzung bedarf 3 . Da zur Kennzeichnung der Versicherung das Kriterium die Bedarfsdeckung herangezogen wird. das auch in der juristischen Begriffsbestimmung berucksichtigt wird. bildete die wirtschaftswissenschaftliehe Begriffsbestimmung von Alfred Manes den Ausgangspunkt der Erörterungen zur Frage nach einem allgemeinen versicherungswissenschaftlichen Versicherungsbegriff des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaftenl4 . Nach mehreren Sitzungen dieses Gremiums akzeptierte man schließlich mit kleinen Änderungen einen von Kar! Hax entwickelten Begriff: Demnach ist Versicherung .. die planmäßige Deckung eines im einzelnen ungewissen, insgesamt aber schätzbaren Geldbedarfs auf der Grundlage eines durch Zusammenfassung einer großen Anzahl von Einzelwirtschaften herbeigeführten Risikoausgleichs" 15. Eine rechtswissenschaftliche Begriffsbestimmung, der wegen ihrer "Prägnanz unter den Begriffsbestimmungen,,16 besondere Bedeutung beigemessen wird. stammt von Hans Möller. Vom rechtswissenschaftlichen Standpunktl7 aus bestimmt Hans Möller in einer Art "Kemdefinition"18 zur Abgrenzung von anderen juristischen Gegenständen den Begriff Versicherung "als eine Gemeinschaft gleichartig Gefährdeter. eine Gefahrengemeinschaft, also mit selbständigen Rechtsanspruchen auf wechselseitige Bedarfsdeckung" I 9. Diese
rWlgsrecht, S. 4 f; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung Wld die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 28 ff. 13 Vgl. Wälder, 1., Über das Wesen der Versicherung, S. 34, der sich kritisch mit der Methode der BegriffsbestimmWlg auseinandersetzt; vgl. hierzu auch Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung Wld die Praxis des Versicherungsaufsiehtsamts, S. 29 m.w.N. 14 Vgl. Eichler, H, Versicherungsrecht, S. 4; Friedrich, K., Der Reehtsbegriff der VersieherWlg Wld die Praxis des Versieherungsaufsichtsamts, S. 28; Wälder, J., Über das Wesen der Versicherung, S. 15. 15 Vgl. Hax, K., Grundlagen des Versicherungswesens, S. 14; zu dieser BegriffsbestimmWlg näher vgl. auch Wälder, J., Über das Wesen der VersiehertUlg, S. 76 ff.
m.w.N.
In Vgl. Schmidt, R., EntwicklWlgen Wld Erfahrungen, S. 406; Wälder, J., Über das Wesen der Versicherung, S. 61. 17 Die BestimmWlg des. Begriffs erfolgt ,.im Reehtssirute" vgl. Bruck, E./MiJller, H, VVG, § 1 VVG, Rn. 3: Möller, H, Modeme Theorien zum Begriff der VersieherWlg Wld des Versicherungsvertrages, ZVersW 1962, S. 270. 18 Vgl. Möller, H, Versicherungsvertragsreeht, S. 15. 1~ Vgl. Brock, E./Möller, H, WG, § 1 WG, Rn. 3 ff.; vgl. Möller, H, Moderne Theorien zum Begriff der Versicherung Wld des VersichertUlgsvertrages, ZVersW 1962, S. 273; zur BegriffsbestimmWlg näher Wälder, 1., Über das Wesen der VersieherWlg, S. 61 ff.
22
Teil A: Die Versichenmg und die Versicherungsaufsicht
Begriffsbestimmung schließt an das Kriterium der Bedarfsdeckung an20, im Vordergrund steht aber der Aspekt der Gefahrengemeinschaft, "da jede Versicherung auf dem Gesetz der großen Zahl beruht und eine Gemeinschaft, einen Zusammenschluß Gefährdeter voraussetzt" (sog. Gefahrengemeinschaftstheorie)21. Die wissenschaftlichen Bestimmungen eines Versicherungsbegriffs sind geeignet, kurz und prägnant einzelne Phänomene der Versicherung ersichtlich zu machen. Sie sind zwar auf einen allgemeinen, einheitlichen Versicherungsbegriff gerichtet, unterscheiden sich aber bei den Überlegungen einseitig auf bestimmte wirtschaftswissenschaftliehe oder rechtswissenschaftliehe Perspektiven, so daß sich der Begriff der Versicherung einheitlich und allseitig nicht erfassen läßt22 .
m
Der Begriff des Versicherungsgeschäfts
Der zentrale Begriff des Versicherungsaufsichtsgesetzes ist das Versicherungsgeschäft, durch den Betrieb von Versicherungsgeschäften wird das betreffende Unternehmen gemäß § 1 Abs. I VAG zum Versicherungsunternehmen und unterliegt der Aufsicht. Die Anwendung des Versicherungsaufsichtsgesetzes knüpft zwar durch das primäre Tatbestandsmerkmal an einen Begriff der Versicherung an, die Frage unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen Versicherungsgeschäfte betreibt und damit verbunden die Frage nach einem versicherungsaufsichtsrechtlichen Versicherungsbegriff ließ der Gesetzgeber aber offen, so daß der Begriff des Versicherungsgeschäfts durch die Rechtsprechung und die Literatur entwickelt werden mußte23 .
20 Vgl. M6/1er, H, Moderne Theorien zwn Begriff der Versicherung und des Versicherungsvertrages, ZVersW 1962, S. 269; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 38. 21 Vgl. M6/1er, H, Versicherungsvertragsrecht, S. 16; Brock, E.1M6/1er, H, VVG, § 1, Rn. 4; zur Gefahrengemeinschaftstheorie vgl. Eichler, H, Versicherungsrecht, S. 7; Das allen Fonnen der Versicherung gemeinsame Prinzip der Gefahrengemeinschaft kommt im Zitat von 1. G. Büsch (1728-1800) zwn Ausdruck: "Sei jedoch eine Assecuranz eingerichtet, wie sie wolle, habe sie, welchen Gegenstand sie wolle, ( ... ), so bleibt die Grundlage von allen diese: daß Viele Einzelnen helfen" abgedr. in: Büchner, F./Winter, G., Grundriß der Individualversicherung, S. 172, vgl. hierzu auch Prölss, E., VVG, § 1, Rn. 10. 22 Vgl. Wlilder, J., Über das Wesen der Versicherung, S. 83, Eichler, H, Versicherungsrecht, S. 11 mit der Bemerkung, daß manche Autoren deshalb auf einen allgemeinen Versicherungsbegriff verzichten. 23 Vgl. Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 6 m.w.N.; Schmidt, R, Versicherungsaufsicht, in "Die Ver-
§ 1 Grundlegendes zum Begriff der Versichenmg
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In der Literatur hat Erich R. Prölss eine aufsichtsrechtliche, überwiegend anerkannte, Begriffsbestimmung entwickelt24 . Die Begriffsbestimmung lautet: .. Versicherungsgeschäfte betreibt wer, ohne daß ein innerer Zusanunenhang mit einem Rechtsgeschäft anderer Art besteht, gegen Entgelt veIpflichtet ist, ein wirtschaftliches Risiko dergestalt zu übernehmen, daß er a) anderen vermögenswerte Leistungen zu erbringen hat, wenn sich eine für deren wirtschaftliche Verhältnisses nachteilige, ihrem Eintritt nach ungewisse Tatsache ereignet, um die dadurch verursachten Nachteile auszugleichen. oder b) anderen vermögenswerte Leistungen zu erbringen hat, wobei es von der Dauer des menschlichen Lebens oder dem Eintritt oder Nichteintritt einer Tatsache im Laufe des menschlichen Lebens abhängt, ob oder wann oder in welchem Umfang der Versicherer zu leisten hat oder wie hoch das Entgelt ist sofern der Risikoübernahme eine Kalkulation zugrunde liegt, wonach die dazu erforderlichen Mittel ganz oder im wesentlichen durch die Gesamtheit der Entgelte aufgebracht werden,,25. Danach kommt es für das Versicherungsgeschäft und den versicherungsaufsichtsrechtlichen Versicherungsbegriff26 darauf an, daß eine entgeltliche Übernahme eines wirtschaftlichen Risikos 27 mit einem selbständigen Rechtssicherung"', VWStW D III, S. 32; ders., Europäisches Versichenmgsaufsichtsrecht, Bd. 1, S. 16; Eichler, H, Versichenmgsrecht, S. 1l. 24 Vgl. Schmidt, R, Versicherungsaufsicht, in ,,Die Versicherung" VWStW D m, S. 32; Prölss, E. , VAG, § 1 VAG, Rn. 15; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versichenmgsaufsichtsarnts, S. 6; Eichler, H , Versicherungsrecht, S. 1l. 25 Prölss, E., VAG, 6. Aufl., § 1 VAG, Rn. 3. 26 Zur Frage der Begriffe Versichenmgsgeschäft und Versicherungsvertrag vgl. Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 8; Eichler, H, Versicherungsrecht, S. 14 f. stellt den Satz auf, daß "fUr die Meluzahl der Fälle in der Praxis die Begriffe Versichenmgsgeschäft und Versicherungsvertrag identisch sind"; Zwn Rechtsbegriff der Versichenmg i.S. des VVG vgl. Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 11 ff.; Prö/ss, E., VVG, § I, Rn. 1 ff. 27 Ausgehend von einem Risikobegriff gewinnt man eine besonders "prägnante" Begriffsbestimmung: "Versichenmg ist Risikotransfer von Versicherungsnehmern auf Versicherungsunternehmen gegen Entgelt" vgl. Heilmann. W-R., Versichenmgswissenschaft - Vergangenheit Und Zukunft, VW 1993, S. 266, der aufbauend auf dieser Definition eine eigene umfassende Definition vornimmt: "Versicherung betreibt man kaufmännisch unter Einbeziehung von Funktionen wie Beschaffung, Leistungserstellung, Absatz, Finanzierung und Verwaltung, kalkulatorsich auf der Basis von sogenannten Rechnungsgrundlagen, innerhalb eines speziellen juristischen Rahmens, der insbesondere durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und das Versicherungsvertragsgesetz gezogen wird und unter besonderen makroökonomischen Bedingungen auf Versicherungsmärk.1en·'; vgl. auch Wagner, F, Internationalisierung und Internationalisie-
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Teil A: Die Versichenmg \Uld die Versichenmgsaufsicht
anspruch auf Versicherungsleistungen stattfindet und die Risikoübernahme durch eine Gefahrengemeinschaft erfolgt28. Diese Begriffsbestimmung findet sich auch in der Rechtsprechung. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesvenvaltungsgerichts betreibt ein Unternehmen Versicherungsgeschäfte, wenn es "gegen Entgelt für den Fall des Eintritts eines ungewissen Ereignisses bestimmte Leistungen übernimmt, wobei dieses Risiko auf eine Mehrzahl durch die gleiche Gefahr bedrohter Personen verteilt wird und der Risikoübemahme auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation zugrunde liegt,,29. Diese Begriffsbestimmung enthält die wesentlichsten Elemente, die auch die Europäische Aufsichtsbehördenkonferenz festgehalten hat und die in kumulativer Form mindestens gegeben sein müssen, damit Versicherung vorliegt: Es muß Ungewißheit über den Eintritt eines Ereignisses bestehen,
für den Eintritt dieses Ereignisses muß eine vermögenswerte Leistung versprochen werden, die gegen Entgelt erfolgt, und die Zusage darf keine unselbständige Nebenabrede zu einem Rechtsgeschäft anderer Art sein30 . Damit wird deutlich, daß das Produkt Versicherung im Kernbereich ein Zahlungsversprechen darstellt, das von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, die durch juristische Begriffsterminologie festgelegt sind, abhängt31.
nmgsstrategien in der deutschen Versichenmgswirtschaft, VW 1994, S. 348; Fürstenwerth, F, v./Weiß, A., Versichenmgsalphabet, S. 534. 28 Vgl. ftlr die einzelnen Tatbestandsmerlanale Schmidt, R, Versichenmgsaufsicht, in ,,Die Versichenmg" VWStW D m, S. 32; Eichler, H, Versichenmgsrecht, S. 11 f. 29 Vgl. BVerwG-Urt. v. 29.9.1992 in VersR 1993, S. 1217 fI., grdl. BVerwGE 3, 220 (221) v. 22.3.1956 = VersR 1956, S. 362 fI.; BVerwG v. 10.1.1961 in VersR 1961, S. 361 fI.; vgl. auch Eichler, H, Versichenmgsrecht, S. 11 m.w.N., Prölss, E., VAG, § 1 VAG, Rn. 15 m.w.N. 30 Vgl. Müller, H, Versichenmgsbinnenmarkt, Rn. 370 fI. m.w.N. \Uld dem Hinweis in Rn. 374, daß die fehlende Koordinienmg des Versichenmgsbegriff im Binnenmarkt \Ulerfreuliche Folgen haben kann, vor allem dann, wenn das Sitzland die Auffassung vertritt, ein Geschäft sei keine Versichenmg, während die Tätigkeitslandbehörde gegenteiliger Meinung ist. 31 Vgl. Michaels, B., Neuorientienmg der Versichenmgsmärkte bei veränderten rechtlichen RahmenbedingWlgen, VW 1990, S. 1394; Klingmüller, E., Zur Harmonisienmg innerstaatlicher Rechtsbeziehungen in der EG, VW 1973, S. 1280.
§ 2 Die Versicherungsaufsicht
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§ 2 Die Versicherungsaufsicht I. Wesen der Versicherungsaufsicht Unter Versicherungsaufsicht versteht man die von einem Staat in seinem Gebiet handelnd durch geeignete Behörden, mit hoheitlicher Gewalt ausgeübte Beaufsichtigung über die Tätigkeit von Versicherungsunternehmen, wodurch der Staat im Interesse der Versicherten auf die Entstehung, den Geschäftsbetrieb und die Auflösung der Versicherungsunternehmen einwirkt32 . Grundlage des Aufsichtsverhältnisses ist das Versicherungsaufsichtsrecht als die Gesamtheit der Rechtsnormen, welche das Aufsichtsverhältnis des Staates zu den auf seinem Gebiet tätigen Versicherern regelt und die festlegt, nach welchen Gesichtspunkten eine aufsichtsrechtliche Überwachung des Versicherungsbetriebes stattfinden soll und in welchem Umfang der Staat auf den Ablauf des Geschäftsbetriebes von Versicherungsunternehmen Einfluß nirnme 3 . Das Versicherungsaufsichtsrecht kann unterschiedlich ausgestaltet sein, die Regelungen, wie sie in den einzelnen Ländern getroffen worden sind, können auf wenige, prinzipiell voneinander unterscheidbare Grundtypen zurückgeführt werden, wenngleich kein Land ein System ganz konsequent und in seiner Reinform verwirklicht hae 4.
n. Arten der Aufsichtssysteme Die Einteilung der Aufsichtssysteme in Grundtypen erweist sich als angebracht, weil sich die nationalen Versicherungsaufsichtssysteme in den europäischen Mitgliedstaaten unterschiedlich entwickelt hatten und in erster Linie das Versicherungsaufsichtsrecht der Mitgliedstaaten der zügigen Verwirklichung 32 Vgl. Frey, P., Versicherungsaufsicht, VW 1986, S. 756; Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 23; Mahr, W, Einführung in die Versicherungswirtschaft, S. 382. 33 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 23; Goldberg, A./Müller, H., VAG, Vorbem. zu § I VAG; der Begriff Aufsicht und der jüngere Begriff Überwachung soll synonym verwendet werden, als Rechtsbegriffe sind sie aber voneinander zu unterscheiden vgl. hierzu insbes. Gröschner, R., Das Überwachungsrechtsverhältnis, S. 46 u. 120, der die traditionelle Eigenständigkeit des Versicherungsrechts respektiert und die Überwachung der Versicherungsunternehmen nicht in seine Dogmatik des Überwachungsrechtsverhältnisses einbezieht (S. 128); vgl. auch Mösbauer; H., Staatsaufsicht über die Wirtschaft, S. 349 ff.; Prölss, E., VAG, § 81 VAG, Rn. 7. 34 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 31; Schmidt, R., Die Finanzaufsicht über Versicherungsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung der flir den Versicherungsbetrieb erforderlichen Finanzmitte1, ZVersW 1989, S. 489.
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Teil A: Die Versicherung und die Versicherungsaufsicht
eines Gemeinsamen Versicherungsmarktes entgegenstand35 Die Grundtypen von Aufsichtssystemen können nach der Intensität staatlicher Einwirkung geordnet werden, vom Publizitätssystem als schwächste Form über das Normativsystem bis hin zum materiellen Aufsichtssystem als stärkste Form36
1. Publizitätssystem Beim Publizitätssystem herrscht der Grundgedanke vor, daß die Versicherungsunternehmen von dem versicherungssuchenden Publikum selbst kontrolliert und beurteilt werden können37 • Um diese Kontrolle zu ermöglichen schreibt der Staat den Versicherungsunternehmen vor, die dazu erforderlichen Dokumente (z.B. Geschäftspläne, Bilanzen) zu veröffentlichen38 . Die zu publizierenden Dokumente sind in regelmäßigen Abständen der Aufsichtsbehörde einzureichen, welche sie ihrerseits wieder veröffentliche9 . Die ausgeübte Kontrolle bezieht sich lediglich darauf, daß alle vorgeschriebenen Dokumente eingereicht werden und daß diese auch der Wirklichkeit entsprechen, die inhaltliche Prüfung und Beurteilung obliegt dem Publikum, der Fachpresse und der Konkurrenz. Das Publizitätssystem ist die schwächste Form der Einwirkung des Staates auf die Versicherungsunternehmen40 Da der Staat eine Aufsicht nur durch eine "Mittlerrolle" ermöglicht, aber nicht selbst ausübt, wird diese Form nicht als eine Form der Staatsaufsicht angesehen41 .
35 Vgl. Pearson, P, Versicherungsaufsichtsrecht, Die Aktivitäten der EGKommission im Versicherungssektor - gestern, heute und morgen, VersRAI 1991, S. 56; Müller, H., Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 4 u.12. 36 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 31; Goldberg, A.lMüller, H., VAG, § 81 VAG, Rn. 1; Mösbauer, H., Staatsaufsicht über die Wirtschaft, S. 391; Friedrich, K, Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 47 ff.; Michaels, B., Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute, S. 122 ff.; Miersch, 0., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 3. 37 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 33; Friedrich, K, Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 48; Müller, H., Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 353. 38 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 33; Goldberg, A.lMü/ler, H., VAG, Vorbem. zu § 1 VAG. 39 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 35; Finke, E., Handwörterbuch des Versicherungswesens, Bd. I, Sp. 1655. 40 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 33; Kraus, H., Versicherungsaufsichtsrecht, S. 22; Friedrich, K, Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 48 m.w.N. 41 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 33; Friedrich, K , Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versiche-
§ 2 Die Versicherungsaufsicht
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Bei diesem System wird dem Publikum die nötige Sachkenntnis unterstellt, anhand der Veröffentlichungen selbständig die "Aufsicht" auszuüben. Angesichts der komplizierten Versicherungswirtschaft kann davon jedoch nicht ausgegangen werden42 Weiterhin erscheint es als großer Nachteil, wenn über auftretende Unregelmäßigkeiten bei einem Versicherungsunternehmen der Versicherungsnehmer lediglich infonniert wird, ein Eingriff der Aufsichtsbebörde aber nicht möglich ist. Damit kann zwar der Versicherungsinteressierte davon abgehalten werden, bei diesem Unternehmen eine Versicherung abzuschließen, für die bereits betroffenen Versicherungsnehmer kann der Staat allerdings keinerlei Abhilfe schaffen. Als ein auf diesem System beruhendes Aufsichtsrecht wurde lange Zeit dasjenige des Vereinigten Königreichs angesehen, ist dort aber mit gewissen Elementen des Normativsystems verbunden 43 . Als Grundlage für ein europäisches Aufsichtsrecht schied das Publizitätssystem wegen seiner offensichtlichen Mängel von vornherein aus, man war sich einig, daß zumindest eine Reihe von gesetzlichen Voraussetzungen für die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb und den laufenden Betrieb aufgestellt werden mußte44 .
rungsaufsichtsamts, S. 49; Michaels, B., Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute, S. 122. 42 Vgl. Michaels, B., Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen und Kreditinstitute, S. 122; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 49; Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 3. 43 Vgl. Kraus, H, Versicherungsaufsichtsrecht, S. 22; Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 33; Starke, 0. E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 100; Maller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 353. 44 Vgl. Maller, H, Versicherungsbinnenmarl..1:, Rn. 356, Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 4; Bereits die Erste Richtliniengeneration sieht Regelungen zur Zulassung und der Finanzausstattung vor (vgl. § 6 dieser Arbeit), soweit Versicherungsaufsichtssysteme im Hinblick auf einen Europäischen Versicherungsmarkt gegenübergestellt werden, wird deshalb meist nur auf die nachfolgend dargestellten Systeme eingegangen; so auch Jürgens, U./Rabe, T., Wozu dienen die Vorschläge für eine dritte EG-Richtliniengeneration?, VW 1992, S. 663 ff., Pearson, P., Versicherungsaufsichtsrecht, Die Aktivitäten der EG-Kommission im Versicherungssektor - gestern, heute und morgen, VersRAI 1991, S. 56, Drabbe, H, Verwirklichung des Binnenmarktes der Versicherungen - Was bleibt zu tun?, VW 1994, S. 550.
Teil A: Die Versichenmg und die Versicherungsaufsicht
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2. Normativsystem
Bei diesem System übernimmt der Staat zwar eine Beaufsichtigung, sie ist jedoch in einer "besonderen Weise beschränkt"45 Der Staat normiert zum Schutz der Versicherungsnehmer neben Publizitätsvorschriften gesetzliche Vorschriften für die Zulassung und den laufenden Geschäftsbetrieb, welchen sich die Versicherungsunternehmen zu unterwerfen haben46 . Die Aufsichtstätigkeit erfolgt laufend, die Überwachung ist jedoch ausschließlich auf die Erfüllung und Einhaltung dieser vorgegebenen Normen gerichtet und basiert damit auf einer Kontrolle ex post facto 47. Bei der Beurteilung des Normativsystems ist der Grad der Regelungsdichte entscheidend. Erläßt der Staat zum Schutz der Versicherungsnehmer viele Normen, die er überwacht, hemmt dies möglicherweise die freie Entwicklung der Versicherungswirtschaft, weshalb dieses System dann als starr und wenig anpassungsfähig angesehen werden kann. Ist jedoch der Staat im Erlassen von Vorschriften zurückhaltend und setzt allgemeine Grundsätze und Standards fest, gesteht dieses System dem Versicherer ein großes Maß an Eigenverantwortlichkeit zu und erlaubt einen größeren Wettbewerb48 . In der Vergangenheit ging man davon aus, daß das Normativsystem z.B. in den Niederlanden realisiert wurde 49 .
Vgl. Kraus, H, Versicherungsaufsichtsrecht, S. 22. Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternelunen, S. 45; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsarnts, S. 49; Kraus, H, Versicherungsaufsichtsrecht, S. 22: Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 354. 47 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 45; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 49; Kraus, H, Versicherungsaufsichtsrecht, S. 22; Goldberg, A./Müller, H, VAG, Vorbem. II B zu § 1 VAG; Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 354; Pearson, P., Versichenmgsaufsichtsrecht, Die Al..1ivitäten der EGKommission im Versicherungssektor - gestern, heute und morgen, VersRAI 1991, S. 56. 48 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsuntemelunen, S. 57; Michaels, B., Staatsaufsicht über Versichenmgsunternelunen und Kreditinstitute, S. 123; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versichenmg und die Praxis des Versicherungsaufsichtsarnts, S. 50; Pearson, P., Versicherungsaufsichtsrecht, Die Aktivitäten der EG-Kommission im Versicherungssektor - gestern, heute und morgen, VersRAI 1991, S. 56. 49 Vgl. Starke, 0. E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 103; Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versichenmgsunternehmen, S. 45, Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 354; Jürgens, U./Rabe, T., Wozu dienen die Vorschläge fur eine dritte EG-Richtliniengeneration?, VW 1992, S. 664. 45 46
§ 2 Die Versicherungsaufsicht
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Für die Zielsetzung eines Binnenmarktprogramms, nämlich das Angebot für den Verbraucher zu vergrößern und den Wettbewerb zwischen den Versicherungsunternehmen zu verstärken, wird dieses System häufig als das geeignete angesehen 50
3. Das System der materiellen Staatsaufsicht
Die intensivste und umfassendste Form der Aufsicht ist das System der materiellen Staatsaufsicht Es umfaßt die Grundsätze der beiden vorher genannten Systeme, reicht aber insoweit weiter, als der Aufsichtsbehörde weitere Einwirkungsbefugnisse eingeräumt werden 51 . Wenn es der Zweck der Aufsicht, die Interessen der Versicherungsnehmer zu wahren, erfordert, kann sie .,materiell auf den Betrieb einer Unternehmung Einfluß nehmen,,52. Die materielle Versicherungsaufsicht umfaßt den gesamten Geschäftsbetrieb von der Zulassung über die Genehmigung der Geschäftspläne bis hin zu Sondertatbeständen wie Bestandsübertragung und Fusionen53 . Dabei beruht die Aufsicht auf einer Kontrolle ex ante der Produkte in Form der Tarife und der Versicherungsbedingungen 54 sowie der Grundlagen für die technischen Rückstellun-
~ Vgl. Pearson, P., Versicherungsaufsichtsrecht, Die Aktivitäten der EGKommission im Versicherungssektor - gestern, heute und morgen, VersRAI 1991, S. 56; Jürgenf, U./Rabe, T., Wozu dienen die Vorschläge fiIr eine dritte EGRichtliniengeneration?, VW 1992, S. 665; Jürgens, U./Rabe, T./Rabe, B., Der Europäische Versicherungsmarkt, S. 10; Drabbe, H, Verwirklichung des Binnenmarktes der Versicherungen - Was bleibt zu tun?, VW 1994, S. 550; a.A. Mül/er, H., Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 357. 51 Vgl. Finke, E., Handwörterbuch des Versicherungswesens, Bd. 1, Sp. 1437; Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 57; Kraus, H, Versicherungsaufsichtsrecht, S. 23; Prö/ss, E., VAG, Vorbem., Rn. 107; Mal/er, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 355. 52 Vgl. Boss, P., Systeme der Staatsaufsicht über Versicherungsunternehmen, S. 57; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 50. 53 Vgl. Go/dberg, A./Müller, H, VAG, Vorbem. II C zu § 1 VAG; Prö/ss, E., VAG, Vorbem., Rn. 107; Schmidt, R., Die Finanzaufsicht über Versicherungsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung der für den Versicherungsbetrieb erforderlichen Finanzrnitte1, ZVersW 1989, S. 488. 54 In der amtlichen Begründung zum VAG von 190 I wird dazu ausgefillut, daß nur durch die Prüfung dieser Bedingungen sich ein Urteil darüber gewinnen läßt, ob der Versicherungszweck sachgemäß verfolgt wird und sich ein solider Geschäftsbetrieb unter ausreichender Wahrung der Interessen der Versicherten erwarten läßt; die Aufsichtsbehörde müsse daher ihr Augenmerk darauf richten, daß die Rechte und Pflichten der Versicherten hinreichend klargestellt werden vgl. o. V, Motive zum VAG, S. 32; zur Entwicklung der Produktkontrolle und den Grundsätzen zur Prüfung der A VB vgl. insbes. Müller, H, Produktkontrolle gestern, heute. morgen, ZfV 1991, S. 625 ff.
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Teil A: Die Versichenmg Wld die Versichenmgsaufsicht
gen: Bei diesem System haben die Versicherungsunternehmen einen geringeren Handlungsspielraum, die Wettbewerbsmöglichkeiten sind geringer und der Verbraucher hat weniger Wahlmöglichkeiten55 . Dieses in Deutschland56 verwirklichte System führt zwar zu einer höchstmöglichen, nicht aber zu einer vollkommenen Sicherheit, da es an der Aufsichtsbehörde liegt, gefahrdrohende Situationen zu erkennen und entsprechend entgegenzuwirken57 .
§ 3 Grundlagen und Zweck der Versicherungsaufsicht L System der deutschen Versicherungsaufsicht Wegen der großen volkswirtschaftlichen, sozialen und ethischen Bedeutung des Versicherungswesens wurde in Deutschland das Versicherungsgeschäft durch das Versicherungsaufsichtsgesetz von 1901 58 unter eine umfassende Aufsicht gestellt59 . Die Auffassung, daß der Betrieb des Versicherungsgeschäfts mit jedem anderen Gewerbebetrieb auf eine Linie zu stellen ist und es einer besonderen staatlichen Überwachung nicht bedürfe, wurde abgelehnt60 . 55 Vgl. Pearson, P. , Versichenmgsaufsichtsrecht, Die Al1:ivitäten der EGKommission im Versichenmgssektor - gestern, heute Wld morgen, VersRAI 1991, S. 56; Jürgens, U./Rabe, T., Wozu dienen die Vorschläge für eine dritte EGRichtliniengeneration?, VW 1992, S. 664; Müller, H, Versichenmgsbinnenmarkt, Rn. 355; Knauth, K-W, EffIzienz und Wettbewerb der Aufsichtssysteme fllr VersichenmgsWlternehmen Wld Kreditinstitute, ZVersW 1996, S. 235. 56 Ebenso in Österreich Wld der Schweiz vgl. HohlJeld, K, Die Zukunft der Versichenmgsaufsicht in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, VR 1991, S. 329 ff., S. 330, Müller, H, Versichenmgsbinnenmarkt, Rn. 355. 57 Vgl. Mahr, W, Einfilhrung in die Versichenmgswirtschaft, S. 388; Müller, H, Produktkontrolle gestern, heute, morgen, ZfV 1991, S. 627, Hohlfeld, K. Die Zukunft der Versichenmgsaufsicht nach Vollendung des Binnenmarktes, VersR 1993, S 146: Büchner, G., Fragen des aufsichtsrechtlichen Verbraucherschutzes, ZVersW 1994, S. 351. 58 Reichsgesetz über die privaten Versicherungsunternehmen vom 12.5.1901, RGBL. S. 139. 59 Vgl. o. v., Motive zum VAG, S. 24; Knauth, K-W, Effizienz Wld Wettbewerb der Aufsichtssysteme fllr VersichenmgsWlternehmen Wld Kreditinstitute, ZVersW 1996, S. 235; Möller, A., Die Versichenmgswirtschaft im demokratischen Staat, in: Staat, Wirtschaft, AsseJ...'Ufanz Wld Wissenschaft, FS fllr Robert Schwebler, S. 377. 60 Vgl. o.v, Motive zum VAG, S. 24; zur geschichtlichen EntwicklWlg Büchner, F., Die EntwicklWlg der deutschen GesetzgebWlg über die Versichenmgsaufsicht bis zum BWldesgesetz vom 31. Juli 1951, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 1, S. 1 ff., S. 16; Starke, o.-E. , Die EntwicklWlgslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. JahrhWlderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 11 ff.
§ 3 Grundlagen und Zweck der Versicherungsaufsicht
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Hintergrund war der Gedanke, daß man dem versicherungssuchenden Publikum die Wahrung ihrer Belange nicht selbst überlassen kann, und daß der Wettbewerb unter den Versicherungsunternehmen nicht dazu führt, unsolides Geschäftsgebaren auf Dauer unmöglich zu machen61 . Bei der Wahl der Aufsichtssysteme entschied sich der deutsche Gesetzgeber für die materielle Aufsicht. Nach der amtlichen Begründung soll die Aufsicht: " ... durch Prüfungen und Entscheidungen materieller Art das Entstehen solcher Anstalten hindern, welche von vornherein des Vertrauens unwürdig erscheinen, bei allen zugelassenen Anstalten fortlaufend den gesamten Geschäftsbetrieb im Auge behalten, und darüber wachen, daß von den genehmigten Geschäftsplänen nicht abgewichen wird, in der Geschäftsführung nicht Mißbräuche Platz greifen, welche die Versicherten gefahrden und aus einem zu gemeinnütziger Wirksamkeit bestimmten Institut ein gemeingefahrliches machen würden. Da, wo veränderte Verhältnisse (z.B. Änderung der Gefahrenverhältnisse, des Zinsfußes) es nötig machen, soll die Aufsicht dahin wirken, daß durch Umgestaltung der technischen und finanziellen Grundlagen des Geschäfts der Bestand und die Leistungsfähigkeit der Anstalt erhalten bleiben, und endlich in Fällen, wo dennoch ein Zusammenbruch nicht abzuwenden ist, dafür sorgen, daß dem Geschäftsbetriebe rechtzeitig ein Ziel gesetzt wird und die Abwicklung der Geschäfte ohne willkürliche Beschädigungen oder Bevorzugungen Einzelner unter gleichmäßiger Wahrung der Interessen aller Beteiligter erfolgt"62. Materielle Aufsicht deutscher Prägung bedeutet demnach Konzessionszwang der Unternehmen und laufende behördliche Überwachung ihres gesamten Geschäftsbetriebes in rechtlicher und finanzieller Hinsicht mit dem Ziel, daß die Belange der Versicherungsnehmer jederzeit ausreichend gewahrt und die Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen als dauernd erfüllbar anzusehen sind, gleichgültig, ob eine Gefährdung der Versicherteninteressen durch Verletzung von Rechtsnormen, Nichtbeachtung des Geschäfts- und Tätigkeitsplans oder in sonstiger Weise durch das Versicherungsunternehmen verursacht werden könnte und grundsätzlich unabhängig davon, ob das Versicherungsunternehmen seinen Sitz im Inland oder im Ausland hat; geschützt werden sollen durch die deutsche Aufsicht alle Personen, die sich in Deutschland bei einem Versicherungsunternehmen versichern63
61 Vgl. o. V, Motive zum VAG, S. 24. 62 Vgl. O. V, Motive zum VAG, S. 25. 63 Vgl. Golz, J.-F., Ausgewählte Fragen der Umsetzung der dritten Versicherungsrichtlinien, S. 3; Müller, H., Neue Rolle der Aufsicht, VersVerm 1991, S. 568; ders., Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 355; vgl. auch Kraus, H., Versicherungsaufsichtsrecht, S. 114; Goldberg, A.lMüller, H., VAG, Vorbem. II C zu § 1 VAG.
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Teil A: Die VersicheTWlg und die Versicherungsaufsicht
II. Aufsichtskonzeptionen
Da Inhalt und Methoden der Versicherungsaufsicht vom Aufsichtszweck bestimmt werden und die weitgehenden Eingriffsbefugnisse, die offenen Rechtsbegriffe64 und die Ermessensentscheidungen nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz stets das Mittel der Auslegung benötigen65 , entstanden einige Theorien66, die sich mit der Frage nach dem Zweck einer Versicherungsaufsicht beschäftigen.
1. Gefahrentheorie
Diese in den Anfangen der Versicherungsaufsicht entwickelte Theorie beschränkte die Aufsicht auf den Schutz gegen wirkliche Schäden und die Abwehr von erkennbar drohenden Gefahren67 . Der Zweck der Versicherungsauf64 Zum offenen, meist genannt "unbestimmten" Rechtsbegriff vgl. Schachtschneider, K. A., Res publica res populi, S. 819 ff., 832 ff.; ders., Grundbegriffe des Allgemeinen Verwaltungsrechts, § 6 IV 1; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 165,222, insbes. 313 . 65 Vgl. Schmidt, R., Versicherungsaufsicht, in ,,Die VersicheTWlg", VWStW, D S. 7; ders., Die Finanzaufsicht über VersicheTWlgsunternehmen unter besonderer Berücksichtigung der ftir den VersicheTWlgsbetrieb erforderlichen Finanzmittel, ZVersW 1989, S. 490; Kraus, H. , Versicherungsaufsichtsrecht, S. 20. 66 Hier nicht dargestellt werden: die soziale Theorie: ,,Recht und Pflicht des Staates, in die Versicherung ordnend einzugreifen, wird auf die soziale Tendenz der Versicherung zurückgeführt" (Starke, O-E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 62); die Mehrzwecktheorie nach Mahr, der die Versicherungsaufsicht unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten begründet (Mahr, W , EinfühTWlg in die VersicheTWlgswirtschaft, S. 381 ff); die ethische Theorie, die auf die Bedeutung des Versicherungswesens hinsichtlich, wie es in der amtlichen Begründung zwn VAG heißt, "auf die für das ethische Volksleben bedeutsamen Funktionen" abstellt, vgl. Kraus, H., VersicheTWlgsaufsichtsrecht, S. 32; die Funktionsschutztheorie: ,,Die Aufsichtsbehörden beschränken sich auf den Schutz der Funktionen anderer, d.h. sie sorgen dafür, daß diese anderen die ihnen anvertrauten Funktionen erfiillen können und auch wirklich so erfiillen, wie es die jeweilige Rechtsordnung von ihnen verlangt. Sobald eine Behörde eine Funktion an sich zieht, handelt es sich nicht mehr um Aufsicht, sondern um Leitung oder eine andere Form staatlicher Verwaltung" (Stein, E., Die Wirtschaftsaufsicht, S. 15); zu allem vgl. Starke, O-E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 58 ff.: Michaels, B., Staatsaufsicht über VersicheTWlgsunternehmen und Kreditinstitute, S. 44 ff. : Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der VersicheTWlg und die Praxis des VersicheTWlgsaufsichtsamts, S. 41 ff. 67 Vgl. Stein, E., Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 41; Starke, OE., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 58 m.w.N.
m,
§ 3 Grundlagen lllld Zweck der Versicherllllgsaufsicht
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sicht berücksichtigt danach von außen kommende Gefahren, wie z.B. die Änderung des für die Kalkulation vorausgesetzten Zinsfußes, und bezieht sich lediglich auf die polizeiliche Gefahrenabwehr68 . Zukünftige, abstrakt in Betracht kommende Gefahren werden demnach nicht berücksichtigt, präventive Eingriffe sind nicht vorgesehen69 Bei der Entstehung des Versicherungsaufsichtsgesetzes dachte man zwar an rein gewerbepolizeiliche Eingriffe gemäß der Gefahrentheorie, die Aufsicht ging aber bereits über die bloße Gefahrenabwehr im Sinne einer Präventivkontrolle hinaus 70. Da der Eintritt eines Mißstands wegen der großen Bedeutung der Versicherungswirtschaft erheblich negative Folgen für die Versicherungsnehmer haben kann, darf die Aufsicht mit ihrem Eingreifen nicht abwarten bis eine wirkliche Krise eingetreten ist 71 . Der Zweck der Aufsicht ist es gerade. schon mögliche Gefahren zu beseitigen und präventiv zu wirken, die Gefahrentheorie wird deshalb nicht mehr vertreten72
08 Vgl. Starke, OE, Die Entwicklllllgslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhllllderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 59; Kraus, H. , Versicherungsaufsichtsrecht, S. 30 m.w.N. zum polizeilichen Gefahrenbegriff: hierzu vgl. auch Schmidt, R, Versicherungsaufsicht, in ,,Die Versicherung", VWStW, Dill, S. 9: Weber, W., Die Versicherungsaufsicht in der wissenschaftlichen Analyse und Kritik, S. 51 ff.; zum Gefahrenbegriff vgl. auch Schachtschneider, K. A., Fallstudie Umweltrecht, FCKW-Verbot, S. 14 m.w.N. 69 Vgl. Starke, o.ß., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 58; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherllllg und die Praxis des Versicherllllgsaufsichtsamts, S. 41 m.w.N. 70 Vgl. Kraus, H., Versicherllllgsaufsichtsrecht, S. 30; It. Stein, E . Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10 wird die Gefahrentheorie nur noch dann herangezogen, wenn der Versicherungsaufsicht ein gewerbepolizeilicher Charakter beigelegt wird; hierzu vgl. auch Schmidt, R. Versicherungsaufsicht, in ,,Die Versicherung": VWStW, D Ill, S. 9; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 41 m.w.N. 71 Vgl. Stein, E., Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10; Starke, O-E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 58. n Vgl. Starke, o.-E., Die Entwicklungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 58; Stein, E, Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 41 m.w.N.
3 Schmidt
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Teil A: Die Versicherung und die Versicherungsaufsicht
2. Schutztheorie
Die Schutztheorie stellt den Schutz der Belange der Versicherten in den Mittelpunkt73. Sie erweitert die Gefahrentheorie, indem sie neben der Abwehr von erkennbar bevorstehenden Gefahren den Zweck der Versicherungsaufsicht auch in dem vorbeugenden Schutz gegen abstrakte Gefahren sieht74 Danach umfaßt die Versicherungsaufsicht nicht nur die bloße Gefahrenabwehr. sie erfüllt auch Schutzaufgaben, "wodurch eine entsprechende Steigerung der Intensität der Aufsicht erreicht wird,,75. Sie wird als die herrschende Theorie angesehen76 . Die Theorie geht von der Einordnung des Versicherungsaufsichtsgesetzes als gewerbe- und wirtschaftspolizeiliches Gesetz aus und steht zutreffend einer wirtschaftslenkenden Funktion der Versicherungsaufsicht entgegen" .
3. Strukturtheorie
Die besondere Struktur der Versicherungswirtschaft die aus dem Wesen der Versicherung als einem abstrakten, unsichtbaren Produkt entsteht, ist der Ansatzpunkt dieser von Otto-Emst Starke78 entwickelten Theorie79 Durch die
73 Vgl. Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 41; Prö/ss, E., VAG, Vorbern., Rn. 110; Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 9 m.w.N. 74 Vgl. Stein, E. , Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10; Kraus, H., Versicherungsaufsichtsrecht, S. 30. 75 Vgl. Starke, OE., Die Entwicldungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 59; Schmidt, R., Versicherungsaufsicht, in ,,Die Versicherung", VWStW, D m, S. 9. 76 Vgl. Schmidt, R. , Europäisches Versicherungsaufsichtsrecht, Bd. 1, S. 7; Stein, E., Die Wirtschaftsaufsicht, S. 10; Frey, p', Versicherungsaufsicht, VW 1986, S. 756: Starke, O.E., Die Entwicldungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 68; auch der Europäische 'Gerichtshof hat in dem Versicherungsurteil vom 4.12.1986 die Schutztheorie zugrundegelegt, vgl. PriJlss, E., VAG, Vorbern., Rn. 46 sowie § 8 mdieser Arbeit; Zur Qualifizierung des VAG als Verbraucherschutzgesetz vgl. Prö/ss, E., VAG, Vorbern., Rn. 110, 123; Büchner, G. , Fragen des aufsichtsrechtlichen Verbraucherschutzes, ZVersW 1994, S. 349; Hohlfe/d, K., Die Zukunft des Verbraucherschutzes im Privatkundengeschäft der Versicherungen, VW 1991, S. 1494; Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 10 m. W.N. 77 Vgl. Prö/ss, E., VAG, Vorbern., Rn. 110; Zusammenfassung in Mösbauer, H., Staatsaufsicht über die Wirtschaft, S. 349 ff. 78 Vgl. Starke, OE., Die Entwicldungslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 65 fI
§ 3 Grundlagen Wld Zweck der Versicherungsaufsicht
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Herstellung der Ware "Versicherung" mit verhältnismäßig geringem Einsatz materieller Produktionsmittel ergeben sich außerordentliche Möglichkeiten zur Kapazitätsausweitung, was zu einer Störung des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage führen könnte; hinzu kommt die Tatsache, daß "der Kunde keinen Gegenstand vorfindet, den er prüfen oder gegebenenfalls auch unabhängig von der Person des Anbietenden bewerten kann", weshalb die Entwicklung der Versicherungswirtschaft wesentlich vom Vertrauensverhältnis zum Publikum abhängtso Der Zweck der Versicherungsaufsicht liegt demnach in der Korrektur dieser strukturbedingten Besonderheit und damit in der Erhaltung der Funktionsfähigkeit der VersicherungswirtschaftsI. In diesem Zusammenhang besteht der Leitgedanke der Versicherungsaufsicht in der "Erhaltung der ständigen Erfüllbarkeit der Verträge"S2. Gegen diese Theorie, die sich nicht durchgesetzt hat, wird vor allem vorgebracht, daß die Abgrenzung der Aufsicht von der Wirtschaftslenkung schwierig sei s3 Außerdem wird es als kritisch erachtet, daß der Zweck der Aufsicht der Struktur, also der Sache selbst, entnommen wirds4 . "Wegen der Struktur ist der Schutz erforderlich", wobei der Schutz der Versicherten das primäre Ziel der Aufsicht darstellt, erst sekundär sei die besondere Struktur zu berücksichtigenS5
79 Vgl. Prölss, E., VAG, Vorbem., Rn. 111; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung Wld die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 43. 80 Vgl. Starke, OE., Die EntwicklWlgslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. JahrhWlderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 65 f. 81 Vgl. Starke, OE., Die EntwicklWlgslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. JahrhWlderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, B. 3, S. 68; Weber, W, Die Versicherungsaufsicht in der gegenwärtigen Rechtsentwicldung, ZVersW 1961, S. 346; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung und die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 43; Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 9. 82 Vgl. Starke, OE., Die EntwicklWlgslinien der materiellen Staatsaufsicht in der ersten Hälfte des 20. JahrhWlderts, in: 50 Jahre materielle Staatsaufsicht, Bd. 3, S. 69. 83 Vgl. Stein, E., Die Wirtschaftsaufsicht, S. 14; Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung Wld die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 44; Pro/55, E., VAG, Vorbem., Rn. 111. 84 " ... Wld damit in die Gefahr eines jedenfalls von der Logik her nicht unbedenklichen Circulus Vitiosus gerät" Schmidt, R., Europäisches Versicherungsaufsichtsrecht, Bd. I, S. 7; vgl. auch Friedrich, K., Der Rechtsbegriff der Versicherung Wld die Praxis des Versicherungsaufsichtsamts, S. 44. 85 Vgl. Schmidt, R., Europäisches VersichefWlgsaufsichtsrecht, Bd. 1, S. 7; Kraus, H., VersichefWlgsaufsichtsrecht, S. 33.
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Teil A: Die Versicherung und die Versicherungsaufsicht
4. Ergebnis Jede der dargestellten Theorien setzt gewisse Schwerpunkte innerhalb des eigenartigen Gebildes der Versicherungsaufsicht und führt zu einer unterschiedlichen Inhaltsbestimmung der Aufsicht. Obwohl die Schutztheorie die meisten Anhänger gefunden hat, kann keine Theorie für sich beanspruchen, die einzig Gültige zu sein, um den Zweck der Aufsicht erschöpfend zu charakterisieren. Insgesamt "manifestiert sich der Zweck der Versicherungsaufsicht im Schutz der Versicherten und im volkswirtschaftlichen sowie sozialen Interesse an der Erhaltung eines soliden, leistungsfähigen Versicherungswesens, das als Beitrag für stabile wirtschaftliche und soziale Verhältnisse gewürdigt werden muß,,86. Wenn auch der Schutzzweck der Aufsicht als übergeordnetes Ziel gewertet werden muß, besteht dennoch die Notwendigkeit der ganzheitlichen Betrachtung der Aufsicht über alle Theorien hinweg. Jede Theorie lehnt sich an die unmittelbaren Rechtsvorschriften im VAG an87 , wobei hinsichtlich der einzelnen Theorien und der unterschiedlichen Eingriffstiefen "alle Theorien über die Versicherungsaufsicht eine entscheidende und maßgebende Grenze an der jeweiligen Verfassungsordnung haben,,88.
86 Vgl. Möller, A., Die Versicherungswirtschaft im demokratischen Staat, in: Staat, Wirtschaft, Assekuranz und Wissenschaft, FS fiIr Rohert Schwebler, S. 377. 87 ,,Durch das VAG und seine Nebenvorschriften sollen sowohl der Schutz der Interessen der Versicherungsneluner als auch die Aufrechterhaltung der Funktionsflihigkeit der Versicherungsunternelunen gewährleistet werden" vgl. Kraus, H., Versicherungsaufsichtsrecht, S. 36. 88 Vgl. Kraus, H., Versicherungsaufsichtsrecht, S. 37; vgl. auch Prö/ss, E., VAG, Vorbern., Rn. 127 m.w.N.
Teil B
Versicherungsaufsicht im Binnenmarkt Ausgangspunkt aller Veränderungen des europäischen Versicherungsmarktes ist die im Gemeinschaftsvertrag umschriebene Aufgabe, die Beschränkungen für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu beseitigen!.
§ 4 Niederlassungsfreiheit I. Begriff und Formen der Niederlassungsfreiheit Die Niederlassungsfreiheit ist als Grundfreiheit in den Art. 43 fI. des Gemeinschaftsvertrages (EGV) geregelt. Der Begriff der Niederlassungsfreiheit umfaßt nach Art. 43 Abs. 2 EGVals .,primäre Niederlassungsfreiheit'· die .,Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Abs. 2" und als "sekundäre Niederlassungsfreiheit,,2 gern. Art. 43 Abs. 1 S. 2 EGV die "Gründung von Agenturen. Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind,,3 Unter Niederlassungsfreiheit ist daher in erster Linie das Recht zur Gründung eines ständigen Unternehmens zu verstehen, das den Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der Selbständigen darstellt. Das Recht auf freie NieVgl. Art. 3lit. c und Art. 2 EGY Vgl. Oppermann. T., Europarecht, Rn. 1591; Roth. W-H.. Hdb EG-WirtschaftsR, E.I.. Rn. 24 f.: Doleschal. Th.lAlartin-Perez de Nanclares. 1., Zwn Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaft fiIr eine Dritte Lebensversicherungskoordinierungsrichtlinie, VersRAl1991, s. so. l Als sekundäre Niederlassung eines Unternehmens ist auch ein von diesem unabhängiges Unternehmen (Person) anzusehen, wenn es damit beauftragt ist, auf Dauer ftIr dieses Unternehmen "wie eine Agentur" zu handeln, vgl. Roth. W-H.. Hdb EGWirtschaftsR, E.I., Rn. 25; vgl. unter § 8 dieser Arbeit bzgl. EuGH Urt. v. 4.12.1986 Rs. 205/84 (KommissionlDeutschland), Slg. 1986,3755, Rn. 21. !
2
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Teil B: Versicherungsaufsicht im Binnerunarkt
derlassung kommt dann zum Tragen, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates beschließt, sich durch den grenzüberschreitenden Wechsel der Ansässigkeit in die Wirtschaft eines anderen Mitgliedslandes einzugliedern und seine Bindung zum Herkunftsland aufgibt4 Die sekundäre Niederlassungsfreiheit mit dem Recht zur Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften eröffnet die Möglichkeit, ohne Aufgabe des Betriebsschwerpunkts Betriebsteile zu verlagern und neu zu etablieren5. Die Niederlassungsfreiheit, so hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, "umfaßt die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, die Gründung und Leitung von Unternehmen und die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats"6. In Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit wird unter dem Begriff der Niederlassung, der vertraglich nicht expliziert ist, eine auf Dauer konzipierte, feste Einrichtung, die einer wirtschaftlichen Tätigkeit zu dienen bestimmt ist, verstanden7 . Der Europäische Gerichtshof geht von einem weiten Begriff der Niederlassung im Sinne des Gemeinschaftsvertrages aus, "der die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaates als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird"s. Primärrechtlich sind von der Niederlassungsfreiheit für den Versicherungsbereich zwei Formen der Niederlassung erfaßt: Entweder ein Staatsangehöriger begibt sich in den Tätigkeitsstaat und läßt sich dort nieder (Hauptniederlassung) oder er errichtet eine Agentur, Niederlassung oder Tochtergesellschaft, über die er tätig wird (Zweigniederlassung).
4 Vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 35; RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 52 a.F., Rn. 2; Emmerich-Fritsche, A., Einfühnmg in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 92 f. 5 Vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 36. 6 Vgl. EuGH Urt. v. 30.11.1995 - Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, 1-4165, Rn. 23: EuGH Urt. v. 12.7.1984 - Rs. 107/83 (Klopp), Slg. 1984, S. 2971, Rn. 19; EuGH Urt. v. 21.6.1974 - Rs. C-2174 (Reyners), Slg. 1974, S. 631, Rn. 18. 7 Vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 34; RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHi1f, EGV, Art. 52 a.F., Rn. 10. B Vgl. EuGH Urt. v. 30.11.1995 - Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 25.
§ 4 Niederlassungsfreiheit
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11. Ziel der Niederlassungsfreiheit "Wesenselement,,9 und .,Kern"lo der Niederlassungsfreiheit ist, daß fiir das grenzüberschreitend tätige Unternehmen die gleichen Zulassungsbedingungen gelten. wie sie für die inländischen Gesellschaften vorgesehen sind. Der Gemeinschaftsvertrag enthält ein allgemeines Verbot aller Vorschriften und Praktiken. die allein für Ausländer die Befugnis zur Ausübung der nonnalerweise mit einer selbständigen Tätigkeit verbundenen Rechte ausschließen, beschränken oder von besonderen Voraussetzungen abhängig machenIl . Damit darf die Ausübung der Versicherungstätigkeit für Niederlassungen von ausländischen EG-Versicherern keinen anderen oder strengeren Voraussetzungen unterliegen als dies für die inländischen Gesellschaften vorgesehen ist. Nach Art. 52 S. I EGV a.F. sind die Beschränkungen der freien Niederlassung aufzuheben und gemäß Art. 43 des Gemeinschaftsvertrages in der Arnsterdamer Fassung verboten. Solche Beschränkungen sind zunächst Verstöße gegen den Grundsatz der Inländergleichbehandlung ' ". Inländergleichbehandlung bedeutet, daß juristische und natürliche Personen das Recht haben, in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatstaat eine dauernde selbständige Tätigkeit zu den gleichen Bedingungen wie Inländer auszuüben l3 . Nach herkömmlichem Verständnis wurde die Niederlassungsfreiheit als bloße Inländergleichbehandlung verstanden 14. Die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes läßt aber erkennen, daß sich das Diskriminierungsverbot nicht nur auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit erstreckt, sondern der Europäische Gerichtshof auch indirekte und versteckte Diskriminierungen fiir unzulässig hält l5 Das Diskriminierungsverbot wird 9 Hübner, U./Afatusche-Beckmann, .4., Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das Versicherungsrecht, EuZW 1995, S. 264. 10 Oppermann, T.. Europarecht, Rn. 1588. 11 Vgl. RandelzhoJer, .1., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 52 a.F., Rn. 36; Roth, W-H., Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 61 ; Doleschal, Th.lMartin-Perez de Nanclares, J., Zum Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaft ft1r eine Dritte Lebellsversicherungskoordinierungsrichtlinie, VersRAI 1991, S. 50. 12 St. Rspr. d. EuGH, vgl. EuGH Urt. v. 2l.6.1974 - Rs. C-2n4 (Reyners), Slg. 1974, S. 631, Rn. 18, EuGH Urt. v. 12.7.1984 - Rs. C-107/83 (Klopp), Slg, 1984, 2971, Rn. 17, EuGH Urt. v. 28.1.1986 - Rs. 270/83 (KommissionIFrankreich), Slg 1986, 273, Rn. 24. 13 Vgl. Oppermann, T., Europarecht, Rn. 1591; Emmerich-Fritsche, A., Einfuhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 93. 14 Vgl. Streinz. R., Europarecht, Rn. 676; Roth. W-H.. Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 61 m.w.N. 15 Vgl. Roth. W-H.. Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 62 fI. m.w.N.
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Teil B: Versicherungsaufsicht im Bümenmarkt
weit verstanden und erfaßt nicht "nur alle augenfalligen Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Fonnen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale zu dem gleichen Ergebnis fiihren"l6. Einige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes haben sich mit der Frage befaßt, ob die Niederlassungsfreiheit als ein über den in Art. 52 a.F. EGV verankerten Grundsatz der Inländergleichbehandlung hinausreichendes Beschränkungsverbot zu deuten ist. Ein Beschränkungsverbot fordert, daß sich auch unterschiedslos auf Inländer und Ausländer anwendbare Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht am Maßstab der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen lassen müssenl ? So hat der Europäische Gerichtshof hinsichtlich innerstaatlicher Regelungen, die auf Inländer wie auf Ausländer gleichennaßen wirken, festgestellt, daß sie mit dem Niederlassungsrecht unvereinbar sind, wenn sie "dazu führen, daß die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten an der tatsächlichen Ausübung ihres durch den Vertrag gewährleisteten Niederlassungsrechts gehindert werden"l8 Mit seiner jüngeren Rechtsprechung, insbesondere im Fall "Gebhard" und "Centros", hat der Europäische Gerichtshof die Niederlassungsfreiheit hin zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot entwickelt l9 Für Beschränkungen der Grundfreiheiten, auch für die Niederlassungsfreiheit, gilt nun ein vierstufiger Rechtfertigungsstandard20, den der Europäische Gerichtshof wie folgt beschrieben hat:
16 Vgl. EuGH Urt. v. 5.12.1989 - Rs. C-3/88 (KommissionlItalien), Slg. 1989, S. 4035, Rn. 8. 17 Vgl. RandelzhoJer. A .• in: GrabitVHilf, EGV, Art. 52 a.F., Rn. 43 b; Streinz. R .. Europarecht, Rn. 671; vgl. auch Emmerich-Fritsche. A .. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 431 ff. 18 Vgl. EuGH Urt. v. 12.7.1984 - Rs. C-107/83 (Klopp), Slg. 1984, S. 2971, Rn. 20, der EuGH hat damit einem in Deutschland zugelassenen Rechtsanwalt das Niederlassungsrecht zugestanden, obwohl nach französischem Recht jeder Rechtsanwalt nur eine einzige Kanzlei unterhalten darf; für nationale Qualifikationsvoraussetzungen EuGH Urt. v. 7.5.1991 - Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, I 2357, Rn. 15. 19 Vgl. EuGH Urt. v. 30.11.1995 - Rs. C-55194 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 37; EuGH Urt. v. 9.3.1999 - Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999, I-1484, Rn. 21 f.; Streinz. R .. Europarecht, Rn. 678; Emmerich-Fritsche. A.. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 431 m.w.N.; ders., Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 100; Sonnenberger. H.J.lGroßerichter. H.. Konfliktlinien zwischen internationalem Gesellschaftsrecht und Niederlassungsfreiheit, RIW 1999, S. 723. 20 Vgl. Streinz. R .• Europarecht, Rn. 677.
§ 5 Dienstleistungsfreiheit
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"Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, daß nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist,,21 . Während im Gemeinschaftsvertrag gemäß Art. 52 a.F. "Beschränkungen der freien Niederlassung aufzuheben" waren, sind nun gern. Art. 43 des Gemeinschaftsvertrages der Amsterdamer Fassung "Beschränkungen der freien Niederlassung ... verboten".
§ 5 Dienstleistungsfreiheit L Begriff und Formen der Dienstleistungsfreiheit
Für die grenzüberschreitende Tätigkeit von Versicherungsuntemehmen ist eine weitere wesentliche Grundfreiheit die in Art. 49 ff. des Gemeinschaftsvertrages geregelte Dienstleistungsfreiheit. Was unter Dienstleistung im Sinne des Gemeinschaftsvertrages zu verstehen ist, präzisiert Art. 50 Abs. 1 EGY. Danach sind Dienstleistungen Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden. Nach Art. 50 Abs. 2 EGV zählen hierunter beispielhaft und nicht vollständii2 insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten.
21 Vgl. EuGH Urt. v. 9.3.1999 - Rs. C-212/97 (Centros), Slg. 1999,1-1484, Rn. 34; EuGH Urt. v. 30.11.1995 - Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 37; EuGH Urt. v. 31.3.1992 - Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993,1-1663, Rn. 32; vgl. EmmerichFritsche, A., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, S. 435 . 22 Vgl. RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 60 a.F., Rn. 7; Streinz, R., Europarecht, Rn. 755; Biagosch, P., Europäische Dienstleistungsfreiheit und deutsches Versicherungsvertragsrecht, S. 57.
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Teil B: Versicherungsaufsicht im Binnenmarkt
Der gemeinschaftsrechtliche Begriff der Dienstleistung ist nicht mit dem ökonomischen Begriff identisch23 . Kennzeichnendes Kriterium für die Dienstleistung im Sinne des Art. 50 EGV ist ein entgeltlicher, .grenzüberschreitender Tatbestand24 . Es geht in der Regel um Leistungen, die sich dadurch auszeichnen, daß der Leistungserbringer und der Leistungsempfanger in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig ist25 . Zusätzlich hebt Art. 50 Abs. 3 EGV zur Abgrenzung von der Niederlassungsfreiheit auf die Dauer der Tätigkeit ab, wobei eine Entscheidung darüber, was als vorübergehende Tätigkeit anzusehen ist, nur im Hinblick auf die jeweilige Leistung getroffen werden kann26 . Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist der vorübergehende Charakter einer Dienstleistung in ihrer Dauer, ihrer Häufigkeit, ihrer regelmäßigen Wiederkehr und ihrer Kontinuität zu beurteilen27 • Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, daß die Dienstleistungsfreiheit den Bereich der Versicherungsverträge erfaßt28 . Für den Versicherungsbereich können innerhalb der Dienstleistungsfreiheit drei Fallgestaltungen unterschieden werden29 , wobei, wenn die Dienstleistungsfreiheit mit einem Ortswechsel einer der beiden Vertragsparteien einhergeht, nochmals aus Sicht des Dienstleistungserbringers zwischen zwei Fonnen unterschieden werden kann. In ersten Fall ergreift der Dienstleistungserbringer die Initiative und begibt sich vorübergehend zur Erbringung der Dienstleistung in das Land des Dienstleistungsempfangers. Das ist der Fall der aktiven oder positiven
23 Vgl. Oppennann, T., Europarecht, Rn. 1592, Roth, W-H, Hdb EGWirtschaftsR, E.I., Rn. 96; Streinz, R., Europarecht, Rn. 755; Emmerich-Fritsche, A., Einfilhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 104; Biagosch, P., Europäische Dienstleistungsfreiheit und deutsches Versicherungsvertragsrecht, S. 55. 24 Vgl. Oppennann, T., Europarecht, Rn. 1592; Randelzhofer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 60 a.F., Rn. 4 u. 8; Emmerich-Fritsche, A., Einfuhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, 8. 104. 25 Vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 96, Emmerich-Fritsche, A., Einfuhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 104. 26 Vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 24. 27 Vgl. EuGHUrt. v. 30.11.1995 - Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995,1-4165, Rn. 27. 28 Vgl. EuGH Urt. v. 4.12.1986 - Rs. 205/84 (KommissionlDeutschland), 81g. 1986, 3755, Rn. 24; Emmerich-Fritsche, A., Einfilhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 104, vgl. auch § 8 dieser Arbeit. 29 Vgl. Badenhoop, J., Binnenmarkt der Versicherungen bis 1992?, VW 1987, 8. 627, Biagosch, P. , Europäische Dienstleistungsfreiheit und deutsches Versicherungsvertragsrecht, S. 58; Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 8.
§ 5 Dienstleistungsfreiheit
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Dienstleistungsfreiheieo. Beispielsweise begibt sich ein Versicherungsunternehmen in das andere Mitgliedsland, um dort Versicherungsschutz anzubieten. Bei dieser Fonn der Dienstleistungsfreiheit stellt sich die Frage der Abgrenzung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheie 1. Im zweiten Fall geht die Initiative vorn Dienstleistungsnehmer aus. Im Rahmen der passiven oder negativen Dienstleistungsfreiheie 2 begibt sich der Versicherungsnehmer in das andere Mitgliedsland, um dort Versicherungsschutz zu suchen33 . Im dritten Fall erfolgt der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr ohne Ortswechsel beider Parteien. Es überschreitet allein die Dienstleistung die Grenze: Versicherungsunternehmen und der Versicherungsnehmer bleiben zwar in ihren Ländern, schließen aber grenzüberschreitend im Wege der Korrespondenz den Versicherungsvertra~4. Diese "Grundfonn"35 ist die "typischste,,36 Fonn der Dienstleistungsfreiheit und kennzeichnend für die Anwendbarkeit der Art. 49 ff. EGV, da als entscheidendes Kriterium der Tatbestand des grenzüberschreitenden Wirtschaftsvorganges allein erfüllt ise 7 .
30 Vgl. Streinz, R., Europarecht, Rn. 756; Emmerich-Fritsche, A., Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 108; diese Form der Dienstleistung ist in Art. 50 Abs. 3 EGV genannt. 31 Vgl. Oppermann. T, Europarecht, Rn. 1580 u. 1593, RandelzhoJer, A., in: GrabitzJHilf, EGV, Art. 60 a.F., Rn. 5; Badenhoop, J., Binnenmarkt der Versicherungen bis 19927, VW 1987, S. 627; vor allem in diesem Fall gewinnt das zeitliche Moment als Abgrenzungskriterium zwischen der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit an Bedeutung; Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 99. 32 Vgl. Oppermann. T, Europarecht, Rn. 1594, Roth, W-H, Hdb EGWirtschaftsR, E.I., Rn. 100; Emmerich-Fritsche, A., Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 108. 33 Zum Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit auf die negative Dienstleistungsfreiheit vgl. Roth, W-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.l., Rn. 100; Oppermann, T, Europarecht, Rn. 1594; grdl. EuGH Urt. v. 31. 1. 1984 - Rs. 286/82 u. 26/83 (Luisi und Carbone), Sig. 1984, S. 377, in Rn. 16 stellt der EuGH fest: ,,Daß der freie Dienstleistungsverkehr die Freiheit der Leistungsempfanger einschließt, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen - und zwar auch im Hinblick auf Zahlungen - daran gehindert zu werden... ". 34 Vgl. Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 8 und bzgl. des Begriffs der Korrespondenzversicherung Rn. 69. 35 Oppermann, T, Europarecht, Rn. 1597. 36 Biagosch, P., Europäische Dienstleistungsfreiheit und deutsches Versicherungsvertragsrecht, S. 58. 37 Vgl. Oppermann, T, Europarecht, Rn. 1597; Streinz, R., Europarecht, Rn. 755.
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Teil B: Versiehenmgsaufsieht im Binnenmarkt
n Ziel der Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit gewährleistet für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten das Recht, direkt von ihrem Sitz aus grenzüberschreitend in einern anderen EG-Mitgliedstaat erwerbswirtschaftlich tätig zu werden, ohne daß eine Wohnsitzverlagerung oder die Gründung oder Einschaltung einer Niederlassung erforderlich ises. Die Niederlassungsfreiheit schützt die freie Standortwahl, während die Dienstleistungsfreiheit, wirtschaftlich betrachtet, die Mobilität des Produkts ermöglicht und den grenzüberschreitenden Produktenverkehr für entgeltlich erbrachte Leistungen schützt39 . Einern Versicherungsunternehmen mit Sitz oder Niederlassung in einern Mitgliedsland gibt die Dienstleistungsfreiheit die Möglichkeit, grenzüberschreitend in einern anderen Mitgliedstaat tätig zu werden, ohne sich dort niederzulassen4o . Gemäß Art. 50 Abs. 3 EGV kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, in dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt. Nach Art. 59 Abs. I EGV a.F. sind die Beschränkungen der freien Niederlassung aufzuheben, gemäß Art. 49 EGV in der Arnsterdarner Fassung verboten. Die Bestimmungen des Art. 49 Abs. I EGV umfassen die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Erbringers einer Dienstleistung aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder des Umstandes, daß er in einern anderen Mitgliedstaat als demjenigen ansässig ist, in dem die Dienstleistung erbracht werden S011 41 und enthalten ein umfassendes Gebot der Beseitigung offener und versteckter Diskriminierungen im Dienstleistungsverkehr42 .
38 Vgl. Oppermann, T., Europarecht, Rn. 1585; Streinz, R., Europarecht, Rn. 755; RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 59 a.F., Rn. 17; Emmerich-Fritsche, A., Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 103; Hübner, U./Matusche-Bec/anann, A., Auswirkungen des Gemeinsehaftsrechts auf das Versieherungsrecht, EuZW 1995, S. 264. 39 Vgl. RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 60 a.F., Rn. 6; Roth, W-H., Hdb EG-WirtsehaftsR, E.I., Rn. 2, Streinz, R., Europarecht, Rn. 656. 40 Vgl. Jürgens, U.lRabe, T.lRabe, B., Der Europäische Versieherungsmarkt, S. 5; Müller, H., Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 8. 41 Vgl. EuGH urt. v. 18.1.1979 - Rs. 110 u. 111/1978 (van Wesemae1), Slg. 1979, Erwägungsgrund 2; EuGH Urt. v. 17.12.1981 , Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, Rn. 14; EuGH Urt. v. 25.2.1988, Rs. 427/85 (Gouvernantenklausel), Slg. 1988, Rn. ll; RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHilf, EGV, Art. 59 a.F., Rn. 9. 42 Vgl. Oppermann, T., Europarecht, Rn. 1593, Emmerich-Fritsche, A., Einführung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 107; EuGH Urt. v. 3.2.1983 - Rs. 62 u. 63/81 (SecoIEvi), Slg. 1982, S. 223, Rn. 8.
§ 5 Dienstleistungsfreiheit
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Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung im Vergleich zur Niederlassungsfreiheit relativ früh die Bestimmungen des Art. 49 EGV als Beschränkungsverbot gedeutet und damit nicht nur diskriminierende Regelungen als Beschränkungen der Dienstleistungen angesehen, sondern auch solche, die in "in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeit des Leistenden zu unterbinden oder zu behindern,,43. Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit in Form von unterschiedslos für In- und Ausländer wirkenden nationalen Regelungen sind nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes dann gerechtfertigt und werden mit dem Vertrag als vereinbar angesehen, wenn sie durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt sind, dem nicht bereits durch die Vorschriften des Herkunftslandes des Dienstleistungserbringers Rechnung getragen ist44 und wenn sie sachlich geboten sind45 . Es ist also anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu überprüfen, inwieweit das eingesetzte Regelungsinstrument geeignet ist und nicht weniger einschränkende Maßnahmen im Hinblick auf die Sicherung des Allgemeininteresses zur Verfügung stehen und ob solche Regelungen als unerläßliche Voraussetzung für die Erreichung des verfolgten Zwecks "gerechtfertigt" sind46 Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bedeutet also, daß das Ausmaß der Belastung für den zwischenstaatlichen
43 Vgl. EuGH Urt. v. 3.12.1974 - Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, S. 1299, Rn. 10; für ein Beschränkungsverbot: EuGH Urt. v. 18.1.1979 - Rs. 11 0 u. 111/1978 (van Wesemael), Slg. 1979, S. 35, Rn. 28; EuGH Urt. v. 25 .7.1991 - Rs. C-76/90 (SägerlDennemeyer), Slg. 1991, S. 4221, Rn. 12; mit aller Klarheit EuGH Urt. v. 4.12.1986 - Rs. 205/84 (KommissionIDeutschland), Slg. 1986, S. 3755, Rn. 25, RandelzhoJer, A., in: GrabitzlHi1f, EGV, Art. 59 a.F., Rn. 2; Roth, W-H., Hdb EGWirtschaftsR, E.l. , Rn. 117 m.w.H. z. Rspr. u. Lit.; Streinz, R., Europarecht, Rn. 671 u. 674. 44 Vgl. EuGH Urt. v. 3.12.1974 - Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, S. 1299, Rn. 10 u. 12; EuGH Urt. v. 17.12.1981 - Rs. 279/80 (Webb), Slg. 1981, S. 3305 Rn. 17. 45 Vgl. EuGH Urt. v. 3.12.1974 - Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, S. 1299, Rn. 14116; EuGH Urt. v. 4.12.1986 - Rs. 205/84 (KommissionlDeutschland), Slg. 1986, S. 3755, Rn. 27 und hinsichtlich des Niederlassungserfordernisses Rn. 52: ,,muß daher nachgewiesen werden, daß es eine unerläßliche Voraussetzung für die Erreichung des verfolgten Zwecks ist". 46 Vgl. Oppennann, T., Europarecht, Rn. 1593; Emmerich-Fritsche, A., Einftlhrung in das Wirtschaftsrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 112; EuGH Urt. v. 4.12 .1986 - Rs. 205/84 (KommissionIDeutschland), Slg. 1986, S. 3755, Rn. 33; EuGH Urt. v. 26.11.1975 - Rs. 39/75 (Coenen), Slg. 1975, 1547; Roth, W-H., Hdb EGWirtschaftsR, E.l. , Rn. 121 IT.
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Teil B: Versicherungsaufsicht im Binnenmarkt
Dienstleistungsverkehr von dem geltend gemachten Allgemeininteresse gerechtfertigt werden kann47 .
§ 6 Die Erste Richtliniengeneration Außer den primärrechtlichen Vorgaben im Gemeinschaftsvertrag wirken auf die nationalen Rechtsordnungen und damit auf das Versicherungsrecht das Sekundärrecht, insbesondere die Richtlinien48 , ein. Zunächst hatte der Rat auf der Ebene des Sekundärrechts als Grundlage für die Versicherungsrichtlinien am 18.12.1961 Allgemeine Programme zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit verabschiedet, in welchen er unter anderem den Zeitplan für den Abbau von Beschränkungen aufstellte49 . Demnach sollte die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit für den Bereich der Rückversicherung50 bis Ende 1963 verwirklicht sein, für den Bereich der Erst- oder Direktversicherung (Schadenund Lebensversicherung) sollten die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit bis spätestens 1967, die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit bis
47 Vgl. Roth, w.-H., Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 123; Emmerich-Fritsche, A., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive Wld Schranke der EGRechtsetzWlg, S. 434. 48 Richtlinien sind gemäß Art. 249 Abs. 3 EGV hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den Mitgliedstaaten die Wahl der Form Wld der Mittel. Die einschneidende Wirkung von Richtlinien als sekundäres Gemeinschaftsrecht erlangt vor allem dann Bedeutwtg, wenn die in einer Richtlinie genannten UmsetzWlgsfristen erfolglos verstrichen sind. Dem Mitgliedstaat kann dann ein VertragsverletzWlgsverfahren gemäß Art. 226 EGV oder Wlter näher bestimmten Voraussetzungen sogar eine Schadensersatzverpflichtwtg gegenüber den von der NichtumsetzWlg betroffenen Bürger drohen vgl. EuGH Urt. v. 9.11 .1991 - Rs. C-6 u. 9/90 (Francovich), Slg. 1991, S. 5357, Rn. 38 ff.; vgl. näher Claßen, NichtumsetzWlg von Gemeinschaftsrichtlinien, S. 1 ff. 49 Vgl. Allgemeines Progranun zur AufhebWlg der Beschränk.'UIlg der NiederlassWlgsfreiheit Wld Allgemeines Programm zur AufhebWlg der Beschränk.'UIlg der Dienstleistwtgsfreiheit AbI. EG v. 15.1.1962 S. 32 ff. u. 36 ff., gestützt wurden die Programme auf Art. 54 Abs. 1 Wld 63 Abs. 1 EGV a.F.; vgl. auch o.v., Die deutsche Versicherungswirtschaft im EG-Binnenmarkt, S. 21; Miersch, G., Versicherungsaufsicht nach den Dritten Richtlinien, S. 31; Oppermann, T., Europarecht, Rn. 1589. 50 Unter Rückversicherung versteht man "die VersichefWlg der von einem Versicherer übernommenen Gefahr" (Legaldefmition gem. § 779 Abs. 1 HGB), d.h. ein VersichefWlgsWlternehmen (= Erst- oder Direktversicherer, so die BezeichnWlg in den Versicherungsrichtlinien) entlastet sich ft1r einen Teil seiner Risiken bei einem anderen VersichefWlgsWlternehmen, wobei der Versicherungsnehmer nur RechtsbeziehWlgen zum Erstversicherer hat; hierzu vgl. Prölss, E., VAG, § 1 VAG, Rn. 34 m.w.N., Fürstenwerth, F. / Weiß, A., VersichefWlgsalphabet, S. 413.
c.,
§ 6 Die Erste Richtliniengeneration
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1969 abgeschafft werden51 . Zeitlich waren damit die Maßnahmen an den Ablauf der Übergangszeit am 31. Dezember 196952 gekoppelt, nach Ablauf der Übergangszeit verloren die Allgemeinen Programme als Liberalisierungsregeln ihre Bedeutung, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit wurden unmittelbar anwendbar53 . Die ursprünglich gesetzten Ziele, innerhalb des engen zeitlichen Rahmens bis zum Ablauf der Übergangszeit eine sehr weitreichende Rechtsangleichung in den einzelnen Mitgliedstaaten zu erreichen, konnten jedoch nicht verwirklicht werden 54 , nur für den Bereich der Rückversicherung wurde der Zeitplan durch Verabschiedung der Rückversicherungsrichtlinie55 eingehalten56 . Für den Bereich der Direktversicherung verabschiedete der Ministerrat die bereits im Allgemeinen Programm vorgesehene Richtlinie zur Niederlassungsfreiheit für die Schadenversicherung erst im Jahr 1973 57 , für die Lebensversicherung
51 VgI. Müller, H, Versicherungsbinnerunarkt, Rn. 10; Badenhoop, J., Binnenmarkt der Versicherungen bis 1992?, VW 1987, S. 623; Schwintowski, HP., Europäisierung der Versicherungsmärkte im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, NJW 1987, S.521. 52 Gern. Art. 7 EGV a.F. 53 VgI. zur Niederlassungsfreiheit EuGH Urt. v. 21.6.1974 - Rs. C-2n4 (Reyners) Slg. 1974, S. 631, Rn. 24/28, zur Dienstleistungsfreiheit EuGH v. 3.12.1974 - Rs. 33n4 (van Binsbergen), Slg. 1974, S. 1299, Rn. 24/26; vgI. auch Oppermann, T., Europarecht, Rn. 1589; Roth, W.-H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 138; Maller, H., Versicherungsbinnerunarkt, Rn. 29. 54 VgI. Schwintowski, HP., Europäisierung der Versicherungsmärkte im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, NJW 1987, S. 522, Roth, W. -H, Hdb EG-WirtschaftsR, E.I., Rn. 138; Badenhoop, 1., Binnerunarkt der Versicherungen bis 1992?, VW 1987, S.623. 55 Richtlinie des Rates vom 25.2.1964 zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs auf dem Gebiet der Rückversicherung und Retrozession (64/225/EWG), AbI. EG 870/64 v. 4.4.1964, S. 878; der Bereich der Rückversicherung wird von den späteren Richtlinien über die Direktversicherung nicht mehr erfaßt; vgI. Pool, B., Der Binnerunarkt filr Versicherungen, S. 17; o. v., Die deutsche Versicherungswirtschaft im EG-Binnenmarkt, S. 21. 56 Die Aufhebungen der Beschränkungen fllr die Rückversicherung hatten eher deklaratorischen Charakter, ftir das Rückversicherungsgeschäft bestanden in den einzelnen Mitgliedstaaten nur wenige Beschränkungen und ein geringes Maß an Kontrolle; vgl. hierzu Badenhoop, 1., Binnerunarkt der Versicherungen bis 1992?, VW 1987, S. 623; Pool, B., Der Binnerunarkt für Versicherungen, S. 17, MaUer, H, Versicherungsbinnerunarkt, Rn. 22,29. 57 Erste Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) vom 24.7.1973 (73/239/EWG), AbI. EG Nr. L 228/3 (sog. 1. Richtlinie (abgek.: RL) Schaden); umgesetzt wurde diese Richtlinie durch das Erste DurchführungsgesetzlEWG zum VAG vom 18. Dez. 1975, BGBI. I S. 3139.
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Teil B: Versicherungsaufsicht im Binnenmarkt
erst 197958 . Diese erste Richtliniengeneration ebnete der Niederlassungsfreiheit entscheidend den Weg, sie bildet als "ersten Schritt" die Grundlage für die meisten späteren Schritte zur Schaffung eines gemeinsamen Versicherungsmarktes59 . Um die Niederlassungsfreiheit zu verwirklichen war zum einen erforderlich, diejenigen Vorschriften in den Mitgliedstaaten zu beseitigen, die die Tätigkeit ausländischer Versicherungsunternehmen beschränkten, zum anderen die Ausübung des Niederlassungsrechts seitens gemeinschaftsweiter Versicherungsunternehmen zu erleichtem60 . Zu diesem Zweck legt die Richtlinie für die Schadensversicherung und die im wesentlichen inhaltsgleiche61 Richtlinie für die Lebensversicherung ein einheitliches Zulassungssystem für die Aufnahme der Versicherungstätigkeit und für die Errichtung einer Zweigniederlassung fest 62 . Die Aufnahme der Versicherungstätigkeit macht jeder Mitgliedstaat gemäß der ersten Richtliniengeneration von einer behördlichen Zulassung abhängig63 , die Zulassungsbedingungen werden weitgehend standardisiert und koordiniert64 . Für die Zulassung, die für jeden Versicherungszweig gesondert erteilt 58 Erste Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufuahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (Lebensversicherung) vom 5.3.1979 (79/267/EWG), AbI. EG Nr. L 63/1 (sog. 1. Richtlinie (abgek.: RL) Leben); umgesetzt ww-de diese Richtlinie durch das 14. Gesetz zur Änderung des VAG vom 29. März 1983, BGBL I s. 377. 59 Vgl. Loheae, F, Der Binnenmarkt für Versicherungen: Chancen, Grenzen, Perspektiven, VW 1994, S. 1116; HUbner, UlMatusehe-Beekmann, A., Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das Versicherungsrecht, EuZW 1995, S. 264, o.v., Die deutsche Versicherungswirtschaft im EG-Binnenmarkt, S. 21; Pool, B., Der Binnenmarkt für Versicherungen, S. 18. 60 Vgl. Erwägungsgrunde der 1. RL Schaden und der 1. RL Leben; vgl. auch Pool, B., Der Binnenmarkt für Versicherungen, S. 18; Sehwintowski, HP., Europäisierung der Versicherungsmärkte im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, NJW 1987, S. 522; Hübner, UlMatusehe-Beekmann, A., Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das Versicherungsrecht, EuZW 1995, S. 264. 61 Vgl. Müller, H, Versicherungsbinnenmarkt, Rn. 63, Hübner, UlMatuseheBeekmann, A. , Auswirkungen des Gerneinschaftsrechts auf das Versicherungsrecht, EuZW, S. 265. 62 Vgl. Kapitel n Abschn. Ader 1. RL Schaden und Titel n der 1. RL Leben; Loheae, F, Der Binnenmarkt für Versicherungen: Chancen, Grenzen, Perspektiven, VW 1994, S. 1116. 63 Vgl. Art. 6 der 1. RL Schaden und Art. 6 der 1. RL Leben; nach Angerer, A., Perspektiven und Entwicklungen der Versicherungsaufsicht im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, ZfV 1989, S. 4 ww-de damit auf europäischer Ebene der Konzessionszwang für Versicherungsunternehmen eingeführt.